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German Pages 518 Year 2014
Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.) Die Modernitäten des Nikolaus von Kues
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 12
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.)
Die Modernitäten des Nikolaus von Kues Debatten und Rezeptionen
Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Tom Müller, Matthias Vollet Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2167-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Vorwort ................................................................................
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Einleitung ............................................................................. 11 MATTHIAS VOLLET Begriff und Funktion der Neuheit in der Philosophie des Nicolaus Cusanus ......................... 23 ISABELLE MANDRELLA Mit Dionysius gegen Wenck .............................................. 43 VIKI RANFF Miszellen zum interkulturell philosophiehistorischen Vergleich ................................... 57 DAVID BARTOSCH Philosophie und Religionswissenschaft in China ............ 87 HEINRICH GEIGER Nikolaus von Kues und die virtus verborum ....................... 107 UELI ZAHND Der Possest-Gedanke von Nikolaus von Kues ................. 143 HUA LI
Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus ........................ 161 CECILIA RUSCONI L’instauration métaphysique du monde humain chez Nicolas de Cues ............................................ 175 FRÉDÉRIC VENGEON Mathematik und Perspektivität bei Cusanus und Alberti ..................................................... 187 SILVIO AGOSTA Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks ............ 215 WOLFGANG CHRISTIAN SCHNEIDER Albrecht Dürers „docta manus“ und ihre cusanische Herkunft ............................................ 251 ELENA FILIPPI Die Vernunft der Offenbarung als Grundlage eines Friedens der Religionen ........................................... 267 STEFAN SCHICK Minimum und Atom ............................................................ 289 PIETRO DANIEL OMODEO Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus ............................... 309 WITALIJ MOROSOW Konstruktive Vernunft und göttliche Namen ..................... 323 CHRISTIAN STRÖBELE
Die Cusanismen der Moderne ........................................... 345 DETLEF THIEL „Nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam“ ............................................. 369 KIRSTIN ZEYER Nikolaus von Kues und Ortega y Gasset .......................... 387 HARALD SCHWAETZER Die Seins- bzw. Gottesfrage in Cusanus’ Idiota de sapientia (1450) und Rahners Hörer des Wortes (1941) .. 401 FELIX RESCH Nikolaus von Kues im Kontext der Moderne-Kritik der Radical Orthodoxy ............................. 425 DOMINIK WEISS Wahrheit als Geschehen .................................................... 437 SUSAN GOTTLÖBER Praxis der Theorie .............................................................. 455 INIGO BOCKEN Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren? ................................. 467 ARNE MORITZ Cusanus-Oper und Cusanus-Schulmaterial ..................... 485 AUGUST HERBST Autorinnen und Autoren .................................................... 513
Vorwort TOM MÜLLER UND MATTHIAS VOLLET Dieser Band besteht aus Beiträgen der „Jungcusanertagung 2010: Die ‚Modernitäten‘ des Nicolaus Cusanus“, die vom 5. bis 7. Februar 2010 in Mainz stattfand, und aus Originalbeiträgen. Die Herausgeber danken den Unterstützern, ohne deren finanzielle Hilfe weder die Tagung noch dieser Band möglich gewesen wären: der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz, dem Erbacher Hof – Akademie des Bistums Mainz, der Maison de France, Mainz, und schließlich und hauptsächlich dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem wir auch herzlich für die Aufnahme dieses Bandes in seine Buchreihe danken.
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Einleitung MATTHIAS VOLLET Die Beiträge dieses Bandes entstammen in ihrer Mehrheit der vierten Tagung junger Cusanusforscher, die unter dem Titel „Die Modernitäten des Nikolaus von Kues“ im Februar 2010 in Mainz stattfand. Das zunächst vorgeschlagene Thema „Die Modernität des Cusanus“ wurde in den Plural gesetzt, um damit zu explizieren, wie vielfältig man den Modernitätsbegriff auf Cusanus diskutierend anwenden kann; eine Vielfältigkeit, die das weitgespannte Programm dieser Tagung und dieses Bandes kennzeichnet. Die Modernität des Cusanus ist ein Thema, das die Forschung seit bald 100 Jahren beschäftigt. Dies hat mehrere Aspekte: zum einen ist seine Epochenzugehörigkeit Gegenstand der Diskussion, nämlich ob Cusanus, zunächst und einfach gesagt, ein mittelalterlicher oder moderner, wenigstens doch vormoderner Denker ist. Dies hat viel mit der Frage der Selbstpositionierung und Fremdwahrnehmung der jeweiligen Interpreten zu tun und damit, als was man Moderne begreift. Neben dieser grundsätzlichen Frage der Einordnung des Cusanus lässt sich thematisieren, wie Cusanus bei nach ihm lebenden Denkern aufgegriffen wird bzw. wie er zu diesen ins Verhältnis zu setzen ist – was also an Cusanus in späteren Zeiten als aktuell, als bearbeitenswert angesehen wurde, und inwiefern er als Vorläufer in Anspruch genommen werden kann. Nicolaus Cusanus ist ein Denker, an dem sich die verschiedenen Spielarten von Wirkung bzw. Rezeption gut aufzeigen lassen: durch Predigten, Briefe und Schriften, direkt durch die Aufnahme seiner Schriften oder indirekt durch Überlieferung, in (scheinbar) historistisch-positivistischem Geiste wie auch eingekleidet in das Gedankengewand des Rezipienten.
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Unterscheidet man mit Senger drei Weisen, in denen Wirkungsgeschichte auftritt, nämlich Wirkungsgeschichte erfahren, haben und beurteilen1, kann man zunächst die zeitgenössische, von Cusanus selbst „erlebte“, unterscheiden: Cusanus steht in enger Beziehung nicht eben mit der traditionellen zeitgenössischen Universitätswissenschaft, sondern vielmehr mit den Modernisierern seiner Zeit – er hatte, wie es in der Forschungsliteratur immer wieder heißt, nicht Schüler, sondern Freundeskreise bzw. ‚Stammtische‘2; er befand sich in einem (z.B.) humanistischen, z.T. oder zeitweise auch kirchlichen Umfeld, das sich Erneuerung (übrigens durch Rezeption der Antike) aufs Panier geschrieben hatte. Darauf folgt die Wirkungsgeschichte, in der Cusanus direkt oder indirekt aufgenommen wurde zur Gestaltung einer Philosophie; dies geschieht z.B. bei Bruno, der Cusanus direkt und oft beim Namen nennt und für seine Philosophie nutzt, nicht aber ohne ihn, und das ist ja ein Grundzug philosophisch kreativer Rezeption, durch das Übernehmen in die Gestaltung einer neuen Philosophie umzuformen. Eine Schrift des Cusanus, die – neben anderen Schriften und Themenbereichen – oft direkt rezipiert wurde, ist De pace fidei; aber es finden sich in diesem Band weitere Beispiele, anhand derer die Rolle des Cusanus als modernisierendem Recipiatum deutlich wird. Zum dritten hat man diejenige Wirkungsgeschichte, in der über seine Wirkungsgeschichte als solche geurteilt wurde. Man kann grosso modo sagen, dass dies die Wirkungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu großen Teilen prägt3 – nimmt man hier einmal die Tübinger Theologenschule, die das Recht der Erstentdeckung in großem Rahmen für sich reklamieren kann, ebenso aus wie die vom Marburger Neukantianismus angestoßene historisch-wissenschaftliche Erforschung des Cusanus, die eine eigene Art von Rezeption ausmacht. In der Diskussion über die Wirkungsgeschichte werden die Kontroversen um die Modernität des Cusanus, also seine Rolle als Vorbereiter der Moderne ausgetragen – und zugleich kann Cusanus dabei als historischer Hintergrundgewährsmann (Vorläufer) für je eigene philosophische Vorhaben dienen. Hierzu gab es seit je (seit Cohen) und gibt es immer noch ein lebhafte Diskussion, die Cusanus mal auf, mal vor und mal hinter der Schwelle zur Moderne verortet. Beiträge verschiedener Natur zu diesem
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Vgl. SENGER: Ludus sapientiae, S. 260. Z.B. MÜLLER: Perspektivität und Unendlichkeit, S. 15-33. Zur Wirkungsgeschichte der vorigen Jahrhunderte: MEIER-OESER: Die Präsenz des Vergessenen.
Einleitung
Thema ziehen sich auch durch diesen Band. Es wäre jedoch bedauerlich und ein schlechtes Zeichen, fände sich Cusanus nur noch als Gegenstand solcher Diskussionen wieder und wirkte er nicht, ob offen oder klandestin, als Philosoph bei Philosophen (oder als Theologe bei Theologen). Da man nach seinem Ableben – wie auch schon zu Lebzeiten – Interpretationen eines eigenen Denkens nicht steuern kann, können hier, wie wir sehen werden, erstaunliche Verwendungen von Cusanus als Gewährsmann oder wenigstens unerwartete bzw. auffällige Parallelen zutage treten. Zugleich aber ist Cusanus selbst Rezipient, der durch die Aufnahme von Autoren, die zu seiner Zeit z.T. gerade wieder neu entdeckt wurde, Neuerungen ausprägte; Rezeptionen brauchen immer Vermittler, und Cusanus war ein solcher, der selbst rezipierte und so für weitere Rezeption sorgte, und eben dadurch für seine Zeit Unerhörtes schuf. Cusanus sieht sich durchaus selbst als Modernisierer. Und was liegt näher bei einer Tagung über Modernitäten des Cusanus, als diesen Denker selbst, der immer wieder den Status seines Denkens in den Blick nimmt, daraufhin zu befragen, wie er selbst seine Stellung einschätzt; als wie neu er sich empfindet, wie sehr er dem eigenen Denken den Status eines Projektes gibt, das sich seiner Neuheit bewusst ist. Dieser Selbsteinschätzung des Cusanus widmet sich der erste Beitrag des Bandes zu „Begriff und Funktion der Neuheit in der Philosophie des Nicolaus Cusanus“. Isabelle Mandrella kommt dabei zu dem Schluss, dass das Selbstbewusstsein, mit dem Cusanus in seinen Lehren den Anspruch vertritt, Ungewöhnliches (rara) und Unerhörtes (inaudita) darzubieten, deutlich zutage tritt. Doch zeigt sich darüber hinaus, dass Cusanus seine Philosophie nicht nur im provokativen Sinn als Erneuerung versteht – auch in exemplarischer Hinsicht, nämlich insofern das Denken die geistbedingte Kreativität des Menschen illustriert, kommt dem Neuen eine zentrale Rolle zu, die sich schließlich auch in der methodischen Absicht manifestiert, das Streben nach Wissen und Wahrheit stets als dynamisch und immer wieder erneuerbar zu denken. Dem Cusanus als Rezipienten ist ein Beitrag dieses Bandes gewidmet, der exemplarisch untersucht, wie Cusanus in dieser Rolle agiert. Gerade in der am deutlichsten geführten Kontroverse um den Austritt des Cusanus aus dem Zusammenhang aristotelischer Wissenschaftlichkeit, die vom Heidelberger Theologieprofessor Wenck von Herrenberg begonnen wird, bringt Cusanus unter anderem den großen Denker des christlichen Neuplatonismus (Pseudo-)Dionysios Areopagita in Stellung. Viki Ranff zeigt in ihrem
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Beitrag „Mit Dionysius gegen Wenck. Areopagitisches in der ‚Apologia doctae ignorantiae‘ des Nikolaus von Kues“ auf, wie er Zitate und Anspielungen auf diesen Autor in seine philosophische und theologische Argumentation einbezieht und welche Ziele er damit verfolgt. Mit zwei Beiträgen vertreten ist in diesem Band die Möglichkeit, Cusanus einem Vergleich zu unterziehen, der die Grenzen seines eigenen kulturellen Kontextes überschreitet und so von außen neue Schlaglichter auf ihn wirft. In seinem Beitrag „Miszellen zum interkulturell philosophiehistorischen Vergleich am Beispiel Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng ⋤㝧᫂“ widmet sich David Bartosch der komparativen Untersuchung der bewusstseinsgeschichtlichen Fundierungsebenen der europäischen und chinesischen Philosophie. Dies geschieht am Beispiel der beiden fast zeitgleichen Philosophen Nikolaus von Kues (1401-1464) und Wáng Yángmíng (1472-1529), welcher als bedeutendster chinesischer Philosoph der letzten 500 Jahre gilt. Zwischen beiden Denkern bestehen in mehrerlei Hinsicht Berührungspunkte, die zu einem differenzierenden interkulturellen Vergleich herausfordern. Zugleich wird hier untersucht, vor welchem Hintergrund eine aktuelle chinesische Rezeption des Cusanus stattfindet. Hier schließt sich auch der Beitrag von Heinrich Geiger an, der die Möglichkeiten einer chinesischen Cusanusforschung ausleuchtet: „Philosophie und Religionswissenschaft in China. Mögliche Ansatzpunkte für die Cusanusforschung im Land der Mitte“ gibt einen ersten Überblick über Philosophie, Religionswissenschaft und das Christentum in China als dem Hintergrund, vor dem Cusnaus dort aufgenommen wird, und die Umstände einer interkulturellen Rezeption. Der Beitrag von Ueli Zahnd, „Nikolaus von Kues und die virtus verborum“, geht auf eine wichtige Methode des Cusanus ein, Neues zu schaffen: Dass Sprache nicht nur ein Mittel ist, die Realität abbildend zu beschreiben, sondern vielmehr dazu dienen kann, gestaltend auf die Realität einzuwirken und sie überhaupt erst auszubilden, ist ein grundlegender Zug im Denken des Nicolaus von Kues. Sein letztlich doch skeptizistischer Vorbehalt, dass es dem Menschen nicht möglich ist, eine praecisio veritatis zu erreichen, sondern dass sich seine Begriffe der Wahrheit bloß einschreiben können wie ein Vieleck einem Kreis, führt zu einer Differenz von sprachlicher Realität und Wirklichkeit, die einerseits alles Sprechen als je eigenen, mit der Wahrheit inkommensurablen Realitätsentwurf entlarvt. Andererseits liegt in dieser Differenz gerade das kreative Potential der Sprache, das den
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Einleitung
Menschen letztlich gottähnlich macht: Es ist der menschliche Geist, der in das unendliche Eine, das hinter allem steht, die Vielheit einschreibt und bemisst und damit den Menschen zum Maß aller Dinge macht. Insofern kann er als ‚zweiter Gott‘ seine vis creativa entfalten, um sprachlich gestaltend auf die Realität einzuwirken und Begriffe auszubilden, die überhaupt erst hervorbringen, was sie bezeichnen. Dieser performative Aspekt von Sprache findet aber auch in der Sakramententheologie ihren Niederschlag; zentral für die Rede von der Kraft der Worte wird insbesondere in Cusanus’ Predigten zudem das Bild vom Wort als Brot, das er bisweilen explizit mit der Eucharistie in Verbindung bringt. Eine beispielhafte Verwirklichung dieses kreativen Potentials der Sprache stellt Hua Li in ihrem Beitrag „Der Possest-Gedanke von Nikolaus von Kues. Eine Skizze anhand des Trialogus de possest“ vor. Der Gottesname possest ist ein Neologismus, der die vorliegende, von Aristoteles ausgehende Tradition des Möglichkeitsdenkens radikal umformt und zum systematischen Kern des cusanischen Spätwerks wird. Dabei steht das „Können“ im Vordergrund, das nicht hinter das Sein zurücktritt, und in einer weiteren Entwicklung im posse ipsum sogar die Oberhand gewinnt. Um die Sprache bei Cusanus dreht sich auch der Beitrag von Cecilia Rusconi: „Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus“, der den anderen wichtigen Gottesnamen der cusanischen Spätphilosophie aufgreift, „non aliud“. Grundlage dieses Gottesnamens ist die Reflexion auf die Grundfunktion der Definition, Wissen zu verschaffen durch Begrenzung. Die Grenze, welche die Definition bestimmt, muss aber als ein ens rationis verstanden werden, und d.h. bei Cusanus: als Ergebnis einer kreativen Vernunft. Wenn diese Feststellung einerseits ziemlich modern klingt, ist anderseits bei Cusanus deutlich, dass die vom Geiste gesetzten Grenzen mit der wirklichen Unterscheidung der Dinge übereinstimmen. Durch diese Übereinstimmung stößt die Modernität dieser Philosophie mit einem Grundgedanken zusammen, welcher der Neuzeit fernliegt, nämlich: dem Begriff imago dei. Dieser Begriff führt zur Doppeldeutigkeit des Terminus mens; dieser meint nämlich: einerseits (a) den unendlichen Geist, der das Maß der Dinge bestimmt – wo das Maß der Dinge die Unterscheidungen der realen Wesenheiten betrifft –, andererseits (b) den endlichen Geist, der das Maß der Dinge bestimmt – wo das Maß der Dinge die begrifflichen Grenzen der Dinge betrifft.
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Die Kreativität des endlichen menschlichen Geistes steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Frédéric Vengeon: „L’instauration métaphysique du monde humain chez Nicolas de Cues“. Cusanus entwirft den Begriff coniectura und den der ars coniecturalis, übersetzbar als „Mutmaßung“ und „Kunst der Mutmaßung“, um eine dem Menschen eigenen Art der geistigen Produktivität zu kennzeichnen, durch die der Mensch seine eigenen Welt entwirft und ein zweiter Gott wird. Das in diesem Beitrag angesprochene Paradigma des Maßes (mensura), das die cusanische Auffassung der Funktionsweise des menschlichen Verstandes kennzeichnet, prägt auch den Beitrag von Silvio Agosta: „Mathematik und Perspektivität bei Cusanus und Alberti“. Die Wendung zum menschlichen Subjekt geht einher mit einer Objektivierung der Welt in mathematischer Sprache, wie sie sich später exemplarisch bei Galilei finden lässt. Sowohl bei Nikolaus von Kues als auch bei Leon Battista Alberti sind einerseits Tendenzen einer Subjektivierung und andererseits eine Anwendung mathematischer Sprache zu erkennen. Den Parallelen und Unterschieden zwischen beiden Denkern geht dieser Aufsatz nach. Einem Zeitgenossen des Cusanus nimmt auch Wolfgang Christian Schneider in den Blick, der in „Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks“ ein Kapitel aufschlägt, das in der Cusanusforschung noch zu wenig bearbeitet ist, gerade wenn man daran denkt, dass die menschliche Kreativität für Cusanus wesentlich ist und in einem seiner zentralen Werke ein Kunstwerk im Mittelpunkt steht. Cusanus hat Künstler gekannt und wurde von Künstlern wahrgenommen; im vorliegenden Beitrag werden cusanische Philosophie und der Genter Altar ineinander gespiegelt. „Albrecht Dürers ‚docta manus‘ und ihre cusanische Herkunft. Die künstlerische Tätigkeit als Anfang der Neuzeit“ von Elena Filippi behandelt ein weiteres Kapitel der Beziehung des Cusanus zur Kunst, hier die Aufnahme cusanischen Denkens bei Dürer. Die Wendung „docta manus“ wird im Rahmen des Beitrags in drei verschiedenen Sinnen erläutert: Hand als Sujet der Darstellung; docta manus als Topos der Dürerverehrung; und insbesondere die verborgene Hand, womit der Meister sein Publikum erziehen will wie durch eine Art manuductio. Die Rehabilitierung der künstlerischen Hand durch den Vergleich mit der göttlichen Hand und durch die Erinnerung an das Vorbild der Antike war in der Dürerzeit ein brennendes Thema. So steht im Selbstbildnis von 1500 gerade der Hand eine Schlüsselrolle neben den allsehenden Augen zu. In einer christlich gesinnten Ethik,
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Einleitung
die ihre mögliche Herkunft in dem cusanischen Denken findet, liegt letzten Endes die Bedeutung der Dürerschen „docta manus“. Der Beitrag „Die Vernunft der Offenbarung als Grundlage eines Friedens der Religionen“ von Stefan Schick eröffnet ein anderes, bekannteres Feld der Thematik ‚Modernität des Cusanus‘. Der interreligiöse Dialog wird heute häufig unter primär pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet: die sich teils widersprechenden Interessen der verschiedenen Religionen und ihrer Anhänger müssen sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen ausgeglichen und ein friedliches Zusammenleben garantiert werden. Die Frage nach der Wahrheit und Rationalität der jeweiligen religiösen Überzeugungen wird weitgehend ausgeblendet, da sie dem Dialog von vornherein abträglich scheint. Die Konzeptionen von Nikolaus von Kues in De Pace Fidei und Ficinos De religione christiana werden nun in diesem Beitrag als mögliche Modelle zur Beantwortung dieser Frage und damit für die interreligiöse Auseinandersetzung in der Gegenwart entwickelt. Ihre Modernität liegt, wie bereits Ernst Cassirer und Raymond Klibansky festgestellt haben, in der Bejahung der Vielfalt der Formen der Gottesverehrung. Das Nebeneinander verschiedener religiöser Kulte und Praktiken wird nicht mehr nur geduldet, sondern ist vielmehr positiv zu bejahende Ausdrucksweise des wahren Einheitsgrundes aller Religionen. Dass Giordano Bruno Cusanus aufgegriffen hat, ist allgemein bekannt. „Minimum und Atom: eine Begriffserweiterung in Brunos Rezeption des Cusanus“ von Pietro Daniel Omodeo fügt dem ein weiteres Kapitel hinzu. Brunos Rezeption des Cusanus kann als eine „philosophische Übersetzung“ von ontologischen, kosmologischen, epistemologischen und mathematischen Themen verstanden werden, indem Grundideen der cusanischen Philosophie (u.a. docta ignorantia, coincidentia oppositorum, infinitum, minimum) in eine andere Weltanschauung umgesetzt werden. Diese Diskrepanz lässt sich als der Übergang von einem platonisch-christlichen theologischen Horizont zu einem prinzipiell pantheistischen begreifen. Außerdem beeinflusste Brunos Versuch, Copernicus und Cusanus in eine einheitliche Konzeption zusammenzubringen, die spätere Wirkungsgeschichte des Cusanus. Der vorliegende Beitrag setzt sich jedoch vor allem mit einem bis jetzt vernachlässigten Thema auseinander: Brunos atomistische Ergänzung des cusanischen Ontologie. Das Thema lässt sich vor allem anhand des De triplici minimo et mensura (Frankfurt, 1591) behandeln, denn Bruno hat
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zwei zentrale Probleme von Cusanus’ Philosophie, und zwar Minimum und Maß, in diesem Werk ausarbeitet. Einem eher verborgenen Abschnitt der Rezeptionsgeschichte des Cusanus wendet sich Witalij Morosow in „Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus“ zu. Die Alchemie-Reform des Paracelsus ist grundlegend für die Entstehung und Entwicklung des wissenschaftlichen Rationalismus in Europa. Nicolaus von Kues, der kein Zeuge der Alchemie-Reform des Paracelsus wurde, wendet sich dem Problem des Maßstabs in der Alchemie zu und schafft hiermit eine Grundlage zur Entwicklung stabiler Rezepte, ohne welche zentrale Aspekte der Paracelsus-Reform nicht möglich gewesen wären. Auf diese Weise hat Nicolaus von Kues weniger als ein halbes Jahrhundert vor Paracelsus den damaligen Stand der Alchemie in Frage gestellt. Die weiteren Beiträge des Bandes befassen sich mit Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts; in „Konstruktive Vernunft und göttliche Namen. Transformationen der Lehre von den göttlichen Eigenschaften bei Cusanus und Schleiermacher“ vergleicht Christian Ströbele die bei Cusanus und Schleiermacher auftretenden Weisen der Rede von Gott. Der Theorierahmen Schleiermachers einer systematischen Rekonstruktion christlicher Gottrede bietet eine analytisch aufschlussreiche Hintergrundfolie für Vergleich und Interpretation des cusanischen Versuchs einer Wiedererschließung christlicher Weisheit unter Bedingungen, die retrospektiv in Kontinuität zu modernen Problemstellungen erscheinen. Dabei erweist sich die cusanische apophatische Theologie für spätmoderne Problemlagen als in hohem Maße weiterführend, gerade weil sie vormodernen Mustern begrifflich und auch insofern stärker verhaftet ist, als sie die Mysterien christlichen Glaubens als theoretisch letztlich unableitbares, vorgegebenes Konstruktionszentrum und die Sprach- und Handlungsformen christlichen Kults als vorgegebene Rahmenbedingungen reflektiert, um in symbolischen Analogien zu diesen die Wirklichkeit perspektivisch lesbar werden zu lassen. In „Die Cusanismen der Moderne. Zur Cusanus-Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ zieht Detlef Thiel einen weiten Bogen der Cusanusrezeption der letzten großen Moderne in Europa, die durch Stichworte wie Expressionismus, Abstraktion, Dada gekennzeichnet wird. Sie hängt eng zusammen mit der Zäsur des Ersten Weltkrieges und wirkt in Literatur, Kunst, Musik bis heute nach. Die Cusanus-Rezeption dieser Zeit be-
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schränkt sich nicht auf Cassirer. Vielmehr gab es seit dem späten 19. Jahrhundert eine neo-mystische Welle; vor allem im Verlag von Eugen Diederichs erschienen zahlreiche Texte aus dem Mittelalter, dem Fernen Osten usw., darunter etwa Büttners Eckhart-Ausgabe. Der Beitrag gibt einige Stichproben aus der akademischen, halb- und außer-akademischen Beschäftigung mit Cusanus: H. Cohen; die Pläne einer Cusanus-Edition bei H. Heimsoeth und N. Hartmann; H. Bahr, Friedlaender/Mynona und andere. Auf Hermann Cohen konzentriert sich der Beitrag von Kirstin Zeyer: „‚Nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam‘. Zur Cusanus-Rezeption Hermann Cohens“. In ihm wird Cohen nicht nur als der Anstoßgeber der kritischen Cusanusausgabe vorgestellt, sondern auch als ein Denker, dessen Cusanusrezeption nicht rein (natur-)wissenschaftsorientiert ist, sondern auch eine kulturwissenschaftliche Dimension hat, die sich auf den Toleranzgedanken des Cusanus bezieht. Ein ebenfalls wenig bekanntes Kapitel schlägt Harald Schwaetzer in seinem Beitrag „Nikolaus von Kues und Ortega y Gasset“ auf: nach einem Überblick über Urteile Ortegas zu Cusanus weist der Beitrag auf, wie Ortega insbesondere in seiner Lehre von der Perspektivität der Welt cusanisches Denken adaptiert. „Die Seins- bzw. Gottesfrage in Nicolaus Cusanus’ Idiota de sapientia (1450) und Karl Rahners Hörer des Wortes (1941)“ von Felix Resch schließlich weist strukturelle Parallelen zwischen Cusanus und Rahner auf, indem er der schon aufgezeigten Ähnlichkeit der beiden Denker nachgeht. In die Aktualität versetzt uns der Beitrag von Dominik Weiß: „Nikolaus von Kues im Kontext der Moderne-Kritik der Radical Orthodoxy“. In der angelsächsischen Welt werden seit einigen Jahren die Thesen einer Gruppe von Theologen unterschiedlicher Konfessionszugehörigkeit, die sich das Label „Radical Orthodoxy“ angeheftet haben, höchst kontrovers diskutiert. Wichtig ist für die Radical Orthodoxy die Frage, welche christlichen Denker sich als Gewährsmänner für das Projekt eines alternativen theologischen und religionsphilosophischen Denkens eignen. Für John Milbank und andere gehört aber auch Nikolaus von Kues zu den letzten Protagonisten einer von modern-säkularem Denken noch nicht korrumpierten mittelalterlichen Theologie und Metaphysik. Die Frage nach der Modernität des Cusanus müsste demnach negativ beantwortet werden, was ihn aber in den Augen der Radical Orthodoxy für die aktuelle geistesgeschichtliche Situation gerade relevant machen würde.
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In „Wahrheit als Geschehen – strukturelle Verbindungen im Denken von Nikolaus von Kues und Martin Heidegger“ unterzieht Susan Gottlöber Cusanus und Heidegger einem strukturellen Vergleich. Der im cusanischen Denken vollzogene Übergang von der aristotelischen Substanz- zu einer Relationsontologie hat auch für das cusanische Wahrheitsverständnis weit reichende Folgen. Blickt man auf den späten Heidegger und seine Interpretation von Wahrheit als Geschehen, zeigen sich im Wahrheitsverständnis erstaunliche Parallelen. Für Heidegger wie Cusanus gilt, dass erst im Einrichten der Wahrheit in das Seiende letzteres in seiner Einmaligkeit zur Gegebenheit gebracht wird. Und schon vor Heidegger entwickelt Cusanus den Menschen als ein offenes Wesen, das sich über seine Wahrheitsbezogenheit des Verdeckenden und Erstarrten entledigt. Der Beitrag „Praxis der Theorie. Cusanus und die Kritik der Moderne“ von Inigo Bocken greift die Modernitätsdebatte selbst auf, die um Cusanus geführt wird, und thematisiert sie neu vor dem Hintergrund einer Kritik an der Moderne, die selbst ein Repertoirebestandteil der modernen Rationalitätsauffassung sei. Exemplarisch wird dies durchgeführt an dem russischen Moderne-Kritiker Pavel Florensky, dessen Kritik von Cusanus aus kritisch ins Auge gefasst wird. Der Beitrag von Arne Moritz „Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren? Zu ‚demokratischen’ Ideen in De concordantia catholica“ ist in doppelter Hinsicht relevant: am Beispiel eines aktuellen Themas, der Demokratie und ihrer Position in dem frühen Werk des Cusanus, liefert Moritz einen Debattenbeitrag zum Problem „anachronistischer Interpretation“. Im Ergebnis entwickelt er die Position, dass eine „moderne“ Interpretation von De concordantia catholica, die sich auf Cusanus als wichtige Stufe der Entwicklung des Demokratiegedankens im modernen Europa konzentriert, zwar nicht alles erfasst, „was er dem Leser hat sagen wollen“, wohl aber eine Interpretation liefert, die kohärent ist mit der Struktur des cusanischen Textes als objektiver Bedingung der Interpretation. Den Band schließt ein Beitrag ab, der ein reflektierender Bericht ist: „Cusanus-Oper und Cusanus-Schulmaterial. Bericht über ein Projekt“. August Herbst schildert das Entstehen der 2007 in Trier uraufgeführten Oper „Cusanus – Fragmente der Unendlichkeit“ sowie die vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten, die das Projekt eröffnete, um eine Auseinandersetzung mit dem Werk des Cusanus in breitere Kreise der Bevölkerung zu tragen.
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Literatur MEIER-OESER, STEPHAN, Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989. MÜLLER, TOM, Perspektivität und Unendlichkeit. Mathematik und ihre Anwendung in der Frührenaissance am Beispiel von Alberti und Cusanus, Regensburg 2010. SENGER, HANS GERHARD, Ludus sapientiae. Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden, Boston, Köln 2002.
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Begriff und Funktion der Neuheit in der Philosophie des Nicolaus Cusanus ISABELLE MANDRELLA 1. Einleitung Sich den „Modernitäten“ eines Autors widmen zu wollen, setzt nicht unbedingt voraus, einen Blick auf dessen eigenes Verständnis von Modernität, von Neuheit und Erneuerungsanspruch zu werfen. Im Fall des Nicolaus Cusanus aber gibt es mindestens zwei externe Anlässe, die dafür sprechen, dies zu tun: Der erste betrifft die ungeklärte und deshalb immer wieder diskutierte Epochenzugehörigkeit des Cusanus, der zweite die mit seiner Rezeption verbundene Eigenart, seinem Denken eine Vorläuferfunktion zuzuschreiben und ihm dadurch einen besonderen Stellenwert beizumessen. Die Frage nach der Epochenzugehörigkeit wird dadurch erschwert, dass eine bis heute weit verbreitete Vorstellung behauptet, dass die Epochen des Mittelalters und der Renaissance sich fast unvereinbar gegenüber stünden: Hier das finstere, unkritisch der Tradition verhaftete Mittelalter, dort die helle und aufgeklärte Renaissance. Von der Epoche her zwischen Mittelalter und Renaissance stehend, scheint Cusanus zunächst weder zum einen noch zum anderen zu gehören. Zahlreiche – zum Teil auch skurrile! – Bezeichnungen sind für Cusanus gefunden worden, um seine Mittel- und – wie es in der Forschung überwiegend heißt – Mittlerposition zwischen den Epochen deutlich zu machen: so etwa als „Denker in umbruchgeprägter Zeit“, „Pionier der Neuzeit in 23
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der Frührenaissance“ oder „Pförtner der neuen Zeit“.1 Und doch zeigt sich gerade an einer Person wie Cusanus, wie forciert und zumindest philosophiehistorisch fraglich die Zäsur zwischen Mittelalter und Renaissance ist. Denn zweifellos möchte Cusanus – ganz im angeblichen Sinne des typischen Renaissancedenkers – etwas Neues, nie Dagewesenes sagen; auf der anderen Seite aber sind viele seiner Theorien – und hier spricht angeblich der typisch mittelalterliche Denker – ganz der Tradition verhaftet. Neben der Frage nach der Epochenzugehörigkeit, die in Gefahr steht, dadurch beantwortet zu werden, dass Cusanus zu Lasten des Mittelalters als progressiver Renaissancedenker stilisiert wird, sind es die speziellen Umstände der modernen Cusanus-Rezeption2, die sich in besonderem Maße darum bemühte, Cusanus als „neuzeit-kompatibel und gegenwartsträchtig zu erweisen“. 3 Treffend charakterisiert Werner Beierwaltes die Lage: „Die Cusanus-Rezeption der Moderne und der Gegenwart arbeitet einerseits die in diesem Denken unzweifelhaft neuen Elemente vielfach überzeugend heraus, andererseits konstruiert oder erfindet sie im Zuge einer fast zwanghaften Aktualisierung in ihm Neues und in der Tat Unerhörtes, um es vom Haut-goût des bloß Historischen, museal Vergangenen zu befreien und es für gegenwärtige Interessen auf Biegen und Brechen ‚brauchbar‘ zu machen. […] Vieles, was später – genuin neuzeitlich – die ihm eigentümliche Denkfigur gewonnen hat, wird vordatiert (es muß ‚möglichst früh schon da gewesen sein‘), um so das Frühere im geschichtlich wissenden Blick des Späteren zu nobilitieren. In eben dieser […] Sicht ist oder ‚eilt‘ Cusanus […] ‚seiner Zeit voraus‘, weist entschieden über sich selbst hinaus, ‚nimmt vorweg‘, lebt geradezu aus der ‚Antizipation‘ […]; weil er ‚nicht Bewahrung des Alten, sondern Neuerung‘ wollte, kann er in die Rolle des […] ‚Vorläufers‘ – des Kopernikus oder Hegels etwa oder der Neuzeit überhaupt – einsteigen.“4 Entsprechend kritisch opponiert Beierwaltes der „fortschrittsoptimistischen Aktualisierungssucht“ und der „Neuheitsversessenheit“ und plädiert für die „dialektische Interferenz des Alten mit dem Neuen und des Neuen
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Vgl. dazu SENGER: Nikolaus von Kues in seiner Zeit, S. 6f. Vgl. hierzu HEROLD: „Subjektivität“. BEIERWALTES: Nicolaus Cusanus, S. 352. Ebd., S. 351f.
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mit dem Alten“, die gerade die Eigenart cusanischen Philosophierens ausmache.5 In einem solchen „dialektisch begriffene[n] Verhältnis von Alt und Neu, von Tradition und Innovation“ gibt es laut Beierwaltes „keine sich gegenseitig ausschließende Alternative: Negation oder Emphase des Neuen“.6 Dass dieser Ansatz keineswegs ausschließt, die cusanische Philosophie mit Blick auf moderne Begrifflichkeiten und ihre dahinter stehenden Probleme zu interpretieren, zeigen Beierwaltes’ eigene Arbeiten, etwa zum Subjektivitätsdenken des Cusanus.7 Sie zeigen auch, dass diese Hermeneutik sogar die einzige ist, die einerseits einer Nivellierung sämtlicher Unterschiede in einer philosophia perennis, und andererseits einer radikalen Epochenzäsur, in der sich das Neue nur auf Kosten des Alten profiliert, entgegenzuwirken vermag. Die prinzipielle Vorsicht vor einer „neuheitsversessenen“ Interpretation kann jedoch auch in das andere Extrem führen, wie sich im Fall der Cusanusforschung bei Hubert Benz zeigt, der 1999 der Zurückweisung einer modernen Fehlinterpretation der cusanischen Philosophie gar seine Habilitationsschrift gewidmet hat und darin den Versuch unternimmt, das angebliche Selbstverständnis des Cusanus vor modernen Interpretationstendenzen zu retten.8 Vor dem Hintergrund dieser beiden angesprochenen Probleme möchte ich im Folgenden fragen, wie sich die Konzepte von Neuheit und Erneuerung in der Philosophie des Cusanus verorten lassen. Wie sind die zahlreichen Selbstaussagen des Cusanus in Bezug auf die Erneuerungsansprüche seines Denkens zu verstehen? Welches Selbstverständnis hatte Cusanus selbst von der Neuheit und Modernität seiner Philosophie?
2. Ungehörtes und Unerhörtes Das Selbstbewusstsein, mit dem Cusanus in seinen Lehren den Anspruch vertritt, rara und inaudita, Ungewöhnliches und Unerhörtes darzubieten, ist zunächst beachtlich! Bereits in seinem 1433/34 im Kontext des Basler Konzils entstandenen Frühwerk De concordantia catholica betont Cusanus die Originalität seiner Forschungen, wenn er 5 6 7 8
Ebd., S. 353, 355. Ebd., S. 352-355. BEIERWALTES: Subjektivität, Schöpfertum, Freiheit. BENZ: Individualität und Subjektivität. Eine Kurzversion seiner Thesen findet sich in BENZ: Nikolaus von Kues.
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beschreibt, wie er „mit großer Sorgfalt die Bücherschränke alter Klöster“ nach alten längst verschollenen Originalen durchsucht und diese zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht habe. „Alles stammt aus alten Originalen“, so versichert er seinen Lesern stolz, „und nichts aus irgendeinem verkürzenden Exzerpt“.9 Die eigentliche Leistung, die Cusanus für sich reklamiert, besteht jedoch nicht nur darin, jene testimonia certorum inauditorum, Zeugnisse sicherlich (bisher) ungehörter Autoren, wiederentdeckt, sondern vor allem, sie neu in den philosophischen Diskurs eingebracht zu haben. Cusanus bleibt nicht bei der bloßen Wiederentdeckung vergessener Theorien stehen, obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass der unvermittelte Rückgriff auf Originalquellen die Glaubhaftigkeit erheblich steigert, sondern beansprucht darüber hinaus, das Alte, aber bisher Unbekannte und deshalb Originelle neu in seine Philosophie zu integrieren. In dieser Neubewertung des Alten liegt das eigentlich innovative Moment. Dieses Verhältnis zur Tradition, zur „Philosophie der Alten“, zu den philosophischen Autoritäten wird Cusanus sein Lebtag beibehalten. Selbstverständlich kannte die mittelalterliche Philosophie stets den kritischen Umgang mit Traditionen und Autoritäten und war – entgegen manchen leider bis heute verbreiteten Vorurteilen – weit davon entfernt, sich ihnen kritik- und reflektionslos zu unterwerfen. Doch waren diese Konflikte stärker in die philosophische Debatte eingebunden und wurden quasi themenimmanent ausgefochten – Cusanus hingegen wird nicht müde, immer wieder sein persönliches Verhältnis zu den Autoren, auf die er sich beruft, zu thematisieren, sei es in Form des Tadels und der Kritik, sei es in Form des Lobes und der Zustimmung. „Zu dem eben Gesagten gelangten die Alten nicht, da sie es an der belehrten Unwissenheit fehlen ließen“, heißt es selbstbewusst in De docta ignorantia.10 Auch in De beryllo äußert Cusanus die Ansicht, dass selbst philosophische Größen wie Platon und Aristoteles irrten, weil sie den 9
De conc. cath. I (h XIV n. 2): „Non admirentur itaque nationes ceterae, si infrascripta testimonia certorum inauditorum legerint. Originalia enim multa longo abusu perdita per veterum coenobiorum armaria non sine magna diligentia collegi. Credant igitur, qui legerint, quia omnia ex antiquis originalibus, non ex cuiusquam abbreviata collectione, huc attracta sunt.“ 10 De docta ign. II (h I p. 103 [n. 162]): „Ad ista iam dicta veteres non attigerunt, quia in docta ignorantia defecerunt.“ Vgl. auch De ven. sap. (h XII n. 33).
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Beryll – die originär cusanische Methode, den Zusammenfall der Gegensätze erkennen zu können – nicht oder zumindest nicht vollständig kannten.11 Pseudo-Dionysius Areopagita hingegen sieht Cusanus als Verbündeten in seinem Anliegen, im Zusammenfall des Gegensätzlichen den einen Ursprung der Dinge sichtbar zu machen.12 Doch kehren wir zurück zur Frühschrift des Cusanus: De docta ignorantia. Auch hier kommt Cusanus gleich zu Beginn in seiner an Kardinal Cesarini adressierten Widmung auf das Außerordentliche seines Denkansatzes zu sprechen, nämlich zum einen auf die Neuheit des ungewöhnlichen Titels (novitas tituli) der Schrift, zum anderen auf die Kühnheit (audacia), mit der er seine Theorie von der belehrten Unwissenheit entwirft.13 Ausgehend von dem aristotelischen Diktum, dass im Staunen der Beginn der Philosophie liege, weil es den Geist antreibt, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, spricht er von seinem Werk als etwas Ungewöhnlichem: Denn „das Ungewöhnliche (rara) lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sich, auch wenn es seltsam und ungeheuerlich (monstra) ist.“14 In Kapitel 11 des zweiten Buches spricht Cusanus von seiner Lehre als etwas zuvor nicht Gehörtem (prius inaudita). Diese Formulierung verdient einige Aufmerksamkeit.15 Inauditum – das meint: Ungehörtes, aber auch: Unerhörtes! Der Begriff ist im cusanischen Werk sehr sparsam gesät und kommt nur an wenigen, dafür aber durchaus aussagekräftigen Stellen vor. In De concordantia catholica war uns inauditum bereits begegnet: Die Zeugnisse bisher ungehörter Autoren, die er nun neu wiederentdeckt hat, möchte Cusanus vorlegen und zur Sprache bringen. Hier ist vor allem der Aspekt der Neuheit und vielleicht weniger der des Spektakulären und Provozierenden ausschlaggebend. In Sermo CCXL hingegen bewertet Cusanus mit dem Adjektiv inauditus die unglaublichen und nie gesehenen Kriegsmaschinen und WurfgeDe beryllo (h 2XI/1 n. 28. n. 32. n. 40). De beryllo (h 2XI/1 n. 11. n. 32). Vgl. De docta ign. I (h I p. 1-2 [n. 1]). De docta ign. I (h I p. 2 [n. 1]): „Rara quidem, et si monstra sint, nos movere solent.“ 15 Hans Gerhard Senger weist auf den möglicherweise augustinischen Ursprung dieser Wendung hin. Vgl. SENGER: De docta ignorantia – eine Provokation?, S. 48, Anm. 8. Erich Meuthen fordert die „dringend[e] Erfassung“ dieses Begriffs „im Index verborum“. Vgl. MEUTHEN: Nikolaus von Kues, S. 8, Anm. 19.
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schosse der Türken, denen keine Mauer widerstehen kann.16 In moralischer Weise benutzt er den Begriff in der Cribratio Alkorani, wenn er Mohammed beschuldigt, „als ob Gott das so wollte, auf gesetzlichem Weg [zu gestatten], was früher bei allen Propheten und Gesetzgebern etwas Unerhörtes (inauditum) war“, nämlich Polygamie und sexuelle Freizügigkeit.17 Sermo CCXCII spricht in der Auslegung von Johannes 7, 14ff. von der Verwunderung und Empörung der Juden, die es für erstaunlich und unerhört (mirandum et inauditum) halten, dass jemand wie Jesus die Heilige Schrift versteht und auslegt, ohne dafür ausgebildet zu sein.18 In dieser Predigt klingt mit dem inauditum bereits die mit der Person Jesu Christi verknüpfte Einmaligkeit und unübertreffliche Originalität an, die sich auch an zwei weiteren Textstellen manifestiert: In Sermo CCLXXVIII nennt Cusanus das Zentrum der Offenbarung, die Inkarnation Gottes in Jesus Christus, neu und zuvor nicht dagewesen (omni generi humano novum et prius inauditum), womit er die Besonderheit und Einmaligkeit dieses Geschehens betont: So etwas hatte die Welt noch nie gesehen und gehört!19 Gleiches gilt für Sermo CCXXVI: Was der Erzengel Gabriel Maria zu sagen hatte, schien ihr unerhört und so gut, wie Cusanus sich beeilt hinzuzufügen, um dem Ganzen den Charakter des Skandalösen zu nehmen (annuntiat sibi inaudita et ideo bona), dass sie vor Erstaunen verstummte. Das Unerhörte liegt in diesem Fall in der Disproportion, die darin besteht, dass der höchste Gott diese einfachste Frau auserwählte, um sich in Jesus Christus zu offenbaren.20 Vor einigen Jahren erregte die Formulierung prius inaudita von De docta ignorantia die Aufmerksamkeit der Cusanusforschung, da Maarten J.F.M. Hoenen einen spektakulären Fund gemacht hatte: Eine seiner Meinung nach vorcusanisch zu datierende anonyme Handschrift, die die 16 Sermo CCXL (h XIX n. 4): „Fecit [sc. magnus turkus] ingenia bellica, machinas bumbardas inauditas, quibus nulli fortissimi muri possent resistere.“ 17 Crib. Alk. II (h VIII n. 156): „Et si reperiatur David excessisse in numero uxorum aut alios postea sanctos, hoc non excusat Mahumetum, qui via legis indulsit quasi deo sic volente, quod prius apud omnes prophetas et legislatores fuit inauditum [...].“ 18 Sermo CCXCII (h XIX n. 3): „[...] mirandum et inauditum quod quis scivit scripturas qui non didicit litteras.“ 19 Vgl. Sermo CCLXXVIII (h XIX n. 12). 20 Vgl. Sermo CCXXVI (h XIX n. 29).
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Kernaussagen von De docta ignorantia Buch II, Kapitel 7-10 enthält, gerade jenes Textstücks also, das Cusanus – so liegt zunächst nahe – als neu und zuvor nicht gehört anpreist.21 Damit sah sich die Originalität des cusanischen Denkens nicht unerheblich in Frage gestellt, scheint Cusanus sich doch eindeutig mit fremden Federn geschmückt und somit die Bezeichnung des Plagiators mehr als verdient zu haben, da er noch dazu so dreist war, das Originelle und Innovative dieser Gedanken explizit als seine Entdeckung für sich zu beanspruchen. Unabhängig jedoch davon, in welchem Verhältnis nun die entdeckte Handschrift zu De docta ignorantia steht, hat Hans Gerhard Senger zu Recht richtig gestellt, dass sich die Bezeichnung ista prius inaudita – wie die Futur-Formulierung admirabuntur qui … legerint deutlich macht – wahrscheinlich gar nicht auf Buch II, Kapitel 7-10 bezieht, sondern auf die beiden folgenden Kapitel 11 und 12, die also durchaus weiterhin als die ungehört-unerhörte Lehre des Cusanus gelten dürfen. Denn diese Kapitel enthalten in der Tat zuvor nicht geäußerte kosmologische Gedankengänge, die folglich ein hohes Maß an Rezeption – etwa durch Kopernikus, Galilei, Kepler u.a. – erfahren haben. Nicht zufällig steht die bereits zitierte selbstbewusste Bemerkung des Cusanus, die „Alten“ seien aufgrund ihrer Unkenntnis der docta ignorantia nicht zu solchen Erkenntnissen in der Lage gewesen, im Zentrum eben dieses Textstücks.22 Im Schlusswort von De docta ignorantia herrscht der gleiche Ton wie zu Beginn: Er habe Gedanken entwickelt, so Cusanus, „die über den üblichen Weg der Philosophen hinausgehen und vielen ungewöhnlich (rarum) vorkommen werden.“23 Er versäumt es allerdings auch nicht, den eigentlichen Grund zu nennen, der für diese Erkenntnis verantwortlich sei: sein Erleuchtungserlebnis während der Überfahrt von Konstantinopel, als ihm durch göttliche, gnadenhafte Gabe eingegeben wird, wie er „das Unbegreifliche in nicht begreifender Weise in belehrter Unwissenheit“ (incomprehensibilia incomprehensibiliter in docta
21 Vgl. HOENEN: „Ista prius inaudita“. Zur Diskussion dieses Fundes in der Cusanusforschung vgl. SENGER: De docta ignorantia – eine Provokation?, S. 50, Anm. 13. 22 Vgl. SENGER: De docta ignorantia – eine Provokation?, S. 51. 23 De docta ign. (Epistola auctoris) (h I p. 163 [n. 264]): „Secundus [sc. libellus] ex illo pauca de universo supra philosophorum communem viam elicit rara multis.“
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ignorantia) zu erfassen habe.24 Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der geschilderten Erleuchtung sicherlich um einen literarischen Topos handelt, verweist der Bericht im Zusammenhang mit der Entstehung von De docta ignorantia auf die Einmaligkeit des Geschehens, das Cusanus widerfahren ist und das er selbstsicher für sich in Anspruch nimmt, wenn er die Geschichtlichkeit seiner Eingebung betont, indem er sie temporal und lokal verankert. Damit gewinnt das Geschehen an singulärer Gewichtigkeit und Bedeutung, da es nunmehr stets mit der Person des Nicolaus und seiner Lebensgeschichte verbunden bleiben wird. In diesem Sinne wäre schließlich das Kolophon von De docta ignorantia zu nennen, in dem Cusanus voller Stolz und Selbstbewusstsein am Ende der Handschrift Ort und Datum der Fertigstellung vermerkt: „Ich habe sie vollendet in Kues am 12. Februar 1440.“ (Complevi in Cusa anno millesimo quadringentesimo quadragesimo, duodecimo Februari)25 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Cusanus bereits in seiner ersten großen philosophischen Schrift von dem Bewusstsein getragen ist, Ungewöhnliches, Neues, ja Unerhörtes und Provozierendes zu vertreten. Dass er mit dieser Meinung nicht allein stand, es sich folglich dabei also keineswegs um die vermessene Selbstüberschätzung des Autors handelt, zeigt die Reaktion eines der ersten Leser von De docta ignorantia, des Heidelberger Theologieprofessors Johannes Wenck von Herrenberg. Wenck fühlte sich von der cusanischen Schrift derart provoziert, dass er zum Gegenschlag ausholte und 1442 eine Kampfschrift mit dem Titel De ignota litteratura verfasste, die an Cusanus und seinen Lehren kaum ein gutes Haar ließ.26 Das Hauptproblem bei den cusanischen Zentralideen der docta ignorantia und der coincidentia oppositorum lag für Wenck in der Bedrohung der Theologie und der Wissenschaft im Allgemeinen. Da in seinen Augen also derart Wichtiges auf dem Spiel stand, scheute er sich nicht, Cusanus mit kirchlich verurteilten Häretikern in eine Reihe zu stellen und ihn in äußerst aggressivem Ton anzugreifen. Cusanus reagierte – allerdings erst sieben Jahre später, 1449 – mit seiner Verteidigung, der Apologia
24 Vgl. De docta ign. (Epistola auctoris) (h I p. 163 [n. 263]). 25 Zur Problematik der Authentizität dieses Eintrags vgl. SENGER: De docta ignorantia – eine Provokation?, S. 43f. 26 Der Text findet sich in: VANSTEENBERGHE: Le „De ignota litteratura“.
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doctae ignorantiae. Über das Warum dieser späten Reaktion hat die Forschung sich vergeblich den Kopf zerbrochen. Hatte Cusanus die Kritik des Wenck wirklich erst so spät zur Kenntnis genommen? Oder hatte er mit seiner Rechtfertigung warten wollen, bis er als Kardinal eine sichere kirchenpolitische Stellung innehatte, die ihn besser vor dem Vorwurf der Häresie schützte? Im Ton unterscheidet Cusanus sich jedenfalls kaum von Wenck, wenn er ihn als Fälscher und Schwätzer abstempelt.27 Darüber hinaus nutzt er erneut die Gelegenheit, um das Innovative seiner Philosophie herauszukehren. „Ohne Zweifel wird diese [meine] Betrachtung alle Weisen des Schlussfolgerns sämtlicher Philosophen besiegen“, so beginnt Cusanus zum Schluss der Apologia triumphierend, um dann verständnisvoll anzufügen: „wenn es auch schwierig ist, das Gewohnte aufzugeben.“28 Ein ähnlicher Befund wie in De docta ignorantia findet sich zu Beginn einiger weiterer Schriften des Cusanus. Die erneut Kardinal Cesarini gewidmete Einleitung zu De coniecturis scheint zwar vornehmlich durch rhetorische Topoi bestimmt zu sein, wenn Cusanus etwa die Unzulänglichkeit seines Geistes beklagt und um Korrektur seiner Auffassungen bittet, doch hindern ihn diese keineswegs daran, seine Auffassung eine „neue Vorschrift zur Erforschung der Künste“ (nova indagandarum artium formula) zu nennen29, die ihrer Neuheit (novitas) wegen zunächst auf Ablehnung stoßen könnte, die einer „Entdeckung“ (adinventio) gleichkommt und ein nur ihm zugängliches „Geheimnis“ (secretum) repräsentiert. So überrascht es dann auch nicht, dass Cusanus die Demutsformeln schnell hinter sich lässt, wenn er – selbstsicher geleitet von der Absicht, den Jungen und Unerfahrenen das Geheimnis seiner Mutmaßungen zu lüften – sein weiteres Vorgehen skizziert.30
27 Es ist also nicht verwunderlich, dass Wenck auf diese erneute Provokation wieder reagierte; sein Text De facie scolae doctae ignorantiae konnte jedoch bis heute nicht aufgefunden werden. 28 Apol. doctae ign. (h II p. 36): „Vincet enim indubie haec speculatio omnes omnium philosophorum ratiocinandi modos, licet difficile sit consueta relinquere.“ 29 De coni. I (h III n. 1). 30 Vgl. De coni. I (h III n. 3-4).
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3. Kreati vität und Erneuerung Dass sich die Neuheit in Bezug auf Cusanus nicht nur im Denken manifestiert, zeigt De ludo globi. Eben jenes Kugelspiel nämlich hat Cusanus selbst (neu) erfunden (ludus noviter inventus31). Gleich zu Anfang des ersten Buches des Dialogs bringt Johannes, der Gesprächspartner des Cusanus, seine Freude über dieses „neue und vergnügliche Spiel“ (novus et iucundus ludus) zum Ausdruck.32 Im Verlauf des Gesprächs wird dann deutlich, wie Cusanus die Erfindung dieses neuen Spiels als Illustration der Fähigkeit der menschlichen Seele deutet, „Künste und neue Wissenschaften zu erfinden“ (vis inventiva artium et scientiarum novarum).33 Kein Tier käme nämlich auf die Idee, ein neues Spiel zu erfinden, weil ihm die freie Kraft fehlt und es stets aus Instinkt handelt.34 Der Mensch hingegen überlegt und beschließt und ist dadurch erfinderisch tätig. Indem Cusanus mit der Erfindung seines Globusspiels Neues schafft, demonstriert er seine eigene neue Anthropologie: Im Schaffen von Neuem manifestiert sich das Neue. Der Begriff der Neuheit bezieht sich hier also weniger auf das Provokative und Unerhörte, sondern vielmehr auf die Kreativität, mittels derer der Mensch Neues hervorzubringen in der Lage ist. In dieser Kreativität aber ähnelt der Mensch Gott. Cusanus kommentiert das Werk des Globus-Drechslers: „Du hast also aus dieser Ähnlichkeit der menschlichen Kunst eine Weise, wie du die göttliche Schöpfungskunst irgendwie annähernd beschreiben könntest, obwohl zwischen dem Schaffen Gottes und dem Machen des Menschen soviel Abstand ist wie zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf.“35 Damit ist ein Grundthema cusanischer Philosophie angesprochen: Der vor allem in De mente und De beryllo ausgeführte anthropologische Grundgedanke von der geistbedingten Kreativität, der in der These gipfelt, der Mensch sei im Schöpferischen „ein
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De ludo globi I (h IX n. 50). De ludo globi I (h IX n. 1). De ludo globi I (h IX n. 28). De ludo globi I (h IX n. 31; n. 34). De ludo globi I (h IX n. 45): „Habes igitur ex hac similitudine humanae artis, quomodo artem divinam creativam aliqualiter conicere poteris, licet inter creare dei et facere hominis tantum intersit sicut inter creatorem et creaturam.“
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zweiter Gott“36. Die Gottähnlichkeit des Menschen – ein das ganze Werk des Cusanus durchziehendes biblisch-neuplatonisches Motiv – wird hier auf die Produktivität des menschlichen Geistes im Bereich der Kunst und der „Gedankendinge“ (entia rationis) bezogen. Die mathematischen Figuren und Zahlen etwa, die sich dadurch auszeichnen, dass ihnen nicht notwendig extramental etwas entspricht, entspringen allein unserem Verstand, so dass Cusanus sagen kann, dass wir ihr Schöpfer sind. Gerade für die Mathematik hat Nicolaus diesen Gedanken weiter ausgefaltet, denn in der Tatsache, dass die mathematischen Dinge von unserem Verstand hervorgebracht sind, liegt begründet, dass wir von der Gewissheit mathematischer Erkenntnisse ausgehen können.37 Der Verweis auf die entia rationis macht deutlich, dass es nicht nur um Kunstprodukte, sondern auch um geistige Prozesse geht, an deren Ende geistige Produkte wie beispielsweise Begriffe stehen. So kreist etwa De mente, wo mit dem Löffelschnitzer der sich schöpferisch und kreativ gestaltende Künstler par excellence eingeführt wird, letztendlich um die These der mens als „Begriffsuniversum“ (notionum universitas)38, d.h. als jener „Kraft, die aller Dinge Urbilder begrifflich in sich einfaltet“.39 Gerade darin, dass der löffelschnitzende Laie nicht „die Gestalt irgendeines Naturdinges nach[ahmt]“, sondern seine Kunst „mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten“ bestehen lässt, wird diese „der unendlichen [nämlich göttlichen] Kunst ähnlicher“.40 In De apice theoriae schließlich, dem letzten cusanischen Werk, wird deutlich, dass Cusanus bis zum Schluss vom Neuen fasziniert blieb und nie aufgehört hat, seine Philosophie als stetige Erneuerung zu verstehen. Mit dem Begriff der Erneuerung tritt neben der Provokation und der Kreativität eine dritte Nuance des Begriffs der Neuheit in Erscheinung. Dem Dialogpartner Peter fällt auf, dass der Kardinal nach 36 De beryllo (h 2XI/1 n. 7). 37 Vgl. De possest (h XI/2 n. 43f.). Vgl. dazu die Beiträge in PUKELSHEIM/SCHWAETZER (Hgg.): Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. 38 De mente (h 2V n. 72). 39 De mente (h 2V n. 58): „[...] vim illam, quae in nobis est, omnium rerum exemplaria notionaliter complicantem, quam mentem appello [...]“. 40 De mente (h 2V n. 62): „Non enim in hoc imitor figuram cuiuscumque rei naturalis. Tales enim formae cocleares, scutellares et ollares sola humana arte perficiuntur. Unde ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae arti similior.“
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langen Tagen der Versunkenheit einen neuen Gedanken in sich zu tragen scheint – diese Beobachtung ruft sein Erstaunen hervor, hatte er doch bisher angenommen, dass Cusanus am Ende seines Lebens in seinen vielen Schriften zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sei, dem nichts Neues mehr hinzugefügt werden könne. Was also ist nun dieses Neue (quid id novi est), so fragt er schließlich.41 Um die Beantwortung dieser Frage dreht sich die Schrift, wobei Cusanus in erkenntniskritischer Absicht deutlich macht, dass das Denken offen sein muss für Neues, d.h. stets ausgerichtet sein muss auf ein „besseres Begreifen“42. Im Zentrum der Gedanken steht der bereits in De coniecturis entfaltete Begriff der coniectura (Mutmaßung), der aus der These resultiert, die Wahrheit sei in ihrer Genauigkeit nicht erreichbar. Cusanus schreibt: „Daraus folgt aber, dass eine bejahende Feststellung über das Wahre, wenn sie von Menschen ausgesprochen wird, immer nur Mutmaßung ist. Die Erfassung des Wahren lässt sich nämlich stets vermehren, aber nie ausschöpfen.“43 Diese erkenntniskritische Auffassung, dass sich der menschliche Geist stets nur mutmaßend der unerreichbaren, präzisen Wahrheit anzunähern vermag, ohne sie jemals voll und ganz erfassen zu können, bedeutet zweifellos einen Bruch mit der erkenntnisoptimistischen Metaphysik der aristotelischen Tradition. 44 Zurecht hat die Cusanusforschung hier einen Ansatz zur Subjektivität im Sinne einer Rückbesinnung des erkennenden Subjektes auf sich selbst und seine Erkenntnisbedingungen gesehen, insofern aus der Aussage, dass der Mensch sich der Wahrheit immer nur gradweise und aus
41 De ap. theor. (h XII n. 1f.). 42 De api. theo. (h XII n. 2): „[...] nemo umquam ipsum qui maior est omni comprehensioni satiabitur quin semper instet, ut melius comprehendat“. 43 De coni. I (h III n. 2): „[...] consequens est omnem humanam veri positivam assertionem esse coniecturam. Non enim exhauribilis est adauctio apprehensionis veri.“ 44 Fritz Hoffmann hat versucht, diese erkenntniskritische Position des Cusanus mit dem Nominalismus des 14./15. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen (vgl. HOFFMANN: Nominalistische Vorläufer). Diese interessante These ist bis jetzt kaum weiter verfolgt worden (vgl. hierzu neuerdings KRIEGER: Conceptus absolutus). Zumindest wird deutlich, dass Cusanus der Sache nach wichtige Vorläufer hatte, es sich also auch hier weniger um einen Bruch im Sinne eines radikalen Neuanfangs handelt.
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je eigener Perspektive annähern kann,45 die Konsequenz folgt – wie die Aufstellung der allsehenden icona Dei in De visione Dei exemplarisch zeigt –, menschliche Perspektivität als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens anerkennen zu müssen.46 In diesem Sinne revidiert Cusanus in seiner letzten Schrift De apice theoriae zwar kritisch seine früheren Lehren im Lichte des Neuen, ohne sie indes zu verwerfen; repräsentieren sie doch die vielen verschiedenen Möglichkeiten, sich der Wahrheit einer Sache zu nähern, ohne sie jeweils in dem Sinne voll und ganz zu erreichen, dass es nicht eine noch bessere Annäherungsmöglichkeit gäbe.47
4. Innertrinitarische Neuheit In seinen Predigten rekurriert Cusanus gern auf einige Allerweltsweisheiten, die jeder kennt und die doch für sich sprechen: Omne rarum carum beispielsweise – „Alles Ungewöhnliche fasziniert“.48 Oder: Omnia nova placent – „Alles Neue gefällt“.49 Diese alltäglichen Einsichten hat Cusanus – wie bereits dargestellt – auf seine eigene Philosophie bezogen: so etwa in De docta ignorantia, wo er darauf hinweist, dass das Ungewöhnliche die Aufmerksamkeit auf sich zieht, selbst wenn es ungeheuerlich ist und sich – so die Übersetzung von Hans Gerhard Senger für das lateinische monstrum – „in der Form von Abnormitäten zeigt“.50 (Allerdings kennt Cusanus in De coniecturis ja 45 Vgl. De coni. I (h III n. 2-3); ebd. 11 (h III n. 55f.). Vgl. hierzu HEROLD: Menschliche Perspektive und Wahrheit, insbes. S. 42-62, sowie BOCKEN: Konjekturalität und Subjektivität. 46 Vgl. De vis. (h VI n. 3-4). Vgl. hierzu M ORITZ: Das Sehen des Papstes. 47 Kurt Flasch findet an dieser Stelle die Rechtfertigung seines Versuchs, eine Entwicklungsgeschichte des cusanischen Denkens zu schreiben. Allerdings liest Flasch diese Entwicklung im Sinne einer Verbesserung, die mit De apice theoriae ihren Höhepunkt erreicht hat: „Cusanus hatte das pointierte Bewußtsein, ständig weitergegangen zu sein, nicht nur in dem allgemeinen Sinne, daß alles immer noch besser gesagt werden könne, sondern als konkrete Verbesserung seiner jeweiligen philosophischen Position.“ FLASCH: Geschichte einer Entwicklung, S. 635. 48 Sermo CXCIX (h XVIII n. 8); Sermo CCLXII (h XIX n. 21). 49 Sermo CCLVII (h XIX n. 18). 50 Vgl. De docta ign. I (h I p. 2 [n. 1]) (siehe Anm. 15). Die Übersetzung stammt aus der im Verlag Felix Meiner als Philosophische Bibliothek 264a (Hamburg 41994) erschienenen Ausgabe.
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auch den gegenteiligen Fall, dass etwas seiner Neuheit wegen abgelehnt wird: frei nach dem Motto „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht“!51) „Das Staunen“, so schreibt Cusanus in einer Evangelienauslegung, entsteht „aus der Neuheit. Niemand nämlich staunt über die alten Dinge, die längst in den Gebrauch übergegangen sind.“52 Vielleicht war es diese Faszination des Neuen, die Cusanus in Sermo CCLVII von 1456 zu dem inspirierte, was Erich Meuthen „Hymnus auf die novitas“ nennt.53 In diesem Textstück, das ohne Parallelen im cusanischen Gesamtwerk ist, vertritt Cusanus – vermutlich im Anschluss an Meister Eckhart54 – die These, die Neuheit sei so zu charakterisieren, dass sie jeglicher Zeitlichkeit enthoben, d.h. über- und vorzeitlich ist; denn weil sie der Zeit erst ihr Früher und Später gibt, kann die Zeit selbst überhaupt eine neue genannt werden. Darin gleicht die Neuheit dem zeitlichen Moment, der weder Vergangenes noch Zukünftiges meint, sondern das jeder Zeitlichkeit entledigte Jetzt, aus dem sich die Zeit entfaltet (so wie die Zahl aus der Einheit). Dieses Jetzt ist nämlich in seiner Aktualität immer wieder als neu zu denken, so wie ein Sonnenstrahl oder Quellwasser immer wieder neu genannt werden können, weil sie sich stetig erneuern. In dieser Bestimmung ist die novitas ewig und kann nur von Gott stammen. Dies führt Cusanus zu einer trinitätsspekulativen Deutung, in der die christliche Trinität durch den Ternar ‚Ewig-
51 De coni. I (h III n. 3): „[...] etiam si primo ista cruda atque novitate sua offensiva potius videantur.“ 52 Sermo CXLIX (h XVIII n. 4): „Nam admiratio fuit ex novitate. De rebus enim antiquis, quae in usum transiverunt, nemo admiratur.“ 53 MEUTHEN: Nikolaus von Kues, S. 8. Vgl. Sermo CCLVII (h XIX n. 14-19). Auszugsweise ist diese Predigt übersetzt bei SCHARPFF: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften, S. 536-539. 54 Für Eckhart ist die Neuheit stets göttlich und extratemporal bestimmt. MEISTER ECKHART: Sermo XV/2 n. 155 (LW IV, 147): „novum est propinquum principio“; Expositio libri Sapientiae n. 161 (LW II, 497): „Et dicatur quod ipse deus est semper novus, semper gignit, semper creat, semper operatur, non veterascit, non praeterit et recedit, sed semper operatur et operando innovat operata, sicut hic dicitur: omnia innovat.“ Einen Hinweis auf die mögliche Verbindung zwischen Eckhart und Cusanus gibt die kritische Eckhart-Edition, die in den Sermones et Lectiones super Ecclesiastici n. 21 (LW II, 248, Anm. 7) darauf hinweist, dass Cusanus in seinem Kueser Exemplar (Cod. Cus. 21) folgenden Satz angestrichen habe: „omne opus dei semper novum est“.
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keit‘ für Gottvater, ‚Neuheit‘ für den Sohn und ‚Liebe‘ als Verbindung beider für den Heiligen Geist repräsentiert wird.55 Der hier zitierte Ternar aeternitas – novitas – amor ist einer der zahlreichen Ternare, die Cusanus immer wieder ausgiebig benutzt, um das göttliche Wirken in der Welt zu illustrieren. Während die Zuschreibung der ersten Person der Trinität als Ewigkeit und der dritten Person als Liebe zum allgemeinen Gedankengut zählt, scheint die Benennung der zweiten Person als Neuheit originär cusanisch zu sein. Cusanus geht es dabei um die spekulative Begründung der Erschaffung der Welt, nämlich die Tatsache, dass Gott als Schöpfer Neues schafft, nicht nur auf die Welt zu beziehen, sondern sie – gemäß der bereits biblisch bezeugten Vorstellung, Gott habe die Welt durch den Sohn erschaffen (Hebräer 1, 2) bzw. ohne das Wort (= den Sohn) sei nichts geworden (Johannes 1, 3) – bereits in die drei göttlichen Personen selbst zu situieren: Aus Gottvater geht eine Neuheit (= der Sohn) hervor, durch die er die Welt neu schafft – so wie die Neuheit als ewige von der Ewigkeit hervorgebracht wird und folglich neue Ewigkeit genannt werden kann. Denn – wie Cusanus in seiner späteren kleinen Schrift De principio unter dem Einfluß von Proklos’ Kommentar zu Platons Parmenides weiter ausführen wird – Gottvater, der Ursprung ohne Ursprung (principium sine principio), ist gleichewig (coaeternum) mit dem Sohn, dem Ursprung vom Ursprung (principium de principio).56 Ausschlaggebend für diesen schwierigen und hochspekulativen Exkurs über die Neuheit, der Cusanus – wie er selbst zugibt – mehr spontan als durchdacht über die Lippen gegangen zu sein scheint,57 war offensichtlich die Beobachtung, dass alle neuen Dinge Gefallen erregen. Für die intellektuelle Kreatur Mensch ergibt sich diese Fähigkeit, für alle neuen Dinge Gefallen zu empfinden, aus der durch den Heiligen Geist vermittelten göttlichen Gabe, die Welt in ihrer Struktur als von Gott geschaffene begreifen zu können. In Sermo CXVI bestimmt Cusanus den Menschen deshalb als animal admirativum, d.h. als dasjenige Wesen, das sich durch die sinnliche Erfahrung des Ungewöhnlichen und Unbekannten in Staunen versetzen und zum Weiterdenken animie-
55 Vgl. Sermo CCLVII (h XIX, n. 17-19). 56 Vgl. De principio (h X/2b n. 10); Sermo CCLVII (h XIX n. 17). 57 Vgl. Sermo CCLVII (h XIX n. 19).
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ren lässt.58 Denn Gott hat den Menschen als freies und intellektuelles Wesen geschaffen, das in der Lage und willens ist, sich – angestoßen auch durch die Sinneserfahrung – dem Ursprung allen Seins zuzuwenden, seine Herrlichkeit zu schauen und sich selbst als Abbild dieses ewigen Ursprungs zu begreifen.59 Damit lässt sich die Predigt über die Neuheit nahtlos in die andernorts erwogenen Überlegungen des Cusanus einordnen, sofern sie den spekulativen Hintergrund beleuchtet, vor dem sich die Konzeption des Menschen als einer gottähnlichen, kreativen viva imago Dei entfaltet.
5. Schluss Mit gutem Recht durfte erwartet werden, dass Cusanus von seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis her an sich und seine Lehren einen gewissen Neuerungsanspruch hatte (ohne damit freilich eine totale Unabhängigkeit von der Tradition anstreben zu wollen). Denn selbstverständlich zählt für die intellektuelle wissenschaftliche Tätigkeit die Ambition, Wissen zu produzieren, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hat. Eine Sichtung des cusanischen Selbstverständnisses hat aber ergeben, dass Cusanus seine Philosophie nicht nur als Erneuerung versteht, sondern darüber hinaus dem Phänomen des Neuen bzw. der Neuheit in seinem Denken einen systematischen Stellenwert zuschreibt. ‚Erneuerung‘ kann deshalb für Cusanus in dreierlei Hinsicht angenommen werden: Erstens im provokativen Sinn, mit zentralen Ideen bisher nicht Dagewesenes und Unerhörtes kund zu tun. Allerdings wäre es unzutreffend, Cusanus als Provokateur darzustellen, der in großspurigem Ton nur darauf aus war, anderen den Kampf anzusagen. Die Provokation wurde ihm nie zum Selbstzweck – er nahm sie freilich billigend in Kauf, wenn es ihm darum ging, einmal für richtig erachtete Ziele durchzusetzen.60
58 Vgl. Sermo CXVI (h XVII n. 11). 59 Dieser Thematik ist vor allem De beryllo gewidmet. Vgl. De beryllo (h 2 XI/1 n. 4. n. 54. n. 65-70). Eine treffliche Zusammenfassung findet sich in Sermo CLXXXVII (h XVIII n. 10). 60 Vgl. SENGER: De docta ignorantia – eine Provokation?, S. 60.
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Wie eine Klammer umfasst diese positive Einstellung des Cusanus für alles Innovative und Ungehört-Unerhörte sein ganzes Denken. Denn darin manifestiert sich – so in einem zweiten, exemplarischen Sinn – die geistbedingte Kreativität des Menschen, d.h. seine Fähigkeit, Neues zu schaffen. Die in der Betonung der schöpferischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes zum Ausdruck kommende Gottähnlichkeit, die Cusanus in die Metapher des lebendigen Bildes (viva imago) kleidet, führt in Anthropologie und Erkenntnistheorie zu neuen Einsichten. Wohl bleibt der Mensch ontologisch betrachtet Abbild des ewigen Ursprungs und in seinen kreativen Möglichkeiten hinter dessen Fähigkeiten zurück. Doch ist Cusanus weit davon entfernt, diese Abhängigkeit vom absoluten Ursprung in einem defizienten Sinn zu verstehen, sondern beschreibt vielmehr in immer wieder neuen Formulierungen und Metaphern des Lebendigen die Dynamik, die durch die Bewusstwerdung der eigenen Abbildhaftigkeit – der eigentlichen Selbsterkenntnis – freigesetzt wird:61 In all seinem Tun, sowohl in epistemologischer als auch in praktischer Hinsicht ist der Mensch auf seine Selbstgestaltung verwiesen, die darin besteht, sich dem Urbild mehr und mehr anzunähern.62 Damit ist das dritte Moment der Neuheit angesprochen, nämlich – in einem methodischen Sinn – die Forderung, dass das Streben nach Wissen und Wahrheit als solches stets dynamisch bleiben und immer wieder erneuerbar sein muss. Diese eng mit dem coniectura-Begriff zusammenhängende Einsicht weiß um die Standpunktgebundenheit der je eigenen individuellen Perspektive und um die für den menschlichen Intellekt geltende Nichterfassbarkeit einer Sache an sich, sieht jedoch gerade darin die besondere Würde des Menschen begründet, der sich in freier und intellektueller Tätigkeit der absoluten Wahrheit unermüdlich immer wieder aufs Neue anzunähern vermag und dabei als ‚Grenze‘ und ‚Maß‘ aller Dinge fungiert.63 Alle drei Nuancen des Begriffs der Erneuerung bzw. Neuheit zeugen von einer Philosophie, die getragen ist von einem Selbstbewusstsein, das nicht Rechthaberei impliziert, sondern die Freude an der intel-
61 Vgl. hierzu MANDRELLA: Selbsterkenntnis als Ursachenerkenntnis. 62 Vgl. MANDRELLA: Viva imago, insb. S. 271-287. 63 Vgl. De mente (h 2V n. 57); ebd. 9 (h 2V n. 123); De beryllo (h 2XI/1 n. 6); De ven. sap. (h XII n. 82).
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lektuellen Auseinandersetzung – mit sich selbst, der Welt und Gott als dem Ursprung allen Seins –, die sich immer wieder aufs Neue anspornen lässt. Zu solch kreativen Akten ist allein der Mensch in der Lage. Ein Denken hingegen, das sich der stetigen Erneuerung und Verbesserung in diesem Sinne verweigert, bleibt weit hinter den eigenen geistigen Möglichkeiten zurück.
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Mit Dionysius gegen Wenck Areopagitisches in der „Apologia doctae ignorantiae“ des Nikolaus von Kues VIKI RANFF Nikolaus von Kues ist dafür bekannt, dass er durch verschiedene Strömungen des christlichen Platonismus geprägt ist. An der Wurzel dieser Verknüpfung von neuplatonisch-philosophischen und biblisch-theologischen Gedanken steht am Ende des fünften Jahrhunderts insbesondere Pseudo-Dionysius Areopagita, der Verfasser einer Reihe von Schriften, die den Eindruck erwecken wollen, vom gleichnamigen Angehörigen des Areopag in Athen zu stammen, der laut Apg 17,34 von Paulus bekehrt wurde.1 Obwohl Lorenzo Valla die apostolische Autorität des vermeintlichen Apostelschülers als unecht nachgewiesen hatte,2 hielt Cusanus daran fest, vielleicht um seine theologische Bedeutung zu untermauern. In seiner Apologia doctae ignorantiae reagiert Cusanus 1449 auf De ignota litteratura, eine Streitschrift des Rektors der Universität Heidelberg, Johannes Wenck von Herrenberg, von 1442/43 gegen die 1440 erschienene cusanische Schrift De docta ignorantia. Cusanus lässt in dieser späten Erwiderung zwei seiner Schüler über den Streitfall spre1 2
Vgl. SUCHLA: Dionysius Areopagita, S. 15-25. Diesen Vorgang und die cusanische Rezeption des Corpus Areopagiticum erläutert BEIERWALTES: Der verborgene Gott, S. 8f. Zu letzterer vgl. auch BAUR: Nicolaus Cusanus und Ps. Dionysius, bes. S. 24 zur Apologia und S. 84f. zum Begriff der docta ignorantia.
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chen. Einer der beiden ließ sich zwecks Verteidigung der Lehre der docta ignorantia von Cusanus über die Einwände Wencks und die cusanischen Gegenargumente unterrichten und gibt dieses Gespräch an seinen Mitschüler weiter. Cusanus erreicht durch diesen rhetorischen Kunstgriff, dass seine Invektive gegen Wencks Positionen nicht als seine persönliche Aggression, sondern als eine von seinen Schülern ihm abgerungene Erklärung erscheint. In diesem Zusammenhang stehen elf Zitate oder Verweise auf Dionysius, der als Vorbereiter oder Vertreter der Lehre von der docta ignorantia herangezogen wird. An einer zwölften Stelle wird er nicht zitiert, sondern mit anderen christlich-neuplatonischen Autoren als Gewährsmann genannt.3 Im Folgenden sollen die Dionysius-Zitate aus der Apologia doctae ignorantiae des Cusanus vorgestellt und in ihrer Bedeutung für die cusanische Position erläutert werden. In der „Rahmenerzählung“ eines der beiden Schüler wird berichtet, wie Cusanus von der Überreichung seiner Bücher an Wenck Kenntnis nimmt: „Als ich dem Meister vorlas, daß die Bücher der Docta ignorantia dem Widersacher überreicht worden seien, bemerkte ich, wie er leise seufzte. Als ich genauer nach dem Grund forschte, antwortete er: ‚Wenn jemand sich mit den bedeutenderen Weisen der alten Zeit beschäftigt, erfährt er, daß sie mit höchster Sorgfalt darum bemüht waren, ihre Geheimnisse nicht in die Hände Unerfahrener kommen zu lassen. Wir lesen, daß Hermes Trismegistos dem Aesculapius und Dionysius Areopagita dem Timotheus das befohlen haben, und wissen auch, daß unser Herr Jesus Christus dies gelehrt hat, da er verbot, die Perle, die ein Gleichnis für das Reich Gottes ist, den Säuen vorzuwerfen, die keinen Verstand haben. Ebenso sagte Paulus, es sei ihm nicht gestattet zu enthüllen, was er bei seiner Entrückung von dieser Welt in den dritten, geistigen Himmel gesehen habe. Dafür gibt es nur einen Grund; wo das Geistige nicht begriffen wird, ist es gering geachtet und statt die Frucht des Lebens zu tragen, bringt es den Tod. Vor allem geboten sie, zu ver-
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Vgl. Apol. doctae ign. (h 2II p. 29,16-30,3 [n. 43]).
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hindern, daß das Geheimnis Menschen mitgeteilt werde, deren Geist durch die Macht eingefleischter Gewohnheit gefesselt ist [...].‘“4
Das Seufzen des Cusanus gilt der verletzten Arkandisziplin. Dass er sie im gegebenen Fall für nötig erachtete, gewichtet seine Einschätzung des Kontrahenten. Dionysius steht hier als Vertreter neben hermetischen Denkern, Paulus nach 2 Kor 12,2 und Christus nach Mt 7,6, die gleichermaßen davor warnen, Unbefugten oder Unreifen Kenntnisse zu enthüllen, die sie nicht fassen können, so dass sie durch diese nicht erleuchtet, sondern gefährdet werden. Zugleich soll das geistige Gut vor Geringschätzung und Entweihung geschützt werden. Als größtes Hindernis gilt jedoch nicht Unwissenheit oder Glaubensmangel, sondern die Gewohnheit, eingefahrene Denkmuster nicht verlassen zu wollen und sich dadurch auch der tieferen Erkenntnis der Wahrheit zu verschließen. Die vom Schüler angeregte Widerlegung des Gegners schlägt Cusanus mit dem Hinweis auf dionysische Zurückhaltung aus, die erneut die Unwürdigkeit des Gegners spiegelt: Wenck steht hier auf einer Stufe mit einem Magier, den Dionysius zu korrigieren sich weigert. Der besonnene Kundige hat es nicht nötig, sich mit Angriffen von Toren abzugeben, da das ruhige Wissen seiner selbst sicher ist. Scheingefechte führen vielmehr diejenigen, die in ihrer törichten Phantasie Fechthiebe ausführen, die den wahren Gegnern nicht gewachsen sind und die sich zugleich über ihre vermeintlichen Kräfte täuschen. Cusanus will nicht wie ein solcher Mensch handeln, der wie spielende Kinder Sandburgen baut und diese für gut fundiert hält, da er sonst nach Dionysius als Ver-
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Apol. doctae ign. (h 2II p. 5,25-6,3 [n. 7]): „Vidi autem, dum praeceptori legerem adversario Doctae ignorantiae libellos praesentatos, quomodo parumper ingemuit. Cuius causam dum diligentius sciscitarer, respondit: ‚Si quis graviores prisci temporis sapientes attendit, comperit magno studio praecavisse, ne mystica ad indoctorum manus pervenirent. Sic Hermetem Trismegistum Aesculapio atque Ariopagitam Dionysium Timotheo praecepisse legimus, quod et Christum nostrum docuisse scimus; inhibuit enim margaritam, quam regnum Dei figurat, ante porcos proici, in quibus non est intellectus. Sic Paulus ea, quae ab hoc mundo raptus in tertium intellectibile caelum vidit, dicit revelari non licere. Undique unica huius causa existit; nam ubi non capitur, ibi non solum non fert fructum vitae, sed vilipenditur et mortem inducit. Maxime autem cavendum monuerunt, ne secretum communicaretur ligatis mentibus per auctoritatem inveteratae consuetudinis.‘“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 529-531).
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rückter verlacht würde. Damit stünde er auf einer Stufe mit Wenck, wie die Auslegung des vorausgehenden Dionysius-Zitates gezeigt hat, denn: „Als Zeugnis dafür, daß es einem besonnenen Mann nicht zieme, sich um die Widerlegung irgendwelcher Toren zu kümmern, zog er eine Stelle aus dem Buch des Dionysius im 11. Kapitel von ‚De divinis nominibus‘ heran. Dort schreibt dieser, daß Paulus, als er sagte, daß Gott sich selbst nicht unbekannt sein könne, von dem Magier Elymas, der die Allmacht Gottes leugnete, angegriffen wurde; als Dionysius Paulus den Rat gab, diesen zu tadeln, erwiderte er, er fürchte, als ein Verrückter verlacht zu werden, der sich bemühe, die auf Sand errichteten, schwankenden Bauten spielender Kinder zu zerstören. Er würde jenen törichten Ringkämpfern gleich handeln, die sich oft vorstellen, kraftlose Gegner vor sich zu haben und tapfer gegen die Abwesenden einen Scheinkampf führen; wenn sie dann die Luft ständig mit leeren Hieben geschlagen haben, bilden sie sich ein, ihre Gegner überwunden zu haben und brüsten sich als Sieger, obwohl sie ihre Kräfte nicht erprobt haben. Das komme jenem Vorhaben genau gleich. Ich hielt ihm aber entgegen, daß ohne den Widerstand des Paulus Dionysius die bösen Folgen der Behauptungen jenes Magiers durch eine Widerlegung verhindert hätte, was er auch zugab.“5
Um jedoch die Argumentation und Widerlegung Wencks weiterführen zu können, lässt Cusanus den Schüler den Einwand formulieren, Dionysius habe diese Zurückhaltung nur auf Anraten des Paulus geübt. Das genann5
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Apol. doctae ign. (h 2II p. 6,17-7,8 [n. 8]): „Adduxit in testimonium non decere gravem virum attendere ad confutationem ignorantium illud, quod magnus Dionysius scribit undecimo capitulo De divinis nominibus, ubi ait Paulum, quia dicebat Deum se ignorare non posse, per Elymam magum, quasi negasset Deum omnipotentem, reprehensum; quem cum Dionysius reprehendere proponeret, dicebat se vehementer timere, ne ut amens rideretur, qui puerorum ludentium structuras et supra arenam fundatas et infirmas evertere moliretur; quem dixit imitatorem athletarum imperitorum, qui saepe imbecillos sibi adversarios esse suadentes contraque absentes ipsos fortiter adumbrata pugna dimicantes et aerem cassis ictibus constanter ferientes adversarios ipsos superasse arbitrantur seque victores bucinantur, cum neque illorum noverint vires. Hoc proprie aiebat propinquum esse proposito. Ego autem adieci eo non obstante Dionysium illius magi malam consequentiam refellisse; quod et fatebatur.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 531– 533).
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te Kapitel XI aus De divinis nominibus des Dionysius handelt vom Gottesnamen „Friede“. Der paulinische Bezug liegt auch im dortigen Hinweis auf die Friedfertigkeit Christi, die mit der Ermahnung zur Vermeidung des Streites und einer Zitation des deuteropaulinischen Epheserbriefes verbunden ist, gemäß dem Christus „alles in allem“ wirkt.6 Ungleich deutlicher spricht Dionysius die Friedenspflicht jedoch, wenn auch ohne Bezug zu Paulus, im Brief 6 aus. Dort erläutert er seinem Adressaten, dem Presbyter Sopater, es sei kein Sieg, eine Religion oder Anschauung in den Schmutz zu ziehen. Dies bedeute noch nicht, dass man selbst im Recht sei, denn die eine Wahrheit könne einem selbst ebenfalls unter vielerlei Irrtümern verborgen bleiben. „Wünschst Du, meinem Beispiel zu folgen, dann halte es so: Du hörst auf damit, gegen andere zu polemisieren; dafür sprichst Du wirklich zugunsten der Wahrheit, so daß alles, was Du sagst, vollkommen unwiderleglich ist.“7 In diesem von Cusanus vordergründig beachteten Rat des Dionysius, von dem er sich durch seinen Schüler sogleich – wie es scheint bereitwillig – wieder abbringen lässt, deutet sich eine Debatte über Sinn und Grenzen einer argumentativen Verteidigung gegenüber Gegnern an. Der Schüler erwartet – darin vielleicht Wenck ähnlich – von Cusanus Autoritätsbeweise für die docta ignorantia. In Anspielung auf die cusanische Erkenntnis der coincidentia oppositorum durch eine „Gabe des Vaters der Lichter“ nach Jak 1,17 auf der Überfahrt von Konstantinopel würdigt der Schüler die inspirierte Einsicht, scheint jedoch selbst weitere Gründe zum Verständnis zu benötigen. Cusanus gibt darauf freimütig zu, vor dieser damals neu gewonnenen Einsicht die „wahren Theologen“ nicht verstanden zu haben – was wiederum ein Licht auf Wencks Blindheit wirft. Die Einsicht selbst erschließt ihm nicht nur die sachliche Wahrheit, sondern zugleich das Verständnis aller „wahren Theologen“, bei denen er mit dem neu gewonnenen hermeneutischen Schlüssel in verschiedenster Weise dieselbe Wahrheit entdeckt, bei der es sich um die grundlegende Wahrheit aller Theologie handelt: „‚Wenn dir auch, mein teuerster Meister, diese Erkenntnis, die Du in der Docta ignorantia dargelegt hast, ohne Mühe, allein durch die Gnade Gottes kam, hast Du doch sicherlich die Schriften vieler alter Weisen darauf6 7
Vgl. DIONYSIUS: De divinis nominibus XI 5, S. 96. Vgl. Eph 1,23. DIONYSIUS: Brief VI, S. 93.
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hin geprüft, ob sich in allen dasselbe wiederfinde. Darum bitte ich Dich, daß Du das hinzufügst, was Dir von dem, was Du gelesen hast, einfällt.‘ Er antwortete: ‚Ich muß gestehen, mein Freund, daß ich damals, als mir dieser Gedanke von Gott gegeben wurde, weder Dionysius noch einen andern der wahren Theologen verstanden hatte. Dann aber warf ich mich eilendst über die Schriften der Gelehrten und überall fand ich das mir Geoffenbarte auf verschiedene Weise vorgebildet. Dionysius nennt im Brief an Gaius die Unwissenheit das vollkommenste Wissen und spricht an vielen Stellen über das Wissen der Unwissenheit.‘“8
Dies lässt sich im Sinne platonischer Anamnesis lesen, die ermöglicht wurde durch die illuminative Maieutik seitens des „Vaters der Lichter“. Dadurch ergibt sich auch ein vertieftes Verständnis der theologischen Tradition. Den folgenden Gedanken, dass größere Entfernung zu Gott größere Annäherung ermöglicht, entlehnt er der paulinischen Areopagrede. Dass er auf die Bekehrung des Dionysius in diesem biblischen Zusammenhang verweist, obwohl der Gedanke nicht nach dionysischem Vorbild formuliert ist, scheint zu bedeuten, dass er dennoch dem Denken des Dionysius, vielleicht auch bedingt durch dessen paulinische Belehrung, entspricht: „Andernorts habe ich ein Büchlein De quaerendo Deum geschrieben. Wenn du dort nachliest, wirst du finden, dass, ‚wenn er auch überall ist und uns nicht fern‘ – wie Paulus den Athenern sagte, als er Dionysius 8
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Apol. doctae ign. (h 2II p. 12,14-24 [n. 16f.]): „Et ego: ‚Praecare praeceptor, quamvis nullo studio tibi advenerit consideratio, quam in Docta ignorantia aperuisti, sed Dei dono, tamen non dubium multos veterum sapientum quaesivisti, ut videres, si in omnibus idem reluceret. Hinc oro ut, si qua eorum, quae legisti, occurrunt, adicito.‘ Et ipse: ‚Fateor, amice, non me Dionysium aut quemquam theologorum verorum tunc vidisse, quando desuper conceptum recepi; sed avido cursu me ad doctorum scripta contuli et nihil nisi revelatum varie figuratum inveni. Nam Dionysius ad Gaium ignorantiam perfectissimam scientiam affirmat et de scientia ignorationis multis in locis loquitur [...].‘“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 543-545). Cusanus spielt hier auf den Schluss von Brief 1 des Dionysius an Gaius an: „[...] er ‚ist‘ in einer Weise, die alles Sein transzendiert, und wird erkannt in einer Weise, die höher ist als alle Vernunft. Und dies – in einem höheren Sinne – vollkommene Nichtwissen ist Erkenntnis dessen, der alles Erkennbare übersteigt.“ DIONYSIUS: Brief 1, S. 90.
Mit Dionysius gegen Wenck
bekehrte – man ihm umso näher kommt, je weiter er sich entfernt zu haben scheint. Denn je besser man eine unerreichbare Entfernung erkennt, um so näher kommt man zur Unzugänglichkeit.“9
Auch mathematische Beispiele dienen als Folie für vernünftige Koinzidenzerkenntnis ohne methodische Umwege. Sie wird auch für kontradiktorische Gegensätze analog auf Gotteserkenntnis übertragen. Daher erscheint Gott gemäß Dionysius auch als oppositio oppositorum: „Aber auf der Ebene des vernünftigen Geistes, der sieht, daß in der Einheit die Zahl und im Punkt die Linie und im Zentrum der Kreis eingefaltet ist, wird das Zusammenfallen von Einheit und Vielheit, Punkt und Linie, Zentrum und Umkreis in der Schau des Geistes ohne methodisches Hin und Her erreicht; das konntest du in den Büchern De coniecturis sehen, wo ich dargelegt habe, dass Gott sogar über dem Zusammenfall der kontradiktorischen Gegensätze steht, da er nach Dionysius der Gegensatz der Gegensätze ist.“10
Die Spannung der Gegensätzlichkeit überträgt Cusanus mit Dionysius im Folgenden auf das Aufstiegsmotiv zum lichten Dunkel der Mystischen Theologie. Im Kontrast zu dieser Erkenntnis wird erneut das Apol. doctae ign. (h 2II p. 13,21-26 [n. 18]): „Scripsi alias libellum De quaerendo Deum; quem lege. Reperies enim ibi, quod, licet ubique sit et non absit a nobis – ut ait Paulus Atheniensibus, quando Dionysium convertit –, tamen tunc propius ad ipsum acceditur, quando plus fugisse reperitur; quanto enim ipsius inaccessibilis maior elongatio melius capitur, tanto propinquius inaccessibilitas attingitur.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 547). 10 Apol. doctae ign. (h 2II p. 15,10-16 [n. 21]): „Sed in regione intellectus, qui vidit in unitate numerum complicari et in puncto lineam et in centro circulum, coincidentia unitatis et pluralitatis, puncti et lineae, centri et circuli attingitur visu mentis sine discursu, uti in libellis De coniecturis videre potuisti, ubi etiam super coincidentiam contradictoriorum Deum esse declaravi, cum sit oppositorum oppositio secundum Dionysium.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 551). Unter den in der kritischen Edition genannten DionysiusReferenzen überzeugt am meisten De divinis nominibus IX 1 zum Gottesnamen „der Große“ mit seinen extremen Gegensätzen. Zur oppositio oppositorum vgl. De vis. (h VI n. 54): „Oppositio oppositorum est oppositio sine oppositione [...]. Es igitur tu, deus, oppositio oppositorum, quia es infinitus, et quia es infinitus, es ipsa infinitas. In infinitate est oppositio oppositorum sine oppositione.“
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Unverständnis Wencks versichert und diesmal mit moralisch abwertenden Kommentaren des Schülers versehen, denen Cusanus in seiner Eigenschaft als Lehrer erneut zustimmt, nicht jedoch ohne dies noch einmal mit einer rein rhetorischen Schonung des „Verrückten“ zu verbinden, die vielmehr das Gegenteil ausdrückt, wenn der Schüler die nächste Runde einläutet: „‚Dies sind Worte eines verlogenen und hochmütigen Mannes, der von der Theologie keine Ahnung hat.‘ Der Meister stimmte dem völlig bei, fügte aber hinzu, man müsse den Verrückten eher schonen denn verhöhnen. ‚Denn das, was er mir vorwirft, wird in der Docta ignorantia so untersucht, wie es Dionysius, dessen Fest wir heute feiern, in der Mystischen Theologie lehrt, nämlich, daß wir mit Moses in der Dunkelheit aufsteigen müssen. Denn Gott findet man dann, wenn man alles andere verläßt, und dieses Dunkel ist Licht im Herrn.‘“11
Gott finden kann man demnach nur, wenn man alles andere hintanstellen will. Wer dem Beispiel des Mose folgt, kann sich dem Ziel der mystischen Theologie anzunähern versuchen, auch wenn die Erfüllung nur gnadenhaft erfahren werden kann. Der Wille zur Disposition für diese Erfahrung ist vorauszusetzen. Der Hinweis auf den liturgischen Gedenktag des Dionysius am 9. Oktober – gemeint ist der Bischof von Paris, der lange Zeit mit dem Verfasser des Corpus Dionysiacum identifiziert wurde – verweist auf die kirchlich verwurzelte Autorität dieses Weges, der somit nicht nur vor der erkennenden Vernunft gerechtfertigt ist. Wenn Cusanus eine Verbindung zwischen dem dionysisch beschriebenen Aufstieg des Mose und seiner eigenen Lehre sieht, ist letztere ebenso in der kirchlichen Rechtfertigung zu sehen. Dieser Aufstieg setzt jedoch Freiheit vom Verhaftetsein an das Sinnliche voraus, wie zu 11 Apol. doctae ign. (h 2II p. 19,23-20,3 [n. 28f.]): „Ad quae ego: ‚Ecce mendacis et arrogantis hominis verba, qui omni theologia caret.‘ Praeceptor laudatis, quae dixi, subiunxit potius parcendum esse deliro quam contra ipsum insultandum. ‚Nam id, quod improperat, quaeritur in docta ignorantia, uti Dionysius noster, cuius hodie festa agimus, in Mystica theologia sic cum Moyse in caliginem ascendendum instruit. Tunc enim reperitur Deus, quando omnia linquuntur; et haec tenebra est lux in Domino.‘“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 559). Zum Aufstieg des Mose vgl. DIONYSIUS: Mystische Theologie I 3, S. 75.
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Mit Dionysius gegen Wenck
Beginn der Apologia schon konstatiert wurde. Deshalb schärft Dionysius dem Timotheus in der Mystischen Theologie erneut ein, die Arkandisziplin streng zu wahren.12 „‚[...] Dionysius dagegen nennt dieses Dunkel einen göttlichen Lichtstrahl und sagt, daß diejenigen – unter ihnen auch unser Gegner – , die dem Sichtbaren verhaftet sind und glauben, daß nichts über das, was den Blicken und Sinnen zugänglich ist, auf eine Weise jenseits der Substanz bestehe, meinen, mit ihrem Wissen den zu erreichen, der das Dunkel als verborgenen Aufenthalt wählte. Darum schrieb er Timotheus vor, sich zu hüten, daß irgendeiner dieser Barbaren etwas von solcher Mystik höre.‘“13
In diesem dionysischen Dunkel des göttlichen Lichtes ist nach Cusanus erneut die coincidentia oppositorum ausgedrückt. Wer – wie Wenck – dem Sichtbaren verhaftet ist, kann den Unsichtbaren nicht erreichen. Dagegen wirkt der dunkle Lichtstrahl wie ein Gegenmittel. In Parenthese und somit scheinbar beiläufig wird der Gegner unter die Barbaren gezählt. In bekannter Weise lehnt der Lehrer es gegenüber dem Schüler ab, Wenck zu widerlegen bezüglich der Aussage, dass im Größten alle Potentialität aktuell ist. Dionysius erkennt, dass Gott alles und nichts von allem ist, nämlich ersteres im Sinne der Einfaltung, letzteres im Sinne der Ausfaltung. „Als ich fragte, ob irgend etwas gegen den Angriff zu sagen sei, welchen der Gegner [...] gegen den Satz, daß das Größte als Wirklichkeit alles Mögöliche ist, vorbringt, gab er mir zur Antwort, daß es sinnlos sei, mit einem, der keinen Verstand hat, zu streiten. ‚Denn wenn Gott die reinste, unendliche Wirkung und Wirklichkeit ist, dann ist er in absoluter Weise alles absolut Mögliche; und in dieser Koinzidenz ist jede sinnvolle Theologie verborgen. Aber der Gegner begreift weder, was 12 Vgl. DIONYSIUS: Mystische Theologie I 1, S. 74. 13 Apol. doctae ign. (h 2II p. 20, 10-15 [n. 29]): „Vocat autem Dionysius caliginem divinum radium, dicens eos – de quorum numero est adversarius –, qui visibilibus affixi nihil super ea, quae obtutibus et sensibus patent, supersubstantialiter esse arbitrantur, putare scientia sua illum assequi, qui posuit tenebras latibulum; praecipiens Timotheo, ut caveat, ne talium rudium aliquis audiat haec mystica.“ (Deutsch nach Dupré I, S. 561).
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Theologie ist noch was er eigentlich bekämpft noch worauf er sich beruft. Denn da in der Docta ignorantia steht, daß Gott nicht das ist und nichts anderes, sondern alles und nichts von allem – das sind Worte des heiligen Dionysius –, behauptet er, daß dieser Satz ‚alles und nichts von allem sein‘ in sich einen Widerspruch beinhalte; er begreift nicht, daß das bedeutet: komplikativ alles und explikativ nichts von allem sein. Und da er überhaupt keine Einsicht hat, lacht er, wenn er diese gewichtigen Worte liest und ahnt nicht, daß sie von den Heiligen stammen, und von dem, welcher die wissende Unwissenheit erklärte, nur herangezogen wurde, damit er gemäß der Lehre des heiligen Dionysius die Grenzen der Heiligen nicht überschreite.‘“14
Wenck versteht demnach nicht nur nicht, wie dieser Gedanke zu denken ist, sondern verleugnet auch die Einsicht der Heiligen und überschreitet deren Grenze. Dies ist wiederum eine neue Qualität der Ignoranz. Zu14 Apol. doctae ign. (h 2II p. 31,16-32,4 [n. 46]): „Et cum interrogarem, an aliquid dicendum occurreret contra impugnationem quam adversarius in quinta conclusione contra hoc facit, quod maximum est actu omne possibile, aiebat, quod cum carente intellectu supervacue contenditur. ‚Nam cum Deus sit purissimus infinitus actus, tunc est absolute omne absolute possibile; et in coincidentia illa latet omnis theologia apprehensibilis. Neque intelligit adversarius, quid sit theologia, neque quid impugnet, neque quid allegat. Nam cum habeatur in Docta ignorantia, quomodo ‚Deus non istud quidem est et aliud non est, sed est omnia et nihil omnium‘ quae sunt verba sancti Dionysii –, dicit hoc contradictionem in se habere ‚esse omnia et nihil omnium‘ et non intelligit, quomodo est complicative omnia et nihil omnium explicative. Et cum non habeat aliquid de intellectu, ridet, quando legit ponderosissima verba, nesciens illa esse sanctorum et per eum, qui doctam ignorantiam explanavit, adducta, ut secundum doctrinam sancti Dionysii non exiret terminos sanctorum.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 581-583). Die zugehörige Dionysius-Stelle weist die kritische Edition aus: DIONYSIUS: De divinis nominibus V 8, S. 73: „Deswegen wird von ihm alles zu gleicher Zeit ausgesagt, aber er ist dennoch nichts von alledem: in jeder Form, in jeglicher Gestalt, formlos, schmucklos, ehevor Anfang und Mitte sowie Ende alles Seienden in unaufhaltsamer und erhobener Art in sich begreifend und für alles einer einzigen und übergeeinten Ursache zufolge in unbefleckter Art das Sein ausstrahlend.“ Für den Schluss des obigen Cusanus-Zitates wird auf DIONYSIUS: De caelesti hierarchia VI 1, S. 42, verwiesen: „[...] daneben kennen wohl auch sie selbst ihre spezifischen Kräfte und Erleuchtungen und ihre geheiligte, unsere Welt übersteigende schöne Ordnung. Uns ist es nämlich nicht möglich, die Geheimnisse der Gedanken jenseits des Himmels zu kennen [...].“
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Mit Dionysius gegen Wenck
gleich ist Dionysius der Garant dafür, dass Cusanus innerhalb der erlaubten Grenzen verbleibt, und er widerspricht mit seiner „apostolischen“ Autorität dem Vorwurf Wencks an Cusanus. Vielmehr ist Wenck derjenige, der aufgrund seines Unvermögens, die coincidentia oppositorum zu verstehen, weder die Theologie erfasst noch wie Gott sich zum geschaffenen Seienden verhält. Zu den einzuhaltenden Grenzen gehört auch die Vermeidung falscher Schlüsse aus dem bisher Gesagten. Cusanus verwahrt sich daher dagegen, die coincidentia oppositorum pantheistisch zu deuten. Weder auf Dionysius noch auf Thomas darf man sich dafür berufen: „Ähnlich berichtet der heilige Thomas in der Schrift Contra Gentiles, daß einige Leute bei den Aussprüchen des großen Dionysius die Gelegenheit benützten, zu behaupten, alles sei Gott, weil dieser in De caelesti hierarchia sagt, Gott sei das Sein von allem. Aber wenn sie alle Werke des Areopagiten gelesen hätten, dann hätten sie auf alle Fälle in De divinis nominibus gefunden, daß Gott so das Sein von allem ist, daß er nichts von allem ist, weil das Begründete niemals zur Gleichheit mit seinem Grund erhoben werden kann.“15
Auch dürfe man nicht wie Wenck aus der negativen Theologie falsche Schlüsse ziehen. Denn die Ablehnung positiver Aussagen über Gott ist in Relation zur maior dissimilitudo Dei zu verstehen: „Es ist durchaus richtig, daß nach der Betrachtung der Unendlichkeit Gott weder Vater noch Sohn ist, weil diese Betrachtung über Gott gemäß seiner Unendlichkeit durch Negation zustande kommt; und folglich wird alles geleugnet, wie auch der heilige Dionysius gegen Ende der Mystischen Theologie dasselbe mit den gleichen Worten ausdrückt.“16 15 Apol. doctae ign. (h 2II p. 17,13-19 [n. 24]): „Recitat in simili sanctus Thomas Contra gentiles quosdam ex dictis magni Dionysii occasionem recepisse, ut dicerent omnia esse Deum, quia ait in Caelesti hierarchia Deum esse omnium esse; si illi omnia eiusdem Ariopagitae opuscula legissent, utique in De divinis nominibus repperissent sic Deum esse omnium esse quod tamen nullum omnium, cum causatum numquam possit in aequalitatem suae causae elevari.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 555). 16 Apol. doctae ign. (h 2II p. 32,24-33,3 [n. 48]): „Bene habetur, quomodo secundum considerationem infinitatis Deus neque Pater est neque Filius, quia per negationem est consideratio de Deo secundum infinitatem; et ideo
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Das abschließend mit Dionysius formulierte Lob an den Schüler ist eine zusammenfassende Kritik an Wenck, der nicht mit der Wahrheit vereint ist, sondern zu deren Verächtern gehört: „Zu mir gewandt sagte er liebevoll: ‚Freund, du hast wohl gewußt, wie diejenigen, die das Sinnliche überschreiten und durch die Tiefe des Glaubens Christus und der Wahrheit verbunden sind, von den Toren dieser Welt verachtet werden, weil nach Dionysius De divinis nominibus, Kapitel 10, ‚der, welcher der Wahrheit vereint ist, weiß, was für ein Gut er hat, wenn auch die Vielen über ihn wie über einen Wahnsinnigen, der außer sich ist, herfallen‘, und daß die ersten Lehrer der Wahrheit durch den Tod bezeugt haben, daß dies allein die einzige und schlichte Erkenntnis des Göttlichen ist.‘“17
Was w ill Cusanus mit den Dionysius- Zitaten in der Apologia doctae ignorantiae err eichen? „Wenck hielt den Erkenntnisanspruch des Cusanus im Bereich des Unendlichen für anmaßend, im Bereich des Endlichen für unzureichend.“18 Cusanus hingegen verbindet mit seiner docta ignorantia das sokratische Nichtwissen als Vorbild. Er zitiert Dionysius bezüglich der positiven, negativen und mystischen Theologie. Die platonisch-proklische Herkunft der negativen Theologie nutzt Cusanus gegen die „aristotelica secta“, der
omnia tunc negantur, prout etiam sanctus Dionysius in fine Mysticae theologiae per eadem verba hoc idem determinat.“ 17 Apol. doctae ign. (h 2II p. 35,1-8 [n. 53]): „Et ad me amoroso vultu conversus aiebat: ‚Amice, optime nosti, quomodo hii, qui sensibilia transilientes per altitudinem fidei Christo et veritati coniuncti ab ignorantibus huius mundi contemptui habiti sunt, quia testante maximo Dionysio De divinis nominibus capitulo decimo ‚is, qui veritati coniunctus est, novit, quam bene habeat, etiam si plures illum corripiant quasi amentem et extra se factum‘, et quod per mortem contestati sunt principales duces veritatis hanc solum esse unicam et simplicem divinam notionem.“ (Deutsch nach DUPRÉ I, S. 589). Die kritische Edition verweist auf DIONYSIUS: De divinis nominibus VII 4. Dort ist die hier paraphrasierte Märtyrertypologie zu finden. Vgl. die Ausgabe von SUCHLA (1988), S. 81. 18 ZEDANIA: Nikolaus von Kues als Interpret der Schriften des Dionysius, S. 55f.
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Mit Dionysius gegen Wenck
er auch Wenck zurechnet.19 In der mystischen Theologie sieht Cusanus seine coincidentia oppositorum antizipiert. Cusanus will die Vernünftigkeit sowohl der docta ignorantia als auch der coincidentia oppositorum unterstreichen. Für solche, die dies nicht aus dem Gedanken selbst erkennen, ist diese Einsicht auch mit der Autorität der dionysischen Lehre zu begründen. Gegenüber gänzlich Uneinsichtigen jedoch lässt Cusanus die Arkandisziplin walten. Zu diesen zählt er auch und vor allem seinen Gegner Johannes Wenck von Herrenberg, dessen Unverständnis und Gegnerschaft er mit ausführlicher, teils subtiler, teils offener Polemik bedenkt. Sie wird vielfach dem Schüler in den Mund gelegt, um den Lehrer geduldig und nachsichtig erscheinen zu lassen oder um die Invektive durch die Antwort des Lehrers auf die kritischen Bemerkungen des Schülers verstärken zu können. Schließlich werden Verweise auf die Liturgie der Kirche dazu eingefügt, um die kirchliche Autorität des Dionysius und seiner Positionen zu betonen, in denen Cusanus seine eigenen Lehren vorgebildet sieht. Wie die unbeirrt aufrechterhaltene apostolische Autorität des Pseudo-Areopagiten dient dies der Absicherung seiner denkerischen Position durch die kirchliche und theologische Tradition. Die rhetorische Kunst des Kanonisten und Kirchenpolitikers steht im Dienst seines Denkens und dessen Darstellung.
Literatur BAUR, LUDWIG, Cusanus-Texte III. Marginalien. 1. Nicolaus Cusanus und Ps. Dionysius im Lichte der Zitate und Randbemerkungen des Cusanus. Vorgelegt von Ernst Hoffmann, (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1940/41, 4. Abhandlung, Heidelberg 1941. BEIERWALTES, WERNER, Der verborgene Gott. Cusanus und Dionysius, (Trierer Cusanus Lecture, Heft 4), Trier 22008. CORPUS DIONYSIACUM I, PSEUDO-DIONYSIUS AREOPAGITA, De divinis nominibus, hg. von Beate Regina Suchla, (Patristische Texte und Studien 33), Berlin/New York 1990. CORPUS DIONYSIACUM II, PSEUDO-DIONYSIUS AREOPAGITA, De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theolo-
19 Vgl. ebd., S. 61-63.
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gia. Epistulae, hg. von Günter Heil und Adolf Martin Ritter, (Patristische Texte und Studien 36), Berlin/New York 1991. DIONYSIUS AREOPAGITA, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil, (Bibliothek der griechischen Literatur 22), Stuttgart 1986. DERS., Die Namen Gottes, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla, (Bibliothek der griechischen Literatur 26), Stuttgart 1988. DERS., Über die Mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, (Bibliothek der griechischen Literatur 40), Stuttgart 1994. SUCHLA, BEATE REGINA, Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung, Freiburg/Basel/Wien 2008. ZEDANIA, GIGA, Nikolaus von Kues als Interpret der Schriften des Dionysius Pseudo-Areopagita. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie an der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum, Oktober 2005, Druck: Bochum 2007.
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Miszellen zum interkulturell philosophiehistorischen Vergleich am Beispiel Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng 䘚椌㢝 DAVID BARTOSCH „Modernitäten“ des Nicolaus Cusanus: Zu dieser Thematik zählt auch, dass cusanisches Philosophieren längst international, oder besser gesagt: interkulturell diskutiert wird – mittlerweile seit einigen Jahren auch in China.1 Hierin liegt meines Erachtens eine große philosophische Chance und Herausforderung zugleich: Der Diskus der chinesischen Philosophen nimmt Cusanus‘ Positionen und Denkwege in einen Kontext des Denkens herein, in welchem diese unweigerlich auch mit der traditionellen chinesischen Philosophie2 in Berührung kommen 1 2
Siehe YANG: Die Nikolaus von Kues-Forschung. Es ist verschiedentlich für und gegen den Gebrauch der Wendung ‚chinesische Philosophie‘ argumentiert worden. In beiden Fällen gibt es – jeweils aus verschiedenen Perspektiven – Argumente, die nachvollziehbar sind, in beiden Lagern gibt es aber wiederum auch Positionen, die entweder zu wenig inhaltlich gestützt oder aber zu wenig reflektiert sind. Ich denke, es ist gerechtfertigt, die Wendung ‚chinesische Philosophie‘ aus der heutigen Perspektive einer interkulturell-komparativen Philosophiegeschichte auf bestimmte Traditionen des Denkens im Kontext der chinesischen Bewusstseinsgeschichte anzuwenden, wenn man sich dabei immer bewusst bleibt, dass das von uns hier aus interkultureller Perspektive so Bezeichnete originalerweise in anders „formatierten“ Wissenskontexten und Wissensordnungen beheimatet zu denken ist als die abendländische Philosophietradition in ihren jeweiligen verschiedenen Entwicklungsphasen. Auch gilt es
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David Bartosch
müssen. Diese gründet auf völlig anderen bewusstseinsgeschichtlichen Fundamenten als die traditionelle europäische bzw. abendländische Philosophie. Im Folgenden möchte ich diese Erscheinungsweise einer Modernität des Cusanus exemplarisch zur Darstellung bringen: Dafür werde ich Aspekte cusanischen Denkens prospektiv mit einigen Bedeutungszusammenhängen im Denken des konfuzianischen Philosophen Wáng Yángmíng 䘚椌㢝 (1472-1529) vergleichen.3
Grundlegendes Das nachfolgend grundlinienartig eröffnete Sujet mag (noch) ungewöhnlich erscheinen: Wir werden uns mit Cusanus im kaum erschlossenen Bereich einer interkulturell-komparativen Philosophie(n)geschichte bewegen.
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dabei zu bedenken, dass es im vormodernen China originalerweise keine Bezeichnung gab, die als absolut deckungsgleich zu dem angesehen werden könnte, was Philosophie im traditionell-abendländischen Sinne bedeuten kann; siehe dazu genauer u. a. FORKE: Geschichte der alten chinesischen Philosophie, S. 1-4. Das bedeutet: Hier wird das Wort ‚Philosophie‘ auf eine neuartige Weise, interkulturell-komparativ philosophiehistorisch verwendet. Dieser Schritt ist wiederum aber gar nicht so ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass wir solche rückwärtigen Definitionen von dem, was Philosophie sei, schon von der eigen- bzw. intra-kulturell ausgerichteten, „herkömmlichen“ Philosophiegeschichtsschreibung her kennen. So gab es ursprünglich bzw. realgeschichtlich bspw. keine Denkbewegung, die sich selbst als mittelalterliche Philosophie verstanden hätte. Es gab lediglich verschiedene Schulen, die in Kontexten von Wissensauffassungen und Wissensordnungen beheimatet zu denken sind, welche mit den Kontexten der antiken Philosophie relativ wenig gemein hatten. Aus der Warte moderner Philosophiegeschichtsschreibung wurde dieser Zusammenhang erst im Gebrauch der neu eingeführten Wendung ‚mittelalterliche Philosophie‘ zum eigentlichen, so erst nachträglich vereinheitlichten Gegenstand der Forschung. Wáng Yángmíng wird in einigen Zusammenhängen auch als Wáng Shԁurén 䘚⸗ⅉ geführt. ‚Wáng‘ ist sein Familienname, ‚Shԁurén‘ sein eigentlicher Vorname, ‚Yángmíng‘ hingegen sein weitaus gebräuchlicherer Literatenname. Ich gebrauche nachfolgend im Text, wie es üblich ist, seinen Literatennamen ‚Yángmíng‘. Die diakritischen Zeichen über der lateinischen Umschrift entsprechen den Standards der offiziellen PƯnyƯn-Umschrift, zu den entsprechenden Ausspracheregeln siehe u. a. Chinese Pronunciation Guide.
Miszellen
In diesem Zusammenhang muss zunächst gefragt werden: Worin bestimmt sich, ganz allgemein, der Geltungsgrund eines solchen Unternehmens? Meines Erachtens eröffnen sich, wenn wir mit Cusanus auf das chinesische Denken vergleichend zugehen, neue Horizonte des Denkens – neuartige Perspektiven eines Philosophierens in interkulturellen Dimensionen. Auf diese neuen Horizonte hin – auch von Cusanus aus – fragend auszugreifen ist von eminenter Bedeutung, wenn wir unsere globalisierte Zeit und die verschiedenen bewusstseinsgeschichtlichen Zuflüsse, welche jene bestimmen, einmal angemessen in Gedanken zu fassen imstande sein wollen. Auch wir – gerade wir – als deutschsprachige Europäer sind heute dazu aufgerufen, uns in diesem Zusammenhang (wieder einmal neu und) im nun tatsächlich wahrsten Sinne des Wortes „im Denken zu orientieren“4. Wir leben in einer Zeit, in der sich, welthistorisch gesehen, das globale Zentrum der Welt unbestritten wieder5 nach Ostasien, nach China, verlagert.6 In diesem Zusammenhang haben wir einen schwierigen intellektuellen Drahtseilakt zu bewältigen: Zum einen gilt es, unsere unbestritten sehr wertvolle eigenkulturelle Denktradition zu bewahren7; zum anderen und damit in einem müssen wir uns der Anstrengung unterziehen, endlich jenes (meist noch) fremd anmutende, traditionelle chinesische Denken aneignend mit zu meistern: Zugestandenermaßen nicht immer auf den ersten Blick8, so ist es doch bis heute für den gesamten ostasiatischen Raum nach wie vor in jederlei Hinsicht prägend.9 Wollen wir kulturell und wirtschaftlich bestehen, ist es m. E. unabdingbar, China von seinen philosophischen Fundamenten aus verstehen zu lernen: Diese sind es in Wirklichkeit, die seinem derzeitigen Auf4 5 6
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Siehe KANT: Was heißt: sich im Denken orientieren? (kursiv DB) Vgl. dazu u. a. FRANK: ReORIENT, vgl. auch GERLACH: Wu-wei in Europe. Die Literatur zu dieser nicht mehr zu leugnenden Tatsache ist reichhaltig, siehe dazu z. B. vor einem praktischen Erfahrungshorizont als Ex-Ostasiendiplomat reflektierend LITTLE: A Confucian-Daoist Millenium? Siehe dazu bes. KREUZER: Das Eigene. Das Unverstandene dieses Vorgangs geht zum Teil darauf zurück, dass wir in vielen Fällen bisher noch gewohnt waren, alles Ostasiatische aus der Schulbildung – und in konsequenter Folge auch aus unserem philosophischen Diskurs auszublenden. Siehe u. a. LITTLE: A Confucian-Daoist Millenium?
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stieg zugrundeliegen. Wenn wir in dieser Hinsicht komparativ philosophie(n)historisch wieder verstärkt lernen, dass wir in der Welt stehen und wie wir in der Welt stehen10, bestehen zudem gute Aussichten, nicht zuletzt der deutschsprachigen Philosophie zu einer fruchtbaren, ihrer Vergangenheit qualitativ zur Ehre gereichenden, nächsten Entwicklungsetappe zu verhelfen.11 Diese allgemeine „Makro-Forderung“ an die Philosophie unserer Zeit deckt sich u. a. auch mit den vorliegenden prospektiven Miszellen zum „Mikro-Vorhaben“ eines interkulturellen Philosophievergleiches zwischen Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng: Wenn wir die Modernität des Cusanus im chinesischen Diskursgeschehen angemessen einsehen wollen, sollten wir zuerst versuchen, die grundlegenden bewusstseinsgeschichtlichen Voraussetzungen und philosophiehistorischen Zusammenhänge dieses kulturfremden Diskursgeschehens verstehen zu lernen. Dies geschieht meines Erachtens am besten aus historisierender Perspektive und kann im direkten Vergleich mit cusanischen Positionen geschehen. Um hierbei nicht in oberflächlichen, etwa die Unterschiede verwischenden Kategorisierungen stecken zu bleiben, sollte man interkulturelle Vergleichsvorhaben wie das vorliegende möglichst autorenspezifisch auf einen zeitnahen, wichtigen chinesischen Philosophen ausrich-
10 Siehe DRIESCH: Fern-Ost, S. 5: „[…] der Deutsche muß endlich lernen, daß er in der Welt steht und wie er in der Welt steht.“ 11 Im 20. Jahrhundert sind bereits einige bekannte deutschsprachige Philosophen über die ostasiatische Philosophie zu Fortschritten in ihrem Denken gelangt. Am gravierendsten ist hier wohl der Fall Heideggers. MAY: Ex oriente lux, schlussfolgert diesbezüglich in seiner einschlägigen Untersuchung auf S. 70 in berechtigter Weise: „Aus der vorliegenden Untersuchung (§§2-5) folgt, daß Heideggers Werk in einem bislang unerkannten Ausmaß ostasiatisch beeinflusst ist. Mehr noch: Heidegger hat höchstwahrscheinlich in Fällen von zentraler Bedeutung wesentliche Gedanken seines Werkes aus deutschen Übersetzungen vornehmlich taoistischer Klassiker, aber vermutlich auch zen-buddhistischer Texte, ohne Angabe der Quelle übernommen.“ Ergänzend möchte ich hinzufügen: Das dieser Umstand bis heute keine größere Resonanz findet, liegt einzig daran, dass die meisten deutschsprachigen Philosophierenden, die Heideggers Werke studieren, sich meist nicht mit traditioneller chinesischer Philosophie auseinandersetzen (mögen). – Dabei könnte man gerade an Vorstößen wie denen Heideggers ansetzen, um in «eurasischer» Hinsicht insgesamt aufgeschlossener philosophieren zu lernen.
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ten, der nach wie vor auch für die chinesische Gegenwartsphilosophie von Bedeutung geblieben ist. Ich habe mich diesbezüglich für Wáng Yángmíng entschieden: Nur etwas später als Cusanus lebend, hat jener, ähnlich wie Cusanus, seine kulturspezifische Denktradition aus seiner zeitgenössischen Perspektive sehr breit und umfassend verinnerlicht. Davon ausgehend hat Yángmíng, wiederum vergleichbar, seine Tradition zugleich auf neuartige und vorausschauende Weise inhaltlich bereichert. Neben inhaltlichen Affinitäten, von denen aus das Geschäft des kulturellen Differenzierens betrieben werden kann, laden zusätzlich auch der vergleichbare soziale Status der Autoren, ihr vergleichbarer allgemeiner Bildungsgrad und die „Verlaufsform“ ihrer beiden Denkwege im Ganzen dazu ein, differenzbewusst interkulturell-komparativ aufgeschlüsselt zu werden. Zudem ist Yángmíngs Denkentwicklung, wie die cusanische, in ihrem Entfaltungszusammenhang textlich hervorragend überliefert. Auch die entsprechenden Begleitumstände und Einflussfaktoren sind ähnlich gut dokumentiert wie im Falle Cusanus‘. Ein interkulturell-komparativer philosophie(n)historischer Vergleich Cusanus-Yángmíng lohnt in mehrfacher Hinsicht: Zum einen werden wir dabei gleichsam eine Außenperspektive auf bestimmte Positionen bei Cusanus einnehmen. Dies kann insbesondere auch für die „herkömmliche“ Cusanusforschung durchaus sehr fruchtbare Ergebnisse mit sich bringen! Über eine inter-kulturell komparative Herangehensweise, die Cusanus‘ Denken einmal auch vom (noch) Fremden her und im Kontrast zu diesem bedenkt, können für die intra-kulturelle Forschung neue Fragen entstehen, und bisher unbemerkte, noch nicht genügend reflektierte Problemfelder im cusanischen Gedankenkosmos offengelegt werden.12 Darüber hinaus bietet der interkulturelle Vergleich natürlich die Möglichkeit, dass wir uns von „unserem“ Cusanus aus, in Differenz zu dessen Denken, etwas von dem (noch) fremden Denken Yángmíngs aneignen. Dies wird möglich dadurch, dass wir die kulturspezifische Andersheit des yángmíngschen Denkens in Differenz 12 Diese Methode eines „Umweges über China“, um die Fundamente und Zusammenhänge der eigenen, europäischen Denkkultur besser zu verstehen, geht zurück auf François Jullien, vgl. z. B. JULLIEN; HERZOG: Chinesisches Werkzeug: „Ich versuche über China die Voraussetzungen der europäischen Vernunft in den Blick zu bekommen, worauf sie sich stützt und womit sie verbunden ist. Es ist der Versuch, das Ungedachte, auf das sich das Denken stützt, besser zu erfassen.“
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zu cusanischen Positionen erkennen und das kulturfremde Denken dabei unverstellt in den analytischen Blick nehmen können. Schließlich nimmt die philosophie(n)historische Arbeit am Konfinium zwischen Cusanus und Yángmíng nicht zuletzt Anteil an einer vorbereitenden Grundlegung für einen philosophischen Dialog mit China. Ein solcher Dialog kann nur im Zuge fortwährender philosophie(n)historischer Bemühungen auf beiden Seiten ausreichend fundiert werden – als Basis für einen gegenwartsphilosophischen Dialog, einen im Blick auf die Zukunft m. E. dringlichen, echten eurasischen Dialog der Philosophien. Hierfür ist es notwendig, dass wir uns seitens der deutschen Philosophie intensiv und „flächendeckend“ bemühen, auf interkulturell vergleichende Weise exemplarisch bzw. autorenspezifisch die traditionelle chinesische Philosophie verstehen zu lernen. Nicht zuletzt werden wir so der gegenwärtigen, interkulturell sehr aufgeschlossenen und sehr elaborierten akademischen Philosophenszene Chinas im Blick auf deren schon akkumulierten, enormen interkulturellen Wissens- und Verstehenshorizont entsprechend im Dialog begegnen können – es handelt sich hier um eine, jahrtausendealte, von einigen kurzzeitigen Einbrüchen abgesehen, ununterbrochene Denkkultur 13, die sich schon seit mehr als 100 Jahren auch (zum wiederholten Male) mit unserer, für sie fremdkulturellen Philosophie intensiv „an-eignend“ auseinandersetzt.14
13 Siehe zur Einführung und zum Überblick (wenn auch in der Terminologie teils etwas veraltet) FORKE: Geschichte der alten chinesischen Philosophie; DERS.: Geschichte der mittelalterlichen chinesischen Philosophie; DERS.: Geschichte der neueren chinesischen Philosophie. Siehe u. a. auch TIAN: Chinese Dialectics. 14 Der erste wechselseitige Austausch mit China in philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht fand schon in den beiden Jahrhunderten nach Cusanus statt (siehe z. B. LI: Die christliche China-Mission). Der europäische Imperialismus des 19. Jahrhunderts brachte eine anfangs teils eher unfreiwillige, bis heute andauernde zweite Welle der Auseinandersetzung westlicher Philosophie mit sich, sowie deren tiefe, zugleich aber adaptierende, das Eigene damit keinesfalls etwa zerstörende Implementierung. In diesem Kontext findet heutzutage in China teils eine Neuinterpretation der eigenen Tradition durch die Brille der westlichen Philosophie statt.
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Interkulturell vergleichen Damit komme ich zu einer methodischen Frage: Was heißt im vorliegenden Zusammenhang eigentlich ‚vergleichen‘? Zunächst heißt es nicht: Gleichmachen. Besonders vor oberflächlichen und windigen Ähnlichkeitsassoziationen haben wir uns zu hüten. Das Hauptanliegen bestimmt sich hier vielmehr darin, (inter-)kulturell differenzieren zu lernen.15 ‚Vergleichen‘ bedeutet im vorliegenden Kontext daher: kontrastierend differenzieren. Hierbei gilt es ferner zu beachten: Mit ‚vergleichen‘ im Sinne von ‚differenzieren‘ ist in diesem Zusammenhang nicht die Bedeutung von ‚werten‘ oder ‚untereinander bewerten‘ mit impliziert! Von unserer gewohnten eigen- bzw. intra-kulturellen Perspektive auf unseren eigenkulturellen Denkzusammenhang her sind wir gewohnt, im Differenzieren zweier (somit kulturell verwandter) Positionen deren Inhalte gleich auch (be-)wertend mit zu erwägen. Im intrakulturellen Rahmen des Denkens geht es berechtigterweise darum, sich derjenigen unter mehreren Positionen zuzuschlagen, die wir im Mindesten für die Plausiblere halten. Dies ist im interkulturellen Vergleich zweier differenter Positionen nun aber nicht so ohne weiteres möglich: Die jeweiligen Positionen Cusanus‘ und Yángmíngs sind in weitestgehend unverbundenen Traditionen situiert, die in differenten und nicht verwandten „Weltbildern“ fußen.16 Yángmíngs denkerische Positionen nun wie die eines Vertreters der abendländischen Philosophiegeschichte im Abgleich mit cusa15 Der Gebrauch der Wendung ‚differenzieren lernen‘ im Kontext einer philosophisch kultur(en)analytischen Absicht geht m. W. zurück auf Johann Kreuzer, siehe KREUZER: Das Eigene. 16 Ich beziehe mich hier auf die Rede vom Weltbild beim späten Ludwig Wittgenstein, besonders in Über Gewissheit, siehe einführend und zusammenfassend dazu SCHULTE: Wittgenstein, S. 221-234; siehe WITTGENSTEIN zit. in ebd., S. 223: „Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“ Siehe auch DERS. zit. in ebd., S. 228: „[E]s werden uns Urteile beigebracht und ihr Zusammenhang mit anderen Urteilen. Ein Ganzes von Urteilen wird uns plausibel gemacht. / Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.) Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.“
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nischen Philosophemen bewerten zu wollen hieße quasi eine ȝİIJȐȕĮıȚȢ İ۞Ȣ ਙȜȜȠ ȖȑȞȠȢ in interkulturell-komparativer Hinsicht zu begehen. Mein Anliegen besteht daher vielmehr schlichtweg darin, im wertfreien analytischen Sinne zwischen beiden Kulturen des Philosophierens unterscheiden zu lernen. ‚Differenzieren‘ heißt hier also nicht ‚Bewerten‘, heißt nicht bzw. dass wir uns hier einer von beiden Seiten inhaltlich zuzuschlagen bzw. dass wir eine der kulturell differenten Weisen des Philosophierens, die hier besprochen werden, etwa vor dem Hintergrund einer Zuschreibung Eigenes-Fremdes oder GewohntesUngewohntes, zu favorisieren hätten.
Zum interkulturellen Philosophiebegrif f Was gibt damit aber die Rede von Philosophie in unserem Kontext, einem vielleicht (noch) ungewöhnlich anmutenden, interkulturellkomparativen philosophie(n)historischen Kontext, eigentlich zu bedeuten? Hierzu im Vorliegenden nur kurz: Mit Philosophie ist hier zunächst, ganz allgemein auf den abendländischen wie zugleich auch auf den chinesischen „Denkraum“17 hin gesprochen, in historischer wie systematischer Hinsicht eine Denktätigkeit gemeint, die je methodisch abgesichert grundsätzlichen Fragen der Lebensorientierung und Lebensgestaltung nachgeht und deren Antworten sich im Handeln der so Denkenden korrelierend widerspiegeln. Als solche ist Philosophie hier im weiteren und tieferen Sinne kulturübergreifend gedacht als je unwiederholbares Streben Einzelner nach Weisheit, nach umfassender Einsicht, „Ein-Sicht“ – ein Streben nach einer alles drängende Fragen beantwortenden, beruhigenden, einenden „Sicht-Weise“ im Leben. Wenn ich hier den Einzelnen in seinem Streben nach Weisheit in den Blick nehme, meine ich freilich nicht, dessen Streben sei ein anachoretisches – freilich lebt Philosophie, wird Philosophie intellektuell auch genährt von der Kommunikation unter Philosophierenden. Dennoch streben wir als Philosophierende jener einenden Sicht auf je unsere Weise, auf unseren persönlichen, differenten Wegen 17 Ich verwende das Wort ‚Denkraum‘ hier im Doppelsinne des charakteristischen historisch-geographischen Ortes der chinesischen Philosophie auf der einen sowie der kulturell bedingt inhaltlich-thematischen Eigenständigkeit derselben auf der anderen Seite.
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zu – mögen sich diese auch immer wieder kreuzen. Dabei streben wir denkend und sind in unserem Handeln aufgefordert, diesem unserem jeweiligen Denken aufrichtig gerecht zu werden. In solch währendem Streben nach Weisheit im obigen Sinne prägt Philosophie je einen selbstreflexiv ausgerichteten Lebensgang. Sie charakterisiert sich damit nicht zuletzt als denkend fundierte Selbstbildung18 – Selbstbildung als je einzigartige, je persönliche, methodisch denkend gegründete sowie damit zugleich handelnd gelebte, sich erfragende Bildung eines jeweiligen Selbst unter bestimmten kultur- und zeitspezifischen Bedingungen.
Philosophie als Sel bstbildung bei Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng Diese kultur- und zeitspezifischen Bedingungen einer jeweiligen historischen Selbstbildung möchte ich nun am Beispiel von Cusanus und Yángmíng, aus der Perspektive einer interkulturell komparativvergleichenden Philosophie(n)geschichte, insbesondere auf ihre kulturell bedingten Differenzen hin beleuchten. Vorab sei angemerkt, dass dieses Anliegen im Vorliegenden freilich nur sehr prospektiv angerissen werden kann. Dennoch möchte ich versuchen, in exemplarischen Grundlinien einen ersten überblickenden Eindruck möglicher vorkommender philosophischer Problemzusammenhänge zu vermitteln: Hinsichtlich dieser ersten Prospektion nehme ich einen Einstieg beim cusanischen Begriff der mens – so wie er in Idiota de mente entwickelt wird. Dies dient im Vorliegenden dem Zweck, einen vergleichsfähigen Zu18 Als Selbstbildung eines Philosophierenden ist der hier vertretene Begriff von Selbstbildung dabei nicht im Sinne einer oberflächlichen Wissensaneignung, nicht etwa im Sinne einer sozial basierten „SprachspielAbrichtung“ (im Sinne des späten Ludwig Wittgenstein), siehe SCHULTE: Wittgenstein, S. 143-145, zu denken. Selbstbildung ist hier nicht im Sinne eines unhinterfragten, eines fragenlosen Erlernens eines bestimmten Kanons eines je kultur- und zeitspezifischen Wissens zu denken (Stichwort: Bildungsbürgertum). Vielmehr handelt es sich hier um die sich nach Art eines, mit Johann Kreuzer zu reden, „methodisch abgesicherten Fragebewusstseins“ der Möglichkeit nach je einzigartig sich entfaltende Persönlichkeit, eine individuelle „Ganz-Werdung“ eines je nach ıȠijȓĮ Strebenden.
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sammenhang zur Philosophie Yángmíngs aufzusuchen, von dem her mit der Arbeit des interkulturellen Differenzierens begonnen werden kann: Im Kontext dessen, was man im Hinblick auf Cusanus als Streben nach „Ein-Sicht“, besser noch: als Streben nach „Selbst-Ein-Sicht“ fassen kann, spielt das Denken von der mens eine ganz zentrale Rolle: Die mens wird dabei gleichsam als Hort aller Begriffe (im kultur- und zeitspezifischen Sinne Cusanus‘) – zugleich aber auch als Agens gedacht, welches diese Begriffe in Anwendung bringt, um sich so der Welt (im kultur- und zeitspezifischen Sinne Cusanus‘) anzumessen, Unterscheidungen zu treffen, zu erkennen, Wissenschaft (wieder im kultur-, zeit- und autorenspezifischen Sinne zu denken) zu betreiben usw. Cusanus leitet das Wort ‚mens‘ im Hinblick auf das damit von ihm benannte zentrale, in seinem Sinne als charakteristisch menschlich gedachte Vermögen19 vom Verb ‚mensurare‘, ‚messen‘, ab. In Idiota de mente definiert Cusanus die mens als eine lebendige Substanz, die wir, so Cusanus, in uns erführen, so wie sie innerlich spreche und urteile. Ihre Aufgabe im Leib sei es, diesen zu beleben, weswegen sie ‚Seele‘ genannt werde.20
19 Siehe De mente (h V n. 82): „Et sicut haec discretio visiva in brutis perfectis animalibus ut canibus suum dominum visu discernentibus reperitur et a deo data est visui tamquam perfectio et forma visus, sic naturae humanae ultra discretionem illam, quae in brutis reperitur, data est altior vis se habens ad discretionem animalem sicut illa ad vim sensibilem, ut mens sit forma discretionis animalis et eius perfectio.“; siehe zum Thema des Denkens einer Sonderstellung des Menschen bei Cusanus auch FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 136f.; zur cusanischen Rede vom Menschen ist folgendes, siehe FLASCH: Nicolaus Cusanus, S.78, zu beachten: „[… E]s ist offensichtlich, daß Cusanus – und hinter ihm eine lange Tradition – im gegenwärtigen Zusammenhang [gedacht, DB] ‚Intellekt‘ meint, wenn er ‚Mensch‘ sagt. Er behauptet die Produktivität des Menschen. Doch was er ausführt, ist die Produktivität des Intellekts, als könnten Kunst und Handwerk ohne Hände auskommen. ‚Der Mensch hat Intellekt, der im Erschaffen die Ähnlichkeit des göttlichen Intellekts ist.‘ Auf diese Weise verschiebt Cusanus die Frage nach dem Menschen zu der Frage nach dem Intellekt und nach seiner Ähnlichkeit zum göttlichen Intellekt. Das ist, genau genommen, Intellekttheorie, nicht Anthropologie.“ 20 Siehe De mente (h V n. 80).
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Yángmíng statuiert an zentraler Stelle seines Denkens einen Begriff (im chinesischen Sinne21), der mit Cusanus Rede von der mens vergleichbar ist: xƯn ㉒. Ganz wörtlich übersetzt, steht dieses Zeichen für ‚Herz‘. Im Hinblick auf seinen Gebrauch im philosophischen Kontext bei Yángmíng hat man es bereits mittels der Wendung ‚heart-and-mind‘ recht treffend ins Englische übersetzt.22 Man könnte daher in deutschsprachiger Übertragung auch von ‚Herzgeist‘ sprechen. Ich werde hier jedoch weiterhin das Wort ‚xƯn‘ gebrauchen.23 Vergleichsfähig zu Cusanus‘ Denken der mens als Vorbedingung sinnlicher Erfahrung, ohne deren „Arbeit“ der Leib (corpus) nicht überlebensfähig wäre24, so denkt Yángmíng im kulturspezifisch differenten Kontext seines Philosophierens xƯn als allem Sinnlichen vorgeordneten, nicht-sinnlichen „Meister“ eines jeweiligen (im zeitgenössisch chinesischen, noch spezifischer: yángmíngschen Sinne zu denkenden) Leibes25: shƝn 愺.26 Mit der Rede von xƯn und shƝn ist damit bei Yángmíng eine Relation angezeigt, die vergleichbar ist mit der Relation mens-corpus im Denken Cusanus‘.
21 Das, was man als die klassische chinesische Form des Begriffes begreifen kann, wird einführend expliziert in (dem ansonsten allerdings stellenweise veralteten, teilweise problematischen, tendenziösen und daher selektiv zu lesenden Werk von) ABEGG: Ostasien denkt anders, S. 46-50; siehe zur Erläuterung außerdem weiter unten im Text. 22 Siehe z. B. DE BARY: Neo-Confucian orthodoxy; zum begriffsgeschichtlich skizzierenden Kurzüberblick des Begriffes siehe CHING: To aquire wisdom, S. 267. 23 Wie auch in anderen fremdsprachenbezogenen Kontexten des Denkens, so ist es auch hier letztlich besser, den ursprünglichen Begriff unübersetzt zu lassen: So werden mögliche kulturspezifische Assoziationen, die sich bei Gebrauch eines deutschsprachigen Wortes immer einschleichen können, vermieden. Ferner werden wir so mit dem fremdkulturellen Begriff und seinem Kontext besser vertraut und können diesen daher später auch in anderen Untersuchungskontexten besser weiterverfolgen.. 24 Siehe De mente (h V n. 80). 25 Die bspw. mit Maurice Merleau-Ponty zu denkende Phänomenalität des Leiblichen wird im China Yángmíngs auf sehr differente Weise zu abendländischen Leibauffassungen bei Cusanus ausbuchstabiert. Ähnlich wie im Rahmen der abendländischen Begriffsgeschichte von Leiblichkeit steht auch das Leibdenken Yángmíngs analog in einer komplexen begriffsgeschichtlichen Entwicklung; zu den kulturspezifischen Grundlagen siehe hier siehe u. a. SOMMER: Boundaries. 26 Siehe u. a. WANG: Instructions, u. a. S. 14, 53, 67.
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Wo liegen hier die Differenzen? Die cusanische mens ist im kulturspezifisch abendländischen Sinne der Zeit als forma substantialis (substantielle Form) oder vis (Kraft) zu denken – ich möchte ergänzen: als eine zugleich beharrende und dynamische Instanz, die den Leib (hier nun ebenfalls im zeitgenössisch abendländischen Sinn Cusanus‘ zu denken) belebt, indem sie ihn sowohl mit vegetativem und sinnlichem Leben (vita vegetativa et sensitiva) als auch mit verständesmäßiger, vernunfthafter und zur geistigen Schau fähiger Kraft (vim rationativam et intellectualem et intellectibilem) versorgt.27 Alle diese Kräfte, auch alle jeweils aktualisierten Begriffe, die als Bedingungen von jeweiliger Wahrnehmung, Erkenntnis und Einsicht von der mens ausgehen, sind nach Cusanus ihrer Form nach in der mens eingefaltet (complicatio) und werden wiederum von ihr ausgefaltet (explicatio) als die Erfahrung eines endlichen, sterblichen Lebens in ihrer (der mens) Bindung an den Leib (corpus), als Lebenserfahrungen eines (persönlichen) Selbst. Obwohl Cusanus als frührenaissancezeitlicher, christlicher Denker das neuplatonische Wertgefälle zwischen Seele und Leib merklich absenkt, ebnet er es dennoch nicht völlig ein: Zwischen mens und corpus bleibt ein, den (neu)platonischen Hiatus zwischen Geistigem und Leiblichem christlich obschon „abdämpfendes“, der inhärenten Systematik nach trotzdem aber dennoch nicht zu leugnendes Wertgefälle bestehen (die mens ist in ihrer eingefalteten Potenzialität der Natur nach vor dem Sein des Leibes).28 Im Unterschied zur cusanischen mens, die so gedacht ist, dass sie, als übergeordnetes Prinzip, den Leib (corpus) immer auch belebt, hat xƯn (der Herzgeist) dem Denken Yángmíngs nach nicht die Funktion, shƝn, den (kulturspezifisch im Sinne Yángmíngs zudenkenden) Leib irgendwie etwa mit einer Art Lebenskraft zu versorgen. XƯn und shƝn sind gleichermaßen als Aspekte sozusagen – eines (immanentprozessual zu denkenden) „Wesens“ (im chinesischen Sinne Yángmíngs am besten verbalsubstantivisch, d. h. als Wirkprozess) zu denken. XƯn kann dabei, im Gegensatz zur mens in der Relation menscorpus bei Cusanus, nicht unabhängig von shƝn (dem Leib) gedacht werden: Muss man die Korrelation mens-corpus bei Cusanus so auffassen, dass der Leib definitiv stärker von der mens abhängt als umgekehrt, 27 Siehe De mente (h V n. 80). 28 Siehe ebd. (n. 81).
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so ist aus der Perspektive des oben Festgestellten hingegen das Verhältnis xƯn-shƝn als ein gleichrangiges, quasi „egalitäres“ Reziprozitätsverhältnis zu denken. Die mens hingegen wäre auch ohne corpus denkbar (sie wäre mit Cusanus ohne ihre Erfahrung immer noch als „Same“ möglicher Erfahrung zu denken), benötigt diesen insofern „nur“, um im göttlichen Spiel der Schöpfung ihren endlich-zeitlich verlebendigten „Erfahrungsort“ einnehmen zu können29. Der Leib (corpus) hingegen wäre ohne seine mens-Seele nicht denkbar. Aus der chinesischen Perspektive Yángmíngs wäre eine separierte Weise einer Gegebenheit von xƯn und/oder shƝn völlig undenkbar.30 Was belebt aber aus der Perspektive Yángmíngs nun das, was er wiederum als Leib (shƝn) denkt, wenn xƯn (Herz-Geist) als „immaterielles Bewusstseinsprinzip“31 zwar auch den Gedanken einer erfahrungsermöglichenden sowie Sinne und Agieren regulierenden – nicht aber, wie die mens bei Cusanus, den einer belebenden Funktion impliziert? Yángmíng denkt, anders als Cusanus, ein Drittes, zugleich xƯn und shƝn einheitlich Verbundenes: ein vitalisierendes, den Energiefluss und die Wechselrelationen, die Austauschprozesse des Lebens tragendes dynamisch „ver-körperndes“ Prinzip. Dieses bezeichnet er ganz im Sinne einer langen vorhergehenden Begriffsgeschichte in der chinesischen Tradition als qì 㺲.32 Als belebendes Prinzip steht dieses als weiterer Aspekt einer, wie ich es formulieren möchte, multilateral bzw. in kulturell bedingter Differenz zu Cusanus im Ganzen eben nicht wertig gestuft zu nennenden Systematik ebenfalls gleichrangig neben xƯn ㉒ und 29 Siehe ebd. (n. 77): „Non est igitur credendum animae fuisse notiones concreatas, quas in corpore perdidit, sed quia opus habet corpore, ut vis concreata ad actum pergat. Sicuti vis visiva animae non potest in operationem suam, ut actu videat, nisi excitetur ab obiecto, et non potest excitari nisi per obstaculum specierum multiplicatarum per medium organi et sic opus habet oculo, sic vis mentis, quae est vis comprehensiva rerum et notionalis, non potest in suas operationes, nisi excitetur a sensibilibus, et non potest excitari nisi mediantibus phantasmatibus sensibilibus. Opus ergo habet corpora organico, tali scilicet, sine quo excitatio fieri non posset.” 30 Zu den Zusammenhängen dieses Umstandes siehe auch weiter unten. 31 Ich wähle in Ermangelung anderer sprachlicher Möglichkeiten notgedrungen diese westlichen Begriffe, um anzudeuten, das xƯn einerseits zwar einen chinesischen Begriff einbegreift, der sich mit westlichen, leibbezogenen Herzbegriffen überlappt, xƯn darüber hinaus und in erster Linie aber ein „metaphysisches“ Prinzip bedeutet. 32 Zu dieser Begriffsgeschichte allgemein siehe KUBNY: Qi.
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shƝn 愺 und bildet dabei mit diesen im Sinne des yángmíngschen Denkens zugleich eine unlösbar, sozusagen „ineinander waltende“ Einheit. XƯn kommt hier nur insofern eine bestimmende Funktion zu, als es das „kleine bisschen Geist-Helle“ (yƯ din líng míng 煭槗㢝)33 des Menschen, sein „Bewusstsein“ (im kulturspezifisch-autorenspezifischen Sinne Yángmíngs), evoziert und repräsentiert. Das qì hingegen vereinigt als alles durchziehend-konstituierendes „Fluidum“ (nicht im Sinne von, sondern nur in Analogie zu möglichen europäischen Materiebegriffen zu denken!) wiederum den (leiblich zu denkenden) einzelnen Menschen mit seiner Umgebung; das qì des Menschen und das von Tieren und Pflanzen, ja sogar der unbelebten Natur sind dabei als ein und dasselbe vitalisierende „Fluidum“ des Lebens gedacht.34 Auch diese Vorstellung wäre vor dem kultur- und zeitspezifischen europäischen Denkhorizont Cusanus‘ so nicht denkbar gewesen – stand hier doch, ganz im Gegensatz dazu bereits seit den griechischen Anfängen eher das Feste, Dingliche oder Beharrend-Substanzielle – auch: das (theoretisch) Sichtbare, Objektivierbare – anstatt des Atmosphärisch-
33 Siehe dazu die Stelle in WÁNG: Chuán xí lù ⍂剡斓, xià (WWCGQS 䘚㠖㒟⏻⏷㦇, Bd. III, juàn 3, yԃ lù 3, S. 17, Sp. 12f.): „㧀㦻㊬⟞yⅉ㦘 壪槗y㡈㦘哾䩴y啴嗘㦷䝵䪂⃚櫭yℵ㦘哾䩴⚵y⏗䞮㥿yⅉ䤓哾䩴y⻀㢾嗘 㦷䝵䪂䤓哾䩴y啴嗘㦷䝵䪂䎰ⅉ䤓哾䩴yₜ♾ⅴ䍉嗘㦷䝵䪂䩲y廗㍮嗘㦷 䝵䪂䍉䏅y⮸⦿䎰ⅉ䤓哾䩴yℵₜ♾䍉⮸⦿䩲y坚⮸⦿嚻䓸y咖ⅉ☮㢾浣 y␅䤋䵔⃚㦏位壤y㢾ⅉ㉒煭槗㢝y“ „‚Der Mensch hat eine leere (d. h. unbesetzte, nicht festgelegte) Geisteskraft (xnj líng 壪槗) (und) verfügt dabei über liáng zhƯ 哾䩴(gutes Wissen). Haben Bäume und Gräser, Ziegel, Steine usw. auch liáng zhƯ?‘ Der Lehrer (Yángmíng) antwortete: ‚Des Menschen liáng zhƯ ist exakt der Gräser und Bäume, der Ziegel und Steine liáng zhƯ, insofern als Gräser und Bäume, Ziegel und Steine ohne des Menschen liáng zhƯ nicht als Gräser und Bäume, Ziegel und Steine in Erscheinung treten können. Doch wie (könnte dies) ausschließlich für Gräser und Bäume, Ziegel und Steine gelten? Himmel und Erde können ohne des Menschen liáng zhƯ ebenfalls nicht als Himmel und Erde in Erscheinung treten: Himmel (und) Erde (sowie) die zehntausend Wesen (und Dinge) sind mit dem Menschen ursprünglich ein Wesen [im verbalsubstantivischen Sinne zu denken, DB] (yƯ t 浣). Der Ort seines [dieses einen Wesens, DB] extremsten und stärksten Hervorgehens und Sich-Öffnens ist des Menschenherzens ein kleines bisschen Geist-Helle (yƯ din líng míng 煭槗㢝) (d. h. sein Bewusstsein und sein Erkennen).‘“ (Übers. DB). 34 Siehe das Wáng Yángmíng-Zitat in LINCK: Yin und Yang, S. 27
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Flüchtigen, „Fluidalen“, Prozesshaften, Verhältnishaften35 im Vordergrund.36 Diese inhaltlichen Unterschiede – dort, im abendländischen Denken, klar definierte, vergleichsweise gleichsam fest ineinander gefügte terminologische Verhältnisse von Über-, Unter- und Nebenordnung, möglichst ohne „Spielraum“; hier, im traditionellen chinesischen (mingzeitlichen) Denkkontext, ein einheitliches, aber trotzdem bis zu einem gewissen Grade spielräumiges (philologisch-hermeneutisch und selber übend37) zu deutendes „Feld“ multilateraler Bedeutungsaspekte, welches situationslogisch adaptibel ist; im abendländischen Denken eher der kulturspezifische Blick aufs Beharrende, Substanzielle, ja Ewige; im chinesischen Bereich der Fokus auf das ständige „fluidale“ Walten einer Welt ohne dass dabei etwas Vergleichbares zum Begriff eines ewigen Gottes im kulturspezifischen und autorenspezifischen Sinne Cusanus‘ gedacht würde – diese Unterschiede „spiegeln“ sich nun auch gleichsam analog in der Form des Denkens beider Philosophen wider: Philosophie als Selbstbildung im eingangs definierten Sinne spielt sich daher bei Cusanus und Yángmíng jeweils in begrifflichen Horizonten ab, die nicht nur in inhaltlicher Hinsicht kulturbedingt differieren, sondern – je kulturbedingt – auch als in sehr differenten Zuordnungsformen bzw. kulturell differenten Grundweisen begrifflichen Ordnens je strukturiert gedacht werden müssen. Mit Hans Leisegang in unseren interkulturellen Kontext hinein übertragend gesprochen: Die Philosophien Cusanus‘ und Yángmíngs sind kulturell differenten „Denkformen“38 zuzurechnen. 35 Der Ordnung halber muss natürlich erwähnt werden, dass es gerade eine Errungenschaft der mittelalterlichen Philosophie darstellt, Übergänge entwickelt zu haben, WÖHLER: Geschichte der sogenannten mittelalterlichen Philosophie, S. 186, „[…] vom bloßen Ding-Eigenschafts-Denken zum Funktionsdenken bei grundsätzlicher Kritik an der Ontologie der absoluten Substanzen und Entitäten [sowie] die Aufwertung und Objektivierung der Kategorie ‚Relation‘ als Voraussetzung eines wissenschaftlichen Gesetzesbegriffes“ bewerkstelligt zu haben. Trotzdem stand die Relation nicht derartig im Vordergrund wie in China, wobei deren Begriff schon allein deswegen anders zu denken ist, weil er nicht erst ein Substanzdenken zu überwinden hatte, gleich von ganz anderen, immer schon Relationalität betonenden Voraussetzungen her „startet“. 36 Siehe ebd., u. a. S. 8, 148f. 37 Zu diesem Übungsaspekt siehe weiter unten im Text. 38 Siehe LEISEGANG: Denkformen.
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Während Cusanus zumindest seine Reflexionskategorien im Sinne einer Reflexion ‹verstandesmäßigen› (rationaliter) Denkens auch in puncto der logischen Form seines Denkens grundständig vor dem Hintergrund eines abendländischen Kategorienverständnisses systematisch klar fixierend zuordnenden Mustern begrifflicher Einordnung in klarer Abgrenzung zu anderen Begriffen strukturiert – so ist eben eine solche Denkform oder Matrize des Denkens als Begriffe absolut je gegeneinander besondernden begrifflichen Ordnung bei Yángmíng nicht zu finden. Man kann dies auch so formulieren: Yángmíng denkt per se in Mustern äquipollenter Begriffe. Dieses Denkmuster findet sich bei Cusanus – anders kontextualisiert, weil im Sinne eines theoretischen Überschreitens verständiger Begriffsordnung gedacht – nur in dem «Bereich» der Reflexion, welchen er dem intellectus zuschreibt. Die Ausdrücke, die Yángmíng im Rahmen seiner Philosophie gebraucht, ergeben ein gleichsam kreisartig organisiertes Beziehungsnetz ineinander gleichwertig, „netzartig“ verschränkter äquipollenter Begriffe. Mittels dieser werden im Denken bestimmte Zusammenhänge gleichsam „eingekreist“, zu denen dabei dann letztlich immer ein letzter Rest an „allusiver Distanz“39 gewahrt wird. Dabei kommt es, was in diesem und auf diesen kulturspezifischen Kontext bezogen, nicht als Mangel einer denkerischen Form gewertet werden darf, zu Überschneidungen, fast bin ich versucht zu sagen: zu einem bewegt-beweglichen, gleichsam organischen „Ineinanderverwachsen-Sein“ jener äquipollenten Begriffe. Dabei wird hier niemals letztgültig exakt fixierend zu bedeuten gegeben. Es bleibt gewissermaßen immer ein Rest Unschärfe, sozusagen „Offenheit“ am Begriff, eine Offenheit eingeschränkter Variabilität, welche diesen in verschiedenen Gesprächssituationen spontan immer wieder etwas anders kontextualisierbar macht. Aussagen bringen hier situationsbezogen, in dialogischen Zusammenhängen, die hernach aufgeschriebenen oder brieflich geführt wurden, auf den (spielräumigeren) Begriff oder besser: auf ein in gewissen Bahnen variableres Feld des Begriffs.40 Es bleibt, nicht etwa aus Fahrlässigkeit, sondern im 39 Siehe JULLIEN: Umweg und Zugang, S. 17. 40 Um ein Beispiel für diese multilateral strukturierte Denkform bei Yángmíng anzuführen, sei u. a. verwiesen auf folgende Stelle im Chuán xí lù ⍂剡斓, hier in der engl. Übersetzung von Wing-tsit Chan, siehe WANG: Instructions, S. 161): „Principle is one and no more. In terms of its condensation and concentration in the individual it is called the nature. In terms of
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Blick auf den kulturspezifischen Kontext, in dem Selbstbildung hier vornehmlich aktualisiert wird41, mehr Interpretationsspielraum, als wir es von einem traditionell abendländischen Philosophieren, wie z. B. dem cusanischen, her gewohnt sind. Besagte allusive Distanz im Zubedeuten-Geben ist dabei als ein Grundmerkmal chinesischen Philosophierens aufzufassen. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch der (vor)prägende Einfluss der spezifischen Sprachcharakteristik des Chinesischen auf die prävalenten Denkformen der traditionellen chinesischen Philosophie ganz grundsätzlich mit in Betracht zu ziehen. Entsprechend wird daraus wiederum ersichtlich, dass auch jene allgemeine kulturspezifische Form eines für uns eigenkulturellen historischen Philosophierens, für die das cusanische Schriftwerk exemplarisch ist, im Vergleich mit traditioneller chinesischer Philosophie als ein Charakteristikum traditioneller okzidentaler Philosophie zu denken ist – zum einen philosophiegeschichtlich bedingt, zudem aber sicher auch im Mindesten nicht ganz losgelöst von der grammatischen Struktur indogermanischer Sprachen, wie beispielsweise der des Altgriechischen oder des Lateinischen (charakteristisch) quasi „natürlich“ mit geformt.42 Mit diesen sprachlich bedingten bewusstseinsgeschichtlichen Divergenzen der begrifflichen bzw. denkformalen Fundierungsebenen gehen weitere Faktoren einher, welche für die Unterschiede im Denken der cusanischen mens und des yángmíngschen Herzgeists (xƯn) verantwortlich sind. Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur einen dieser the master of this accumulation it is called mind. In terms of its emanation and operation under the master it is called the will. In terms of the clear consciousness of the emanation and operation it is called knowledge. And in terms of the stimuli and responses of the clear consciousness, it is called things. Therefore when it pertains to things it is called investigation, when it pertains to knowledge it is called extension, when it pertains to the will it is called sincerity, and when it pertains to the mind it is called rectification. To rectify is to rectify this [principle], to be sincere is to be sincere about this, to extend is to extend this, and to investigate is to investigate this. These are all means of investigating the principle of things to the utmost so as to develop the nature fully.” 41 Dazu siehe auch weiter unten. 42 Siehe dazu auch OBERT: Philosophische Sprache und hermeneutisches Sprechen; zum Zusammenhang von Sprachstruktur und Denkformen bleibt nach wie vor lesenswert: WHORF: Sprache – Denken – Wirklichkeit.
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Faktoren – die kulturspezifisch divergierenden „Weltbilder“43 Cusanus‘ und Yángmíngs – herausgreifen: In der Philosophie Cusanus‘ spielt, was als kulturspezifisch abendländisches Charakteristikum zu denken ist, die Verbindung von christlichem Glauben und neuplatonischer Philosophie 44 eine tragende Rolle – ähnlich wie im Denken der vorhergehenden Denker, die Cusanus beeinflussten (Augustinus, Eriugena, Eckhart von Hochheim usw.). Ursprünglich auch ausgehend von seinem christlichen Glaubensbekenntnis denkt Cusanus, wiederum kulturspezifisch vorbedingt, sein Selbst, sich selbst, im philosophisch rekonstruierenden Sinne als Kreatur – als Gemachtes. Dieser Gedanke impliziert den Gedanken einer schöpferischen Instanz, einen Ursprung des Gemachten, der selber nicht gemacht ist. Als Gemachtes wird das Gemachte in diesem Kontext als Endliches begriffen, endlich im Gegensatz zum kreativen, kreierenden Ursprung, der unvordenklich und unendlich ist. Von diesem Ursprung her erhält wiederum die mens, kreationslogisch gedacht, letztlich ihr Sein und ihre Fähigkeit, den Leib, als Seele, zu beleben. Cusanus denkt die mens dabei als Bild des göttlichen Urgrundes, eines alles beherrschend verursachenden göttlich Einen, welches, da es auch Ursprung jeden Denkens und jeder Rede von ihm ist, nicht vollgültig begriffen – sondern höchstenfalls gleichsam geistig „geschaut“45 oder „berührt“46 werden kann.47 43 Siehe dazu bitte noch einmal die Wittgenstein-Zitate in Anm. 17. 44 Cusanus geht in seinem Denken vor allem von einem platonischen bzw. neuplatonischen Kontext aus (siehe u. a. REINHARDT; SCHWAETZER (Hgg.): Nikolaus von Kues in der Geschichte des Platonismus; BEIERWALTES: Platonismus im Christentum, bes. S. 130-171; DERS.: Cusanus und Proklos. Zum neuplatonischen Ursprung des Non-Aliud; FLASCH: Nikolaus von Kues, u. a. S. 500-516), den er allerdings nach und nach zu einer neuartigen, eigenständigen Position integriert, besonders seit De beryllo, siehe ebd., S. 468. Auch finden sich freilich aristotelische Einflüsse, wie z. B. ein spezifisch cusanisch ausgeformtes Denken des intellectus agens. 45 Siehe u. a. De vis. (h VI). 46 Siehe u. a. De docta ign. (h I); siehe auch FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 111f. 47 Siehe dazu exemplarisch u. a. die folgenden beiden Stellen: De fil. (h IV n. 73): „Sic conicere te convenit unum illud, quod est omnium principium, ineffabile esse, cum sit omnium effabilium principium. Omnia igitur quae effari possunt ineffabile non exprimunt, sed omnis elocutio ineffabile fatur. Est enim ipsum unum, pater seu genitor verbi, id omne, quod in omni ver-
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Yángmíng hingegen hätte sich niemals als Bild einer im abendländischen Sinne Cusanus‘ göttlich zu nennenden Instanz begreifen können – er hätte sich im Kontext seiner Weise einer Selbstbildung aus kulturbedingten Gründen gar nicht erst auf eine, dem jüdisch-christlichen Sinne analoge Weise als gemacht denken können: Im Zusammenhang seiner grundlegenden, kulturspezifischen Vorannahmen – seines (vorphilosophischen) Weltbildes, geht er nicht, wie Cusanus in seinem Kontext, von einer gedachten und geglaubten, im Bild der Schöpfermacht reziproken Grundrelation Schöpfer-Geschöpf aus: Obwohl die Welt im yángmíngschen Sinne ebenfalls ein permanent kreatives Wandlungsgeschehen darstellt, wird dabei kein übergeordneter Schöpfer, geschweige denn einer, mit dem man im christlichen Sinne kommunizieren könnte, gedacht.48 Yángmíng ist als Konfuzianer (mit Affinitäten auch zum Daoismus und Buddhismus) vielmehr absolut ausgerichtet auf die Beziehung von Mensch zu Mensch in ihrer konkreten Situativität im Alltagsgeschehen. Zwischenmenschlichkeit und Situativität sind die kulturspezifisch verfassten Dreh- und Angelpunkte seines Philosophierens, seines kulturspezifischen Strebens nach „SelbstEin-Sicht“.49 Eine zentrale Vokabel in diesem Zusammenhang ist z. B. bo verbatur, sic in omni signo signatur, et sic de reliquis.“ „Auf diese Weise ziemt es dir (billigerweise) zu vermuten, dass jenes Eine, welches der Ursprung von allem ist, unaussprechlich ist, obschon es (doch) der Ursprung alles Aussprechbaren ist. Folglich können alle, die (aus-)gesagt werden können, nicht (jenes) Unaussprechliche ausdrücken – und doch sagt jeder Ausdruck das Unaussprechliche (aus). Es ist nämlich das Eine selbst, Vater oder Erzeuger des Wortes, all dasjenige, was in jedem Wort (überhaupt) ‚gewortet‘ (verbatur), so in jedem Zeichen (überhaupt) bezeichnet wird – und so (gilt es auch) von allem Übrigen.“ (Übers. DB); De non aliud (h XIII n. 7): „Ex his igitur nunc plane vides de li ‘non aliud’ significatum non solum ut viam nobis servire ad principium, sed innominabile nomen Dei propinquius figurare, ut in ipso tamquam in pretiosiori aenigmate relucescat inquirentibus.“ „Aus diesem ersiehst du nun deutlich, dass die Bezeichnung ‚non-aliud‘ nicht allein als unser Weg zum Ursprung dient, sondern den unnennbaren Namen Gottes näher (heranführend) eine Gestalt gibt, so dass er in ihm gleichwie in einem kostbaren Rätselbild den Suchenden wieder hell werde (bzw. entgegenstrahle).“ (Übers. DB) 48 Alles dies ist hier wie gesagt ohne Wertung vorgetragen, siehe der Abschnitt „Interkulturell vergleichen“ der vorliegenden Studie. 49 Siehe zum Gebrauch der Wendung ‚Selbst-Ein-Sicht‘ eventuell noch einmal den Abschnitt „Zum interkulturellen Philosophiebegriff“ der vorliegenden Studie.
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‚rén‘ (⅐), was man wiederum im Deutschen ganz passabel als Mitmenschlichkeit, Empathie, mit den Charakteristika zwischenmenschlichen Respekts und Anstands denken kann. Statt der höchstwertigen, zentralen Beziehung Mensch-Gott dort, einer Beziehung, welche die Voraussetzung jeglicher zwischenmenschlicher caritas darstellt, steht hier also, mutatis mutandis, die Beziehung Mensch-Mensch – gewissermaßen absolut – im Vordergrund. Yángmíng denkt sich im Rahmen seiner Selbstbildung in einer Welt, die er, kulturell bedingt, als korrelative Kosmologie einer im „Welt waltenden“ dào 拢 zwischen Himmel und Erde (tiƗn dì ⮸⦿) sich gleichursprünglich mit evozierenden (sich bewusst sein könnenden) Zwischenmenschlichkeit zur Form erhebt, um eine Formulierung Ernst Cassirers zu übernehmen. Daraus folgt im Weiteren, dass der Mensch im Sinne Yángmíngs, vor dem Hintergrund eines kulturspezifisch andersartigen Weltbildes, hier nicht im Sinne einer substanziellen Form, (einer auf Gott (im Sinne Cusanus‘) ausgerichteten) Seele, gedacht werden kann, sondern vielmehr als „konfuzianisches Selbst“50 ganz andersartig insofern, als er eine je ständig sich wandelnde menschliche Beziehung in einem sich permanent verschiebenden transsubjektiven und zugleich intersubjektiven Horizont (sowohl im metaphorischen als auch im begrifflichen Sinne zu denken) organischer, unlöslicher, netzartig zusammenhängender menschlicher Beziehungen repräsentiert. Hieraus erhellt nun auch einmal mehr, warum xƯn (der Herzgeist) nicht im Sinne einer individuellen Seele, einer substanziellen, geschaffenen mens vorgestellt werden kann und darf. Im Kontext seiner (kultur- und zeitspezifischen Weise einer) Selbstbildung hat nun wiederum für Cusanus seine Rede von der mens keine ausschließlich theoretische Bedeutung – vielmehr hat sie für ihn selbst, soviel können wir aus seinen Texten inhaltlich sowie aus den bekannten außertextlichen Kontexten ersehen, in erster Linie praktische Konsequenzen für seine gesamte Lebensführung. Sein Denken steht, kultur- und zeitspezifisch ausgeprägt, ganz im Zeichen (s)eines Strebens nach „Selbst-Ein-Sicht“, wie ich es eingangs formuliert habe. Um diese geht es letztlich in den Kontexten der korrelierenden Reden von mens und deus. Selbstbildung ist hier als Prozess der Selbsterkenntnis der mens als Bild ihres Ursprungs zu denken. 50 Siehe u. a. TU WEI-MING: Confucian thought.
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Die mens ist dem cusanischen Denken nach nicht Ausfaltung (explicatio), sondern als Bild des ewigen Ursprungs der Schöpfung zugleich Bild der ewigen, unvordenklichen Einfaltung des göttlichen Ursprungs. Darum meint Cusanus: „Alle sind (bzw. alles ist) in Gott, aber dort als Paradigmen51 der Dinge (rerum exemplaria); alle (sind bzw. alles ist) in unserem Geist, da jedoch als Ähnlichkeiten der Dinge.“52 Was hier im Hinblick auf die Substanz der mens, die mens im Bedeutungsaspekt als Einfaltung gedacht ist, lautet im Hinblick auf die mens als tätige Kraft der Ausfaltung (explicatio): „Die göttliche mens ist seinsverleihende Kraft, unsere mens ist angleichende Kraft.“53 Jener göttliche Geist kann mit dem begrifflichen Instrumentarium der mens, so wie es auf die geschaffenen Dinge der Welt Anwendung findet, nicht ermessen werden, denn in diesem Sinne kann der Ursprung, weil der mens kreationslogisch vorgeordnet, nicht erfasst werden: Die mens divina ist unermesslich und daher begrifflich nicht zu fassen. Um sein Streben nach „Selbst-Ein-Sicht“ in seinem kultur- und zeitspezifischen Horizont sprachlich für sich selbst und andere plausibel zu machen, sich und anderen Rechenschaft abzulegen (ein Grundcharakteristikum jedweden Philosophieren), entwickelt Cusanus, indem er u. a. an Fundierungsebenen anknüpft, die bereits bei Platon gelegt sind, den Begriff der geistigen Schau. Diese verortet er zugleich in dem, was er als das höchste Vermögen der mens deklariert: der intellectus. In der damit besagten, eigentlich aber nicht vermittelbar „aus-zusagenden“ kontemplativen Erfahrung oder Schau koinzidieren (im verbalen Sprachsinne) erfahrender Denker, (sich) denkende Erfahrung bzw. (sich) erfahrendes Denken sowie Gedachtes und Erfahrenes exemplarisch bzw. punktuell im Fluss des bedingten Denkens in Eins. Sie 51 Ich spreche hier bewusst nicht vom Urbild, sondern gebrauche in Anlehnung an die ursprüngliche griechische Wendung ‚ʌĮȡȐįİȚȖȝĮ‘ das Wort ‚Paradigma‘; die Rede vom Urbild im Zusammenhang des Begriffspaars ‚Urbild-Abbild‘, welches aus dem 17. Jh. stammt, erscheint mir in vielen Fällen irreführend, z. B. wenn es im Zusammenhang des Gedankens der Bildhaftigkeit der mens angewendet würde. Sollte man den Gebrauch der Wendung ‚Urbild‘ vielleicht ganz ad acta legen? Siehe KREUZER: Bewusstsein des Bildes, S. 30f., Anm. 53. 52 De mente (h V n. 73): „Omnia in deo sunt, sed ibi rerum exemplaria; omnia in nostra mente, sed ibi rerum similitudines.“ (Übers. DB) 53 Ebd., (n. 99): „Divina mens est vis entificativa, nostra mens est vis assimilativa. “ (Übers. DB)
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einen in einer solchen Denksituation in einer, obschon nicht übersprachlich, so doch in ihrem non-dualen „Ge-wahr-en“ nur schweigend selbst ein-sehenden, insofern immer privaten kontemplativen „Sichtweise“.54 Diese ist in Worten nicht mehr genau zu erfassen und kann nicht begrifflich abgrenzend vermittelt werden. Auf der Ebene des begrifflichen Denkens kann sie nicht „geschmeckt“ werden (um die cusanische Metapher zu gebrauchen55). Daher kann jene Einheit der Selbst-EinSicht nicht mehr auf einen objektivierenden, abstrahierenden Begriff von Einheit gebracht werden kann, wie er z.B. im Sinne der Sätze einer monistischen Ontologie (abstrakt objektivierend) zu denken wäre. Deswegen spricht Cusanus bezüglich dem, was ich hier mit der ungewöhnlichen Wortkombination ‚Selbst-Ein-Sicht‘ anzudeuten versuche, von einer Schau56 der mens. Cusanus weist diesbezüglich viele sprachliche „Anläufe“ – einer z. B. lautet, dass die schauende mens im Punkt alle Größe, im Mittelpunkt den Kreis sähe. Sie schaute, so Cusanus, auf diese Weise alles ohne Zusammensetzung durch Teile und nicht, wie das eine dies sei und das andere das, sondern wie alles eins und eines alles sei. Auf diese Weise, so Cusanus, strahle Gott, der alles sei, in der mens als seinem Bild wider.57 Diese geistige „Sichtweise“ kann als bedingender Grund jeglicher Rede von der Rede aus immer nur gezeigt/ gewiesen werden. Dieses Aufzeigen kann bei Cusanus im Sinne einer negativen begriffstranszendierenden Rede oder mittels metaphorischer aenigmata, z. B. einer „Sprengmetaphorik“ (Hans Blumenberg) wie der Rede vom Geist als einem lebendigen Spiegel58, erfolgten und dann im 54 Unser Denken des Begriffs der mens ist vom eigentlichen Akt der Schau verschieden, auf den Cusanus kultur- und zeitspezifisch von seinem theoretischen Denkhorizont her verweist, nicht mehr als verweisen kann, ohne die eigentliche Bewusstseinserfahrung, die damit einhergeht, in Worten direkt vermitteln zu können. 55 Siehe u. a. De sap. I (h V n. 10). 56 Zur Rede vom Sehen bei Nicolaus Cusanus vgl. BEIERWALTES: Visio facialis. 57 Ich möchte einen sprachlichen Anlauf in (Nicht-)Richtung auf das damit übergegensätzlich „Gemeinte“ weisen, indem ich sage: Selbst-Ein-Sicht charakterisiert sich als Denk-Erfahrung, in der Alles und Nichts aufgehoben sind – im dreifachen Wortsinn von aufheben: nihilieren, bergen bzw. wahren, erhöhen. 58 Siehe KONERSMANN: Lebendige Spiegel, S. 91
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günstigen Fall eine Art geistigen „Vorgeschmack“ des Intendierten bewirken. Hinsichtlich eines weiteren komparativen Themenbereiches, den ich abschließend zur Sprache bringen möchte, gilt es sich kurz in Erinnerung zu rufen, in welcher „Lebensform“59 sich das cusanische Streben nach „Selbst-Ein-Sicht“ aktualisiert: Cusanus richtet seine Lebensführung primär auf das aus, was er als seinen und seiner Welt (dem, was er kultur- und zeitspezifisch vorgeprägt als seine Welt begreift) transzendenten Ursprung denkt und glaubt. Der Ursprung geht im Sinne Cusanus‘ dem Zwischenmenschlichen, dem Menschlichen in allen seinen Facetten, klar von diesem Verschieden, voraus; er wird daher von Cusanus und der Tradition, in der er steht, vor allem Zwischenmenschlichen als (kultur- und zeit)spezifische Weise einer möglichen SelbstEin-Sicht angestrebt. Dazu gehört auch, was hier, wie gesagt, eine analytische Feststellung ist und keinerlei Wertung impliziert, dass Cusanus aus einer Lebensform heraus denkt, die sich dem Familiären genauso entzieht wie der Sexualität, überhaupt sich vom Weiblichen abwendet, was dem damaligen, kulturspezifischen Weltbild im Kontext seiner Lebensumgebung als Kleriker entspricht. Kontemplativ-denkend – sich herausnehmend aus dem Strom des alltäglichen familiären Lebens der Masse60 – übt61 sich Cusanus denkend, sozusagen „darauf zugehend“, „annähernd“, „schauend“, „berührend“ auf den Ursprung hin, von dem aus und auf den hin er sich als gemacht denkt. Er übt sich in diesem Sinne, um sich, „selbst-ein-sehend“ in seinem zeit- und kulturspezifischen Sinne, mit diesem Ursprung, dem überbegrifflichen Ursprung auch allen Denkens und der Rede von ihm, so weit als möglich zu vereinigen, im Mindesten dieser Einung, so gut es geht, permanent entgegenzustreben.
59 Wie schon im Falle der Rede vom Weltbild gebrauche ich das Wort ‚Lebensform‘ ebenfalls wieder im Sinne des späten Wittgenstein; siehe SCHULTE: Wittgenstein, u. a. S. 146: „Unter einer Lebensform versteht Wittgenstein – das wird aus seinen Beispielen deutlich – die Gesamtheit der Praktiken einer Sprechergemeinschaft.“ 60 Zu kulturspezifischen Formen des Lebens zur Zeit Cusanus‘ vgl. u .a. HUIZINGA: Herbst des Mittelalters. 61 Auf das Üben als solches macht aus philosophisch-anthropologischer Perspektive jüngst aufmerksam: SLOTERDIJK: Du mußt dein Leben ändern.
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Wo bleibt nun aber im Vergleich zum cusanischen Konzept eines Strebens nach Selbst-Ein-Sicht im so differenten Philosophieren Wáng Yángmíngs jenes suchende Streben, das für eine Selbstbildung auch kulturübergreifendes Merkmal sein soll? Da Yángmíng der Gedanke eines Schöpfers, dem er denkend und liebend zustreben könnte, kulturbedingt fern liegt, verwundert es nicht, dass wir hier das, was allgemein mit der Rede von Selbstbildung gemeint ist, ganz anders ausgeformt und kontextualisiert vorfinden müssen als bei Cusanus. Für Yángmíng besteht die Grundaufgabe, welche mit der begrifflichen Reflexion und dem philosophischen Lernen verbunden ist, darin, sich dem dào perfekt, immer weiter übend „einzugleichen“. Es geht darum, mit dem dào in seinem alltäglichen Lebensvollzug, gleichsam dem „Wettersystem“ der sich permanent wandelnden situativen Beziehungszustände, in dessen permanente Wandlung(en) wir uns auf je und je unwiederholbare Weise je hineingestellt sehen, eins zu werden. Hierbei sollte sich in steigendem Maßen eine situativ-bewegte „Selbst-Ein-Sicht“ einstellen, in der nach und nach auf permanente Weise gewahrt wird, dass man mit dem dào identisch ist und dass man selbst von diesem Weltwalten nicht unterschieden „leibt und lebt“. Die hiervon ausgehende Form einer kultur- und zeitspezifisch chinesischen Form von Selbstbildung läuft auf eine Selbstvervollkommnung als Mensch unter Menschen, im Alltag und u. U. zugleich politisch exponierter (Gefahren-)Position, hinaus. Im kulturbedingten Gegensatz zu Cusanus steht dabei hier nun die Lebensform Familie im Zentrum allen selbstbildenden Übens. Sexualität und der der ehelich geregelte Umgang mit dem weiblichen Geschlecht wurden hier in den Prozess einer Selbstbildung integriert, nicht also bewusst gemieden: Schließlich markiert diese Beziehung den familienbedingenden Drehund Angelpunkt des konfuzianischen Familiensystems. Wo Cusanus den generativen „Fortzeugungskomplex“ Familie für sich bewusst durchtrennt und gerade aus seinem philosophierenden Leben verbannt – ist bei Yángmíng gerade die Familie der zentrale Ausgangsort aller eines selbstbildenden Strebens nach Selbst-Ein-Sicht: Die kulturspezifische Basis des damit einhergehenden Philosophierens besteht im zentralen Bewusstsein einer Verkettung des Hervorgehens aus anderen
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Menschen – der Familie und umgebenden sozialen Grundstrukturen, in denen die Familie steht.62 Der Fokus auf die Familie und die Vorgeschichte dieser Verkettung des Hervorgehens der Familienmitglieder hat in der konfuzianischen Selbstbildung einen Stellenwert, der dem Stellenwert vergleichbar ist, den im Christentum Gott einnimmt. Das Ziel konfuzianischer Selbstbildung in jenem sozialen Kontext – der dann auch auf die gesamte soziale bzw. politische Struktur des Staates im Ganzen erweitert vorgestellt werden muss – ist es, den Bewusstseinsstatus des vollkommenen Menschen zu realisieren: Dieser, der konfuzianische Weise (shèng rén 勥ⅉ), soll in (s)einer permanenten erkennend-handelnden Selbst-EinSicht, da er ja mit dem Wandel des situativ Vorliegenden immer gleichsam im Einklang handeln soll, immer die richtigen Entscheidungen, die dem Weltwalten entsprechenden Entscheidungen treffen – immer intuitiv im handelnden Vollzug das einer je vorliegenden Situation Gemäße realisieren. Anders als bei Cusanus geht es hier nicht darum, kontemplativ denkend eine von theoretischen Fundamenten aus gleichsam startende EinSicht im Sinne einer Selbstreflexion als Reflexion auf ein WeltBedingendes, Welt-Schöpfendes hin zu aktualisieren. Hier geht es vielmehr darum, ein intuitives Denk-Handeln zu erreichen, in welchem 62 Aus der Verkettung des Hervorgehens, des Gezeugt-Werdens und ZurWelt-Gebracht-Werdens, des Zeugens und Gebärens ergeben sich dabei praktische Imperative eben gegenüber der einem selbst je vorhergehenden Verkettung des Hervorgehens, aufgrund deren und aufgrund derer Fortführung in allen vorhergehenden Generationen von Ahnen man ja überhaupt erst am Leben ist. Diese Imperative bestehen gleichermaßen gegenüber verstorbenen und lebenden Familienmitgliedern. So ist man z. B. hier verpflichtet, die historische Verkettung des Hervorgehens – da man ohne diese selbst nicht am Leben wäre – fortzusetzen, also Nachkommen zu zeugen. Im gleichen Sinne ist man hier demnach verpflichtet, die Eltern zu pflegen und zu lieben, wenn sie alt sind, denn ohne deren Pflege und Liebe wäre man im Säuglings- und Kleinkindalter auch nicht am Leben geblieben. Entsprechend ist man ferner verpflichtet, die eigenen Kinder zu versorgen und auszubilden, damit sich die Verkettung des Hervorgehens, die Familie, erfolgreich fortzuschreiben vermag. Ein klerikales Leben im Zölibat zu leben, wie im kulturspezifisch abendländischen Fall Cusanus‘ oder wie durchaus in China möglich (im Falle daoistischer Eremitentums oder des Eintrittes in einen buddhistischen Orden), würde ein konfuzianischer Philosoph wie Yángmíng in jedem Falle als ein Verfehlen gelingender Selbstbildung erachten.
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das konfuzianische Subjekt sich in einer permanent in allen Situationen damit sich erst voll ‚selbst habenden‘ (y΅u w΅ 㦘㒠) „all-fältigen“ Einung mit allem Begegnenden in einem fort evoziert. Diese im Lebensvollzug permanent mit allem Begegnenden „einige“ Intuition (Yángmíng bezeichnet sie als liáng zhƯ 哾䩴, was ich als ‚gutes (Ge-) Wissen‘ übersetze) ist das Resultat von konfuzianischer Selbstbildung im Sinne einer komplexen und nur unter äußersten Anstrengungen zum dauerhaften Erfolg führenden, permanenten und lebenslangen reflexiven Denkund Erfahrungsübung.
Resümee und Ausbl ick Damit komme ich zum Abschluss des Vorliegenden: Wir haben gesehen, dass sich ausgehend von einer ersten Vergleichbarkeit der Begriffe mens und xƯn (Herz-Geist) eine große Vielfalt grundständiger, kulturell bedingter Differenzen gezeigt hat. Diesen Zusammenhang kultureller Unterschiede im Denken haben wir entlang des Konfiniums zwischen Cusanus und Yángmíng aus verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen: inhaltlichen Perspektiven, ferner solchen, welche die kulturspezifisch mit bedingte Form des jeweiligen Denkens sowie schließlich auch die Formen der jeweiligen Lebens(horizonte) der beiden Philosophen betreffen. Dabei konnten schon aus diesen wenigen Hinsichten, die hier angerissen wurden, einige grundlegende Problemfelder ersichtlich gemacht werden, die weiter erforscht werden sollten. Hier wird weiter zu fragen sein: Welche Schlüsse können wir aus dem bis hier nur kurz und prospektiv angerissenen interkulturell komparativen Vergleich Nicolaus Cusanus-Wáng Yángmíng bereits ziehen? Was folgt daraus für die Modernität(en) des Cusanus im Blick auf China und seine kulturspezifisch andersartig grundgelegte Philosophietradition? Ich möchte an dieser Stelle erst einmal nur so viel festhalten: Es dürfte sich meines Erachtens sehr lohnen, einen komparativphilosophie(n)historisch geführten Dialog zwischen der deutschen und der chinesischen Philosophiehistorikerszene zu Cusanus und zu Vertretern der traditionellen chinesischen Philosophie (z. B. Yángmíng) zu initiieren und zu festigen. Hierfür könnte beispielweise an den oben angerissenen Themenfeldern angeknüpft werden, um diese im interkulturellen Forschungsdialog miteinander weiter zu präzisieren bzw. die
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Diskussion auf weitere Philosophen auszudehnen. Über weitere vertiefende Einsichten in die spezifischen Inhalte hinaus dürfte ein solcher Dialog zusätzlich auch deswegen interessant sein, weil hier sicher zusätzlich auch in methodischer Hinsicht verschiedene „Welten“ fruchtbringend aufeinanderträfen. Sehr wahrscheinlich würden in der Reflexion kulturbedingt hier jeweils oft unterschiedliche Perspektiven eine zentrale Rolle spielen, Perspektiven (vielleicht auch im Sinne Cusanus zu denken?), die dann wiederum gemeinsam würden erörtert werden können. Dies könnte nicht zuletzt auch der deutschen Seite völlig neue Einsichten und Perspektiven auf „ihren“ Cusanus ermöglichen – Einsichten, welche die intra-kulturell ausgerichtete Cusanus-Forschung befruchten könnten und die dabei helfen würden, Cusanus noch stärker für eine globalisierte Zukunft im allgemeinen philosophischen Bewusstsein präsenter zu machen. Im Ganzen dürfte man gespannt sein, was wir aus einem solchen Dialog auch einmal (wieder63) von der chinesischer Seite lernen bzw. aneignen oder als Anregung mit nach Hause nehmen könnten: Die Philosophie Cusanus‘ ließe sich so, auf dem Umweg über China, in einem neuen Lichte fruchtbar machen, um einen Beitrag leisten zu können, Ideen und Lösungsansätze zu generieren, unsere „eigenen“, brennenden, europäisch-abendländischen Zeitfragen philosophie(n)historisch fundiert gleichwie weltbewusst gegenwartsphilosophisch zu problematisieren.
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63 Siehe REICHWEIN: China und Europa.
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64 Shԁurén ⸗ⅉ ist der weniger gebräuchliche ursprüngliche Vorname unseres Philosophen, Yángmíng 椌㢝 hingegen sein gebräuchlicherer Literatenname; siehe auch Anm. 3.
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Philosophie und Religionswissenschaft in China Mögliche Ansatzpunkte für die Cusanusforschung im Land der Mitte HEINRICH GEIGER Die wichtigsten Daten zum Thema „Nicolaus Cusanus in China“ ließen sich auf einer Postkarte festhalten. 1984 verfasste Yin Dayi 1, auf dessen Namen wir gleich nochmals stoßen werden, eine Biographie des Nikolaus von Kues, auf die 1987 eine weitere von Zhao Fusan folgte.2 1988 erschien bei dem renommierten Pekinger Verlag Commercial Press (Shangwu yinshuguan) die Übersetzung von De docta ignorantia. Übersetzer waren der eben genannte Yin Dayi und Zhu Xinmin. Im Jahr 1996 folgte, auch bei einem angesehenen Verlag in Peking (Shenghuo, Dushu, Xinzhi sanlian shudian), die Übersetzung der Drei Schriften vom verborgenen Gott, De deo abscondito, De quaerendo Deum, De filiatione Dei und Das Sehen Gottes, De visione dei. Übersetzer war diesmal Li Qiuling, von dem uns eine im Jahre 1992 beim Verlag Xinhua shudian erschienene Dissertation zum Thema Nicolaus Cusanus bekannt ist. Ihr Titel lautet Gott, Universum und Mensch (Shangdi, Yuzhou, Ren). Im Jahre 1997 wurde sie in Taiwan in einer 1
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Fälschlicherweise lautet der Name Yin Dayis in YANG: Die Nikolaus von Kues-Forschung in der Volksrepublik China, „Yi Datai“. Richtig ist Yin Dayi. YIN: Kusa de Nigula; ZHAO: Kusa de Nigula. Siehe YANG: Die Nikolaus von Kues-Forschung in der Volksrepublik China, S. 14, Anm. 3 und 6.
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überarbeiteten Fassung unter dem Titel Nicolaus Cusanus neu aufgelegt. Das Buch Gott, Universum und Mensch hat eine solitäre Stellung: Es ist in China bis zum heutigen Tage die einzige Monographie über den streitbaren Kirchenmann aus Kues an der Mosel geblieben. Zu erwähnen sind noch Arbeiten von Zhao Dunhua, der in seinem Buch 1500 Jahre christliche Philosophie (Jidujiao zhexue 1500 nian) aus dem Jahr 1994 Cusanus vor dem Hintergrund der aufkommenden vorklassischen deutschen Philosophie diskutiert, und von Tang Yi, der in Vernunft und Vorstellung: Das philosophische Denken im westlichen Mittelalter (Lixing und xinyi: Xifang zhongshiji zhexue sixiang) Nikolaus von Kues als letzten Scholastiker des Mittelalters bezeichnet. 3 Zu den Merkwürdigkeiten der Cusanusrezeption in China gehört, dass sich das Interesse an Cusanus gegenläufig zum wachsenden Interesse an und der Auseinandersetzung mit dem Christentum in China verhielt. Denn bis zum Jahr 1996, als die genannten Übersetzungen der Drei Schriften vom verborgenen Gott und Das Sehen Gottes erschienen, hatten Studien und Übersetzungen zum Christentum noch Seltenheitswert. In den späten 1990er Jahren stiegen sie sprunghaft an – zu Nicolaus Cusanus war aber dann aber nur mehr wenig zu hören. Einer der Übersetzer von De docta ignorantia, nämlich Yin Dayi, gehört zu den wenigen, die vor den 1990er Jahren zu Fragen des Christentums publizierten. 1987, also ein Jahr vor dem Erscheinungsdatum der Übersetzung von De docta ignorantia, erschien sein Buch Christliche Philosophie (Jidujiao zhexue). Als Merkwürdigkeit ist auch zu registrieren, dass Li Qiuling, mit dessen Person die Rezeptionsgeschichte der Schriften des Nicolaus Cusanus in China aufs engste verbunden ist, mittlerweile mit Studien zur sino-christlichen Theologie und der Übersetzung der Werke Kants befasst ist, aber nicht mehr mit dem Humanisten, der den Gelehrtennamen Nicolaus Treverensis (Nikolaus von Trier) oder Nicolaus de Cusa trug. An dem Werk Li Qiulings lässt sich beispielhaft nachvollziehen, wie in den späten 1980er Jahren das Interesse an dem universal gebildeten deutschen Philosophen, Theologen und Mathematiker Nicolaus Cusanus in China erwachte, vor der Jahrtausendwende aber auch wieder abebbte.
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Siehe YANG: Die Nikolaus von Kues-Forschung in der Volksrepublik China, S. 16, Anm. 10 und 11.
Philosophie und Religionswissenschaft in China
Li Qiuling lehrt heute an der People’s University, der Renmin daxue, in Beijing. Nach eigenen Angaben (Email vom 10. Januar 2010, gerichtet an den Verfasser) kam er mehr oder weniger zufällig mit dem Werk des Nicolaus Cusanus in Berührung. Als er, um Deutsch zu lernen, in den 1980er Jahren ein deutsches Taschenbuch mit dem Titel Deutsche Philosophen in 500 Jahren las, stieß er auf Nicolaus Cusanus. Nach eigenen Angaben beeindruckte ihn das Gelesene so sehr, dass er sich mit ihm vertieft auseinandersetzen wollte. Daraus entstand sein Dissertationsthema. Als einen der Gründe dafür, dass Nicolaus Cusanus in der chinesischen Geisteswelt der Gegenwart keine Rolle mehr spielt, nennt er unter anderem die mangelnde Vertrautheit der Chinesen mit der westlichen Philosophie. Einzelne Gedanken des Cusanus – Li Qiuling nennt „docta ignorantia” und „coincidentia oppositorum” – hätten zwar die chinesische Geisteswelt aufmerken lassen. Die Aufmerksamkeit sei aber nicht von Dauer gewesen. Auch er selbst habe später Cusanus nicht mehr gelesen.4 Nachfolgend werde ich das Umfeld skizzieren, in dem die Cusanusrezeption in China zunächst erfolgte und dann wieder abbrach. Dies geschieht in den zwei Bereichen, die hierfür relevant sind: dem der Philosophie und dem der Religionswissenschaft. Da das Christentum sowohl in religionswissenschaftlicher wie auch –politischer Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, werde ich unter dem Punkt „Religionswissenschaft in China“ zunächst auf die Geschichte des Christentums in China und dann erst auf die schwierige Entwicklung der Religionswissenschaft in China eingehen. Meine Ausführungen sind historischer Natur.
I. Philosophi e in China 5 Die chinesische Philosophie kann nicht, wie das meist getan wird, auf einzelne wenige Entwicklungslinien, die vom Altertum bis in die Moderne führen, reduziert werden. Sie ist nicht mit einem vordergründig klar 4 5
Email LI QIULINGS vom 10.Januar 2010, adressiert an den Verfasser. Nachfolgende Ausführungen basieren auf meinem Aufsatz „Chinesische Philosophie“: Überlegungen zu einem problematischen Begriff und dem Kapitel I.1 Philosophie in meinem Buch Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Siehe auch THORAVAL: Chinesische Philosophie?, S. 61-67.
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fassbaren Begriff wie demjenigen des „Chinesischen“ auf den Punkt zu bringen, da ihre praktische und theoretische Ausrichtung nicht ohne den Einfluss anderer nicht-chinesischer Traditionen zu denken sind. So wären zum Beispiel die Entwicklung der „chinesischen“ Philosophie und ihre Einteilung in Disziplinen nicht ohne den Einfluss der indischen Philosophie in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende und, weit später, der westlichen Philosophie im 20. Jahrhundert möglich gewesen. Hinzu kommt, dass in der chinesischen Tradition selbst eine Vielfalt von Ansätzen existiert, die über den Konfuzianismus und den Daoismus hinausführen, mit denen normalerweise das chinesische Denken charakterisiert wird. In der chinesischen Geistesgeschichte sind die Traditionslinien der skeptischen Argumentationskunst und der Kommentierung klassischer Texte ebenso wie auch magisch-rituelle Überlegungen anzutreffen. Um es mit den Worten Jacques Derridas zu sagen: Die chinesische Philosophie spricht nicht nur eine Sprache! Sie steht aber in Gefahr, aufgrund der Betonung ihrer Einsprachigkeit eine unselige Allianz mit ethnischen Chauvinismen einzugehen.6 Außerdem ist für die Begegnung des chinesischen Denkens mit der westlichen Philosophie ab dem Ende des 19. Jahrhunderts hervorzuheben, dass sie deren universaler Erklärungs- und Geltungsanspruch zu einer Selbstinterpretation zwang, die neue Formen des Selbstverständnisses hervorbrachte. Bedingt durch die Reform des Bildungswesens und die Einrichtung eines institutionell beförderten Wissenschaftsbetriebs wurde im Rahmen der Philosophie die Verwissenschaftlichung von Themenbereichen vorangetrieben, die zuvor unter anderem als Welterklärungen und Lebensregeln ihre Gültigkeit hatten. Auf diese Weise, durch die Verquickung von überlieferten Denkmustern und -inhalten mit einer sich zunehmend institutionalisierenden Form der Philosophie, kam es zu dem, was die Bezeichnung „chinesische Philosophie“ trägt. In der chinesischen Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde die eigene Geistesgeschichte neu strukturiert und gesichtet, womit die chinesische Geisteswelt gleichsam nachholend die These der Aufklärung widerlegte, dass die chinesische Kultur keine Geschichte besitze. Wie Heiner Roetz in seinem Aufsatz Gibt es eine chinesische Philosophie? darlegt, wurde China von den europäischen Aufklärern gerade deshalb philosophisch ernst genommen, „weil es in ihren Augen sozusagen 6
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DERRIDA: Die Einsprachigkeit des Anderen.
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keine Geschichte besaß und weil aus den bekanntgewordenen chinesischen, namentlich konfuzianischen Texten in Reinheit die „natürliche“, also von Zeit unverfälschte Vernunft sprechen sollte.“7 Dagegen gewannen die chinesischen Denker des 20. Jahrhunderts im Medium der Philosophie ein Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte, das aber, was zu bedenken ist, nicht unmittelbar, sondern mittelbar ist. Sie setzten mit der Methodik der Philosophie eine Klammer, mit der sie die Gegenwart mit der Vergangenheit verbanden. Nicht wenige unter ihnen zielten dabei auf eine Wesensbestimmung des „Chinesischen“ in der Zeit ab. Über die Disziplin der Philosophie erschlossen sich die chinesischen Denker im Laufe des 20. Jahrhunderts ganz neue Bereiche: Mit dem naturalistischen Bruch des 19. Jahrhunderts kamen die Anthropologie oder, im Bereich der praktischen Philosophie, revolutionäre Theorien sowie auch auf dem Feld der theoretischen Philosophie kritische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien in den Blick. In der institutionalisierten Form der Philosophie erschlossen sich die chinesischen Denker ganz neue Zugangsweisen zur eigenen Tradition, mit der sie, unter Zuhilfenahme des Begriffs des „Chinesischen“, auf eine mehr oder weniger distanzierte Weise umzugehen lernten. Später kam die Identitätsproblematik hinzu, das heißt das Bestreben, mit den Mitteln der Philosophie Aussagen über das Wesen der chinesischen Kultur und Gesellschaft treffen zu wollen. Geistesgeschichtlich lässt sich dieser Vorgang folgendermaßen darstellen: In einer Grenzsituation, die das Ende des Kaiserreichs für China darstellt, wurde von chinesischen Denkern die Aufgabe angegangen, sich des Wesens chinesischer Philosophie und sich damit der Grundlagen ihrer eigenen Kultur zu vergewissern. Sie eröffneten dadurch einen Prozess, in dem das Verstehen des Eigenen wie des Fremden zu einem Grundthema der chinesischen Philosophie wurde. Da dieser Prozess mit tiefgreifenden soziokulturellen Umbrüchen einherging, ließ er auf Seiten der beteiligten chinesischen Denker keine weltanschauliche Voraussetzungslosigkeit zu. Der chinesischen Geistesgeschichte lässt sich entnehmen, wie aufgrund der wachsenden Polarisierung der Standpunkte verschiedene Ansätze miteinander zu konkurrieren begannen. Unter anderem gerieten in den 1920er Jahren die Vertreter der Lebensphilosophie mit den Vertretern einer positivistischen, szientistischen Haltung 7
ROETZ: Gibt es eine chinesische Philosophie?, S. 20.
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aneinander, indem sie den vitalen Lebenszusammenhang als Wurzel der kulturellen und auch wissenschaftlichen Schöpfungen hervorkehrten. So wurde an der chinesischen Philosophie, zumindest zeitweise, beides problematisiert: das „Chinesische“ wie auch der Begriff der „Philosophie“ selbst. Das, was wir heute als „Philosophie in China“ oder „chinesische Philosophie“ bezeichnen, ist nicht losgelöst von der Geschichte Chinas zu denken. Was das 20. Jahrhundert anbelangt, kam bei genauerem Hinsehen in der Begegnung der chinesischen Geisteswelt mit der westlichen Philosophie ein Vorgang in Bewegung, der nicht nur westliche Formen und Inhalte des Denkens in den chinesischen Horizont einbrachte, sondern ebenso das „Chinesische“ auf eine neuartige Weise aktivierte. Dieses wurde nicht nur tradiert. Vielmehr wurde es zu einer Selbstinterpretation angeregt, die bis zum heutigen Tage andauert. Auf dem Feld der chinesischen Philosophie des 20. Jahrhunderts entfaltete sich ein Streben nach Erkenntnis und Wahrheit, das die Unterordnung des Denkens unter das Diktat des Konfuzianismus lockerte und es ebenso dem Daoismus entrückte. Dabei stellte sich auf Seiten der chinesischen Denker zum einen eine reflexive Distanz zu ihrer eigenen Tradition ein, zum anderen traten mehr und mehr die Brüche in Erscheinung, die in der chinesischen Geistesgeschichte bestehen. Diese sind Zeichen dafür, dass das chinesische Denken nicht nur ein „mechanisches Treibwerk der Sittenlehre“ (Herder) ist. Es ist Philosophie, wobei weder der Konfuzianismus noch der Daoismus eine restlose Aufklärung des chinesischen Denkens über sich selbst ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist die von Heiner Roetz im Titel seines Aufsatzes Gibt es eine chinesische Philosophie? gestellte Frage, mit „Ja“ zu beantworten. In der Geistesgeschichte Chinas kam es schon sehr früh, nämlich bereits zu der von Karl Jaspers so bezeichneten „Achsenzeit“, zu einer methodischen Verselbständigung des Denkens, die es ihm erlaubte, aus sich selbst wahrheitsfähig zu sein. Der chinesischen Philosophie geht ein Reflexionsprozess auf Methoden und Inhalte voraus, in dessen Verlauf die philosophische Zugangsweise zur Voraussetzung für zentrale Fragestellungen wurde, die das „Chinesische“ an der chinesischen Philosophie betreffen. Weil dieses, das „Chinesische“, aber in einem späteren erkenntnistheoretischen turn nicht mehr als
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philosophisch-methodisches, sondern als wesensmäßiges Faktum ausgelegt wurde, kam es dazu, dass der Begriff der „chinesischen Philosophie“ sich allmählich abzunutzen, zu verbrauchen begann. Es ist zu vergegenwärtigen, dass die Philosophie in der chinesischen Antike aus einer „tiefgreifenden politischen, sozialen und geistigen Krise der alten chinesischen Gesellschaft“ hervorgegangen war.8 Im 20. Jahrhundert kam ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte und Kultur hinzu, weshalb sie sich, was die eigene Geistesgeschichte betrifft, zu einer Form des Dialogs entwickelte. Dieser versuchte zum einen Ununterbrochenheit zu suggerieren, obgleich er eigentlich die Unterbrechung zu seinem Ausgangspunkt hatte. Zum anderen wurde aber auch, was ebenso nicht übersehen werden sollte, die chinesische Philosophie in das Amt einer Sachwalterin der Kritik eingesetzt. Da sie einer kulturellen Krise entsprungen war und tiefgreifende soziokulturelle Verwerfungen durchlaufen hatte, erwuchs ihr dabei in einzelnen Fällen die Wachsamkeit des Denkens, die schon die großen klassischen Philosophen Chinas auszeichnet. Es wäre angemessener, im Falle der chinesischen Philosophie allein von „Philosophie“ zu sprechen. Denn dem Attribut des „Chinesischen“ an der chinesischen Philosophie haftet die Versuchung an, sie fundamentalontologisch auszulegen, was zwar gängige Praxis ist, aber in die falsche Richtung führt. Statt von „chinesischer Philosophie“ sollte die Rede von der „Philosophie in China“ sein! Diese existiert als eine Disziplin, die sich in ihrer Geschichte zwar immer wieder den Machtworten der einen und einzigen Vernunft (ab den 1930er Jahren war dies die marxistisch-maoistische Gesellschaftslehre) beugte und dabei ihre eigene Autonomie gefährdete, aber auch ihr kritisches Potential auf die Vernunft selbst zurückwendete und dadurch das subtile Spiel der Macht durchkreuzte. Wie die westliche Philosophie, die im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Krise erdulden musste und auf dem Tableau der Wissenschaften an den Rand geriet, hatte auch das chinesische Denken immer wieder seinen „Kant“, der es als eine Philosophie der Kritik rehabilitierte. Daran lässt sich ersehen, dass die Philosophie, und zwar die „kritische“, eine Form des chinesischen Denkens ist. Der Begriff der „Philosophie in China“ steht für eine Form des chinesischen Denkens, die aus der Einheit mit der sie umgebenden Welt herausgetreten ist und sich der Kritik verschrieben hat. Daraus leitet sich ab, dass das 8
ROETZ: Gibt es eine chinesische Philosophie?, S. 24.
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„Chinesische“ an der chinesischen Philosophie nicht nur einfach kritiklos vorauszusetzen und mit dem Hinweis auf das traditionelle Denken in der Präqin-Zeit (vor 221 v.Chr.) oder dem Neokonfuzianismus der Song-Zeit (960-1279) zu erklären ist. Denn dabei wird der für die Betrachtung chinesischer Philosophie so wichtige Aspekt übersehen, dass sie in der Form, in der sie sich im 20. Jahrhundert präsentiert und ihre eigene Tradition neu sondiert, aus dem Zweifel entstand. Sie baut nicht auf eine ontologisch tief verwurzelte Form des Seins, die mit dem Begriff des „Chinesischen“ überzeitlich zu erfassen wäre. Ihr liegt keine Bestimmung durch ein Wesen zugrunde. Wie sich beim Blick auf die Geschichte der chinesischen Philosophie im 20. Jahrhundert deutlich zeigt, steht und fällt ihr Projekt mit der Frage, ob ihr mit den Ansprüchen, die durch die Begriffe der „Freiheit“ und der „Vernunft“ gesetzt sind, die Neubewertung des Erbes und die methodische Klärung von deren Grundbegriffen gelingt. Die Philosophie in China, die in einem bestimmten Verhältnis zur eigenen Geschichtlichkeit steht, vermag die Auffassung zu widerlegen, dass es eine chinesische Philosophie gibt, die aufgrund bestimmter ontologischer, kulturessentialistischer Wesenzüge gleichsam überzeitlich festgelegt ist. Im Gegenteil ist zu beobachten, dass sie auf der theoretischen wie auf der pragmatischen Ebene nach Erkenntnisgehalten sucht, die sich in der Zeitlichkeit bewähren müssen. Daraus leitet sich die Folgerung ab, dass es nicht allein Wesensfragen „des Westlichen“ oder „des Chinesischen“ sind, die für das Schicksal westlicher Philosophie in China förderlich bzw. hinderlich sind. Vielmehr verweist die Rezeptionsthematik auf die historische Situation, in der die Begegnung stattfindet. Was die Auseinandersetzung mit dem Denken des Nicolaus Cusanus in China anbelangt, so ist diese nicht ohne den eben skizzierten Selbstfindungsprozess der chinesischen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert zu denken. Nicht zu vergessen ist, dass dieser Prozess über weite Strecken hinweg im Schatten der Philosophie Hegels und Marx´ stattfand, die beide der Philosophie des Mittelalters und der Renaissance keinen hohen Stellenwert einräumen. Im Falle des Cusanus kommen noch folgende Faktoren hinzu: Nur wenige chinesische Philosophen verstehen Latein, so dass allein schon durch das Sprachproblem Barrieren gesetzt sind. Ein großes Hindernis stellt auch die Religionsproblematik dar: Das Christentum war und ist ein fremde Religion, der
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seitens der staatlichen Autoritäten und auch der um kulturelle Identität bemühten Gelehrten mit immerwährender Vorsicht begegnet wird.
II. Religionsw issenschaft in China Im Moment arbeitet Li Qiuling, der uns mittlerweile als Pioneer der chinesischen Cusanusforschung bekannt ist, an einer Übersetzung der Werke Kants. Als ein Fachmann für Studien zur sino-christlichen Theologie, der überdies die deutsche Sprache gut beherrscht, wurde er unter anderem vom Forschungszentrum Internationale und Interdisziplinäre Theologie an der Universität Heidelberg zu einer Tagungsreihe eingeladen, mit der die Entwicklung religionswissenschaftlicher und theologischer Forschungsprogramme in China kritisch begleitet und konstruktiv unterstützt werden soll. Auf der ersten Tagung vom 2.–5.3.2006, die dem Thema Philosophy and Sociology of Religion, Religious and Christian Studies gewidmet war, sprach Li zu Die christliche Religion im Rahmen der Religionswissenschaft und Religionsphilosophie der Volksrepublik China. Anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Institute of Sino-Christian Studies (abgekürzt: ISCS) in Hongkong nahm Li 2005 an der Tagung Ten Years of Sino-Christian Studies: Review and Reflection teil. In seinem Vortrag zog er eine Bilanz der Entwicklung der sinochristlichen Theologie in diesem Zeitraum und ging auf die Traditionen ein, die ihr zugrunde liegen. Die „chinesischsprachige Theologie“, was die sino-christliche Theologie ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist, stellt eine Alternative dar, um die Kontextualisierung des Christentums im Hinblick auf das Studium der Religion und der Theologie mit Hilfe von Human- und Sozialwissenschaften in China zu fördern. Ein Aufsatz mit dem Titel Historical reflections on `Sino-Christian theology´ findet sich im China Study Journal.9 1995 wurde das ISCS in Hongkong gegründet und 1996 erschien die Übersetzung der Drei Schriften vom verborgenen Gott als erste Veröffentlichung der Christian Academic Library of Christian Thought (CALCT), die vom ISCS herausgegeben wird. Der 100. Titel dieser Reihe ist übrigens The Children of Light and the Children of Darkness 9
Vgl. das Heft Spring/Summer (2007), S. 54-67.
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des US-amerikanischen Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftlers Reinhold Niebuhr (1892-1971). Daran ersieht man die unterschiedlichen Interessenslagen, die das akademische Interesse in China an Fragen der Christentumsforschung prägen. Die spezifische Interessenslage an christlicher Philosophie und Theologie ist neben den bereits erwähnten mangelnden Lateinkenntnissen und den religionspolitischen Sensibilitäten auf chinesischer Seite dafür verantwortlich zu machen, dass das Werk des Nicolaus Cusanus in der Diskussion um eine sino-christliche Philosophie und Theologie unberücksichtigt blieb. Obgleich sich Cusanus beispielhaft für den Dialog der Religionen eingesetzt und philosophische Aussagen für die Beantwortung theologischer Fragen nutzbar gemacht hat, fand er kaum Widerhall bei chinesischen Religionswissenschaftlern und -theoretikern, die durchwegs einen philosophischen Hintergrund haben. Und obgleich die chinesischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts nichts so sehr beschäftigte, wie das Thema der Kulturen in der Spannung zwischen Ost und West, blieb sein Gedanke der Koinzidenz (coincidentia oppositorum) weitest gehend ungehört. Aufgrund der aufklärerischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des marxistischen Religionsverständnisses ab der Mitte des 20. Jahrhunderts folgte die chinesische Religionswissenschaft eigenen Gesetzmäßigkeiten. Diese nahmen im Falle der „westlichen“ Religion des Christentums noch einmal ganz spezifische Züge an.
II.1 Geschichte des Christentums in China In China begann die Diskussion um die Chancen und Grenzen der Inkulturation zu dem Zeitpunkt, als mit der Konsolidierung der beiden ersten Kolonialimperien (Portugal, Spanien), die ab ca. 1500 entstanden waren, die machtpolitische und ökonomische Grundlage für eine globale Ausbreitung der Kirche gelegt worden war. Auch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schadete die enge Verbindung der christlichen Missionstätigkeit mit dem westlichen Kolonialismus dem Ansehen des Christentums in China sehr. Vor diesem Hintergrund hat der französische Theologe René Laurentin die Begegnung des Christentums mit China als eine Geschichte der „verpassten Gelegenheiten“ („occasions manquées“) bezeichnet.
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Nach China war das Christentum erstmals interessanterweise in einer häretischen Form gelangt. Die erste Begegnung beginnt im 7. Jahrhundert, zur Tang-Zeit (618-907), durch den Nestorianismus. Wir erinnern uns, dass durch das Konzil von Ephesus (431) Nestorius wegen seiner gottlosen Äußerungen und des Ungehorsams gegen die kirchliche Kanones als der neue Judas angesprochen, verurteilt und 435 zuerst nach Arabien, dann nach Lybien und zuletzt in die Wüste Oberägyptens verbannt worden war. Der damalige Kaiser Taizong erlaubte den nestorianischen Mönchen in Xi´an ein Kloster und eine Kirche zu bauen. Diese Form des Christentums bestand bis zum 10. Jahrhundert und verschwand fast spurlos mit dem Ende der Tang-Dynastie. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts, zur Yuan-Dynastie (1272-1368), fanden sich die Franziskaner im „Land der Mitte“ ein. Sie wollten mit den damaligen Mongolenherrschern für den Papst eine politische Pax Mongolica gegen den Islam herstellen. Nach dem Tod von Johannes von Montecorvino im Jahr 1328, der von Papst Clemens V. zum Erzbischof von Beijing („Kambalik“, wie es damals hieß) und Patriarchen des Fernen Ostens ernannt worden war, verschwand das Christentum wiederum fast spurlos. Als gerade das Tridentinum (1534-1563) zu Ende gegangen und die kirchliche Landschaft von der Gegenreformation geprägt war, begann mit der Ankunft der ersten Jesuitenmissionare Michaele Ruggieri und Matteo Ricci im Jahr 1583 die dritte Phase der Begegnung Chinas mit dem Christentum. Nach den Jesuiten kamen die Dominikaner (1631) und die Franziskaner (1633) nach China. Zwischen ihnen entzündete sich der Ritenstreit (ca. 1650-1750) an der Frage, inwieweit bestimmte chinesische Zeremonien, insbesondere die zur Ahnenverehrung, erlaubt seien. Die Geschichte des Christentums in China war bis zu diesem Zeitpunkt von einer hohen Komplexität gekennzeichnet. Die westlichen Missionare trafen eine Situation an, in der die diversen Schulen des Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus ein Klima des regen geistigen Austausches geschaffen hatten. Nicht zu vergessen sind die hohe Lebenskultur und die Wertschätzung der klassisch-literarischen Bildung, die in China an der Schwelle zur Neuzeit vorherrschten. Sie boten Ansatzpunkte im geistig-ideellen Bereich, die eine langsame Christianisierung der Gesellschaft als möglich erscheinen ließen. Man glaubte unter anderem, mittels der christlichen Mission die chinesische Kultur
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zu ihren authentischen Traditionen rückführen zu können. Vor diesem Hintergrund hatte das generelle päpstliche Verbot der Ahnenriten in China, das auf den Streit zwischen Dominikanern und Jesuiten folgte, eine enorm negative Auswirkung. Es wurde als Ausdruck der Geringschätzung, ja Beleidigung der chinesischen Kultur verstanden, was das Scheitern der Chinamission im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Folge hatte. Kaiser Kangxi (1662-1722) erließ 1717 ein generelles Verbot der christlichen Missionstätigkeit in China. Sein Sohn, der Kaiser Yongzheng (1723-1735) verfügte im Jahr 1724 dann die Ausweisung aller ausländischen Missionare aus China, soweit sie nicht als Wissenschaftler und Astronomen tätig waren.
II.2 Die schwierige Entwicklung der Religionswissenschaft in China Was die Begegnung des Christentums mit einer ihm fremden Kultur anbelangt, ist China kein Sonderfall. Denn die Kirche war in ihrer Geschichte immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert, ihren Glauben in die Horizonte einer neu zu erschließenden Kultur zu transformieren. Diese Aufgabe stellte sich schon bei der Verpflanzung des kirchlichen Wirkungsschwerpunktes von den jüdischen Wurzeln in die hellenistische Welt des östlichen Mittelmeerraums. Ein zweites Mal warf sie sich auf in der Völkerwanderungszeit und im Frühen Mittelalter anlässlich des Vordringens zu den „barbarischen“ Anrainervölkern dieser Zivilisation, zu den Kelten, Germanen und Slawen des nördlichen Europa. Ein drittes Mal war sie bei der Weltmission im Gefolge der neuzeitlichen Kolonialisierung zu lösen. Vor diesem Hintergrund legt die Geschichte des Christentums in China die Schlussfolgerung nahe, sie 1. als „Normalfall“ und 2. in ihrer Perspektivität auf die Zukunft zu sehen. Mit dem Begriff einer Zukunft, die offen und nicht verbaut durch die Vergangenheit ist, könnte der Akzent verschoben werden. Das Christentum wäre dann nicht mehr nur das Andere und das Fremde, als das es im Lichte der geschichtlich bedingten Problemdimension gesehen wird. Es wäre dann nicht mehr nur als Verweis auf eine vergangene und daher nicht mehr zu ändernde Vergangenheit zu verstehen, die entweder abzulehnen oder zu verteidigen ist. Sie wäre dann mit Blick auf eine denkbare Ankunft zu deuten, was angesichts der vielen Berüh-
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rungspunkte zwischen Christentum und China als eine wichtige Wende erscheint. Für den interkulturellen und –religiösen Dialog erwächst angesichts der „offenen” Zukunft eine neue Dimension. Insofern die Vergangenheit mit dieser in ein dynamisches, wechselvolles Verhältnis gesetzt wird, könnte dann auch wiederum christliche Philosophie und Theologie in ihrer ganzen Spannbreite in einen Dialog mit der chinesischen Geisteswelt treten. Die Stunde des Nicolaus Cusanus in China wäre dann wieder gekommen. Um die Situation der Religionswissenschaft im heutigen China besser verstehen zu können, müssen wir uns mit ihrer Entwicklung befassen.10 Im Blick zurück können wir feststellen, dass sich die Religionswissenschaft in China nicht reibungslos entwickelte, heute jedoch auf großes Interesse stößt. Die religionswissenschaftliche Forschung begann im Land der Mitte genau zu dem Zeitpunkt, als das Land sich für westliche Wissenschaften und Bildung öffnete. Die zwei Hauptinhalte der 4.-Mai-Bewegung des Jahres 1919 waren erstens die „Aufklärung“ durch den Import moderner Wissenschaft und Demokratie und zweitens „die Rettung der Nation aus der Unterjochung“ durch die westlichen Aggressoren. Die Bewegung für Neue Kultur des 4. Mai 1919 nahm die ideologische Perspektive des westlichen aufklärerischen Atheismus an und kritisierte die Religion mit den Waffen der Wissenschaft und der Demokratie. Die Kritik richtete sich gegen das westliche Christentum ebenso wie gegen die traditionelle chinesische Kultur, insbesondere den Konfuzianismus. Der Konfuzianismus wurde kritisiert, weil er den Prozess der chinesischen Modernisierung blockierte. Ein Grund für die Kritik am Christentum war, dass es sich bei ihr um eine westliche Religion, nicht um eine traditionelle chinesische Religion handelt. Im Mai 1922 schlugen die Führer der chinesischen protestantischen Kirche vor, eine chinesische „indigene Kirche“ aufzubauen. Das Konzept einer „indigenen oder chinesischen christlichen Kirche“ bedeutete, dass die Kirche (ohne die Einmischung der westlichen Kirche) ökonomisch und politisch unabhängig sein und im Hinblick auf die Kirchenarchitektur, Musik, Malerei usw. durch eine Verbindung mit traditionellen chinesischen Ritualen und Bräuchen inkulturiert werden sollte. Des Weiteren sollten einheimische Geistliche und Gläubige ausgebildet werden. Somit 10 Siehe auch ZHANG: Religionswissenschaften im heutigen China.
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begann in den 1920er Jahren für das Christentum ein Prozess, der unter anderem zu der Gründung der chinesischen Katholischen Patriotischen Vereinigung 1957 und der im folgenden Jahr erfolgten Weihe von Bischöfen ohne die Zustimmung des Papstes führte. Da die chinesische Religionswissenschaft durch die Religionspolitik der VR China geprägt wurde, hat sie eine ganz eigene Entwicklung genommen. Aufgrund der marxistischen Religionskritik musste die Religionswissenschaft in China die Prämisse des kirchlichen Glaubens ausschließen. Erst relativ spät, nämlich im Rahmen der Öffnungspolitik nach 1978 wurde diskutiert, ob die Position, dass „Religion Opium des Volkes“ sei, nach wie vor ihre Richtigkeit habe? Gleichzeitig wurde gefordert, „von den Tatsachen zu lernen“, wie eine der Parolen der späten 1970er Jahre lautete. Orientiert an den „Tatsachen“ sollte die Religionswissenschaft dem Diktum der „Wissenschaftlichkeit“ folgen. Sie hatte sich unter Verwendung der Methoden der Human- und Sozialwissenschaften, wie zum Beispiel der Archäologie, Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Linguistik, Mythologie und Philosophie, dem Phänomen der Religionen zu nähern. Was unter „Wissenschaftlichkeit“ genau verstanden wurde, lässt sich einer Aussage des ehemaligen Leiters des nationalen Büros für religiöse Angelegenheiten, Ren Jiyu, entnehmen. Er drückte sein Verständnis von Religion und Aberglauben mit folgenden Worten aus: „Alle Religionen sind Aberglauben. Aber nicht jeder Aberglaube ist Religion“.11 „Wissenschaftlich“ konnte im Falle der Religionen also nur die Methode, aber nicht der Gegenstand der Forschung sein. Das Christentum wurde während der 30 Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 von der Regierung strikt kontrolliert und neuen organisatorischen Strukturen unterworfen. Im Mittelpunkt der Reformbewegung, die 1951 begann, stand das Bekenntnis zum Patriotismus und des Kampfes gegen den Imperialismus. Nach den Verhaftungen und Ausweisungen der meisten ausländischen Missionskräfte richtete sich die Verfolgung seitens der kommunistischen Behörden auf die chinesischen Bischöfe, Priester und Ordensleute sowie die kirchlich engagierten Laien. 1963 sagte der Vorsitzende Mao, dass man die Weltgeschichte sowie die Geschichte der Lite11 Zitiert nach EVERS: Kirche und Katholizismus seit 1945, S. 105/6, Anm. 32.
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ratur und der Philosophie nicht authentisch schreiben könne, wenn man nicht die Theologie kritisiere. Daher wurde 1964 unter seiner Anweisung das Institut für Weltreligionen an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) gegründet und vor allem mit Dozenten der Philosophischen Fakultät der Beijing-Universität besetzt. Dieses von der Regierung gegründete Forschungsinstitut wurde nach der Kulturrevolution das größte Forschungszentrum für Religionswissenschaft in China, hatte gewissen Einfluss in religiösen, politischen und akademischen Kreisen und begünstigte die Wiederbelebung und die Entwicklung der Religionswissenschaft in China. Authentische religionswissenschaftliche Forschung begann jedoch erst nach der Reform- und Öffnungsperiode; es gibt sie erst seit circa 20 Jahren. Neben dem Artikel 36 der Verfassung aus dem Jahr 1982 wurde im „Dokument 19“, das im März 1982 vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas erlassen wurde, die Religionspolitik der VR China zu bestimmen versucht. Es wurden der Respekt und der Schutz der Freiheit des religiösen Bekenntnisses als zentrale Bestandteile einer Religionspolitik festgeschrieben, die bis zum „natürlichen Verschwinden der Religionen in einem sozialistischen Staat“ Geltung haben soll. Die Religionen sollen, so ist daraus zu folgern, unter strenger Kontrolle durch den Staat und seiner Organe für die Modernisierung und den weiteren Ausbau der sozialistischen Gesellschaft in China arbeiten. Mittlerweile haben sich die Bedingungen für die Religionswissenschaft in China verändert. Es gibt mehr als 500 professionelle Forscher in allen möglichen Religionsinstituten. Zu konstatieren ist, dass sich eine Religionsforschung chinesischer Prägung herausgebildet hat. Um sich entwickeln zu können, musste die Religionswissenschaft als erstes die Fesseln der offiziellen marxistischen Ideologie abwerfen. Dies geschah im Rahmen einer Debatte über den Marx’schen Grundsatz von der Religion als „Opium des Volkes“, die in den frühen 1980er Jahren einsetzte. In den Augen der Parteiideologen bestand zwar immer noch ein grundlegender Unterschied zwischen dem religiösen und dem marxistischen Bewusstsein. Doch sie räumten ein, dass es, geschichtlich bedingt, immer noch viele religiöse Phänomene gäbe, die nicht ausnahmslos mit reaktionärer Politik oder feindseliger Ideologie gleichzusetzen seien. In der Religionsbehörde setzte sich sogar die Auffassung durch, dass die Religion auch die Funktion habe, für eine stabile soziale
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Ordnung zu sorgen, sich für den Frieden in der Welt einzusetzen und die gesellschaftliche Moral aufrechtzuerhalten. In den späten 1980er Jahren gab es in China ein „Kulturfieber“, in dessen Verlauf die traditionelle chinesische Kultur wiederbelebt wurde und die westliche Kultur auf eine neue Weise in den Blick kam. Es war die zweite genuin chinesische Kulturbewegung nach der 4.-MaiBewegung von 1919, die, wie ihre Vorgängerin, für die religionswissenschaftliche Forschung ein neues Tätigkeitsfeld eröffnete. Religion wurde als die Grundsubstanz aller Kulturen der Welt und der Kern jeder vormodernen nationalen Kultur verstanden. Inspiriert durch das „Kulturfieber“ und die Vorstellung von Religion als Kultur übersetzten chinesische Akademiker in den späten 1980er Jahren mehr als 100 Bücher zu religionswissenschaftlichen Themen ins Chinesische. Übersetzt wurden sowohl Klassiker als auch Bücher einführender Natur. Ebenso wurden einige Werke über Religionssoziologie, -anthropologie, -philosophie, -psychologie, -geschichte und vergleichende Religionswissenschaft ins Chinesische übertragen. Die Kulturbewegung der 1980er Jahre veränderte das chinesische religionswissenschaftliche Ausbildungs- und Forschungssystem. 1982 führte die Philosophische Fakultät der Beijing-Universität den ersten Hauptstudiengang der Religionswissenschaft in China ein und bildete viele MasterStudenten und Doktoranden auf den Gebieten Buddhismus, Daoismus und Christentum aus. 1996 veranstaltete die Beijing-Universität eine internationale akademische Konferenz zur Religionsforschung und verkündete auf dieser Konferenz, dass sie die erste Religionsfakultät auf dem chinesischen Festland mit einem Dekan, der seinen Doktortitel an der katholischen Universität von Löwen erworben hat, errichten werde. Ganz allgemein ist festzustellen, dass in der heutigen chinesischen Religionswissenschaft nicht mehr die Fragen nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion oder nach der Beziehung von traditioneller chinesischer Kultur und westlicher Religion im Vordergrund stehen. Das Hauptinteresse gilt dem Vergleich zwischen den Religionen und dem interreligiösen Dialog, wobei die Begegnung zwischen Konfuzianismus und Christentum besondere Aufmerksamkeit genießt. Die Erforschung der christlichen Kultur war schon immer das Kernstück der Religionswissenschaft in China. Unter dem Einfluss des „Kulturfiebers“ in den späten 1980er Jahren schien es allerdings, als ob chinesische Wissenschaftler das
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Christentum primär als kulturhistorisches Phänomen sähen. In dieser Zeit fand dann auch die erste Begegnung mit Nicolaus Cusanus statt, wie wir bereits erfahren haben.
III. Zum Abschluss: Di e Modernität des Nicolaus Cusanus i n China. Überlegungen zur interkulturellen Philosophie In seinem Aufsatz Nikolaus von Kues und die chinesische Philosophie. Parallelen und Unterschiede aus dem Jahr 2004 gebraucht Karl-Heinz Pohl ein sehr schönes Bild. Die Ziele des Erkenntnisstrebens im Denken des Nicolaus Cusanus und des Daoismus bezeichnet er als den „Weg zu Gott/ Dao“ und vergleicht sie mit „einem Aufstieg zum Gipfel eines Berges“, „wobei man erst auf der Spitze angelangt sieht, dass sich andere auf anderen, vielleicht gegenüberliegenden Wegen den Aufstieg gebahnt haben.“12 Angesichts der Rezeptionsgeschichte der Werke des Denkers aus Kues in China möchte ich anfügen, dass tatsächlich noch eine weites Feld von Möglichkeiten vor uns liegt, auf dem wir die „Parallelen und Unterschiede“ zwischen Cusanus und chinesischen Denkern erkunden können. Die methodischen Voraussetzungen hierfür sehe ich in einer analogischen Hermeneutik gegeben, die das Abenteuer offenen philosophischen Denkens wagt und sich, im Versuch andere Denkwelten zu verstehen, diesen gegenüber öffnet. Ein solcher Dialog über die verschiedenen Denktraditionen hinweg wird ermöglicht durch die ohne Zweifel gegebenen Überlappungen zwischen den verschiedenen Denktraditionen, die sowohl in den methodischen Denkformen als auch in den inhaltlichen Problemstellungen aufgefunden werden können. Irreführend wäre es aber zugleich, bestehende Differenzen, wie zum Beispiel im Gottes- und dem Dao-Begriff, vorschnell zu übergehen. Wie meine Ausführungen zur Geschichte des Christentums und der Religionswissenschaft in China gezeigt haben dürften, ist das Ausräumen der Antagonismen nötig, die im Falle der Begegnung des Christentums mit China historischer Natur sind. Sie machen eine unaufgeregte inhaltliche Auseinandersetzung nach wie vor schwer. Ich bin der festen Überzeugung, dass in 12 POHL: Nikolaus von Kues und die chinesische Philosophie, S. 36.
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diesem Kontext Nähe erst dann entsteht, wenn die Standpunkte ganz sachlich an den Grenzen der Differenzen entlang, aber ohne ideologisch bedingte Scheingefechte geklärt werden. Diffuse Gleichsetzungen und Analogieschlüsse, so gut sie gemeint sein mögen, helfen nicht weiter. Im Falle von Themen mit religiösen Implikationen ist es auch nötig, für eigene Einsichten und Glaubensinhalte einzustehen. Denn der Dialog soll sich nicht im Niemandsland zwischen den Kulturen verlieren. Er soll zu einem ernsthaften Dialog werden.13 Die Grenzen der Aufnahme des Nicolaus Cusanus in China legen es uns auch nahe, ganz einfache Fakten wie die der unterschiedlichen Sprachtraditionen nicht zu übersehen. Denn bei der Rezeption seines Werkes hat die Tatsache der mangelnden Kenntnisse des Lateinischen eine entscheidende Rolle gespielt. Einem FAZ-Artikel vom 20.01.2010 ist zu entnehmen, dass ein führender chinesischer Intellektueller, nämlich der Kulturchrist Liu Xiaofeng, mehr Kurse für Latein fordert.14 Bis zum heutigen Tage seien Latein-Seminare an chinesischen Hochschulen eine Seltenheit. Zu den wenigen Ausnahmen zähle unter anderem die People´s University, die Renmin daxue, an der Li Qiuling, der Pioneer in der chinesischen Cusanusrezeption, lehrt. Jeder Kurs ziehe im Jahr etwa dreißig bis vierzig Studenten an. Was in dem mit „Die Konfuziuswelt ist nicht genug“ überschriebenen Artikel als Beweggrund für die „Antike-Studien“ genannt wird, ist auch für unser Thema „Nicolaus Cusanus und China“ von hoher Bedeutung. Es geht, so ist zu lesen, „um das Nachwirken jenes vom Westen verursachten Kulturschocks, den China im neunzehnten Jahrhundert erfahren hat. Die Frage ist also die gleiche geblieben, die die Intellektuellen schon damals umtrieb: Wie ist eine chinesische Moderne möglich?“ Die bestehenden und in diesem Aufsatz benannten Schwierigkeiten für die Cusanusrezeption in China stellen also keine Barrieren dar, die auf Ewigkeit angelegt wären. In der interkulturellen Philosophie geht es vielmehr um das uralte philosophische Problem einer dialektischen Vermittlung von Einheit und Vielheit. Diesmal jedoch nicht so sehr als theoretische Frage, sondern als praktische Aufgabe einer geschichtlichen Selbstbegegnung des Menschen durch die Vielfalt philosophischer Selbstdeutungen hindurch. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auf diesem 13 Zum Thema des interreligiösen Dialogs siehe GEIGER: „Ich“ und „Wir“, und GEIGER: Interkultureller Dialog – Ernster Dialog. 14 SIEMONS: Die Konfuziuswelt ist nicht genug.
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Philosophie und Religionswissenschaft in China
Wege die Differenzen zwischen den Beteiligten letztendlich nicht aufgehoben werden können. Differenzen wird es immer geben. Aber vielleicht hilft uns ja das Denken des Nicolaus Cusanus genau an dem Punkt weiter, an dem es uns darum geht, die chinesische Philosophie in ihrer Andersheit anzuerkennen, sie einzusehen, sie zu akzeptieren und auszuhalten. Letztes regulatives Ziel dieses Verständnisses der Denktraditionen in China ist es, dass sich die Beteiligten an diesem Verständnisprozess als Mitglieder einer Menschengemeinschaft begegnen und achten können, wie dies Kant als Weltbürgerrecht diskutiert. Es geht darum, eine Form des Philosophierens zu finden, die es zulässt, gemeinsam mit anderen in einen verstehend-verständigen Dialog einzutreten, um so im unabschließbaren Gespräch mit ihnen zusammen an der philosophischen Bestimmung unseres Menschseins in der Welt zu arbeiten.
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Nikolaus von Kues und die virtus verborum Anmerkungen zum scholastischen Kontext seiner Zeichenlehre UELI ZAHND Der performative Aspekt von Sprache, der Umstand, dass Sprache Realität nicht nur beschreiben, sondern im sprachlichen Vollzug überhaupt erst erschaffen kann, dieser Aspekt ist, seit sich ihm John Austin in den William-James-Lectures von 1955 gewidmet hat, zu einem anerkannten Thema der modernen Sprachphilosophie geworden.1 Sagt der Direktor nach längeren Verhandlungen, „ich schließe die Sitzung“, so ist dies formal gesehen bloß eine Feststellung, eine rein deskriptive Aussage – die aber etwas beschreibt, was sie gar nicht beschreiben könnte, wenn die Aussage nicht getätigt worden wäre. Auch wenn der Priester zum Kind auf seinem Arm sagt „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geists“, so beabsichtigt er, dass mit der Formel tatsächlich vollzogen wird, was sie beschreibt, dass die Worte efficiunt, quod figurant, wie eine alte scholastische Umschreibung lautet.2 1
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Austin’s William-James-Lectures wurden 1962 posthum unter dem Titel How to do Things with Words herausgegeben (deutsch 1972); die analytische Sprechakttheorie grundlegend weiterentwickelt hat Searle in seinen Speech Acts (1969). Für einen weiterführenden Überblick vgl. die Textsammlung von WIRTH (Hg.): Performanz. Die Formel wird in der Spätscholastik immer wieder als dictio communis im Rahmen der allgemeinen Sakramentenlehre angeführt, wie sie vor allem als Einstieg in die Kommentare zum vierten Buch der Sentenzen von Pet-
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Die Diskussion um den Performanzbegriff hat den engeren Rahmen der analytischen Philosophie inzwischen längst verlassen; Theaterwissenschaftler, Ritualforscher und Historiker haben sich seiner angenommen, um ihn überall dort als theoretisches Instrument anzusetzen, wo in der Beachtung des aktuellen Vollzugs, in der Inszenierung von Textlichkeit ein Mehrwert erwartet wird gegenüber einem eingeschränkten Fokus allein auf schriftliche Zeugnisse.3 Dieser Ansatz scheint in den Kulturwissenschaften so fruchtbar zu sein, dass inzwischen nicht mehr nur von einer kulturwissenschaftlichen Wende des Performanz-Begriffs, sondern von einer performativen Wende der Kulturwissenschaften gesprochen wird.4 Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass die performative Dimension von Sprache eine Entdeckung der letzten fünfzig Jahre gewesen ist. Wie schon das Beispiel mit dem Taufsakrament und dessen scholastische Umschreibung zeigen, war es mittelalterlichen Philosophen und Theologen nicht fremd darüber nachzudenken, dass Worten eine realitätswirkende Kraft innewohnen könne.5 Die schöpferische Kraft von Worten dürfte zudem eine Thematik sein, die insbesondere im Denken des Nikolaus von Kues von grundlegender Bedeutung gewesen ist. Dessen letzt-
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rus Lombardus betrieben wird (vgl. nur den Sentenzenkommentar des Pariser Albertisten LAMBERTUS DE MONTE, dessen erste quaestio zu Buch IV fragt, „utrum sacramenta nove legis efficiunt quod figurant, hoc est conferant gratiam quam significant, et hoc ratione operis operati“, Brügge, Stadtbibliothek 760, fol. 220r.) Im Lombard’schen Grundtext allerdings taucht die Formel nicht innerhalb der allgemeinen Sakramentenlehre auf, sondern einmal in Distinktion vier zur Taufe, wo sie fälschlicherweise auf Augustin zurückgeführt wird (PETRUS LOMBARDUS, Sententiae in IV libris distinctae IV, d. 4 c. 1 n. 2, S. 252), und einmal in Distinktion 22 zur Buße (ebd. d. 22 c. 2 n. 4, S. 389). Einen Überblick aus historischer Perspektive bieten MARTSCHUKAT /PATZOLD (Hgg.): Ritual; einen aus philosophischer Sicht bieten KERTSCHER/MERSCH (Hgg.): Performativität und Praxis. Zur kulturwissenschaftlichen Wende des Performanz-Begriffs vgl WIRTH (Hg.): Performanz, S. 183; zum performative turn der Kulturwissenschaften vgl. MARTSCHUKAT/PATZOLD (Hgg.): Eine Einführung, S. 3. Neben der Sakramentenlehre widmeten sich auch gewisse Strömungen in Grammatik und Logik Phänomenen des Performativen (vgl. ROSIER: La parole comme acte); zur Sprache kamen sie zudem im Hinblick auf die Magie (vgl. DELAURENTI: La puissance des mots). Eine übergeordnete Theorie, welche diese unterschiedlichen Richtungen vereinte, fehlte aber, vgl. DE LIBERA: Avant-Propos, S. 18f. und ROSIER-CATACH: La parole efficace, S. 478f.
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lich doch skeptizistischer6 Vorbehalt, dass es dem Menschen nicht möglich sei, eine praecisio veritatis zu erreichen, sondern dass sich die menschlichen Begriffe der Wahrheit bloß einschreiben könnten wie ein Vieleck einem Kreis, führt zu einer Differenz von sprachlicher Realität und Wirklichkeit, die einerseits alles Sprechen als je eigenen, mit der Wahrheit inkommensurablen Realitätsentwurf entlarvt.7 Andererseits liegt in dieser Differenz gerade das kreative Potential der Sprache, das den Menschen letztlich gottähnlich macht: Es ist der menschliche Geist, der in das unendliche Eine, das hinter allem steht, die Vielheit einschreibt und bemisst und damit den Menschen zum Maß aller Dinge macht.8 Insofern kann er als ,zweiter Gott‘ seine vis creativa entfalten, um sprachlich gestaltend auf die Realität einzuwirken und Begriffe auszubilden, die eben überhaupt erst hervorbringen, was sie bezeichnen.9 So hat sich denn auch kürzlich João Maria André im Rahmen der zwölften Trierer Cusanus Lecture dem Themenkomplex „Nikolaus von Kues und die Kraft des Wortes“ gewidmet.10 André untersucht ein großes 6
Womit Cusanus nicht schlechthin als Skeptiker bezeichnet werden soll, vgl. FLASCH: Nicolaus Cusanus, S. 68. Wenn HEROLD: Bild, Symbol und Analogie, S. 299f. allerdings behauptet, „grundlegend neu“ sei bei Cusanus „das Bewusstsein, dass kein fester Punkt zur Verfügung steht“ und dies an dessen Bild eines Betrachters festmacht, der auf einem Schiff stehend das vorbeiziehende Ufer betrachtet (De docta ign. II (h I p. 103 [n. 162])), so ist gerade dieses Bild traditionell mittelalterlich für die Auseinandersetzung mit Sinnestäuschungen, vgl. MCGRADE: Some Varieties of Skeptical Experience, S. 427. 7 Vgl. De docta ign. I (h I p. 9 [n. 10]) (hierzu P LATZER: symbolica venatio und scientia aenigmatica, S. 40f., vgl. S. 57–63) und übertragen auf Begriffe De mente (h 2V n. 58; hierzu BENZ: Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie, S. 104). Grundsätzlich zur Inkommensurabilität von Denken und Sein bei Cusanus vgl. BORSCHE: Was etwas ist, S. 185–193 8 Vgl. De mente (h 2V n. 93): „Sed quando unum singulariter et multiplicando intelligit, res plures esse diiudicamus binarium dicendo, quia mens unum et idem singulariter bis sive geminando intelligit.“ Zum Protagoras’schen homo mensura vgl. De beryllo (h 2XI/1 n. 6). 9 Zum Menschen als secundum deum vgl. De beryllo (h 2XI/1 n. 7); zur vis creativa vgl. Comp. (h XI/3 n. 23). Hierzu ausführlich BORMANN: Nikolaus von Kues, und FLASCH: Nicolaus Cusanus, S. 66-94. Ähnliche Stellen aus den Sermones bei KANDLER: Bilder und Gleichnisse, S. 14-16; vgl. zudem bereits HEROLD: Bild, Symbol und Analogie, S. 310-312. 10 ANDRÉ: Kraft des Wortes. Wie so oft in historischer Perspektive werden auch bei Cusanus performative Aspekte meist nicht unter dem Blickwinkel von dessen eigenen Theorie-Ansätzen betrachtet, sondern es werden unter
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Spektrum an Belegen, welche im Gesamt-Oeuvre des Cusanus die Thematik der vis oder virtus von Worten auch in einem weiteren Sinn ansprechen; er bettet dies ein in eine kurze Kontextualisierung der Wichtigkeit der Sprache bei Cusanus, zeichnet nach, wie Nikolaus die Kraft auch der menschlichen Worte im expressionistischen Begriff der Trinität und insbesondere im göttlichen Sohn als göttlichem Wort gegründet sieht, und er bespricht schließlich das für die vorliegende Thematik zentrale und von Nikolaus oft verwendete Bild vom Wort als Brot. So ausführlich diese Darstellung von André auch ist und so umfassend in ihr vor allem die unterschiedlichsten Belege berücksichtigt werden, sei es hier doch erlaubt, drei Punkte anzumerken: Erstens geht es André, wie er das selber offen deklariert, nicht um Sprachphilosophie, sondern um ein letztlich wohl eher ethisches Unternehmen, nämlich um die Frage nach der Überzeugungs- und Versöhnungskraft von Worten.11 Das ist auch gar nicht zu kritisieren; es zeigt aber eine Lücke auf, an der die Problematik noch weiter zu vertiefen ist. Zweitens beansprucht André zwar, eine Kontextualisierung der Thematik zu liefern, geht darin aber nur sehr punktuell auf einige schon fast klischeehaft umrissene Gemeinplätze zur Renaissance und zur Mystik ein und lässt einen so naheliegenden Kontext wie die Spätscholastik schlechthin außer Acht.12 Das nun führt drittens dazu, dass er eine ganze Reihe von Belegen zu überinterpretieren droht. Denn, um nur den offenkundigsten Punkt aufzugreifen, wenn Cusanus von der vis vocabuli – wörtlich von der ,Kraft‘ eines Wortes – spricht, so geht es ihm nicht um eine im tieferen Sinn verborgene Anwendung einer modernen Theorie performative Lesarten von Cusanus’ Texten erprobt, vgl. bereits STRUEVER: Metaphoric Morals, neuerdings vor allem MERTENS: Stimme und Schrift, oder HOFF: Philosophie als performative Praktik. 11 ANDRÉ: Kraft des Wortes, S. 6: „wenn wir diese Reflexionen mit dem Ausdruck ,Kraft des Wortes‘ bezeichnen, wollen wir die Aufmerksamkeit auf das lenken, was wir als spezifisch für das Denken des Autors erachten und nicht unbedingt auf eine eventuelle ,Philosophie der Sprache‘.“ Und S. 7: „wenn wir diesen Ausdruck als zentral und symptomatisch erachten, bezeichnen wir sogleich den praxisbezogenen und ethischen Horizont, in den sich unseres Erachtens das Problem der Sprache bei diesem Autor einfügt“. 12 Ebd. S. 7-9 nennt André als „fundamentale Züge“ einer „charakteristischen Bewegung des 15. Jahrhunderts“ erstens „die Tendenz zur Aufwertung der Sprache“, zweitens „das Streben nach einer neuen, eigenen und genauen Sprache“ und drittens „die Dialektik zwischen der Kraft und den Grenzen der Sprache“.
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Macht dieses Wortes, sondern – wie gleich zu sehen sein wird und wie das im spätmittelalterlichen Latein üblich war – um die sich aus der Etymologie eines Wortes herleitende Bedeutung desselben.13 Auf den nachstehenden Seiten sei daher folgendes unternommen: Der sprachphilosophische Aspekt der cusanischen Rede von der Macht der Worte sei aufgegriffen, indem in einem ersten Schritt Cusanus’ Verständnis von Sprache skizziert und in eine semiotische und eine theologische Richtungen vertieft wird, und indem es in einem zweiten Schritt in den Kontext spätmittelalterlich scholastischer Modelle von Sprache gesetzt wird. Der erste Teil geht hierzu auf die einschlägigen Kapitel aus De mente und aus dem Compendium sowie auf einige Predigten ein; der zweite Teil wird sich zum einen auf Kommentare zu den Summulae logicales des Petrus Hispanus, zum anderen auf einige sakramententheologische Texte beziehen. Damit dürfte sich in Ansätzen zeigen lassen, wo in der Frage nach der virtus verborum Anciennitäten und Modernitäten des Cusanus liegen, und was für Anregungen sich daraus allenfalls für die aktuelle Performanz-Diskussion ergeben könnten.
1 Nikolaus von Kues Um die sprachphilosophische Seite von Nikolaus’ Rede von der virtus verborum beleuchten zu können, ist zuerst noch einmal kurz zu umreißen, was sein grundlegendes Verständnis von Sprache ist. Als Ausgangstext dient hierzu sein Laiengespräch De mente, weil sich darin nicht nur die wesentlichen Punkte von Nikolaus’ Sprachverständnis vereint finden, sondern weil in diesem Dialog zugleich auch deutlich wird, in welche Richtung sein Verständnis der performativen Dimen13 So etwa auch ELPERT: Loqui est revelare, S. 149; anders dann allerdings ebd. S. 563. Konzeptuell geht die Rückbindung der vis (qua Bedeutung) eines Begriffs an dessen Etymologie schon auf Platons Kratylos zurück (vgl. BORSCHE: Was etwas ist, S. 40); für das lateinisch Mittelalter festgelegt hat den Gedanken aber ISIDOR VON SEVILLA: Origines I,19: „dum videris unde ortum est nomen, citius vim eius intellegis“. Anders etwa ANDRÉ: Kraft des Wortes, S. 24 zu De mente (h 2V n. 58) oder S. 28; vgl. auch HENNIGFELD: Verbum-Signum, S. 264. Ähnlich verhält es sich mit der virtus sermonis, die nicht als eine in der Rede liegende Kraft, sondern als die wörtliche Bedeutung einer Aussage in Abgrenzung von einer allfälligen metaphorischen zu verstehen ist, vgl. HOENEN: Virtus Sermonis and the Trinity, S. 158.
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sion der Sprache geht.14 Dies wird sich in zwei Richtungen vertiefen lassen: in eine semiotische, was anhand von Ausschnitten aus dem Compendium geschehen soll, und in eine theologische, wie sich an einigen Predigten zeigen lassen wird.
1.1 Zum grundlegenden Sprachverständnis: De mente Die kleine Schrift über den Geist ist das zweite der drei Laien-Gespräche, die Cusanus um 1450 verfasst hat, um eine alternative, durch eigenständiges Denken statt durch Bücherstudium erworbene Philosophie zu skizzieren. Entsprechend scholastik-kritisch ist die Schrift schon von ihrer Anlage her,15 und es wird nicht ganz ohne spöttischen Unterton gemeint sein, wenn Cusanus die erste Gesprächssituation zustande kommen lässt, indem ein Redner einen „Philosophen“ – den Scholastiker – mitten im Gewühl des römischen Jubeljahres ex faciei pallore, toga talari et ceteris cogitabundi viri gravitatem praesignantibus erkennt.16 Vom Redner angesprochen erklärt dieser Philosoph, dass er mehr über den Geist erfahren und sich hierzu in die Schriften weiser Männer knien möchte, die er in einem nahe gelegenen Tempel vermute. Der Redner allerdings weiß nichts von solchen Schriften und führt den Philosophen stattdessen zu einem Laien, der zu bewundern sei. Die drei kommen ins Gespräch. Ungeduldig fragt der Philosoph den Laien, ob er irgendeine Mutmaßung über den Geist habe; und es ist gleich zu Beginn der einsetzenden Ausführungen, dass der Laie auf das Verhältnis von Begriff und Sache zu sprechen kommt. Ausgangspunkt ist eine etymologische Bemerkung des Laien, dass der Begriff mens von mensurare stamme. Der Philosoph, dem diese – klassisch scholasti14 Zu einer umfassenden Darstellung des Sprachverständnisses von Cusanus vgl. vor allem ELPERT: Loqui est revelare; zur älteren Forschung vgl. auch STADLER: Rekonstruktion einer Theorie der Ungegenständlichkeit, S. 13f.; für das Sprachverständnis des frühen Cusanus vgl. RÍOS: Das Sprachproblem. 15 Mit STADLER: Rekonstruktion einer Theorie der Ungegenständlichkeit, S. 22. 16 De mente (h 2V n. 51); zur Identifikation des Philosophen als Scholastiker vgl. ELPERT: Loqui est revelare, S. 146. PLATZER: symbolica venatio und scientia aenigmatica, S. 77, ordnet den Philosophen zwar den Peripatetikern zu, setzt diese aber später (ebd. S. 88) mit der scholastischen Strömung des Nominalismus gleich.
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sche17 – Herleitung noch nie begegnet sein soll, er möchte Klärung hierzu. Der Laie setzt an: „Wenn die Bedeutung der Vokabel (vis vocabuli) sorgfältiger zu untersuchen ist, so glaube ich, dass jene Kraft, die in uns ist, die aller Dinge Urbilder begrifflich einfaltet und die ich Geist nenne, keineswegs im eigentlichen Sinne (proprie) benannt wird.“18
Cusanus beginnt ein Spiel: Wo es eben noch um den Geist ging, geht es nun um die Bedeutung des Begriffs Geist, um die vis vocabuli also eines Dings, dessen vis gerade darin besteht, begrifflich – notionaliter – einzufalten. Es wird insofern vollführt, nämlich begrifflich geklärt, was beschrieben wird, nämlich die begriffliche Einfaltung; Cusanus inszeniert, ja performiert damit die geistige Performanz. Notwendig scheint dieses verschachtelte Spiel zu sein, weil die Vokabeln die Dinge nicht in ihrem eigentlichen Sinne erfassen, und es erklärt dies der Laie folgendermaßen: „Denn wie der menschliche Verstand – die ratio – das Wesen der Werke Gottes nicht erreicht, so auch nicht die Vokabel. Denn die Vokabeln sind durch eine Bewegung des Verstandes eingesetzt (imposita). Wir benennen nämlich ein Ding aus einem bestimmten Grund mit der einen Vokabel und das gleiche aus einem andern mit einer anderen, und eine Sprache hat dem Wesen näherkommende, eine andere fremdere und entferntere Vokabeln. So sehe ich, da die Angemessenheit der Vokabeln dem Mehr und Minder unterliegt, dass man die genaue Vokabel – das vocabulum praecisum – nicht kennt.“19
17 Vgl. beispielsweise den prominenten Einstieg in die responsio zur zehnten quaestio von THOMAS VON AQUIN: De veritate, S. 191: „Nomen mentis a mensurando est sumptum.“ 18 De mente (h 2V n. 58): „Si de vi vocabuli diligentius scrutandum est, arbitror vim illam, quae in nobis est, omnium rerum exemplaria notionaliter complicantem, quam mentem appello, nequaquam proprie nominari.“ Vgl. hierzu MEINHARDT: Nikolaus von Kues, S. 186. 19 De mente (h 2V n. 58): „Quemadmodum enim ratio humana quiditatem operum dei non attingit, sic nec vocabulum. Sunt enim vocabula motu rationis imposita. Nominamus enim unam rem vocabulo uno et per certam rationem et eandem alio per aliam, et una lingua habet propriora, alia ma-
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Cusanus baut sein Sprachmodell vom Einsetzungsakt der Sprache her auf. Die ursprüngliche Einsetzung der Worte ist auf einer rationalen Ebene geschehen, auf welcher die Eigentlichkeiten der Dinge – so Cusanus’ skeptizistischer Vorbehalt – nicht erfasst werden; daher gibt es unterschiedliche Sprachen und daher gibt es keinen präzisen Begriff. Der Philosoph schreckt auf: Das Fehlen eines präzisen Begriffs hänge dann wohl damit zusammen, dass Begriffe ursprünglich nach Belieben – ad placitum – eingesetzt worden seien. Der Laie allerdings möchte genauer verstanden werden: „Denn wenn ich auch bekenne, dass jede Vokabel demjenigen selbst vereint ist, wodurch auch die Form zur Materie hinzukommt, und dass es sowohl wahr ist, dass die Form die Vokabel herbeiführt, so als ob die Vokabeln nicht von einem Einsetzungsakt her, sondern seit Ewigkeit seien, als auch der Einsetzungsakt ein freier ist, so glaube ich dennoch nicht, dass etwas anderes als ein passender Namen eingesetzt wird, wenn er auch nicht präzise ist.“20
Offensichtlich scheint es bei der ursprünglichen Einsetzung der Namen sowohl Beliebigkeit als auch eine innere, formale Verbundenheit zum Ding gegeben zu haben: In einem gewissen Sinne stimmt es also, dass die Worte ad placitum eingesetzt worden sind, dennoch ist diese Einsetzung nicht willkürlich geschehen. Und weil der Philosoph immer noch nicht versteht, führt der Laie sein berühmtes Löffelgleichnis an.21 Löffel nämlich sind nicht das Imitat irgendeines Urlöffels, dem sie nachgebildet wären, sondern es äußert sich die Löffelhaftigkeit – die coclearitas – in jedem einzelnen Löffel auf je spezifische Weise, ohne dass einer die Löffelhaftigkeit an sich repräsentieren würde. Und doch gis barbara et remotiora vocabula. Ita video, quod, cum proprietas vocabulorum recipiat magis et minus, vocabulum praecisum ignorari.“ 20 Ebd. (n. 59): „Nam etsi fatear omne vocabulum eo ipso unitum, quo forma materiae advenit, et verum sit formam adducere vocabulum, ut sic vocabula sint non ex impositione, sed ab aeterno, et impositio sit libera, tamen |non arbitror aliud quam congruum nomen imponi, licet illud non sit praecisum.“ Zur vorliegenden Übersetzung vgl. APEL: Die Idee der Sprache, S. 209. 21 Vgl. BENZ: Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie, S. 104-107; PLATZER: symbolica venatio und scientia aenigmatica, S. 87-89; HENNIGFELD: Verbum-Signum, S. 265f.
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benennen wir ein Stück Holz, wenn es denn entsprechend geschnitzt worden ist, nunmehr als ,Löffel‘, oder als ,cuillère‘, oder als ,X2‘, also mit einem beliebigen Namen, der dennoch von der Form, welche dem Holzstück angeschnitzt worden ist, abhängt. So ist eine Name, „obgleich nach Belieben eingesetzt, dennoch nicht ein anderer und völlig verschieden von dem natürlichen, mit der Form vereinten Namen; vielmehr strahlt die natürliche Vokabel nach dem Hinzukommen der Form in allen verschiedenen, durch beliebige Völker verschieden eingesetzten Namen wider. Der Einsetzungsakt der Vokabel geschieht folglich durch eine Bewegung des Verstandes. Denn die Bewegung des Verstandes bezieht sich auf die Dinge, die unter die Sinne fallen, deren Unterscheidung, Übereinstimmung und Verschiedenheit der Verstand bewirkt, so dass nichts im Verstand ist, was nicht zuvor im Sinn war. So also setzt der Verstand die Vokabeln ein und wird bewegt, dem einen Ding diesen Namen und dem andern einen anderen zu geben.“22
Der an Schriften nicht interessierte Laie zitiert hier nicht nur den aristotelischen Gemeinplatz nihil in intellectu quod non fuit in sensu,23 sondern er führt im Anschluss plötzlich doch ganz philosophiehistorisch aus, dass es zwei Denkweisen gebe – die aristotelische und die platonische –, deren eine auch auf Vernunft-Ebene an der Differenz von Ding und Begriff festhalten müsse, weil sie keine Urbilder annehme, während die andere davon ausgehe, dass diese Urbilder der Dinge existierten und dass es insofern „in der Vernunfteinsicht des Geistes etwas gibt,
22 De mente (h 2V n. 64): „Sic etsi ad beneplacitum, tamen non aliud et penitus diversum a naturali nomine formae unito; sed vocabulum naturale post |formae adventum in omnibus variis nominibus per quascumque nationes varie impositis relucet. Impositio igitur vocabuli fit motu rationis. Nam motus rationis est circa res, quae sub sensu cadunt, quarum discretionem, concordantiam et differentiam ratio facit, ut nihil sit in ratione, quod prius non fuit in sensu. Sic igitur vocabula imponit et movetur ratio ad dandum hoc nomen uni et aliud alteri rei.“ 23 Gewöhnlich wird dieser Satz auf ARISTOTELES’ De anima zurückgeführt, wo er inhaltlich zwar hinpasst, wörtlich aber nicht zu finden ist. Im Wortlaut am nächsten kommt ihm ARISTOTELES’ De senu et sensato (445 b 14f.) Vgl. hierzu auch BORSCHE: Was etwas ist, S. 219.
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das nicht im Sinn und nicht im Verstand gewesen ist“. 24 Diese zwei Denkweisen nun ließen sich aber vereinen, wenn sich nur der Geist zur Unendlichkeit erhebe – quando mens se ad infinitatem elevat.25 Denn da es nur eine unendliche Form geben könne, könne es zwar – das ist gegen die Platoniker – nicht eine Vielzahl an Urbildern geben, alles sei aber auf das eine unendliche und unaussprechliche Urbild bezogen, so dass sehr wohl – gegen die Aristoteliker – in jedem Begriff einen Bezug zu dieser Urform gebe. „Nur ein unaussprechliches Wort gibt es also, das der genaue Name aller Dinge ist [...]. Dieser unaussprechliche Name strahlt freilich in allen Namen auf seine Weise wider, denn er ist die unendliche Benennbarkeit aller Namen und die unendliche Verstimmlichung alles mit der Stimme Ausdrückbaren, so dass jeder Name ein Abbild des präzisen Namens ist. Und nichts anderes haben alle zu sagen versucht [...]. Alle stimmen nämlich notwendig darin überein, dass es eine unendliche Kraft gibt – eine virtus infinita, die wir Gott nennen, in der notwendig alles eingefaltet ist.“26
Cusanus präsentiert uns damit ein Bild von Sprache, das die sprachlichen Zeichen durchaus für willkürlich hält,27 sie aber zugleich durch ihren Einsetzungsakt formal bezogen sieht auf ein Urbild, aus dessen unendlicher Kraft die Sprachzeichen schöpfen. Im Hinblick auf die vorliegende Thematik lohnt es sich, dieses Bild in zwei Richtungen zu verdeutlichen: zum einen in Richtung dieses formalen Bezugs zwischen 24 De mente (h 2V n. 65): „In mentis intelligentia aliquid esse admittunt, quod non fuit in sensu nec in ratione.“ 25 Ebd. (n. 67). 26 Ebd. (n. 68): „Unum est igitur verbum ineffabile, quod est praecisum nomen omnium rerum, ut motu rationis sub vocabulo cadunt. Quod quidem ineffabile nomen in omnibus nominibus suo modo relucet, quia infinita nominabilitas omnium nominum et infinita vocabilitas omnium voce expressibilium, ut sic omne nomen sit imago praecisi nominis. Et nihil aliud omnes conati sunt dicere, licet forte id, quod dixerunt, melius et clarius dici posset. Omnes enim necessario concordarunt unam esse infinitam virtutem, quam deum dicimus, in qua necessario omnia complicantur.“ 27 Insofern steht Cusanus sicherlich nicht für eine Natursprache ein – entsprechend dürfte auch das vocabulum naturale der Kapitelüberschrift von De mente 2 (h 2V n. 58) nicht mit dem vocabulum praecisum gleichzusetzen sein (vgl. die Diskussion und umgekehrte Schlussfolgerung bei E LPERT: Loqui est revelare, S. 156-158).
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Wort und Ding, wozu einige Ausschnitte aus Cusanus’ Zeichentheorie anzuführen sind, wie er sie in seinem Compendium darlegt; zum anderen in Richtung dieser unendlichen, in den Sprachzeichen eingefalten Kraft, wozu auf ein paar Stellen aus den Sermones eingegangen sei.
1.2 Nikolaus’ Zeichentheorie: Das Compendium Das Compendium, eine der letzten Schriften des Nikolaus, ist fast vollständig auf eine Theorie der Zeichen ausgerichtet.28 Gleich im einleitenden Abschnitt erklärt Cusanus grundlegend: „Es lässt sich nicht verleugnen, dass ein Ding zuerst seiner Natur nach ist, bevor es erkennbar ist. Daher erreichen weder die Sinne, noch das Vorstellungsvermögen, noch die Vernunft den Seinsmodus (modus essendi), geht der doch all dem voraus. Alles vielmehr, was in irgendeinem Modus des Erkennens (modus cognoscendi) erreicht wird, bezeichnet nur – significat tantum – jenen Seinsmodus. Und daher sind es nicht die Dinge selbst, sondern Ähnlichkeiten, Abbilder (species) oder Zeichen von ihnen“, die erkannt werden.29
Erneut zieht Cusanus die Grenze zwischen Erkenntnismodus und Seinsmodus deutlich und stellt die nicht überbrückbare Lücke zwischen Seiendem und Erkanntem fest. Ein Ding kann nur insofern zur Kenntnis kommen, als es im Zeichen erfasst wird, und so erhält das Wissen um Zeichen eine zentrale Bedeutung.30 28 Vgl. MEINHARDT: Nikolaus von Kues, S. 190f., SCHRAMM: Zur Lehre vom Zeichen, und STADLER: Rekonstruktion einer Theorie der Ungegenständlichkeit, S. 37. 29 Comp. (h XI/3 n. 1): „Deinde negari nequit, quin prius natura res sit quam sit cognoscibilis. Igitur essendi modum neque sensus neque imaginatio neque intellectus attingit, cum haec omnia praecedat. Sed omnia, quae attinguntur quocumque cognoscendi modo, illum priorem essendi modum tantum significant. Et hinc non sunt ipsa res, sed similitudines, species aut signa eius. Igitur de essendi modo non est scientia, licet modum talem esse certissime videatur.“ Vgl. CRANZ: Nicholas of Cusa and the Renaissance, S. 54. 30 Comp. (h XI/3 n. 3): „Res igitur, ut cadit in notitia, in signis deprehenditur. Oportet igitur, ut varios cognoscendi modos in variis signis quaeras.“ Vgl. ebd. das Ende von n. 4.
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Als Einstieg in diese cognitio signorum bestimmt Nikolaus alle Zeichen als sinnliche Zeichen und unterteilt sie in natürlich bezeichnende und in solche, die nur bezeichnen, weil sie hierfür eingesetzt worden sind – so Wörter, Schriftzeichen und ähnliches. Dabei zeichnet es die natürlichen Zeichen aus, dass sie nicht gelernt werden müssen. Lachen als Zeichen der Freude oder Seufzen und Weinen als Zeichen der Trauer sind von Natur aus verständlich, ebenso auch Farbeindrücke als Farbeindrücke oder Klänge als Klänge: Es muss nicht zuerst gelernt werden, dass ein Geräusch ein Geräusch ist. Anders die eingesetzten Zeichen: Da sie nach Belieben – ad placitum – eingesetzt worden sind, werden sie „denen, welche die Einsetzung nicht kennen, nur durch Kunst oder Belehrung bekannt.“31 Drei Punkte seien hier zur besonderen Charakterisierung von Nikolaus’ Zeichenverständnis hervorgehoben: Dass Cusanus erstens mit den Beispielen der Farben und der Klänge schon bloße Sinneseindrücke unter den Begriff des Zeichens subsumiert, egal ob sie über ihren sensitiven Gehalt hinaus bedeutungstragend sind oder nicht, zeigt, wie umfassend sein Zeichenverständnis sein. Alles, was den modus cognoscendi betrifft – also auch similitudines und species –, ist für Cusanus immer schon Zeichen, weil alles, was sich den Sinnen präsentiert, zumindest für sich selbst steht und damit zumindest sich selbst repräsentiert.32 Diese Selbstreferenzialität der Zeichen bricht als zugrunde liegendes Verständnis etwa auch dort durch, wo er mit den Vorstellungsund den Vernunftzeichen über die sinnlichen Zeichen hinaus weitere
31 Ebd. (n. 5): „Signa omnia sensibilia sunt et aut naturaliter res designant aut ex instituto. Naturaliter, uti signa, per quae in sensu designatur obiectum. Ex instituto vero, uti vocabula et scripturae et omnia, quae aut auditu aut visu capiuntur et res, prout institutum est, designant. Naturalia signa naturaliter nota sunt sine omni alio doctore, sicut signum designans colorem omnibus videntibus notum est et designans vocem omnibus audientibus – ita de aliis sensibus – et vox laetitiae, ut risus, et tristitiae, uti gemitus cum fletu, et talia. Alia vero signa, quae ad designandum ad placitum sunt instituta, quibus institutio non est nota, non innotescunt nisi arte aut doctrina. Et quoniam necesse est signa omnia, per quae tradi debet notitia, nota esse magistro et discipulo, erit prima doctrina circa talium signorum notitiam.“ 32 Vgl. auch ebd. (h XI/3 n. 8): „Oportet inter sensibile obiectum et sensum esse medium, per quod obiectum speciem seu signum sui multiplicare possit“; dazu BORMANN: Zur Frage nach der Seinserkenntnis, S. 184 mit Anm. 23.
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Klassen von Zeichen einführt und diese jeweils als Zeichen der Zeichen der weniger abstrakten Klasse bestimmt.33 Bemerkenswert ist zweitens, wie Cusanus in seine Zeichenkonzeption auch die Schriftzeichen mit einbezieht. Im dritten Kapitel des Compendiums wird Cusanus ausführen, dass schon der Urvater Adam nicht nur als Einsetzer der Ursprache prägend für alle weiteren Sprachen gewesen sei,34 sondern dass er wegen ihrer Nützlichkeit auch die Schriftkunst bereits beherrscht habe cum illa humano generi multa conferat adiumenta.35 Diese ,Hilfsmittel‘ nun sieht Cusanus in einer ganz bestimmten hierarchischen Ordnung mit Naturding, Vokabel und Intellekt: Zwischen Natur und Intellekt nämlich lägen Wort und Schrift, wobei das Schriftzeichen, weil abstrakter, näher beim Intellekt liege als das Wort: „Wie also eine erste Wissenschaft die Dinge, welche mit den Ohren wahrgenommen werden, mit Wörtern bezeichnet, so gibt es eine zweite, Wissenschaft für die sichtbaren Zeichen der Worte, welche sich den Augen darbieten. Und diese ist weiter von der Natur entfernt […] und hat mehr von der Vernunft als die erste. Zwischen Natur und Vernunft, welche Schöpferin der Künste ist, liegen also diese Künste, deren erste näher bei der Natur, deren zweite näher bei der Vernunft ist.“36
Weil nun die Schriftzeichen auch Zeichen sind, handelt es sich dabei nicht nur um eine logische, sondern auch um eine semiotische Hierarchisierung, was noch deutlicher an den Zeichen der ,ersten Kunst‘ oder ,Wissenschaft‘ des eben zitierten Ausschnitts wird: Die Vorstellungszei33 Zu den Vorstellungszeichen vgl. unten, Anm. 37; zu den Vernunftzeichen Comp. (h XI/3 n. 18); zur Verortung dieser Zeichengattungen vgl. SCHWAETZER: Natur und Kunst, S. 268. 34 Comp. (h XI/3 n. 6); vgl. Stadler: Rekonstruktion einer Theorie der Ungegenständlichkeit, S. 41, und nun vor allem ELPERT: Loqui est revelare, S. 478-480. 35 Comp. (h XI/3 n. 7). 36 Ebd.: „Unde sicut prima scientia est designandi res in vocabulis, quae aure percipiuntur, ita est secunda scientia in vocabulorum visibilibus signis, quae oculis obiciuntur. Et haec remotior est a natura, quam tardius pueri assequuntur et non nisi intellectus in ipsis vigere incipiat. Plus igitur habet de intellectu quam prima. Inter naturam igitur et intellectum, qui est creator artium, hae artes cadunt, quarum prima propinquior naturae, secunda propinquior intellectui.“ Vgl. hierzu ELPERT: Loqui est revelare, S. 482f. und THIEL: De apice literaturae, S. 147.
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chen bezeichnet Cusanus nämlich im Anschluss – und unter erneutem Rückgriff auf den bereits in De mente angetroffenen aristotelischen Gemeinplatz – explizit als designationes signorum und signa signorum.37 Als letzter Punkt sei schließlich hervorgehoben, wie sehr Cusanus sein Zeichenverständnis in den Kontext von Lehren und Lernen stellt. Das wird nicht nur aus der oben paraphrasierten Zeicheneinteilung, sondern auch im weiteren Verlauf des Compendium deutlich. Nach den semiotischen Ausführungen der einleitenden Kapitel kommt Cusanus auf eher erkenntnistheoretische Fragen zu sprechen, um auszuführen, wie das Zeichen eines Worts zuerst als Zeichen eines Klangs – eines sonus – vernommen, dann als artikulierter Klang – als vox – wahrgenommen, dann als Zeichen einer bestimmten Sprache und schließlich als Zeichen eines spezifischen Wortes, als signum specialis verbi verstanden wird.38 Und er meint zu diesem Prozess der Zeichen-Erkenntnis: „Der Mensch als Mensch verhält sich zum Tier, wie ein belehrter Mensch zu einem unbelehrten. Der belehrte nämlich sieht die Buchstaben des Alphabets und ebenso der unbelehrte. Jedoch bildet der belehrte durch verschiedenartige Zusammenstellung der Buchstaben Silben und aus Silben Wörter und aus diesen Sätze. Das kann der unbelehrte nicht, weil ihm die Kunst fehlt, die sich der belehrte durch Schulung seiner Vernunft erworben hat. Die natürlichen Abbilder zusammenzusetzen und zu trennen und aus ihnen intellektuale und artifizielle Abbilder und begriffliche Zeichen zu machen, das vermag der Mensch durch die Kraft seiner Vernunft – ex vi intellectuali.“39 37 Comp. (h XI/3 n. 9): „In istis igitur signorum designationibus in interiori phantastica virtute manent res designatae, uti vocabula manent in charta scripta prolatione cessante; quae remanentia memoria potest appellari. Sunt igitur signa rerum in phantastica signa signorum in sensibus. Nihil enim est in phantastica, quod prius non fuit in sensu.“ Vgl. SCHRAMM: Zur Lehre vom Zeichen, S. 618. 38 Comp. (h XI/3 n. 11): „Signum verbi est prius signum soni, dum vox a remotis auditur; deinde dum propinquius auditur, fit signum soni articulati, quod vox dicitur; post adhuc propinquius fit signum vocis alicuius linguae; ultimo fit signum specialis verbi.“ 39 Ebd. (n. 18): „Habet se enim homo ut homo ad brutum ut doctus homo ad indoctum. Doctus enim litteras alphabeti videt et similiter indoctus; sed doctus ex varia illarum combinatione syllabas atque ex syllabis dictiones et de illis orationes componit, quod indoctus facere nequit ob defectum artis, quae ab exercitato intellectu acquisita docto inest. Componere igitur et di-
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Damit aber sind wir erneut bei jener schöpferischen Kraft angelangt, die es dem Menschen ermöglicht, Zeichen und Künste auszubilden und diese auch von Lehrer zu Schüler weiterzugeben. Die paar semitoischen Charakteristika, die hier hervorgehoben worden sind, unterstreichen das Sprachverständnis von De mente und verdeutlichen zum einen, dass die Sprachzeichen in einer sowohl logischen als auch semiotischen Ordnung einen spezifischen Platz innehaben. Zum anderen sieht sie Cusanus eingebettet in seinen umfassenden Zeichenbegriff, der auch bloßen species, reinen Geräuschen und Sinneseindrücken, die auf nichts über sich hinaus verweisen, Zeichencharakter zuspricht. Genauer zu prüfen bleibt, worin die Kraft von Sprachzeichen und anderen Zeichen gegründet ist, überhaupt etwas zu bezeichnen. Hierzu ist nun noch kurz auf einige Predigtausschnitte einzugehen.
1.3 Die sakramentale Dimension: Zwei Sermones Betrachtet man Cusanus’ Sprachverständnis nicht von seiner semiotischen, sondern von seiner pragmatischen Seite her, so ist es sinnvoll, sich seinen Predigten zuzuwenden, nicht nur, weil Cusanus hier die Anwendung von Sprache selber exemplifizert,40 sondern weil hier, wie das André zurecht bemerkt hat, eine Metapher besonders oft zur Anwendung kommt, die die Wirkmächtigkeit von Sprache umschreibt: die Rede nämlich vom Wort als Brot. Anlass hierzu findet Nikolaus bei so offensichtlichen Predigttexten wie der Versuchung Jesu in der Wüste, wo das berühmte Diktum fällt, es lebe der Mensch nicht vom Brot allein;41 Anlass hierzu findet er auch in der Auslegung der ersten Vaterunser-Bitte „unser täglich Brot gib uns heute“;42 aber er greift die Metapher auch sonst gerne auf, wo es ums Sprechen, um Sprache geht.43
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videre species naturales et ex illis facere intellectuales et artificiales species et signa notionalia homo ex vi intellectuali habet, qua bruta excellit et doctus homo indoctum, quia habet exercitatum et reformatum intellectum.“ Vgl. MERTENS: Stimme und Schrift, S. 10. Vgl. etwa Sermo CXLVI (Reliquit eum diabolus, h XVIII/2 n. 10), und Sermo CLXXIV (Non in solo pane vivit homo, h XVIII/3). So zum Beispiel in Sermo XXIV (Jhesus in eyner allerdemutichster menscheit, h XVI/4 n. 25-28); vgl. KANDLER: Cibus mentis, S. 192f. Vgl. etwa Sermo XLI (Confide, filia, h XVII/2 n. 1-3) (dazu LENTZENDEIS: ,Prediger sind wie Bäcker‘) oder Sermo CCVII (Unde ememus panes, ut manducent hii, h XIX/1 n. 6).
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Die Belege sind so reichhaltig und überdies von Rudolf Haubst bereits vor über vierzig Jahren aufbereitet worden,44 dass es hier genügen soll, exemplarisch vor allem auf eine Predigt einzugehen, nämlich auf Sermo CLII. Gehalten wurde sie am 7. April 1454 in Brixen über Johannes 8:51: „Wahrlich ich sage euch, wenn jemand mein Wort bewahren wird, wird er den Tod in Ewigkeit nicht sehen.“45 Vom Bewahren der Worte über das Hören von Worten kommt Cusanus schnell einmal auf die Rede zu sprechen, und er fügt hierzu an: „Ich halte es für bemerkenswert, wie sehr Rede Brot des Lebens ist. Denn wie er an anderer Stell sagt: ,Wenn einer von diesem Brot essen wird, so wird er in Ewigkeit nicht sterben‘.46 Das Brot des Lebens Essen heißt daher, das Wort bewahren. Denn so, wie im sichtbaren Brot eine unsichtbare Speise unter einem sichtbaren Bild ist, so ist unter der hörbaren Rede ein die Seele speisendes Wort, wie auch unter der Rede des Lehrers ein Wort ist, das die Seele mit Weisheit erleuchtet.“47
Es ist eine nährende, eine aufbauende, eine belehrende Kraft, die Worten zukommen kann; und es seien zwei Punkte an diesem Bild besonders hervorgehoben: Erstens die Parallele zwischen der Rede Jesu, die bei Zitatbeginn noch gemeint ist, zur allgemeinen menschlichen und im speziellen zur Rede des Lehrers, eine Parallele also zwischen dem Wort des göttlichen Logos und dessen menschlichem Abbild. Die Kraft menschlicher Rede gründet ganz offensichtlich in diesem göttlichen
44 HAUBST: Streifzüge, S. 552-572. 45 Vgl. KANDLER: Cibus mentis, S. 193f., sowie LENTZEN-DEIS: ,Prediger sind wie Bäcker‘, S. 107. 46 Joh 6:51. 47 Sermo CLII (h XVIII/2 n. 7): „Notandum censeo, quo modo sermo est ,panis vitae‘. Nam ut alibi dicit, ,si quis manducaverit ex hoc pane‘, ,non morietur in aeternum‘. ,Manducare‘ igitur ,panem vitae‘ est ,servare verbum‘. Unde, sicut in pane visibili est cibatio invisibilis sub visibili specie, sic sub sermone audibili est verbum cibans animam, sicut sub sermone magistri est verbum illuminans animam sapientia. Unde adhuc verbum magistri non est ipsa sapientia, sed est lumen lucis sapientiae. Unici autem atque maximi magistri Jesu sermo secum defert lucem animam illuminantem non lumen lucis, sed lucem ipsam. Et in hoc est differentia inter sermonem unici atque maximi magistri et aliorum, qui non nisi participatione magistri.“
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Logos; aus ihm schöpft sie, damit etwa ein bildender Vermittlungsprozess vom Lehrer zum Schüler stattfinden kann. Zweitens wird deutlich, wie stark sakramental Cusanus diese Rede vom Wort als Brot versteht.48 Schon die unsichtbare Speise im sichtbaren Bild darf als Reminiszenz an die eucharistische Wandlung verstanden werden, was Cusanus wenig später auch explizit ausführt: „Bemerke auch, wie sehr die Rede des Wortes Gottes eine Speise gegen den Tod ist, und das Sakrament der Eucharistie ist deren Sakrament. Denn sie ist fühlbares Brot der Erscheinung nach, im Glauben aber Speise der Seele. Denn das Wort des Priesters überträgt das fühlbare Brot in Fleisch, das dem Wort des Lebens verbunden ist. So überträgt die Rede Christi, wenn sie in der Seele empfangen und bewahrt wird, die Kreatur in die Vereinigung mit dem Wort des Lebens. Das also, was der Priester am Altar durch das Sakrament macht, das macht der Prediger mit der Wahrheit.“49
Die Verschränkung von Rede und Sakrament ist grundlegend: So wie beim Aussprechen der Konsekrationsformel das Brot gewandelt wird, so vermag der Prediger die Gläubigen zu verwandeln – und so verwandelt der Lehrer mit seiner Rede auch den Schüler. Die Sprache selbst erhält damit eine sakramentale Dimension. Wie die wandelnde Kraft allerdings im einzelnen wirken soll, führt Cusanus in der vorliegenden Predigt nicht weiter aus. Ohnehin hat er sich kaum einmal theoretisch zu seinem Sakramentenverständnis geäußert.50 In einer späteren Predigt verdeutlicht er immerhin, wie er sich die sakramentale Vermittlung der Gnade, wie er sich die sakramentale Wirksamkeit vorstellt:
48 Vgl. auch sein Bild der Prediger als Bäcker, dazu LENTZEN-DEIS: ,Prediger sind wie Bäcker‘, und jetzt auch KANDLER: Bilder und Gleichnisse, S. 13. 49 Sermo CLII (h XVIII/2 n. 9): „Et nota, quo modo cibus contra mortem est sermo Verbi Dei, et sacramentum eucharistiae est sacramentum huius. Nam est panis sensibilis in apparentia, sed fide cibus animae. Verbum enim sacerdotis per fidem transfert sensibilem panem in carnem unitam Verbo vitae. Sic sermo Christi si recipitur in anima et servatus fuerit, transfert creaturam in unionem Verbi vitae. Id igitur, quod agit sacerdos in altari per modum sacramenti, facit evangelizans in veritate.“ 50 Vgl. CASARELLA: Sacraments, S. 348, und KANDLER: Cibus mentis, S. 198.
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„Die Kunst vermag ohne Zuhilfe der Natur nichts, so wie der Schmied kein Messer ohne Eisen machen kann, das von der Natur hergestellt wird. Die Natur aber vermag nichts ohne Zuhilfe Gottes, der die Materie erschaffen hat […]. Ebenso vermag der Papst nichts ohne Sakramente und die Sakramente nichts ohne Gott. […] Christus gießt die Gnade ohne Instrumente ein, was niemand anderes vermag. [...] Wir sehen bei den natürlichen Dingen, dass ein Instrument die Form nicht anbringt, sondern zur Form veranlagt (disponit ad formam). Die Form aber wird durch den Handelnden angebracht. So bringen die Priester die Sakramente der Kirche nicht an, sondern wirken instrumental.“51
Diese instrumentale Wirksamkeit der Sakramente kann nun ihrerseits zu verdeutlichen helfen, wie die Wirksamkeit von Sprache bei Cusanus zu verstehen ist: Denn auch als Zeichen sind Worte ja Träger von etwas anderem, bereits im Hinblick auf die Schriftzeichen war vorhin von adiumenta, von Hilfsmitteln die Rede.52 So also, wie die Sakramente Instrumente der Gnadenvermittlung sind, so sind auch Schriftzeichen und Worte instrumentale Hilfsmittel zur Vermittlung jener wirkenden Kraft, auf die sie durch die einfaltende Ausfaltung des Geistes verweisen.
2 Der spätmittelalterliche Kontext In einem zweiten Teil sei nun versucht, diese knapp skizzierten Elemente des Sprach- und Zeichenverständnisses von Cusanus in ihren zeitgenössischen Kontext einzubetten, um die Thematik des vorliegenden Sammelbandes aufzugreifen und der übergeordneten Frage nach 51 Sermo CLXXIX (h XVIII/4 n. 8): „Ars enim sine adiutorio naturae nihil potest, sicut faber non potest facere cultellum sine ferro, quod a natura producitur. Nec natura aliquid potest sine adiutorio Dei, qui creavit materiam et praebet operandi efficaciam. Sic Papa nihil potest sine sacramentis et sacramenta nihil sine Deo. Deus autem potest sine omnibus aliis […]. Pontifex noster Christus infundit gratiam sine instrumentis, quod nemo alius potest. Nam infundere gratiam est creare. Sed creare nullo sanctorum communicari potest propter defectum recipientis. Videmus in naturalibus quod instrumentum non inducit formam, sed disponit ad formam. Forma autem inducitur ab agente. Sic ministri sacramenta ecclesiae non inducunt, sed instrumentaliter operantur.“ 52 Ebenso in Sermo CCLIV, vgl. THIEL: De apice literaturae, S. 157f.; allgemeiner zum Instrumenten-Begriff auch DERS.: Scientia signorum, S. 112.
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Anciennitäten und Modernitäten in Cusanus nachgehen zu können. Zur Kontextualisierung von Cusanus’ Sprach- und Zeichenverständnis sei hierzu auf einen Basistext des scholastischen Schulbetriebs im 15. Jahrhundert zurückgegriffen; ein nicht weniger basaler Text der spätscholastischen Theologie wird zur Einordnung der sakramentalen Dimension von Cusanus’ Sprachverständnis dienen.
2.1 Kommentare zu Petrus Hispanus Im spätscholastischen Auseinandersetzung mit Sprache bilden die Summulae logicales des Petrus Hispanus einen der grundlegendsten Texte. Petrus Hispanus hatte diese Traktatsammlung in der Mitte des 13. Jahrhunderts als Zusammenfassung der Logik des Aristoteles verfasst, und es wurde bald einmal und bis ins 16. Jahrhundert hinein üblich, sie als Ausgangstext in den Einführungsveranstaltungen des ArtesStudiums zu kommentieren, so dass sie bei Scholastikern jeglicher Richtung bekannt waren.53 Bereits im dritten Kapitel des ersten, einführenden Traktats kommt Petrus von Klängen – sonus – über stimmhafte Laute – voces – auf nomina und verba zu sprechen, und er bringt in diesem Zusammenhang eine bereits bekannte Unterteilung: „Unter den Lauten sind einige bedeutungstragend, einige nicht. [...] Von den bedeutungstragenden Lauten tragen einige nach Belieben, andere von Natur aus eine Bedeutung. Der von Natur aus bedeutungstragende Laut ist jener, der bei allen das gleiche darstellt, so wie das Stöhnen der Kranken oder das Gebell eines Hundes. Der nach Belieben bedeutungstragende Laut aber ist jener, der nach dem Willen dessen, der ihn eingesetzt hat, etwas darstellt, wie ,Mensch‘.“54 53 So im Hinblick auf Cusanus bereits auch PLATZECK: Randbemerkungen, S. 39; zu Petrus Hispanus vgl. SPRUYT: Peter of Spain; die Summulae selbst sind kritisch ediert und liegen in einer deutschen Übersetzung vor. Die Kommentarliteratur allerdings ist nur sehr punktuell erforscht; im Hinblick auf die vorliegende Thematik vgl. vor allem MEIER-OESER: Die Spur des Zeichens, S. 114-170. 54 PETRUS HISPANUS: Summulae I.3, S. 1f.: „Vocum alia significativa, alia non-significativa. [...] Vocum significativarum alia significativa ad placitum, alia naturaliter. Vox significativa naturaliter est illa que apud
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Die Übereinstimmungen mit Cusanus’ Sprachverständnis sind augenfällig: Nicht nur steht der oben paraphrasierte Ausschnitt aus dem Compendium mit seiner Rede von sonus, voces und verba in erstaunlicher terminologischer Nähe zu Petrus Hispanus, 55 sondern es entspricht bis in die verwendeten Beispiele hinein auch Cusanus’ Einteilung der Zeichen und seine Subsumierung der Sprachzeichen unter die nach Belieben eingesetzten damaligem scholastischem Grundlagenwissen. 56 Für sich genommen muss dies noch nicht viel heißen, da sich die Unterscheidung von natürlichen und eingesetzten Zeichen bis zu Plato zurückverfolgen lässt57 und sich die Summulae ja ohnehin bloß als Zusammenfassung von Aristoteles verstehen, so dass vieles bereits auch beim Stagiriten zu finden ist.58 Bedeutsamer werden die Parallelen, wenn einige Kommentare zu den Summulae logicales aus der Mitte des 15. Jahrhunderts beigezogen und die Nuancen beachtet werden, welche hier zwischen den unterschiedlichen Auslegetraditionen auftreten. Denn war der Grundtext des Petrus Hispanus auch in allen Schulrichtungen anerkannt, so ergaben sich zwischen den Hauptströmungen seiner
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omnes idem representat, ut gemitus infirmorum, latratus canum. Vox significativa ad placitum est illa que ad voluntatem instituentis aliquid representat, ut ,homo‘.“ Vgl. oben, S. 116 und Anm. 38; es ist dies mehr als eine bloß terminologische Übereinstimmung, da Cusanus, indem auch er bloße Geräusche bereits als soni bezeichnet, sich in die klassisch scholastische Überstrapazierung des aristotelischen ȥóijȠȢ einreiht, vgl. hierzu ECO: The Limits of Interpretation, S. 114 (das Kapitel „Interpreting Animals“, worauf hier verwiesen wird, fehlt in der italienischen Ausgabe, an der sich auch die deutsche orientiert). Vgl. oben, S. 114 und Anm. 31; bereits VAN VELTHOVEN: Gottesschau und menschliche Kreativität, S. 205, verweist auf Cusanus’ „herkömmliche Einteilung der Zeichen“, welche „das ganze Mittelalter hindurch“ bekannt gewesen sei. So in der als physei-thesei-Streit bekannt gewordenen Problematik des Kratylos, vgl. BORSCHE: Was etwas ist, S. 46, und die Differenzierungen bei COSERIU: Der ijȪıİȚ-șȑıİȚ-Streit, S. 121f. Zur Unterscheidung von beliebigem und eingesetztem Zeichen vgl. etwa ARISTOTELES: Peri hermeneias 16a26-29; das Beispiel der stöhnenden Kranken hat allerdings erst Boethius in die lateinische Tradition eingebracht, vgl. ECO: The Limits of Interpretation, S. 114-116.
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Kommentartradition doch einige klare Differenzen, die unterschiedliche Modelle von Sprache zu Tage treten ließen.59 Eine erste solche Differenz lässt sich an der näheren Bestimmung des nicht bedeutungstragenden Lauts aufweisen und an der Frage, ob dieser dennoch selbst als Zeichen aufzufassen sei. Während dies in scotistischen und nominalistischen Kommentaren zu Petrus Hispanus bestritten wird,60 gesteht es beispielsweise Johannes Versor, ein in Köln gelesener Thomist, in seiner Auslegung zu: „Ein nicht bedeutungstragender Laut ist einer, der dem Gehör nichts darstellt, was verstanden wird, weil er außer sich selbst nichts im Modus des Zeichens darstellt. Zwar stellt er sich im Modus des Zeichens sehr wohl selbst dar, nicht aber im Modus des Dings; so wie ,bu ba‘: diese Laute stellen nichts dar.“61
Versor vertritt damit einen ebenso umfassenden Zeichenbegriff wie auch Cusanus, für den alles, was den modus cognoscendi betrifft, immer schon Zeichen ist, so dass auch er annimmt, dass Zeichen Zeichen ihrer selbst sein können.62 Eine weitere Differenz betrifft, im Hinblick nun auf die bedeutungstragenden Laute, die Hierarchie zwischen Ding, Konzept, Wortzeichen und Schriftzeichen. Dass diese Hierarchie erkenntnistheoretisch besteht, bleibt in der Kommentartradition zu Petrus Hispanus unbestritten; streitbar ist hingegen, ob damit auch eine semiotische Hierarchie impliziert sei. Während die Scotisten auch dies ablehnen und Worte und
59 Zu den Schulrichtungen und ihrer Eingrenzbarkeit vgl. HOENEN: ,Ista prius inaudita‘, S. 376 mit weiterer Literatur. 60 Vgl. etwa PETRUS TARTARETUS: Expositio in Summulas Petri Hispani I, fol. 3va: „Ad hoc, quod vox sit significativa requiritur quod significet aliquid aliud a se; quia si non, tunc omnis vox esset significativa cum omnis vox significet se.“ 61 JOHANNES VERSOR: Super septem tractatus Petri Hispani I, [fol. a7r]: „Vox non significativa est quae auditui nihil representat quod intelligitur, quia nihil representat praeter seipsam per modum signi. Licet bene representat seipsam per modum signi, non tamen bene representat seipsam per modum rei; sicut ,bu ba‘, quae voces nihil representant.“ Zur Selbstreferenz von Zeichen vgl. MEIER-OESER: Die Spur des Zeichens, S. 178 und ASHWORTH: The Doctrine of Signs, S. 27. 62 Vgl. oben, S. 11514.
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Schriftzeichen für Zeichen direkt von einer Sache halten, 63 lassen sich erneut etwa im Umfeld der Kölner via antiqua Befürworter einer semiotischen Hierarchie finden,64 so wie ja auch Cusanus nicht nur Schriftzeichen, sondern vor allem Vorstellungs- und Vernunftzeichen für signa signorum hält.65 Die wohl spannendste Differenz im Sprachverständnis der Spätscholastiker zeigt sich aber im Hinblick auf die Einsetzung der beliebigen Zeichen, wo Cusanus ja diesen vermittelnden Weg zwischen Beliebigkeit und genuinem Bezug des Zeichens zum bezeichneten Ding zu gehen versucht. Auch hier schlagen die Scotisten einen anderen Weg ein, für sie ist die ursprüngliche Einsetzung eines Wortes kein abschließender Akt, mit dem die Bedeutung festgelegt worden wäre, sondern es ist der tägliche Gebrauch der Sprechenden, der die Bedeutung eines Wortes aufrecht erhält. Entsprechend reden sie nicht nur vom signum ad placitum, sondern vom signum voluntarium.66 Schon aus
63 Vgl. NICOLAS D’ORBEILLES: Summulae philosophiae rationalis, [fol. a6rb]: „Quod autem vox sit proprie signum rei et non intellectionis probatur: Quia alioquin quelibet affirmative esset falsa in qua predicatur idem de seipso, quia intellectio vel intentio subiecti non est intentio predicati, licet res sit res“; vgl. MEIER-OESER: Die Spur des Zeichens, S. 164f. 64 Die Übertragung der erkenntnistheoretischen Ordnung auf eine semiotische verdeutlichen etwa die dem Thomisten Lambertus de Monte zugeschriebenen Copulata omnium tractatuum Petri Hispani I, fol. 18r, oder JOHANNES VERSOR: Super septem tractatus I, [fol. a7v]: „Ista quattuor – scilicet res, conceptus rei, voces et scriptura – sic se habent per ordinem quia conceptus significat res a quibus causatur in anima, et voces immediate significant conceptus, et scripture significant voces quae sunt signa tantum nec ulterius signatur per aliud.“ Vgl. ASHWORTH: Traditional Logic, S. 159 mit Anm. 104; sehr allgemein verweist in diesem Zusammenhang auch schon VAN VELTHOVEN: Gottesschau und menschliche Kreativität, S. 201 auf eine Parallele zu Thomas von Aquin. 65 Vgl. oben, S. 116 und Anm. 37. Dass Cusanus auch auf der Vernunftebene von Zeichen spricht und damit „die überlieferte und durchaus bedeutsame Unterscheidung zwischen Bild und Zeichen“ nivelliert (BORSCHE: Was etwas ist, S. 214), ist insofern nichts Neues, wie Borsche behauptet (vgl. auch ebd., S. 215), sondern typisch für das spätmittelalterliche Zeichenverständnis, wie es sich insbesondere durch Ockhams Einfluss ausgebildet hat, vgl. MEIER-OESER: Die Spur des Zeichens, S. 77-86. 66 Vgl. PETRUS TARTARETUS: Expositio, fol. 3va: „Significare ad placitum est ex impositione vel usu voluntario repraesentare suum significatum.“ Noch fast deutlicher wird dies aus den Gegenargumenten der Thomisten, vgl.
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diesem Wortgebrauch zeigt sich, dass Cusanus erneut der anderen Tradition zuzuordnen ist,67 was noch deutlicher wird, wenn beachtet wird, wer für die Einsetzung von Sprachzeichen überhaupt in Frage kommt. In einem Kommentar, der ebenfalls aus dem Umfeld der Kölner via antiqua des 15. Jahrhunderts stammt, findet sich im Rahmen der Diskussion um die eingesetzten Zeichen nicht nur erneut jener aristotelische Gemeinplatz über die Priorität der Sinneseindrücke vor der Vernunfterkenntnis,68 sondern es wird hier vor allem auch die besondere Autorität der ersten Sprachsetzer herausgestrichen: Ein von Natur aus bedeutungstragender Laut ist aus einem natürlichen Instinkt heraus auf das Bedeuten hingeordnet. Die anderen aber sind zum Bedeuten eingesetzt durch den Willen dessen, der sie zuerst einsetzt und der die Autorität besitzt, Worte einzusetzen, wie das bei den Patriarchen, Propheten und übrigen Ersten der Fall gewesen ist, welchen Autorität gegeben worden ist.69
Wie Cusanus im Urvater Adam den entscheidenden Spracheinsetzer gesehen hat, haben auch in diesem Kommentar nur die patriarche, prophete et ceteri principes die hierzu notwendige Autorität besessen – eine Einschränkung, die in Kommentaren der via moderna nicht auftaucht, so wie sie ohnehin dem ursprünglichen Einsetzungsakt keine allzu groß Bedeutung zumessen.70
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LAMBERTUS DE MONTE: Copulata I, fol. 17r: „Vox est significativa ad placitum et non ad voluntatem.“ So betont etwa auch BENZ: Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie, S. 107, dass Cusanus „die für die menschliche Verständigung unabdingbare Sprachverfasstheit vor der Willkür einer beliebigen Namengebung bewahrt.“ Zum aristotelischen Gemeinplatz vgl. LAMBERTUS DE MONTE: Copulata I, fol. 16r; zu dessen Verwendung bei Cusanus vgl. oben, Anm. 22 und Anm. 37. Zur Zuschreibung der Copulata an Lambertus vgl. ASHWORTH: Changes in Logic, S. 80. LAMBERTUS DE MONTE: Copulata I, fol. 17r: „Vox significativa naturaliter ordinatur ad significandum ex instinctu nature. Sed alia imponitur ad significandum a voluntate primi instituentis et habentis autoritatem imponentis vocis, sicut fuerunt patriarche, prophete et ceteri principes quibus est data autoritas.“ Vgl. BENZ: Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie, S. 114: „Dass Cusanus den Akt der Namengebung in dem in Gottes Nähe stehenden Ur-
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Interessant ist, dass im Kölner Kommentar diese Autorität den ersten Spracheinsetzern gegeben worden sein soll. Die Macht der Spracheinsetzung wird damit auf die göttliche Macht der Autoritätsverleihung zurückgeführt, womit letztlich auch hier die ganze Macht der Sprache an die göttliche virtus angebunden wird. Dies ist typisch für Kommentare dieser Richtung; die Verbindung von Sprachkraft und autorisiertem Einsetzungsakt findet sich denn etwa auch in Versors Kommentar: „Die vox significativa umfasst zweierlei: Das erste ist ein Materiales, und es ist die vox selbst. Das zweite ist ein Formales, und es ist die Kraft zu bezeichnen und sein Signifikat tatsächlich darstellen zu können. Diese Kraft kommt ihm zu aus der Einsetzung und Zuordnung zum Bezeichnen. Denn dadurch, dass sie eingesetzt wird, um etwas zu bezeichnen, und ihr Zeichen auch hervorbringt, empfängt sie die Kraft, dieses Bezeichnete formal darzustellen. Und diese Kraft [...] wird dem Laut selbst [...] durch die Einsetzung des ersten Einsetzers gegeben.“71
Obwohl Versor nicht so weit geht wie Cusanus und die Kraft der Worte an die virtus infinita anbindet, die in jedem Ding eingefaltet sei, ist das Sprachkonzept, das dahinter steckt, doch ein vergleichbares. Anders als die Vertreter der via moderna, die von einem eingeschränkten, aber menschen und dessen rationes verankert, zeigt, wie wenig Gemeinsamkeit sein Sprachverständnis mit einer nominalistischen Theorie hat“ (kursiv im Original). 71 JOHANNES VERSOR: Super septem tractatus Petri Hispani I, [fol. a6v]: „Vox significativa duo includit. Primum est materiale quod est ipsa vox. Secundum est formale quod est ipsa virtus significandi et representandi actualiter suum significatum. Que virtus sibi convenit per institutionem et ordinationem ad significandum. Per hoc enim quod ipsa imponitur ad aliquid singificandum et efficitur signum eius accipit virtutem representandi formaliter illud significatum. Et hoc virtus quandoque vocatur significatio habitualis, quia habetur ab ipsa voce tanquam forma a materia; et quandoque ratio significandi quia est ratio et causa propter quam vox est significativa. Et datur ipsi voci quandoque per impositionem primi imponentis qui ordinat vocem ad unum significatum et non aliud; quandoque pervenit per ordinationem quae fit ab instinctu nature qui inclinat animalia ad formandum voces suas effectus representantes. Ex quo patet quod ad vocem significativam primo requiritur quod habeat significatum eius cuius ipsa est signum. Secundo requiritur quod habeat ordinationem ad talem significatum vel secundum placitum imponentis vel secundum instinctum nature.“
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arbiträren Zeichenbegriff ausgehen, hat Cusanus ebenso wie die hier besprochenen Vertreter der Kölner via antiqua einen umfassenden Zeichenbegriff, und beide sehen die Zeichenkraft – sei es direkt, sei es vermittelt über den ersten Einsetzer – an die göttliche virtus angebunden. Diese Verbindung wird zudem, wie das letzte Zitat auch unterstreicht, als eine formale gesehen.72 Cusanus’ Zeichenlehre stimmt damit an entscheidenden Punkten mit einer ganz bestimmten Strömung im spätmittelalterlichen Sprachverständnis überein, eine Verwandtschaft mit dieser Strömung legt sich daher nahe.73
2.2 Spätscholastische Sakramentenlehre Zu prüfen bleibt, inwiefern sich auch Cusanus’ Verständnis einer sakramentalen Wirksamkeit in den spätmittelalterlichen Kontext einordnen lässt. Wenn hierzu nun noch auf einige theologische Schriften einzugehen ist – nämlich auf Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus –, so ist von Vornherein gleich festzuhalten, wie sehr auch die spätscholastische Sakramentenlehre mit zeichentheoretischen Fragen verwoben gewesen ist und stets im weiteren Kontext von Lehren und Lernen gestanden hat. Deutlich macht dies etwa Heymericus de Campo, dessen zwei Sentenzenkommentare übrigens nur in je einer einzigen Handschrift aus Nikolaus’ Bibliothek erhalten sind: „Alt- wie neutestamentliche Sakramente sind zur Bescheidung, zur Unterrichtung und zur Übung eingesetzt. Nicht natürlich, sondern gegeben ist das Zeichen der heiligen Sache, das über die Kraft zu bezeichnen hinaus im neuen Testament die Gnade verursacht, welche es durch die Ähnlichkeit seiner Form repräsentiert.“74 72 Bei scotistischen Autoren hingegen fällt diese Verbindung unter die Kategorie der Relation, vgl. PETRUS TARTARETUS: Expositio, fol. 3va. 73 So hatte schon PLATZECK: Randbemerkungen, S. 36, behauptet, es sei „an manchen Punkten leicht belegbar, dass er [Cusanus] Vertreter der via antiqua war“ – ohne dies allerdings weiter auszuführen. 74 HEYMERICUS DE CAMPO: Super sententias IV.1, Cod. Cus. 24, fol. 80vb: „Tam veteris quam nove legis sacramentum humiliationis, eruditionis et excercitationis causa institutum. Non naturale sed datum est sacre rei signum quod ultra virtutem significandi in lege nova causat gratiam quam per similitudinem sue forme visibilis representat.“ (zur Handschrift vgl. HOENEN: Heymericus de Campo reads Peter Lombard); ähnlich auch HEYME-
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Wie die Worte gehören auch die Sakramente in die Klasse der eingesetzten Zeichen; wie die Rede des Lehrers dienen auch die Sakramente der eruditio und exercitatio; wie die gewöhnlichen Worte besitzen auch die Sakramente eine virtus – allerdings nicht nur eine, um etwas zu bezeichnen, sondern eine, welche die Gnade bewirkt. Wie sich nun die Spätscholastiker schon im allgemeinen Sprachverständnis uneinig waren, woher die Sprachzeichen ihre virtus significandi haben sollten, so blieb nicht weniger umstritten, wie die virtus causandi gratiam der Sakramente zu verstehen sei. Erneut schlossen es Denker im Gefolge von Scotus aus, den Zeichen selbst eine Kraft zuzuschreiben, die Sakramente also als Träger einer besonderen Kraft zu verstehen, durch welche sie die Gnade verursachen sollten. So, wie sie die Worte für arbiträre Zeichen hielten, deren Bedeutung nur aus dem Gebrauch und damit aus der Übereinkunft der Sprachbenutzer kommen konnte, so konnten auch die Sakramente nur aufgrund einer Übereinkunft ihre besondere Wirksamkeit haben – einer Übereinkunft nämlich mit Gott. Die Einsetzung der Sakramente verstanden sie als eine Art Pakt, in der sich Gott verpflichtet habe, bei jeder einzelnen Sakramenten-Spendung selbst kausal einzugreifen.75 Anders sahen das vor allem die Thomisten:76 So, wie für sie die Bezeichnungskraft von Worten in deren autoritativem Einsetzungsakt begründet lag, so gingen sie auch davon aus, dass den Sakramenten durch ihre göttliche Einsetzung eine Kraft inne sei, durch die sie an der Gnadenvermittlung ursächlich beteiligt seien. Johannes Capreolus, einer der bekanntesten Verteidiger des Thomas von Aquin im 15. JahrRICUS DE CAMPO: Quadripartitus questionum sillogistice supra quatuor libros sententiarum, S. 550. 75 Vgl. etwa NICOLAS D’ORBEILLES: Compendium in sententias IV.1.1, [fol. q7r]: „Insuper sciendum quod sacramentum secundum Augustinum est signum. Signum autem dicit relationem signi ad signatum. Ista autem relatio quam importat sacramentum non est realis cum non consequatur fundamentum ex natura rei, quia et si in re sit aptitudo ad significandum tamen actualis significatio non competit sibi nisi per actum imponentis sive instituentis. […]. Est autem sacramentum signum efficax et certum. Quia ad positionem signi sequitur effectus signatus ex determinatione dei qui disposuit cooperari signo ad causandum effectum signatum, nisi impediat indispositio eius cui adhibetur.“ 76 Ein dritter Weg zur Klärung der sakramentalen Wirksamkeit, der auf Heinrich von Ghent zurückgeht, scheint im 15. Jahrhundert nicht mehr vertreten worden zu sein.
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hundert, wehrt sich in seinem theologischen Kommentar gegen den rein sprachtheoretischen Einwand, dass einem Wort bei seiner Einsetzung keine so absolute Form gegeben werden könne, dass es nicht mehr wandelbar sei, und dass es daher auch keine Kraft innehaben könne, die immer das gleiche bewirke: „Hierzu ist zu sagen, dass einem Wort zwar keine absolute Form gibt […], dass sie ihm aber dennoch eine Form geben kann [...], nämlich die Kraft, einen Hörer anzuregen. […] Daraus wird deutlich, wie Worte und Schriftzeichen es vermögen, den Geist des Schülers anzuregen, sich von einem Zustand der Möglichkeit in einen aktiven Zustand zu versetzen und Konzepte und vernünftige Vorstellungen auszubilden. Konsequenterweise sie eine Kraft hierzu besitzen.“77
Wenn es daher schon bei gewöhnlichen Worten – man beachte den erneuten Lernkontext – möglich ist, dass sie durch ihre innere Kraft einen Schüler zum Ausbilden von Vorstellungen bringen, dann wird das auch bei den Sakramenten möglich sein. Aufschlussreich für die vorliegende Thematik ist nun schließlich, wie sich die Thomisten das Wirken dieser sakramentalen Kraft gedacht haben. Denn mit ihrer Lehre liefen sie Gefahr, den sakramentalen Effekt zu mechanisieren und durch die Einbettung der Wirkkraft in die Sakramente den göttlichen Einfluss auf die Gnadenvermittlung zu unterbinden. Thomas von Aquin hatte daher eine ganz eigene Theorie von sakramentaler Mitursächlichkeit entwickelt: Wie nämlich etwa bei der Verwendung eines Hammers zum Einschlagen eines Nagels der eigentliche Akteur der 77 JOHANNES CAPREOLUS: Defensiones IV.1-3 a3, S. 49: „Cum dicit arguens quod impositio vocum vel scriptorum non potest dare voci aut scripto aliquam formam absolutam, etc.: – dicitur quod, licet non det voci aliquam formam absolutam, habentem esse completum, potest tamen dare sibi formam habentem esse intentionale fluens, scilicet virtutem excitandi audientem, ut reducat se de actu primo in secundum, et ut conceptionem quam habet habitu, consideret in actu. [...] Ex quibus apparet quomodo verba vel scripta habent excitare mentem discipuli ad reducendum se de potentia in actum, et ad formandum conceptiones et intentiones intelligibiles; et consequenter habent aliquam vim ad hoc, ut prius deductum est, in solutione quarti; quia omne agens agit sibi simile, et aliquo modo continet formam sui effectus.“
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Handwerker bleibe, der Hammer aber dennoch als Instrument einen effektiven Anteil am Versenken des Nagels habe, so sei auch in den Sakramenten Gott zwar der eigentliche Urheber des Gnadengeschehens, er mache dies aber instrumentaliter anhand der einzelnen Sakramente. Die Sakramente also wirkten in der Gnadenvermittlung als Instrumente Gottes.78 Dies allerdings haben wir wörtlich auch als die Lehre des Cusanus angetroffen, womit er sich nicht nur von seiner Zeichenlehre, sondern auch von seinem Verständnis der sakramentalen Wirksamkeit her unter die Vertreter der via antiqua einordnen lässt.
3 Fazit Drei Punkte sind es, auf die sich dieses Fazit beschränken soll. Erstens ist die Tatsache, dass Cusanus traditionelles Gedankengut aufnimmt und verarbeitet, für sich genommen nichts besonderes und im Hinblick je auf die einzelnen Elemente, die hier zusammengetragen worden sind, nicht weiter spektakulär. Dass die hier untersuchten Elemente von Cusanus’ Zeichen- und Sakramentenlehre aber alle mit den Lehren einer bestimmten spätmittelalterlichen Richtung übereinstimmen, nämlich der via antiqua, wie sie etwa von den zitierten Kölner Lehrern vertreten worden ist, scheint doch von einiger Bedeutung zu sein. Es dürfte diese Beobachtung nämlich ein beliebtes Deutungsschema korrigieren, in das seit Karl Otto Apels Aufsatz zur Idee der Sprache bei Nikolaus von Kues vor allem die Ausführungen aus De mente gerne eingeordnet werden, und das als alternative Sprachvorstellungen nur eine nominalistische Sprachwillkür oder eine platonische Natursprache kennt.79 Das beschriebene Sprachverständnis der Kölner Thomisten geht einen dritten Weg und bildet damit einen viel naheliegenderen Hintergrund für den Ansatz von Cusanus. Diese Nähe zur via antiqua sollte auch bedacht werden, wenn Cusanus’ klare Trennung zwischen Denken und
78 Vgl. ROSIER-CATACH: La parole efficace, S. 135-139, und nun auch REYNOLDS: Efficient causality. 79 APEL: Die Idee der Sprache, S. 200; vgl. auch VAN VELTHOVEN: Gottesschau und menschliche Kreativität, S. 217. In De mente sieht Apel „in aller Klarheit einen nominalistischen Standpunkt formuliert“ (APEL: Die Idee der Sprache, S. 211).
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Sein als nominalistischer Zug seines Denken beschrieben wird.80 Wie gezeigt worden sein dürfte, sucht Cusanus gerade nicht nach dem Trennenden, sondern nach dem Verbindenden zwischen den beiden Bereichen und greift dazu auf so traditionelle Begriffe zurück wie jenen des Abbilds oder jenen der Form.81 Es wäre genauer zu untersuchen, inwiefern Cusanus nicht auch damit in konzeptioneller Verwandtschaft mit dem hier identifizierten Traditionsstrang steht. Zweitens gibt es natürlich dennoch Punkte, an denen Nikolaus die traditionellen Elemente weiterentwickelt – so etwa eher nebensächlich bei seiner am Abstraktionsgrad orientierten Hierarchisierung von Ding, Wort, Schrift und Begriff; oder aber, was nicht nur im vorliegenden Zusammenhang wesentlich bedeutender ist, bei seiner konsequenten und direkten Anbindung der virtus verborum an die in ihnen eingefaltete göttliche virtus infinita. Entgegen der eingangs beschriebenen Vermutung kommt Cusanus dennoch ebensowenig zu einer performativen Theorie wie seine scholastischen Kollegen. So sehr die Verbindung mit der virtus infinita es dem Menschen erlaubt, seine vis creativa zu entfalten und Begriffe auszubilden, so sehr bleibt dieses Unternehmen doch auf Begriffe beschränkt und damit letztlich ein erkenntnistheoretisches, das – wie auch das Begriffs-Verständnis der Spätscholastik – darauf ausgerichtet ist, eine bereits bestehende, logisch und essentiell vorausgehende Realität genauer zu erfassen, nicht aber diese zu erschaffen.82 Die Lücke zwischen Seiendem und Erkanntem verunmöglicht nicht nur ein nomen praecisum, sondern auch ein Rückwirken des modus cognoscendi auf den modus essendi.
80 So kürzlich wieder ELPERT: Loqui est revelare, S. 469; vgl. auch ebd. S. 574 mit dem etwas eigenartigen Verständnis von Nominalismus („das gesprochene Wort […] als reines Zeichen“) und Realismus (ebendieses „als pures Abbild“). Zurückhaltend bleibt THIEL: Scientia signorum, S. 112. 81 Mit HAUBST: Streifzüge, S. 524; dazu auch BORMANN: Nikolaus von Kues, S. 11, der an anderer Stelle im Hinblick auf das Compendium allerdings gerade aufzeigen zu können meinte, „wie nahe Nikolaus mit dieser Lehre mittelalterlichen Nominales“ gestanden, beziehungsweise „nominalistischer Erkenntnislehre verpflichtet“ gewesen sei (BORMANN: Zur Frage nach der Seinserkenntnis, S. 188). 82 Vgl. FLASCH: Nicolaus Cusanus, S. 93f. Zentral ist daher der Begriff der assimilatio (dazu bereits STADLER: Rekonstruktion einer Theorie der Ungegenständlichkeit, S. 47f.; vgl. vor allem aber BORSCHE: Was etwas ist, S. 193-211).
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Drittens dürfte Cusanus’ Sprachmodell für die heutige Performativitätsdebatte trotzdem nicht völlig irrelevant sein. Bemerkenswert scheint mir zum einen, dass Cusanus mit dieser Lücke nicht nur das Vermögen, sondern vor allem auch das Unvermögen von Sprache thematisiert und damit zu bedenken gibt, dass ein performativer Akt nicht nur im Ausbilden, sondern auch im ungenügenden Erfassen von Realität bestehen kann.83 Zum anderen konzentriert sich die moderne sprachphilosophische Diskussion weitgehend darauf zu erfassen, wie performative Äußerungen funktionieren, ohne aber anzugeben, woher ihnen eigentlich ihre Wirkmacht zukommt. Wenn Nikolaus in seinem Sprachmodell den Ursprung der sprachlichen virtus klar benennen kann und in Gott gegründet sieht, so präsentiert er damit zwar keine Lösung, die in einer sprachanalytischen Debatte des 21. Jahrhunderts ernsthaft vertreten werden kann84 – er hilft aber, ein Leerstelle in der modernen Diskussion zu erkennen, die nicht vernachlässigt werden sollte.
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Der Possest-Gedanke von Nikolaus von Kues Eine Skizze anhand des Trialogus de possest HUA LI Das Charakteristikum und die Originalität der cusanischen Philosophie bestehen in der Dialektik der dynamischen Immanenz und zugleich der Transzendenz des Absoluten.1 In dieser Dialektik manifestiert sich ein Gott-Welt-Verhältnis, das sich sowohl von scholastischem Denken, von der rheinischen Mystik, vom neuplatonischen Emanationsgedanken als auch von den deterministischen Konzeptionen unterscheidet. Diese Eigenart des cusanischen Denkens macht den Cusaner zu einem der wichtigsten Philosophen und Theologen im Spätmittelalter. Im Allgemeinen ist die Dialektik von Gottes Immanenz und Transzendenz, wie sie in der Scholastik vorliegt, nicht leicht zu verstehen. Für die Scholastiker ist das Paar Immanenz-Transzendenz Paradoxie. Die von Meister Eckhart vertretene Mystik erreicht die Einsicht in diese Dialektik, indem sie in gewisser Weise den gewöhnlichen Verstand zu übersteigen versucht. Sie entdeckt bereits, dass gegensätzliche Aussagen zu einer Dritten geführt und aufgehoben werden können. Allerdings verbindet Meister Eckhart diese Erkenntnis mit dem Aufstiegsweg der mystischen Erfahrung. Im Unterschied dazu liegen bei Nikolaus von 1
Gandillac hält die Gleichzeitigkeit von göttlicher Gegenwart und Transzendenz für die zentrale Aussage der cusanischen Dialektik. Siehe GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 385.
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Hua Li Kues konsequente Argumentationen für die Einigung von der Immanenz und Transzendenz des Absoluten vor. Die Dialektik der dynamischen Immanenz und Transzendenz durchdringt alle Werke des Nikolaus von Kues. Jedes Werk ist ein Versuch, aus vielfältigen Perspektiven und im variierenden argumentativen Tiefgang zu zeigen, wie das Absolute in der Welt dynamisch immanent und zugleich über die Welt transzendent ist, und dass eben die Dimension der Transzendenz der Immanenz Kraft und Leben gewährt. Aber nur in den Spätwerken des Cusanus, vornehmlich im Trialogus de possest, liegt im Zusammenhang mit dem Posse-Gedanken und auf der Grundlage der aristotelischen Dynamis-Energeia-Lehre eine stichhaltige ontologische Begründung für Gottes dynamische Immanenz und Transzendenz vor.
Der Stellenw ert von De possest im cusanischen Denken Zu seinen Lebzeiten bemüht sich der Kardinal immer wieder, die Einigung von Gottes Transzendenz und Immanenz zu formulieren. Die Immanenz muss dynamisch und aktiv sein, so sein Grundgedanke, damit Gott wahrhaft in allem ist. Gott ist die dynamische Kraft und Lebendigkeit in allem, er ist der Schöpfer, der Bewahrende, der Lenkende und Erhebende von allem, er ist der innere Antrieb und Tätigkeit in allem, so dass alles sich beständig aufwärts nach ihm erhöhen und sich ihm nähern kann, obwohl es ihn niemals wirklich erreicht. 2 Aber auch dieser Gedanke von Immanenz erfährt im cusanischen Denken eine Entwicklung. In seinem ersten wichtigen Werk De docta ignorantia beschreibt Cusanus Gott als die coincidentia oppositorum. Gott ist das Zusammenfallen der Gegensätze. Er überschreitet den Widerspruchssatz der ratio und faltet als die Koinzidenz von Maximum und Minimum alles in sich ein. Diese Formulierung legt einen so großen Akzent auf Gottes Immanenz, dass die Dimension der Transzen-
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Odebrecht schildert das Gott-Welt-Verhältnis als Kreis. Gott sei sowohl der Anfang als auch das Ende (terminus) von allem und seine Weisheit vollende sich im unendlichen Kreis. Siehe ODEBRECHT: Nikolaus von Cues und der deutsche Geist, S. 16-17.
Der Possest-Gedanke denz „mehr oder weniger geopfert wird“.3 Gegen die cusanische Lehre der coincidentia oppositorum wird von Zeitgenossen wie dem Heidelberger Professor Johannes Wenck unter anderem der Vorwurf erhoben, dass diese Lehre zum Pantheismus führe, weil sie das Zusammenfallen von Gott und Welt lehre. In Verbindung damit wird Cusanus auch vorgeworfen, er akzeptiere Eckharts „esse est deus“. In Apologia doctae ignorantiae (1449) verteidigte sich Nikolaus von Kues mit dem Argument, dass Wenks Vorwurf von einem Missbrauch der ratio sowie des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch ausgehe. 4 Allerdings nahm er auch, wie schon in De coniecturis (1442), eine Änderung der Lehre von coincidentia oppositorum vor. Coincidentia bezeichnet nun nicht mehr Gott, sondern die höchste Erkenntnis, die der menschliche Intellectus zu erreichen vermag. Gott selbst ist noch höher und über die coincidentia erhaben. In den folgenden Werken betont Cusanus immer zugleich Gottes Immanenz und Transzendenz und ließ beide Aspekte einander unterstützen, statt einander zu beschädigen. Aber nur in den Spätwerken, und vornehmlich im Posse-Gedanken, wurde eine ontologische Begründung dieses Zusammenhangs gegeben. Der Posse-Gedanke ist der Leitfaden des cusanischen Denkens in den letzten Lebensjahren (1460-1464) des Kardinals. Der Gedanke ist hauptsächlich in drei Schriften vorzufinden, nämlich in De possest, De venatione sapientiae und dem letzten Werk des Kardinals De apice theoriae. Bereits Alfons Brüntrup hat in seiner Buch Können und Sein richtig eingesehen, dass der in diesen Schriften vorliegenden dreistufigen Entwicklung des Posse-Denkens (von „possest“ über „posse fieri“ zu „posse ipsum“) eine einheitliche Tendenz zugrunde liegt, welche immer klarer die „die Dynamik des Gottes- und Weltbildes“ ausdrückt.5 Gott und die Welt sind nicht mehr zwei von einander getrennte Realitäten, wie Urbild und Abbild. Die Trennung von Urbild und Abbild würde zur Methexisaporie führen, wie es in platonischer Lehre geschieht. Es gibt vielmehr eine Dynamik zwischen Gott und der Welt, dergestalt, dass Gott als das posse im Inneren jedes posse cum addito (konkretes posse) gegenwärtig ist, wodurch jedes Seiende ein sich von Dynamis (Potenz) zu Energeia (Akt) verwirklichender Bewegungsvor3 4 5
Siehe GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 317. Siehe FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 183. Siehe BRÜNTRUP: Können und Sein, S. 131.
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Hua Li gang (kinesis) ist. Diese jedem Seienden wesentliche DynamisEnergeia-Struktur wird von Gott, vom lebendigen Können selbst verliehen, oder mit anderen Worten, diese Struktur ist die göttliche Immanenz selbst. Gott als das posse ipsum ist die lebendige Voraussetzung und kräftiger Seinsgrund von allem. Er ist in jedem Seienden tätig und deshalb dynamisch immanent. Gott manifestiert sein großes Posse in allem, er ist die Kraft, die Bestimmung und die Tätigkeit von allem. Daher ist die Immanenz des Absoluten bei Nikolaus von Kues dynamisch, dialektisch und lebendig, und eben durch diese Dynamik wird die Immanenz erst ermöglicht. Gottes Immanenz ist nicht wie Wasser im Gefäß, weil dieses stille „in“ immer noch nicht eigentliche Immanenz, sondern Trennung ist. Die eigentliche Immanenz ist vielmehr wie das Leben im Samen, indem das Leben den Samen als Samen sein lässt. Der cusanische Posse-Gedanke beruht auf der von Aristoteles herkommenden Dynamis-Energeia-Lehre. Nikolaus von Kues formt diese Lehre vor dem Hintergrund des Christentums um. Um die Umformungen verständlich zu machen, die Cusanus an aristotelischer Metaphysik vornimmt, ist im nächsten Schnitt die Dynamis-Energeia-Lehre von Aristoteles in ihrer ursprünglichen Form zu skizzieren.
Die Dynamis-Energeia-Lehre des Arist oteles „Posse“ entspricht dem griechischen Wort Dynamis, bezeichnet aber auch die aus Dynamis und Energeia zusammengesetzte ganze Struktur „Dynamis-Energeia“. Will man den systematischen Anfangspunkt der Dynamis-Energeia-Lehre fassen, so liegt es nahe auf die Metaphysik des Aristoteles zurück zu greifen. Der Gegenstand der Metaphysik ist nach Aristoteles das Seiende als Seiendes. 6 Das Seiende als Seiendes ist das Erste, was wir geistig erfassen, weil es das Allgemeinste ist. Brentano gliedert das Seiende aufgrund der aristotelischen Texte in vier homonyme Bedeutungen, unter denen wir hier nur das Paar DynamisEnergeia betrachten.
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Siehe ARISTOTELES: Metaphysik, 1003 a 21.
Der Possest-Gedanke Der aristotelischen Metaphysik zufolge kann man in drei verschiedenen Bedeutungen sagen, dass ein Ding möglich (dynamei) ist. 7 Zuerst ist die reine logische, aus der Realität abstrahierte Möglichkeit zu nennen. Diese muss allerdings von den Bedeutungen der Dynamis ausgeschlossen werden, denn die reine logische Möglichkeit ist nicht aufgrund der Dynamis ausgesagt, sondern nur aufgrund der Nichtwidersprüchlichkeit eines Gedankeninhalts.8 Im Unterschied dazu orientiert sich der Dynamis-Begriff bei Aristoteles an der realen Existenz. Dynamis bezieht sich nicht auf die formale Logik, sondern auf den ontologischen Logos. Aristoteles gebraucht Dynamis hauptsächlich in zwei Bedeutungen, welche auch die anderen zwei Bedeutungen von dynamei sind: Die erste Bedeutung ist im Sinne von Vermögen oder Kraft zu verstehen, welches wiederum in einer zweifachen Weise vorkommt: Entweder ist das aktive Vermögen des Bewirkens, nämlich „der Ursprung einer Veränderung in einem anderen oder als ein anderes“; oder aber das passive Vermögen des Erleidens, nämlich „der im Leidenden selbst vorhandene Ursprung einer leidenden Veränderung durch ein anderes oder als ein anderes“9. Entsprechend ist die Energeia (Akt) auch im Sinn von verwirklichendem oder bewirkendem Vermögen zu verstehen. Der Satz „Ein Ding ist möglich oder hat Dynamis“ bedeutet in diesem Sinn, dass ein Ding aufgrund seines eigenen Vermögens etwas zu bewirken oder zu erleiden vermag. Mit anderen Worten: Es vermag als die Ursache der Veränderung (Bewirken oder Erleiden) in sich selbst oder in einem anderen zu gelten. Die Beziehung zwischen Dynamis und Energeia verhält sich wie das Vermögen zu verändern zum wirklichen Verändern (Bewirken oder Erleiden). Die als Vermögen verstandene Dynamis wird ohne den Einfluss einer wirkende Ursache nicht zur Wirklichkeit überführen, weshalb die im Sinne von Vermögen bezeich7
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Diese Gliederung beruht auf den Untersuchungen von Brentano, und J. Stallmach. Siehe BRENTANO: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles; STALLMACH: Dynamis und Energeia. Siehe BRENTANO: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, S. 41. Siehe jeweils in Metaphysik, IV, 12, 1019 a 15 und VIII, 1, 1046 a 11. Nach Brentano findet Dynamis (Vermögen) in vierfacher Weise Verwendung. Hier werden die anderen beiden Verwendungsweisen übergangen, um die Brennpunkte für den vorliegenden Kontext hervorzuheben. Siehe: BRENTANO: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, S. 46-47.
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Hua Li nete Dynamis/Energeia eng mit kinesis (Bewegung) verbunden werden muss. Dynamis und Energeia werden durch das Zwischenmoment der kinesis miteinander verbunden. Die zweite Bedeutung von Dynamis ist von einem aus Dynamis und Energeia zusammen gebildeten Ganzen her zu verstehen. Dynamis/Energeia ist nun nicht als das auf Wirkgrund und Bewegung basierende Vermögen zu verstehen, also nicht als Vermögen und aktueller Vollzug des Vermögens. In ihrer zweiten Bedeutung ist Dynamis/Energeia diejenige Konstitution des Seienden, aufgrund derer das Werden alles Seienden erst möglich ist.10 In dieser ontologischen Bedeutung bilden Dynamis und Energeia zusammen die innere dynamische Struktur und den letzten Seinsgrund jedes Seienden, durch den das Seiende von Noch-Nicht-Sein zu Wirklich-Sein wird. Alles Seiende kann nur innerhalb dieser Dynamis/Energeia-Struktur entstehen. Diese Struktur ist die eigentliche Seinsweise von allem, welche das Werden, das Sein und die Bewegung von allem ermöglicht. Die erste Bedeutung von Dynamis (das Vermögen des Wirkens oder Erleidens) ist nur aufgrund dieser ontologischen Bedeutung (die Struktur des Seienden) gültig. Die im Sinne von Vermögen verstandene Dynamis ist ausschließlich dem schon wirklich Seienden zuzuordnen. Die als Seinswesen verstandene Dynamis/Energeia-Struktur begreift darüber hinaus, wie das Sein des Dings eigentlich möglich ist. Die Unterschiede zwischen diesen zwei Bedeutungen liegen nicht im Geltungsbereich, sondern sind vielmehr als der Unterschied von Erscheinung und Grund zu verstehen. Die Dynamis/Energeia-Struktur ist der Rahmen, in dem alles erst werden und sein kann. Sie ist der Grund aller veränderlichen Erscheinungen, die sich selbst nicht verändert noch jemals verschwinden würde. Sowohl das aktive Vermögen des Bewirkens als auch das passive Vermögen des Erleidens sind nur innerhalb dieser Dynamis/EnergeiaStruktur möglich, weil diese die Seinsmöglichkeit von allem bestimmt. Diese Struktur der untrennbaren Verbundenheit von Energeia und Dynamis bestimmt die Seinsweise alles Seienden. Die zweite Bedeutung von Dynamis/Energeia erschließt sich gerade in Hinsicht auf die eigentümliche Seinsweise von Hyle-Ousia (Materie10 Siehe Metaphysik, VII, 2, 1042 b 9. Diese Bedeutung hebt J. Stallmach im dritten Kapitel seines Werks hervor. Siehe STALLMACH: Dynamis und Energeia, S. 28-38.
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Der Possest-Gedanke Wesen). Dynamis kann als Materie, Energeia als Wesen oder Form verstanden werden. Obwohl Aristoteles selbst solche Gleichsetzungen vornimmt,11 ist doch zu erklären, in weichem Sinn solche Gleichsetzungen überhaupt gemacht werden können, da die Bedeutung von Hyle doppelsinnig ist. Nach Josef de Vries S. J.12 gibt es bei Aristoteles zwei Definitionen der Materie: Erstens bezeichnet Hyle nach der Definition in Physik 1, 9 die physische Materie, und damit etwas Materielles, nämlich das Substrat und die Grundlage der substantiellen Veränderungen. Diese Materie gehört zu dem Bereich der Physik. Die physische Materie selbst entsteht und vergeht nimmer, sie ist „das letzte, in allem Vergehen und Neuentstehen sich identisch durchhaltende Substrat“. Zweitens bezeichnet Hyle nach der Definition in Metaphysik 7, 3 die metaphysische oder ontologische Materie: das letzte und rein potentielle Subjekt. Diese Materie gehört zu dem Bereich der Metaphysik. Sie ist das letzte Subjekt, von dem alle Bestimmtheiten weggenommen werden, weshalb sie unerkennbar und unaussprechbar ist. Sie ist nichts, auch nicht die Negation. Sie ist die völlige Bestimmungslosigkeit. Sie schließt alle Bestimmungen aus, kann aber als das mögliche Subjekt alle Bestimmungen aufnehmen.13 Wenn wir das Paar Dynamis-Energeia durch Hyle-Ousia zu verstehen versuchen, so ist hinzuzufügen, dass eine Gleichsetzung der beiden Paare nur im ontologischen Sinne passend ist. Im ontologischen Sinn drücken diese beiden Paare ein und dieselbe Seinsstruktur aus, welche von Grund auf zeigt, wie alles vom Nichts zum Sein kommt. Diese Struktur ist der Rahmen alles Seienden, und sie blickt auf das „Woher“ der Realität.
11 Siehe ARISTOTELES: Metaphysik, 1048 b 6. 12 Siehe VRIES: Zur aristotelisch-scholastischen Problematik von Materie und Form, S. 161-185. 13 Vries ist der Meinung, dass Aristoteles selbst die Beziehung der beiden Materien nicht erklärt, wodurch der Scholastik eine ganz bestimmte Problematik entsteht: Die meisten Scholastiker setzen die zwei Definitionen gleich. Ein Unterschied liegt nur darin, dass bei manchen Autoren der physische Materiebegriff, bei anderen der metaphysische Materiebegriff leitend ist. Nur wenige Scholastiker, wie Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Roger Bacon, beachten die Unterschiede zwischen beiden Definitionen. Aber ihre Erkenntnis von der ontologischen oder metaphysischen Materie ist nicht deutlich genug. In neuerer Zeit werden wichtige Beiträge zur Untersuchung der Unterschiede der zwei Materiebegriffe geleistet, doch der Zusammenhang beider Begriffe ist noch zu untersuchen.
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Hua Li Die größte Fruchtbarkeit der Dynamis/Energeia-Lehre liegt darin, dass das Dynamis/Energeia-Ganze als Struktur des Seins aufgrund seiner dynamischen Immanenz in allen Seienden die bei Plato vorliegende Methexisaporie auflöst14. Die Methexisaporie geht hauptsächlich von der Trennung (Chorismos) vom Eidos und Einzelding aus. Platos Ideenlehre versucht mit Annahme von Ideen die Ursache und das Ziel der Wirklichkeit zu erklären. Da aber die teilgebenden Ideen nicht „in“, sondern „außer“ den teilhabenden Einzeldingen sind, entstehen die Schwierigkeiten, wie und warum die Teilhabe eigentlich möglich ist. Um dies zu erklären, braucht es immer ein Drittes, welches als Medium die Ideen und die Einzeldinge verbindet. Durch die Dynamis/EnergeiaStruktur lässt Aristoteles die Ideen dem Seienden immanent sein. Das Ziel, die Richtung und das Prinzip jedes Dings liegen nicht mehr jenseits der Erscheinungswelt, vielmehr sind sie im Inneren jedes Dings dynamisch und tätig. Dieses immanente Prinzip macht jedes Ding zum lebendigen, sich bewegenden und sich entwickelnden Subjekt. Die dynamische Immanenz der Dynamis/Energeia-Struktur in allen Dingen vermeidet die Trennung von dem Ding und seinem Prinzip. Auf diese Weise wird natürlich auch die Methexisaporie aufgehoben. Dieser Charakter der aristotelischen Dynamis/Energeia-Lehre ist für den cusanischen Posse-Gedanken entscheidend.
Possest als Umfor mung der aristotelischen Lehre Nikolaus von Kues macht von der aristotelischen Dynamis/EnergeiaLehre Gebrauch, um sein eigenes Posse-Denken aufzubauen. Das Werk Trialogus de possest markiert den Anfang dieses cusanischen Denkens. Es zeigt den dynamischen Charakter von Gottes Immanenz systematisch und mit argumentativem Tiefgang auf, indem es anhand der aristotelischen Lehre eine ontologische Begründung dieses Charakters vorlegt. Die späteren Werke De venatione sapientiae und De apice theoriae erweitern dieses Denken und führen es auf der Grundlage von De possest fort. Aus diesem Grund wird im vorliegenden Aufsatz nur De possest behandelt und besprochen. Der Inhalt der Schrift De Possest ist 14 Siehe STALLMACH: Dynamis und Energeia, S. 36-37.
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Der Possest-Gedanke in drei Hauptteile gegliedert: die Vorstellung des Possest-Gedankens, das Verhältnis des Possest-Gedankens zur christlichen Dreieinheit und die Fruchtbarkeit dieses Denkens. In den nachfolgenden Absätzen werden diese drei Teile nacheinander erklärt. In De possest wird Gott (die Ewigkeit selbst) als absolute Möglichkeit (possibilitas) und Wirklichkeit (actualitas) und beiderVerknüpfung (nexus) bestimmt.15 Die absolute Möglichkeit ist „posse“, die absolute Wirklichkeit ist „actus“. Einerseits ist posse oder die absolute Möglichkeit nicht früher als die absolute Wirklichkeit, weil jene nur durch diese verwirklicht wird und jene sich selbst nicht verwirklichen kann. Andererseits ist die absolute Möglichkeit auch nicht später als die absolute Wirklichkeit, weil diese nur aus jener zum Wirklichsein wird.16 Daher sind posse und actus beim Absoluten dasselbe (idem), beide sind im Absoluten gleich ewig, sind dieselbe Ewigkeit, nämlich Gott selbst. Nur Gottes Wirklichsein ist mit seinem posse absolut identisch, da jedes Geschöpf Gottes, obwohl es auch wirklich ist, was es ist, doch nicht wirklich alles das ist, was es sein kann. Mit anderen Worten: es kann sein posse nicht ganz verwirklichen, es kann immer noch anders sein, als es aktuell ist, da es immer Möglichkeiten hat, die es aktuell noch nicht verwirklicht. Seine Wirklichkeit schöpft seine Möglichkeit nicht aus, daher gibt es in allem Geschöpflichen immer eine Ungleichheit von posse und actus. Vor diesem Hintergrund können wir das Wort possest im Titel verstehen. Possest ist aus posse und est zusammengesetzt. Cusanus will damit zum Ausdruck bringen, dass das posse wirklich seiend ist. Nur Gott ist possest, das Geschöpf aber nicht. Dieser Gottesname ist allerdings kein eigentlicher Gottesname, sondern lediglich ein Hilfskonstrukt für uns Menschen. Den genausten Gottesnamen können wir Menschen nicht erreichen, weil Gott immer auch in einer transzendenten Dimension verborgen bleibt. „Solus Deus id [est] quod esse potest.“17 Grammatikalisch gibt es von diesem Satz zwei mögliche Übersetzungen: Die eine ist: „Nur Gott ist das, was er sein kann“; Die andere ist: „Nur Gott ist das, was sein kann“. Verschiedene Übersetzungen führen zu verschiedenen Interpretationen. Manche Forscher wie P. Wilpert, de Gandillac, Kurt Flasch befürworten 15 Siehe De possest (h XI/2 n. 8). 16 Ebd. (n. 6). 17 Siehe De possest (h XI/2 n. 7).
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Hua Li nur die erste, weil die letzte pantheistische Farbe zu haben scheint und Gott und seine Geschöpfe dadurch gleichgesetzt würden (Gandillac18), oder weil Gott dadurch geschwächt würde (Flasch, Wilpert19); Manche (wie J.Stallmach20, Brüntrup21) behaupten beide Übersetzungsmöglichkeiten zugleich . Auch meines Erachtens sind beide Übersetzungen erlaubt. Dieser Satz stellt einerseits die Identität von Gottes posse und actus dar, andererseits formuliert er aber auch, dass Gott alles ist. Aber es ist zu beachten, dass dieses zweite Verständnis nicht unbedingt zum Pantheismus führt. „Gott ist alles, was sein kann“, zeigt nicht die Identität von Gott und allem, sondern nur Gottes complicatio von allem: Gott ist in eingefalteter Weise alles, was sein kann.22 Gott ist in allem alles, aber nicht in der Weise eines Geschöpfs (weil dieses nicht ist, was es sein kann), sondern in der vollkommensten und göttlichen Weise.23 Deshalb drückt der Begriff possest zweierlei Bedeutungen aus. Erstens: Wenn der Kardinal sagt, dass potentia (dynamis) und actus (energeia) im Absoluten dasselbe sind, redet er in absoluten und allgemeinsten Begriffen.24 Gottes posse ist zugleich actus, nur Gott ist possest. Zweitens: Da Gott das absolute posse und absolute esse und beider Verknüpfung ist, schließt er jedes posse und jedes esse in sich ein, sodass außerhalb seiner nichts wird und werden kann.25 Als Ursprung und Quelle jeder potentia und jedes actus faltet Gott alles in sich ein, und zugleich ist er auch alles in seiner Ausfaltung. Gott ist alles, aber nicht in der Seinsweise der Geschöpfe, sondern in der alle Geschöpfe überragenden göttliche Weise. Auf der Grundlage der aristotelischen Dynamis-Energeia-Lehre führt der Kardinal den Beweis für seine eigene Bestimmung des Gott-Welt18 Siehe GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 298-307. 19 Siehe FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 522-524. 20 Siehe STALLMACH: Sein und das Können-selbst bei Nikolaus von Cues, S. 413. 21 Siehe BRÜNTRUP: Können und Sein, S. 46. 22 Siehe De possest (h XI/2 n. 27): „Non haesito quin omnia in illa complicentur principio, quod omnia quea quocumque modo possunt esse in se habet“. 23 Ebd. (n. 12). 24 Ebd. (n. 8). 25 Ebd. (n. 16). Siehe auch ebd. (n. 47): „Nam sine potentia et actu atque utriusque nexu non est nec esse potest quicquam“, und noch ausführlicher mit dem Beispiel der Rose.
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Der Possest-Gedanke Verhältnisses, d.h. für Gottes dynamische Immanenz in allem und zugleich für seine Transzendenz. Aber welche Änderungen hat der Kardinal an dieser Lehre vorgenommen, die diese Anlehnung möglich machen? Eine offensichtliche Umformung besteht darin, dass die ontologische Dynamis/Energeia-Struktur, welche bei Aristoteles jedem Werden eines Dings immanent ist und jedes Ding vom Noch-Nicht-Sein zum Wirklich-Sein führt, bei Cusanus auf den Absoluten (Gott) bezogen wird, so dass Gott das letzte Subjekt dieser Struktur ist. Mit anderen Worten: Gott ist diese Struktur selbst. Auf diese Weise wird sowohl Gott als auch jedes Geschöpf dynamisiert, was den Gedanken von Gottes dynamischer Immanenz in allem ermöglicht. Daher versuchen der Kardinal und seine Freunde an Anfang von De possest, die ewige Kraft und Gottheit von den gewordenen Dingen her zu erblicken. 26 Eine zweite Umformung: Aristoteles legt innerhalb der ganzen Struktur von Dynamis/Energeia den Schwerpunkt auf Energeia. Energeia hat einen höheren ontolgischen Status als Dynamis, weil Energeia in Vollendung und Erfüllung ist, während Dynamis nur eine Richtung zur Energeia deutet; bei Cusanus wird der Schwerpunkt demgegenüber gleichmäßig auf beide Aspekte verteilt. Dieser Unterschied hat vielleicht folgenden Grund: Der Gesichtspunkt der antiken Griechen liegt auf der finiten Welt. Als eine in einer harmonischen und schönen Welt lebende und die Welt so liebende Nation blicken die Griechen von der Energeia her zurück und fragen nach den Möglichkeitsbedingungen der Welt. Im Unterschied dazu ist die Welt im Weltbild des christlichen Mittelalters nicht selbstständig, sie bekommt von Gott alles, was sie ist. Gott als der Schöpfer, der Bewahrender und Erhöhender der Welt, ist die immanente Dynamik der Welt. In Gott sind posse und esse zwei gleichwertige Momente, weil sie in Gott dasselbe sind, nämlich Gott selbst. Durch einen umformenden Gebrauch der aristotelischen Lehre begründet das cusanischen Posse-Denken Gottes dynamische Immanenz in der Welt und zugleich dessen Transzendenz. Im Kontext des mittelalterlichen Christentums liegt der wichtige Kern vom Possest-Gedanken darin, dass die Dynamis/Energeia-Struktur mit der Trinitätslehre zusammengehangen wird. Dieser Zusammenhang ist für Gottes Immanenz entscheidend und grundlegend, was im Folgenden erklärt werden soll.
26 De possest (h XI/2 n. 2).
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Das Verhältni s des cusanischen PosseDenken zur christli chen Tri nitätslehre Der Schöpfer ist dem Christentum nach dreieinig. In De possest werden das absolute Posse, das absolute Esse, und beider Nexus als die drei göttlichen Personen benannt, also als allmächtiger Vater, als Sohn des Vaters und als Heiliger Geist.27 Der Vater ist nichts anderes als der Sohn wegen der Selbigkeit des Wesens und der Natur der drei göttlichen Personen, aber er ist nicht der Sohn, weil das esse (der Sohn) das posse (den Vater) voraussetzt, wohingegen das posse nichts voraussetzt. Der Vater als das absolute posse ist durch sich selbst (per se est), der Sohn als das absolute esse ist aus der Allmacht des Vaters. Er ist, was der Vater kann, und aus diesen beiden geht der heilige Geist (nexus) hervor.28 Posse, esse und beider nexus bilden zusammen das Wesen des göttlichen Lebens und dessen Selbstbestimmung. Gott muss das Ganze von diesen drei Momenten sein, um als Struktur des Seins allem Seienden immanent zu sein und alles Seiende werden zu lassen. Wegen der Immanenz des dreieinigen Gottes in allem ist auch alles Geschöpfliche dreieinig.29 In der oben genannten Verbindung interpretieren sich das PosseDenken und die Trinitätslehre wechselseitig. Dadurch werden beide Seiten zugleich vertieft. Daher wird im Folgenden das Verhältnis beider in zwei Aspekten erörtert: Erstens: Wie bestimmt die Trinität die Dynamis/Energeia-Struktur? Zuerst ist Dynamis als der Vater nicht mehr ein Zurückblicken von Wirklichkeit her, nicht mehr die unbestimmte Möglichkeit wie bei Aristoteles, sondern die allergrößte und allergewisseste Alles-In-Sich-Einfaltende Allmacht, welche die Welt immerwährend schöpft, bewahrt und erhöht. Darüber hinaus ist Energeia als der Sohn von Dynamis als dem Vater gezeugt und deshalb ontologisch nicht mehr hochrangiger als Dynamis. In Verbindung mit der Trinität wird die bei Aristoteles noch relativ unvollkommene und unvollendete Dynamis so umgeformt, dass sie selbstständig die Energeia zeugt und daher mit Energeia gleichwertig ist. Entsprechend ist Energeia nur die Selbstverwirklichung des einzigartigen Posse. Schließlich ist, die Einheit von Dynamis und Energeia als der Heilige Geist nicht 27 Siehe De possest (h XI/2 n. 48). 28 De possest (h XI/2 n. 49). 29 Ebd. (n. 48).
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Der Possest-Gedanke mehr wie bei Aristoteles ein einseitiger Vollendungsvorgang, sondern wird durch einen doppeldirektionalen Akt erreicht: Der Vater verwirklicht sich und offenbart sich in seinem Sohn und der Sohn wird sich seines gleichen Wesens mit dem Vater bewusst. In diesem doppeldirektionalen Vorgang entsteht der Nexus, also der Heilige Geist. Das Leben der Christen ist auch eine Doppelbewegung: Je mehr ein Christ zu dem ersten Ursprung zurückgeht (Rückschritt), je mehr er also durch die Evangelien, durch die apostolische Geschichte, durch die wiederholten Predigten bewegt wird und immer tiefer Gottes Liebe und Gnade empfindet, umso größer offenbart sich Gottes Allmacht in ihm, umso enger vereinen sich die beiden, und umso mächtiger wirkt der Heilige Geist in der Welt (Fortschritt). Zweitens: Wie bestimmt die Dynamis/Energeia-Struktur die Trinität? Jeder christliche Theologe oder Philosoph muss in seiner Trinitätslehre die folgende Frage erklären: Wie ist es möglich, dass die drei Personen dasselbe sind? In welcher Weise ist der Vater mit dem Sohn verbunden? Wenn dieses Trennungsproblem nicht gelöst wird, wird die Beschreibung des Heiligen Geists zu einer leeren Behauptung. Durch die Dynamis/Energeia-Struktur im cusanischen Posse-Denken werden der Vater und der Sohn eigentlich und wahrhaft verknüpft. Vater (posse) und Sohn (esse) werden als zwei Zustände eines einzigen Subjekts erklärt, dadurch werden die zwei Personen in demselben Subjekt vereint: Der Vater ist des Sohns Dynamis, und der Sohn ist des Vaters Energeia. Aber die Sache endet hier nicht. Das obengenannten gilt nämlich nur in Hinsicht des An-Sich-Seins des Vaters und des Sohns. Für die Geschöpfe, für die weltlichen Dinge und Menschen, wird der Heilige Geist (nämlich der Nexus vom Vater und Sohn) nur dadurch erreicht, dass die Menschen Christus im Akt folgen und Wesensidentität von Sohn und Vater klar erkennen. Im cusanischen Possest-Gedanken bestimmen sich die christliche Trinitätslehre und die aristotelische Dynamis/Energeia-Lehre wechselseitig und sind aufs Engste miteinander verbunden. Man kann sagen, dass Gottes dreieinige Selbstbestimmung eben aufgrund der Dynamis/Energeia-Struktur den Grund für Gottes weltliche Immanenz legt. Erst durch die wechselseitige Interpretation beider Lehren kann Gottes Immanenz bei Nikolaus von Kues „dynamisch, lebendig und dialektisch“ sein.30 Nur die dynamische Immanenz ist die eigentliche Immanenz. 30 Siehe GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 393.
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Hua Li Das in der aristotelischen Dynamis-Energeia-Lehre verwurzelte Posse-Denken erweist sich in De possest nicht nur für die ontologische Grundlegung für das Gott-Welt- und Gott-Menschen-Verhältnis als fruchtbar. Es ist darüber hinaus zum Beispiel auf die Relevanz dieses Gedankens für Cusanus` originelles Verständnis von der ersten Materie, von Nichts, von Notwendigkeit und Möglichkeit etc. zu verweisen. Im Folgenden wird nur das Problem von der ersten Materie kurz behandelt.
Die Fruchtbar keit des Possest-Gedankens für den Gedanken der prima materia – ein Vergl eich mit Thomas von Aquin Vor Cusanus gibt es auch andere Theologen und Philosophen, die die aristotelische Dynamis/Energeia-Lehre um des Christentums willen umformten. Aber ihre Umformung bleibt auf einem oberflächlichen Verständnis von dieser Lehre, ohne deren zentralen Gehalt, das Denken der dynamischen Immanenz, angemessen zu verstehen. Als Beispiel nennen wir hier Thomas von Aquin. Er unterscheidet potentia activa und potentia passiva. Potentia activa ist die allmächtige, unendliche Kraft und sie ist als „Ursprung seines Wirkens auf Anderes“31 identisch mit Gott. Nur Gott ist die aktive Potenz und deshalb der reine Akt, weil die aktive Potenz im Akt als der Wirklichkeit bzw. Vollkommenheit eines Seienden gründet. Potentia passiva ist demgegenüber die Materie, vornehmlich die erste Materie (materia prima), nichts anderes also als die völlige Bestimmungslosigkeit.32 Gott ist demzufolge nicht identisch mit der potentia passiva. Thomas sieht keinen Zusammenhang der potentia passiva mit Gott. Dadurch werden aber auch Gott und Geschöpf getrennt. Die Beziehung zwischen Gott und Geschöpf wird als ein „Formgeben“ verstanden, als die Beziehung zwischen den von einander getrennten Form und Materie. Diese Gedanken sind der platonsichen Metaphysik ähnlicher als der aristotelischen. Obwohl Thomas die aristotelische Dynamis/Energeia-Lehre umformt und anwendet, vermag er dennoch die Bedeutung des Immanenzgedankens in der Metaphysik
31 Siehe ebd., S. 301-302. 32 Siehe Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (1971), S. 139-142.
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Der Possest-Gedanke des Aristoteles nicht voll zu erfassen. Daher rezipiert er dessen Lehre nur oberflächlich und verliert deren eigentlichen Gehalt. In De possest bestimmt Nikolaus von Kues die Materie der Welt oder die erste Materie als Seinsmöglichkeit (possibilitas essendi33) und posse fieri34 der Welt, das heißt als Möglichkeit des Geschaffen-Werdens der Welt. Weil Gott als possest der einzigartige Seinsgrund und die Seinsstruktur von allem ist, ist er die einzigartige Voraussetzung des Seins. Gott ist die Möglichkeit alles Werdens, ohne die nichts werden kann. Es entspricht dem Denken des Thomas, dass Cusanus die Erstmaterie auch als potentia, genauer gesagt als potentia passiva versteht. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues: Bei Thomas ist Gott nur aktive Potenz und durchaus keine passive Potenz; Bei Cusanus ist das posse passivum nicht aus Gott ausgeschlossen, sondern vielmehr in ihm enthalten. Die Materie der Welt ist immer (semper), weil sie niemals geschaffen ist. „Sie ist ungeschaffen und daher ewiger Ursprung.“35 Posse facere als posse activum und posse fieri als posse passivum setzten ein und selbe Posse voraus. Mit anderen Worten: Gottes aktives Schaffen-Können und das passive GeschaffenWerden-Können der Welt kommen aus dem selben Possest. „In quo (possest) facere et fieri sunt ipsum posse.“36 Die Einigung von posse activum und posse passivum erklärt Nikolaus von Kues anhand des Beispiels vom Schreiben37: Im Akt des Buchschreibens sind das posse passivum, nämlich das Geschriebenwerden des Buchs und das posse activum, nämlich das Schreiben zwei Aspekte ein und desselben Akts. Im Schreibenkönnen ist das Geschrieben-Werden-Können eingefaltet. Daher hat die Setzung einer von der potentia activa getrennte und außerhalb der potentia activa vorliegende potentia passiva keinen Sinn. Gott faltet das posse fieri, das posse passivum und damit die Materie in sich ein, was aber nicht bedeutet, dass Gott etwas Schlechtes in sich einschließt. Die Erstmaterie als posse passivum, als die Möglichkeit des Geschaffen-Werdens der Welt, ist kein böses Können, vielmehr hat sie eine sehr positive Bedeutung38. Gottes Schaffen ist zugleich 33 34 35 36 37 38
Siehe De possest (h XI/2 n. 28). Ebd. (n. 29). Ebd. (n. 28). Ebd. (n. 29). Ebd. Siehe GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 390.
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Hua Li untrennbar posse facere und posse fieri. Diese zwei Momente bilden zusammen Gottes Schöpferkraft und Dynamik. Außer Gott gibt es keinen anderen Ursprung vom Geschaffen-Werden-Können der Welt. Gott ist die einzigartige dynamische Seinsstruktur der Welt.
Schlussw ort In den vorausgehenden Abschnitten wurde die Reichweite des PossestGedanken entfaltet. Nikolaus von Kues vertieft sein Posse-Denken später noch in anderen Schriften, insbesondere in De venatione sapientiae und De apice theoriae. Das Posse-Denken stellt in diesen drei Werken den systematischen Kern des cusanischen Spätwerks dar. In De venatione sapientiae hebt Cusanus posse facere und posse fieri hervor und untersucht das Woraus der Welt. Posse facere und posse fieri bringen gemeinsam den dynamischen Charakter des Werdens zum Ausdruck. In De apice theoriae wird das Posse-Denken noch weiter vertieft:39 Posse ipsum erscheint hier als der zutreffendste Name für Gottes Allmächtigkeit. Es gibt keinen anderen Namen, der deutlicher, wahrer oder einfacher wäre als posse ipsum. Das Können selbst manifestiert sich in allem, es „ruft in den Straßen“.40 Der cusanische Posse-Gedanke liefert eine ontologische Grundlegung für Gottes dynamische Immanenz. Gott ist in jedem Seienden ganz und gar präsent und lebendig, so dass durch ihn jedes Seiende lebendig ist. Dadurch wird die ganze Welt zu einem zusammenhängenden lebendigen Ganzen. Das Universum ist von Gottes Leben durchgedrungen. In dieser Hinsicht nimmt Nikolaus von Kues Leibniz und Schelling, vermittelt durch Bruno, vorweg. Bemerkenswert ist auch, dass Cusanus immer Gottes Transzendenz neben dessen Immanenz betont. Das Posse-Denken ist auch eine Formulierung der Dialektik von Immanenz und Transzendenz. Gottes allmächtiges Können ist der Ursprung von allem und ist in allem, obwohl es für das Geschöpf immer unerreichbar bleibt. Die Transzendenz widerspricht der Immanenz nicht. Vielmehr kann Gott eben aufgrund seiner Transzendenz allem, was ist, immanent sein. Die Immanenz des Absoluten ist auch ein wichtiges Thema im späteren deutschen Idealis39 Siehe BRÜNTRUP: Können und Sein, S.105. 40 Siehe De ap. theor. (h XII n. 5).
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Der Possest-Gedanke mus, in dem die Dimension der Transzendenz aber immer weiter in den Hintergrund gerät.
Literatur ARISTOTELES, Metaphysik, Nach der Übersetzung von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst SeidlHamburg 1995. DERS., Physics. Trans. by R. P. Hardie and R. K. Gaye, in: The Complete Works of Aristotle, Edited by Jonathan Barnes, New Jersey 1995. BRENTANO, FRANZ, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg 1862. BRÜNTRUP, ALFONS, Können und Sein. Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von Kues, München und Salzburg 1973. DANGELMAYR, SIEGFRIED, Gotteserkenntnis und Gottesbegriff in den philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, Stuttgart 1969. DE GANDILLAC, MAURICE, Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung, Duesseldorf 1953. DE VRIES S.J., JOSEF, Zur aristotelisch-scholastischen Problematik von Materie und Form, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie. XXXII. Jahrgang, Freiburg 1957. FLASCH, KURT, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung; Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1998. GANDILLAC, MAURICE DE, Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung, Düsseldorf 1953 ODEBRECHT, RUDOLF, Nikolaus von Cues und der deutsche Geist: Ein Beitrag zur Geschichte des Irrationalitätsproblem. Berlin 1934. STALLMACH, JOSEF, Dynamis und Energeia, Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959. DERS., Sein und das Können-selbst bei Nikolaus von Cues, in: ParusiaStudien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus, Frankfurt/Main 1965, S. 407-421.
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Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus CECILIA RUSCONI Der Begriff definitio spielt bei Cusanus eine wichtige Rolle. Diese wird vor allem in einer seiner späteren Schriften hervorgehoben, nämlich: „De non aliud“, wo Cusanus schreibt, die Definition sei das, was uns vorzüglich wissen lässt – quod nos apprime facit scire –1. Im ersten Kapitel dieses Werkes wird sogar die Bedeutung des Terminus definitio erklärt. Die Definition wird von „begrenzen“ her bezeichnet, weil sie alles begrenzt.2 Definieren heißt dann eine Grenze zu setzen. Seinerseits heißt „begrenzen“, die Elemente, die nicht zu dem Definierten, sondern zum anderen gehören, wegzulassen. Alles das, was über diese Grenzen hinausgeht, kann gegenüber dem Definierten als äußerlich gelten. Einen Begriff zu definieren bedeutet dann diesen Begriff zu umschreiben. Mit anderen Worten heißt einen Begriff zu definieren, die Ausdehnung dieses Begriffes zu begrenzen d.h. seinen Anfang und sein Ende bzw. seine Grenze festzulegen. In diesem Sinne heißt Definieren ein Maß zu bestimmen.
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De non aliud (h XIII n. 3). Der Handschrift von Toledo hat als Titel „Eiusdem de non aliud ac etiam de diffinitione omnia diffinienti“. Siehe REINHARDT: Eine bisher unbekannte Handschrift mit Werken des Nikolaus von Kues in der Kapitelsbibliothek von Toledo. Zum Begriff Definition bei Cusanus siehe e.g. meinen Aufsatz RUSCONI: La definición que se define a sí misma y a todo, WYLLER: Zum Begriff „non aliud“ bei Cusanus, BEIERWALTES: Cusanus und Proklos. Zum neuplatonischen Ursprung des non aliud siehe VON BREDOW: „Non aliud“, BOBERITZ: Philosophischer Gottesbegriff bei Nikolaus Cusanus in seinem Werk. De non aliud (h XIII n. 3): A definiendo, quia omnia definit.
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Man kann diese Auffassung der Definition im Rahmen der cusanischen Erkenntnistheorie, die sich vor allem in „De mente“ befindet, verstehen. In diesem Werk behauptet Cusanus, dass die Erkenntnis auf zwei allgemeine Weisen stattfindet, nämlich (1) gemäß dem Geiste, wie er in sich lebt – mens in se subsistens – oder (2) gemäß dem Geiste, wie er im Körper ist – mens in corpore –3. Im zweiten Fall ist die Erkenntnis empirisch. Dadurch ist der Geist dazu fähig, sich dem anderen anzugleichen d.h. dem, was ihm die Erfahrung darbietet, ähnlich zu werden. Im ersten Fall ist die Erkenntnis von der Erfahrung unabhängig. Dadurch kann der Geist sich nur an sich selbst angleichen d.h. dem, was zu ihm nicht äußerlich ist, ähnlich werden. Im Folgenden werde ich den Begriff der Definition in Bezug auf beiden Weisen der Erkenntnis analysieren. Die Analyse beider Ebenen macht es erforderlich, (1) die Definition, die der Geist durch empirische Erkenntnis erlangt, zu bestimmen, und (2) die Definition, die der Geist mittels der reinen Erkenntnis bestimmen kann, zu behandeln. Da ich weiter oben die Definition als die Bestimmung eines Maßes charakterisiert habe, möchte ich, bevor ich mich auf beide Ebenen der Erkenntnis konzentriere, an einige Eigenschaften des cusanischen Begriffes von mensura erinnern. Es ist wohl bekannt, dass Cusanus in „De mente“ auf eine angebliche Etymologie hinweist, nach der der Geist – mens – von „messen“ – mensura – her benannt wird: „Der Geist ist das, woraus aller Dinge Grenze und Maß stammt.“4 Der Geist begrenzt das, dem er begegnet, damit er es als etwas Bestimmtes versteht. Im Kapitel 9 des genannten Werkes erklärt Cusanus auf folgende Weise, wie der Geist alles misst: „Der Geist macht, dass der Punkt die Grenze der Linie ist und die Linie die Grenze der Fläche und die Fläche
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De mente (h 2V n. 57): „Nam alia est mens in se subsistens, alia in corpore. Mens in se subsistens aut infinita est aut infiniti imago. Harum autem, quae sunt infiniti imago, cum non sint maximae et absolutae seu infinitae in se subsistentes, posse aliquas animare humanum corpus admitto, atque tunc ex officio easdem animas esse concedo.“ De mente (h 2V n. 57): „Puto neminem esse aut fuisse hominem perfectum, qui non de mente aliqualem saltem fecerit conceptum. Habeo quidem et ego: mentem esse, ex qua omnium rerum terminus et mensura. Mentem quidem a mensurando dici conicio.“ Vgl. De mente (h 2V n. 71): „Esto, quod mens a mensura dicatur, ut ratio mensurationis sit causa nominis.“
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die des Körpers, er bildet die Zahl, weshalb Menge und Größe aus dem Geist stammen, und daher misst er alles.“5 Diesem Text nach bildet der Geist (a) eine Reihe von Termini, die unter sich als abgrenzende und als abgegrenzte zueinander in Beziehung stehen. Diese Elemente identifiziert Cusanus hier als Punkt, Linie und Fläche: „Der Punkt ist nämlich Verbindungspunkt von Linie zu Linie oder die Grenze der Linie [...]. Und wenn der Geist jeder Hälfte einen eigenen Endpunkt zuteilte, dann hätte die Linie vier Punkte. In wie viele Teile daher die zuvor gedachte Linie vom Geist geteilt werden mag, wie viele Endpunkte jene Teile haben, so viele Punkte wird für unser Urteil die gedachte Linie haben.“6 Den Punkt zu begreifen heißt die Grenze einer Linie aufzufassen. Gleichfalls bedeutet eine Linie zu begreifen eine Grenze auszudenken, und zwar: die Grenze einer Fläche. Tatsächlich bildet der Geist die Linie, „indem er die Länge ohne Breite betrachtet, und die Fläche bildet er, indem er die Breite ohne Dicke betrachtet, obschon so weder Punkt noch Linie noch Fläche wirklich sein können, da allein der feste Körper außerhalb des Geistes wirklich existiert. So stammt jedes Dinges Maß und Grenze aus dem Geist.“7 Außer den Elementen der Geometrie bildet der Geist (b) die Zahl. Diese Behauptung befindet sich immer wieder in De mente. Man kann
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De mente (h 2V n. 116): „Mens facit punctum terminum esse lineae et lineam terminum superficiei et superficiem corporis, facit numerum, unde multitudo et magnitudo a mente sunt, et hinc omnia mensurat.“ De mente (h 2V n. 116): „Nam punctus est iunctura lineae ad lineam vel lineae terminus (...) Et si unicuique medietati mens proprium terminum tribuat, quadripunctalis linea erit. Ita per quotcumque partes praeexcogitata linea dividatur a mente, quod illarum partium termini fuerint, toto punctorum praecogitata linea esse iudicabitur.“ Vgl. auch De mente (h 2V n. 118): „Arbitror punctum terminalem indivisiblem, quia termini non est terminus. Si divisibilis foret, non foret terminus, quia haberet terminum sic non est quantus, et ex punctis non potest quantitas constitui, quia ex non-quantis composita esse nequit. PHILOSOPHUS: Concordas cum Boethio dicente: Si punctum puncto addas, nihil magis facis, quam si nihil nihilo iungas.“ Über den Punkt als Symbol bei Cusanus siehe VON BREDOW: Der Punkt als Symbol. De mente (h 2V n. 117): „Considerando longitudinem sine latitudine, et superficiem considerando latitudinem sine soliditate, licet sic act nec punctus nec linea nec superficies esse possit [...]. Sic omnis rei mensura vel terminus ex mente est.“
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zum Beispiel lesen, dass die Zahl, wie sie in die Mathematik gehört, „aus unserem Geist hervorgeht“8. Aus diesen zwei Produkten des Geistes –dem Punkt und seinen abgeleiteten Elementen einerseits und der Zahl andererseits– schließt Cusanus, dass „(weshalb) Menge und Größe aus dem Geist stammen, und daher misst er alles“9. Dieselbe Idee wird weiter unten wiederholt: „So stammt jedes Dinges Maß und Grenze aus dem Geist. Nimmst du daher den Punkt weg, so verschwindet alle Größe, nimmst du die Einheit weg, so verschwindet alle Vielheit.“10 Cusanus nennt also zwei Hauptelemente der Erkenntnis, nämlich den Punkt und die Einheit, welchen die Größe und die Vielheit entsprechen. Man fragt sich aber, warum aus der Prämisse, dass der Geist den Punkt und die Zahl bildet, Cusanus schließt, dass die Vielheit und die Größe zum Geist gehören. Dazu muss man verstehen, was die Termini multitudo und magnitudo in diesem Kontext bedeuten. Hierzu einige kurze Bemerkungen: Man muss in Betracht ziehen, dass beide Begriffe bereits in der Ideengeschichte vor Cusanus eine wichtige Rolle spielen.11 Einer langen Tradition folgend nimmt Cusanus an, dass Vielheit und Größe im De mente (h 2V n. 92): „Ex mente igitur numerus et omnia.“ Diese Behauptung wird in vielen Passagen des Werkes des Cusanus bestätigt e.g.: De docta ign. I (h I p. 13 [n. 14]): „Nam uti numerus, qui ens rationis est fabricatum per nostram comparativam discretionem [...]“; De coni I (h III n. 7): „Rationalis fabricae naturale quoddam pullulans principium numerus est […]“; De beryllo (h XI/1 n. 55): „mentem nostra, quae mathematicalia fabricat [...]“. 9 De mente (h 2V n. 116): „unde multitudo et magnitudo a mente sunt, et hinc omnia mensurat“. 10 De mente (h 2V n. 118): „Unde si tollis punctum, deficit omnis magnitudo, si tollis unitatem, deficit omnis multitudo.“ 11 Aristoteles unterscheidet in der Metaphysik zwischen Größen und Vielheiten. Die Größen entsprechen die ausgedehnten und messbaren Seiende d.h. die Körper. Die Vielheiten entsprechen im Gegenteil die diskreten und zählbaren Seiende d.h. Körpergruppen. Vgl. ARISTOTELES, Met V 13 1020a. Diese Unterscheidung wird von Nichomacos von Gerasa, und später von Boethius, neu interpretiert (60-120 d.C.).Vgl. e.g. O’MEARA: Pythagoras revived, Mathematics and Philosophy in Late Antiquity, S. 14-23; STAAB: Pythagoras in der Spätantike, S. 81ff. Über den numerus als distinctio vor allem bei Alberti vgl. GAUS: Circulus mensurat omnia, S. 437. Zu den Begriffen multitudo und magnitudo bei Cusanus vgl meinen Aufsatz: Grandeur et multiplicité.
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Rahmen des quadrivium als Wissenschaften systematisiert sind. So meint Cusanus, dass (a) die Arithmetik und die Musik den Bereich des Diskreten behandeln: „weil in Arithmetik und Musik die Kraft der Zahlen enthalten ist, woher man die Unterscheidung der Dinge hat“ – discretio rerum–12. Ihrerseits haben (b) die Geometrie und die Astronomie die Bestimmung oder Abgrenzung der Dinge zur Aufgabe, was die Lehre der Größe entfaltet, „woher das ganze Begreifen der Vollständigkeit der Dinge entspringt“13. Etwas vorher drückt sich Cusanus bündiger aus: „Durch die Lehre von der Größe hat man die Grenze für die Vollständigkeit der Dinge und das Maß wie durch die Lehre von der Zahl die Unterscheidung der Dinge.“14 Wichtig ist es auch, auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Cusanus und der Tradition hinzuweisen: bei Cusanus stellen Vielheit und Größe nicht die Dinge an sich dar, sondern vielmehr das Darlegen aller Dinge – demonstratio omnium rerum – geschieht gemäß der Kraft der einen oder der anderen.15 Müssen die Dinge bestimmt werden, um erkannt zu werden, sind also Vielheit und Größe notwendige Kategorien der Erkenntnis. Durch (a) die Vielheit kann der Geist ein Ding von den anderen Dingen unterscheiden. Durch (b) die Größe wird die Vollständigkeit des Dinges bestimmt. Dass der Geist durch diese beiden Elemente erkennt, hat als Konsequenz – so Cusanus –, dass der Prozess der Erkenntnis durch zwei Funktionen stattfindet, nämlich: (a) die divisio und (b) die definitio. Was Cusanus in diesem Kontext als Einteilung – divisio – versteht, muss man im Sinne der platonischen diairesis begreifen d.h. der dichotomischen Methode, die darin besteht, durch Gattungen zu unterschei12 Vgl. De mente (h 2V n. 127). 13 De mente (h 2V n. 127): (Die ganze Stelle lautet) „Nam quia in arithmetica et musica continetur virtus numerorum, unde rerum habetur discretio, in geometria vero et astronomia magnitudinis continetur disciplina, unde tota comprehensio integritatis rerum emanat, ideo nulli sine quadruvio philosophandum.“ 14 De mente (h 2V n. 127): „Per discilinam magnitudinis habetur terminus integritatis rerum et mensura sicut per numeri disciplinam rerum discretio.“ 15 De mente (h 2V n. 127): „Phil: Miror, si voluit omne id, quod est, esse magnitudinem vel multitudinem. Id: Nequaquam puto, sed quod omne, quod est, cadit sub magnitudine vel multitudine, quoniam demonstratio omnium rerum fit vel secundum vim unius vel alterius, magnitudo terminat, multitudo discernit.“
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den. Das Ziel eines solchen Prozesses ist es, zur Bestimmung der species zu gelangen, d.h. zu einer Definition. Diese Bestimmung ist die Vollständigkeit dessen, was man definieren will. Deshalb schreibt Cusanus, „dass die Größe dazu taugt, Grenze und Maß für die Vollständigkeit des Seins der Dinge zu erfassen“16. Zusammenfassend meint Cusanus in dem analysierten Text, dass die Begriffe der Mathematik mentale Begriffe sind, weil Vielheit und Größe mentale Begriffe sind. Punkte, Linien und Flächen bestehen nur innerhalb des Geistes. Außerhalb von ihm gibt es nur Wesenheiten, die er als Punkte, Linien und Flächen versteht, d.h. als Grenzen. Man muss beachten, dass Cusanus dennoch die Möglichkeit eines Idealismus ausschließt, da er erklärt: „Hölzer und Steine haben zwar ein bestimmtes Maß und Begrenzungen unabhängig vom unseren Geist, jedoch vom ungeschaffenen Geist her, von dem alle Begrenzung der Dinge herkommt.“17 Man darf also behaupten, dass die Dinge ein reales Maß haben und dass dadurch doch etwas außerhalb des Geistes existiert. Aber gleichzeitig erfordert die Anerkennung der Dinge als solcher, d.h. als diskreter Seiender, dass der Geist seine eigene Grenze setzt. Diese Behauptung klingt vielleicht etwas modern. Man muss aber in Betracht ziehen, dass in der Philosophie des Cusanus die vom Geist gesetzten Grenzen in gewissem Maße der wirklichen Unterscheidung der Dinge nahekommen, ohne dass dies eine These darstellt, die geprüft werden muss. Die Festigkeit und Stabilität dieses Verhältnisses liegt eigentlich auf einer Grundlage des Glaubens, und zwar: des Begriffes imago dei. Dieser Begriff stellt sicher, dass der Geist – obwohl er die Wahrheit nicht zu erkennen vermag – eine Erkenntnis der realen Dinge annähernd erreichen kann, die doch die imago der Wahrheit sein soll. Weit davon entfernt zur Verschlossenheit eines einsamen Gedankens zu führen, führt dieser Begriff zu einem Doppelsinn des Terminus „Geist“ – mens –, nämlich: der unendliche Geist, der das Maß der Dinge setzt, wo „Maß der Dinge“ den Unterscheidungen zwischen den extramentalen Dingen entspricht, und andererseits der endliche Geist, der das Maß 16 De mente (h 2V n. 126): „magnitudo vero ad comprehendendum integritatis esse rerum terminum et mensuram“. 17 De mente (h 2V n. 117): „Et ligna et lapides certam mensuram et terminos habent praeter mentem nostram, sed ex mente increata, a qua rerum omnis terminus descendit.“
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zwischen den Dingen setzt, wo „Maß der Dinge“ den begrifflichen Grenzen der Dinge entspricht. In De mente vergleicht Cusanus den Geist mit einem lebendigen Zirkel, der sich ausdehnt und zusammenzieht, „um sich bestimmten Größen anzugleichen“. So sagt Cusanus, dass „der Geist ein gewisses absolutes Maß ist, das nicht größer oder kleiner sein kann, da es nicht zu einem Quantum eingeschränkt ist, und [...] jenes Maß lebendig ist, so dass es durch sich selbst misst, gleich wie ein lebendiger Zirkel durch sich selbst messen würde [...]“.18 Der Geist kann alles Mögliche messen, weil er selbst ein gewisses absolutes Maß ist.19 Das bedeutet, dass der Geist nicht bestimmt ist. Man sagt tatsächlich „Maß“ auf zweifache Weisen, nämlich: (i) als Maßeinheit – das, was (etwas anderes) misst – z.B. ein Meter, oder (ii) als Eigenschaft eines Körpers: das Ausmaß. Der Körper spielt also die Rolle dessen, was gemessen wird. Weil der Geist imago dei ist – im Gegensatz zu den anderen Geschöpfen, die Ausfaltung Gottes – explicatio dei – sind–, ist er nur im ersten Sinne Maß.20 „Denn wie Gott die Einfaltung der Einfaltungen ist, so ist der Geist, der Gottes Bild ist, Bild der Einfaltung der Einfaltungen [...]. Und durch das Bild der absoluten Einfaltung, die der unendliche Geist ist, hat er die Kraft, mit der er sich jeder Ausfaltung angleichen kann“.21 Diese Eigenart setzt den Geist als ein lebendes Maß ein. Ein bestimmtes Maß ist entweder größer oder kleiner als die anderen möglichen Maße. Aufgrund seiner
18 De mente (h 2V n. 124): „[...] mentem esse absolutam quandam mensuram, quae non potest esse maior nec minor, cum sit incontracta ad quantum, [...] illam mensuram esse vivam, ut per se ipsam mensuret, quasi si circinus vivus per se mensuraret [...].“ 19 Hier wird unter mensura absoluta die endliche mens gemeint. Derselbe Begriff bezieht sich in anderen Texten auf die unendliche mens. E.g. De theol compl. (h X/2a n. 11): „absoluta mensura non est mensurabilis per quamcumque contractam mensuram“. 20 De mente (h 2V n. 74): „complicationis igitur unitatis aequalitas est imago, non explicatio. Sic volo mentem esse imaginem divinae mentis simplicissimam inter omnes imagines divinae complicationis“. 21 De mente (h 2V n. 74): „Sicut enim Deus est complicationum complicatio, sic mens, quae est dei imago, est imago complicationis complicationum [...]. Et per imaginem absolutae complicationis, quae est mens infinita, vim habet, qua se potest complicationis, quae est mens infinita, vim habet, qua se potest assimilare omni explicationi.“
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Fähigkeit dazu, sich an alle anzugleichen, ist der Geist weder kleiner noch größer als die anderen Geschöpfe. Die Angleichung ist aber ein Prozess, der in stärkerem oder geringerem Maße perfektioniert werden kann. Die Vervollkommung wird also nicht erreicht. Es kann deswegen keine präzise Messung geben. Im Bereich der empirischen Erkenntnis muss man eher von einer konjekturalen Erkenntnis reden. Die Mutmaßung – so Cusanus – nimmt an der Wahrheit teil. Da sie nicht die Wahrheit ist, zeigt sie immer Andersheit. Wie kann dieser Prozess im Kontext der Definition gedacht werden?
1. Die synt hetische Definition Die Definition, die aus dem Prozess der Einteilung – divisio – hervorgeht, hat notwendigerweise die Form eines Satzes, dessen Prädikat eine andere Information zu der im Begriff des Subjektes enthaltenen hinzufügt. Mit einem Terminus, der nicht zu Cusanus gehört, könnte man einen solchen Satz als synthetisch verstehen. In einem Satz wie: „Der Mensch ist ein Wesen“ wurde mittels der Behauptung des Prädikats eine Menge anderer möglicher Urteile abgelehnt, und zwar: alle diese, die dem Prädikat widersprechen. Dadurch wird das Subjekt „Mensch“ auf die Menge der Wesen beschränkt und von der Menge der Nicht-Wesen ausgeschlossen. Mit anderen Worten stellt dieser Satz ein mögliches Ergebnis der Einteilung dar. Der Prozess der Einteilung hat – anders gesagt – das Subjekt gewissermaßen abgegrenzt. Diese Abgrenzung kann nun mehr oder weniger vollkommen sein. Die Definition „Der Mensch ist ein Wesen“ behauptet, dass die Menge der Menschen zur Menge der Wesen gehört, aber es wird über die Menge der Wesen an sich gar nichts behauptet. Diese Definition hilft uns nicht dabei, zu wissen, ob die Menge der Wesen im Vergleich zu der Menge der Menschen gleich oder größer ist. Es gibt noch einige Grenzen, die wir nicht kennen. Führt man den Prozess der Einteilung weiter fort, erreicht man eine präzisere Definition, wie z. B. „Der Mensch ist ein denkendes Wesen“; damit setzt man dem Subjekt mittels der neuen Abgrenzung „denkend“ eine neue Grenze. Nun wissen wir, dass das Subjekt „Mensch“ zu einer Untermenge der Wesensmenge gehört, nämlich der Menge der denkenden Wesen. Durch diese Angabe wissen wir ebenfalls, dass der Mensch
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von der Menge der nicht denkenden Wesen ausgeschlossen ist. Natürlich wissen wir immer noch nicht, ob die Menge der denkenden Wesen gleich groß oder größer als die der Menschen ist. Je mehr der Prozess der Einteilung verfeinert wird – d.h. alle Mengen, zu denen das Subjekt nicht gehört, zu eliminieren, um die Menge, zu der das Subjekt doch gehört, abzugrenzen –, desto mehr kann die Definition präzisiert werden. Zusammengefasst bleibt in jeder Definition, die einen synthetischen Satz darstellt, immer zwischen Subjekt und Prädikat ein Unterschied. Man kann nur von einer Annäherung, die größer oder kleiner sein kann, sprechen, aber nie von Identität. Versteht man dieses Verhältnis als eine Art Messung – so wie es Cusanus vorschlägt –, muss man sagen, dass das Prädikat des Satzes das Maß – mensura mensurans – ist, womit das Subjekt d.h. das Gemessene – mensura mensurata –, bestimmt werden soll. In „De docta ignorantia“ schreibt Cusanus „dass sich nicht zwei oder mehr so ähnliche und gleiche Dinge finden, dass sich ihre Ähnlichkeit nicht ins Unendliche steigern ließe. Deshalb wird Maß und Gemessenes trotz aller Angleichung immer verschieden bleiben“22. Die Urteile des Verstandes gehören zum Bereich des Endlichen und deswegen des Abgegrenzten, d.h. dessen, was immer in Beziehung zum Anderen steht; mit cusanischen Worten: zu den Gegensätzen. Da wir nun „in den Gegensätzen ein Mehr oder Weniger finden [...], kommt man nicht zum reinen Gegenteil oder zu dem, in dem die Gegensatzglieder in genau gleicher Weise zusammentreffen“23. Das, was in einem solchen Satz dargeboten wird, ist für Cusanus allenfalls ein Verhältnis, in dem Subjekt und Prädikat eine gewisse Proportion (proportio) haben.
22 De docta ign. I (h I p. 9 [n. 9]): „patet non posse aut duo aut plura adeo similia et aequalia reperiri, quin adhuc in ininitum similiora esse possint. Hinc mensura et mensuratum, qualitercumque aequalia, semper differentia remanebunt.“ Siehe auch De docta ign. I (h I p. 61 [n. 91]): „cum mensura a mensurato necessario differat“. 23 De docta ign. II (h I p. 63 [n. 95]): „Quoniam in oppositis excedens et excessum reperimus [...] hinc ad alterum purum oppositorum non devenitur, aut in quo concurrant praecise aequaliter.“
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2. Die anal ytische Definition Die Definition eines rein mentalen Begriffes stellt auf vollkommene Weise den definierten Begriff dar. Da in diesem Fall der Geist unmittelbar Zugang zu diesem Begriff hat – d.h. intellektuell –, enthält die Definition den vollkommenen Prozess der Einteilung, ohne dass dieser diskursiv durchgeführt werden muss. Dadurch fallen der Begriff und seine Definition zusammen, weil der Begriff nichts anderes als seine Definition ist. Das bedeutet, dass Subjekt und Prädikat zusammenfallen, eben weil das Prädikat schon in der Idee des Subjektes enthalten ist. Mit anderen Worten zeigt eine solche Definition die Form eines analytischen Satzes. In einer Definition dieser Art gibt es eine volle Angleichung des Bekannten – Prädikat – an ein Unbekanntes – Subjekt – 24. Kurz gesagt ist eine solche Definition – z.B. die Definition des Kreises – präzis, d.h. weder mehr noch weniger als der definierte Kreis. In diesem Kontext können wir nun über die Definition, die in De non aliud vorgeschlagen wird, nachdenken. In diesem Werk versteht Cusanus die Definition als eine dreieinige, aus Subjekt und Prädikat mittels des Ausdrucks non aliud (quam) verbundene Struktur. So hat z. B. die Definition des Himmels die Form: „Der Himmel ist nichts anderes als der Himmel.“25 Auf den ersten Blick kann man sagen, dass genau genommen ein solcher Satz gar keine Definition darstellt. Eben weil das Prädikat keine neue Information über das Subjekt darbietet, wird dieses nicht definiert. Wussten wir nicht bereits, was der Himmel ist, wissen wir es auch jetzt nicht. Man kann aber diese tautologische Formel verstehen, wenn man in Betracht zieht, dass Cusanus in De non aliud eine formale Analyse der Definition durchführen möchte, d.h. den Begriff der Definition selbst studieren will. Im Laufe des Einteilungsprozesses werden alle Prädikate, die dem Subjekt nicht entsprechen und deshalb zum Anderen gehören, abgelehnt. Wenn die Definition das Subjekt beschränken muss und die Beschränkung ihrerseits mehr oder weniger vollkommen werden kann, gibt es also zwischen der Definition, welche die Form eines syntheti24 Vgl. De docta ign. (h I p. 6 [n. 4]). 25 De non aliud (h XIII n. 3): „[…] Sic: „quid caelum?“ responderes: „non aliud quam caelum“.“
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schen Urteiles hat, und der, welche die Form eines analytischen zeigt, keinen Unterschied der Natur nach, sondern eher einen Unterschied dem Grad nach. Dann ist die analytische Definition die Vollendung der synthetischen. Die analytische Definition ist – anders gesagt – jene, die keine neue Grenze bekommen kann. Im Grunde genommen tendiert jede nach dieser analytischen Vollkommenheit, obwohl in der Tat die Definition, die mittels der empirischen Erkenntnis gebildet wird, diese Identität zwischen Subjekt und Prädikat nie erreichen kann. Diese vollkommene Anpassung, welche die Definition in De non aliud zeigt, stellt meiner Meinung nach die cusanische Auffassung der Wahrheit eines Satzes dar. Cusanus versteht sie als „Genauigkeit“ – praecisio –. Genauigkeit ist die Benennung der Wahrheit aus der Perspektive der Messung. Im Bereich der Geschöpfe, wo es Vielfältigkeit und (deshalb) Gegensätze gibt, kann man die Wahrheit begreifen als ein Verhältnis, in dem der Unterschied zwischen Überschreitendem und Überschrittenem negiert und als „weder mehr noch weniger“ angenommen wird. Mehr und weniger sind dann die Termini, in welche die reine Erkenntnis die Alterität übersetzt. Die höchste Wahrheit ist, so Cusanus in De theologicis complementis, non aliud als carentia alteritatis26. Weiter unten im selben Werk nennt er diesen Mangel an Andersheit: inalterabilitas27. Die gleiche Charakterisierung befindet sich in dem zur gleichen Zeit verfassten Werk De visione Dei28. Es ist aber in De theologicis complementis, wo Cusanus diese Idee am besten ausgedrückt hat. So erklärt er: „Wenn Unveränderlichkeit Wahrheit bedeutet, dann nimmt diese weder mehr noch weniger an. Wenn es wahr ist, dass dieses Stück Holz zwei Füße lang ist, dann ist es weder größer noch kleiner. Die Wahrheit ist also Unendlichkeit“29. 26 De theol. compl. (h X/2a n. 2): „nam non est aliud veritas quam carentia alteritatis“. 27 De theol. compl. (h X/2a n. 2): „Veritas autem est inalterabilitas.“ 28 De vis. (h VI n. 65): „absoluta veritas est inalterabilitas“. 29 De theol. compl. (h X/2a n. 3): „Si enim inalterabilitas est veritas, tunc non recipit nec magis nec minus. Si enim verum est hoc lignum esse bipedale, tunc non est nec maius nec minus. Est igitur veritas infinitas.“ (Deutsch nach DUPRÉ III, S. 659) Cusanus schreibt nun in De mente, dass der endliche Geist „die Wahrheit der Dinge“ erreicht, wenn er als Geist an sich auf seine Unwandelbarkeit blickt. Man kann vielleicht denken, dass immutabilitas in diesem Kontext dasselbe wie inalterabilitas bedeutet, nämlich: die carentia alteritatis.
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Dass es wahr ist, dass der Holzklotz zwei Füße hat, bedeutet, dass der Holzklotz tatsächlich das Maß, das ihm zugeschrieben wird, hat. Es gibt in diesem Fall zwischen dem Maß des Holzklotzes und dem Maß, das ihm zugeschrieben wird, keinen Unterschied. Anders gesagt gibt es zwischen beiden keine Alterität. Es gibt im Gegenteil Gleichheit. Das Argument enthält jedoch noch einen weiteren Schritt: „Est igitur veritas infinitas“. Wie soll man diesen Fortschritt verstehen? Der Geist erkennt durch die Relationen der Unterschiede. Im Laufe dieses Prozesses kann man die Gleichheit nur als Aufhebung der Differenz erreichen. Die Wahrheit von etwas Bestimmtem, zum Beispiel eines Holzklotzes, ist die Negation der Differenz in Beziehung zu sich selbst bzw. die Feststellung seiner eigenen Identität. Der Ausdruck dieser Selbstidentität hat im Grunde genommen die Form: „Der Holzklotz ist nichts anders als der Holzklotz.“ Von dieser bestimmten Wahrheit aus geht Cusanus zur Wahrheit an sich über. Stellt die bestimmte Wahrheit die Selbstidentität durch die Unterschiedenheit von den Anderen dar, dann ist die absolute Wahrheit die absolute Identität durch die allgemeine Aufhebung der Differenz. Das bedeutet infinitas für Cusanus, nämlich: das Absolute30. Muss man die Wahrheit als Alteritätslosigkeit verstehen, ergibt sich also, dass die Wahrheit das Absolute ist. Die ontologische Wahrheit jedes Dinges ist nun die Teilhabe an der Wahrheit d.h. seine eigenes Absolutsein: es selbst zu sein und nicht die anderen.
Schlussbemerkung Das aenigma des non aliud stellt die Form der Definition überhaupt dar. Jede Definition tendiert zu dieser Form, obwohl sie nicht erreicht wird, solange die Erkenntnis ungenau bleibt. Diese Form, die der Zweck jeder 30 Vgl. e.g. SITTIGNANI: L’Elemento matematico applicato allo studio dell’infinito nel „De docta ignorantia“ di Nicolò Cusano; MAHNKE: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt; PEUKERT: Die Entsprachlichung der Metaphysik durch den Unendlichkeitsbegriff des Cusanus; GRELL: Mathematischer Symbolismus und Unendlichkeitsdenken bei Nikolaus von Kues; ÁLVAREZ-GÓMEZ: Die verborgene Gegenwart des Unendlichen bei Nikolaus von Kues; ENDERS: Unendlichkeit und All-Einheit. Zum Unendlichkeitsgedanken in der philosophischen Theologie des Cusanus.
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Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus
Definition darstellt, ist die vollkommene Abgrenzung eines Begriffes. Der endliche Geist hat durch die sogenannte Kraft der Größe die Fähigkeit diesen Zweck zu erfüllen, vorausgesetzt dass es sich um reine Begriffe handelt. Was die Kraft der Größe ermöglicht, ist dann das Maß d.h. die Größe des Begriffes zu bestimmen. Die vollkommene Definition ist also nicht mehr und nicht weniger als der definierte Begriff. Es gibt in diesem Sinne zwischen dem Begriff und seiner Definition keine Alterität. Vielheit und Größe, die zwei Kräfte des diskursiven Geistes, kommen durch die Einteilung und die konsequente Definition zur Anwendung. Auf diese Weise kann man die Definition als Schwerpunkt der diskursiven Erkenntnis verstehen. Die Analyse der Definition überhaupt bzw. die Analyse der Form der Definition stellt denn das wichstigste Resultat der Erkenntnis dar. Zusammenfassend kann man sagen, der Geist erkennt beim Abgrenzen. Die Abgrenzung, die er durchführen muss, bringt dennoch die Beseitigung jeder Andersheit. An diesem Punkt glaubt Cusanus, einen Durchgang zur Unendlichkeit gefunden zu haben. Ist tatsächlich das Sosein jedes Begriffes sein nichts anderes als er selbst zu sein, braucht man nur den zweiten Teil des Komparativsatzes wegzulassen, um sich ein Bild des Absoluten an sich, d.h. das Nicht-Andere überhaupt, vorzustellen.
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L’instauration métaphysique du monde humain chez Nicolas de Cues FREDERIC VENGEON Nicolas de Cues a pu être célébré comme l’Aristote des Temps Modernes ou au contraire considéré comme le dernier des esprits moyenâgeux. Je voudrais rappeler la façon dont la modernité supposée de Nicolas de Cues a pu être un enjeu historiographique, avant de montrer comment il apparaît fécond et nécessaire de situer cette œuvre dans le contexte historique et spirituel de la Renaissance du XVème siècle pour comprendre son geste singulier et sa force d’innovation métaphysique. Nicolas de Cues affirme la constitution d’un mundus humanus, dont l’homme est le deus humanus. Il tente de concilier une métaphysique de l’infini avec un humanisme de la singularité humaine par une théorie de la production de l’esprit. Cela l’amène à proposer un nouveau paradigme pour la métaphysique : le paradigme de la mesure. Celui-ci s’appuie sur les arts du quadrivium (arithmétique, géométrie, astronomie, musique) qui se substituent à l’organon logique tiré de l’aristotélisme et s’avèrent capables de théoriser la puissance constructive de l’esprit.
Le derni er des médiévaux, le premier des modernes La dimension historique de cette œuvre n’a pas tardé pour se révéler puisque dès la mort de Nicolas de Cues en 1464, son ami et secrétaire Jean-André de Bussi déclarait qu’avec lui se fermait la « media tempes-
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tas », le moyen âge. La profondeur de sa théologie, son appartenance à la tradition rhénane qui a su lire dans Proclus la puissance conférée à l’intellect par l’unité du Principe, les motifs trinitaires ainsi que la fonction centrale de sa christologie feraient de Nicolas de Cues le derniers des médiévaux. Au contraire, la valorisation de la sphère humaine, la conception d’un savoir évolutif, les thèses cosmologiques qui anticipent et à certains égards dépassent les travaux de Copernic, le projet œcuménique qui voudrait réunir les différentes religions humaines dans une religion universelle feraient de Nicolas de Cues le premier et le modèle des modernes. Parmi ses interprètes modernistes Ernst Cassirer a proposé une lecture synthétique de l’œuvre de Nicolas de Cues. Ernst Cassirer expose par deux fois la philosophie de Nicolas de Cues. Une première fois dans le premier tome du Problème de la connaissance dans la philosophie et la science des Temps Modernes1 et dans le premier chapitre d’Individu et Cosmos dans la philosophie de la Renaissance2. A chaque fois Nicolas de Cues tient une place fondatrice dans la problématique de la modernité selon Cassirer. Dans une perspective néo-kantienne, Cassirer perçoit la modernité comme un processus effectuant le passage d’une métaphysique de la substance à une théorie générale de la fonction, mettant en valeur le rôle de la subjectivité dans la constitution de la connaissance. La fonction de la connaissance et la légalité de l’esprit priment sur le réalisme de l’objet. En théorisant le rapport à la diversité sensible qui stimule l’esprit, Nicolas de Cues proposerait un idéalisme fonctionnel constituant un « tournant historique du platonisme qui conduit à Kepler et Galilée ». Cassirer a le mérite de relier les opérateurs principaux de cette pensée en montrant, par exemple, comment la docte ignorance ne se contente pas d’être un mot d’ordre sceptique ou mystique mais permet un retournement positif qui relance le désir de connaître et ouvre une théorie de la connaissance originale. Ce recentrement sur l’activité de l’esprit humain est tout à fait en accord avec le projet philosophique de l’œuvre. Cependant Cassirer interprète cette vie de l’esprit dans le cadre d’une philosophie néokantienne. Il veut y lire une activité législatrice autonome. Cela le conduit à interpréter l’activité de l’esprit comme une activité épistémologique en termes de 1 2
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CASSIRER: Das Erkenntnisproblem 1. CASSIRER: Individuum und Kosmos.
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lois universelles et à vouloir distinguer ce qui relève d’une gangue métaphysique archaïque de ce qui relève d’une saine théorie de la connaissance moderne. Ces deux conséquences nous semblent fausses. Le concept de loi de la nature n’est pas présent chez Nicolas de Cues (il ne sera d’ailleurs véritablement déterminant qu’avec la compréhension galiléenne de la physique mathématisée) : l’activité de l’esprit ne se conçoit pas pour Nicolas de Cues comme l’inscription d’un jugement dans une légalité universelle mais comme l’exercice d’une force mathématique dans l’établissement de proportions. De plus, l’anthropologie est solidaire d’une métaphysique de l’infini dont elle est inséparable aux yeux de Nicolas de Cues. A cet égard, l’idée que la modernité en général se gagne contre la métaphysique et non dans un aménagement ou une innovation de cette dernière est très contestable. Ernst Cassirer est donc amené à choisir dans la philosophie de Nicolas de Cues les éléments qui l’intéressent pour sa reconstruction de « l’ensemble complexe des présupposés qui guident notre science dans l’interprétation des phénomènes »3. Or Nicolas de Cues a un projet plus vaste, métaphysiquement ordonné, qui mérite d’être étudié pour luimême. Et nous verrons que, contrairement à l’interprétation de Cassirer, cette œuvre est féconde par sa métaphysique même. Plus récemment, Hans Blumenberg a proposé dans La légitimité des Temps Modernes4 une autre manière de théoriser la situation historique de Nicolas de Cues. Il propose une théorie des seuils : les œuvres philosophiques seraient situées sur des seuils de part et d’autre de la ligne qui sépare la modernité du Moyen Âge. Cette ligne passerait entre les œuvres et chacune serait repérable par ses coordonnées particulières vis à vis de cet axe de démarcation. Les œuvres philosophiques répondraient à des crises spirituelles qui se passeraient en quelque sorte hors d’elles et dont elles porteraient la trace à travers les résolutions qu’elles proposeraient. La modernité est une catégorie historique réflexive, puisqu’il ne s’agit pas d’une catégorie élaborée a posteriori dans des reconstructions d’historiens, mais revendiquée par des acteurs qui situent eux-mêmes leur productions dans l’histoire, avec la conscience d’innover et de se dissocier d’une période précédente. Les critères de cette démarcation entre moderne et ancien se liraient dans la conscience 3 4
Ibid. p.18. BLUMENBERG: Die Legitimität der Neuzeit.
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de se détacher d’un passé, dans l’affirmation que le savoir humain est ouvert et évolutif, dans la valorisation de l’individualité humaine et de son autonomie, enfin dans la reconnaissance d’une légalité rationnelle du réel. Selon ces présupposés, Nicolas de Cues se tient sur le seuil, il est pré-moderne. Il propose une « innovation conservatrice » destinée à restaurer le système métaphysique après la crise du nominalisme5. Selon Blumenberg, Giordano Bruno franchira le seuil en se détachant définitivement du christianisme. Nicolas de Cues, sans le savoir ni le vouloir, avancerait à proximité du seuil mais il regarde encore en direction du Moyen Âge. Si cette périodisation se veut plus subtile, elle est aussi plus floue. Le « seuil » de la modernité prend des dimensions mal définies. A certains égard, il semble que Giordano Bruno soit « de l’autre côté » du seuil copernicien (il s’affranchirait par exemple d’une assimilation mimétique au divin, et libérerait ainsi une expérience définitive du monde), mais à certains égards il est plus loin de la modernité que Nicolas de Cues (quand à la temporalité de l’esprit, par exemple). De même, Leibniz est jugé être parfois plus éloigné du seuil de la modernité que Bruno. Copernic ne joue donc pas comme une frontière définie, mais comme un axe de rupture qui demande à être développé et mis en œuvre dans une anthropologie philosophique globale. Cette lecture si précise et si pertinente laisse alors le lecteur dans une certaine perplexité : l’œuvre du Cusain est jugée par rapport à une réponse qui n’est pas la sienne (ni celle de son époque) et qui appartient finalement à un processus tâtonnant. La métaphysique classique avec sa théorie de la substance, l’idéalisme allemand avec sa christologie, le XXème siècle avec ses théologies politiques, ne répondent apparemment pas non plus
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Le nominalisme aurait détruit la confiance dans les concepts et les signes de la pensée. Il ne s’agit plus de réalités en soi ou de signes divins mais de simples signes mentaux, naturels ou conventionnels, produits par la pensée. L’homologie entre l’ordre de la pensée et l’ordre du réel est rompue. Le nominalisme laisse une pensée contingente en face d’une transcendance toute-puissante. La confiance dans la rationalité du réel a disparu. Nicolas de Cues s’attacherait, sur cette base, à reconstruire un édifice qui garantisse l’inscription de l’homme dans un réel rationnel. L’articulation de la docte ignorance à une logique de l’infini, la valorisation des productions de l’esprit humain répondraient à cette crise de rationalité qui aurait motivé son désir de restauration.
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à la conception que Blumenberg se fait de la modernité. Blumenberg risque de légitimer une modernité sas modernes.
Un aut eur renaissant Tentons au contraire d’ancrer Nicolas de Cues dans son époque, le XVème siècle, afin de mieux percevoir la singularité de son geste métaphysique. En refusant cette alternative entre Moyen Âge et modernité, il est peut être pertinent de replacer Nicolas de Cues dans son contexte historique pour comprendre comment il place la productivité de l’esprit au service de la valorisation de l’homme. Il est possible de repérer quatre grandes lignes de force historiques et culturelles qui se croisent dans la biographie de notre auteur. 1 – Nicolas de Cues reçoit d’abord une solide formation théologique et philosophique, non seulement scolastique, mais surtout néoplatonicienne. Il s’initie à une métaphysique de l’Un qui développe la puissance de l’Unité. Nicolas de Cues se situe dans l’héritage de la théologie rhénane, fortement marquée par la pensée de Proclus depuis que les traductions du dominicain Guillaume de Moerbecke l’ont rendu accessible aux latins6. La bibliothèque de Nicolas de Cues contient de nombreux manuscrits latins de Maître Eckart et constitue aujourd’hui une des sources philologiques les plus fécondes et les plus fiables. 2 – Nicolas de Cues intègre une Eglise catholique qui connaît de graves crises internes7. L’exigence d’unité se fait alors pratique et institutionnelle, dans un monde fragile qu’il faut à la fois réformer et construire. Or cette Eglise est affaiblie par de profondes divisions internes : peu après la résolution du Grand Schisme d’Occident par le Concile de Constance, le concile des évêques rentre en opposition ouverte avec le 6
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Il a traduit, en 1268, les Eléments de théologie (Elementatio theologica) et, en 1281, le Commentaire sur le Parménide de Platon. Cf. STELL: Guillaume de Moerbecke. En appendice, notes marginales de Nicolas de Cues, p.529-557. Docteur en droit de l’université de Padoue en 1423, Nicolas de Cues devient secrétaire du Légat pontifical Orsini en 1426. En 1437, il se voit confier une mission importante dans l’organisation du Concile œcuménique de Ferrare. En 1448, il est créé cardinal-prêtre au titre de Saint Pierre-ès-liens par le pape Nicolas V. Le pape lui confie une grande légation en Allemagne en 1451 et 1452. Il sera nommé Vicaire général de Rome par Pie II en 1459. Nicolas de Cues est un homme influent de l’Eglise.
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pape dès 1431 à l’ouverture du Concile de Bâle. Le conflit ira jusqu’à l’élection d’un anti-pape, Felix V, en 1439. Ce dernier n’abdiquera qu’en 1449, sous le nouveau pape Nicolas V. De plus, la crise des Hussites se déclare en Bohême; elle donnera lieu à l’organisation d’une croisade, avant que l’activité diplomatique ne parvienne finalement à la signature d’accords. Au cours de sa légation et dans les luttes pour son évêché de Brixen, Nicolas de Cues se heurte à une appropriation féodale tant des biens que des règles de l’Eglise par une aristocratie locale qui entend prendre ses distances avec Rome. D’abord partisan de la fronde conciliaire, Nicolas de Cues reconnaît les intérêts de l’Eglise dans l’unité de la fonction papale. Il sera un solide soutien pour Eugène IV et ses successeurs Nicolas V et Pie II. L’Eglise a besoin de réformes pour affirmer sa puissance et son unité. 3 – Nicolas de Cues est contemporain de la prise de Constantinople par les Turcs en 1453. Cet évènement a une signification et des conséquences à la fois géopolitiques et spirituelles considérables. La chute de Constantinople représente certes la menace très vive d’un Islam conquérant envers une chrétienté divisée. Mais il est aussi et surtout la chute de l’empire romain. En 476, seul l’Empire romain d’occident s’était rendu aux Germains. L’empire romain a perduré en Orient jusqu’au XVème siècle. Avec la prise de Constantinople, c’est donc le lien entre l’Empire et la chrétienté qui s’effondre. Aussi n’est-ce pas un hasard si les papes sont à cette même époque extrêmement attentifs aux efforts des humanistes pour redécouvrir, sous terre et dans les bibliothèques, la puissance enfouie de Rome. Cette chute peut être l’occasion d’un transfert d’Empire : la Rome catholique peut devenir le véritable centre de l’Empire chrétien, de manière à réunir non seulement les anciens empires d’orient et d’occident, mais l’humanité entière dans une pleine universalité. C’est dans ce sens que Nicolas V, lui-même humaniste, fonde la bibliothèque vaticane, commande la construction du palais du Vatican (qui devait être le plus grand palais du monde), lance une campagne de travaux à l’occasion du Jubilé de 1450 (sans doute à partir des données inscrites dans la Descriptio urbis romae d’Alberti, écrite quelques années plus tôt). C’est encore dans ce sens que Aeneus Piccolomini, ou Pie II, propose en 1461 un pacte au sultan vainqueur. Entre deux tentatives de croisades contre les turcs, il écrit une longue épître à Mahomet II pour l’inviter à se convertir au christia-
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nisme, en échange de quoi le pape légitimerait sa domination politique sur les terres conquises8. Le pape propose au sultan de devenir le glaive d’une paix chrétienne qui intégrerait un islam christianisé. C’est dans ce contexte qu’il faut comprendre le projet œcuménique de Nicolas de Cues de fonder une Eglise universelle capable d’intégrer la multiplicité des confessions. Dès l’année de la chute de Constantinople, il écrit son traité De pace fidei (La paix de la foi)9 dans lequel il met en scène de façon fictionnelle un dialogue, tenu devant Saint Pierre, entre toutes les religions du monde qui parviennent à un accord sur les points essentiels de la foi. Mais la pression des turcs a déjà motivé les Eglises d’Orient et d’Occident à se réunifier. C’était le but du tumultueux concile de Bâle ouvert en 1431, transféré à Ferrare en 1437, puis à Florence en 1439 avant de se clore à Rome en 1441. En août 1437, le pape Eugène IV envoie Nicolas de Cues en mission à Constantinople, afin d’aller chercher le patriarche d’Orient, l’empereur Jean Paléologue et les délégués de l’Eglise orthodoxe en vue d’établir l’unification des églises d’Orient et d’Occident. Font parti du voyage Marc d’Ephèse, Isidore de Kiev, Bessarion de Nicée. Sur le trajet du retour se produira l’illumination conceptuelle qui ouvre son œuvre de théologien et de philosophe : la « coïncidence des opposés » est l’opérateur théologique qui devrait permettre de reconstruire l’unité de l’Eglise. Cela montre l’intrication entre cette politique spirituelle et l’invention conceptuelle de Nicolas de Cues. Ces rapprochements œcuméniques puis la chute de Constantinople sont évidemment l’occasion d’un transfert intellectuel massif. D’éminents savants fuient l’avancée des turcs et apportent avec eux des manuscrits de patrologie grecque ou du néoplatonisme. Ces échanges seront décisifs dans l’histoire philosophique et culturelle de l’occident et expliquent en partie la vigueur du néoplatonisme renaissant. Le concile de Florence, par exemple, sera un lieu de débat intense entre le Grec Gémisthe Pléthon, l’archevêque de Nicée Bessarion, Cesarini, le médecin italien Ugo Benzi, etc., sur la nécessité de rejeter la philosophie aristotélicienne et l’importance d’amorcer une renaissance reposant sur les idées platoniciennes. Cosme de Médicis, assistant à ces
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ENEA SYLVIO PICCOLOMINI: Lettre Mahomet II. De pace fidei; trad. fr. La paix de la foi, trad. Roland Galibois, Sherbrooke 1977.
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débats, sera enthousiaste au point de demander à Pléthon de traduire les œuvres complètes de Platon. 4 – Nicolas de Cues est contemporain de l’essor intellectuel florentin, et notamment de l’invention théorique de la perspective artificielle par Brunelleschi et Alberti qui propose une théorie constructive de la représentation à partir du projet mental. Les opérations de construction, techniques ou artistiques, démontrent leur puissante rationalité et mettent en place ce que l’on pourrait appeler le paradigme de la mesure. Or Nicolas de Cues est à Florence bien avant le Concile. En 1434, en raison des graves séditions qui déchirent Rome, Eugène IV a du s’enfuir, couché au fond d’une barque, pour s’installer avec la curie papale à Florence. Son exil durera neuf ans. Brunelleschi achève la lanterne de la cathédrale Santa Maria dei Fiore, Alberti publiera bientôt son De pictura. Nicolas de Cues retrouve Toscanelli, un mathématicien cartographe avec qui il s’est déjà lié d’amitié à Padoue et avec qui il construira ce qui est considéré comme la première carte d’Europe centrale. C’est dans ce cadre que l’on peut lire le geste métaphysique de Nicolas de Cues.
Le paradigme de la mesure : l’humanisme du quadri vium Nicolas de Cues, on le sait, propose une métaphysique de l’infini qui réorganise la théologie, la cosmologie et la christologie. Tout ce qui est est compris comme la manifestation de l’Unité infinie. La pensée de Nicolas de Cues opère, un changement de paradigme décisif pour l’anthropologie. Elle propose en effet de faire reposer la théologie de l’infini et le système métaphysique non plus sur l’organon de la logique aristotélicienne, mais sur les mathématiques telles qu’à cette époque les arts du quadrivium, géométrie, arithmétique, astronomie, musique ou harmonie, les formalisent. Au delà de son œuvre de mathématicien en tant que telle10, Nicolas de Cues fait de la quantité et de la mesure, non 10 Œuvre dans laquelle Nicolas de Cues se montre d’ailleurs à certains égards en retrait par rapport à des avancées théoriques des mathématiciens du XIVème siècle. Concernant les mathématiques de l’infini au XIVème, on pourra consulter l’ouvrage paru sous la direction de BIARD et CELEYRETTE: De la théologie aux mathématiques.
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seulement le pilier de son épistémologie, mais l’opérateur principal qui commande la théologie, la cosmologie et l’anthropologie. Nicolas de Cues salue la puissance du nombre. S’il reconnaît que toute connaissance consiste bien dans une analogie, il ajoute : « le nombre embrasse tout ce qui est susceptible d’analogie. Le nombre en effet, qui produit l’analogie, se trouve non seulement dans la quantité, mais en tout ce qui de quelque façon, substantiellement ou accidentellement, peut à la fois s’accorder et différer »11. Les rapports de proportionnalité, produits par la puissance du nombre, fondent celle de l’analogie. Le nombre ne concerne plus seulement le traitement de la quantité pure, il permet de décrire rigoureusement toutes les complexités qui intègrent du même et de l’autre. Dans le De mente, en 1450, Nicolas de Cues ira encore plus loin en affirmant que l’esprit est « un nombre divin vivant »12. C’est en tant que nombre ou compas vivant que l’esprit délimite une région proprement humaine. L’esprit humain est une force mathématique qui dresse des cartes et des plans13, qui établit des tableaux de proportions pour connaître l’univers qui l’entoure14. La connaissance de l’univers repose sur les arts du quadrivium, qui remplacent les catégories de la logique aristotélicienne. « Dans la création du monde, Dieu a fait usage de l’arithmétique, de la géométrie, de la musique ainsi que de l’astronomie, arts que nous utilisons aussi lorsque nous cherchons les proportions des choses, des éléments et des mouvements »15. Nicolas de Cues envisage alors un programme de mesure systématique du poids des êtres naturels, à l’aide d’une balance, de manière à pouvoir lire l’altération des qualités dans des tables de variations quantitatives16. Les arts du quadrivium deviennent les disciplines de la physique. Des approximations mathématiques, indéfiniment perfectibles, constituent une connaissance désormais en mouvement.
11 De docta ign. I, 1. 12 De mente, cap. VII; trad. fr. M. de Gandillac: De la pensée, in Ernst Cassirer, Individu et cosmos dans la philosophie de la Renaissance, trad. fr. P.Quillet, Editions de Minuit, Paris, 1982, p. 266. 13 Cf. la figure du cosmographe dans le Compendium. 14 Cf. le programme exposé dans le De staticis experimentis. 15 De docta ign. II, 13. 16 De stat. exp.; trad. fr. M. de Gandillac, Des expériences pondérales, in Œuvres choisies de Nicolas de Cues, Paris 1942.
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C’est encore l’infini, détermination problématique de la quantité, qui organise la cosmologie et la théologie. La structure générale de l’univers est comprise comme une contraction de l’infinité divine. De nature théophanique, l’univers est conçu comme la manifestation de l’unité infinie dans la diversité. Il est un infini privatif, c’est-à-dire un infini en puissance : fini en acte, il peut être rendu aussi grand que le veut la puissance créatrice. En conséquence, il ne connait ni centre ni circonférence mais déploie une totalité homogène, dans laquelle chaque point est un centre potentiel. Il est également constitué d’une infinité de gradations qui permettent des transitions sans rupture entre les lieux et entre les espèces. Les différences qualitatives reposent sur des variations quantitatives17. Cette conception perspectiviste et variationnelle d’un univers infini abolit définitivement le cosmos aristotélicien. Cependant, Nicolas de Cues distingue avec force le nombre divin et le nombre humain. Il n’y a pas une mathématique univoque mais des mathématiques humaines, divines et naturelles. Les mathématiques humaines, ou rationnelles, ne sont pas capables d’atteindre la puissance des mathématiques divines qui coïncident avec l’infini en acte. La mesure de l’esprit humain n’est qu’approximative, elle est n’est pas capable de produire une mesure précise, qui s’égale parfaitement à ce qu’elle mesure. La docte ignorance érige en principe pour le savoir cette incommensurabilité de l’infinité divine. L’impossibilité de connaître avec précision la vérité fait du savoir humain un savoir conjectural. La docta ignorantia ouvre l’ars coniecturum. La docte ignorance, et ce point est capital, ne mène pas à une connaissance affective ou à un silence mystique, elle s’articule à un savoir productif, théorisé dans l’art des conjectures. L’art des conjectures allie noétique et technique. Il est l’art par lequel l’esprit humain produit son monde de notions, distinct de la nature et du Principe divin. L’esprit humain est producteur, il produit ses connaissances, il produit les mesures par lesquelles il organise et administre son monde. Il fait de l’homme un second dieu : Quatrièmement, prête attention à l’affirmation d’Hermès Trismégiste : l’homme est un second Dieu. Parce que de la même manière que Dieu est le créateur des êtres réels et des formes naturelles, l’homme est le 17 De docta ign. III, 1.
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créateur des êtres rationnels et des formes artificielles. Celles ci ne sont rien d’autre que des similitudes de son intellect, tout comme les créatures de Dieu sont des similitudes de son intellect divin. Ainsi l’homme 18 a un intellect, qui est une similitude de l’intellect divin, en créant .
Les arts du quadrivium sont des arts de la construction et de l’édification qui permettent des conjectures rigoureuses. Toute connaissance est une construction, la noétique est indissociable d’une technique. L’esprit humain produit sa connaissance et ce sont ces arts mathématiques qui règlent la construction de sa représentation du monde et de lui même. L’esprit est artisan, comme l’exprime le personnage conceptuel du Profane dans le De mente. L’esprit humain déploie le monde humain, selon des relations de complicatio et d’explicatio. L’art des conjectures allie une dimension proclusienne de la productivité propre au nombre au relativisme rationnel de la perspective artificielle. L’esprit humain détient un point de vue sur l’univers et sur Dieu. Mais ce point de vue est une construction, ce n’est pas un relativisme passif et irrationnel, c’est celui de l’élaboration rationnelle elle-même, qui se sait limitée et est appelée à se dépasser dans la vision intellectuelle de la coïncidence des opposés. Cette dimension constructive de la représentation est essentielle dans la métaphysique de Nicolas de Cues. C’est elle qui permet d’intégrer le monde humain dans une métaphysique de l’infini. Elle sou-tend la hardiesse et le sens spirituel des conjectures théologiques que propose Nicolas de Cues19. Ce constructivisme spirituel fonde le projet de la paix des conjectures du De pace fidei sur une christologie ouverte à l’universalité de l’humanité. Il nous semble donc que c’est cette métaphysique à double foyer, dans l’articulation du premier et du second dieu qui fait la force de la pensée de Nicolas de Cues. La métaphysique expressive de l’infini qu’il transmet, directement ou non, à la métaphysique classique (que ce soit à Charles de Bovelles, à Giordano Bruno, Descartes, Spinoza, Pascal, Malebranche, Leibniz) porte un problème : comment intégrer la différence humaine au sein d’un monisme strict? Nicolas de Cues y 18 De beryllo, chap. VI, cf. Dupré, Bd 3, p. 8. 19 Nous pensons par exemple au dispositif pictural du De visione dei, ou à celui de la banque ontologique du De Ludo globi.
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répond en articulant l’art des conjectures à la docte ignorance, c’est-à-dire en alliant technique et noétique au sein d’une métaphysique de l’infini. Cette distinction entre les deux puissances du nombre, humaine et divine, tendra à s’effacer avec les succès de la science galiléenne. Vico saura retrouver l’enseignement du cusain lorsque, voulant s’émanciper de l’épistémologie cartésienne, il théorisera la nouvelle convertibilité du verum et du factum20 en affirmant que l’homme ne peut connaître la nature en elle même, mais seulement les productions de sa mens.
Références BIARD, JOËL ; CELEYRETTE, JEAN (éds.), De la théologie aux mathématiques. L’infini au XIVème siècle, Sagesses médiévales, Les Belles Lettres, Paris, 2005. BLUMENBERG, HANS, Die Legitimität der Neuzeit, Suhrkamp (3e éd. 1997) ; La légitimité des temps modernes, trad. fr. [à partir de la 2è éd.] Marc Sagnol, Jean-Louis Schlegel et D. Trierweiler, avec la collaboration de M. Dautrey, Gallimard, Paris. CASSIRER, ERNST, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Tome 1. Berlin 1906 ; Le Problème de la connais-sance dans la philosophie et la science des Temps modernes t. 1. De Nicolas de Cues à Bayle. Paris 2004. DERS., Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig, Teubner, 1927 ; Individu et Cosmos, trad. Pierre Quillet. Paris, Minuit, 1983. ENEA SYLVIO PICCOLOMINI (PAPE PIE II), Lettre Mahomet II, traduction et présentation de Anne Duprat Payot&Rivages, Paris 2002. STELL, CARLOS G., Guillaume de Moerbecke; Nicolas de cusa - Commentaire sur le Parménide de Platon / Proclus ; traduction de Guillaume de Moerbeke ; édition critique par Carlos Steel, Louvain ; Leiden : Univ. Press ; E. J. Brill. 2 tomes : 1982,1985. Coll. « De Wulf-Mansion Centre. Ancient and medieval philosophy. Series 1 », 3-4 [2176]. VICO, De l’antique sagesse de l’Italie, chapitre I: Du vrai et du fait, trad. Jules Michelet, GF-Flammarion, Paris 1993.
20 VICO: De l’antique sagesse de l’Italie, p.71.
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Mathematik und Perspektivität bei Cusanus und Alberti SILVIO AGOSTA Mögliche biographische Berührungspunkte zwischen Nikolaus von Kues und Leon Battista Alberti1 legen es nahe, auch nach inhaltlichen Bezügen zu suchen2. In den Bereichen Mathematik und Perspektivität
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Bereits SANTINELLO: Niccolò Cusano e Leon Battista Alberti, hat auf mögliche Berührungspunkte hingewiesen. Vgl. ebd., S. 147-149: 1. Die Kontakte beider zum apostolischen Stuhl, woraus Gelegenheiten für eine mögliche Begegnung folgen: Die Konzilien in Ferrara und Florenz (1438-1439), das Jubiläum in Rom 1450 und die häufigen Aufenthalte in Rom zwischen 1459 und 1464. 2. Berührungspunkte über den gemeinsamen Freundeskreis: Tommaso di Sarzana, Niccolò Albergati, Ambrogio Traversari, Pius II, Paolo del Pozzo Toscannelli und Giovanni Andrea de Bussi. Zwischen Alberti und Toscanelli habe eine innige Freundschaft bestanden (Verweis auf MANCINI: Vita di Leon Battista Alberti, S. 164). Dies sei – darauf weist Santinello ausdrücklich hin – auch hinsichtlich der inhaltlichen Bezüge mit mathematischem Hintergrund bedeutsam. An de Bussi habe Alberti De statua, und wohl auch De pictura und Elementa picturae geschickt. Cusanus besaß eine Handschrift der Elementa picturae (Codex Cusanus 112, fol. 67r-73r; vgl. MARX: Verzeichnis der Handschriftensammlung, S. 110). De Bussi tauche andererseits als Gesprächspartner in De possest und De non aliud auf und sei lange Jahre dem Cusaner sehr nahe gewesen (SANTINELLO: Nicolò Cusano e Leon Battista Alberti, S. 148f.). Neueren Datums stellte MÜLLER: Der „Florentiner Stammtisch”, mögliche Verbindungen des Cusaners zum „Florentiner Stammtisch“ und Alberti zusammen. So z.B. FEDERICI-VESCOVINI: Nicholas of Cusa, Alberti and the Architectonics of the mind, CUOZZO: Bild, visio und Perspektive. Cusanus und L.
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lassen sich solche Berührungspunkte vermuten. Werden für einen Vergleich mit Cusanus Albertis Malereitraktat De pictura (1435/36) sowie De statua (1434?) und Elementa picturae (ital.1435/36; lat. 1450-55) zugrunde gelegt3, erweisen sich jedoch die Unterschiede als größer und grundsätzlicher als erwartet4.
I. Leon Battista Al berti 1. Von den mathematischen Formen zu den Elementen der Malerei In De pictura findet sich die folgende Charakterisierung der Mathematik: „Jene nämlich, die Mathematiker, messen die Dinge bezüglich ihres Aussehens und ihrer Gestalt allein mit dem Verstand und trennen alles Stoffliche ab.“5
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B. Alberti, DERS.: „Ludus globi“ und „Ludus vitae“ und FILIPPI: Im Zeichen des Timaios: Cusanus, Alberti, Dürer. Zur Interpretation dieser drei Schriften vergleiche BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 9-140. Zur Datierung der Schriften vgl. ebd., S. 26-31. Eine gewisse Nähe der beiden Denker könnte sich bei einer vergleichenden Untersuchung von Albertis Ludi mathematici und De staticis experimentis des Cusaners ergeben, die beide 1450 in Rom verfasst wurden. Vgl. hierzu MÜLLER: Der „Florentiner Stammtisch“, Anm. 28, S. 104. Bereits S ANTINELLO: Leon Battista Alberti, S. 174, hat die zeitliche Nähe der beiden Schriften als möglichen Hinweis auf eine Beziehung von Alberti und Cusanus gedeutet. Ebd., S. 175, sieht Santinello vor allem die Mathematik als das gemeinsame Terrain der beiden Denker an: „Il terreno d’incontro fra i due grandi umanisti era la matematica.“ Santinello stützt diese These mit einem Hinweis auf die Nähe von Albertis De lunarum quadratura zur cusanischen Kreisquadratur (vgl. ebd.). Siehe hierzu auch MÜLLER: Möndchenquadratur. Die Frage nach Nähe oder Ferne der beiden Denker entscheidet sich jedoch – trotz der Parallelen im mathematischen Bereich – letztlich an dem Verhältnis von Metaphysik und Naturalismus. Cuozzo sieht in seinem Aufsatz Ludi mathematici, der bei der Erstellung dieses Vortrages nicht mehr berücksichtigt werden konnte, entgegen der hier vertretenen These bei Alberti und Cusanus eine größere inhaltliche Nähe. De pictura, I, 1: „Illi enim solo ingenio, omni seiuncta materia, species et formas rerum metiuntur.“ Die Werke Albertis werden zitiert nach der Aus-
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Die Mathematik liefert die Beschreibungen der Formen und Gattungen der Dinge, und diese scheinen Alberti als Prinzipien der Natur6 zu gelten. Anders ausgedrückt: Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist mathematisch strukturiert, die Dinge durch mathematische Prinzipien geformt, und die Mathematiker legen diese Tiefenstruktur der Welt frei. Ingenium – der Verstand – ist das Vermögen, mit dem dies bewerkstelligt wird. Alberti interessiert sich allerdings weniger für diese abstrahierten Formen. Nicht als Mathematiker schreibt er sondern als Maler7: „Ich dagegen, als Maler, werde mich beim Schreiben an eine (wie man sagt) ‚handfestere Minerva‘ halten: schließlich will ich ja, dass die Sache tatsächlich zur Anschauung gelangt.“8
Nicht das rein Formale der Dinge, mit dem sich die Mathematiker beschäftigen, will Alberti betrachten, sondern wie die Dinge in der Anschauung – sub aspectu – erscheinen. Das, was von den Dingen sichtbar ist, interessiert ihn, nicht das Unsichtbare: „Was aber dem Blick nicht zugänglich ist, geht nach allgemeinem Einverständnis den Maler nichts an. Denn nur das bemüht sich der Maler nachzuahmen, was bei Lichte in Erscheinung tritt.“9
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gabe von Bätschmann und Schäublin sowohl bezüglich des lateinischen Textes als auch bezüglich der deutschen Übersetzung. De pictura, I, 1: „In der kurzen Abhandlung, die ich hier zu schreiben beginne, soll es um die Malkunst gehen. Um freilich meinen Darlegungen zu größerer Klarheit zu verhelfen, werde ich zunächst bei den Mathematikern mir das holen, was offenbar mit dem Gegenstand zu tun hat. Sind diese Voraussetzungen einmal erkannt, dann gedenke ich, im Rahmen meiner Fähigkeiten die Malkunst so darzustellen, dass ich von den eigentlichen Grundlagen ausgehe, die in der Natur enthalten sind.“ Der lateinische Text lautet: „De pictura his brevissimis commentariis conscripturi, quo clarior sit nostra oratio, a mathematicis ea primum, quae ad rem pertinere videbuntur, accipiemus. Quibus quidem cognitis, quoad ingenium suppeditabit, picturam ab ipsis naturae principiis exponemus.“ De pictura, I, 1: „Doch ersuche ich mit Nachdruck darum, bei allen meinen Erörterungen im Auge zu behalten, dass ich mich nicht als Mathematiker, sondern als Maler über diese Dinge äußere.“. Der lateinische Text lautet: „Sed in omni nostra oratione spectari illud vehementer peto non me ut mathematicum sed veluti pictorem hisce de rebus loqui.“ De pictura, I, 1: „Nos vero, quod sub aspectu rem positam esse volumus, pinguiore idrico, ut aiunt, Minerva scribendo utemur.“
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Nicht wie sich die Form dem reinen Verstand zeigt, sondern wie sich geformte Materie dem Auge zeigt und nachgeahmt werden kann, steht für Alberti im Zentrum. Da es sich um geformte Materie handelt, ist sein Ausgangspunkt die Mathematik, die sich mit diesen Formen beschäftigt, aber nur insofern sind sie für ihn von Interesse, wie sie sich in der wahrnehmbaren Materie zeigen und durch den Maler darstellen lassen und nicht in ihrer Loslösung von der Materie. Dies zeigt sich auch in Albertis Umdeutung mathematischer Konzepte: „Zuallererst muss man wissen, dass ein ‚Punkt‘ ein Zeichen ist, das sich sozusagen überhaupt nicht in Teile zerlegen lässt. ‚Zeichen‘ nenne ich in diesem Zusammenhang alles, was sich so auf einer Fläche befindet, dass es mit dem Auge wahrgenommen werden kann.“10
Die mathematischen, formalen Prinzipien der Natur werden von Alberti insofern betrachtet, als sie sich in geformter Materie sichtbar zeigen, und in für den Maler handhabbare Elemente umgedeutet, mit denen der Maler sichtbar geformte Materie auf der Leinwand nachahmen kann. So wird etwa der mathematische Punkt in der Malerei zur kleinsten durch die Hand des Künstlers realisierbaren Einheit11. Es sei hier auch auf die malerischen Umdeutungen der mathematischen Konzepte Linie, Fläche und Körper in Elementa picturae verwiesen12. 9
De pictura, I, 2: „ Quae vero intuitum non recipiunt, ea nemo ad pictorem nihil pertinere negabit. Nam ea solum imitari studet pictor quae sub luce videantur.” 10 Ebd.: „Itaque principio novisse oportet punctum esse signum, ut ita loquar, quod minime queat in partes dividi. Signum hoc loco appello quicquid in superficie ita insit ut possit oculo conspici.“ 11 Vgl. die mathematische Definition des Punktes und ihre Umdeutung in Elementa picturae, A: „Punctum dicunt esse quod nullas queat in partes dividi.“ und ebd., C: „Punctum esse dico in pictura pusillam atomi persimilem inscriptionem, qua nulla uspiam fieri manu possit minor.“ 12 Vgl. Elementa picturae, A-C. Vgl. BÄTSCHMANN, et. al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 60: „In den Elementa Picturae und in De Pictura führte Alberti die mathematischen Definitionen in anschauliche Vorstellungen über.“ und ebd., S. 26: „Das mathematische Fundament behebt den Makel der unbegründeten künstlerischen Praxis und bereitet die Grundlage für eine reflektierte Tätigkeit.“. Zur kunsthistorischen Bedeutung dieser wissenschaftlichen Fundierung der Malkunst durch Alberti als „radikalen Wandel im künstlerischen Selbstverständnis“ vgl. ebd., S. 59.
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2. Mathematische Analyse und Perspektivität des Blicks Dem Blick des Betrachters bietet sich ein Körper mit seiner Oberfläche dar13. Sie ist es, die den Wahrnehmungseindruck bestimmt. Nun kennt Alberti Beschaffenheiten [qualitates] von Flächen, die dem Betrachter mit der Veränderung seiner Position oder durch die Veränderung von Lichtverhältnissen als verändert erscheinen, obwohl die Fläche sich selbst nicht verändert14. Zu den veränderlichen Beschaffenheiten zählt er Größe, Farbe und den geometrischen Umriss der Fläche (Saum). Wie also die Dinge in der Wahrnehmung – sub aspectu – erscheinen, hängt von der Position des Betrachters ab. Daraus dass Größe, Farbe und Saum mit dem Blick gemessen [intuitu metimur]15 werden und die Fläche selbst sich nicht verändert, schließt Alberti, dass die Veränderungen in der Wahrnehmung mit der Art und Weise der Wahrnehmung durch das Auge des Betrachters zusammenhängen müssen. Alberti erklärt dies mithilfe der Theorie der Sehpyramide. Man stelle sich Strahlen vor, die vom Auge auf ein Objekt treffen. Diese Sehstrahlen bündeln sich in einem Punkt im Auge – dort, „wo der Sehsinn seinen Sitz hat“16. Sie treffen auf die Oberfläche des wahrgenommenen Objekts, vermessen dieses dadurch und prägen dem Sinn die Abbilder der Dinge auf17. Aus dieser Vorstellung ergibt sich die geometrische Struktur einer Pyramide, die durch die äußeren Strahlen und die Oberfläche als Grundfläche der Pyramide gebildet wird. Berücksichtigt man nur zwei Sehstrahlen, erhält man eine Dreiecksfigur [triangulum visivum]18, deren Spitze mit dem sogenannten Sehwinkel [angulus visivus]19 im Auge liegt. Durch je zwei Sehstrahlen werden Abstände zwischen zwei 13 Zur Bedeutung der Oberfläche und zur Theorie der Sehpyramide vgl. BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 62-63. 14 Vgl. De pictura, I, 2. Siehe auch De pictura, I, 5: „Denn sie erscheinen dem Betrachter verschieden je nachdem, ob eine Änderung bezüglich des Ortes oder des Lichtes vorgenommen worden ist.“ Der lateinische Text lautet: „[...] nam aut loco aut luminibus mutatis tamen variatae intuentibus videntur.“ 15 Vgl. De pictura., I, 5. 16 Ebd.: „... ubi sensus visus consideat ...“. 17 Ebd.,: „... per eos rerum simulacra sensui imprimantur.“ 18 De pictura, I, 6. 19 Ebd.
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Punkten auf der Fläche gemessen. Mehrere Sehdreiecke zusammen vermessen die Größenverhältnisse auf der Oberfläche. Je weiter entfernt der Betrachter sich befindet, umso spitzer ist der Winkel und umso kleiner erscheinen Entfernungen zwischen Punkten auf der Fläche. Der Sehwinkel im Auge des Betrachters beeinflusst also die wahrgenommenen Größenverhältnisse auf der Fläche20. Die äußeren Sehstrahlen einer Sehpyramide vermessen diese Größenverhältnisse und die Form des Saumes, d.h. den Umriss oder die geometrische Form eines Flächenelementes21. Die inneren Strahlen treffen auf die gesamte Grundfläche und messen die Farben der angeschauten Oberfläche. Auch der Farbeindruck ist vom Abstand abhängig, da mit größerem Abstand die Farben fahler und schwächer werden22. Die Winkel aller Sehdreiecke stehen in Relation zum sogenannten Zentralstrahl [radius centricus]23. Der Zentralstrahl bestimmt deshalb maßgeblich den Gesamteindruck, da alle anderen Größenverhältnisse von seiner Position abhängen: „(ich halte es in der Tat für hinlänglich bewiesen): Wenn einerseits der Abstand, anderseits die Stellung des Zentralstrahls sich verändern, erscheint die Fläche selbst verändert; denn sie wird sich dem Blick entweder kleiner oder größer darbieten – oder schließlich eben verändert entsprechend der gegenseitigen Übereinstimmung der Linien und der Winkel. Die Stellung also und die Erstreckung des Zentralstrahls tragen sehr viel zur Bestimmtheit des Sehens bei.“24
20 Vgl. ebd.: „Da also der ‚Sehwinkel‘ sich im Auge befindet, hat man die folgende Regel ableiten können: je spitzer der Winkel im Auge sei, desto kürzer erscheine das Größenverhältnis.“ Der lateinische Text lautet: „Cum igitur in oculo consistat angulus visivus, regula deducta est haec: quo videlicet acutior sit in oculo angulus, eo quantitatem breviorem apparere.“ 21 Vgl. De pictura, I, 6-7. 22 Vgl. De pictura, I, 7. 23 Der Zentralstrahl gilt Alberti als der „durchdringendste und lebenskräftigste“ [acerrimum et vivacissimum], der „‚Herr‘ der Strahlen und deren ‚Fürst‘“ [dux radiorum et princeps]. Vgl. hierzu: De pictura, I, 8. 24 De pictura, I, 8: „[...] hoc ita esse quod quidem satis demonstratum puto: intervallo scilicet centricique radii positione mutatis illico superficiem alteratam videri. Nam ea quidem aut minor aut maior aut denique linearum et angulorum inter se concinnitate immutata apparebit. Centrici ergo positio distantiaque ad certitudinem visus plurimum conferunt.”
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3. Konstruktion des Bildes: Zusammenspiel von mathematischen Verfahren und Naturbeobachtung Alberti definiert das Bild als Schnitt durch eine Sehpyramide25. Der Maler muss sich das Bild so vorstellen, als ob die Sehpyramide wie durch Glas oder wie durch ein „offenstehendes Fenster“26 hindurchginge. „[U]nter der Führung der Natur“27 muss der Maler die Spitze der Sehpyramide berücksichtigen, von der auch der Zentralstrahl ausgeht, um die Flächen auf dem Bild so wiedergeben zu können, dass sie einem Schnitt durch eine Sehpyramide entsprechen. Unter der Führung der Natur, d. h. im Abgleich mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt, muss das Bild gestaltet werden. Mathematische Analyse und Naturbeobachtung sind notwendig, um ein Bild zu schaffen, das den Blick auf eine scheinbar natürliche Szene eröffnet. Der Künstler legt den Schnitt der Sehpyramide fest, indem er ein Rechteck auf die zu bemalende Fläche zeichnet, das ihm als offenes Fenster dient, durch das die Szene [historia] betrachtet wird. Dann trägt der Maler das innere Maß des Bildes ein, d.h. er legt die Größe der Menschen fest28. Hier ist eine Ergänzung zur oben beschriebenen Perspektivität bei Alberti zu sehen. Die Grö25 Zu Albertis Definition des Bildes vgl. BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 63-65. 26 De pictura, I, 19: „[...] aperta fenestra [...], ex qua historia contueatur […]”. 27 De pictura, I, 12: „Wenn sie eine Fläche mit Linien umgeben [...] geht es vor allem darum, dass auf dieser einen Fläche mehrere Gestalten von Flächen dargestellt werden – nicht anders, als wenn die betreffende Fläche [...] ganz aus Glas und durchsichtig wäre, von solcher Art, dass die Sehpyramide insgesamt durch sie hindurchginge, und zwar aus einem bestimmten Abstand und bei einer bestimmten Stellung des Zentralstrahls und des Lichtes [...]. Dass dies sich genau so verhält, geben die Maler dann zu erkennen, wenn sie von dem, was sie malen, zurücktreten und einen gewissen Abstand nehmen; dabei suchen sie eben, unter der Führung der Natur, die Spitze der Pyramide, von wo aus alles – wie sie dann merken – richtiger wahrgenommen wird.“ [Hervorhebung von mir] Aus Platzgründen wird lediglich der hervorgehobene Satz im lateinischen Wortlaut wiedergegeben: „Quod ipsum ita esse demonstrant pictores dum sese ab eo quod pingunt ammovent longiusque consistunt natura duce cuspidem pyramidis quaeritantes unde omnia rectius concerni intelligunt.“ [Hervorhebung von mir.] 28 De pictura, I, 19. Zur Bildkonstruktion bei Alberti vgl. BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 66-67.
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ßenverhältnisse im Bild sind auf den Menschen als bestimmendes Maß der Dinge bezogen29. Schließlich wird die Lage des Zentralpunktes, d.i. der Punkt, auf den der Zentralstrahl gerichtet sein soll 30, konstruiert. Alberti wendet sich dabei gegen ein Verfahren, bei dem Konstruktionslinien zufällig ins Bild eingetragen werden 31. Die Festlegung des Zentralpunktes und der Verhältnisse auf dem Gemälde ergeben sich aus mathematisch-geometrischen Konstruktionsverfahren, an die der Maler gebunden ist. Das Bild entsteht unter der Führung der Natur, d.h. unter strenger Beachtung der mathematischen optischen Prinzipien der Natur und einem Abgleich mit der Naturbeobachtung. Die Nachahmung der Natur geschieht nach mathematischen Regeln32. 29 In De pictura, I, 18 zählt Alberti zunächst eine Reihe von Eigenschaften auf, die, wie er sagt, nach Meinung der Philosophen durch Vergleich ermittelt werden. Hierzu zählt er „Groß, Klein, Lang, Kurz, Hoch, Tief, Breit, Schmal, Hell, Dunkel, [Beleuchtet], Verfinstert“ [ebd.]. Der Ausgangspunkt für den Vergleich stelle das dar, das am besten bekannt ist, und das sei für den Menschen der Mensch selbst. Der Mensch sei deshalb das Maß der Dinge. 30 De pictura, I, 19. 31 Vgl. v.a. ebd.: „Weil sie nämlich die erste der Linien[...] rein zufällig ansetzen, verfügen sie, obwohl die übrigen Linien in einem mathematischen Verhältnis sich anschließen, trotzdem über keinen bestimmten Ort für die Spitze [der Pyramide], von wo der Blick gut ausgehen könnte. Als Folge davon schleichen sich auf dem Gemälde Irrtümer ein [...].“ Der lateinische Text lautet: „[...] quod cum casu primam aequedistantem lineam posuerint, tametsi caeterae aequedistantes lineae ratione et modo subsequantur, non tamen habent quo sit certus cuspidis ad bene spectandum locus. Ex quo [...] in pictura errores facile succedunt.“ Siehe auch BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 66-67. 32 Vgl. BÄTSCHMANN et. al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 72: „Durch Alberti wurde die angewandte euklidische Geometrie die wissenschaftliche Basis der Malkunst.“ Dafür ist ingenium unerlässlich. Alberti wendet sich deshalb gegen eine Malerei, die ohne verstandesmäßige Durchdringung arbeitet. Vgl. z.B. De pictura, III, 59. Dort tadelt Alberti diejenigen Künstler, die sich ihr Vorhaben „nicht zuvor ihrem Sinn durch eifriges Bemühen durchsichtig gemacht haben“ (ebd.). Diese „ertasten [...] mit dem Pinsel, wie ein Blinder mit dem Stock, ihnen unbekannte Pfade“. Alberti mahnt deshalb an, ein Künstler müsse einen wohl gebildeten Verstand besitzen: „Also: nur dann, wenn der Geist [ingenium] zuvor den Weg erkundet hat – und zwar ein wohl gebildeter Geist –, darf man die Hand an das Kunstwerk legen.“ An früherer Stelle hatte Alberti bereits von einem Maler gefordert, dass er in den artes liberales und vor allem in der Geometrie gut ausgebildet sein soll. De pictura, III, 53: „Doctum vero pictorem esse opto, quoad eius fieri possit, omnibus in artibus liberalibus, sed in eo praesertim geo-
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Der erste Schritt bei der Bildherstellung ist die Umschreibung [circumscriptio]. Dabei werden die Verläufe der Flächen im Bild mit Blick auf die Spitze der Sehpyramide (durch Linien) festgelegt. Als Hilfsmittel für die fehlerfreie Konstruktion empfiehlt Alberti die Verwendung eines Tuches [velum], „das [...] in eine beliebige Anzahl von parallelen Quadraten eingeteilt und über einen Rahmen gespannt“33 werden soll. Bei der Konstruktion der Oberflächenverläufe soll wiederum das Vorbild der Natur zur Orientierung dienen: „Nun ist es aber so, dass unerfahrene Maler sehr oft im Zweifel und unsicher sind bezüglich der Säume der Flächen .... Nun, es ist die Natur, welche die schönste Anschauung vermittelt.“34
Nicht nur für die stimmige optische Konstruktion sondern auch für die Schönheit ist die Umschreibung notwendig. Ebenfalls grundlegend für die Schönheit eines Bildes ist der zweite Schritt der Bildherstellung: die Komposition35. Sie besteht darin, dass die „Teile zu einem Werk der Malerei zusammengefügt“36 werden. Die Komposition von Flächen ist dabei der grundlegende Baustein für die übergeordneten Kompositionen der Glieder, der Körper und schließlich der historia37. Aus der geeigneten Anordnung
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metriae peritiam desidero.“ Siehe auch die abweichende Interpretation des ingenium-Begriffs als „Erfindungskraft“ durch Bätschmann et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 73. De pictura, II, 31: „[...] velum [...] in parallelas portiones quadras quot libeat distinctum telarioque distentum.“ Zum Gebrauch des velum vgl. BÄTSCHMANN et. al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 69-72. De pictura, II, 32: „Sed cum plerunque inexpertis pictoribus fimbriae superficierum dubiae et incertae sint [...] Natura id quidem pulchre demonstrat.“ Zu circumscriptio und compositio vgl. BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 77-80. De pictura, II, 35: „Est autem compositio ea pingendi ratio qua partes in opus picturae componuntur.“ Ebd.: „Die ersten Teile des Werkes sind also die Flächen, weil aus diesen die Glieder, aus den Gliedern die Körper, aus diesen der ‚Vorgang‘ zur Vollendung gebracht werden – der ‚Vorgang‘ als das letzte und eigentlich vollkommene Werk des Malers.“ Der lateinische Text lautet: „ Primae igitur operis partes superficies, quod ex his membra, ex membris corpora, ex illis historia, ultimum illud quidem et absolutum pictoris opus perficitur.“ Zur Diskussion um die Interpretation des Begriffs der historia vgl. BÄTSCHMANN et. al, in: ALBERTI: Das Standbild, S. 87-94.
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der Flächen ergeben sich deshalb letztlich die Harmonie, die Zierde und die Schönheit, die ins Bild zu setzen der Künstler anstreben soll38. Bei der Frage, wie diese Schönheit zu erreichen sei, antwortet Alberti: „Es gilt, die Natur selbst ins Auge zu fassen und lange und aufs sorgfältigste darauf zu achten, wie eben die Natur, die wunderbare Bildnerin der Dinge, auf den schönsten Gliedern die Flächen zusammengefügt hat. Bei der Nachahmung der Natur also müssen wir mit unserm ganzen Denken, unserer ganzen Sorgfalt verweilen, und wir müssen dabei größtes Vergnügen finden am Gebrauch des Tuches, von dem ich gesprochen habe.“39
Für die Komposition der Flächen zu einer harmonischen und schönen historia in Albertis De pictura ist ein Ineinander von mathematischer Konstruktion und Naturbeobachtung festzustellen.
4. Aufstieg zur Idee der Schönheit? Naturähnlichkeit und Schönheit sind die grundlegenden Elemente der Bildkomposition in De pictura. Dabei gibt Alberti der Schönheit den Vorrang, wie sein Verweis auf den antiken Maler Demetrius zeigt. Dieser sei nicht zu höchstem Ruhm gelangt, da er sich mehr um die Wiedergabe der Ähnlichkeit statt der Schönheit bemüht habe40. Wie aber soll der Maler vorgehen, wenn er Schönheit ins Bild setzen soll? Albertis Antwort hierauf findet sich in seiner Beschreibung des Vorgehens des herausragenden Malers Zeuxis41 bei seinem Vorha38 De pictura, II, 35: „Aus der Komposition der Flächen entsteht, im Falle von Körpern, jene erlesene Harmonie und Zierde, die man ‚Schönheit‘ nennt. […] Also sind bei einer derartigen Komposition der Flächen in erster Linie Zierde und Schönheit anzustreben.“ Der lateinische Text lautet: „Ex superficierum compositione illa elegans in corporibus concinnitas et gratia extat, quam pulchritudinem dicunt. […] Ergo in hac superficierum compositione maxime gratia et pulchritudo perquirenda est.” 39 De pictura, II, 35: „[...] naturam ipsam intueamur, diuque ac diligentissime spectemus quemadmodum natura, mira rerum artifex, in pulcherrimis membris superficies composuerit. In qua imitanda omni cogitatione et cura versari veloque quod diximus vehementer delectari oportet.” 40 Vgl. De pictura, III, 55. 41 Alberti beschreibt ihn in De pictura III, 56 als „praestantissimus et omnium doctissimus et peritissimus pictor“.
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ben ein Bild zu erstellen, um es anschließend im Tempel der Lucina weihen zu lassen. „Dabei ging er [Zeuxis] nicht [...] unbedacht, d. h. im Vertrauen auf die eigene Erfindungskraft [ingenio] zu Werke. Vielmehr war er der Meinung, dass er nicht imstande sei, alles, was er zur Darstellung des Liebreizes benötige, aus eigener Kraft sich vorzustellen – ja, dass das Gesuchte sich nicht einmal, mit Blick auf die Natur, an einem einzigen Körper finden lasse. Deswegen wählte er aus der gesamten Jugend der erwähnten Stadt fünf Mädchen aus, um auf dem Gemälde wiederzugeben, was an weiblicher Schönheit bei jedem der Mädchen am meisten Lob zu verdienen schien.“42
Giovanni Santinello hat in dieser Beschreibung einen platonischen Zug bei Alberti gesehen43. Albertis Text legt eine solche Interpretation auch deshalb nahe, da der Terminus „idea“ explizit genannt wird: „In ihrer Unkenntnis verfehlen sie nämlich jene Idee der Schönheit, welche selbst die Kenntnisreichsten kaum deutlich zu unterscheiden vermögen.“44
Albertis Fokus liegt hier aber nicht darauf, die einzelnen schönen Mädchen als Abbilder der Idee der Schönheit auszuweisen, welche im Geiste erblickt werden könnte. Vielmehr geht es Alberti darum, die empirische Vorgehensweise zu betonen. Diejenigen Maler verfehlen die Schönheit, die meinen, sie könnten allein aus ihrem ingenium das schöne Bild entwickeln45. Ihre Unkenntnis besteht darin, die Naturbeobach42 De pictura, III, 56: „Zeuxis […] non suo confisus ingenio temere […] ad pingendum accessit, sed quod putabat omnia quae ad venustatem quaereret, ea non modo proprio ingenio non posse, sed ne a natura quidem petita uno posse in corpore reperiri, idrico ex omni eius urbis iuventute delegit virgines quinque forma praestantiores, ut quod in quaque esset formae muliebris laudatissimum, id in pictura referret.“ 43 SANTINELLO: Nicolò Cusano e Leon Battista Alberti, S. 165f. 44 De pictura, III, 56: „Fugit enim imperitos ea pulchritudinis idea quam peritissimi vix discernunt.“ 45 De pictura, III, 56: „Damit freilich der Eifer nicht sinnlos und vergeblich sei, muss man sich vor jener Vorgehensweise hüten, die sich einige angeeignet haben. Diese wollen Ruhm und Erfolg, wie ihn die Malkunst ver-
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tung zu vernachlässigen46. Im sinnlich Wahrnehmbaren, mit den Augen in der Natur, muss das Schöne gesucht werden, und nicht in einer unsichtbaren Idee der Schönheit, die mit dem ingenium in einem geistigen Aufstieg mit geistigen Augen erblickt werden könnte. Nicht Aufzusteigen gilt es, sondern aus den Naturbeispielen auszuwählen [deligere und eligere]47 und neu zusammenzusetzen. heißt, allein aus sich selbst erringen, ohne dass ihre Augen und ihr Sinn unmittelbar durch das natürliche Aussehen der betreffenden Sache geleitet würden. In der Tat, sie lernen nicht richtig zu malen, sondern gewöhnen sich an Irrtümer. In ihrer Unkenntnis verfehlen sie nämlich jene Idee der Schönheit, welche selbst die Kenntnisreichsten kaum deutlich zu unterscheiden vermögen.“ Der lateinische Text lautet: „Sed quo sit studium non futile et cassum, fugienda est illa consuetudo nonnullorum qui suopte ingenio ad picturae laudem contendunt, nullam naturalem faciem eius rei oculis aut mente coram sequentes. Hi enim non recte pingere discunt sed erroribus assuefiunt. Fugit enim imperitos ea pulchritudinis idea quam peritissimi vix discernunt.“ 46 Trotz der abweichenden ingenium-Interpretation stellen BÄTSCHMANN et. al., in ALBERTI: Das Standbild, S. 73, Ähnliches fest. Zur Bedeutung der Naturbeobachtung für Alberti vgl. auch ebd., S. 97-101, mit einer stärkeren Betonung der Urteilskraft und der virtus des Künstlers. Siehe auch De pictura, III, 59. Dort mahnt Alberti Maler und Bildhauer sich jederzeit an einem entsprechenden Vorbild [exemplar elegans et singulare] zu orientieren und dieses zu betrachten [spectare] und nachzuahmen [imitare]. Siehe auch Albertis Zurückweisung einer Vorgehensweise, die allein mit dem Verstand [ingenium] die Schönheit erreichen will, und seine Betonung der Naturbetrachtung in De pictura, III, 56: „[...] denn wenn die Maler danach trachten, ohne ein Modell, das sie nachahmen könnten, d.h. allein mit Hilfe ihrer Erfindungskraft [ingenium] die Ruhmestitel der Schönheit zu erhaschen, widerfährt es ihnen leicht, dass sie als Folge ihrer Bemühung nicht die Schönheit gewinnen [...]. Wer sich dagegen angewöhnt, alles der Natur selbst zu entnehmen, wird am Ende über eine so geübte Hand verfügen, dass alles, was er versucht, gleichsam ‚nach Natur riecht‘.“ Der lateinische Text lautet: „[...] nam pictoribus nullo proposito exemplari quod imitentur, ubi ingenio tantum pulchritudinis laudes captare enituntur, facile evenit ut eo labore non quam debent aut quaerunt pulchritudinem assequantur [...] Qui vero ab ipsa natura omnia suscipere consueverit, is manum ita exercitatam reddet ut semper quicquid conetur naturam ipsam sapiat.“ 47 Vgl. auch De pictura, III, 56: „Ergo semper quae picturi sumus, ea a natura sumamus, semperque ex his quaeque pulcherrima et dignissima deligamus.” und ebd., III, 55: „Ergo a pulcherrimis corporibus omnes laudatae partes eligendae sunt.“ Trotz des Versuches eine geistige Erfindungskraft für Albertis Künstlerkonzeption zu betonen, müssen auch BÄTSCHMANN et al. feststellen: „Obwohl Alberti die Statue des Zeus von Phidias kurz zuvor als Beispiel der inventio eingeführt hatte, verweist er nicht [...] auf die im
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II. Nikolaus von Kues 1. Überstieg von Sinnlichem und Mathematik in der visio intellectualis In De docta ignorantia wählt auch Cusanus mathematische Figuren aufgrund ihrer Sicherheit als Ausgangspunkt für eine nähere Betrachtung der göttlichen Dinge: „Da uns zu den göttlichen Dingen nur der Zugang durch Symbole als Weg offensteht, so ist es recht passend, wenn wir uns wegen ihrer unverrückbaren Sicherheit mathematischer Symbole bedienen.“48
Den sinnlichen Dingen an Sicherheit und Stabilität zwar überlegen, ist aber auch die Mathematik endlich und nicht völlig frei von materieller Unsicherheit49. Deshalb müssen auch die mathematischen Figuren auf das unendliche Eine hin überstiegen werden50. Der infinitas absoluta, Geist konzipierte Idee der Schönheit [...]. Vielmehr weicht Alberti von der Idee der Schönheit zurück auf das rationale Auswahlverfahren des Zeuxis, das sich auf Urteil und Wahl stützt.“ [BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 77.] 48 De docta ign. I (h I p. 24 [n.32]): „[…] cum ad divina non nisi per symbola accedendi nobis via pateat, quod tunc mathematicalibus signis propter ipsorum incorruptibilem certitudinem convenientius uti poterimus.” Die Werke des Cusanus werden nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Übersetzungen zitiert. 49 De docta ign. I (h I p. 22f. [n.31]): „Sunt autem omnia sensibilia in quadam continua instabilitate propter possibilitatem materialem in ipsis abundantem. Abstractiora autem istis [...] non ut appendiciis materialibus, sine quibus imaginari nequeunt, penitus careant neque penitus possibilitati fluctuanti subsint, firmissima videmus atque nobis certissima, ut sunt ipsa mathematicalia.“ („Alle sinnlich wahrnehmbaren Dinge aber leiden an einer gewissen fortwährenden Unstetigkeit infolge der in ihnen liegenden materiebedingten Möglichkeit. Gegenüber dieser Betrachtung [...] finden wir die abstrakteren Gegenstände wie die mathematischen als unwandelbar und für uns gewiß, nicht als ob sie völlig frei wären von materiellem Beiwerk, ohne das sie nicht vorgestellt werden können, und völlig der fluktuierenden Möglichkeit entzogen wären.”). 50 De docta ign. I (h I p. 24 [n. 33]): „Nam cum omnia mathematicalia sint finita [...] primo necesse est figuras mathematicas finitas considerare cum suis passionibus et rationibus, et ipsas rationes correspondenter ad infinitas
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dem Beständigen, Nichtwandelbaren, dem unsichtbaren Urgrund der Dinge, dem maximum absolutum, der veritas infinita, der quiditas der Dinge – Gott – soll sich das Denken im Aufstieg annähern, um, „in Rätselbildern sich mühend, über das Höchste in einer richtigeren und wahreren Weise zu denken“51. Hierzu mag uns auch das bekannte Ikonenexperiment des Cusanus in De visione Dei als Beispiel dienen. Mit der Bewegung der Mönche um die Ikone bewegt sich der Blick des Allsehenden mit, erscheint dem Betrachter also so, als ob er sich verändern würde. Aber den Cusaner interessiert weniger diese sinnliche Ebene des Instabilen und der Veränderlichkeit. Das Sinnliche dient ihm als symbolhaftes Abbild. Das symbolhafte Abbild soll im intellektualen Überstieg in überhöhender Proportion auf das Unbekannte hin überstiegen werden. Den Cusaner interessiert nicht die Veränderlichkeit der sinnlichen Ebene, sondern die Unveränderlichkeit des absoluten Blicks, der mit allen Betrachtern zu wandern scheint, in dem aber Bewegung und Ruhe zusammenfallen. Sehen ist hierbei Metapher. Es geht Cusanus nicht um eine Analyse optischer Verhältnisse. Das Sehen der Ikone ist vielmehr ein Symbol für das unbekannte Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf. Nicht das für körperliche Augen Sichtbare steht im eigentlichen Frageinteresse des Cusaners, sondern das Unsichtbare, das mit geistigen Augen berührt wird: „Aber ich sehe nicht mit den leiblichen Augen, die Deine Ikone betrachten, sondern mit geistigen und verstehenden Augen die unsichtbare
tales figuras transferre, post haec tertio adhuc altius ipsas rationes infinitarum figurarum transumere ad infinitum simplex absolutissimum etiam ab omni figura.“ („Alles Mathematische ist endlich [...] so müssen wir zunächst die endlichen mathematischen Figuren mit ihren Eigenschaften und Verhältnissen betrachten und entsprechend die Verhältnisse auf gleichartige unendliche Figuren übertragen. Dann aber müssen wir drittens die Verhältnisse der unendlichen Figuren im weiteren Aufstieg auf das unendlich Einfache in seiner Ablösung von aller Figürlichkeit übertragen.“). 51 De docta ign. I (h I p. 24 [n.33]): „Et tunc nostra ignorantia incomprehensibiliter docebitur, quomodo de altissimo rectius et verius sit nobis in aenigmate laborantibus sentiendum.“
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Wahrheit Deines Angesichtes, die in dem hier verschränkten Schattenbild dargestellt wird.“52
Die sinnlichen Wahrnehmungen gilt es zu übersteigen, da sie verschränkte und unzulängliche Schattenbilder darstellen53. Wir haben es folglich mit gegenläufigen Ansätzen zu tun. Alberti ging es um die mathematische Analyse der Dinge in der sinnlichen Wahrnehmung [res sub aspectu] des menschlichen Blicks als Grundlage für die Kompositionen schöner und naturähnlicher Bilder. Cusanus übersteigt sinnliche und mathematische Rätselbilder in einer visio intellectualis, die auf das unbekannte, unsichtbare, unendliche Eine gerichtet ist.
2. Mathematik als Ausfaltung des menschlichen Geistes Mathematik ist für Cusanus Ausfaltung des menschlichen Geistes: „Für das Bauwerk der Vernunft gibt es einen Ursprung, der sozusagen aus ihrer Natur selbst hervorsprießt: Die Zahl. [...] Überhaupt ist die Zahl nichts anderes als ausgefaltete Vernunft.“54 52 De vis. (h VI n. 17): „Sed video non oculis carneis, qui hanc eiconam tuam inspiciunt, sed mentalibus et intellectualibus oculis veritatem faciei tuae invisibilem, quae in umbra hic contracta significatur.“ 53 Vgl. De coni. I (h III n. 31f.): „Quapropter per has corporales, sensibiles formas qualescumque aut per has sensibiles litteratorias traditiones non nisi inepte adumbramus subtiles theologicas atque intelligentiales formas.“ („Weil aber sinnlich wahrnehmbare Formen immer körperlich und in Buchstaben ausgedrückte Mitteilungen immer sinnlich wahrnehmbar sind, erhalten wir durch sie immer nur unzulängliche Schattenbilder vom unkörperlichen Wesen Gottes und des Geistes.“). An dieser Stelle weist Cusanus auch darauf hin, dass der Versuch Geistiges [mentalia] durch Sinnliches [sensibilia] zu messen [mensurare] ein unzulängliches Vorgehen sei [ineptitudo]. Albertis Umdeutung des mathematischen Punktes in ein für den Maler handhabbares Element steht dem cusanischen Ansatz diametral gegenüber. So heißt es ebd.: „Inepte quidem agimus, si lineae simplicitatem per corpus figurare nitimur, ineptissime autem, dum indivisibilem absolutissimum punctum corporea forma vestimus.“ („Noch unzulänglicher handeln wir, wenn wir die Einfachheit der Linie durch einen Körper darzustellen uns bemühen, ganz unzulänglich aber, wenn wir den unteilbaren, ganz abstrakten Punkt mit körperlicher Form bekleiden.“).
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In Idiota de mente lesen wir: „Du weißt, Redner, dass wir aus der Kraft des Geistes die mathematischen Figuren hervorbringen.“55
Damit geben mathematische Sätze nicht die ontologische Tiefenstruktur des Seins an, sondern befinden sich auf der Ebene konjekturaler Erkenntnis, d.h. auf der Ebene der gottesebenbildlichen Ausfaltung des menschlichen Geistes56, aus dem Ähnlichkeiten der realen Dinge hervorgehen, und damit Ähnlichkeiten von Ähnlichkeiten des göttlichen Geistes57. Die Ausfaltungen des menschlichen Geistes sind Annäherung an die eine Wahrheit, bleiben aber immer in einer letzten Distanz zu derselben: „Das Wesen der Zahl ist also das erste Urbild des Geistes. [...] Sinnbildlich kommen wir so bei unserer Mutmaßung von den rationalen Zahlen unseres Geistes zu den realen unaussagbaren des göttlichen Geistes; denn wir nennen ja die Zahl «das erste Urbild der Dinge im Geiste des Schöpfers», wie die aus unserer Vernunft hervorgehende Zahl Urbild seiner abbildlichen Welt ist.“58
54 De coni. I, (h III n. 7): „Rationalis fabricae naturale quoddam pullulans principium numerus est; [...] Nec est aliud numerus quam ratio explicata.“ 55 De mente (h 2V n. 70): „Tu nosti, orator, quomodo nos exserimus ex vi mentis mathematicales figuras.“ 56 Vgl. De coni. I (h III n. 5): „Dum enim humana mens, alta dei similitudo, fecunditatem creatricis naturae [...] participat, ex se ipsa, ut imagine omnipotentis formae, in realium entium similitudine rationalia exserit. Coniecturalis itaque mundi humana mens forma exstitit uti realis divina.“ („Indem nämlich der menschliche Geist, das hohe Abbild Gottes, an der Fruchtbarkeit der Schöpferin Natur, [...], teilhat, faltet er aus sich, als dem Gleichnis der allmächtigen Form, als Abbild der realen Dinge die rationalen aus. Der menschliche Geist ist daher die Form der mutmaßlichen Welt, wie der göttliche die Form der realen.“). 57 Vgl. unten Anm. 74. 58 De coni. I (h III n. 9): „Numeri igitur essentia primum mentis exemplar est. […] Symbolice etenim de rationalibus numeris nostrae mentis ad reales ineffabiles divinae mentis coniecturantes, dicimus «in animo conditoris primum rerum exemplar» ipsum numerum, uti similitudinarii mundi numerus a nostra ratione exsurgens.“
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Im Unterschied zu Alberti finden wir bei Cusanus einen starken erkenntnistheoretischen Vorbehalt. Mathematik bildet zwar das sicherste Wissen. Dieses ist als menschliches Wissen aber im Vergleich zur unendlichen einen Wahrheit Nichtwissen. Dies zu erkennen ist gelehrtes Nichtwissen.
3. Inkommensurable Perspektivität menschlicher Erkenntnis In De visione Dei lesen wir, dass das Angesicht Gottes dem Betrachter so erscheint, wie dieser Gott anblickt: Blickt er liebevoll, erscheint ihm das Angesicht liebevoll. Blickt er unwillig, erscheint es ihm unwillig usw.59. Bei dieser Art des Anschauens handelt es sich um ein geistiges Betrachten. Das leibliche Sehen dient lediglich als symbolhafter Vergleich: „So wie das leibliche Auge, blickt es durch ein rotes Glas, alles, was es sieht, als rot – und bei einem grünen Glas alles als grün – beurteilt, so urteilt jedes Auge des Geistes, das in Verschränkung und in Schwäche befangen ist, über Dich, der Du der Gegenstand des Geistes bist, entsprechend seiner Natur der Verschränkung und der Schwäche.“60
Bei Cusanus ist der perspektivabhängige Blick nicht primär ein Blick mit sinnlichen Augen sondern mit geistigen Augen. Dieser geistige Blick beinhaltet als ein menschlicher Blick erstens eine spezifisch menschliche Perspektive: „Der Mensch kann nicht anders als auf menschliche Weise urteilen.“61
Zweitens lesen wir in De coniecturis, dass die Perspektiven verschiedener Menschen auf die eine Wahrheit untereinander verschieden sind –
59 Vgl. De vis. (h VI n. 19). 60 De vis. (h VI n.19): „Sicut enim oculus iste carneus per vitrum rubeum intuens omnia, quae videt, rubea iudicat et, si per vitrum viride, omnia viridia, sic quisque oculus mentis obvolutus contractione et passione iudicat te, qui es mentis obiectum, secundum naturam contractionis et passionis.“ 61 De vis. (h VI n. 19): „Homo non potest iudicare nisi humaniter.“
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so verschieden, dass sie sogar inkommensurabel sind, d.h. der eine den anderen nicht mit Genauigkeit [praecisio] verstehen kann62.
4. Der Löffelschnitzer in Idiota de mente als Gegenentwurf zu Albertis pictor Die Malkunst ist nach Alberti die einzige Kunst, die Gebildete und Ungebildete gleichermaßen anspricht63. In Idiota de mente suchen zwei Gebildete – ein Philosoph und ein Redner – Rat bei einem Laien64. Weshalb sollte die Kunst in Rätselbildern sich mühend über das Höchste wahrer und richtiger zu denken, Gebildete und Laien gleichermaßen ansprechen? Die Aufwärtsbewegung zum Höchsten entspricht zugleich der Selbsterkenntnis, da das Höchste die quiditas des Erkennenden darstellt. Zweitens entspringt sie einem natürlichen Begehren, das allen Menschen eigen ist [desiderium naturale]65. Drittens liegt im Berühren 62 De coni. I, Prologus (h III n. 3): „Quoniam autem creata intelligentia finitae actualitatis in alio non nisi aliter exsistit, ita ut omnium coniecturantium differentia remaneat, non poterit nisi certissimum manere diversorum diversas eiusdem inapprehensibilis veri graduales, improportionabiles tamen ad invicem esse coniecturas, ita quidem, ut unius sensum, [...] nullus umquam indefectibiliter concipiat.“ („Nun existiert aber ein erschaffenes Erkenntnisvermögen, weil es begrenzt verwirklicht ist, im einen auf diese, im andern auf andere Weise. Es bleibt so ein Unterschied zwischen allen Mutmaßenden. Daher wird nur das ganz gewiß sein, dass die verschiedenen Mutmaßungen der verschiedenen Menschen zwar Schritte auf dasselbe unerfaßbare Wahre hin sein werden, dass sie aber trotzdem untereinander in keinem Verhältnis stehen können, und zwar so, dass jemand den Sinn eines anderen nie fehlerlos begreifen kann [...]“). 63 De pictura, II, 28: „Tametsi haec una ars et doctis et indoctis aeque admodum grata est, quae res nulla fere alia in arte evenit ut quod peritos delectat imperitos quoque moveat.“ („Allerdings spricht diese Kunst – als einzige – zugleich Gelehrte und Ungelehrte aufs Stärkste an; dazu kommt es in der Regel in keiner andern Kunst: dass nämlich das, was die Fachleute entzückt, auch die Laien beeindruckt.“). 64 Selbsterkenntnis des Geistes, Unsterblichkeit des Geistes und sich mit Gott verbunden fühlen – Themen, so sagt der Philosoph, die er mit hellem Verstand noch nicht so vollkommen berührt habe, wie das unwissende Volk mit dem Glauben: vgl. De mente (h 2V n. 52). Auf Rat des Redners gehen die beiden Gebildeten zu einem Laien, um diesen zum Thema mens um Rat zu fragen (vgl. ebd., n. 53). 65 Vgl. z.B. De docta ign. I (h I p. 1/5 [n. 1f.]). Vgl. auch De coni. I (h III n. 44): „Omnis vis mentis nostrae circa ipsius debet unitatis conceptum
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des Höchsten das Ziel menschlicher Existenz – denn Gott ist Ursprung und Ziel aller Dinge66. Als die beiden ihn aufsuchen, ist der Laie gerade dabei, einen Löffel aus einem Stück Holz zu schnitzen – eine niedere Tätigkeit: Der Laie führt ein einfaches Handwerk aus67. Er ist kein Maler, kein Bildhauer und kein Architekt. Er führt eine Tätigkeit aus, von der Alberti die Malkunst deutlich abgehoben wissen wollte. Dem Redner ist dies peinlich: „Ich schäme mich Laie, sagt er, dass der sehr bedeutende Philosoph hier dich mit diesen schlichten Arbeiten beschäftigt antrifft; er wird nicht glauben, dass er von dir irgendwelche tieferen Betrachtungen zu hören bekommt.“68
Der Laie muss sich verteidigen und nennt seine Tätigkeit die „Kunst des Löffelschnitzens“69. Der Philosoph antwortet – wir können uns den Philosophen dabei vielleicht etwas skeptisch vorstellen – mit einem Verweis auf die Malkunst [ars pingendi], die für das Denken Platons
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subtiliando versari, quoniam omnis cognoscibilium multitudo ab eius dependet notitia [...]“. („Unser Geist muss mit all seiner Kraft um den Begriff der Einheit kreisen, um ihn immer gründlicher zu erforschen; denn die ganze Vielheit des Erkennbaren hängt von der Kenntnis dieses Begriffes ab.“). Die durch die Ausfaltung entstehende Begriffswelt oder konjekturale Welt des menschlichen Geistes, hat ihr eigentliches Ziel in der Ausrichtung auf die absolute Einheit, die ihr zugrunde liegt. Vgl. z.B. De docta ign. I (h I p. 13 [n.15]): „[...] igitur necessario est maximum actu omnium finitorum principium et finis.“ („Notwendigerweise ist darum das aktuell Größte Ursprung und Ziel alles Endlichen.“). Vgl. Albertis Unterscheidung von Handwerk und Malkunst in De pictura, II, 26: „Sed et hoc in primis honore a maioribus honestata pictura est ut, cum caeteri ferme omnes artifices fabri nuncuparentur, solus pictor in fabrorum numero non esset habitus.“ („Überdies haben unsere Vorfahren die Malkunst insbesondere noch mit der folgenden Ehrung ausgezeichnet: Während wohl alle übrigen Künstler als ‚Handwerker‘ angesprochen wurden, rechnete man allein den Maler nicht den Handwerkern zu.“) De mente (h 2V n. 54): „Erubeo, idiota, inquit, te per hunc maximum philosophum his rusticis operibus implicatum reperiri; non putabit a te se theorias aliquas auditurum.“ Ebd.: „Credo, si hic, quem adducis, philosophus est, non me spernet, quia arti cocleariae operam do.“
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zumindest nicht abträglich gewesen sein soll70. Man hört implizit die zweifelnde Frage mit, ob auch das Handwerk des Löffelschnitzens das Denken anrege. Der Laie erwidert mit einem ersten Hinweis auf die symbolische Untersuchung: „In dieser meiner Kunst untersuche ich das, was ich will, auf symbolischem Wege und weide den Geist, verkaufe die Löffel und erquicke den Leib. So erreiche ich alles, was für mich notwendig ist, zur Genüge. “ 71
Dann stellt Cusanus die Handwerkstätigkeiten – Löffelschnitzen und Töpfern – über die Bildhauerkunst und die Malkunst mit der Begründung, dass diese lediglich natürliche Gestalten nachahmen, während der Handwerker selbst Formen hervorbringt, die es ohne menschliche Kunst nicht geben würde. Deshalb stehe diese Kunst der unendlichen Kunst des Schöpfers näher als Malerei oder Bildhauerkunst.72 Die Wertschätzung ergibt sich nicht aus der Bewunderung des sinnlich wahrnehmbaren, hergestellten Objektes – des Löffels –, sondern aus der Betrachtung des explikativen Aktes des menschlichen Geistes. Im menschlichen Geist ist alles abbildhaft eingefaltet, was in Gott eingefal70 Vgl. ebd. Der Philosoph nennt also die herausragende Kunstform im Sinne Albertis, die dem Denken nicht abträglich ist, sondern – denken wir an Albertis Traktat – ingenium erfordert. 71 De mente (h 2V n. 55): „Immo in hac mea arte id, quod volo, symbolice inquiro et mentem depasco, commuto coclearia et corpus reficio; ita quidem omnia mihi necessaria, quantum sufficit, attingo.” 72 De mente (h 2V n. 62): „Coclear extra mentis nostrae ideam aliud non habet exemplar. Nam etsi statuarius aut pictor trahat exemplaria a rebus, quas figurare satagit, non tamen ego, qui ex lignis coclearia et scutellas et ollas ex luto educo. Non enim in hoc imitor figuram cuiuscumque rei naturalis. Tales enim formae cocleares, scutellares et ollares sola humana arte perficiuntur. Unde ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae arti similior.” („Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. Denn wenn auch ein Bildhauer oder ein Maler die Urbilder von den Dingen hernimmt, die nachzugestalten er sich müht, so tue ich das doch nicht, der ich aus Hölzern Löffel und Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe. Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten und ist darin der unendlichen Kunst ähnlicher.“).
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tet ist. Die Ausfaltung des göttlichen Geistes entspricht der Schöpfung73. Wie Gott die wirklichen Dinge hervorbringt, so bringt der menschliche Geist Verstandesdinge und künstliche Formen hervor und ist damit deus secundus, wie es in De beryllo heißt74. Durch seine Explikationen misst der Mensch seine Vernunft und schließlich Gott – wohlwissend, dass dieses Messen ein Ergebnis liefert, das zu dem zu untersuchenden Gegenstand immer im Verhältnis des Rätselbildes [aenigma] bleibt75. In der Explikation des menschlichen Geistes zeigt sich dessen Charakter als imago Dei76. Die Rangordnung, die sich bei Alberti findet, in welcher alle Künste und Handwerke dem Vorbild der Malkunst nacheifern und in welcher der Maler aufgrund seines Ruhmes 73 De mente (h 2V n. 72f.): „Scis, quomodo simplicitas divina omnium rerum est complicativa. Mens est huius complicantis simplicitatis imago. […]Si mens divina est absoluta entitas, tunc eius conceptio est entium creatio, et nostrae mentis conceptio est entium assimilatio. […] similitudine enim fit cognitio. Omnia in deo sunt, sed ibi rerum exemplaria; omnia in nostra mente, sed ibi rerum similitudines.” („Du weißt, dass die göttliche Einfachheit alle Dinge einfaltet. Der Geist ist dieser einfaltenden Einfachheit Bild. [...]Wenn der göttliche Geist die absolute Seinsheit ist, dann ist sein Begreifen Erschaffung der Seienden, und unseres Geistes Begreifen ist Angleichung der Seienden. [...] Durch Ähnlichkeit nämlich kommt Erkenntnis zustande. Alles ist in Gott, aber dort als Urbilder der Dinge; alles ist in unserem Geist, aber dort als Ähnlichkeiten der Dinge.“). 74 De beryllo (h 2XI/1 n. 7): „Quarto adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum deum. Nam sicut deus est creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium, quae non sunt nisi sui intellectus similitudines sicut creaturae dei divini intellectus similitudines. Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando. Hinc creat similitudines similitudinum divini intellectus [...]. Unde mensurat suum intellectum per potentiam operum suorum et ex hoc mensurat divinum intellectum, sicut veritas mensuratur per imaginem.“ („Viertens beachte, dass Hermes Trismegistus sagt, der Mensch sei ein zweiter Gott. Denn wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind. Also hat der Mensch die Vernunft, die im Erschaffen Ähnlichkeit der göttlichen Vernunft ist. Daher erschafft er Ähnlichkeiten von Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft [...]. Hieraus misst er seine Vernunft durch die Kraft seiner Werke, und daraus misst er die göttliche Vernunft, wie die Wahrheit durch ihr Bild gemessen wird.“). 75 Vgl. ebd. 76 Vgl. z.B. SANTINELLO: Il pensiero di Nicolò Cusano, S. 270.
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und der Bewunderung für sein Werk als alter deus77 angesehen wird, wird bei Cusanus umgedreht. Maler und Bildhauer sind von der göttlichen Kunst weiter entfernt als der Handwerker, oder wenn man so will: der Erfinder. Doch damit nicht genug. Die Kunst des Laien besteht nicht in der bloßen handwerklichen Tätigkeit – der Explikation eines menschlichen Werkes – sondern darin, die Tätigkeit des Löffelschnitzens als Symbol zu betrachten und das Verhältnis von Löffelschnitzer und Löffel im Überstieg auf das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zu übertragen. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass die „einfache und mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Form des Löffelseins“ in der Gestalt eines Löffels als Abbild widerstrahlt und weder „vollkommen sinnenfällig“78 gemacht noch begrifflich genau erfasst werden kann79. Ars et scientia sind für Cusanus Ausfaltungen der humana mens – dies aber nicht als Selbstzweck sondern verbunden mit der intellektualen Durchleuchtung dieser Tätigkeiten als symbolhafte Rätselbilder für 77 In De pictura spricht Alberti vom Künstler, der gleichsam als alter deus angesehen werden könne und Gott im höchsten Maße ähnlich sei: Vgl. De pictura, II, 25–26. Als Begründung wird genannt, dass der Künstler Lebewesen bilde [fingere] und abbilde [dipingere] und seine Werke Bewunderung und Ansehen hervorrufen. Zwei weitere Punkte sind zu nennen, die die besondere Stellung der Malerei ausmachen: (1) Zunächst sieht Alberti einen Vorbildcharakter der Malerei für Architektur, Steinmetzkunst, Bildhauerei und Handwerk [Vgl. De pictura, II, 26]. Denn: „Was auch immer den Dingen Schönheit verleiht, ist der Malkunst abgeschaut.“ [Ebd.: „[...] ut in rebus quicquid adsit decoris, id a pictura sumptum audeam dicere.“] (2) Zweitens erfreut [delectat] und bewegt [movere] die Malerei Gelehrte und Ungelehrte gleichermaßen: vgl. De pictura, II, 28. Trotz des Hinweises auf die Ähnlichkeit des Malers mit Gott, erscheinen die Vorzüge der Malerei, die Alberti nennt, um die Jugend zur Malkunst aufzufordern, eher auf den irdischen Bereich konzentriert: Ruhm, Reichtum, Lust [voluptas] und Ansehen. Vgl. Ebd., II, 29. 78 De mente (h 2V n. 63): „Sic vides formam coclearitatis simplicem et insensibilem in figurali proportione huius ligni quasi in imagine eius resplendere. Unde veritas et praecisio coclearitatis, quae est immultiplicabilis et incommunicabilis, nequaquam potest per quaecumque etiam instrumenta et quemcumque hominem perfecte sensibilis fieri [...]“. 79 De mente (h 2V n. 64): „Verum cum non reperiatur forma in sua veritate in his, circa quae ratio versatur, hinc ratio in coniectura et opinione occumbit.” („Da aber die Form in den Dingen, mit denen sich der Verstand beschäftigt, nicht in ihrer Wahrheit angetroffen wird, sinkt der Verstand in Mutmaßung und Meinung dahin.“).
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das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf. Selbstreflexion und Selbsterkenntnis in diesem Sinne sind ausgerichtet auf den einen Urgrund aller Dinge. Aus dieser Ausrichtung folgt die Haltung einer docta ignorantia, die den Urgrund der Dinge als nichterkennbar erkennt80. Cusanus distanziert sich von einer Wissenschaft und von einer Kunst, die eine solche Ausrichtung nicht haben. Wenn die intellektuale Durchleuchtung fehlt, fehlt damit auch der eigentliche, tiefere Sinn des Ganzen. Diese Distanzierung des Cusaners von einer auf den sinnlichen Bereich ausgerichteten Kunst wird im zweiten Kapitel von De filiatione Dei besonders deutlich. Dort heißt es zunächst: „Wenn deshalb die Meisterschaft, die wir suchen und in der das Glück unseres geistig erkennenden Lebens liegt, sich mit dem Wahren und Ewigen beschäftigt und unser intellektualer Geist zu vollkommener Meisterschaft gelangen muss, um in sich selbst das beglückendste geistige Leben ewig zu besitzen, darf sein Streben nicht an den zeitlichen Schatten der Sinnenwelt haften, sondern er darf sie nur als äußere Hilfe für sein geistiges Streben gebrauchen [...].“81
Wie auch Schüler den Geist des Lehrers nur dann erfassen, wenn sie das gesprochene Wort des Lehrers geistig durchdringen – so das untermalende Beispiel des Cusaners82 –, kann das ewige beglückendste geis80 Es gibt nur eine Form der Dinge und diese bleibt unerkennbar: De mente, (h 2V n. 67f.): „Quam quidem infinitam formam nulla ratio attingere potest. Hinc per omnia vocabula rationis motu imposita ineffabilis non comprehenditur. Unde res, ut sub vocabulo cadit, imago est ineffabilis exempli sui proprii et adaequati. Unum est igitur verbum ineffabile, quod est praecisum nomen omnium rerum […]“ („Diese unendliche Form freilich kann kein Verstand erreichen. Daher wird sie, durch alle Namen, die durch Verstandesbewegung beigelegt sind, unaussagbar, nicht erfasst. Deshalb ist ein Ding, wie es unter einen Namen fällt, Abbild seines unaussagbaren eigentümlichen und entsprechenden Urbildes. Nur ein unaussprechliches Wort gibt es also, das der genaue Name aller Dinge ist [...]“). 81 De fil. (h IV n. 60): „Unde, cum magisterium, quod quaerimus et in quo est vitae intellectualis felicitas, sit verorum et aeternorum, si spiritus noster intellectualis evadere debet in perfectum magistrum, ut in se ipso aeternaliter possideat delectabilissimam vitam intellectualem, oportet, ut studium eius non adhaereat umbris temporalibus sensibilis mundi, sed illis perfunctorie pro studio intellectuali utatur, […]”. 82 Vgl. ebd.
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tige Leben nur erreicht werden, wenn das Sinnliche überstiegen wird. Explizit wendet sich Cusanus gegen ein Haltung, die an der sinnlichen Oberfläche stehen bleibt: „Wenn aber welche durch äußere Zeichen eher erfreut werden, so gelangen die nicht zur Meisterschaft der Philosophie, sondern werden zu solchen Schreibern, Malern, Rednern, Sängern oder Musikanten verkommen, die nicht um die eigentliche Meisterschaft wissen.“83
Kein sinnliches Erfreuen und Gefallen – im Unterschied zu Albertis Betonung der voluptas84 – sondern ein geistiger Wohlgeschmack ist der Lohn der cusanischen Aufwärtsbewegung85.
III. Fazit Leon Battista Alberti und Nikolaus von Kues vertreten Positionen von grundsätzlich verschiedener Ausrichtung. Bei Alberti wird Naturbeobachtung verbunden mit einer mathematischen Durchdringung und Beschreibung empirischer Verhältnisse. Dabei zeigt sich eine starke Orientierung auf die sinnliche Wahrnehmung. Cusanus lehnt eine solche Orientierung ab, wenn sie nicht mit einer intellektualen Durchdringung auf den Urgrund hin verbunden ist. Letztere steht unter einem starken erkenntnistheoretischen Vorbehalt. Die cusanische Position setzt eine Differenz zwischen menschlicher Beschreibung der Welt und der Wahrheit an sich. Bei Alberti finden wir eine Perspektivität des leiblichen Blicks in Abhängigkeit von der räumlichen Position des Betrachters und einen Bezug der Größenverhältnisse im Bild auf den 83 Ebd.: „Sed si qui in signis potius delectantur, ad magisterium philosophiae non pertingent, sed ut ignorantes in scriptores, pictores, prolocutores, cantores vel citharoedas degenerabunt.” (Hervorhebungen von mir.) 84 Vgl. z.B. BÄTSCHMANN et al., in: ALBERTI: Das Standbild, S. 95. 85 De fil. (h IV n. 61): „Hoc est gaudium domini, quod nemo tollere poterit, quando intellectuali gustu vitam incorruptibilem nos attigisse comprehendimus. Et haec est quidem ipsa summa delectatio, quasi dum gustamus sanissimo sensu cibum vitae, quem famelice appetimus.“ („Das ist die Freude des Herrn, die niemand wird hinwegnehmen können, wenn wir durch geistiges Schmecken erfassen, dass wir das unvergängliche Leben erreicht haben. Und dies ist die eine höchste Freude, wie wenn wir mit gesundestem Sinn die Speise des Lebens kosten, die wir voll Hunger erstreben.“).
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Mathematik und Perspektivität
Menschen als Maß der Dinge. Bei Cusanus finden wir darüber hinaus eine Perspektivität im Bereich der Erkenntnis, die in Abhängigkeit von den verschiedenen geistigen Blickweisen steht, sowie den Ansatz, die Erkenntnisse verschiedener Subjekte als inkommensurabel zu betrachten. Nehmen wir die Ansätze, die sich bei beiden Denkern finden, zusammen, und denken sie weiter, kommen wir zu einem modernen Ansatz von Theoriebildung im Wechselspiel von Mathematik und Naturbeobachtung unter Berücksichtigung menschlicher und intersubjektiv verschiedener Perspektivität.
Literatur ALBERTI, LEON BATTISTA, Das Standbild – Die Malkunst – Grundlagen der Malerei. Lateinisch und Deutsch, hrsg., eingel., übers. und komm. von OSKAR BÄTSCHMANN und CHRISTOPH SCHÄUBLIN unter Mitarbeit von KRISTINE PATZ, Darmstadt 2000. BURCKHARDT, JACOB, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Frankfurt 2009, Neuauflage der 2. Aufl. 1869, nach Ders., Gesammelte Werke, Bd. III, Darmstadt 1955. CASSIRER, ERNST, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Reprograf. Nachdr. der 1. Aufl. Leipzig, Berlin 1927, 7. unver. Aufl., Darmstadt 1994. CUOZZO, GIANLUCA, Bild, visio und Perspektive. Cusanus und L. B. Alberti, in: BOCKEN, INIGO und SCHWAETZER, HARALD (Hgg.), Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Maastricht 2005, S. 177-196. DERS, „Ludus globi“ und „Ludus vitae“. Fatum, Fortuna und Freiheit bei Leon Battista Alberti und Nikolaus von Kues, in: SCHWAETZER, HARALD und ZEYER, KIRSTIN (Hgg.), Das europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues: Geistesgeschichte als Geistesgegenwart, Münster 2008, S. 129-146. DERS., Ludi mathematici. Das Verhältnis von Mathematik und Philosophie bei Alberti und Cusanus, in Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 32 (2010), S. 255-266. CUSANUS, NICOLAUS, Die belehrte Unwissenheit. Übersetzt und herausgegeben von PAUL WILPERT und HANS-GERHARD SENGER, Buch I. 4., erweiterte Auflg. 1994, besorgt von HANS-GERHARD SENGER.
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Silvio Agosta
Neu abgedruckt in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Werke, Lat.-Dt., Bd. I, Hamburg 2002. DERS., Mutmaßungen. 3. Aufl. 2002, übers. und hrsg. von WINFRIED HAPP und JOSEF KOCH. Neu abgedruckt in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Werke, Lat.-Dt., Bd. II, Hamburg 2002. DERS., Der Laie über den Geist, 1995, übers. und hrsg. RENATE STEIGER. Neu abgedruckt in: Nikolaus von Kues, PhilosophischTheologische Werke, Lat.-Dt., Bd. II, Hamburg 2002. DERS., Über den Beryll, 4. Verbesserte Aufl. 2002. Übers. und hrsg. von KARL BORMANN. Neu abgedruckt in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Werke, Lat.-Dt., Bd. III, Hamburg 2002. NIKOLAUS VON KUES, Textauswahl in deutscher Übersetzung / Institut für Cusanus-Forschung an der Universität u. Theol. Fakultät Trier, Bd. 3, De visione Dei. Das Sehen Gottes. Übers. von HELMUT PFEIFFER, 3. Aufl. Trier 2007. DERS., Textauswahl in deutscher Übersetzung / Institut für CusanusForschung an der Universität u. Theol. Fakultät Trier, Bd. 5, Über Gotteskindschaft. Übers. von HARALD SCHWAETZER, Trier 2002. FEDERICI-VESCOVINI, GRAZIELLA, Nicholas of Cusa, Alberti and the Architectonics of the mind, in: WILLIAMS, KIM (Hg.), Nexus II. Architecture and Mathematics, Fucecchio (FI) 1998, S. 159-171. FILIPPI, ELENA, Im Zeichen des Timaios: Cusanus, Alberti, Dürer, in: SCHWAETZER, HARALD und ZEYER, KIRSTIN (Hgg.), Das europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues: Geistesgeschichte als Geistesgegenwart, Münster 2008, S. 147-173. FLASCH, KURT, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, 3. Auflg. der Sonderausgabe von 2001, Frankfurt 2008, Erstausgabe 1998. DERS., Nicolaus Cusanus, München 2001. GARIN, EUGENIO, Cusano e i platonici italiani del quattrocento, in: Pubblicazioni della facoltà di magistero dell`università di Padova, IV: Nicolò da Cusa. Relazioni tenute al convegno interuniversitario di Bressanone nel 1960, Firenze, 1962, S. 75-96. MANCINI, G., Vita di Leon Battista Alberti, IIa ed. Firenze 1911. MARX, JACOB, Verzeichnis der Handschriftensammlung des Hospitals zu Cues bei Bernkastel a./Mosel, Trier 1905. MÜLLER, TOM, Möndchenquadratur und duale Mathematik bei Leon Alberti und Nikolaus von Kues, in: FRIEDRICH PUKELSHEIM und
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Mathematik und Perspektivität
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Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks WOLFGANG CHRISTIAN SCHNEIDER Malen und Denken werden gemeinhin sehr verschiedenen, wenn nicht gar entgegenstehenden Bezirken zugeordnet. Bei näherem Hinsehen, Hindenken jedoch wird bald deutlich, dass Sehen und Denken es vielfach mit demselben zu tun haben. Sowohl das Malen wie das Denken ordnen, beide auch stellen Folgebeziehungen her. So wichtig eine Betrachtung von Bildern im Hinblick auf ihre künstlerischen Traditionen oder auf ihren ikonographischen Gehalt ist, ein darauf beschränktes Sehen wird doch nur die Oberfläche eines Bildes erfassen. Dieses Nach-denken auf der Linie der bildlichen Werken, die Suche nach dem „Denken im Malen“1 muss umso wichtiger sein, je eigenwilliger, traditionsloser ein Künstler gestaltet, je mehr er sich vom Handwerk gelöst hat und ein Bemühen um eigene Aussagen zu erkennen gibt, eigenständig ordnet, eigene Folgebeziehungen herstellt.
Al s i ch chan, Posse fieri und Possest Es ist erst das 15. Jahrhundert, das die eigenwertige Künstlerpersönlichkeit erlebt und so die Voraussetzung für ein eigenständiges Denken im Malen besitzt. Einer dieser Künstler – und zugleich wohl der größte der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nördlich der Apenninen – ist Jan van Eyck, der um 1390 geboren wurde: Er verleiht dem neuen Selbstgefühl 1
Vgl. dazu den Band von BOCKEN und BORSCHE (Hgg.): Kann das Denken malen?
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Wolfgang Christian Schneider
der Künstler Ausdruck, wenn er auf mehrere seiner Werke die Aufschrift setzt: „Als ich chan“.2 Das wenige, was wir aus der Frühzeit Jans wissen, zeigt den Bedingungszusammenhang solchen Selbstgefühls an: Kunst muss für Jan van Eyck Berufung gewesen sein, denn anders als zuvor meist üblich, entstammt er nicht der einfachen städtischen Schicht, der ein handwerkliches Tun einigermaßen vorgezeichnet war, sondern er ist von edler Abkunft. Dementsprechend war Jan van Eyck nie zünftiger Maler, er war vielmehr Hofmaler des wittelsbachischen Grafen von Holland (bis 1425) und des Herzogs von Burgund (von 1425 bis zu seinem Tode 1441), und er muss gebildet und mit dem höfischen Umgang vertraut gewesen sein, da er Gesandtschaftsdienste für Herzog Philipp den Guten übernahm. So muss Jan van Eyck nicht nur als Maler, sondern auch als ein Intellektueller der flämisch-niederdeutschen Renaissance gelten, und das verlangt, die Aufschrift „Als ich chan“ ernst zu nehmen. Denn da sie auf mehreren Werken wiederholt wird, kann es sich bei ihr nicht um eine beiläufige Einzelaussage handeln, vielmehr muss die Aussage einen Anspruch auf Allgemeingültig enthalten, ja ihr dürfte geradezu der Charakter eines Bekenntnisses des Malers zukommen. Das aber bedeutet, dass auch das größte Werk Jan van Eycks, die Altarretabel im Dom von Gent mit ihren 24 Einzeltafeln, unter dem Blickwinkel des „Als ich chan“ zu sehen ist. Darüber soll im Folgenden nachgedacht werden, jedoch nicht einfach auf das Ungefähre hin, sondern mit geprägten Augen. Und dies soll der Blick eines nur wenig jüngeren Zeitgenossen Jans sein: der Blick des 1401 geborenen Cusanus. Die Aussage „Als ich chan“ stellt sich bei genauerer Betrachtung als überaus komplex dar. Sie enthält implizit zwei Punkte: Einerseits einen Punkt, der durch die Aussage selbst als erreicht angegeben wird, andererseits zugleich aber auch einen weiteren Punkt, entweder einen Punkt der 2
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So auf dem Rahmen des Bildnisses des „Mannes mit dem roten Turban“ (wohl ein Selbstporträt Jan van Eycks) von 1433, auf dem Dresdner Marienaltar 1437, auf dem Rahmen des Bildnisses van Jans Frau 1439 und auf dem der Maria am Brunnen 1439. Vgl. insgesamt DHANENS: Hubert und Jan van Eyck, zu der Beischrift 180f.; HERZNER: Jan van Eyck und der Genter Altar; CASTELFRANCHI VEGAS: Van Eyck; sie bieten weitere Literatur.– Die Grundlage für die vorliegende Studie wurde während eines Forschungsaufenthalts an der Königlichen Flämischen Akademie von Belgien für Wissenschaften und Künste in Brüssel 2007 erarbeitet; ihr und insbesondere dem Direktor der Forschungseinrichtung Marc de Mey sei dafür nachdrücklich gedankt.
Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks
schon zuvor erreicht und nun übertroffen wurde, andererseits einen Punkt, der noch zu erreichen wäre, also einen noch nicht erlangten (oder auch nicht erlangbaren) Punkt in der Bewegungsrichtung des Strebens. Die erste Auffassung bietet eine verhältnismäßig einfache Feststellung: eine gewissermaßen stolze Versicherung nämlich, den Punkt, an dem andere innezuhalten gezwungen waren, übertroffen zu haben. Umfassender ist die zweite Auffassung: sie benennt zwar ein Gelingen, doch ein Gelingen, das den ganzen Umfang des Erstrebten, die vollen Möglichkeit des Gegebenen, nicht erreicht hat, sei es, dass die Kräfte des Strebenden es (selbst bei aller Anstrengung) nicht zuließen, sei es, dass das Erstrebte überhaupt jenseits aller Erreichbarkeit liegt. In diesem Falle enthält die Aussage bei allem Stolz doch ein Sich-Bescheiden, ja, im Falle, dass das Erstrebte grundsätzlich jenseits aller Erreichbarkeit liegt, wesentlich geradezu auch Demut. Zugleich aber ist offenkundig, dass die Zweideutigkeit der Aussage sich mit diesen Überlegungen nicht auflöst, sondern eher die Komplexität sichtbar macht, die der Maler da in äußerster Kürze ausspricht. Die Beharrlichkeit, mit der Jan van Eyck trotz aller Preisungen von Seiten seiner Zeitgenossen an der zweideutigen Selbstbewertung festhielt, scheint immerhin anzudeuten, dass eine bloße stolze Selbstgefälligkeit nicht vorliegt, sie würde durch die Wiederholungen sich selbst lächerlich machen und damit die Wirkung des Gesagten aufheben. So ist davon auszugehen, dass Jan van Eyck die Zweideutigkeit der Aussage wesentlich in dem umfassenderen Sinne verstanden wissen wollte: als Bekenntnis, bei allem Gelingen den ganzen Umfang des Erstrebten, die vollen Möglichkeit des Gegebenen, nicht erreicht zu haben – weil es (wenngleich er alle anderen übertraf) die ihm gesetzte Beschränkung nicht zuließ und weil das Erstrebte überhaupt jenseits aller Erreichbarkeit liegt. Damit aber enthält dieses Bekenntnis eines Nichtgelingens doch in Demut höchsten Stolz, in seinem strebenden Tun hat sich der Maler in seinem „Als ich chan“ erfüllt. An dieser Stelle aber muss sich der Blick auf Nicolaus von Kues richten. Denn wenn man ein bestimmendes Moment der Philosophie des Nicolaus von Kues benennen wollte, so ist es sicherlich auch ein solches „Als ich chan“, ja sein Dialog De Possest (1460) scheint geradezu auf diesem Gedanken aufzubauen. Cusanus stellt darin eine Beziehung her zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit3: im vollen Sinne wirklich gilt 3
Vgl. De possest (h XI/2 n. 7).
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ihm allein eine Instanz, die in ihrem Bestehen alle Möglichkeit (des Werdens) einschließt, alles posse fieri ist. Letztlich gilt dies allein und wesenhaft nur von Gott: In ihm ist Möglichkeit und Wirklichkeit dasselbe, „Gott ist alles das als Wirklichkeit, von dem das Sein-Können verwirklicht werden kann“. So ist „Gott die absolute Möglichkeit und Wirklichkeit und die Verknüpfung beider, und demnach alles mögliche Sein als Wirklichkeit, so dass er eingefaltet alles ist.“ 4 Das führt Cusanus zu einem ebenso knappen wie komplexen Neologismus: „Nehmen wir also an, dass irgendein Wort in einfachster Bedeutung soviel bedeutet wie diese Zusammenfügung: das Können ist, das heißt, dass das Können sei. Und weil das, was ist, wirklich ist, ist das Können soweit Sein als das Können wirkliches Sein ist. Nennen wir es also Können-Ist“: Possest.5 In seinem Traktat De venatione sapientiae (1462) greift Cusanus den Gedanken des possest auf und stellt ihn in einen engeren Bezug zum Menschen: „Auch wenn die Menschheit das ist, was die Menschheit erfordert, so ist sie dennoch nicht als Wirklichkeit das, was sie werden kann (fieri potest). Denn sie folgt dem Werden-Können (fieri posse) und steht unter der allgewaltigen Macht [ihres] Schöpfers. Nichts von allem, das dem Werden-Können (fieri posse) folgt, wird jemals frei von der Möglichkeit, etwas anderes zu werden, als es ist. Gott allein ist das Können-Ist (possest), weil er als Wirklichkeit ist, was er sein kann.“6 Und er erläutert das später: Alles nämlich, das dem Werden-Können folgt, so dass es wirklich wird, ist nur insoweit wirklich, als es die Wirklichkeit des Können-Ists (possest) nachahmt.7 Das „Als ich chan“ von Jan van Eyck scheint sich in diesem Gedankenraum zu bewegen: Vor dem Hintergrund solchen Werden-Könnens wahrgenommen gibt sich seine anspruchvolle bekennende Zweideutigkeit als Versuch zu erkennen, das Werden-Können ausschöpfend in den Werken umzusetzen – ein Versuch, der sich als unter der Macht des Schöpfers stehend empfindet und daher ebenso Stolz wie Demut anklingen lässt, um so, wenngleich im Wissen, von der Unmöglichkeit, etwas anderes zu werden, nicht entbunden zu sein, doch bis an den Rand der 4 5
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De possest (h XI/2 n. 8); Übersetzung nach Dupré. De possest (h XI/2 n. 14): „[...] posse est,scilicet quod ipsum posse sit. Et quia, quod est, actu est, ideo esse est tantum quantum posse esse actu. Puta vocetur possest.“ De ven. sap. (h XII n. 34). De ven. sap. (h XII n. 36).
Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks
Möglichkeit vorzudringen. Damit enthält das „Als ich chan“ Jan van Eycks hinsichtlich der Wirklichkeitserfassung eben das, was Cusanus in seinen Überlegungen zum posse fieri und zum possest fasste. Tatsächlich lässt sich der Gedanken eines derartigen „Als ich chan“ in Cusanus’ De visione Dei finden – in seinem doppelten Aspekt: im Sinne einer Einschränkung, dass eben ein Vordringen in das Göttliche nur soweit gehen kann, wie es strukturell möglich ist; zugleich aber auch im Sinne stolzen Selbstbewusstseins, soweit eben gelangen zu können, wie es möglich ist. Dieses positive „Können“ ist der Kern der geradezu revolutionären Umdeutung der Argumentation des Xenophanes durch Cusanus, auf die Inigo Bocken aufmerksam gemacht hat: Die gewichtigste These des vorsokratischen Philosophen gegen eine vielgestaltige (polytheistische) Deutung des Göttlichen, dass dem Mohren das Göttliche zwangsläufig als mohrengesichtig, dem Rosse natürlich als rossgestaltig, dem Stiere selbstverständlich als stiergestaltig gelten müsse.8 Diese These, die das hellenistische Judentum in bildfeindlichem Sinne aufnahm und dem Christentum überlieferte, wird von Cusanus positiv gewendet und zu einem Wert gemacht: Unzweifelhaft wird ein Mohr die Gottheit als Mohren sehen – darin aber erfüllt er sich, sieht er so, wie es ihm möglich ist: „Als er kann“. Stier, Ross und Hund, wenn sie ein Göttliches wahrnähmen, glichen ihm darin. Ein jedes nämlich folgt nur seiner Geschöpflichkeit, innerhalb deren es ihm freilich obliegt, diese auszuschöpfen. Nichts anderes nämlich versucht De visione Dei insgesamt vor Augen zu führen. So ist zwar für Cusanus jegliche Aussage über das Göttliche nach Maßgabe der Vermittlung gebrochen; dies aber ist kein Mangel, sondern eben darin steckt ein Wert: Das je einzeln Vermittelte und aus seiner vermittelten Bedingtheit Sehende belichtet einen, seinen Gehalt des Göttlichen, und es erhält eben dadurch Wert und Rang. Das in seiner Potentialität materiell Bedingte weist die Vielgestalt des Göttlichen. 8
XENOPHANES: Fragment 15 (überliefert durch Clemens Alex. Strom. V 109; Eusebius Praep. ev. XIII 13,36; Theodoret. Graec. aff. cur. 3,72); auch von Hunden mit hundegestaltigen Gottesvorstellungen ist in der Überlieferung die Rede (Epicharm. fr. 173). Siehe bei Cusanus De vis., c. 6 (h VI n. 19). Zu Cusanus’ Umwertung vgl. BOCKEN: Visions of Reform. Im selben Sinn zu verstehen ist die positive Wertung des Satzes von Protagoras, der Mensch sei das Maß der Dinge, auf die HELANDER: Die visio intellectualis, S. 68 aufmerksam macht.
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In diesem Sinne wertet ein „als ich chan“ Beides auf: das Mediale des Gestalters und des Gestalteten in seiner relativen Wahrheit, das Materielle als das Bedingende der Medialität, der ‚Vermittlung’. Mit seiner Selbstbezeugung scheint Jan van Eyck also nicht einfach nur ein Zeitgenosse des Nicolaus von Kues zu sein, sondern sich auch in seinem Malen auf der Linie des cusanischen Denkens zu bewegen. Und er scheint bei all dem die Frage nach der Medialität und – wenngleich erst auf den zweiten Blick erkennbar – die nach der Materialität zu stellen. Angesichts dessen ist es bezeichnend, dass Cusanus zur Veranschaulichung des in de visione dei Dargelegten das Bild aufruft – und zwar zunächst beispielhaft das Bild eines weiteren flämischen Meisters, ein (mittlerweile untergegangenes) Werk des Rogier van der Weyden (* 1399), das Cusanus bei seiner Legationsreise in Brüssel sah, ein Bild also der Maltradition, der auch Jan von Eyck entstammt, dann ein Bild, das er von solchem Vorbild angeregt selbst herstellen liess und den befreundeten Mönchen übersandte.9 Der Zugriff des Kardinals bei seiner Bildnutzung ist bezeichnend: Nicolaus beobachtet das Bild in seinem materiell-gegenständlichen Befund und rekonstruiert daraus die dem Bild eigenen, dem Betrachter vor Augen gestellten Folgerichtigkeiten: den dem Betrachter abverlangten Weg über das posse fieri zum possest vorzudringen.10 Diesem Zusammenklingen der Gedanken Jan van Eycks und Cusanus’ entsprechend sollen im Genter Altar Jan van Eycks Befunde aufgesucht werden, die in der Anlage ihrer Ordnung und in ihrer Folgerichtigkeit spezifische Weiterungen beinhalten, die dem Betrachter ein bestimmtes Denken erkennbar werden lassen, ein bildendes Nachdenken über die Möglichkeiten eines Vorgegebenes überschreitenden Verstehens von Realität und von Gestalten-Können, Sehen-Können. Ich beschränke mich dabei auf die Innenseite des Genter Altars.
Die beiden Register der Innenseite und die anagogische Hierarchie Bei geöffneten Flügeln [Abb. 1] sieht sich der Betrachter der Retabel mit zwei sehr verschiedenen Eindrücken in den beiden Registern kon-
9 De vis. praefatio (h VI n.2). 10 Vgl. besonders ebd. praefatio (h VI n.3-4).
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Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks
frontiert: Im unteren Register breitet sich über das große Mittelbild und die je zwei Flügel zu beiden Seiten eine weite vielfigurige Landschaft aus.11 Im oberen Register hingegen treten dem Betrachter monumentale Figuren entgegen, abgesehen von den beiden Engelsgruppen, die auf je einer Tafel zusammengefasst sind, ist allen Figuren eine eigene Tafel zugewiesen. Die beiden Bildebenen scheinen sich kaum zu einem Zusammenhang zu fügen. Während die Bilder des unteren Registers insgesamt dem Betrachter einen über die Szenerie nicht unbeträchtlich erhobenen Standort vorgeben, weisen die Tafeln im oberen Register dem Betrachter verschiedene Höhen zu – wobei die jeweils symmetrisch entsprechenden dieselbe Betrachterebene voraussetzen. Die tiefste Betrachterebene geben die beiden schmalen Außenflügel des Urelternpaares vor, die oben jeweils nur durch ein Viertelsrund abgeschlossen sind. Adam und Eva sind in beträchtlicher Untersicht gezeigt, bei Adam ist der Ballen des auf den Rahmen aufgesetzten Fußes von unten zu sehen. [Abb. 2 und 3] Die Tafeln der Engel hingegen sind beide, wie der Fliesenfussboden vorgibt, von einer höheren Warte aus aufgefasst, der Betrachterpunkt liegt ungefähr auf der Mitte der Bildhöhe. [Abb. 4 und 5] Noch höher liegt der Betrachtungspunkt von Maria und Johannes, sie sind geringfügig von oben gesehen. Die höchste Betrachtungsebene aber ist in der Mitteltafel gegeben: Sie liegt knapp unterhalb des Brustschmucks, der Betrachter sieht Christi Haupt und Schulterpartie geringfügig von unten. [Abb. 5] Vordergründig also erweckt die Bildanlage im oberen Register der Innenseite des Genter Altars den Anschein einer horizontalen Ordnung, in der Verschiebung der Betrachtungspunkte jedoch tritt eine vertikale Bewegung in Erscheinung: von außen nach innen steigt der Betrachtungspunkt an, um seinen höchsten Ort in der Mitteltafel unter den Augen Christi zu haben. Die Farbgebung unterstützt diese Aufwärtsbewegung. Die Trias in der Mitte ist von den Farben blau, rot und grün bestimmt – die ihrerseits, wie Heymerich, der Freund des Nicolaus von Kues seit der gemeinsamen Kölner Zeit (1425-1432), in seinem Sigillum eternitatis erläutert, hierarchisch zueinander stehen: dem Grün ist
11 Wenngleich die Bodenflächen der unteren Seitenflügel durch ihre Brauntönung vom Wiesengrün der Verehrung des Lammes abgesetzt sind, so verdeutlicht doch der gleichartige Landschaftshintergrund die Zusammengehörigkeit der Szenen.
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das Blau übergeordnet und diesem wiederum das Rot.12 Auch die Farbspekulation gibt damit eine Mittenkonzentration und eine Aufwärtsbewegung vor: hin zu der rotgewandeten Christusfigur. Der vorgeblich horizontalen Ordnung ist somit eine vertikale, eine hierarchische Ordnung eingestaltet, die von den Seiten zur Mitte hin ansteigt. Mit dieser Anordnung ist eine Dynamik gegeben, die unverkennbar einen anagogischen Charakter hat: den Betrachter zum Antlitz Christi hinaufführt. Er ist das eigentliche Ziel des Sehens, im Blick auf seinen Blick erfüllt sich das Bild, ereignet sich das wesentliche, unmittelbare Sehen.
Der Allsehende Das Antlitz Christi ist gänzlich frontal angelegt, und das enthält einen Effekt, wie ihn Cusanus in De visione Dei beschreibt: Er nennt ein derartiges Bild ein allsehendes: Woher auch immer der Betrachter auf Christus sieht, immer sieht er sich angesehen.13 [Abb. 8] Jan van Eyck muss mit diesem Prinzip vertraut gewesen sein, denn es fällt auf, dass neben dem thronenden Christus auch alle anderen göttlichen Gestalten der Genter Altarretabel in dieser Weise aufgefasst sind; die Taube des Heiligen Geistes in der Verkündigung auf der ersten Ansicht, das Lamm Gottes ebenso wie die über ihm schwebende Taube des Heiligen Geistes in der Verehrung des Lammes im unteren Register der zweiten Ansicht: sie alle sehen in strenger Frontalität auf den Betrachter, so dass jeder herzukommende Betrachter, von wo immer er auch auf die göttliche Gestalt sieht, sich angesehen sieht. Damit ergibt sich eine Wahrnehmungsgestalt, wie sie Cusanus in De visione Dei beschreibt: Der Kardinal fordert in seinem Werk die Mönche zu kreisenden Bewegungen vor dem ihnen mit der Schrift übersandten strikt frontal angelegten und eben daher „allsehenden“ Bild auf und erläutert so das allumfassende Sehen Gottes gegenüber dem einseitig beschränkten Sehen der Menschen, deren Sehen erst durch das vorausgehende existenz-setzende All-Sehen Gottes möglich ist. 14 Die so gegebene Kreisform aber ist höchst absichtsvoll, denn für Cusanus ist der Kreis die vollkommene Figur der Einheit und Einfachheit. Für 12 Näher dazu SCHNEIDER: Die Deesis des Genter Altars. 13 De vis., praefatio (h VI n 2). 14 Ebd.
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die unendliche Einheit Gottes, des umfassend Größten, in dem nicht anders oder verschieden, sondern identisch ist, dem eine vollkommen unendliche Wirkmacht sowie anfang- und endlose Ewigkeit eignen, 15 kann der Kreis als angemessenes Sinnbild gelten. Denn der unendliche Kreis ist ewig, ohne Anfang und Ende, vollkommen unteilbar und allumfassend.16 Die Kreisbewegungen der Mönche können so die Annäherung des Menschen an das Göttlich-Unendliche veranschaulichen. Eben dies aber tritt auch in den göttlichen Gestalten Jan van Eycks hervor. In der frontalen Anlage des Blickes ist für Jans Gestalt Christi (und für die übrigen Gottesgestalten) eine Kreisform der „Betrachtung“ konstitutiv.17 Von woher auch immer der Betrachter auf die Gestalt Christi sieht: er sieht sich in den Blick der mittigen Figur Christi hineingezogen, erfährt sich von diesem als angesehen und als Betrachter bestimmt, erkannt. Die implizit kreisartige Anordnung der symmetrisch angelegten Szene um den achsial Thronenden führt den Betrachter somit zu einer unmittelbaren Konfrontation mit dem mittigen Blick Christi, der ihn hält, von welcher Richtung aus er auch immer sehen mag. Dieser allseitig-kreisförmige Betrachtungszusammenhang um den in der Mitte frontal thronenden Christus und die damit verbundene vergegenwärtigende Hereinnahme des Betrachters reicht bis in die Handhabung der Altarretabel hinein. Denn beim Schließen der Flügel entstehen bemerkenswerte Effekte: Einerseits treffen die singenden Engel auf Maria und die musizierenden auf Johannes, wodurch die Aufschrift der Nischen hinter beiden Gestalten gleichsam verbildlicht werden, die Maria in ihrem die Gestirnen überragenden Rang preist und Johannes ausdrücklich als par angelis benennt; andererseits treffen die Gestalten der Ureltern der Menschen auf die Figur Christi: Die Häupter von Adam und Eva kommen auf die Brust Christi zu liegen, Evas Haupt lehnt dann am Herzen Christi. Dieser Gestaltzusammenhang, für den Jan van Eyck Phänomene der Buchgestaltung aufgegriffen haben könn-
15 De docta ign. I, c. 21 (h I p. 42 [n. 63]). 16 De docta ign. I, c. 21 (h I p. 43 [n. 64]). 17 Die räumliche Situierung Christi durch die Inschriften auf der Stoßkante des Thronpodiums (A CAPITE – IN FRONTE – A DEXTRIS – A SINISTRIS) geben sogar einen kugelartigen Betrachtungsraum vor.
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te,18 stellt so gleichsam den Abschluss der von der Altarretabel insgesamt geforderten Betrachtung dar. Kaum sinnfälliger kann der wechselseitige Anheimgabevorgang zwischen Gott und Mensch veranschaulicht werden, den Cusanus in De visione dei in der Anrede Gottes an den Menschen fasst: „Sei du dein und ich werde Dein sein“.19
Die Spiegelungen der Paradieseslandschaft Die spekulativ begründete Kreisstruktur ist aber nicht auf das obere Register beschränkt, auch das Hauptbild des unteren Registers ist durch mehrere Kreisformen geprägt: Den Mittelpunkt bildet das frontal sehende Lamm auf dem Altar, um das sich ein erster Kreis von verehrenden Engeln zieht. Um diese ist ein zweiter weiterer Kreis gelegt, gebildet aus den Menschen, die das Lamm verehren. Im Vordergrund ist dieser Kreis schon nahezu geschlossen, im Hintergrund ist er in den Spitzen der zur Verehrung Heranziehenden erst angelegt, die Nachziehenden werden ihn ebenso wie im Vordergrund auffüllen. [Abb. 9] Doch all dies umschließt noch ein weiterer Kreis auf den Flügeltafeln des untern Registers mit der Darstellung der zum Kreis der Verehrer des Lammes herbeiziehenden Seligen, der sich allerdings nur bei sorgfältigem Sehen zeigt. Dieser Kreis tritt vor allem im Bild der Milites Christi in Erscheinung, der links an das Mittelbild anschließende Szene, die, auch wenn sie durch den weitgehend pflanzenlosen Grund etwas abgehoben ist, doch demselben Landschaftshorizont wie die Haupttafel der Verehrung des Lammes zugehört. Im Vordergrund nämlich beginnt die Blumenwiese, die das Hauptbild prägt.20 Bei den beiden vorderen gerüsteten Rittern Christi (der Fahnen nach ein Johanniter vorne und ein Templer hinten, an den sich ein Ritter mit dem Jerusalem-Kreuz auf der Fahne anschließt) spiegeln die Schulter-Platten nach Art eines konvexen Spiegels. [Abb. 10] Auf beiden Schulter-Platten, aber auch noch auf der konvexen Knieplatte des ‚Johanniters’, zeigt 18 Zu vergleichbaren Sinnzusammenhängen beim Schließen von Handschriften vgl. SCHNEIDER: Die ‚Aufführung‘ von Bildern beim Wenden der Blätter in mittelalterlichen Codices. 19 De vis. (h VI n. 25). 20 Im Detail zeigt den größeren Zusammenhang der Tafeln dann auch das Pferd des grün-gekleideten Ritters, dessen hinterster Fuß erst auf der Tafel der Iudices zu sehen ist.
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sich dieselbe Situation: eine Landschaft mit seitlich stehenden höheren Bäumen, in der Mitte ein lichter Himmel. Genauer zu sehen ist diese in den konvexen Schulterplatten angezeigte Landschaft in den annähernd zylindrischen Platten von Unterarm und Handrücken des Johanniters. [Abb. 11] Sichtbar ist da eine im Vordergrund grüne Landschaft, eine bewegte Linie schließt den grünen Bereich nach hinten ab. Damit ist offenbar unterschiedlich hoher Baumwuchs angezeigt, den ja auch die konvexen Schulterplatten der beiden Ritter andeuten. Hinter der grünen Horizontlinie erscheint ein bläulicher Bereich, der in sich in zwei Bereiche geschieden ist, einem dunkelblauen vorderen und einen weißlichblauen hinteren Bereich. Dieser intern differenzierte blautonige Bereich stößt hinten auf einen deutlich abgesetzten weißgefärbten Bereich, der sich allerdings allmählich (nach oben hin) in einem erneuten Blau verdichtet. Noch weiter nach oben zeigen die Rüstungsteile von Arm und Hand erneut eine grüne Tönung, doch diese spiegelt nicht die Landschaft, sie ist vielmehr der Binnenspiegelung der Rüstung geschuldet: Die zylindrischen Körper spiegeln die Spiegelung des Brustpanzers, der seinerseits, wenngleich stärker zusammengeschoben, im unteren Teil die Landschaft spiegelt, im oberen Teil des Brustpanzers aber ebenfalls den auf die grüne Landschaft folgenden bläulichweißen Bereich wiedergibt.21 Nach all dem kann das Gespiegelte insgesamt beschrieben werden: Es erscheint eine grüne Landschaft, die bis zu einer ferneren Baumzone hin reicht, wo in zwei Tiefenbereichen gestuft im Bläulichen verschwebende Bergketten anschließen. Darüber liegt weiß der eigentliche Horizont, der weiße Saum des Himmels, der allmählich in ein tiefes Blau des Himmels verschwebt. Genau diese Landschaft aber zeigt sich im Hintergrund aller Bilder des unteren Registers und besonders im Hauptbild: in der Verehrung des Lammes. Diesen Landschaftshintergrunds aber können die Rüstun21 Dass tatsächlich an dieser Stelle eine Binnenspiegelung wiedergegeben ist, zeigt der Umstand, dass sich im untersten Abschnitt des Brustharnischs die Hinterseite des geharnischten Unterarms samt der Fahnenlanze spiegelt, die ihrerseits in der Spiegelung gebrochen erscheint. In ähnlicher Weise spiegelt sich der untere Teil der Lanze vor dem Untergrund des Rittermantels mehrfach gebrochen in den Beinharnischplatten. Entsprechende Binnenspiegelungen zeigt der Brustpanzer des Templers, in dessen Riefelung sich links der rote Stoff des Ärmels und der Gurt spiegeln, sowie der Brustpanzer des Ritters mit der Fahne des Jerusalemkreuzes, in dessen Brustpanzer sich die Hinterseite des eigenen Schildes spiegelt.
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gen des Ritterbildes nicht spiegeln, dort erscheint dieser Hintergrund ja selbst. Gespiegelt wird also eine landschaftliche Szenerie, die sich gleichsam vor dem Bild befindet (dort also, von woher der Betrachter sieht). Die Landschaft, die die ziehenden Ritter Christi und die gerechten Ritter durchreiten (die also der Betrachter gleichsam im Rücken hat), entspricht somit genau der, die die Reiter zur anderen Seite (zur Bildtiefe hin) haben. Da die Tafel auf der rechten Seite des Altars als zur selben Szenerie gehörend aufgefasst werden müssen wie die übrigen Seitentafeln, zeigen die Spiegelungen der Rittertafeln an, dass die Landschaft sich in eben der Weise, wie sie sich im Hintergrund der Verehrung des Lammes darstellt, auch im – bildlich nicht erfassbaren – „Vorgrund“22 hinzieht. Tatsächlich ist der „Vorgrund“ nicht wirklich fassbar, aber Jan van Eyck gibt diese andere Seite des himmlischen Gartens in der Spiegelung. Um das verehrte Lamm also schließt sich eine idyllische Landschaft, eine zeitlose Landschaft, weil alle Zeitlichkeit in gleichzeitig erscheinender Blüte und Frucht aufgehoben ist, und sie schließt sich um das Lamm nach Art eines Kreises, wie er im Hauptbild in den Kreisen der Engel und der herantretenden verehrenden Gruppen angelegt ist.
Der Kelch des Lam mes Diese semantisch bedeutsame Spiegelung des „Landschafts-Außenkreises“ besitzt ein bestätigendes und ergänzendes Gegenstück im innersten Kreis um das Lamm. Denn auch dort erscheint eine bezeichnende Spiegelung – und zwar auf dem goldenen Kelch des Lammes auf dem im Wiesengrund sanft erhöhten Altar. [Abb. 12] Wegen der verhältnismäßig kleinen Spiegelungsfläche und der Entfernung der gespiegelten Gegenstände ist die Spieglung zwar dort etwas diffuser, sie ist jedoch, wie vor Ort in Gent nachgeprüft werden konnte, für einen sorgfältigen Betrachter hinreichend erkennbar, um zu erfassen, was der Maler dem genauen Blick hatte bieten wollen und was für eine Szenerie er für sein Bild insgesamt vor Augen hatte. Die spiegelnde Oberfläche des Kelches lässt vier Bildeinheiten erkennen. Zunächst rechts und links des Kel22 Mit diesem Kunstbegriff möchte ich den auf der (besser: hinter der) Betrachterebene liegenden ‚Bildgrund’ (der vom ‚Betrachter’ völlig absieht) von dem innerbildlichen ‚Vordergrund’ absetzen.
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ches jeweils eine Gruppe von mehreren länglichen, überwiegend weißlichen Gestalten, die alle oben etwas differenzierter sind. Als dritte Bildeinheit ist unten ein größerer durch die Konvexität leicht gebogener, in Wirklichkeit aber wohl waagrechter Bereich auszumachen. Diesem sind offenkundig auch noch zwei einzelne kleinere weiße ‚Flecken’ zuzuordnen, samt zwei dunklen, minimal weiß gehöhten Punkten über dem rechten ‚Flecken’. Die vierte Bildeinheit schließlich, der Bereich in der Mitte, ist am schwersten zu klären: Es scheint dort eine längliche Gestalt zu stehen, farblich anscheinend zwischen gelblich und grünlich changierend, ihr scheinen auch mehrere längere waagrechte weißliche Linien zuzugehören. So vage diese Spiegelungen auch im Einzelnen erscheinen – die Cuppa des gemalten Kelchs ist im Original schließlich nicht einmal 2 cm hoch – in ihrer Gesamtheit machen sie deutlich, dass der Maler dem Betrachter im Spiegel des Kelches die Szenerie vor Augen führt, die sich in der Tafel selbst vor dem Lamm darbietet: Die ersten beiden Bildeinheiten, die hellen Figurengruppen am linken und rechten Rand sind die beiden Engelsgruppen, die beiderseits des Altars auftreten. Ein Engel der linken Gruppe auf dem Kelch ist deutlich als blaugewandet zu erkennen, blau aber ist der für den Betrachter fast ganz verdeckte zweite Engel der linken Gruppe gekleidet, der vom Kelch aus gesehen den ersten weißen Engel nahezu verdeckt. Die dritte Einheit, der weiße Bereich unten, ist die Fläche der Altarmensa, die weißen Flecken am oberen Rand der gespiegelten weißen Fläche sind die beiden räuchernden Engel, die zugehörigen dunklen Punkte mit den minimalen weißen Höhungen sind die von ihnen geschwenkten Weihrauchfässer. Die vierte Bildeinheit ist sicherlich am schwersten zu deuten, doch scheint der Maler damit die Mittelsäule des Brunnens wiederzugeben und in den zugehörigen weißen Linien oben und unten den belichteten Brunnenrand anzudeuten.23 Diese Spiegelungen auf dem Kelch bestätigen – gerade auch in ihrer Ambivalenz – nicht nur die Beobachtungen bei den Spiegelungen des Harnischs der beiden Kreuzritter, sie sind auch vom Bildgedanken her von höchster Bedeutung. Denn durch die Spiegelung auf dem Kelch
23 Schwierig ist die Deutung der hellen Spiegelung am linken inneren Rand des Kelchs. Es könnte sich dabei um die Brust des Lammes handeln, es könnte sich aber auch – und dies ist wohl wahrscheinlicher – um eine Spiegelung des hohen Fensters der Vijd-Kapelle handeln.
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schließt sich der Kreis, wird die Einbettung des Kelches in die Mitte der Gesamtszenerie unübersehbar vor Augen geführt. So beherrscht die Figur des Kreises das untere Register nicht weniger als das obere Register. Für die eine wie für die andere Kreisstruktur aber bildet Christus den Mittelpunkt, oben in eigener Gestalt, unten in der Gestalt des Lammes, seines Blutes. In dieser Parallelität scheint mir die Antwort auf die immer wieder erörterte Frage nach dem Sinnzusammenhang von oberem und unterem Register der Innenansicht des Genter Altars gegeben zu sein – und erneut das spekulative Denken Jans hervorzutreten: Der Maler will, dass die Darstellungen der beiden Register als die einander bedingenden beiden Wesenheiten Christi vor Augen treten: Das Bild der Verehrung des Lammes, die sich über alle fünf Tafeln des unteren Registers zieht, vergegenwärtigt Christi Opfertod, gleichsam im Anschluss an das gegen Ende der Apokalypse (19,18) Geschilderte; das obere Register bietet die auf Grund des Opfertodes gewonnene und in den Aufschriften des Mantels (nach Apk 19,16) angezeigte endzeitliche Herrschaft Christi als des ewigen Priesters.
Der Kreis vor dem Göttlichen, um das Göttliche Bei all dem ist das Kreismotiv von tragender Bedeutung. Das passt nur bedingt zum Wortlaut der Apokalypse, die motivisch die gesamte Innenansicht des Altars bestimmt. Das Neue Jerusalem, das die Apokalypse als Ziel des Geschehens beschreibt (Apk 21,1-22,6), ist – wenngleich mittenzentriert – viereckig, ausdrücklich werden die Seiten dieses Quadrats mit den vier Himmelsrichtungen in Verbindung gebracht.24 Der Kreis muss also aus anderer Tradition kommen, und er kommt aus dem spätantiken Neuplatonismus. Vor allem im Werk des Philosophen Proklos (5.Jh.) spielt der Kreis eine entscheidende Rolle: als die Bewegung des Menschen hin zum Höchsten und Guten. Der Neuplatonismus wurde im 15. Jh. intensiv gepflegt, er prägte wesentlich das Bemühen um den Zentralbaugedanken, den das frühe italienische Rinascimento in Rom an Hand 24 Dies ist zweifellos dem römischen Denken geschuldet, während der Kreis der griechischen Denktradition verpflichtet ist. Schon in der Spätantike wird versucht, diese beiden Konzepte zu verbinden; vgl. SCHNEIDER: Sorgefrei und im Tanz der Weisheit.
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des spätantiken Rundbaues von San Stefano Rotondo diskutierte, den im Auftrag Nicolaus V. (den Leon B. Alberti beriet) Bernardo Rossellino zwischen 1451 und 1453 neu ordnete und dabei auch mit einem neuen mittigen Hauptaltar und mit mehreren Seitenaltären an den Wänden des Kreisrunds ausstattete.25 Wieder tritt im malenden Denken Jan van Eycks etwas hervor, was auch Nicolaus von Kues bewegte, der ja zum Freundeskreis Nicolaus’ V. gehörte: Denn er besaß wesentliche Werke von Proklos und er hat sie auch auf das Intensivste studiert, wie seine vielen Randbemerkungen zeigen.26 Auch die Versuchsanordnung von De visione Dei scheint mir wesentlich diesem Denken des Proklos verpflichtet. Mit der Verbindung von Kreis und Altar im Hauptbild des unteren Registers aber setzt der Maler noch einen Akzent, der mit dem prokleischen Denken in unmittelbarem Zusammenhang steht: Dies verweist auf Platons Timaios, der ja auch für Proklos die wesentliche Denkgrundlage bot: Platon spricht im Timaios (40c) über den kreisenden Reigentanz der Götter vor dem Allschöpfer; in einem weiteren Werk, in den Nomoi entfaltet er das im Hinblick auf die Menschen: Er spricht vom festlichen Tanzreigen (choros) der Menschen unter der Leitung der Götter, die den Menschen den lustvollen Sinn für Rhythmus und Harmonie geben, sie reihen in Gesang und Tanz, ein Singen und Tanzen von Ordnung und Harmonie, ein freudiges Reigenspiel hin zum Schönen und Guten. Platon ruft dabei (653 d) die Erinnerung an den Reigentanz der Musen auf, von dem Hesiod schon zu Beginn der Theogonie berichtet: den Tanz um den Altar des Zeus, den preisenden Tanz für Zeus und die anderen Götter. Das Christentum nahm das Motiv des kreisenden Reigentanzes früh auf,
25 FROMMEL: Kirche, Kunst und Denkmalpflege. Zum Problem des Hochaltars von S. Stefano Rotondo, bes. S. 85ff. 26 Proklos-Texte in der Bibliothek des Cusanus in Kues: in der Übersetzung des Petrus Balbus: Procli De theologia Platonis Libri VI (Cod. Cus. 185), in der Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke: Procli Expositio in Parmenidem Platonis (Cod. Cus. 186) und Procli Elementatio theologica (Cod. Cus. 195). Die Randbemerkungen des Cusanus darin: Cusanus Texte III. Marginalien 2. Die Exzerpte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften: Bd. 2.1.Theologia Platonis, Elementatio theologica, hg. und erläutert von Senger. Vorgelegt am 15. Dezember 1984 von Beierwaltes, Heidelberg, 1986; Bd. 2.2 Expositio in Parmenidem Platonis, hg. von Bormann. Vorgelegt am 23. Mai 1985 von Beierwaltes, Heidelberg 1986. Vgl. im Übrigen BEIERWALTES: Cusanus und Proklos, D’AMICO: Nikolaus von Kues als Leser von Proklos.
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besonders die kappadokischen Kirchenväter sprechen davon, sie beschreiben den Kreisreigen der Auferstanden, und verbinden diesen als Nachvollzug mit der Auferstehung Christi.27 PsDionysius Areopagita, den Cusanus gründlich studierte (dessen Handschrift liegt heute noch in seiner Bibliothek in Kues), nennt daher in seinen Darlegungen über die göttlichen Namen (De divinis nominibus) für Christus auch den eines „Reigentanzführer des Lebens“ (zoƝs chorƝgon).28 Dante verleiht dann diesem Kreisen den glänzendsten Ausdruck, wenn er insbesondere die letzten Stufen im Paradiso als reine Kreisordnungen schildert. All das war im 15. Jh. nicht nur bewusst, sondern wurde durch die Hinwendung zum Neuplatonismus mit neuer Begeisterung gepflegt. Jan, der denkende Maler ist hier auf der Höhe der Zeit, und er arbeitet mit Denkbildern, die sich auch Cusanus bestimmten.
Die Schmuckscheibe auf der Brust Christi – Kreis und Quadrat, Kreuz und Chi Angesichts all dessen muss auch die Kreisform der Schmuckscheibe auf der Brust Christi [Abb. 13] als bewusste Aussage gelten, zumal da 27 Z.B. Hyppolyt von Rom, P. Nautin (ed.), Homilies pascales, Paris 1959 (SC = Sources Chrétienes, 27), Une homélie du traité sur les pâques d’Hyppolite, I, 61-62, S. 188f.; Tanz Christi mit dem rechten Schächer: Hesychios von Jerusalem, Homélie pascale I 4,5-6, M. Aubineau (Hg.), Hésychius de Jérusalem, Homélies pascales, Paris 1972 (SC 187: 64) Le Cerf, Paris 1972 (SC 187: 64); zum preisenden Reigentanz der Auferstandenen: Gregor von Nazianz, The second Oration on Easter; in: P.Schaff / H.Wace (Hgg.), A selected Library of Nicene and Post-Nicene Fathers of the Christian Church (1989) Bd. 7 S. 431. Vgl. auch: Choros der Jungfrauen am leeren Grab: Johannes von Berytos, In resurrectionem Salvatoris, in: Homélies pascales (SC 187 [s.o.]: 279-304) 296. Vom Choros der Frommen spricht Romanos der Melode: Hymn. XL 14, J. Grosdidier de Matons (Hg.), Romanos le Mélode, Hymnes Bd. IV (1967) (SC 128: S. 404) und Modestos von Jerusalem, in: Unguenta ferentes mulieres (PG 86, 2, 3276 AB). Insgesamt dazu ISAR: The dance of Adam, bes. S. 191-195; GOUGAUD: La danse dans les églises. 28 De divinis nominibus I Cap 6 (Migne PG 3, 596 B); der Übersetzer ins Lateinische in der PG (Balthasar Cordier / Corderius) übersetzt Choregos mit largitor, die Übersetzerin ins Deutsche (Suchla, Pseudo-Dionysius Areopagita: Namen Gottes 27) daraufhin mit ‚Spender’, was angesichts der Belege für gottgeführte Reigentänze ein irreführender Rückgriff auf den metonymischen Gehalt des Wortes (im Sinne der Liturgie des ‚Choregos’) und damit eine Verkürzung des Aussagegehaltes ist.
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derartige Gewandschließen in der antiken Kaisertracht, in deren Tradition ja auch der herrscherliche rote Mantel Christi steht, Insignecharakter besitzen.29 Tatsächlich ist die Agraffe geradezu als ein bildlicher Diskurs über das Wesen Christi zu verstehen. Die Schließe besteht aus einem perlengesäumten fein gezahnten Goldrund mit reichem Edelsteinbesatz. Obwohl sich die Schmuckplatte zunächst als geschlossenes Ganzes darstellt, gibt sie sich dem eingehenden Blick doch sehr schnell als ein überaus vielschichtiges Formenensemble zu erkennen. Mehrere Figuren überlagern einander und ziehen spezifische Inhalte herein – und sie stellen dem Betrachter in ihrer Vielschichtigkeit ein Suchspiel vor Augen, das ein Nachdenken herausfordert. Ineinandergeschoben bekommt der Betrachter gleichzeitig verschiedene Figuren vorgeführt, und ihm erscheint mal die eine, mal die andere als konstitutiv, um dann doch gleich wieder zu einer anderen Figur hinüberzuführen. Unverkennbar tritt innerhalb des Kreisrunds zunächst ein Quadrat in Erscheinung, das aus den großen silbrigen Perlen und den Saphiren und Smaragden gebildet wird. Der Maler dürfte damit an die Quadratform des Himmlischen Jerusalems erinnern, die er ja in der Szenerie der Altardarstellung beiseite geschoben hatte. Nun sind Kreis und Quadrat verbunden. Über die theologische Spekulation hinaus ist darin aber erneut Philosophisches enthalten. Für Nicolaus von Kues nämlich ist die Frage des Verhältnis von Kreis und regelmäßigem Vieleck, zuvörderst dem Quadrat, dann das Problem der Quadratur des Kreises, zum zentralen aenigma der Erkenntnissuche geworden. So stellt er in de docta ignorantia fest, dass der Geist „sich zur Wahrheit (verhält), wie das Vieleck zum Kreis. Je mehr man die Zahl der Ecken in einem eingeschriebenen Vieleck vermehrt, desto mehr gleicht es sich dem Kreis an, ohne ihm je gleich zu werden, wollte man auch die Vermehrung der Eckenzahl ins Unendliche fortführen. Das Vieleck müsste sich dazu schon umbilden zur Identität mit dem Kreis.“30 In ihrem spannungsvollen Verhältnis sind Kreis und Vielecke für Cusanus „das Analogon zur unendlichen Geschiedenheit von Gott und Welt auf der einen, dem Menschen in all seinen Beschränkungen auf der anderen Seite. Wie nämlich in der visio intellectualis, der unendlichen Angleichung des Geistes an die höchsten Dinge, die Lösung 29 Vgl. ALFÖLDI: Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, S. 183. 30 De docta ign. I, c. 3 (h I p. 9 [n. 10]).
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des menschlichen Erkenntnisdilemmas im Angesicht metaphysischer Fragestellungen liegt, so birgt die Kreisquadratur als Manifestation des Koinzidenzprinzips in der Denksphäre der ratio den Schlüssel für alle Grenzprobleme des schließenden Denkens.“31 In diesem Zusammenhang ist das Achteck bemerkenswert, das die kleinen silbrigen Perlen bilden. In der christlichen Tradition und seiner Bildsprache besitzt das Oktogon eine große Bedeutung. In der Architektur ist das Oktogon vielfach mit dem (kreisförmigen) Zentralbaugedanken verbunden. Häufig kommt das Achteck bei Baptisterien vor, und auf dem Genter Altar selbst besitzt ja – zweifellos im Anschluss an diese Tradition der Taufbecken – der Paradiesesbrunnen ebenfalls eine Achteckform. Die acht ist geradezu das Sinnbild der ewigen Seeligkeit und des geistigen Kosmos. Nur einige wenige Dinge seien genannt. Christus ist – wie Ambrosius hervorhebt – nach jüdischer Wochenrechnung am 8. Tag auferstanden;32 er erscheint den Jüngern am 8. Tag nach der Auferstehung (Jo 20,26); der 8. Tag nach Vollendung der irdischen Siebentagewoche ist nach Theodoret der Tag des Gerichts.33 Und wieder nach Ambrosius und auch nach Augustin ist der 8. Tag der Beginn der ewigen Ruhe und Beginn auch des ewigen Lebens.34 Das erinnert an Platon, bei dem sich die Seelen sieben Tage dem Gericht stellen, um am 8. Tag aufzubrechen.35 Tatsächlich ist die Grundlage der christlichen Deutungen immer wieder die griechische Philosophie, für Pythagoras bezeichnet die Acht ganz allgemein die himmlische Harmonie und die Gerechtigkeit, und das überlieferte Philon von Alexandria dem Judentum und Christentum, und das kennt das Christentum auch aus dem vielgelesenen Somnium Scipionis des Cicero.36 All dies zeigt, 31 BÖHLANDT: Vollendung und Anfang. Zur Genese der Schrift De mathematica perfectione, S. 33f. In diesem kleinen Werk sucht Cusanus das Problem der Angleichung von einer geraden und einer gekrümmten Größe mit dem Gedanken der coincidentia oppositorum zu fassen. 32 AMBROSIUS: De Abraham II 11,79 [PL 14,518]; ORIGENES: In Ps. 118,1 [PG 12, 1585 ff.]. 33 THEODORET: In Cant. 6 [PG 81, 173]. 34 AMBROSIUS: Ennarr. in ps. 37,2,2 [PL 14,1057]; AUGUSTIN: Civ. Dei XXII 30,5 [PL 41, 864]; AUGUSTIN: Ep. 55,9,17 [PL 33, 212]; AMBROSIUS: Ennarr. in ps. 6,2 [PL 36, 90]. 35 PLATON: Politea 10, 616 B. 36 Philo, Opif. Mund. 106 f.; Macrobius, Cicero Somnium Scipionis 1,5,11 15-8.
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dass die – vordergründig ganz abstrakt-geometrische – Form auf der Brust Christi, die eben durch diese Positionierung hervorgehoben ist, sehr konkrete, das antike Denken fortführende inhaltliche Aussagen bietet, und diese sind christologischer und endzeitlicher Natur. Besonders ins Auge fällt innerhalb des Kreises dann noch die Kreuzform, die durch die farbigen Edelsteine gebildet wird, zwei Saphire markieren die Senkrechte, zwei Smaragde die Waagrechte. Sie alle sind halbzylindrig geschliffen, an allen Enden stehen unregelmäßig runde Rubine und markieren die Kreuzform. Die Mitte beherrscht ein Stein in breiter rautenförmiger goldener Fassung. Auffallend große Perlen besetzen die Winkel zwischen Saphiren und Smaragden, zu beiden Seiten begleiten sie kleinere Perlen, und auch zur Mitte hin folgen kleinere Perlen, sie umlagern dicht die Raute an den Seiten. Insgesamt formen die Perlen somit ein X, dessen Mitte wiederum die Raute bildet.37 So sind ein Kreuz und ein Chi (X) ineinandergeschoben, dessen gemeinsamer Kreuzungspunkt die Raute ist. Das ganze ist eine bekannte Struktur, die sich etwa auf juwelengezierten Codices findet: als Gemmenkreuz, das von einem Chi für Christus überlagert wird.38 Zugleich aber stellt die innere Raute mit den Kreisformen der kleineren Perlen an den Seiten für sich allein schon einen Gestaltzusammenhang dar, er findet sich häufig als Darstellung der Maiestas Christi in Begleitung der vier Evangelisten, vor allem in Metallarbeiten und in der Buchmalerei.39 Doch auch der Engel Gabriel auf der Vorderseite des Genter Altars trägt eine Mantelschließe dieser Form. Inhaltlich ist damit die Verschränkung von Maiestas und Opfer, auf das das Kreuz hinweist, zum Ausdruck gebracht – also eben dies, was bildlich in den beiden Registern der Innenansicht des Altars aufgewiesen wird: einerseits die Maiestas Christi, andererseits das blutende Opferlamm. Von herausragender Bedeutung ist offenkundig der Stein in der Mittelraute, er ist das einzige Schmuckelement, das auf der Agraffe nur einmal vorkommt, und er bildet die Mitte aller ‚angespielten’ Figuren der 37 Dieses X der Perlen wird dadurch zusätzlich betont, dass es über dem Kreuzungspunkt der Stola Christi liegt und so die Perlen nahezu deren Verlauf nachzeichnen. 38 Vgl. Codex Aureus Epternacensis in Nürnberg; STEENBOCK: Der kirchliche Prachteinband im Frühen Mittelalter, Nr. 42, Abb. 60. 39 Z.B. die Staurothek von St.Matthias, Trier (Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800-1400, Köln 1972, 347f.).
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Schmuckscheibe. Er ist der größte gemalte Stein des Altars und auffällig facettiert gezeigt, während die meisten übrigen Steine im reichen Juwelenschmuck der Figur Christi unfacettiert geschliffen oder gemuggelt sind, also eine glatte, glänzend-spiegelnde, dabei aber teilweise unregelmäßige Oberfläche haben. Das führt darauf, in dem herausgehobenen Mittelstein auf der Brust Christi den Stein zu sehen, der im Mittelalter allein nicht eigentlich wegen seiner Farbe, sondern wegen seiner regelmäßigen Struktur und der damit verbundenen Vielfalt von Reflektionen und Lichtbrechungen geschätzt wurde: den Diamanten. Das rückt erneut die Gestalt der Agraffe in den Blick und zwar die Zahl und Anordnung der übrigen Kostbarkeiten auf der Scheibe in ihrem Verhältnis zum Diamanten in der Mitte. Sie müssen als höchst absichtsvoll aufgefasst werden. Um den einzelnen mittigen Diamanten sind 12 kleinere Perlen zu zählen sowie 12 Edelsteine und große Perlen (8 + 4). Mit ihrer Zuordnung zum Diamanten Christi erinnern diese 24 Kostbarkeiten an die Vierundzwanzig Ältesten, von denen die Apokalypse mehrfach spricht, und zwar im Zusammenhang einerseits mit dem machtvollen Thronen Gottes, andererseits mit der Verehrung des Lammes: Sie sitzen um den thronenden Gott, verehren das Lamm.40 Mit den vierundzwanzig Ältesten aber korrespondieren die 12 Stammväter Israels und die 12 Apostel, deren Namen auf den Toren und Mauergrundsteinen des himmlischen Jerusalem stehen (Apk 21,12 und 14). Den 12 Aposteln werden dann wenig später die verschiedenen Edelsteine zugeordnet, die 12 Stammväter Israels und die Tore jedoch werden mit 12 Perlen gleichgesetzt (Apk 21,19-21). Die 12 Perlen und die 12 Edelsteine der Agraffe auf der Brust Christi müssen also tatsächlich als Aufruf des himmlischen Jerusalems verstanden werden. Die Innenfläche des Himmlischen Jerusalem aber beschreibt die Apokalypse als bestehend aus reinem Gold wie durchscheinender Kristall (Apk 21,21) – das entspricht überraschend genau dem goldgefassten Diamanten des Malers.41 Der Diamant mit dem ihm zugeschriebenen Eigenlicht vertritt also Gott selbst, ganz im Sinne der Apokalypse, die in den beiden nach40 Apk 4,4-5,14. 4,3. 19,1-4. 41 Um diese Aussage visuell richtig zu verstehen, muss man Gegebenheiten antiker Städte in späthellenistisch- römischer Zeit zu Grunde legen. Solche Städte hatten üblicherweise – wie auch das berühmte Mosaik in Madaba (Jordanien) es für Jerusalem zeigt – größere erschließende Achsen und in der Mitte eine Freifläche (Agora), möglichst in der Nähe des bestimmenden Tempels.
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folgenden Versen sagt, dass das Himmlische Jerusalem als Tempel Gott selbst habe und das Lamm, dass weder Sonne noch Mond scheine, sondern dass die Herrlichkeit Gottes sie erleuchte und ihre Leuchte das Lamm sei (Apk 21,22-23) und zuletzt bietet sie Jesu Selbstbezeichnung als heller Morgenstern (Apk 22,16). Eine Fülle von Aussagen zum endzeitlichen Geschehen verbindet somit die Edelsteine eines geschlossenen Ganzen (dem Himmlischen Jerusalem) mit der zweimaligen Zwölfzahl, und kennt in deren Mitte ein aus sich heraus strahlendes gold-kristallines Licht, das Gott selbst ist, oder das Lamm, Christus der helle Morgenstern. Die Gestalt der Agraffe mit ihrem Besatz von zwei Zwölfergruppen um einen goldgefassten funkelnden Diamanten, musste einem gebildeten und biblisch kundigen zeitgenössischen Betrachter des Bildes nahezu zwangsläufig diese Sinnzusammenhänge der Apokalypse heraufrufen, musste von ihm als Schmuckform geometrisch gegründeter theologischer Spekulation wahrgenommen werden. Die Seltenheit eines Diamanten und seine hervorgehobene Mittelstellung innerhalb der Schmuckplatte legen nahe, dass ihm auch jenseits dieses endzeitlichen Gestaltzusammenhangs ein besonderer Stellenwert zukommt, der eine besondere Sinngebung anzeigt. In der Bibel wird der Diamant nur an wenigen Stellen, und dann wesentlich wegen seiner unbezwingbaren Härte (~ adamas) angeführt.42 Wichtig ist besonders die Stelle bei Amos, der Gottes Vorsatz überliefert, einen Diamanten in die Mitte seines Volkes Israel zu legen, die Altäre des Lachens werden dann zerstört und die Weihen Israels zersprengt und verödet – dies ist wohl der Zusammenhang, den der Schreiber der Apokalypse seiner Schilderung vom endzeitlichen himmlischen Jerusalem zu Gunde legt – und tatsächlich zeigt die Genter Retabel einen ganz dem Opfergedanken gewidmeten Altar. Origenes und Hieronymus greifen die einzelnen Bibelstellen zum Diamanten in vielgelesenen Homilien auf und setzen sie unter Nutzung der antiken Steinlehre in Bezug zu Aspekten des Wesens Christi. Vor allem sehen sie in der Härte des Diamanten ein Hinweis auf die Unbezwingbarkeit Christi; wie der Diamant allein durch das Blut eines Bockes zu bezwingen ist, so kann Christus nur durch die Passion (als Opfer-
42 In der Vulgata nur Zach 7,12. Ez 3,9. Jer 17,1. Amos 7,7ff.
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lamm) überwunden werden.43 In dem im Mittelalter ebenso beliebten wie viel bearbeiteten spätantiken Physiologus, auf den Jan van Eyck schon in den Hintergrundstoffen der Thronenden zurückgreift, mit dem Einhorn (bei Maria und Johannes) und dem Pelikan (bei Christus), findet der Diamant gleich in mehreren Ausdeutungen Berücksichtigung.44 Alle sehen sie im Diamanten einen Hinweis auf Christus und rufen christologische Zusammenhänge auf: Der Diamant ist im Morgenlande zu finden, nicht aber am Tage, sondern in der Nacht. Er bezwingt alles, ist aber selbst unbezwingbar; so richtet Christus alles, wird selbst aber von niemandem gerichtet. Daher schützt Christus auch das Herz, das er bewohnt, vor teuflischer Macht. Aufgang ist der Name des Diamanten; zu Christus aber ist gekündet, dass aufgehen wird ein Stern aus Jakob, und dass denen, die im Finstern stehen, aufgegangen ist ein großes Licht. In der Nacht wurde im Lande des Aufgangs gefunden der Herr Aller, und die Anschläge der Könige und Machthaber mussten an ihm scheitern. Wie der Diamant jedoch wird Christus, obgleich unbesiegbar, allein von warmem Blut (bzw. Bocksblut)45 gebeugt, wodurch ihm aber dann das Königtum des Himmels zuteil wird. Das meint seinen eigenen Opfertod als Lamm Gottes. So zeichnet die christliche Tradition schon den Diamanten allein als Zeichen Christi. Jan aber führt dies in überraschender Weise bilddenkend weiter aus und er nähert sich dabei wieder Cusanus. Der Diamant, den Jan van Eck in der Mittelraute wiedergibt, besitzt eine quadratische Grundfläche, auf diese ist eine regelmäßige Pyramide gestellt, deren Seiten aus annährend gleichseitigen Dreiecken besteht. 43 Hieronymus, Translatio hom. Originis in Jer., PL 25,607: vgl. Origines GCS 33, S.303ff., und GCS 6 S.214. Hieronymus, In Zach., CCL76A S.805,185ff.; in Amos CCL 76, S.317ff. 44 Nr. 32 und 42; KAIMAKIS: Der Physiologus nach der ersten Redaktion. SEEL: Der Physiologus. LAUCHERT: Geschichte des Philologus, mit zwei Textbeilagen (Beilagen: 1. der griech. Physiologus 229-279; 2. Der jüngere Deutsche Pysiologus {12. Jh.} S.280-299). Vgl. MEIER: Gemma spiritalis, S. 128; 270ff. 45 Die Aussage, dass der Diamant allein durch Bocksblut ‘bezwungen’ wird, geht zurück auf PLINIUS: nat. hist. 37,59. Bemerkenswerterweise aber spricht der Physiologus in 32 seiner typologischen Anwendung gegen Ende nur allgemein von warmem Blut und verbindet damit unmittelbar Jesu Leidensankündigung in Mt 20,20-22 und Mk 10,35-38, so dass die Darstellung Christi als Diamant nach dem Physiologus zugleich als Hinweis auf das Opferlamm im unteren Register des Genter Altars zu verstehen ist. Vgl. auch OHLY: Diamant und Bocksblut.
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[Abb. 14] Diese Form war in der burgundischen Welt überaus beliebt, ja in den herrscherlichen Kreisen geradezu Mode, sie erscheint in der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jh. häufiger in der Bildniskunst, auch sind einige Schmuckstücke dieser Zeit mit derartigen Diamanten erhalten geblieben.46 Der Diamant, den Jan malt, ist nichts anderes, als die Hälfte eines Natur-Diamanten, dessen kristalline Struktur einem regelmäßigen Oktaeder [Octahedron] entspricht. Exemplare mit einer solchen, in sich regelhaften symmetrischen Form und reinen durchscheinenden Oberflächen kommen in der Natur vor, sind freilich äußerst selten zu finden,47 weshalb man – vor allem am burgundischen Hof – dazu überging, diese edelste Form des Diamanten aus größeren Steinen durch Schliff herzustellen: der Edelsteinkundige spricht daher vom ‚Burgundischen Schliff’. Der Grund dieser Edelsteinmode scheint wesentlich ein spekulativer, philosophischer gewesen zu sein. Der regelmäßige Oktaeder, den die Naturform des Diamanten zeigt, ist einer der ‚platonischen Körper’, einer der Körper, die Platon im Timaios beschreibt (Tim. 54c ff.) und als Grundbausteine des Kosmos annimmt. Der Oktaeder steht dabei für den AithƝr, die Luft. Mit der besonderen Wertschätzung des Diamanten in der hälftigen Oktaederform scheint der burgundische Hof die kosmischen Gehalte des Platonismus aufgenommen und mit Christlichem verbunden zu haben, denn einem christlichen Denken musste ein Hinweis auf den AithƝr nahezu zwangsläufig auf das Pneuma und den göttlichen Lebensodem verweisen. Im Aufgreifen dieses Motivkomplexes erweist der Maler Christus als den kosmischen Lebensspender, als das Leben selbst. Was Jan van Eyck konkret wiedergibt ist das, was die Edelsteinkunde eine ‚Diamantspitze’ (engl. Diamond point) nennt. Aufgrund der kristallinen Struktur als regelmäßiger Oktaeder aber ergibt sich bei einer Diamantspitze bei einem strikten Blick von oben auf die Pyramidenspitze durch die internen Widerspiegelungen und Lichtbrechungen innerhalb dieser Pyramide, visuell also innerhalb des Grundquadrats der Pyramide 46 Ring in Petersburg (Eremitage); vgl. dazu TILLANDER: Diamond Cuts, S. 33, Abb. 18. Vgl. auch einen der Ringe auf dem Blumenstilleben mit Schmuck von Jan Brueghel d. Ä. von 1618 (Brüssel, Museum der Schönen Künste). Eine Imitation der Eyck’schen Darstellung des Diamanten versucht der Meister der Ursula-Legende (Jean Hervey?): Heiliger Nikolaus in Brügge (Groeningemuseum). 47 TILLANDER: Diamond Cuts, S. 22f. (mit den genauen Winkelangaben).
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(a), ein an dessen Seitenmitten ansetzendes (rautenartig gestelltes) zweites Quadrat (b.), das die Hälfte der Fläche des ersten Quadrates (a) besitzt und das durch Diagonalen des ersten Quadrates (a) in vier regelmäßige Quadrate aufgeteilt ist. Dieses allein durch die optischen Effekte entstehende innere Quadrat (b) überlagert dunkel das durch die internen Widerspiegelungen aufgehellte äußere Quadrat (a.), von dem somit nur die in zwei gleichgroße Dreiecke geteilten hellen Spitzen sichtbar werden.48 Genau diese visuellen Gegebenheit pointiert Jan van Eyck, wie der eingehendere Blick zeigt, und er nutzt dafür die Örtlichkeit des Altars: Die rechte Seite des Diamanten ist durch das hohe Fenster der Vijd-Kapelle (dem Bestimmungsort der Retabel) belichtet; so zeigt sich, da der Maler annähernd strikt von oben sieht, die rechte Hälfte der dunklen quadratischen Binnenreflektion des Diamanten. In der oberen und unteren Ecke sowie in der rechten Ecke sind die hellen Bereiche des Grundquadrates deutlich zu erkennen, jeweils wiederum halbiert. Die linke Seite des Diamanten ist gänzlich verschattet bis auf wenige Lichtpunkte, die jedoch gerade in den Bereichen des Diamanten liegen, die nach Maßgabe der Binnenreflektion bei ausgeglichener Belichtung hell sein würden.
Cusanus und der Di amant Der Darstellung des Diamanten Christi von Jan van Eyck wohnt noch ein besonderer Gehalt inne, der sich allerdings erst bei einem Blick auf einen Traktat des Nicolaus von Kues zu erkennen gibt. Denn der Diamant ist im 15. Jh. auch als solcher Gegenstand der philosophisch-theologischen Spekulation. In seinem Werk Idiota de mente (1450), kommt der Philosoph in einem bedeutsamen Zusammenhang auf den Diamanten zu sprechen. Unter Rückbezug auf seine Überlegungen zum Spiegel führt Cusanus dort den kostbaren Stein im Zusammenhang einer Erörterung über die Herkunft des Denk- und Scheidungsvermögen ein: „So ist der Geist die lebendige Abbildung der ewigen und unendlichen Weisheit. Aber in unseren Geistern gleicht jenes Leben anfangs einem
48 Vgl. die Struktur-Skizze bei TILLANDER: Diamond Cuts, Abb. 3 und 4 sowie 7; eine photographische Aufnahme eines so geschnittenen historischen Steins bietet ebd., S. 33, Abb. 18 (Ring der Eremitage), deutlich ist das ‚rautenartig gestellte’ innere Quadrat zu erkennen.
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Schlafenden, bis es durch das Staunen, das aus dem Sinnenfälligen entsteht, angeregt wird, daß es sich bewegt. Dann findet er durch die Bewegung seines vernunfthaften Lebens in sich abgeschrieben, was er sucht. Du mußt aber verstehen, daß diese Kopie Widerschein des Urbildes von allem auf die Weise ist, wie in ihrem Abbild die Wahrheit widerstrahlt. wie wenn die einfachste und unteilbare Spitze eines Winkels an einem ganz fein geschliffenen Diamanten, in der die Formen aller Dinge widerstrahlen, lebendig wäre; dann würde jene, wenn sie sich anblickte, aller Dinge Abbilder finden, durch die sie sich Begriffe von allem machen könnte.“49
Der Diamant, genauer (wie Cusanus deutlich macht) die Diamantspitze, ist hier Bild eines umfassend erkennenden Geistes, Cusanus spricht von der ewigen und unendlichen Weisheit, was sicherlich auch an den platonischen AithƝr des Oktaeders anschließt und an das göttliche Pneuma erinnert. In seinem Blick auf sich selbst vermag dieser umfassend erkennende Geist die Abbilder der Dinge der Welt zu sehen, zu erfassen und sich begrifflich verfügbar zu machen. Dass der Akzent tatsächlich auf der Spitze des Diamanten und den in ihr entstehenden Widerspiegelungen und Lichtbrechungen liegt, zeigt in De mente die Reaktion des Philosophen auf die eben zitierte Äußerung: „Wunderbar redest du […]; sehr gefällt mir das Beispiel von der Diamant-Spitze. Denn je schärfer und einfacher jener Winkel ist, desto klarer strahlt in ihm alles wider.” Der Laie nimmt das auf und führt es – ansetzend an der Aussage über das interne Widerstrahlen – weiter: „Wer die Spiegelkraft in sich betrachtet, sieht, dass sie vor aller Quantität ist. Wenn er sie als mit vernunfthaftem Leben, in dem das Urbild von allem widerstrahlt, belebt begreift, stellt er eine eingängige ‚Zusammenziehung’, Coniectura, her. “ Cusanus will also die Diamant-Spitze als lebendig gedacht haben, so wird sie ihm zum Zugang zu einem Nachdenken über den Geist, und dies 49 De mente (h ²V n. 85): „Unde mens est viva descriptio aeternae et infinitae sapientiae. Sed in nostris mentibus ab initio vita illa similis est dormienti, quousque admiratione, quae ex sensibilibus oritur, excitetur, ut moveatur. Tunc motu vitae suae intellectivae in se descriptum reperit, quod quaerit. Intelligas autem descriptionem hanc resplendentiam esse exemplaris omnium modo, quo in sua imagine veritas resplendet. Ac si acuties simplicissima et indivisibilis anguli lapidis diamantis politissimi, in qua omnium rerum formae resplenderent, viva foret, illa se intuendo omnium rerum similitudines reperiret, per quas de omnibus notiones facere posset.“ Deutsch: H 21.
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gerade im Hinblick auf die internen Widerspiegelungen. Dies führt weiter, die Richtung zeigt das letzte ausklingende Wort des Gedankens an: coniectura – es verweist auf Cusanus’ großes zwischen 1441 and 1444 geschriebenes Werk De coniecturis. Tragendes Moment in der von Cusanus entwickelten ars coniecturalis, der „Neuen Kunst des Philosophen, mit der er eine umfassende Theorie von Sinn und Wahrnehmung zu entwerfen versucht, ist die Spannung zwischen Einheit und Andersheit (unitas et alteritas), die er im Sinne seiner Lehre der coincidentia oppositorum anhand des Verhältnisses, der Spannung zwischen Licht (lux) und Dunkel (umbra; tenebra) erörtert. Er erläutert sie an der Figura P (für paradigmatica), nicht ohne ausdrücklich hervorzuheben, dass es sich bei der Figura P um ein abstraktes Denkmodell handele,50 dass also – der von ihm am Ende von De docta ignorantia entwickelten negativen Theologie entsprechend51 – Gott keineswegs als das Licht aufzufassen ist, da er ja alles Sag- und Benennbare überschreitet. [Abb. 15] Die Figura P beschreibt Cusanus als zwei von der Spitze bis zur Basis einander durchdringende Pyramiden, wobei die Achsen beider Körper auf einer Linie liegen und so die Spitze der einen Pyramide in die Mitte der Grundfläche (basis) der anderen Pyramide trifft. Die eine Pyramide nennt er ‚Licht’ (lux), die andere Dunkel (tenebra). Die Basis (der Pyramide) des Lichts kann nun als gleichsam Gott darstellend aufgefasst werden, die Basis (der Pyramide) des Dunkel hingegen als gleichsam das Nichts (nihil) darstellend gesehen werden. Damit stellt sich die Figura paradigmatica als Beschreibung einer ontologischen Situation dar: die Wirklichkeit kann als ein Verhältnis, genauer: als ein Prozess zwischen lux and tenebra gefasst werden, wobei dieser als dreistufig gesehen wird, was in den Dreierteilungen der Pyramiden (infimus mundus, medius mundus, supremus mundus; primum caelum, secundum caelum, tertium caelum) seinen Ausdruck findet.
50 De coni. I (h III n. 43): „Admonitum te semper esse volo eorum saepe dictorum, ne hoc figurali signo ad phantasmata falsa ducaris, quoniam nec lux nec tenebra, ut in mundo vides sensibili, in aliis debes coniecturare. Hoc retento utere figura hac in omnibus inquirendis, quam P, quia paradigmatica est, in sequentibus nominabo.“ Eine colorierte Ausformung der Figura Paradigmatica enthält der Codex Cusanus 218 (fol. 58 recto) des St. Nikolaus-Hospitals, Bernkastel-Kues. 51 De docta ign. I, c. 26 (h I p. 54 [n. 86]).
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Es ist nun bemerkenswert, dass das Modell, das Cusanus hier entwirft, eine Vorformulierung im Colliget principiorum hat, das der Brabanter Heymerich van de Velde wohl 1434 in Basel schrieb.52 Den Prozess des wechselseitigen Durchdringens fasst Heymerich als effluxus und refluxus, und auch er spricht von einer dreigegliederten Pyramide. Da Heymerich zwischen seinem Eintreffen in Basel im Dezember 1432 und dem Frühjahr 1434 neben seiner Tätigkeit in der (theologischen) Deputation des Konzils eine große Zahl von Werken verfasst hat, dürfte er kaum Zeit gehabt haben, sich noch eine von Grund auf andere Thematik zu erarbeiten. Dies spricht dafür, dass das Colliget principiorum (ebenso wie das sigillum eternitatis, das für die frühe Kreisspekulation des Cusanus in der Kölner Zeit steht53) konzeptionell in großen Teilen noch auf die Kölner Zeit vor dem Abgang nach Basel zurückgeht, eine Zeit in der Heymerich und Cusanus als Mitglieder derselben Universität in enger Verbindung zueinander standen. Das macht wahrscheinlich, dass die Vorstellungen der wechselseitig einander durchdringenden Pyramiden, nicht erst 1441/1444 erarbeitet wurden, als Cusanus De Coniecturis verfasste, sondern in ihren Grundzügen schon in der Zeit vor Ende 1432 vorlagen – in einer Zeit also, in der Heymerich und Nicolaus in Köln zusammen wirkten. Das aber bedeutet, dass für den Zeitraum, in dem Jan van Eyck am Genter Altar malt, das Gedankenbild des wechselseitig sich durchdringenden effluxus und refluxus als Beispiel für die Seinsordnung gegenwärtig gewesen sein muss – nicht zuletzt eben deswegen, weil Heymerich im Brabanter Raum, seiner Heimat bekannt war, wie der Ruf nach Löwen von 1432 zeigt. Jan van Eyck scheint hier zeitgenössisch auf das Denken der beiden Philosophen zu regieren.
Der Krist all des Eremiten Im Genter Altar erscheint noch ein weiterer facettierter Stein – gleichsam am äußersten Gegenpunkt zu Christus und seinem Brustschmuck, diesmal zweifelsfrei ein naturfacettierter Stein: ein Kristall: er liegt auf 52 Voller Titel im Codex Cusanus 106: fol. 195r-273v: Colliget principiorum iuris naturalis, divini et humani philosophiae doctrinalium magistri H. de Campo. HAMANN: Das Siegel der Ewigkeit, S. 35 weist darauf hin, dass die Formulierung mit colliget nur in Übersetzungen aus dem Arabischen bekannt ist, wie etwa dem Colliget medicinae des Ibn-Ruschd (Averroes). 53 Vgl. dazu SCHNEIDER: Die Deesis des Genter Altars.
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dem steinigen Weg der Eremiten, die zur Verehrung des Lammes hinstreben, hingestreut im Vordergrund mit anderen, naturgemuggelten Edelsteinen und Korallen. [Abb. 16] Deutlich sind bei ihm wie bei den nebenan liegenden naturgemuggelten Steinen die Oberflächenreflektion, die Erhellung des Steingrundes und der Lichtfleck der den Stein durchdringenden Strahlen auf der Bodenfläche links neben dem Kristall zu erkennen. Ja dieser, der (wie der Lichtfleck links neben dem Kristall und die Perlen des Rosenkranzes zeigen) sein Licht von recht oben erhält, scheint dieses Licht mit der größeren schräg gelagerten Fläche rechts, die für den Betrachter gänzlich dunkel ist, wiederzuspiegeln; denn die Sohle des linken Schuhs des Pilgers mit dem Stock ist unten belichtet, obwohl sie, wie der spitze Schatten der Schuhspitze verdeutlicht, eigentlich im Schatten liegt. Der facettierte Diamant auf der Mantelsschließe Christi und der naturfacettierte Stein auf dem Weg, sie stehen in einer impliziten Entgegenstellung zueinander, spannen einen Sinnraum auf, fassen die Ordnung der Welt und lassen diese gleichsam auf den Diamanten auf der Brust Christi hin fluchten. Mit den Augen des Cusanus gedacht kann der naturfacettierter Kristall Jan van Eycks im Sinne der Figura paradigmatica in De coniecturis als äußerster Ausdruck des Lichts (lucis) im Dunkel (tenebra) der Welt gedacht werden – Gegenstück also zum dunkeln Quadrat im Diamanten auf der Brust Christi, das die letzte Spur des Dunkels im Licht darstellt. Diese tenebra freilich, das zeigt der Maler, wie es der Philosoph denkt, ist alles andere als die negative Finsternis eines Licht-Dunkel-Antagonismus. Die tenebra ist die äußerste Ebene des Durchlichteten, das eben daher punkthaft noch in dieser erscheint, gleichsam als das äußerste Leben versteint.
Siegelungen und Medialität Wie in diesem Falle sind auch die Spiegelungen in den übrigen Steinen, die zunächst lediglich die maltechnische Brillanz Jan van Eycks zu bezeugen scheinen, als Fingerzeige auf das Denken des Malers zu verstehen, die der Betrachter in seiner Wahrnehmung des Bildes nachzuvollziehen und weiterzuführen hat. Beispielhaft zeigen das die vielen Spiegelungen der Steine in der Figur Christi, die gerade an herausragender Stelle mit besonderer Sorgfalt wiedergegeben sind: etwa bei den Saphiren an der Spitze des
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Szepters und der Tiara. [Abb. 7] Sie spiegeln deutliche erkennbar zwei Fenster: es sind – das erkennt jeder, der einmal den Dom von Gent besucht – die Fenster der Vijd-Kapelle, des originalen Standorts des Altars. Doch diese Fenster spiegeln sich auch in den Augen Christi, des Allsehenden selbst. Hier stellt der Maler die Frage nach der Medialität des Bildes. Für das nähere Verstehen ist es notwendig, noch ein weiteres Spiegelphänomen zu betrachten. Alle wichtigen Gestalten der Innenansicht der Genter Altarretabel liegen auf der Bildachse, und auf dieser liegt auch – das ist zweifellos ein Hinweis auf die Wichtigkeit des Gegenstandes – der Brunnen mit der Brunnensäule. Diese Brunnensäule besitzt oben eine Kugel, und diese Kugel spiegelt. [Abb. 17] Doch anders als die vorhin aufgezeigten Spieglungen auf dem Harnisch des Ritters oder auf dem Kelch des Lammes spiegelt sich da nicht die Paradieseslandschaft, sondern es spiegeln sich die Fenster der Vijd-Kapelle des Genter Doms, ganz so, wie auf den Schmucksteinen. Deutlich ist auf der rechten helleren Seite die Fenstergliederung der Kapelle wiedergegeben, auf der dunkleren linken Seite ist sogar noch schemenhaft das Innere des Genter Doms zu erkennen, an das die Kapelle anschließt. Damit aber ist der Betrachter vor einen bildlogischen Zweispalt gestellt: Wie ist diese Widerspiegelung der Fenster auf der Brunnenkugel mit der Widerspiegelung der Paradieseslandschaft auf dem Ritterharnisch zu vereinen? Um das Dilemma aufzulösen, das ihm der Maler vor Augen stellt, hat der Betrachter den Punkt zu suchen, an dem dieser Widerspruch nicht besteht. Die Spieglung der Kugel bietet einen Kirchenraum, dies zeigt deutlich die Zweiteilung des Fensters an, die unverkennbar ein hohes gotisches Fenster zeigt (und erst damit der Spieglung ihren besonderen ‚Erkennungswert’ gibt). In ekklesiologischer Deutung aber ist die Kirche mit der Liturgie – wie schon Maximos Confessor und Ps. Germanos in der Spätantike lehrten54, worin ihnen Cusanus sicherlich folgte – Vorspiel des paradiesisch-endzeitliches Geschehens. Unter diesem Blickwinkel aber kann eine gleichzeitige Spiegelung des Paradieses und die eines Kirchenraums vom selben 54 MAXIMUS CONFESSOR PG 91: 657-717; bes. 691ff. (cap. 14-16); vgl. TAFT: The Liturgy of the Great Church, S. 71. Weiter ausgebaut wird diese mystagogische Theologie des Kirchenraums von Ps. Germanos; vgl. den (von Anastasius Bibliothecarius im 9.Jh. ins Lat. übersetzten) von BRIGHTMAN: The Historia Mystagogica and other Greek Commentaries on the byzantine Liturgy, S. 248-267 und S. 387-397 griech. herausgegebenen Text. Zur Mystagogie vgl. SCHNEIDER: Durch Sinnbilder zur Schau.
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Gegenstand als vereinbar gelten: Die liturgisch genutzte Kirche ist das vorweg „aufgeführte“ himmlische Paradies. So gesehen spiegelt sich trotz verschiedener äußerer Gestalt dasselbe. Aber noch weiter: Erzeugt wird diese Spiegelung durch das Licht, durch das außen gleißende Licht, das durch die Fenster der Vijd-Kapelle auf den Altar fällt, durch das Licht also, das wir lediglich durch die Vermittlung der Kirchenfenster (also gleichsam der Institution der Kirche als solcher) als Licht von Außen wahrnehmen (und nicht einfach nur als allgemeinen Helligkeitspunkt sehen), durch das Licht, in dem die Kirche selbst insgesamt steht, das sich aber der unmittelbaren Betrachtung entzieht. Darin liegt der letzte Verweischarakter der raffinierten Spiegelungen, die den ganzen Altar durchziehen: Spiegelungen in den Augen der Figuren, auf den Steinen und auf den Wassertropfen des Paradiesesbrunnens, schließlich auch der Lichtschimmer, der (bei Adam und Eva) dem menschlichen Körper sein Leben gibt, menschliche Haut fast haptisch vergegenwärtigt und dies unter deutlicher Scheidung von weiblicher Haut und männlicher Haut, sie verweisen auf den, der sich – in der Sprache der antiken Sehnsucht nach dem Licht – selbst als das Licht der Welt zu erkennen gegeben hat. So kennzeichnet der Maler auch das Bild Christi selbst als Bild, als Mediales, d.h. als Vermittelndes: Ein Sehen der göttlichen Person kann nicht vordergründig in der dargestellten Figur Christi enden, sondern hat notwendigerweise das Bild zu übersteigen, ja es eigentlich in der Betrachtung der Visio Dei aufzulösen: denn menschliches Sehen stößt – wie Nikolaus von Kues sagt – auf eine unüberwindliche Mauer, die Mauer des Paradieses, die nicht mit dem Verstand zu überwinden ist, sondern allein in der umfassenden Wahrnehmung des Ineinanderfallen der Gegensätze. Aber eben so erhält das Menschliche gegenüber dem Göttlichen einen neuen Wert, einen Wert bis in die Materialität seiner Körperlichkeit hinein. In Materialität und Körperlichkeit erscheint die Gerichtetheit zum Göttlichen, scheint das Göttliche auf, das wahrnehmbar wird in und nach Maßgabe der je einzeln begründeten Möglichkeit: „Als ich chan“, wie es „nach dem Vermögen sein kann“, zum Ganzen hin: dem possest.
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Abb. 15: Figura paradigmatica (Cod. Cus. 218, fol. 58 r) (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des St. Nikolaus-Hospitals, BernkastelKues)
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Albrecht Dürers „docta manus“ und ihre Cusanische Herkunft Die künstlerische Tätigkeit als Anfang der Neuzeit ELENA FILIPPI Dürers Hand als Künstlerhand gehört zu den meist verwendeten Topoi jener Dürer-Renaissance, die unmittelbar nach dem Tod des Meisters ihren Anfang feierte. Man erzählt, dass die Freunde des Verschiedenen bald nach dessen Tod die Leiche exhumieren ließen, um einen Abguss seines Gesichts und seiner göttlichen Hand anzufertigen.1 Camerarius (1500-1574), Professor für Griechisch und Latein, Humanist und Herausgeber einiger Traktate von Dürer, würdigt Dürers Methode, alla prima zu zeichnen, d.h. spontan und unmittelbar, gleichsam ohne Vermittlung der Reflexion, als sei seine Hand durch Kenntnis und Verstand der Wahrheit geführt („cognitione et intelligentia veritatis“).2 In seinem Enkomion auf Dürer spricht Eoban Hessus von seiner „docta manus“ und greift damit eine Formulierung wieder auf, die 1500 von Konrad Celtis in Form eines Dürer-Epigramms geprägt wurde. Diese Hand – so Hessus – sei „ratio tota“ gewesen, eine vollkommen vernünftige.3
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SCHUSTER: Melencolia I, S. 138. KOERNER: The moment of Self-Portraiture, S. 146. Zit. aus HESSUS: In funere Alberti Dureri Norici, in RUPPRICH (Hg.): Schriftlicher Nachlaß I, S. 299.
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„Denkende Hände“, mit anderen Worten.4 Nun steckt de facto ein weitreichendes Problem hinter dieser Wendung. Die abendländische Überlieferung der Antike und des Mittelalters nimmt gewöhnlich eine Trennung vor: hier das Denken, dort die Hand. Das Denken gilt als Tätigkeit der vernünftigen Seele, die dann im geschriebenen Wort ihren Niederschlag findet. Und das betrifft das Leben in seinem eigentlichen Sinne. Die Hand verunreinigt sich dagegen mit der Materie, hantiert mit Instrumenten, die zu irgendeinem Ziel dienen; die Hand ist somit zweitrangig und unterwürfig wie das Mittel gegenüber dem Zweck. Diese Auffassung gerät im 15. Jahrhundert durch Nikolaus von Kues in eine Krise – durch einen Denker also, zu dessen Werk Dürer einen vielfachen Zugang hatte, da es in seinem engeren Umkreis Menschen gab wie u.a. die Geschwister Pirckheimer, Hartmann Schedel, Konrad Celtis und Ulrich Pinder, die sich nachweislich mit Cusanus befassten, wie ich andernorts näher charakterisieren konnte.5 Die hier kurz zusammengefasste Argumentation des Cusanus lautet: Gott ist unser Schöpfer und „schöpfen“ heißt soviel wie „handeln“. Der Mensch (als denkendes Wesen) ist nun „imago Dei“,6 Abbild Gottes. Also ist sein Denken von einem Handeln durchzogen: Das Denken verkörpert einen Handlungsmoment in sich: Indem wir z.B. das Denken ausüben, machen wir uns Gott ähnlicher und ähnlicher, nach dem Modell der berühmten „docta ignorantia“. Um die ursprüngliche Handlung Gottes durch eine ähnliche Tätigkeit des Menschen zu erläutern, rekur-
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Vgl. Tagungsbericht Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte (Greifswald, 28.06.2007-30.06.2007), in: H-Soz-u-Kult, online: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1668. In dem Vortrag „Die Hand des Philosophen: Diogenes von Sinope und die anderen“ gelang es THOMAS RICKLIN (Seminar für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance, LMU München) zu zeigen, wie Platon und der Sokrates des Xenophon Auffassungen der Hand propagierten, die für das philosophische Schattendasein des „Organs aller Organe“ sorgten [...] Der Sokrates des Xenophon behauptete, dass der Mensch das, was ihn glücklich macht, mit den Händen erarbeite. FILIPPI: L’Autoritratto di Dürer del 1500, DIES.: „Quasi pictor, qui diversos temperat colores, ut habeat sui ipsius imaginem“, DIES.: Imitatio naturae und imitatio Christi, und DIES.: Umanesimo e misura viva. In diesem Kontext neulich zusammenfassend KREUZER: Der Geist als imago Dei.
Albrecht Dürers „docta manus“ und ihre Cusanische Herkunft
riert Cusanus oft auf das Beispiel der Malkunst.7 Gott ist wie ein Maler, der imstande wäre, ein Porträt von sich selbst zu machen, welches die Fähigkeit hätte, sich selbst zu modifizieren, um dem Urheber mehr und mehr zu ähneln. Das nennt er „imago viva“.8 Diese unterscheidet er von einer „imago mortua“, d.h. von einem exakten Abbild. Denn die imago viva, das lebendige Bild, ist ein solches, das die Tätigkeit, die Art und Weise – die Seinsweise – des Abgebildeten reproduziert. Ist dieser jemand, der sich nach und nach betätigend Dinge und Ähnlichkeiten entstehen lässt, so soll auch sein Bild denselben Charakter haben. Der Mensch ist eben ein lebendiges Bild Gottes: Als solches hat er eine – wenngleich beschränkte – schöpferische Begabung und kann sich selbst so verändern, dass er dem Schöpfergott immer ähnlicher wird. 9 Die Malerei dient somit als „Paradigma der dignitas hominis“10 und die Hand hat ihre niedrige Rolle mit einem Schlag verloren. Dürer fordert sogar in seinen Schriften, „der verstandt muß mit dem gebrauch anfahen zu wachsen, also das die hand kun thon, was der will im vestand haben wil.“11 Daher entsteht umgekehrt die Dimension des Denkens aus dem tätigen Gebrauch der Hand. Der Künstler ist, so Dürer, „jnwendig voller vigur“:12 nicht das Sehen dient hier als Modell der ratio, sondern eine intime Veranlagung, eine Figur, die von der Hand verlangt, die Würde der Form zu erhalten. Die Rehabilitierung der künstlerischen Hand durch den Vergleich mit der göttlichen Hand einerseits, und durch die Erinnerung an das Vorbild der Antike andererseits, war in der Dürerzeit ein brennendes 7
Siehe allgemein den Band von BOCKEN und SCHWAETZER (Hgg.): Spiegel und Porträt, und speziell den Aufsatz von SCHWAETZER: Viva imago Dei. 8 De mente (h 2V n. 106): „Utitur autem hoc altissimo modo mens se ipsa, ut ipsa est dei imago, et deus, qui est omnia, in ea relucet, scilicet quando ut viva imago dei ad exemplar suum se omni conatu assimilando convertit.“ Wichtige Hinweise in BREDOW: Der Geist als lebendiges Bild Gottes. Anregende und aktualisierende Überlegungen in Bezug auf die künstlerische Tätigkeit bietet in diesem Sinne BOCKEN: (Nicht-)Sein und (Nicht)Werden. 9 Grundlegend MANDRELLA: Gott als Porträtmaler in Sermo CCLI, S. 133145; FILIPPI: „Quasi pictor, qui diversos temperat colores, ut habeat sui ipsius imaginem“, S. 185-187. 10 Zit. nach LEINKAUF: Ut philosophia pictura, S. 53. 11 RUPPRICH (Hg.): Schriftlicher Nachlaß III, S. 297. 12 RUPPRICH (Hg.): Schriftlicher Nachlaß I, S. 113.
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Thema: Beispielhaft ist es durch Das Täfelchen des Apelles (Druckmarke für Valentinus Curio) dargestellt, das Hans Holbein 1521 für das Enchiridion des Erasmus von Rotterdam realisierte: Die Hand des Malers schlechthin, Apelles, die nach der Erzählung von Plinius die dünnste Linie zeichnen konnte (dünner noch als die eines zeitgenössischen Künstlers) ist hier zugleich die Hand Gottes, die aus einer Wolke hervorscheint.13 1527 hatte Willibald Pirckheimer die Charakteres ethici des Theophrasts aus dem Altgriechischen ins Lateinische übersetzt und das entstandene Werk Albrecht Dürer gewidmet:14 Damit zeichnet die Hand das Wesen des jeweiligen Menschen. 1504 hat Pomponius Gauricus in seiner Schrift De Sculptura, einem Werk, das in der Dürerschen Bibliothek vorhanden war,15 eine Überlegung zur Bedeutung der Hand eingefügt, die nicht nur rein technisch im Sinne der Symmetria und der Proportio zu interpretieren ist, sondern auch in Hinsicht auf einen mantischen Gewinn: „Manus tenerae mollioresque optimi dicuntur esse ingenii argumentum, Durae Magnaeque fortem illum quidem significabunt, haud satis tamen disciplinis idoneum, Parvae manus callidum, Perbreues ac Mutilatae fatuum, Quae si et pingues nequissimum, Angustae gracilesque manus, rapacitatis, Pleniores quae oblongos habeant digitos, furacitatis, Graciles tortuosaeque nugacitatis uoracitatisque indicium.“ Temperamente und Gemüter dürfen letzten Endes durch die Betrachtung der Hand ermittelt werden.16 Das hat viel mit Dürers Hand zu tun, wie ich im Folgenden darlegen werde. So hatte Aristoteles den göttlichen Gipfel des Denkens als Denken des Denkens begriffen; Dürer hat indessen denkende Hände mit seiner Hand – mehr noch als mit dem reinen Verstand – gestaltet; wohlbemerkt ist gerade bei Aristoteles eine enge Verbindung zwischen Verstand und Händen zu spüren, z.B. im De partibus animalium, wo er den Gedanken äußert, der Mensch sei deshalb das verständige unter allen Tieren, weil er Hände besitzt. Hände sind nämlich ein Instrument, und die Natur, indem sie wie ein intelligentes Wesen handelt, weist jedes Instrument nur demjenigen zu, der es zu verwenden weiß. Der intelligenteste unter allen Wesen ist aber wer möglichst viele Instrumente
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BÄTSCHMANN und GRIENER: Holbein-Apelles, S. 626-650. REIßER: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Zuletzt ESER: Dürer und das Buch, S. 31-43. Zit. nach GAURICUS: De sculptura, S. 157.
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sinnvoll gebrauchen kann; nun wie es scheint ist die Hand kein einzelnes, sondern mehrere Instrumente zugleich. Diese Aristotelische Stelle, die etwa auch bei Cicero wiederaufgegriffen wurde, verwertet auch Giannozzo Manetti (1386-1459), einer der ausschlaggebenden Schriftsteller der Renaissance sowie Verfasser des De dignitate hominis.17 Diese aristotelische Abhandlung war übrigens im deutschen Sprachraum ziemlich bekannt, wo es bereits durch Albertus Magnus und später durch Thomas von Aquin kommentiert wurde. Viel Aufsehen erregte es im Nürnberger Kreis um Willibald Pirckheimer. Dieser letzte besaß nicht nur das ganze gedruckte Aristoteles, sondern übersetzte selber Teile davon aus dem Altgriechischen ins Lateinische.18 Am Anfang des 16. Jahrhunderts wurden auch manche prinzipiellen Fragen in diesem Sinne aufgeworfen. In derselben Zeit, da Dürer das Werk eines Jacopo de’ Barbari tief bewunderte, richtete der venezianische Künstler einen Brief an Friedrich den Weisen: Lettera sulla eccellenza della pittura.19 Hier ermutigte er unter anderem die Künstler dazu, das Aristotelische De Anima zu lesen, wo gerade dem Tastsinn, welcher in der Hand seine Zuspitzung erfährt, eine eminent wichtige Rolle als Erkenntnismittel zugewiesen wird. Es gibt nämlich eine „Intelligenz der Hände“, wie Henri Focillon auf unübertrefflicher Weise formulierte.20 1528 verfasste Erasmus einen Dialog unter dem Titel De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione, der eine Würdigung des kurz zuvor verstorbenen Künstlers Dürer enthält. Hier übernimmt Erasmus fast buchstäblich die Worte, mit denen Plinius die außerordentliche 17 Diesbezüglich siehe GLAAP: Untersuchungen zu Giannozzo Manetti; DRÖGE: The Pope’s favorite Humanist, S. 63-81. 18 Vgl. GREBE: Katalognummer 19-20-21, S. 18ff. 19 Zuletzt in FERRARI: Jacopo de’ Barbari, S. 101f. 20 In seinem Buch Lob der Hand schrieb 1934 FOCILLON: „Ich weiß nicht, ob es zwischen der manuellen und der mechanischen Ordnung einen Bruch gibt, aber das Werkzeug am Ende des Arms widerspricht dem Menschen nicht, es handelt sich nicht um einen an einen Stumpf geschraubten Eisenhaken; unter ihnen ist Gott in Form von fünf Personen und allen Größenordnungen, die Hand des Maurers der Kathedralen, die Hand der Manuskriptmaler.“ In der Originalfassung, S. 8: „J’ignore s’il y a rupture entre l’ordre manuel et l’ordre mécanique, je n’en suis pas très sûr, mais, au bout du bras, l’outil ne contredit pas l’homme, il n’est pas un crochet de fer vissé à un moignon; entre eux, il y a le dieu en cinq personnes qui parcourt l’échelle de toutes les grandeurs, la main dumaçon des cathédrales, la main des peintres de manuscrits.“
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Begabung des antiken Malers Apelles besang, unsichtbare Dinge darzustellen. So sagt Erasmus: Dürer sei imstande gewesen, „ignem, radios, tonitrua, fulgetra fulgura“, sowie „sensus, affectus omnes, denique totum hominis animum in habitu corporis relucentem ac pene vocem ipsam“ zu visualisieren, das heißt „Feuer, Lichtstrahlen, Donnern, das Schimmern“ und so weiter, und ferner „die Charaktere und Affekte und also den ganzen Menschen wie er aus dem körperlichen Aussehen erscheint, und beinahe die Stimme selbst“.21 Diese Aussage lässt sich sowohl auf das Erasmus-Porträt beziehen, das Dürer 1526 anfertigte, als auch auf das im selben Jahr angefertigte Melanchthon-Porträt.22 Beide Werke räumen jenem geschriebenen Wort viel Platz ein, das Rudolf Preimesberger in gewolltem Gegensatz zum Bild sieht, und zwar im Sinne einer „inszenierten Mehrdeutigkeit“:23 Die Schrift scheint nämlich in beiden Fällen den Wert des Bildes zu verringern. Das Bild deutet aber seinerseits an, auf eine gewisse Weise die Schrift dementieren zu wollen. Im Falle des Erasmus würde dann die Inschrift bedeuten, stärker als die Bilder sei das schriftliche Werk dieses Menschen. Im Falle Melanchthons gäbe es geradezu ein offenes Geständnis der Grenzen sogar einer docta manus: selbst diese wäre unfähig, den Geist (mens) darzustellen. Analysieren wir noch einmal die Befunde, die wir haben. Die Gravüre des Erasmus, entstanden fünf Jahre nach der vorbereitenden Kohlezeichnung, weist dem geschriebenen Wort eine Art „Bild im Bild“ zu, „ein metapikturales Fenster, das den Innenraum der Dürerschen imago Erasmi auf eine Reflexion über das Prinzip der Abbildlichkeit selbst öffnet“.24 Der Text spiegelt Inschriften, die von der Medaille des Erasmus stammen, ausgeführt von Quentin Metsys (Antwerpen, 1519).25 Die erste von ihnen trägt den Text: „IMAGO ERASMI ROTERODA/MI AB ALBERTO DURERO AD VIVAM EFFIGIEM DELINIATA“. In der Folge wird das Motto des Erasmus übermittelt (punktuell aus der Medaille genommen): „ȉǾȃ ȀȇǼǿȉȉȍ ȉǹ ȈȊīīȇǹȂȂǹȉǹ ǻǼǿȄǼǿ“ (tén kreitto ta syngrammata deixei). Erkennbar sind, im 21 PANOFSKY: „Nebulae in Pariete“, S. 40-41. 22 Umfangreich darüber MENDE: Eintrag in Albrecht Dürer, S. 241-242. 23 PREIMESBERGER: Michelangelo da Caravaggio – Caravaggio da Michelangelo, S. 243. 24 Zit. nach ROBERT: Evidenz des Bildes, S. 206-207. 25 HILBERER: Iconic world, S. 156-160.
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Gegensatz dazu, die Unterschiede zwischen dem lateinischen Text und der Antwerpener Quelle, die sagt: „IMAGO AD VIVA EFFIGIE EXPRESSA“. Die Rückseite der Medaille zeigt einige Aussprüche des Erasmus, von denen vor allem der folgende eine Erwähnung wert ist: „MORS ULTIMA LINEA RERU(M)“. Preimesberger stellt fest, dass bei Dürer die beiden Ausdrücke „imago“ und „effigies“ eine eigene semantische Wertigkeit entwickeln, die sich weder auf die übliche Austauschbarkeit der beiden Worte zurückführen lässt, noch auf die Inschrift von Metsys. Ich halte es trotzdem für angemessen, weitere Überlegungen in diese Richtung anzustellen. M. E. kann der lateinische Text Dürers folgendermaßen übersetzt werden: „Das Antlitz des Erasmus von Rotterdam, von Albrecht Dürer als lebendiges Abbild verewigt.“ Zur Untermauerung dieser These lassen sich einige Beweise anführen. Der Dürersche Text beruft sich in seinen Inschriften ganz offenkundig auf die Medaille von Antwerpen. Der Ausdruck „DELINIATA“ könne als Verweis auf das Motto „mors ultima linea rerum“ gedeutet werden.26 Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das geläufigere lateinische Wort linia, „Grenze“ ist. Dürer schreibt nicht delineare, was als „zeichnen“ – von delineatio, Zeichnung – zu übersetzen wäre, sondern tatsächlich deliniare, was in diesem Zusammenhang „unsterblich machen“, sogar verewigen, immerwährend machen, bedeutet. De-liniare: das heißt die linia als ultima linia rerum – als Tod – zu eliminieren: die viva effigie unterscheidet sich daher wirklich vom rein sterblichen Aussehen, vom Abbild pur. Metsys schrieb „ad viva effigie expressa“, er benutzte dabei den Ablativ: Diese Medaille ist demnach vom bzw. nach dem lebendigen Abbild des Erasmus geprägt worden. Dürer verwendet dagegen den Akkusativ („ad vivam effigiem“) mit einer anderen Bedeutung: bis zur Generierung und darüberhinaus zum Effekt eines lebendigen Bildes. Dank seiner Kunstfertigkeit hat Dürer das sterbliche Abbild des Erasmus in ein lebendiges Bild verwandelt: er hat es der Vergänglichkeit entrissen. Die Formulierungen imago und effigies dienen hier zur Festlegung der Cusanischen Wertigkeit des sterblichen Bildes (imago) und des lebendigen Bildes (effigies). Dieses letzte lateinische Wort und das entsprechende Verb effingere waren Dürer schon seit seinem Selbstbildnis im 26 Wie die Hypothese von R. Preimesberger lautet.
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Pelzrock sehr wichtig. Mit den Inschriften auf diesem Bild werden wir uns im Folgenden beschäftigen. Das Verb effingere – prägen, gestalten – erinnert an den göttlichen Schöpfungsakt, der den ersten Menschen aus Ton (fangus) erstehen ließ, und ruft das cusanische Konzept, welches Kunst und Künstler als alter deus darstellt, in Erinnerung. So gelingt es, den Sinn des Erasmischen Mottos zu erschließen: „IJȒȞ țȡİȓIJIJȦ IJȐ ıȣȖȖȡȐȝȝĮIJĮ įİȓȟİȚ“: „das Größte, das Wichtigste, wird durch die Schriften (des Erasmus) deutlich werden“. Es wurde explizit auf die Zweideutigkeit dieser Formulierung im Hinblick auf den vorangegangenen Satz hingedeutet, im welchem das weibliche „IJȒȞ țȡİȓIJIJȦ“ sowohl auf imago, als auch auf effigies bezogen werden kann. Es bleibt deshalb laut Preimesberger offen, ob die Werke des Erasmus wichtiger sind als sein Aussehen oder als das vorliegende Abbild von ihm. Ich glaube dennoch, meine Übersetzung des lateinischen Textes könnte dazu beitragen, dieses Dilemma zu lösen: die imago viva, das unsterbliche Bildnis, ist eben als solche stärker und wichtiger als das bloße flüchtige Abbild, sei es auch das dem Urbild ähnlichste. Es ist tatsächlich dem Tode entrissen, es wird immer an Erasmus erinnern, dessen Unsterblichkeit auch von seinen und durch seine Schriften belegt wird. Der Ausdruck „įİȓȟİȚ“ (Futur von „įİȓțȞȣȝȚ“: es wird zeigen) drückt eine Handlung aus, die – gemessen an der jeweiligen Gegenwart der Betrachtung des Bildes – immer wieder in die Zukunft weisen wird, und dadurch zeigt es die Beständigkeit des Erasmus auf. Der Künstler hat ihn unsterblich gemacht, wie auch die Werke des Humanisten unsterblich sind, die zeigen werden, wie und weshalb dieses lebendige Abbild den Grenzen des Todes als letzter Begrenzung aller Dinge entrissen ist. Deshalb scheint mir kein Zwiespalt zwischen Text und Bild geschaffen worden zu sein, vielmehr liegt ein gleichzeitiges Zeugnis beider vor: das Bildnis des Künstlers zeigt die Unsterblichkeit des Genies des Humanisten, das sich seinerseits durch unvergängliche Werke als unsterblich bewährt. Nun zum Bildnis Melanchthons: die untenstehende Inschrift, formal analog zu der auf dem Bildnis des Willibald Pirckheimer (sie sind übrigens im gleichen Jahr ausgeführt worden) besagt: „VIVENTIS POTVIT DURERIS ORA PHILIPPI/MENTEM NON POTVIT PINGERE DOCTA MANUS.“
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Mir scheint es angebracht, den Inhalten der Inschriften einige Hinweise bezüglich des Stiches und der Abbildung vorhergehen zu lassen. Es ist das erste Portrait des Praeceptor Germaniae, wie Melanchthon genannt wurde, das bekannt ist. Er war 1518 in Wittenberg Professor für klassische Philologie, Gelehrter der Philosophie, Theologie und Rhetorik, zudem einer der scharfsinnigsten Denker seiner Zeit, und, wie allgemein bekannt ist, Reformator an der Seite Luthers. Er gilt ferner als „Typ“ des intellektuellen Asketen. Das, was wir sehen, ist ein „Charakterprogramm“. Zwischen 1524 und 1526 arbeitete Dürer mit großem Einsatz an der Definition der menschlichen Temperamente;27 vom Bildnis des „cholerischen Typen“ wie Pirckheimer, zum melancholischen Gelehrten mit hoher Stirn – „der Großteil der Gelehrten ist mager und hat erhabene Venen“ (so beschrieben in den Problemata physica des Pseudo-Aristoteles, basierend auf der ausführlichen Darstellung der Renaissancephysiognomie, die Dürer dank seiner Freundschaft zum Übersetzer Pirckheimer bekannt war) – über die Figuren der Vier Aposteln, bis hin zu den eher allgemein gehaltenen Betrachtungen, welche in den Dürerschen Vier Büchern von menschlicher Proportion (1528) Beachtung fanden. Das lebendige Gesicht Melanchthons ist das hier dargestellte, seine viva imago, also dasjenige, das nur die geübte Hand Dürers zu zeichnen in der Lage gewesen ist. Der Geist des Gelehrten ist dagegen abwesend, anderswo – bei seinen Arbeiten, wie das Motto des Erasmus es ausdrücken würde. Doch wenn die imago lebendig ist, so reift der Gedanke, dass es auch der Geist ist, wie seine Schriften zeigen. Die mens – den Geist selbst darzustellen, der ja die Gesamtheit der geistigen Kapazitäten einer Person umfasst, ist unmöglich.28 Es ist allerdings möglich, in ihm zumindest den Anschein einer tiefgründigen Stimmung zu erwecken, indem man seine Natur mit dem Schema der Temperamente betrachtet, das Melanchthon eine melancholische Disposition zuweist, wie sie für einen Mann der Wissenschaft typisch ist. Das potuit drückt die Möglichkeit, die Gelegenheit aus: Dürer hatte die Möglichkeit, kraft seiner Kunst – seines Könnens – Melanchthon unsterblich zu machen. 27 REBEL: Albrecht Dürer, S. 433-438; DERS.: Die Modellierung der Person, S. 41-53. 28 FASTERT: Individualität versus Formel, S. 247-255 und insb. 254.
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Er hat jedoch nicht seiner mens Unsterblichkeit verliehen; dafür bestand keine Notwendigkeit. Der Geist des großen Theologen gewinnt von sich aus Bestand, allein durch die Zeugnisse, die er uns hinterlassen hat. Dank des Künstlers sind wir aber nicht nur in der Lage, diese unsterblichen Worte zu erleben, sondern, auf mindestens ebenso unvergängliche Art und Weise, auch den Mund, der sie ausgesprochen hat. Und auf diese Weise werden die Worte des Lobes deutlich, mit denen Erasmus Dürer bedachte: man scheint die Stimme förmlich zu hören, die von der lebendigen Empfindung getragene Intonation, die letztlich die Quelle seines ganzen Wesens ist. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um die Anwendung der Unterscheidung zwischen imago mortua und imago viva. Dürer besaß die Fähigkeit – und das reimt sich noch einmal mit dem Lob des Erasmus – das Lebendige an der Person darzustellen und also eine viva imago zu schaffen und nicht bloß eine imago mortua, unfähig, das ganze komplexe Phänomen des Lebendigen zu behalten. Das bescheinigen uns die Betrachtungen, mit denen Erasmus seine Laudatio fortsetzt: „Diese Dinge präsentiert er [Dürer] unseren Augen mit wohl gelungenen schwarzen Linien, so dass das Hinzufügen von Farben dem Werk zu Schaden gereichen würde“. Die erwähnten Porträts von Eramus und Melanchthon wurden beide mit schwarzen Linien ausgeführt. Farbe hätte sie zwar enger mit der Realität verknüpft, aber nach den Worten des Cusanus wird das Wesen besser von einem lebendigen Bild (der imago viva) wiedergegeben als von einer imago mortua, die lediglich eine äußerst präzise und realistische Darstellung des Äußeren ist. Das, was der berühmte und selbstbewusste Meister den anderen Talenten seiner Zeit zugestand, wurde bereits in der Abgeschiedenheit seines Ateliers durch den ehrgeizigen Künstler dargestellt, in dem schon früh ein herausragender Humanist wie Celtis einen philosophus erkannt hatte. Im Jahre 1500 präsentierte Albrecht Dürer sein programmatisches Portrait, das ihn im Alter von 28 Jahren zeigt, gestaltet (sic effingebam) mit „proprijs coloribus“, mit Farben, die er selbst hergestellt hatte, mit den geeignetsten Farben also. Es sind tatsächlich die gleichen Farben, mit denen Jesus in der so genannten Epistula Lentuli dargestellt wird, ein Dokument, das zu Zeiten Dürers noch für ein Original gehalten wurde, sich jedoch später als mittelalterliche Fälschung erwies.
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Aus dieser Epistula leiten sich überschwängliche schöpferische Kraft und individuelle Freiheit ab: „Dürers Bilder sind humanistische Bekenntnisbilder. Sie verzichten keineswegs auf Worte, vielmehr unterstreichen sie durch Inschriften ihren Lehrcharakter. Was Dürers Bilder jedoch ganz wesentlich von Luthers Wort unterscheidet, ist eben ihr Glaube an die Bildbarkeit des Menschen […] Im Unterschied zu Luthers Wort reden also Dürers Bilder, so wurde hier versucht zu zeigen, nicht von der Miseria hominis, sondern unverändert und fortdauernd von der Dignitatis hominis.“29 Die Sekundärliteratur der letzten Jahrzehnte hat sich wiederholt auf die Ähnlichkeit zwischen dem Antlitz des Malers und jenem Christi konzentriert, mit welcher Dürer – indem er sich der Ikonografien des Salvator mundi, des Retters der Welt, und des wohlwollenden Christus bediente – womöglich aus dem Anspruch der imago dei die moralische Notwendigkeit der imitatio Christi begründen wollte. Es gibt zwei grundlegende semantische Zentren dieses Bildes: die allsehenden Augen bzw. ‚den Blick aus dem Bild’ und die mehrdeutige Haltung der Hand. Es ist nicht recht zu entscheiden, ob die Hand hält, greift oder weist. Die Finger scheinen sich zu einem besonderen Zeichen zu formen, gleichzeitig zeigen sie im Ansatz jenes ‚Ansichhalten’, welches in der Portraitsprache der Neuzeit so häufig anzutreffen ist.30 Es ist überaus wahrscheinlich, dass Dürer seine rechte Hand, die ja in Wirklichkeit die zeichnende, malende, den Grabstichel führende Künstlerhand ist, als das Anführungsorgan seines Kunstverstandes auch im Bild vorweist.31 Diese These kann nur insoweit aufrechterhalten werden, als wir davon ausgehen, es handele sich um die rechte Hand des christusähnlich Dargestellten. Es wurde jedoch zu Recht angemerkt, dass Dürer sich gewissermaßen wie in einem Spiegel portraitierte, indem er also links und rechts vertauschte.32 Wir als Betrachter stehen mit unserer rechten Seite also vor der linken der gemalten Figur und umgekehrt. Folglich wäre die sichtbare Hand die linke – während die rechte, eigentlich malende, richtungweisende Hand völlig außer Sicht unter dem Rahmen verborgen bliebe. Meiner Ansicht nach spricht gegen
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Zit. aus SCHUSTER: Bild gegen Wort, S. 46. Zit aus REBEL: Albrecht Dürer, S. 173. Ebd. Vgl. KOERNER: The moment of Self-Portraiture, S. 140ff.
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diese These die Tatsache, dass der Maler uns die Dinge so dargestellt hat, dass sie für den Betrachter – auch für den Maler selbst, für den das Werk ja ursprünglich bestimmt war – aus seiner Perspektive, der Betrachterperspektive, gesehen werden können. Man könnte sogar den Versuch wagen, das Münchner Bildnis unter Berücksichtigung dieser Theorie vom Perspektivtausch erneut zu interpretieren, um das Verhältnis zwischen dem Maler, der sich selbst darstellt, und Christus, der ihn und den Betrachter aus dem Bild heraus gewissermaßen ansieht. Berücksichtigen wir diese beabsichtigte Betrachterperspektive, so sähen wir uns wiederum der rechten Hand des Portraitierten gegenüber. Nicht zu erkennen wäre dann die linke Hand, welche das Negative und die Trägheit (acedia) symbolisiert. Beide Eigenschaften müssen im Rahmen einer imitatio Christi überwunden werden. Aus der Sicht eines Renaissancekünstlers ist die Hand die anthropologische Erfahrung der kreativen Tatkraft der Dreifaltigkeit, das anatomische Instrument, welches das Potential jedes als Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen verkörpert. Darüber hinaus gilt die sich in der Nähe des Herzens befindende Hand bekanntlich als Äußerung der Barmherzigkeit, der liebevollen Treue – es ist eine Geste, die sich in der zeitgenössischen Portraitkunst häufig findet. Hier kann man mindestens zwei weitere Aspekte hinzufügen – einerseits denjenigen einer unentdeckten naturalistischen Absicht, dargestellt mittels des Tastsinns (die Finger berühren den Pelz auf eine Art und Weise, welche im Betrachter sogar das Gefühl eines MitErlebens des Gemalten erwecken, ohne dass dabei hervorgehoben werden müsste, dass gerade in der Berührung der selbstbezogene Höhepunkt des Werkes liegt)33, andererseits denjenigen einer möglichen Wiederaufnahme des Motivs eines Christus als Richter, der auf den Sitz der Gerechtigkeit und Wahrheit anspielt. 34 Es bleibt letztlich die Tatsache, dass die spezielle Handhaltung keine Analogien in anderen Portraits findet (auch nicht in den übrigen Selbstportraits Dürers), und dass sie deshalb nicht auf eine eindeutige Interpretation beschränkt werden kann. Hier wird das ganze programmatische Bewusstsein erkennbar, welches der neue Apelles Germaniae in diesem Werk aufbietet, indem er die Rolle der eigenen Kunst insze33 BERGER: Fictions of the Pose, S. 354ff. 34 Wie zuletzt ZITZLSPERGER: Dürers Pelz und das Recht im Bild.
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niert: die Hand des Malers ist und muss dasjenige sein, was uns zum Nachdenken bewegt. Sie hat somit eine erzieherische Funktion im Hinblick auf eine moralische Erneuerung und einen Prozess kontinuierlicher Annäherung an das Vorbild Christi als göttlichen Schöpfer. Auf diese Weise gelingt eine Synthese der heidnischen und des christlichen vorbildhaften Auffassung der Hand, die sich vom an die Materie gefesselten Werkzeug zum Instrument des Göttlichen wandelt, und das bedeutet zum Instrument eines alter deus.
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Die Vernunft der Offenbarung als Grundlage eines Friedens der Religionen STEFAN SCHICK Glaube, Vernunft und Uni versalität Die interreligiöse Auseinandersetzung und der daraus im günstigsten Fall resultierende Friede der Religionen werden heute hauptsächlich als eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit wahrgenommen. Durch den Dialog der Religionen sollen sich teils widersprechende Interessen ihrer Anhänger ausgeglichen und ein tolerantes Zusammenleben garantiert werden. Diese genuin praktische Motivation bringt es mit sich, dass auch die Bedingungen des religiösen Dialogs unter vornehmlich pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die Frage nach der Vernünftigkeit oder Wahrheitsfähigkeit religiöser Überzeugungen wird weitgehend ausgeblendet. Damit wird aber auch die Frage nach der rationalen Legitimität gewisser auf religiösen Überzeugungen und kulturellen Praktiken gründender Ansprüche zurückgewiesen. Dem scheint aber doch eine theoretische Vorentscheidung zu Grunde zu liegen – nämlich, dass jeder religiöse Glaube eben nur Glaube und als solcher gar nicht begründbar ist. Das Geoffenbarte an der Offenbarung gilt als der Vernunft unzugänglich. Dagegen plädierte unter anderem Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung Glaube, Vernunft und Universität für eine „Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs“ auf Fragen der religiösen Überzeugung und des Glaubens. Diese allein könne „zum wirk267
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lichen Dialog der Kulturen und Religionen“ führen. 1 In dieser Forderung nach einer Weite der Vernunft zeigt sich aber die genuin philosophische Problematik jedes Dialoges der Religionen, die als ernsthafte Auseinandersetzung soll auftreten können: denn wie weit kann sich die Vernunft als Bedingung der Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit anderen Religionen überhaupt erstrecken und liegt dieser Forderung nicht ein spezifisch abendländischer Rationalitätsbegriff zu Grunde, der anderen Religionen notwendig fremd bleibt? Ich möchte im Folgenden darstellen, dass die Bedeutung des Cusaners für eine gegenwärtige Beantwortung dieser Frage, wenn man so will also seine Modernität, in eben dem Theoriepotential seines Denkens liegt, das in der Moderne selbst gerade nicht zur Entfaltung kommt. Dazu soll ein Vergleich seines Denkens mit der Konzeption der Aufklärung dienen, wie wir sie bei Lessing und Kant finden. Dass dieses Potential ein Spezifikum von Cusanus ist, soll durch Seitenblicke auf ausgewählte Denker des Mittelalters sowie auf den RenaissanceDenker Marsilio Ficino geschehen.
Die Legitimität des Mittelalters In der gegenwärtigen Reflexion auf die Auseinandersetzung von Christen, Muslimen und Juden, in der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarungsglaube und in der Frage religiöser Toleranz und Intoleranz ist das Mittelalter immer schon präsent, wird beschworen, instrumentalisiert und zu bewältigen versucht.2 Als eines der populärsten Exempel darf dabei wohl das des Kreuzzuges gelten, eine Erfahrung, die angeblich die islamische Welt dem Abendland nie verziehen hat – eine Erfahrung allerdings, die die islamische Welt bis ins 19. Jahrhundert hinein vergessen hatte. Bis dahin besaßen die arabischen Muslime noch nicht einmal ein Wort geschweige denn ein Bewusstsein für den aus christlicher Perspektive außergewöhnlichen Charakter dieser Kriege.3 Eine historische Reflexion auf das Mittelalter ist also bereits als 1 2 3
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BENEDIKT XVI.: Glaube, Vernunft und Universität, S. 82f. Vgl. dazu: SCHÖNBERGER: Die Konfrontation des mittelalterlichen Denkens mit dem Islam. Die zeitgenössischen Muslime kannten noch nicht einmal die Begriffe Kreuzzug und Kreuzfahrer: „Für die zeitgenössischen moslemischen Beobachter waren die Kreuzfahrer einfach die Franken oder die Ungläubigen,
Die Vernunft der Offenbarung
Korrektur von Überzeugungen, die die gegenwärtige Diskussion auf verschiedenen Seiten verzerren, notwendig. Philosophisch-systematisch rechtfertigt sich die Reflexion auf das mittelalterliche Denken dadurch, dass auch das mittelalterliche Geistesleben vor aller Versicherung der Möglichkeit oder gar Sinnhaftigkeit eines Vergleichs immer schon mit der Gegenwart und dabei vor allem der Aufklärung konfrontiert wird. Dabei erscheinen beide Epochen häufig als diametral entgegengesetzt: Jeder Angriff auf religiöse Freiheit sowie jede Berufung auf Offenbarung zu scheinbaren Ungunsten der Rationalität werden als Rückschritt hinter die Aufklärung zurück ins Mittelalter interpretiert. Der Gegensatz zwischen dem hellen Licht der Aufklärung und der Finsternis des Mittelalters gehört so zum festen Wortschatz nicht nur jedes Feuilletonisten. Er ist aber schon deshalb fragwürdig, da er zunächst ja einer Selbstcharakterisierung der Aufklärung bzw. Renaissance entnommen ist.4 Nun wäre diese populäre Inanspruchnahme von Mittelalter und Aufklärung aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht bestenfalls bedauerlich, würde nicht auch die gegenwärtige Philosophie diese Position immer noch affirmieren, wie dies etwa bei Franz von Kutschera geschieht: erst in der Aufklärung würde das Christentum „von außen und nicht immer nur, wie bisher, von innen“5 betrachtet und damit Gegenstand wissenschaftlicher Kritik. Hier erst sei das Interesse an fremden Religionen erwacht und das Christentum sei als eine Religion unter anderen erkannt worden. Erst in der Aufklärung habe man eingesehen, dass die Offenbarung nur ein Argument für Menschen ist, die bereits glauben.6 Solchen Befunden steht ganz offensichtlich das ausgeprägte Partikularitätsbewusstsein mittelalterlicher Denker wie Roger Bacon entgegen, der die verschwindend geringe Anzahl der Christen auf der Welt bedauert:
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eine weitere Gruppe unter den vielen Heiden und Barbaren, welche die Welt des Islam angriffen […].“ (LEWIS: Die Welt der Ungläubigen, S. 21.) Die Vorstellung von der Renaissance geht ja aus der Annahme eines goldenen Zeitalters, das durch die dunkle Periode des Mittelalters unterbrochen und durch die Renaissance eben wiederbelebt wird, hervor. Diese geistesgeschichtliche Konzeption Petrarcas wird von der Aufklärung übernommen. (Vgl. BRAGUE: Europa, S. 99.) VON KUTSCHERA: Was vom Christentum bleibt, S. 28. Vgl. VON KUTSCHERA: Was vom Christentum bleibt, S. 4.
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„Die anderen Nationen aber schenken unserer Religion keine Beachtung und sind zufrieden mit anderen Weisen zu leben. Es ist uns gewiß, daß sie sich im Irrtum befinden, und doch sind wir wenige im Verhältnis zu den anderen Nationen. […]“7
Aus muslimischer Perspektive konnte man im Mittelalter der Existenz von Christen- und Judentum gelassen gegenüberstehen, verstanden sie doch den Koran als die Vollendung und Korrektur dieser im Laufe der Zeit verfälschten Buchreligionen.8 Umgekehrt jedoch stellt für die lateinischen Christen bereits die bloße Existenz des Islam nicht nur eine politische, sondern auch eine intellektuelle Herausforderung dar. Dass die Muslime fast die Hälfte der Welt besetzt halten sollen und darunter auch ehemals christliche Gebiete, ist so unbegreiflich, dass ein Denker wie Petrus Venerabilis es sich erst einmal als Faktum verständlich machen muss: Handelt es sich beim Islam um eine Häresie, eine eigenständige Religion oder um das Auftreten des Antichristen und ein Zeichen für die Endzeit?9 Davon hing auch die zentrale Frage ab, wie man sich mit einer Religion auseinander setzen kann, die sich auf eine eigene Offenbarung beruft, auf die die eigene sich nicht bezieht: bei Ketzern konnte man sich auf die gesamte Heilige Schrift berufen, mit Juden teilte man das AT und konnte den Anspruch zur Geltung zu bringen versuchen, dass das Chris7 8
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Un fragment inédit de L’opus tertium, ed. P. Duhem, Quaracchi 1909, S. 165. So fand auf muslimischer Seite auch keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den originalen Heiligen Schriften der Christen und Juden statt. Die Wahrheit von Christentum und Judentum lag für die Muslime außerhalb von Judentum und Christentum. Deshalb war ihr Studium nicht von Interesse. (Vgl. BRAGUE: Europa, S. 98.) „Die christliche Religion war gewissermaßen – vom islamischen Standpunkt aus – bekannt, erledigt und abgelegt.“ (LEWIS: Die Welt der Ungläubigen, S. 179.) Das Studium direkter jüdischer und christlicher Quellen bleibt in der Auseinandersetzung der Muslime die Ausnahme. So stützt sich etwa al-Ghazali in seiner Schrift Wider die Gottheit Jesu nicht auf die Kenntnis der originalen Evangelien, sondern bedient sich muslimischer Quellen. So heißt es bei PETRUS VENERABILIS: Summa totius Haeresis Saracenorum 12f.: „Hos licet haereticos nominem, quia aliqua nobiscum credunt, in pluribus a nobis dissentiunt, fortassis rectius paganos aut ethnicos, quod plus est, nominarem […]. Quae quidem olim diaboli machinatione concepta, primo per Arium seminata, deinde per istum Satanam scilicet Mahumetum provecta per Antichristum vero ex toto secundum diabolicam intentionem complebitur.“
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tentum das Gesetz der Juden zur Erfüllung bringt.10 Hier galt es also eine Interpretationsanstrengung zu bewältigen. Mit dem Islam hingegen konnte man sich eben zunächst auf keine gemeinsame Schrift beziehen: denn die Heiligen Schriften der Juden und Christen galten den Muslimen als verfälscht, die Christen wiederum erkannten die Autorität des Koran nicht an. Dass insbesondere bei den Dogmen der Trinität und der Menschwerdung Gottes als prima facie äußerst widervernünftigen Gedanken die Autorität der Offenbarung dabei nur ein Argument für Gläubige sein kann, findet sich bei ansonsten so unterschiedlichen Denkern wie Thomas von Aquin und Ramon Llull.11 Da Letzterer sich insbesondere die Bekehrung der Muslime zur Aufgabe gemacht hat, verzichtet er gerade aus diesem Grund auf Belege aus den Heiligen Schriften und den Kirchenvätern. Stattdessen versucht er, durch rationes necessariae die notwendige Wahrheit der christlichen Lehre zu beweisen.12 Thomas weist solch ein Ansinnen umgekehrt zurück.13
10 So stand und steht das Christentum in einem völlig anderen Verhältnis zum Judentum als der Islam zu seinen Vorgängerreligionen. Das Christentum behauptet nicht, das Judentum in seiner Religion absorbiert zu haben, so dass man es als leere Hülle wegwerfen könnte. „Der Islam indessen zeichnet sich durch eine Haltung der Vereinnahmung aus. In seinen Augen haben die Juden und die Christen die ihnen überlieferten Texte der Offenbarung verfälscht. Die Offenbarung zeigt sich in ihrer ganzen Reinheit nur im Koran. Daraus folgt für den Islam, daß die Wahrheit des Judentums und des Christentums sich bei ihm, und nur bei ihm, befindet.“ (BRAGUE: Europa, S. 97.) 11 So heißt es bei THOMAS VON AQUIN: De rationibus fidei I: „Frustra enim videretur auctoritates inducere contra eos qui auctoritates non recipiunt.“ 12 Mehrmals gibt Llull die Erzählung über einen Sarazenenfürsten wieder, dem ein Christ die Falschheit des islamischen Glaubens bewies. Dieser wollte daraufhin, sofern der Christ ihm die Wahrheit des christlichen Glaubens bewies, mitsamt seinen Untertanen konvertieren. Der Christ aber behauptete, man könne den christlichen Glauben nicht beweisen, weil er die Vernunft übersteige. Daraufhin verbannte ihn der Sarazene aus seinem Reich, weil er ihm seinen Glauben geraubt habe, nur um diesen durch einen anderen zu ersetzen. „Et sic uideas fides, quam magnum damnum fuit, eo quod christianus te fidem non probauit.“ (Disputatio fidei et intellectus (Op. lat. 105); CCCM 115, S. 226.) 13 „De hoc tamen primo admonere te volo, quod in disputationibus contra infideles de articulis fidei, non ad hoc conari debes, ut fidem rationibus necessariis probes. Hoc enim sublimitati fidei derogaret, cuius veritas non
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In den Formen der Auseinandersetzung christlicher Denker des Mittelalters mit dem Islam zeigt sich dabei immer ein Doppeltes für das Verhältnis von Offenbarung und Rationalität: zum einen nämlich die Kraft, die man der Rationalität selbst zutraut, zum anderen aber auch, für wie aufklärungsfähig man die eigene Offenbarung hält. Davon wiederum hängt auch ab, welchen Status man der Religion des anderen zuschreibt. Dementsprechend hat sich in der Forschung zum Mittelalter und auch bei den Gebildeteren unter seinen Verächtern die Einsicht durchgesetzt, dass es gute Gründe gibt, von einer Aufklärung im Mittelalter zu sprechen. Das gilt umso mehr, wenn man unter dem Terminus „Aufklärung“ eben nicht bloß eine Epoche, sondern die Untersuchung des dogmatisch Gegebenen oder bloß auf Grund von Offenbarung Geglaubten durch das eigene rationale Denken versteht. Dabei wird von so bedeutenden Denkern wie Ernst Cassirer und Raymond Klibansky immer auf die besondere Stellung des Cusaners und seiner Konzeption einer in allen Religionen vorausgesetzten Universalreligion aus De Pace Fidei in dieser Sache hingewiesen.14
Una religio in rituum varietate und das caput mortuum der abstrakt-vernünftigen Rel igion Unter dem Eindruck der Eroberung Konstantinopels verfasst Cusanus mit De pace fidei ein Plädoyer für den Frieden der Religionen im Glauben. Die tatsächlichen und angeblichen Gräuel bei der Eroberung Konstantinopels führen zu dem Wunsch, Gott möge die Verfolgung aus religiösen Gründen beenden.15 Der Frieden im Glauben soll durch die Begründung einer Konkordanz der verschiedenen Religionen in einem einheitlichen Glauben begründet werden. So entwirft diese Schrift eine Vision, in der unter dem Vorsitz Gottes eine fiktive Konferenz im Himmel stattfindet, an der 17 Vertreter verschiedener Glaubensgemeinschaften und Völker teilnehmen, um mit dem göttlichen Wort (dem Logos) und mit den Aposteln Paulus und Petrus über die Grundwahrsolum humanas mentes, sed etiam Angelorum excedit; a nobis autem creduntur quasi ab ipso Deo revelata.“ (De rationibus fidei II.) 14 Vgl. KLIBANSKY: Erinnerungen an ein Jahrhundert, S. 205ff. und CASSIRER, Individuum und Kosmos, S. 32ff. 15 Vgl. De pace fidei (h VII n. 1).
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heiten der Religion zu diskutieren. Das Ergebnis ist, dass sämtliche Religionen in ihren fundamentalen Fragen übereinstimmen. Wie in der Aufklärung wird auch von Nikolaus von Kues also eine Art Universalreligion propagiert. Die Differenz der Religionen muss als Vielfalt nur der Riten und Rituale gedeutet werden. Die Notwendigkeit dieser Riten ist zunächst einmal der menschlichen Schwäche geschuldet. Der Mensch könnte zwar durch die Anstrengung seines Intellekts sein Auge zu Gott erheben und zu seinem Ursprung zurückkehren. Allerdings führen die meisten Menschen ein sorgenvolles Leben, so dass nur sehr wenige in freiem Gebrauch des Urteils zur Erkenntnis ihrer Selbst und damit ihres Ursprunges gelangen: „ita te, qui es Deus absconditus quaerere nequeunt.“16 Deshalb hat Gott aus Fürsorge verschiedene Propheten gesandt, die im Vergleich mit ihren Zeitgenossen sehend waren, um die Menschen zur Umkehr aufzurufen. Gott hat also die Propheten geschickt, die die Religionsvorstellung und Gesetze angeordnet und das Volk belehrt haben. Das Volk aber nahm sie an, als hätte Gott sie persönlich belehrt. Die bloße Gewohnheit wurde im Laufe der Zeit wegen der menschlichen Natur als Wahrheit verteidigt. Damit wurde die Intention Gottes aber pervertiert. Ein Frieden im Glauben setzt deshalb voraus, dass die rudes nicht ihre Gewohnheiten für die Wahrheit selbst halten. Diese Ungebildeten müssen zu einer neuen Einsicht in das Wesen ihrer eigenen Religion gelangen: sie sollen ihre Propheten nicht länger mit Gott selbst verwechseln. Die Riten und Gebräuche sind nicht an sich selbst wahr, sondern nur Zeichen für die Wahrheit des Glaubens und diese Zeichen sind veränderlich. 17 Die Differenz der Kulte und Riten ist der jeweiligen historischen Situation und Eigenart der Völker geschuldet. Gerade deshalb aber dürfen umgekehrt fremde Bräuche und Meinungen beibehalten werden, wenn sie dem Heil nicht widersprechen. Sie können sogar, um den Religionsfrieden zu befördern, von anderen übernommen werden.18 Als Zeichen verweisen die Kulte alle auf dasselbe: zwar gibt es faktisch-empirisch eine Vielzahl an Religionen, aber nur einen wesenhaf-
16 De pace fidei (h VII n. 4). 17 Vgl. CASSIRER: Individuum und Kosmos, S. 35. 18 Zu denken ist hier etwa an den Brauch der Beschneidung (vgl. De pace fidei (h VII n. 60)).
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ten Grundgehalt von Religion. Die eine Religion ist also nur verschieden entfaltet. Dieser Grundgehalt ist nun keine neue Einheitsreligion, sondern die Präsupposition aller Religionen, die eine Religion und Gottesverehrung für alle Vernunftwesen, die in aller Differenz der Riten vorausgesetzt ist:19 „Una est igitur religio et cultus omnium intellectu vigentium, quae in omni diversitate rituum praesupponitur.“20 Deshalb muss die Verschiedenheit der Religionen auf den einen wahren Glauben zurückgeführt werden. Vielheit setzt die Einheit eben immer schon voraus: „ante enim omnem pluralitatem est unitas“21. Für die Überzeugungskraft dieses Gedankens ist natürlich vorausgesetzt, dass es die Weisen der Völker und Religionen sind, die an dem Religionsgespräch teilnehmen, und diese Weisen auch noch gute Platoniker sind. Als platonische Weise müssen sie die unteilbare Wahrheit voraussetzen, durch deren Teilhabe sie erst weise sind: „Omnes igitur vos, etsi diversarum religionum vocemini, unum praesupponitis in omni diversitate tali, quod sapientiam nominatis.“22 Eine Abwandlung dieses Gedankens findet sich wenig später in Ficinos nach seiner Priesterweihe verfassten Schrift De christiana religione wieder: Religion wird hier gleichbedeutend mit der Verehrung Gottes. Jede Religion enthält hier ein gewisses Gut, denn in jeder Religion wird der Gläubige auf eine Weise zu Gott als dem Schöpfer aller Religionen geleitet. Nichts missfällt Gott mehr, als verachtet zu werden, nichts gefällt ihm mehr, als verehrt zu werden. Deshalb lässt es die göttliche Vorsehung nicht zu, dass irgendeine Gegend zu irgendeiner Zeit ganz jeder Religion entbehrt, wenn sie auch zulässt, dass zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Orten verschiedene Gebräuche der Verehrung auftreten.23 Jede Religion, wenn auch mitunter unbewusst, ist auf 19 20 21 22 23
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Vgl. FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 349. De pace fidei (h VII n. 16). De pace fidei (h VII n. 11). De pace fidei (h VII n. 12). „Nihil Deo magis displicet quam contemni, nihil placet magis quam adorari, homines divinarum legum aliqua ex parte transgressores levius punit. Rebellantes autem per ingratitudinem, malignitatemque et superbiam, ab eius imperio fulminat. Idcirco divina providentia non permittit esse aliquo in tempore, ullam mundi regionem omnis prorsus religionis expertem, quamvis permittat variis locis atque temporibus, ritus adorationis varios observari.“ (De christiana religione III.)
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die wahre Gottheit bezogen. Riten und Zeremonien sind Ausdruck des innerlichen Verhältnisses zu Gott, nämlich der Liebe.24 Die natürliche Religion des Menschen ist damit Ausdruck seines natürlichen Strebens zu Gott. Glaubensgegner sollen deshalb nicht vertilgt, sondern durch die Vernunft bekehrt oder ruhig toleriert werden. Denn es könnte ja sein, dass diese Mannigfaltigkeit der Religionen sogar auf Gottes Anordnung hin eine wunderbare Schönheit im Weltall erzeugen soll. 25 Der Begriff der Religion ist damit nicht mehr exklusiv in einer einzelnen Glaubensform, sondern „in der Gesamtheit der historischen Glaubensformen verkörpert“26. Es ist nun nicht zu übersehen, dass die Aufklärung an dieser Konzeption anknüpft. Die in den einzelnen Religionsgemeinschaften voneinander differierenden religiösen Vorstellungen und Begriffe sind der Aufklärung nur noch die äußere Hülle der religiösen Gewissheit. „Denn die Verschiedenheit betrifft nur die sinnlichen Zeichen; nicht den übersinnlichen Gehalt, der in ihnen seine, notwendig-inadäquate, Darstellung sucht. So bekennt sich die Aufklärung wieder zu jenem Grundsatz, den, drei Jahrhunderte zuvor, Nikolaus Cusanus geprägt hatte; so tritt sie mit allem Nachdruck für die Identität der Religion in aller Verschiedenheit der Riten und in allem Gegensatz der Vorstellungen und Meinungen ein.“27
Für Lessing stimmen so unabhängig von den Riten die Religionen in ihrem Kern überein – oder zumindest sollten sie das –, nämlich in einer „humanistischen“ Ethik. Dieses humanisierende Glaubensbekenntnis drückt sich in Lessings Nathan bekanntlich so aus: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heißen!“28 24 Vgl. KRISTELLER: Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 300. 25 „Forsitan vero varietas huiusmodi, ordinante Deo, decorem quendam parit in universo mirabilem.“ (De christiana religione III.) 26 CASSIRER: Individuum und Kosmos, S. 83. 27 CASSIRER: Die Philosophie der Aufklärung, S. 220f. 28 Nathan der Weise; Werke 2, S. 253.
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Bei Kant wird die eigentliche Überflüssigkeit einer historischen Offenbarung noch deutlicher: „Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen.“29
Über die Qualität der positiven Religionen entscheidet so nicht mehr die theoretisch-spekulative Vernunft, sondern sie wird einem praktischempirischem Kriterium überantwortet: nämlich dem Verhalten der Anhänger der jeweiligen Religion, die im Wettstreit miteinander darum wetteifern sollen, die beste Religion zu werden. 30 Auch dieser Gedanke findet sich ja bereits bei Cusanus und Ficino, dass nämlich die Vielheit der Riten deren Anhänger in der Verehrung Gottes anspornen soll. Nur dass bei Lessing wie auch noch deutlicher bei Kant die adäquate Form der Gottesverehrung ausschließlich im moralischen Verhalten besteht. Damit einher geht auch die Abwertung des rituellen Kults als eines Zeichens, das eigentlich überflüssig wird. Die Riten sind eben keine Zeichen mehr und mit ihrem Verweisungscharakter verlieren sie auch ihre Bedeutung. So nimmt der Ritus bei Kant eine deutlich negative Konnotation an, weil er immer droht, den moralischen Gehalt der Religion, der auch für sich bestehen könnte, zu verdrängen: „alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“31 29 RGV IV,2; AA VI, S. 167f. 30 „Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen!“ (Nathan der Weise; Werke 2, S. 280.) 31 RGV IV,2; AA VI, S. 170. An Christian Heinrich Wolke schreibt er: „Denn: daß die Religion nichts als eine Art von Gunstbewerbung und Einschmeichelung bey dem höchsten Wesen sey, in Ansehung deren die Menschen sich nur durch die Verschiedenheit ihrer Meinungen, von der Art, die ihm die beliebteste seyn möchte, unterscheiden ist ein Wahn, der, er mag auf Satzungen oder frey von Satzungen gestimmet seyn, alle moralische Gesinnung unsicher macht und auf Schrauben stellt, dadurch, daß er, ausser dem guten Lebenswandel, noch etwas anderes als ein Mittel annimmt,
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Man könnte zunächst also eine sachliche Entwicklungslinie von der Cusanischen Konzeption einer in alle Religionen vorausgesetzten Universalreligion zur natürlichen Vernunftreligion der Aufklärung und des damit verbundenen Toleranzideals zu entwickeln versuchen. Das hieße aber, in De pace fidei eine Antizipation des Gedankens zu sehen, dass die Offenbarungsreligion letztlich sich in der natürlichen Vernunftreligion auflösen müsste. Das Potential der cusanischen Lehre würde dann gewissermaßen in der Aufklärung aktualisiert.
Die Differenz des Cusanischen und Kantischen Syst ems Die entscheidende Differenz zwischen Aufklärung und Cusanus und damit der Grund für die unterschiedliche Beurteilung des religiösen Ritus liegen aber gerade in der Beurteilung des Rationalitätsgehaltes dessen, worin die positiven Religionen sich einerseits voneinander und andererseits von der natürlichen Religion unterscheiden. Denn dem spricht die Aufklärung die Rationabilität letztlich gänzlich ab und daraus ergibt sich dann eben, dass keine positive Religion vor der anderen ausgezeichnet ist oder sich bestenfalls noch dadurch auszeichnen kann, möglichst wenig in Widerspruch zur natürlichen Religion zu stehen oder diese am ehesten zu befördern. Auf Saladins nicht ganz unberechtigten Einwand gegen den Vergleich der monotheistischen Religionen mit voneinander ununterscheidbaren Ringen, die einen seien im Gegensatz zu den anderen doch sehr wohl unterscheidbar, erwidert Nathan, dass sie unter der einzig relevanten Hinsicht betrachtet völlig ununterscheidbar seien: was nämlich ihre Begründbarkeit und damit ihre Legitimität für die Anhänger der jeweils anderen Religionen anginge. Einen Vernunftgrund gibt es hier nämlich nicht. Man gehört eben der Religion an, der bereits die Eltern angehört haben.32 Der einzige Grund für einen Menschen, dort zu die Gunst des Höchsten gleichsam zu erschleichen und sich dadurch der genauesten Sorgfalt in Ansehung des ersteren gelegentlich zu überheben, und doch auf den Nothfall eine sichere Ausflucht in Bereitschaft zu haben.“ (Briefwechsel 1776; AA X, S. 192f.) 32 Für al-Ghazali führt die Beobachtung dieser „blinden Nachahmungen“ der Eltern und Lehrer in Sachen Religion umgekehrt zur Suche nach einem Unterscheidungskriterium zwischen der „natürlichen Beschaffenheit (fi-
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bleiben, „wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen“33, ist eben der, dass die Alternative genauso grundlos ist: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! – Und / Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – / Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? / Doch deren Blut wir sind? doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe /Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – / Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben?“34
Offenbarung und Vernunftreligion verhalten sich bei Kant zueinander „als concentrische Kreise“35: der innere entspräche der Vernunftreligion, der äußere der Offenbarung. Das Plus ist dabei in sich betrachtet zunächst einmal ohne Mehrwert, denn es ist nichts als ein historisches Faktum. Welcher positiven Religion man angehört, ist rein kontingenten Sachverhalten geschuldet. Eine allgemeine Kirche als einer Darstellung des moralischen Reichs Gottes auf Erden, soweit dies durch Menschen möglich ist, könnte deshalb nur auf einen reinen Vernunftglauben gegründet werden. Denn die empirischen Fakten des historischen Glaubens sind zwangsläufig in der Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit durch Zeit- und Ortsumstände beschränkt. Die Universalreligion ist hingegen der rationale wahre Gehalt aller Religionen. Die natürliche Vernunft und das natürliche Moralgesetz sind der Prüfstein, an dem jede Offenbarung gemessen werden muss. Hier wird also letztlich die A-Rationalität der Offenbarung zum Grund der Toleranz. Das Konzept der allen positiven Religionen vorausliegenden Vernunftreligion dient auch einer Begrenzung der Rationalität im Sinne ihrer Abgrenzung gegen das bloß auf Grund von Offenbarung Geglaubte. Denn ob man an diese und nicht an jene Offenbarung glaubt, ist ausschließlich durch geschichtliche und damit kontintra)“ und „der zufälligen Glaubensgrundsätze, die durch die Nachahmung von Eltern und Lehrern entstanden sind“. (Der Erretter aus dem Irrtum, S. 5.) 33 Nathan der Weise; Werke 2, S. 274. 34 Nathan der Weise; Werke 2, S. 278. 35 RGV, Vorrede zur zweiten Auflage; AAVI, S. 12.
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gente Erfahrung und Gewohnheit bedingt. Als Ermöglichungsgrund eines friedlichen Zusammenlebens der Religionen dient diese Vernunftkritik der Offenbarung deshalb, weil die Einsicht in die Zufälligkeit des eigenen Glaubens den Wunsch zur Missionierung des anderen unsinnig werden lässt. Nur die rational einsehbaren moralischen Gesetze einer Religion sind nach Kant von allen zu befolgen, nicht aber die bloß statutarischen. Auf diesen Unterschied hatte im Mittelalter bereits der jüdische Denker Ibn Daud aufmerksam gemacht: die Religionen bestehen einerseits aus allgemeinen Gesetzen, das heißt den Vernunftgesetzen, andererseits aus Überlieferungen bzw. positiven Geboten, wie etwa dem Verbot, Schweinefleisch zu essen. Nur erstere sind als Prinzipien des Denkens allgemeine Wahrheiten, zum Beispiel, dass Ungerechtigkeit schlecht oder Betrug verboten ist. Diese Vernunftgebote haben bei allen Geltung und vereinigen alle Menschen.36 Deshalb können auch in demselben Land verschiedene Religionsgemeinschaften, die die überlieferte Religion der anderen leugnen, „durch das vereinigende Band der Vernunftreligion sich zu einem Staatskörper verschmelzen“37. Bei diesen Vernunftgesetzen gibt es auch keinen Wandel. Freilich verweist Ibn Daud darauf, dass das jüdische Gesetz die Vernunftreligion völlig in sich enthält. In ar-Rawandis Buch Vom Smaragden findet sich dieser Gedanke in noch radikalerer Weise: die Vernunft ist das größte Geschenk, das Gott seinen Geschöpfen gemacht hat. Denn durch sie wird Gott erkannt, durch sie werden Gebot und Verbot, Ermahnung und Warnung erst wahr. Ist der Prophet Mohammed also gekommen, um die schon in der Vernunft gegebenen Urteile über Gut und Böse, Verbot und Gebot zu bestätigen, dann bedürfen sie seiner nicht. Er ist überflüssig, sie müssen sich nicht um seine Autorität kümmern. Denn das in der Vernunft Gegebene macht die Prophetie entbehrlich. Steht Mohammeds Sendung hingegen in Widerspruch zum Vernunfturteil, „so sind wir dessen ledig, an seine Prophetie zu glauben“38. Der positiven Religion bleibt so nur noch die Funktion eines Vehikels zur Entfaltung der natürlichen Religion: sie ist der menschlichen 36 Vgl. IBN DAUD: Das Buch Emunah Ramah, S. 94. 37 IBN DAUD: Das Buch Emunah Ramah, S. 95. 38 Kitab az-zumurrud, S. 111. Von Interesse ist die Schrift dieses Ketzers vor allem deshalb, weil hier die Kritik am Islam aus der Perspektive von Brahmanen als Anhängern einer sich nicht auf Offenbarung stützenden Religion vorgetragen wird.
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Schwäche geschuldet, die es verhindert, dass der Mensch sich einer reinen Vernunftreligion zuwendet. Die positiven Religionen unterscheiden sich für Kant dann hauptsächlich in der mehr oder weniger gelingenden Erfüllung dieser Vermittlungsfunktion. So ist auch für Averroes der Islam vor allem deshalb notwendig, damit die ungebildete Volksmasse zumindest gemäß der Vernunft, wenn auch nicht nach der Vernunft handelt.39 Die meisten Menschen müssen sich eben mit einer bildhaften Darstellung der Wahrheit begnügen. Diese bringt ihnen die religiöse Überlieferung auf beste Weise näher.40 Maßstab des religiösen Gesetzes wird so bei Averroes das menschliche Gesetz.41 Wie bei Kant kann auch hier nur die Philosophie entscheiden, wann eine Koranstelle ihrem äußeren Wortlaut nach der Vernunft widerspricht und deshalb bildlich ausgelegt werden muss.42 Das Beispiel des Averroes lehrt aber auch, dass ein ausgeprägter Rationalismus nicht zwangsläufig auch religiöse Toleranz gegenüber anderen Religionen zur Folge haben muss – im Gegenteil lehrt Averroes sowohl in seinem juristischen Handbuch als auch in der Moschee zu Cordoba den Heiligen Krieg.43 39 Vgl. ARNALDEZ: Averroes, S. 79f. 40 „Würde man sie von dort, wo sie sich befanden, auf die Ebene der spekulativen Erkenntnis erheben, würden ihre althergebrachten Ansichten Schaden erleiden, und es wäre ihnen erst recht nicht mehr möglich, auf die Stufe der Glückseligen zu gelangen. Sie würden orientierungslos hin und her treiben, dem Niedergang preisgegeben, und schließlich ein schlimmes Ende finden. Wenn sie aber bis an ihr Lebensende so, wie sie es gewohnt waren, weiterlebten, dann würden sie gerettet […].“ (IBN TUFAIL: Der Philosoph als Autodidakt, 112f.) 41 Für die Möglichkeit des Idealstaates ist vorausgesetzt, dass die besonderen Religionsgesetze von den menschlichen Religionsgesetzen nicht weit entfernt sein dürfen. Die Philosophie muss bereits vollendet sein. „So steht es in dieser unserer Zeit und in unserem Religionsgesetz.“ (Kommentar zu Platons Politeia II,3, S. 89.) Averroes dreht damit in seinem Kommentar zur Politik „auf spektakuläre Weise die Perspektive um, nach der die menschlichen Gesetze sich im Gegenteil nach dem göttlichen Gesetz zu richten hätten.“ (BRAGUE: Europa, S. 102.) 42 Allerdings dürfen nur die Philosophen von den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Koran wissen. Von besonderer Bedeutung ist dabei bekanntlich seine Auslegung von Sure 3, Vers 7: „Niemand weiß es zu deuten außer Gott/ und diejenigen, die ein gründliches Wissen besitzen/ [sie] glauben daran.“ (Vgl. AVERROES: Harmonie der Religion und Philosophie, S. 17.) 43 Vgl. The Chapter on Jihad from Averroes’ Legal Handbook Al-BidƗya. Philosophisch begründet Averroes den Heiligen Krieg im 1. Buch seines
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Cusanus und Ficino erheben dagegen explizit den Anspruch auf die Rationabilität der eigenen Offenbarung und wollen trotzdem gleichzeitig die anderen positiven Religionen in ihrer Geltung anerkennen. Bei Ficino verhalten sich dabei natürliche und positive Religion zueinander wie Gattung und Art. Diese Differenzierungen schließen nun aber Rangunterschiede dieser Arten nicht aus. Das Christentum ist primum in aliquo genere. Im Christentum als ihrer wahren Form besitzt die Religion nämlich eine innere Übereinstimmung mit der wahren Philosophie, dem Platonismus. Beide speisen sich aus derselben Quelle, nämlich der kontemplativen Erfahrung und dem inneren Verhältnis zu Gott. Ihre Verschiedenheit gründet auf dem Dualismus von Intellekt und Wille, von Erkenntnis und Liebe als zweier Erscheinungsweisen desselben inneren Vorganges.44 Die platonische (das heißt: philosophische) Theologie ist ihrem Inhalt nach mit der christlichen Religion identisch, beide unterscheiden sich aber ihrer Form nach. Von Cusanus unterscheidet Ficino allerdings, dass bei Ficino die Anerkennung der Verschiedenheit der Religionen und die Konzeption der christlichen als der wahren Religion nicht aus einem einheitlichen Gedanken folgen. Denn das Christentum ist hier eine Art von Religion. Bei Cusanus hingegen ist nicht so sehr die christliche Religion, als vielmehr der christliche Logos selbst der aller rituellen Vielfalt zu Grunde liegende Vernunftgrund. Gerade der trinitarisch verfasste Gott, die Inkarnation des Wortes Gottes, der Kreuzestod und die Auferstehung sind es, die die Vielfalt der Riten erst verständlich und im Gegensatz zur Religionskonzeption der Aufklärung zugleich positiv bewertbar machen: als je unterschiedliche Brechungen, in denen sich das Absolute dem Endlichen offenbart. Erst die spekulative Durchdringung der eigenen Religion auf ihren eigenen Vernunftgrund hin erlaubt es Cusanus, die anderen Religionen als partielle Offenbarungen dieser Wahrheit zu deuten. Die Weisheit, die von allen Weisen verehrt und vorausgesetzt wird, ist eben der christliche Logos. Nur deshalb unterscheidet sich das Christentum fundamental von den anderen Offenbarungsreligionen, die sich auf Propheten gründen. Denn da keiner der Propheten den Fürsten der Unwissenheit überwinden konnte, hat Gott sein Wort gesandt, durch Kommentars zur Politeia. (Vgl. dazu vor allem BRAGUE: Der Dschihad der Philosophen.) 44 Vgl. KRISTELLER: Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 304.
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das er die Welt geschaffen hat. Das Christentum verehrt dieses selbst und keinen Propheten. Deshalb kann man von der christlichen Religion her auch die Wahrheit der anderen Religionen erkennen: Der christliche Gedanke der Trinität verbindet den heidnischen Polytheismus, der Gott nicht verehrt, wie er in sich selbst ist, sondern wie er in seinen Werken ist, mit der jüdisch-islamischen Gottesvorstellung. Die Trinität drückt ja Gott in seinem Verhältnis zur Schöpfung aus. Aber der Christ verehrt auch Gott „qui est ipsa veritas ineffabilis“45. Dieses Moment der absoluten Transzendenz Gottes wiederum ist der zentrale Punkt des Islam. Noch bei Hegel wird ja die weltgeschichtliche Bedeutung des Islam als Religion darin bestehen, das abstrakte Moment der Einheit gegen das in der Vielheit verlorene Christentum wieder zur Geltung gebracht zu haben.46 Man kann also auch bei Cusanus von einem Aufgehobensein der Momente der Religionen im Gott der Christen sprechen. Dabei ist aber zu beachten, dass die christliche Religion mit der Voraussetzung aller Religionen nicht zusammenfällt, sondern sie nur am explizitesten voraussetzt. Damit wird aber auch die Differenz in der Auslegung des Alten Testaments und des Koran andererseits zumindest teilweise eingeebnet: auch hier muss sich letztlich die Wahrheit des Christentums wie hinter einem Schleier verbergen. Durch seine berühmte pia interpretatio versucht Cusanus ja dann später, die Muslime bei der Hand zu nehmen (manuductiones) und zur Wahrheit des Christentums zu führen. Die mitunter sicher gewaltsame Interpretationsweise des Cusanus verfälscht aus dessen eigener Perspektive den Koran allerdings nicht einfach, sondern, um einen weiteren Terminus Hegels zu gebrauchen, überführt ihn erst in seine Wahrheit. Philosophisch ist dieser Versuch deshalb so relevant, weil hier die Vernünftigkeit der Glaubensinhalte zum Kriterium der Interpretation einer Heiligen Schrift gemacht wird und eben
45 De Deo absc. (h IV n. 6). 46 Philosophie der Geschichte: „während das Abendland anfängt, sich in Zufälligkeit, Verwicklung und Partikularität einzuhausen, so mußte die entgegengesetzte Richtung in der Welt zur Integration des Ganzen auftreten, und das geschah in der Revolution des Orients, welche alle Partikularität und Abhängigkeit zerschlug und das Gemüt vollkommen aufklärte und reinigte, indem sie nur den abstrakt Einen zum absoluten Gegenstande, und ebenso das reine subjektive Bewußtsein, das Wissen nur dieses Einen zum einzigen Zwecke der Wirklichkeit […] machte.“ (SW 12, S. 428f.)
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nicht die Intention des Urhebers dieser Schrift selbst. Wo Cusanische Interpretation und Mohammeds Intention voneinander abweichen, ist dies natürlich dann den sittlichen und intellektuellen Mängeln des Verfassers des Koran zuzuschreiben. Für gläubige Muslime muss dies freilich inakzeptabel sein.
Vernunftkritik oder Mutmaßungen? Der Zweifel an der religiösen Offenbarung ist der Aufklärung Ausdruck der prinzipiellen Beschränktheit unserer Erkenntnis. Man würde deshalb, wie Cassirer festgestellt hat, auch die Toleranz der Aufklärung verkennen, wenn man sie rein negativ als „die Empfehlung der Laxheit und Gleichgültigkeit gegenüber den religiösen Grundfragen“47 deutete: „Nicht im Zweifel bekundet sich daher der wahre Unglaube, in ihm drückt sich vielmehr die Zurückhaltung, die schlichte und aufrichtige Selbstbescheidung der Erkenntnis aus; er bekundet sich vielmehr in jener scheinbaren Sicherheit, die nur die eigene Meinung gelten läßt und über alle anderen abspricht.“48
Dass diese religiöse Selbstbescheidung letztlich in einem grundsätzlichen Urteil über die prinzipielle Begrenztheit menschlicher Erkenntnis überhaupt gründet, ist vor allem in der Konzeption Kants mehr als deutlich. Für Hegel oder auch Schelling, die in solch angeblicher Selbstbescheidung den Versuch sehen, dass jemand „die traurige Beschränktheit seines Geistes großherzig über das ganze Menschengeschlecht ausbreitet“49, wird die positive Religionen hingegen noch in der Abfolge ihrer Instantiierungen zu einem Gegenstand, in dem die Vernunft ihre eigene Entwicklung nachvollziehen kann. Für Cusanus hingegen gründet die Toleranz letztlich zwar einerseits auch in der Einsicht in die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis. Nur ist diese Begrenztheit andererseits von völlig anderer Art als etwa 47 CASSIRER: Die Philosophie der Aufklärung, S. 219. 48 CASSIRER: Die Philosophie der Aufklärung, S. 218. 49 F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen u. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus; Werke 4, S. 419.
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bei Kant: es handelt sich eben nicht um die Bestimmung einer Grenze, diesseits derer exakte Erkenntnis möglich ist und jenseits derer Aussagen schlechthin unsinnig sind. Für Cusanus ist vielmehr alle menschliche Erkenntnis mutmaßend. Die Wahrheit ist in ihrer Genauigkeit unerreichbar („praecisionem veritatis inattingibilem“50). Deshalb ist jede von Menschen ausgesprochene bejahende Feststellung über das Wahre nur Mutmaßung (coniectura). Durch den Abfall unseres Verstehensvermögens von der Wahrheit in ihrer Reinheit ins Ungewisse werden Aussagen über das Wahre zur Mutmaßung. „Sapientia autem absoluta, quae est ars omnipotentiae, non fuit neque in angelis neque hominibus neque prophetis uti est recepta. Ob hoc opera artis illius remanserunt imperfecta.“51
Dieser „Coniectura-Charakter menschlicher Erkenntnis ist die entscheidende Grundlage für die Möglichkeit eines ‚Friedens im Glauben‘“52. Die verschiedenen Religionen sind epistemologisch gedeutet coniecturae, deren Verschiedenheit mit dem Wesen dieser Erkenntnis zusammenhängt.53 Christus als das facies omnium gentium wird in den Religionen in gewisser Weise analog zur Wahrnehmung jedes anderen Gesichts durch einzelne Menschen nicht in absoluter Genauigkeit, sondern in einem Abfall von selbiger erkannt: es wird nicht in seinem Wesen erfasst, „sed in alteritate secundum angulum tui oculi, ab omnibus viventium oculis differentem“54 (I,11). Bei der Weisheit ist die durchaus auch qualitative Differenz der Mutmaßungen der durch natürliche Bedingungen gegebenen Differenz der Mutmaßenden geschuldet, die schon je nach Herkunft sich in der Erkenntnisfähigkeit unterscheiden. In dieser Differenz sind dann eben auch die Differenzen der Offenbarungen begründet, aber auch die Möglichkeit, sie auf ihren unterschiedlichen Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen.
50 51 52 53 54
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De coni. I (h III n. 2). Sermo CXLI (h XVIII n. 6). MEINHARDT: Konjekturale Erkenntnis und religiöse Toleranz, S. 326. Vgl. MEINHARDT: Konjekturale Erkenntnis und religiöse Toleranz, S. 329. De coni. (h III n. 57).
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Schluss Das Potential und wenn man so will die Modernität von Cusanus liegt darin, dass die Anerkennung der anderen Religionen gerade in dem begründet wird, was in der Aufklärung eher unausgeschöpft bleibt, nämlich in dem Anspruch, die Offenbarung in ihrer Vernünftigkeit zur Geltung zu bringen. Darin scheint zwar zunächst ein Moment der Intoleranz zu liegen, weil als Resultat zumeist die anderen Religionen in einem gewissen Sinne unvernünftig bleiben müssen. Dieses Problem ergibt sich aber nur, wenn man die These von der Rationalität der eigenen Religion rein deskriptiv verstünde. Andererseits kann man es ja auch als normativen Anspruch an die eigene Religion verstehen, sich rationalen und damit verobjektivierbaren Kriterien auszusetzen. Dann ist dies immer auch mit dem Risiko verbunden, sich vom Gegenteil belehren lassen zu müssen. Bekanntlich führte Ramon Llull unter diesem Risiko seine Diskussionen mit muslimischen Geistlichen: wenn die Muslime nämlich bessere Gründe für ihren Glauben vorbringen könnten, würde er zum Islam konvertieren.55 Die bloße Ausklammerung des Positiven der Religion aus der Rationalität schlechthin scheint mir hingegen weit größere Probleme zu implizieren: denn wenn die aus der Religion sich speisenden Ansprüche nicht rational gerechtfertigt werden müssen, weil man ohnehin bereits voraussetzt, dass sie nicht gerechtfertigt werden können, dann gibt man von vorherein das einzige Kriterium aus der Hand, mittels dessen man auch nur die Aussicht hat, diese in allgemeingültiger Weise zu beurteilen.
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Minimum und Atom Eine Begriffserw eiterung in Brunos Rezeption des Cusanus 1 PIETRO DANIEL OMODEO 1. Brunos Rezeption des Cusanus Die Bedeutung der Philosophie des Nicolaus Cusanus für das Werk und das Denken des Giordano Bruno ist so wesentlich und beständig, dass der Vergleich der zwei Autoren fast zu einem topos der Geschichte der Philosophie geworden ist. Trotz der augenscheinlichen Begriff- und Sprach-Verwandtschaft ist Brunos Rezeption des Cusanus äußerst komplex und lässt sich nicht durch einfache Schemen darstellen. Man könnte sie als eine „philosophische Übersetzung“ von ontologischen, kosmologischen, epistemologischen und mathematischen Themen verstehen, in der Grundideen der cusanischen Philosophie (u. a. docta ignorantia, coincidentia oppositorum, infinitum, minimum, mensura) in eine andere Weltanschauung umgesetzt werden. Alle Forscher, die diese Rezeption vertieft haben,2 haben den subtilen Unterschied zwischen den Standpunkten der beiden Denker als Übergang von einem platonisch-christlich theologischen Horizont zu einem naturphilosophi1
2
Für ihre Hilfe und Unterstützung danke ich: dem Journal of the History of Philosophy (für das 2009 Kristeller-Popkin Travel Fellowship), dem Institut für Cusanus-Forschung Trier und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. CLEMENS: Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa; TOCCO: Le fonti più recenti della filosofia del Bruno; BLUMENBERG: Aspekte der Epochenschwelle; SECCHI: „Del mar più che del cielo amante“.
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schen und prinzipiell pantheistischen beschrieben. Die jüngste und umfangreichste Auseinandersetzung mit diesem Thema wurde von Pietro Secchi durchgeführt. Dieser Forscher hat auf die gemeinsamen philosophischen und doxographischen Quellen hingewiesen und gleichzeitig die Verwandtschaften und Meinungsverschiedenheiten betont, vor allem bezüglich folgender Aspekte: der Unbegreiflichkeit und Unbenennbarkeit Gottes (aus Dionysius), der Unangemessenheit des Endlichen gegenüber dem Unendlichen (aus Aristoteles), der Symbolisierung Gottes durch den unendlichen Kreis oder die unendliche Sphäre (aus dem Hermetismus, insbesondere aus dem Liber XXIV philosophorum), dem Vorhandensein von Allem in Allem (aus Anaxagoras), dem Aus-sich-hervorgehen des Guten und der Abwesenheit jedes Neides vom göttlichen Schöpfer (aus Plato). Außerdem hat Stephan MeierOeser mit reichen geschichtlichen und bibliographischen Materialien die Bedeutung Brunos für die Rezeption des Cusanus im späten 16. und im 17. Jahrhundert belegt. Das betrifft vor allem die Nebeneinanderstellung des Cusanus und des Copernicus und deren Betrachtung als Befürworter einer pythagoreischen Weltanschauung. 3 Für ein vollständiges Verständnis der vielseitigen Cusanus-Bruno Beziehung ist es noch nötig, sich mit einem weniger bekannten Aspekt auseinanderzusetzen: Brunos atomistische Ergänzung der cusanischen Ontologie. Das Thema lässt sich vor allem anhand von De triplici minimo et mensura (Frankfurt, 1591) behandeln. Auch wenn Cusanus in diesem Werk nie explizit zitiert wird, werden hier zwei zentrale Probleme von Cusanus’ Philosophie, Minimum und Maß/Messen (mensura), ausgearbeitet. Das Thema des Minimums betrifft unmittelbar den Atomismus. Einige wissenschaftliche Beiträge geben einleuchtende Hinweise für das Thema: (1.) In dem Aufsatz Metaphysischer Atomismus. Zur Transformation eines Denkmodells durch Nikolaus von Kues hat Hans Gerhard Senger Cusanus’ Atom-Begriff durch Betrachtung des Werkes De ludo globi erklärt. In diesem Buch hat Cusanus das Atom als die punktgleiche „kontrahierte“ Einheit des Seins verstanden, im Unterschied zur klassischen Definition des Atoms als physikalische Quantität. Cusanus vertritt nämlich die unendliche Teilbarkeit der Materie Aristoteles zufolge und im Gegensatz zu Democritus. „Der cusanische Atomismus“ 3
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Meier-OESER: Die Präsenz des Vergessenen.
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so schreibt Senger „ist von seinem Ausgang her ein mathematischer, in der Anwendung aber ein metaphysischer Atomismus“. 4 Bruno hätte demnach aus den Prämissen von Cusanus neue Schlussfolgerungen gezogen, indem er dem metaphysischen und dem mathematischen Atomismus den physischen beilegte. (2.) Angelika Bönker-Vallon hat viel über Brunos Philosophie des Minimums geschrieben.5 Einen Vergleich zwischen ihm und Cusanus hat sie im Aufsatz Cusanismo ed Atomismo durchgeführt, wo sie auf die metaphysisch-fundierende Bedeutung von Brunos Atomismus hingewiesen hat. Nach ihrer Auffassung verdoppelte Bruno den cusanischen Begriff der coincidentia oppositorum. Sie unterscheidet in Brunos Werk zwischen der „Einheit oder Identität der Gegensätze”, der identitas, die Gott zukommt, und der „Gleichgültigkeit der Gegensätze“, der indifferentia, welche den Raum als erstes Element und als gemeinsame Grundlage von Atomen und der Leere (von plenum und vacuum) kennzeichnet.6 (3.) Ein weiterer zu erwähnender Beitrag ist Tristan Dagrons Aufsatz über Brunos indivisibilia oder Unteilbare, Une philosophie en devenir? La question de l’indivisible dans le Camoeracensis acrotismus, wo auf die Doppelbedeutung von Brunos Minimum hingewiesen wird: Erstens bedeutet es das Wesen als minimum participé und zweitens den kleinsten Bestandteil als minimum participant.
2. Das Minimum Brunos Atomismus liegt eine Philosophie des Minimums zugrunde, die unter starkem Einfluss des Cusanus steht.7 Die cusanische Herkunft seiner Ontologie hat Bruno schon in De la causa, principio et uno (London, 1584) klargemacht, wo er dessen metaphysische Hauptbegriffe (die Koinzidenzlehre, die contractio, die Gott-Welt-Beziehung als implicatio-explicatio) übernahm. In De minimo definiert Bruno das mit dem Maximum koinzidierende Minimum als „substantia rerum quatenus videlicet aliud a quantitatis genere significatur“8 sowie als „cuius
4 5 6 7 8
SENGER: Metaphysischer Atomismus, S. 140. Siehe vor allem BÖNKER-VALLON: Metaphysik und Mathematik. DIES.: Cusanismo ed atomismo. Siehe u. a. VÉDRINE: Materie, Atome und Minima, S. 132. BRUNO: De triplici minimo, I,2, S. 10.
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pars nulla est, prima quod est pars“.9 Das Minimum heißt also bei Bruno zweierlei: einerseits „Substanz“, andererseits „unteilbarer Teil“. Wie schon erwähnt, hat Dagron diese Zweideutigkeit sehr günstig durch eine platonische Sprache zum Ausdruck gebracht, indem er zwischen einem „teilgenommenen“ und einem „teilnehmenden“ Minimum unterschieden hat.10 Genauso wie bei Cusanus fällt der metaphysische Grund mit dem Maximum auch bei Bruno zusammen: „In minimo, simplici, monade, opposita omnia sunt idem, par et impar, invita et pauca, finita et infinita: ideo quod minimum est, idem est maximum, et quidquid inter haec.“11 Einerseits ist also das Minimum-Maximum der Ursprung jeder Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit; es ist das sich-selbstkommunizierende Wesen, das in den Teilen sowie in dem Ganzen ungeteilt anwesend ist. Andererseits liegt der minimale „Teil“ einer Geometrie und einer Physik der „Diskontinuität“ zugrunde: Bruno bestreitet die stetige Teilbarkeit des Kontinuums sowohl in der Mathematik als auch in der Natur. Wie man im Artikel 42 des Acrotismus comoeracensis (Wittenberg, 1588) liest: „Continuum ex indivisibilis componitur.“ 12 Alle Fehler der Mathematik und der Physik kommen aus der Nichtanerkennung dieses Grundsatzes: „Principium et fundamentum errorum omnium tum in physica tum in mathesi est resolutio continui in infinitum.“13 In diesem Punkt unterscheidet sich Bruno von Cusanus wesentlich, da Cusanus die unendliche Teilbarkeit dessen, was nicht Gott ist, behauptet.14 In De docta ignorantia dient dieser Grundsatz sogar der Ablehnung des epikureischen Atomismus: „Nonne Epicurorum de atomis et inani sententia, quae et Deum negat et cunctam veritatem collidit, solum a Pythagoricis et Peripateticis mathematica demonstratione periit? Non posse scilicet ad atomos indivisibiles et simplices deveniri, quod ut principium Epicurus supposuit.“15
9 Ebd., IV,7, S. 145. 10 DAGRON: „Une philosophie en devenir? ...“; siehe auch BÖNKER-VALLON: Die mathematische Konzeption, S. 75 über den inneren „Konflikt zwischen den Eleaten und den antiken Atomisten“. 11 BRUNO: De triplici minimo, I,4, S. 17. 12 DERS.: Acrotismus Camoeracensis, S. 73. 13 DERS.: De triplici minimo, I,6, S. 23. 14 Siehe z. B. De coni. I, c. 10 (h III n. 44f.). 15 De docta ign. I,11 (h. 1 p. 24).
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Um die Koinzidenz des Minimums und des unendlichen Maximums zu verdeutlichen verwendet Bruno die Metapher des Feuerfunkens, der sich unendlich verbreiten kann.16 Die gleiche Metapher wird von Cusanus im ähnlichen metaphysischen Kontext benutzt: für die Darstellung der unendlichen Wirkung des Allmächtigen in De quaerendo Deum.17 In den sogenannten italienischen Dialogen, insbesondere De l’infinito universo e mondi, hat Bruno die kosmologischen Folgerungen des unbegrenzten Macht Gottes durch die Ablehnung des Unterschiedes zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, potentia und actus, gezogen. Er fasst die Wirkung Gottes als unendlich durch die Anwendung des nach Lovejoy genannten principle of plenitude auf.18 Alles geht aus der ursprünglichen Einheit hervor und alles kehrt in sie zurück: „In omni serie, schala, analogia ab Uno proficiscitur, in Uno constitit, et ad Unum refertur multitudo.“19 Die Ausfaltung der Vielfalt der seienden Dinge aus dem einfachsten Minimum (minimum simplicissimum) wird von Bruno genauso wie von Cusanus20 durch eine pythagoreische Zahlenlehre aufgefasst, das ist eine progressio oder explicatio21 aus der Monade durch die Dyade, die Triade und die Tetrade bis ins Unendliche. Umgekehrt gilt auch der Anspruch, in aller Vielheit den Schatten oder das Zeichen der ursprünglichen Einheit erkennen zu können.22 Die ganze Natur drückt eine wesentliche Einheit aus: „Ex minimo oritur, in minimo consistit, et ad minimum reducitur.“23 Die Wissenschaft, insbesondere deren spekulative Bereiche Metaphysik, Mathematik und Physik, soll mit der contemplatio des Minimums anfangen.24 Ohne Anerkennung dieses Anfangs ist keine Kenntnis fest und sicher.25 Das Minimum verhält sich zur Erkenntnis wie das Licht einer Wahrheit, die viele andere Wahrheiten erhellt: „Ex lucis unius ver-
16 17 18 19 20 21 22 23
BRUNO: De triplici minimo, II,1, S. 55. De quaer. (h IV n. 46,1-19). LOVEJOY: The Great Chain of Being; GRANADA: Il rifiuto della distinzione. BRUNO: De triplici minimo, II,1, S. 55 Siehe z.B. De coni. Siehe z.B. BRUNO: De triplici minimo, I,9, S. 38 und IV,2, S. 135. BRUNO: De triplici minimo, IV,1, S. 130. Ebd., I,2, S. 10; siehe DAGRON: Unité de l’être et dialectique, und BÖNKERVALLON: Neuformulierung. 24 BRUNO: De triplici minimo, I,5, S. 20. 25 Ebd., III,2, S. 102.
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itatis multiplicis veritatis lumen exurgit.“26 Ähnlich hat auch Cusanus immer wieder in seinem Werk betont, dass jede Kenntnis aus der Betrachtung der Einheit hervorgehen sollte.27 Man würde der Geometrie sicherere Grundlagen verschaffen, wenn man sie aus der intuitiven Kenntnis weniger Figuren (insbesondere des Kreises und seines Radius) ableitete, anstatt sich an Axiomen und Sätzen zu bedienen.28 Diese intuitive Ersetzung oder Voraussetzung des moris geometrici entspricht Cusanus’ Überzeugung, dass die ganze Geometrie des Euclides aus der Einsicht des Punktes überblickt werden könnte. Man liest zum Beispiel in der Vorform von De mathematica perfectione: „Visio intellectualis nominatur per magnum Dionysium transitio in Deum. Sicut, qui videt verbum hoc Euclidis, scilicet ‚Punctus est cuius pars non est‘, visione intellectuali perfecta, illi videt complicite omnem quam scripsit geometriam et transit in scientiam eius, sic transit in sapientiam patris creatoris ille, qui videt verbum, per quod fecit et secula, quoniam in verbo illo videt et omnia complicite quae sunt creata et creari possunt, et haec visio est transitio in sapientiam, quae Deus est.“29 Brunos Zuwenden zur cusanischen Mathematik ist eigentlich durch mehrere Passagen in seinem ganzen Werk belegt.30 Im Unterschied zu Cusanus betont Bruno die Pluralität der Minima. Während der Minimum-Begriff von Cusanus prinzipiell metaphysischtheologisch gedacht wird, verwendet ihn Bruno in weiterem Sinne, da er mehrere genera von Minima annimmt. Jede Stufe des Seins und des Wissens hat ihr eigenes Minimum. Dadurch wäre Brunos Anwendung des Minimums nach Dagron eher epistemologisch und naturalistisch als theologisch zu verstehen.31 Immerhin bringt Bruno die Grundunterscheidung zwischen minimum in genere (auch: hypothesi, suppositione respectuque) und minimum absolute (auch: simpliciter) zur Geltung.32 Anhand der verschiedenen Minima stiftet Bruno eine Hierarchie der
26 27 28 29 30 31 32
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Ebd. II,1, S. 54. Siehe z. B. De coni. I, c. 5 (h III n. 19,5-12). Siehe BRUNO: De triplici minimo, I,14, S. 53. REINHARDT: Eine bisher unbekannte Handschrift, S. 141. Siehe SECCHI: „Del mar più che del cielo amante“. DAGRON: „Une philosophie en devenir? ...“, S. 38. BRUNO: De triplici minimo, I,10, S. 39-42.
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Philosophien, sozusagen eine schala scientiarum, die die Radikalität der verschiedenen Ansätze berücksichtigt:33 „Empedocles a primis sensibilibus physice exorditur; Plato a primis quantis; Pythagoras a primis simpliciter. Tamen prius est Pythagorica monas, quam monas alicubi sita. Prius est materia corporum Platoni quam corpora qualificata Empedocli; prius sunt quatuor simplicia Empedocli, quam quatuor primae de simplicibus complexiones medico; ita reliqua suis ordinibus consequuntur, et in schala scibilium, hae quidem ab inferioribus consequuntur, hae vero a superioribus gradibus scientiae exordium et prima suscipiunt elementa. In analogia igitur quadam in contemplationis universitate minimum atque principium est consistens.“
Es gibt drei Ebenen des Seins in Brunos Ontologie: das Eine, die Natur und die naturalia.34 Außerdem nimmt er an, in Übereinstimmung mit der aristotelischen Tradition, dass die theoretischen Wissenschaften auch drei sind: Metaphysik, Physik und Mathematik. Das Minimum der Metaphysik ist Gott. Er ist das Fundament der Zahlen und der Wesen, von der mathematischen und der naturhaften-weltlichen progressio:35 „Deus est Monas omnium numerorum fons, simplicitas omnis magnitudinis et compositionis substantia, et excellentia super omne momentum, innumerabile, immensum.“36 Das mathematische Minimum ist der Punkt beziehungsweise die Linie, „punctus in magnitudine unius et duarum dimensionum“;37 das physische Minimum ist das physischpsychologische Seiende: das Atom.
3. Das At om Das Atom oder corpus primordiale ist der kleinste feste Körper, minimum solidum.38 Die Definition quid atomus im vierten Buch des De minimo ist folgende: „Est atomus minimum longum, latum atque pro-
33 34 35 36 37 38
Ebd., I,10, S. 42. Ebd., IV,1, S. 132. Ebd., I,2, S. 10. Ebd., I,1, S. 7. Ebd., I,2, S. 10. Ebd., I,10, S. 41.
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fundum corporis, et potis est pars esse ac terminus ipsa.“39 Die Solidität jedes Körpers hängt vom minimalen Körper ab: „Nihil est solidum corpus praeter ea [minima] et ideo omnia praeter ea dissolvuntur.“40 In jedem Bereich des Seins ist das jeweilige Minimum das Fundament und das allgegenwärtige Wesen. Gott ist die Einheit über und in der Vielheit (also metaphysisches Minimum und Maximum, Grund, Wesen und Totalität des Seins), genauso wie jede Zahl gleichzeitig die Einheit und die Summe mehrerer Einheiten ist (also immer „eins“ und „vielfach“).41 Ähnlich bezieht sich der Atom-Begriff nicht nur auf den kleinsten Teil, sondern auch auf die Ganzheit des Körperlichen: 42 „Immensum corpus atomus [est]. Immensum planum punctus. Immensum spacium puncti vel atomi receptacolum: alia non capiuntur, ubi atomus capitur, et non atomus, ubi alia: ideo proprie individuum dicitur esse ubique, et quia spacium est infinitum, centrum dicitur esse ubique, atomum dicitur esse omnia. Atomum vero iuxta diversum genus alias distinctum intelligo.“
Es sei auf die Übereinstimmung dieser Passage mit ähnlichen von Cusanus hingewiesen, bei welchen der Raum ohne Zentrum, also infinitum, beschrieben wird.43 Es ist bekannt, dass Bruno mit mehr oder weniger Recht die philosophische Rechtfertigung des unendlichen Raums als einen Verdienst des Cusanus betrachtete. Die kosmologische Verwendung der unendlichen Sphäre kommt in De minimo wie in anderen Schriften Brunos vor.44 In der oben zitierten Passage wird auch klargestellt, dass das materielle Ganze (immensum corpus) selbst ein “Atom” ist. Das wesentliche Zusammenfallen (nach Bönker-Vallon die indifferentia) des körperlichen Maximum und Minimum liegt in deren Grundeigenschaft, „Indi-
39 Ebd., IV,7, S. 145. 40 Ebd., I,11, S. 44. 41 Siehe z.B. De coni. I, c. 9 (h III n. 37,6-7): „Omnem constat numerum ex unitate, et alteritate consituti unitate in alteritatem progrediente, atque alteritate in unitatem regredientem.“ 42 BRUNO: De triplici minimo, I,6, S. 23. 43 Siehe vor allem De docta ign. II. 44 BRUNO: De triplici minimo, I,13, S. 49.
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viduen“ ersten Ranges zu sein. Die Eigenschaft der Unteilbarkeit eint das Wesen des körperlichen Alles und den kleinsten Bestandteil. Um diese Zweideutigkeit explizit zu machen, erklärt Bruno, dass das Atom als privative oder als negative begriffen werden kann.45 Im ersten Fall spricht man von den „corpora quae sunt primae partes“, im zweiten Fall von den „quae sunt tota in toto atque singulis“, zum Beispiel der Seele. Die Körperlichkeit der Seele, oder besser gesagt ihre Körper-Bezogenheit und Physikalität, liegt darin, dass sie ein punkthaftes Prinzip eines ausgedehnten Ganzen ist. Man kann annehmen, dass die negative Unteilbarkeit oder In-dividualität eine ontologische Priorität über die privative Unteilbarkeit aufweist, genauso wie die negative, göttliche Unendlichkeit über dem privativen, kosmologischen Unendlichen steht. Diese Unterscheidung zwischen negativer und privativer Unendlichkeit gilt sowohl für Bruno als auch für Cusanus.46 Im physikalischen Bereich erklärt Bruno, dass das negative Atom die Teilung im Wesentlichen negiert, denn es ist in keiner Hinsicht teilbar „neque secundum genus, neque secundum speciem, neque per se, neque per accidens“.47 Andererseits ist das privative Atom das unteilbare Prinzip der Division und Substanz jeder Größe (substantia magnitudinis).48 In beiden Fällen wird das Atom als Seiendes verstanden. Für Bruno gilt die ontologische Grundunterscheidung des Aristotelismus zwischen ens und accidens: „Individua sola substantia ens, reliqua vero in ente, circa ens, et ex ente accidentia, adsistentia, atque composita, non aliter quam numerorum substantia monadem esse diximus.“49 Im Kapitel II,6 (Excursio physica ad animae naturam contemplandam)50 listet Bruno die verschiedenen Gattungen des Atoms (atoma extantes genera) auf. Aus dem De minimo kann man folgendes Schema ableiten:
45 Ebd., I,2, S. 10. 46 Siehe De docta ign. und De l’infinito, wo Bruno Gott negativ als „totalità infinita“ und das Universum privativ als „tutto infinito“ begreift. 47 BRUNO: De triplici minimo, II,6, S. 74. 48 Ebd., II,6, S. 74. 49 Ebd., S. 73-74 50 Ebd., S. 73-75.
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Atomus (atoma natura) 1. Negative 1.1. Accidentalis -vox -sonus -visibilis species quae tota sphaeraliter sese explicitans est ubicumque est 1.2. Substantialis -Daemon -Anima (quae tota est in toto corpore, vel etiam in toto vitae Telluris horizonte, cuius vita vivamus et in cuius esse sumus): (a.) anima individua; (b.) anima Telluris; (c.) anima synodi totius; (d.) animus animorum (Deus, omnia replens totus, ordinator supra et extra omnem ordinem) 2. Privative 2.1 Discreti prima pars (=arithmetisches und logisches Minimum) -mathematica unitas arithmetico -logica (z. B. grammatico syllaba, dialectico dictio, versificatori pes) 2.2. Continui prima pars (=minimaler Grad im Kontinuum) -momentum in qualitatibus (minim-us dolor, -a dulcedo, -us color, a lux, -um triangolum, -um circulare, -um rectum, -um curvum, in duratione instans, in loco minimum spacium, in longitudine et latitudine punctus, in corpore minimum corpus). Es sei dazu bemerkt, dass Atom im höchsten Sinn Seele bedeutet. Diese kann die individuelle Seele, die anima mundi, die Seele eines PlanetenSystems (synodus) sowie, im allerhöchsten Sinn, Gott, der die Seele der Seelen ist, bedeuten. Dadurch geht der physische Diskurs in den metaphysischen über, da das physische Minimum von seinem Ursprung her nicht mehr vom metaphysischen unterschieden wird. Diese Bemerkung bestätigt Brunos tendenziellen Naturalismus nur teilweise, da der Autor explizit erklärt, dass Gott nicht nur „in Allem“ sondern auch „über“ und „außer“ Allem ist.51 Außerdem zeigt das Schema deutlich, dass das räumliche Minimum, der kleinste Körper, Atom im privativen Sinn ist. Es ist also ontologisch der Seele untergeordnet. Nicht desto weniger ist 51 Siehe GRUNEWALD: Die Religionsphilosophie, für die These von Brunos „Pan-en-Theismus“.
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es bemerkenswert, dass die physikalische Lehre der Unteilbaren ein wesentlicher Teil der Ontologie und Naturphilosophie Brunos wird, denn das bedeutet einen Bruch mit Cusanus’ Weltverständnis.
4. Metaphysi scher, mathematischer und physischer At omismus Das metaphysische Minimum, Gott, „mens super omnia“,52 wird von Bruno vor allem Monas genannt. In seltenen Fällen bezeichnet er es auch als Monas monadum.53 Es sei bemerkt, dass der Terminus monas bei Cusanus die Zahl Eins bedeutet, die von der Einheit Gottes unterschieden wird. Man liest zum Beispiel in De Beryllo: „Videtur autem ipsi deo magis convenire ipsum unum quam aliud nomen. […] Non intelligas de uno numerali, quod monas seu singulare dicitur, sed de uno scilicet indivisibili omni modo divisionis, quod sine omni dualitate intelligitur.“54 Die Einheit Gottes steht über der mathematischen Monade und diese, wie man weiter liest, steht über der physikalischen Einheit, die nach Cusanus dem Punkt entspricht: „Unum seu monas est simplicius puncto. Puncti igitur indivisibilitas est similitudo indivisibilitatis ipsius unius.“55 Es soll jetzt darauf hingewiesen werden, dass Bruno an der ontologische Dreiteilung Theologie-Mathematik-Physik festhält, aber er verwendet einen unterschiedlichen Wortschatz. Während Cusanus Gott als die wesenhafte unitas nennt, um ihn vom akzidentellen „Einen“ abzugrenzen,56 bevorzugt Bruno das Wort monas um die Ureinheit zu bezeichnen. Monade heißt hingegen nach Cusanus die Zahl Eins, wobei Bruno das mathematische Minimum als Punkt und Linie begreift. Weiter heißt das räumliche Minimum Punkt bei Cusanus und Atom bei Bruno. Diese sprachlichen Verschiebungen entsprechen begrifflichen 52 53 54 55 56
BRUNO: De triplici minimo, I,1, S. 7. Siehe z.B. ebd., I,4, S. 17. De beryllo (h 2XI/1 n. 13,1-6). Ebd. (n. 21,2-4). Siehe De ludo globi II (h IX n. 65,1-6): „Dixi unitatem esse exemplar omnium numerorum seu omnis pluralitatis aut multitudinis. In omni enim numero vides unitatem et omnem numerum in unitate contineri. Omnis enim numerus est unus: binarius, ternarius, denarius et ita de omnibus. Quisque est unus numerus. Nec esse posset quisque unus, si in eo non foret unitas, et nisi ipse in unitate contineretur.“
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Änderungen in Brunos Ansatz. Am deutlichsten kommt die atomistische Ergänzung in der Physik vor. Die Übereinstimmung Gottes mit der (nach Cusanus) mathematischen Monade könnte ein Hinweis auf Brunos tendenzielle Ablehnung der Transzendenz des ersten Prinzips sein. Eigentlich lehnt sich Brunos Metaphysik eher an De docta ignorantia als an spätere Werken des Cusanus an. Demzufolge übernimmt er die Definition Gottes als Zusammenfall der Gegensätze, ohne die Korrektur des Cusanus in De coniecturis ernstlich wahrzunehmen, wo Gott jenseits der Koinzidenz verortet wird.57 Bezüglich der Sprachanwendung soll nun etwas über den AtomBegriff bei Cusanus hinzugefügt werden. Es ist bemerkenswert, dass er die wesenhafte Einheit der Vielfalt ebenfalls Atom nennt. In Idiota de Mente heißt es: „Est enim unus et idem punctus in omnibus atomis sicut una et eadem albedo in omnibus albis.“58 Den selben Vergleich zwischen dem Atom als Wesen der Vielfalt und der Weißheit als Wesen der weißen Dingen findet man in De ludo globi wieder: „In pluribus enim atomis non est nisi ,unus et idem punctus‘, sicut in pluribus albis una albedo.“59 In einer anderen Passage aus dem Dialog über das Globusspiel werden die Termini Atom und Punkt fast als Synonyme verwendet, denn beide werden auf die grundlegende Einheit bezogen:60 „Uti in omnibus albis mens videt albedinem, non tamen ideo sunt plures albedines, ita in omnibus atomis videt punctum, tamen ideo non sunt plura puncta. Quod clarius intelliges, quando consideras unum simplicissimum in se complicare omnem multitudinem ideoque esse immultiplicabile, cum sit complicatio omnis multiplicationis seu multitudinis; quare in omni multitudine videtur, quia non est multitudo nisi explicatio unitatis.“
Das Verständnis des Punktes, so erklärt Cusanus im darauf direkt folgenden Text, bereitet das Verständnis Gottes vor, dessen Einfachheit noch feiner als der Punkt ist, weil Gott die complicatio complicationum ist. Bezüglich des Begriffes minimum privative, seiner Existenz und sogar seiner Möglichkeit unterscheidet sich Bruno von Cusanus im We-
57 58 59 60
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De coni. I, c. 6 (h III n. 24,1sq.). De mente (h 2V n. 119,4-5). De ludo globi I (h IX n. 10,8-10). Ebd. II (n. 85,1-7).
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sentlichen. Bruno vertritt die Existenz des Minimums und bestreitet damit die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums. Nach Cusanus zwingt die unendliche Division den Geist (mens), von der numerischen unendlichen Vielfalt in die überindividuelle Einheit, also ins aktuelle Unteilbare zu springen. Dieser Atomismus ist also eine Einheitslehre, eine Betrachtung der Einheit in der Vielheit. Bruno bewahrt dieses Thema, wenn er Gott als atomus atomorum oder animus animorum bezeichnet. Er fügt aber ein lukrezianisches Element hinzu: die Annahme der Existenz von materiellen Minima, das ist diskreten physikalischen Größen. Außer den metaphysisch-grundlegenden Überlegungen zeigt Bruno auch naturphilosophisches und physikalisches Interesse. In De minimo zitiert er häufig die antiken Hauptvertreter des physikalischen Atomismus, Demokrit und Lukrez, aber Cusanus, die Grundquelle seiner Metaphysik, wird dort nie erwähnt. Es soll noch auf folgende Passage aus Idiota de Mente hingewiesen werden:61 „Secundum mentis considerationem continuum dividitur in semper divisibile et multitudo crescit in infinitum, sed actu dividendo ad partem actu indivisibilem devenitur, quam atomum appello. Est enim atomus quantitas ob sui parvitatem actu indivisibilis. Sic etiam mentis consideratione multitudo non habet finem, quae tamen actu terminata est. Rerum namque omnium multitudo sub determinato quodam numero cadit licet nobis incognito.“
Durch atomistische Termini, pars indivisibilis und atomus, beschreibt Cusanus die Tätigkeit der all-messenden mens. Atom wird in dieser Passage (wie später bei Bruno) als minimaler Bestandteil aufgefasst, obwohl Cusanus die atomistische Reduktion der Ausdehnung auf minimale Körper direkt danach ablehnt, indem er feststellt, dass jedes aktuell Unteilbare (quantitas actu indivisibilis) nur eine Zwischenstufe des unendlichen geistlichen Divisionsprozess ist. Es entsteht also das Paradoxon, dass das Unteilbare für den Geist unendlich weiter teilbar ist. Wie schon bemerkt, soll die vollkommene unteilbare Einheit bei Cusanus anderswo als in der Teilung gesucht werden: im all-entfaltenden göttlichen Prinzip. 61 De Mente (h 2V n. 119,7-13).
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Außerdem schlägt Bruno eine reelle Geometrie vor, die sich mit der Komposition der unteilbaren Teile im Kontinuum beschäftigt (siehe z. B. das Bild der Area Democriti, das das Muster der diskreten Geometrie Brunos ist).62 Im Gegenteil zu Cusanus verneint Bruno die unendliche Division in der Physik und in der Mathematik, auch durch die Erwähnung des klassischen Achilles-Paradoxes.63 Auf dieser Basis lehnt er etwas voreilig die Trigonometrie ab, da diese die unendliche Teilbarkeit des Winkels voraussetzt.64 Dazu bestreitet er die Möglichkeit der sogenannten trasfigurationes geometricae und der Quadratur des Kreises.65 Die geometrischen Figuren entstehen aus der Zusammenfügung von ausgedehnten Punkten. Sie zeigen unermessliche qualitative Eigenschaften auf und wachsen quantitativ nach bestimmten und verschiedenen numerischen Reihen:66 „Iam cum in natura sit definitum minimum, neque secundum actu, neque secundum rationem circulo quadratum, immo nec quadratum pentagono, neque triangulum quadrato, neque tandem figurae ullam speciem cum alterius speciei figura possibile est aequare: alius enim laterum numerus, alium quoque partium ordinem atque numerum exquirit.“
Etwas später, im 17. und 18. Jahrhundert, hat die Atomismus-Debatte sich als das Entgegensetzen von Aristoteles und Zenon gestaltet: Einerseits verteidigten die Gegner des Atomismus die aristotelische Lehre der unendlichen mathematischen und physikalischen Division, andererseits ließ man den zenonischen Grundsatz gelten: „Continuum finitum componi ex indivisibilibus finitis.“67 Diese indivisibilia wurden dann häufig von den mathematischen Atomisten als nicht ausgedehnte physikalische Elemente begriffen. Bruno teilt diese letzte Meinung seiner Nachfolger nicht: Die Unteilbaren hätten eine minimale Ausdehnung, das ist eine minimale kugelförmige Figur (siehe die Area democriti). Er unterscheidet zwischen dem kleinsten Teil (minimum) und der kleinsten Grenze (terminus mini-
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BRUNO: De triplici minimo, I,14, S. 50; vgl. die Abb. weiter unten. Ebd., I,7, S. 29. Ebd., III,3 u. III,7. Ebd., II,8, S. 82. Ebd., II,8, S. 81 Siehe PASINI: La prima recezione della Monadologia, S. 123.
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mi).68 Die Grenze oder terminus wäre der Tangentialpunkt von zwei Minima: „Est mimimum cuius pars nulla est, prima quod est parte. Terminus est finis cui nec pars, quod neque pars est“.69 Auch wenn Bruno die Quadratur des Kreises aus einer mathematisch rational-immanenten Perspektive ablehnt, akzeptiert er die Möglichkeit, die kontradiktorische Einheit des minimalen Bogens und der minimalen Sehnen ab extrinseco einzusehen:70 „Ut minimum primamque partem licet invenisse, ita et ex indifferentia soppositi minimi arcus et minimae cordae via est ad possibiliem circuli quadraturam, nempe ab extrinsecis positionibus (quia ab intrinseco non est possibilis ut ostendimus) et per perimetrum duntaxat accipiendam.“
Diese Idee eint Bruno und Cusanus, da Cusanus die Möglichkeit der Quadratur des Kreises dank des Prinzips der coincidentia oppositorum in der intellektuellen und überrationellen Ebene und nicht aus der Perspektive einer nicht-kontradiktorischen Logik einsah.71 Außerdem lobt Bruno Cusanus’ Ansatz zur Quadratur des Kreises in Spaccio de la bestia trionfante: „Mi par degno che sia messo in mano del Cardinal di Cusa, a fin che colui veda se con questo possa liberar gli impacciati geometri da quella fastidiosa inquisizione della quadratura del circolo: regolando il circolo et il triangolo con quel suo divino principio della commensurazione e coincidenza de la massima e minima figura; cioè di quella che costa di minimo, e de l’altra che costa di massimo numero di angoli.“72 Brunos Minimum- und Atom-Lehre ist insoweit nicht strikt demokritisch oder lukrezianisch, da sie sich auf metaphysische Überlegungen stützt, die dem klassischen Atomismus völlig fremd sind. In dieser Hinsicht steht Bruno unter dem starken Einfluss des Cusanus und des neo-platonischen Denkens im Allgemeinen, insbesondere bezüglich des Bedürfnisses, die implizite Einheit der Vielfalt immer vor Augen zu halten. Diese Einheitslehre liegt der anagogischen Funktion der cusani68 69 70 71
BRUNO: De triplici minimo, I,7 S. 29. Ebd., IV,7, S. 145. BRUNO: De triplici minimo, III,12, S. 128. Siehe vor allem PUKELSHEIM/SCHWAETZER (Hgg.): Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. 72 BRUNO: Dialoghi filosofici italiani, Spaccio de la bestia trionfante, S. 616617.
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schen Mathematik zugrunde, was Senger als „mathematischen Atomismus“ bezeichnet hat (es sei hier kurz bemerkt, dass das nicht der obengenannten „zenonische“ mathematische Atomismus ist). Cusanus hat diese Bedeutung seiner mathematischen Spekulationen vor allem in De theologicis complementis von 1453 festgestellt: „Conabor igitur libelli illius figuras theologicales efficere, ut, quantum deus dederit, mentali visu intuear, quomodo in speculo mathematico verum illud, quod per omne scibile quaeritur, reluceat non modo remota similitudine, sed fulgida quadam propinquitate.“73 Bruno leugnet diese anagogische Funktion der Mathematik nicht. In De minimo IV, im Kapitel 1 über die progressio a monade ad pauca, inde ad plurima, usque ad innumera, et immensum stellt er fest, dass die Mathematik eine Einführung in das Natur- und Gottes-Verständnis anbietet: „A mathematicis ad profundiorum naturalium speculationem, et divinorum contemplationem adspiramus.“74 Das Zentrum seiner Spekulation liegt aber nicht in der apophantischen Theologie, sondern in den ontologischen Bereichen der Naturphilosophie, der Kosmologie und einer pythagoreischzenonischen Mathematik. Dagron stellte die eher naturalistischepistemologische Verwendung der Koinzidenzlehre bei Bruno der eher theologisch-metaphysischen bei Cusanus entgegen. Diese Akzentverschiebung gilt insbesondere für Brunos Atom-Lehre.
5. Brunos Erkennt nist heorie: zw ischen Lukrez und Plato Im ersten Buch des De minimo führt Bruno die ontologische Unterscheidung zwischen sinnlich wahrnehmbarem und rationellem Minimum ein (De min. I,9 Discrimen minimi ad sensum a minimo simpliciter seu naturae). Letzteres wird auch real oder natürlich genannt. Bruno schreibt diese Unterscheidung zwischen Wahrnehmbarem und Denkbarem dem Lukrez zu: „Ne credas modico seiungier intervallo/ A minimo nostris obiecto sensibus, altam/ Accipito docti rationem mente Lucreti.“75 Die Beziehung Wahrnehmung-Realität wird von Bruno durch den cusanischen Terminus contractio ausgedrückt. Einerseits 73 De theol. compl. (h X/2a n. 1,6-10). 74 BRUNO: De triplici minimo, IV,1, S. 134. 75 Ebd., I,9, S. 37.
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erlaubt dieser erkenntnistheoretische Ansatz zwischen primären und sekundären Eigenschaften der natürlichen Phänomene zu unterscheiden, das heißt zwischen heterogenen Minima (minimum gustabile, tangibile, etc.) einerseits und homogenen und undifferenzierten minima corpora andererseits: „Minima quippe iuxta primam formam qua minima et corpora sunt, indifferentia habentur omnia.“76 Andererseits liegt Brunos Theorie des Messens die Unterscheidung EmpfindungsvermögenRationalität zugrunde. Die mensura wird von den Naturwissenschaften gebraucht um empirisch begründete Erkenntnisse zu erreichen. Alle empirisch bedingten Wissenschaften, wie zum Beispiel die Astronomie und die Medizin, beziehen sich auf eine wahrnehmbare Ebene der Ungenauigkeit. Das Messen wäre die Kunst der Annäherung, der mehr oder weniger präzisen Gleichheit (De min. V,2: Aequale… magis suscipere atque minus). Mit diesem typisch cusanischen Thema befasst sich Bruno im vierten und fünften Buch des De treplici minimo et mensura. Brunos Erkenntnislehre, genauso wie sein Atomismus, ergänzt Lukrez mit platonischen Elementen, die er vor allem aus Cusanus herleitet. Genauso wie Cusanus nimmt er die Dreiteilung des Erkenntnisvermögens sensusratio-intellectus an und stellt das Mentale höher als das Sinnliche. Im zweiten Buch bemerkt er, dass die Kenntnis des Kreises wegen der Ungenauigkeit der natürlichen Gegenständen nie durch die Sinne erreicht wird.77 Ähnliche Überlegungen über die Erkenntnis des Kreises und der Sphäre findet man in Cusanus’ Schriften. Im ersten Buch des De ludo globi verwendet Cusanus das Beispiel des Kreises und der Sphäre, um das Primat des Mentalen in der sinnlichen Erfahrung zu zeigen. Die Sphäre ist nämlich von den Sinnen nie überblickt, denn sie wird durch eine mentale Ergänzung und Zusammenfügung partieller Perspektiven empfunden: Ein dreidimensionaler Körper kann in einem einzelnen Blick nicht empfunden werden.
6. Schlussw ort: Bruno und seine Quell en Zum Schluss kann man feststellen, dass Brunos Minimum-Lehre zweideutig ist, denn sie hält eine metaphysische Begründung mit einer mathematisch-physischen Unteilbarkeit-Lehre zusammen. In Brunos Atomismus wird Cusanus durch Lukrez ergänzt, sowie Lukrez durch Cusanus. Es wäre 76 Ebd., S. 38. 77 Ebd., II,2-4.
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vielleicht besser, diese physikalische Konzeption als eine Synthese der cusanischen Einheit- oder Minimum-Lehre und dem demokritischen physischen Atomismus zu betrachten.78 So ein Verfahren ist typisch für Brunos Eklektizismus, obwohl er sich selbst dessen nicht immer ganz bewusst ist. Eine ähnliche Synthese und Quellenergänzung kann man am Beispiel des Dreiecks Kopernikus-Cusanus-Lukrez in den sogenannten kosmologischen italienischen Dialogen zeigen: La cena de le Ceneri, De la causa, principio et uno und De l’infinito universo e mondi. In diesen Werken werden die drei gerade genannten Autoren miteinander konfrontiert, ausgearbeitet und umgesetzt. Dem De rerum natura liegt Brunos Lehre der atomischen Komposition des unendlichen Raumes zugrunde, für dessen metaphysische Rechtfertigung er sich auf De docta ignorantia stützt. Andersherum unterliegt Cusanus’ Diskurs über die unendliche Sphäre einer post-kopernikanischen kosmologischen Umsetzung. Kopernikus bietet Bruno die Grundrisse einer neuen Physik und einer Kosmologie, die aus dem Atomismus sowie aus Cusanus die Unendlichkeit und der Homogenität des Raumes und die Welten-Pluralität herleiten. Bezüglich des Minimums weist Brunos Begriff eine Cusanusähnliche konzeptuelle Struktur auf: Es ist ein aus sich herausgehendes einheitliches Prinzip, das mit dem Maximum zusammenfällt. In Vergleich zu Cusanus rückt das Anagogische etwas in den Hintergrund und wird durch eine dreifache spekulative Betrachtung der Metaphysik, der Mathematik und der Physik ersetzt. Dazu wird der alte Atomismus wiederbelebt und in einer Sein-, Natur- und Mathematik-Lehre geltend gemacht. Das physische Giordano Bruno, De monade Atom ist der Gegenpol der metanumero et figura liber (Frankfurt, 1591), Herzog August Bibliothek physischen Einheit. In dieser Wolfenbüttel: 2.12.1 Logica 2° Perspektive werden die cusanische Einheitslehre und der physikalische Atomismus zusammengebracht. 78 Siehe MONTI: Lukrezianismus und Neuplatonismus.
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Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus WITALIJ MOROSOW Neben den allgemein bekannten Errungenschaften eines der größten Philosophen und Theologen der Renaissance Nicolaus Cusanus’ gibt es eine ganze Reihe von weniger berühmten und selten erwähnten Leistungen dieses Denkers, die nicht weniger bedeutsam sind. Grund dafür ist mit Sicherheit die Größe der Persönlichkeit Nicolaus Cusanus’, dessen Ruhm keiner Bekräftigung bedarf. Der Beitrag Nicolaus Cusanus’ zur Alchemie-Reform des Paracelsus ist nicht die wichtigste Errungenschaft des Philosophen. Mehr noch: Dieser Beitrag hat sich eher als indirekt erwiesen. Nicolaus Cusanus setzte sich nicht zum Ziel, die alchemistische Kunst zu reformieren. In vielerlei Hinsicht, gerade aus diesem Grund, vergessen die meisten Forscher der Alchemie, ihren Vorgänger Nikolaus von Kues zu erwähnen, wenn sie über die alchemistische Revolution des XVI. Jahrhunderts sprechen. Es gibt eine Reihe von Studien, die die Verbindung zwischen Nikolaus von Kues und Paracelsus untersuchen.1 Wesentlich größere Aufmerksamkeit wird dem terminologischen und begrifflichen Parallelis1
Siehe z.B. folgende Ausgaben auf Deutsch: DOMANDL: Paracelsus; HAECusanus – Paracelsus – Boehme; ODAGAWA: Die Naturanschauung bei Nicolaus Cusanus und Paracelsus; BARTH: Philosophie der Erscheinung. Auf Englisch: PAGEL: Paracelsus. Auf Russisch: FJODOROW: „Istorija menja“: tradicija evropejskoj filosofskoj mistiki i stroitel'stvo personal'nyh mirov; MOROSOW und NIKANOROW: Numerus i quantitas Nikolaja Kuzanskogo: ot neopifagorejstva k paracel'sianskomu perevorotu. RING:
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mus geschenkt. Mit mehr Vorsicht werden direkte Entlehnungen aus Nikolaus von Kues’ Werken behandelt, da Nikolaus von Paracelsus nie zitiert wird. In diesem Zusammenhang schreibt Andrew Weeks über die Bekanntschaft des „Luthers der Medizin“ mit den Werken des katholischen Kardinals: „Es ist durchaus möglich, wenn nicht offensichtlich, dass Paracelsus mit ihm [d.h. mit den Werken Nikolaus von Kues’ – W.M.] bekannt war.“2 Jedoch, selbst wenn die konzeptuelle Verbindung dieser zwei Denker offensichtlich sein mag, findet sie keine konkrete faktologische Bestätigung und gründet lediglich auf den Repliken in den naturphilosophischen Konstruktionen des Paracelsus. Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass Nikolaus von Kues’ Beitrag zur alchemistischen Revolution nur dann objektiv gewürdigt werden kann, wenn man sich seinen medizinischen Arbeiten des XVI.– XVII. Jahrhunderts zuwendet. Aber, bevor man anfängt, über den Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur paracelsischen Wende zu sprechen, müsste man verstehen, worin diese Wende eigentlich bestand. In dieser Verbindung muss man ein paar Worte zur Alchemie der christlichen Doktoren, d. h. die europäische Alchemie bis Paracelsus, sagen.
Die w ichtigsten Grundsätze der Al chem ie der christlichen Doktoren vom XIII. bis XIV. Jh. Seit den Zeiten der arabischen Periode entwickelte sich in der Alchemie die traditionelle Lehre, die besagte, dass alle Stoffe aus zwei Prinzipien – Schwefel (sulphur) und Quecksilber (Mercurius) – zusammengesetzt sind. Laut Balinus’ Lehre gilt die Konsistenz zweier Prinzipien – des nicht flüchtigen Schwefels und des flüchtigen Quecksilber – als Grundlage jeglichen Unterschiedes zwischen Metallen. Diese Lehre erlaubte den Alchemisten die Behauptung, dass die Unterschiede zwischen den Metallen nicht in der Substanz, sondern in den Akzidenzen enthalten sind. Daraus schloss man, dass alle Metalle gleichartig seien, wenn sie eine und dieselbe Substanz haben, – so hat die Idee der Transmutation ihre theoretische Begründung in der Alchemie bekommen. Diese Idee nimmt ihren Ursprung in Empedokles’ Lehre von Urelementen, und zwar in der Deutung von Aristoteles, welcher die Qualitäten der Urma2
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WEEKS: Paracelsus, S. 49.
Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus
terie (warm/kalt, feucht/trocken) derart atomisierte, dass jedes Element in ein anderes übergeht. Im Wesentlichen stellt die SchwefelQuecksilber Lehre dieselbe Konzeption wie Aristoteles’ Lehre vor, mit dem einzigen Unterschied, dass sich die Prinzipien Schwefel und Quecksilber, die in vier Urelementen dominieren, nur Metallen, Pflanzen und Mineralien gelten, indem sie diese vom Rest der Natur absondern. In einer besonderen Weise stellte sich die Frage über die Wechselwirkung von Schwefel und Quecksilber: Wenn sich Schwefel und Quecksilber in allem voneinander unterscheiden, wie können sie dann interagieren? In diesem Zusammenhang spricht schon Rhazes von einer vermittelnden Rolle des Salzes, und Pseudo-Geber entwickelt im XIV. Jahrhundert die Lehre vom Arsen. Nichtsdestoweniger hat sich in der europäischen Alchemie der christlichen Doktoren hauptsächlich das Konzept von zwei Grundelementen – Schwefel und Quecksilber – etabliert. In mittelalterlichem Europa entwickelte sich die Alchemie aufgrund dieser Konzeption, die sich bis Paracelsus nicht geändert hat. Als zentrales technisches Problem erwies sich hier die Verbindung der Idee der Konsistenz von Elementen in Metallen mit dem metrischen System. Wie können flüchtige und nicht flüchtige Prinzipien in Metallen gemessen werden? Wie kommt man von der theoretischen Konstruktion des Unterschieds in Konsistenz zum realen chemischen Experiment? In der mittelalterlichen europäischen Alchemie des XIII. Jahrhunderts wurde das Prinzip des Gleichgewichts der Elemente je nach ihrem Wert verwendet. So schreibt Pseudo-Thomas von Aquin in seinem Traktat Abhandlung über den Stein der Weisen (De lapide philosophorum): „Nimm zwei Teile Saturnus (Blei), wenn du das Werk der Sonne (Gold) vollbringen willst, oder zwei gute Teile Jupiter (Zinn) für das Werk des Mondes (Silber). Ergänze ein Drittel mit Quecksilber. […] Du wirst dann diese Lösung drei oder mehrerer Male destillieren, du wirst sie verdicken und du wirst den Stein bekommen, der Jupiter in Mond verwandelt.“3 Arnaldus von Villanova schreibt noch weitschweifiger: Wenn Thomas von Aquin über die „Teile“ von Metallen spricht, schreibt Arnaldus über die „Teile“ von Elementen – Feuer, Wasser,
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FOMA AKVINSKIJ: O kamne filosofov i prezhde vsego o telah sverhnebesnyh, S. 232.
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Erde und Luft.4 Es ist kennzeichnend, dass Roger Bacon in seinen alchemistischen Werken mehrfach das folgende Zitat einbringt: „Rhazes behauptet, dass ein weiser Mann nichts außer der Menge der Materie und ihres Gewichts verheimlicht, und wir haben kein Interesse an Menschen, die davon wissen oder nicht wissen, weil wir diese Bücher für dich geschaffen und geschrieben haben, da du verstehst, was wir meinen, sowie für unsere Söhne und die Kinder.“5 In dieser Form wird die Idee des chemischen Äquivalentes in der gesamten mittelalterlichen Alchemie bis zum XV. Jh. vorgestellt. Der russische Wissenschaftshistoriker Wassilij Subow polemisiert mit seinem amerikanischen Kollegen Lynn Thorndike: „Ich kann seiner [Thorndike’s] Bemerkung nicht zustimmen: ‚Es waren die ersten unsicheren, komischen Schritte der quantitativen Chemie in ihrem Säuglingsalter. Aber sie lernte gehen.‘ Mit dieser ‚Bildungsmethode‘ hätte die Chemie nur gelernt, wie man auf dem Kopf geht.“ Die richtige Idee des Äquivalentes hat sich in den Dickichten der Alchemie verirrt.“6 Im Sinne von Rhazes’ Ansichten über Maß und Gewicht, betrachteten mittelalterliche Alchemisten die Konsistenz von Stoffen, die Temperatur des Feuers und die Zeit, die für die Durchführung der Experimente nötig ist, als ein äußerstes Geheimnis. Es war kein einfaches Zunftdenken, sondern eine Übertragung jeglichen Maßes in die Sphäre des Sakralen. In Wirklichkeit hat es die mittelalterlichen Alchemisten dazu geführt, dass eine Wiederholung von Experimenten aufgrund von Texten und Vorschriften unmöglich wurde. Im Vordergrund stand eine mythische Verbindung zwischen dem Alchemisten und seinem Magisterium, der als eine Art ‚Spiegel‘ verstanden wurde. In dieser Verbindung verdrängte das einzigartige, individuelle Erlebnis die Wiederholung des Experimentes, was die Herausbildung der klassischen wissenschaftlichen Rationalität ausschloss.
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ARNALDUS DE VILLANOVA: Thesaurus thesaurorum seu Rosarius philosophorum, S. 63-64. BACON: Speculum Alchymiae, S. 130. SUBOW: Iz istorii himicheskoj terminologii. Termin „miksis“ i ego sud'ba v antichnoj i srednevekovoj nauke, S. 222.
Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus
Die alchemistische Reform des Par acel sus Die alchemistische Reform, die durch Paracelsus vollbracht wurde, ist eine ziemlich komplizierte und mehrdeutige Erscheinung. Mehr noch: Es muss gesagt werden, dass das Erbe des Paracelsus auf diese Reform nicht reduziert werden darf. Die Lehre des Theophrastus von Hohenheim hat zu globalen Transformationen innerhalb der hermetischen Kunst geführt, was im Endeffekt zur Spaltung der europäischen Alchemisten führte: Die einen, wie z.B. Jakob Böhme und Abraham von Frankenberg, fingen an, die Alchemie ausschließlich als eine Quelle der mythischen und theosophischen Erfahrung zu betrachten, die anderen, wie Johann Rudolf Glauber, Johann Joachim Becher und Joachim Jungius, sahen sie als eine Quelle der wissenschaftlichen und hauptsächlich chemischen Experimentes. Seit den Zeiten Rhazes’ und DschƗbirs hat sich Paracelsus als erster der Theorie von drei Prinzipien zugewandt. Allerdings hat er – im Unterschied zu seinen arabischen Vorgängern – in seiner Philosophie diese Prinzipien auf das ganze Universum übertragen. So, während sich DschƗbirs Theorie nur auf Metalle, Mineralien und Pflanzen erstreckte, behandelte die Theorie des Paracelsus schon das ganze geschaffene Weltall, so dass sich qualitative Unterschiede zwischen den Metallen und den menschlichen Körpersäften verwischten. Es ist interessant, dass Paracelsus selbst – trotz des revolutionären Geistes seiner Werke – gewisse Pietät gegenüber dem Vater der Alchemie Hermes Trismegistos wahrte. So schreibt er in seinem Traktat Über die Natur der Dinge (De rerum naturae): „Du sollst wissen, dass alle sieben Metalle aus drei Stoffen entstehen, und zwar: Quecksilber, Schwefel und Salz, allerdings nur mit klaren und eigenartigen Farben. Und in dieser Verbindung hat Hermes gesagt, dass alle sieben Metalle aus drei Substanzen entstehen; auf gleiche Weise werden auch Tinkturen und der Stein der Weisen geschaffen. Er nannte diese Substanzen: Geist, Seele und Körper. Aber er hatte keine Anweisungen gegeben, wie das zu verstehen ist, und was er genau damit meinte, obwohl es durchaus möglich ist, dass er von den drei Prinzipien wusste, sie aber nicht erwähnte. Aus diesem Grund sage ich nicht, dass er sich irrte, sondern, dass er darüber schwieg.“7
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PARACEL'S: O prirode veschej, S. 303-304.
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Paracelsus begründete und entwickelte die Lehre von der Quintessenz: Wenn die Prinzipien – Schwefel und Quecksilber – vier Grundelemente bestimmen, so muss Salz das fünfte Element bestimmen, weil es ein selbständiges Urelement ist. Er hat außerdem das Konzept des Mikround Makrokosmos in die Alchemie eingeführt, die Lehre über die Dreiheit des Universums und vieles Andere. Diese vielzähligen naturphilosophischen Veränderungen und Neuerungen haben im Endeffekt zu einer Spaltung innerhalb der Tradition sowie zur Entstehung von prinzipiell neuen und selbständigen Gebilden in der Alchemie geführt, wie z.B. Johann Joachim Bechers Theorie von drei Erden, die zu DschƗbirs Lehre gar keine Verbindung mehr hatte. Das Paradoxon besteht aber gerade darin, dass die Überwindung der Tradition und das Hinausgehen über ihre Grenzen nur deshalb möglich wurden, weil sich diese Tradition selbst so etwas hervorgebracht und in sich aufgenommen hatte, was zu ihrer inneren Selbstverneinung führte, in der sie dann ihr Ende fand. Allerdings besteht der Kernpunkt der gesamten alchemistischen Reform, die durch Paracelsus vollbracht wurde, in der Wende von der Metallurgie zur Medizin.8 Das Ziel der alchemistischen Forschungen des Paracelsus war nicht nur mit der Herstellung von Gold und dem Aufstieg zu Gott verbunden, sondern vielmehr mit der ärztlichen Praxis, und zwar mit der Verwendung von alchemistischen Tinkturen in der Homöopathie. So entstehen die Spagyrik und Iatrochemie als wirklich typisch paracelsische Erscheinungen in der Alchemie, die sich später zur neueuropäischen Pharmakologie entwickelten. Dennoch stellt sich die Frage, was die notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der Homöopathie bildete? Greifen wir etwas weiter: Ohne was wäre eine Fixierung der Ergebnisse und eine Zusammenstellung von medizinischen Rezepten gar nicht möglich gewesen? Ohne das metrische System. Theophrastus von Hohenheim sah das Problem der Maße in der Alchemie in seiner ganzen Schärfe. Gerade die Herausbildung eines neuen metrischen Systems wurde entscheidend für Paracelsus, was das Schicksal des neueuropäischen Experimentes entscheidend beeinflusst hat. Bis hin zur alchemistischen Wende waren alle Rezepte vorschreibend, sie hatten den Charakter des Imperativs; überall erschien die Formel: „Nimm […] und du wirst.“ Nach der alchemistischen Reform werden die alche8
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REDGROVE: Alchemy, S. 60.
Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Alchemie-Reform des Paracelsus
mistischen Rezepte fixierend, in ihnen überwiegt nicht mehr der Imperativ, sondern die Beschreibung eines konkreten Ergebnisses: „Ich habe […] genommen und es gelang mir.“ Es ist schwer zu übersehen, dass der Prozess der Transformation der Rezepte in alchemistischen Traktaten mit dem metrischen System verbunden ist, durch welches eine Fixierung überhaupt möglich geworden ist. In der Alchemie und in der Medizin erscheint so etwas wie ‚Gewissenhaftigkeit‘ verwandt mit dem Wort ‚Skrupel‘, von lateinisch ‚scrupulus‘ = Steinchen (daher: ‚skrupellos‘: Ein Apotheker ohne Skrupel konnte nicht exakt arbeiten). ‚Skrupel‘ war ein Gewichtsmaß aus dem Apothekersystem und entsprach 1,3 Gramm. Dem russischen Forscher Jurij Roditschenkow fiel ein solches Detail auf wie die Transformation des Verhaltes gegenüber dem praktischen Instrumentarium und der Ausrüstung der Laboratorien in den Traktaten der späten Alchemie.9 Seit dem XVI. Jahrhundert werden die Beschreibungen detaillierter; Klassifikationen der Maße, Grade, Feuerquellen, alchemistischer Operationen, Gefäße und Kolben werden eingeführt. Neben der Transformation der Rezeptur lässt sich die Herausbildung des Begriffes ‚Experiment‘ beobachten. Während die Alchemie der christlichen Doktoren die Begriffe ‚experientia‘ (Emotion) und ‚experimentum‘ (Erfahrung) als Synonyme betrachtet, weil das Bewirken der chemischen Reaktionen mit der geistigen Frömmigkeit des Alchimisten unzertrennlich verbunden ist, (es genügt, Roger Bacons Traktate, z.B. Opus Majus zu nehmen, wo diese Begriffe in chaotischer Weise verwendet werden),10 so kann man in der späten Alchemie schon eine scharfe Trennung dieser Begriffe beobachten. Experimentum ist nicht einfach eine Emotion, sondern das, was schon erlebt wurde und einer Wiedergabe bedarf, wobei das Letztere ohne Fixierung des Ergebnisses undenkbar ist, die nur dank dem metrischen System möglich wurde. Oft, wenn man über diese Wende spricht, erinnert man sich an den berühmten Aphorismus von Paracelsus: „All Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist.“
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RODITSCHENKOW: Prakticheskij instrumentarij i osnastschenie laboratorii v traktatah pozdnej alhimii. 10 Siehe BACON: Fratris Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita. Insbesondere in Opus Majus, VI.
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Dieser Satz wurde faktisch zum Motto der alchemistischen Reform des „Luthers der Medizin“. Allerdings muss grundsätzlich verstanden werden, dass die paracelsische Wende nicht über Nacht vollbracht wurde. Ihre Grundlagen wurzeln bereits im XV. Jahrhundert, und das Problem der Messung, das eine kolossale Rolle für die Entwicklung der europäischen Chemie und Medizin spielte, wurde bereits von Cusanus scharf formuliert.
Wiege-Experimente des Nikolaus von Kues Worin genau besteht Nicolaus Cusanus’ Beitrag zur Reform des Paracelsus? Wie hat dieser katholische Kardinal eine Revolution in der Chemie bewirkt? Offenbar hat er die theoretische Reform, die von Paracelsus durchgeführt worden war, nicht mehr erlebt. Außerdem steht es außer Zweifel, dass Nikolaus von Kues im Unterschied zu Theophrastus Paracelsus kein Alchemist war, keine hermetischen Ziele verfolgte, obwohl er zahlreiche medizinische und alchemistische Schriften besaß, und, wie es seinen Traktaten zu entnehmen ist, mit den etablierten theoretischen Grundlagen der mittelalterlichen Alchemie vertraut war. Im XV. Jahrhundert wendet sich Cusanus dem seinem Geist nach neuphythagoreischen Problem der universalen Harmonie der Zahlen zu, die er auf vier von ihm hervorgehobenen Ebenen des Daseins sieht. Er unterscheidet vier Ebenen oder ‚Einheiten‘ des Seins, deren Hierarchie im Geist erscheint. Der Geist stellt diese Einheiten mittels sprachlicher Zeichen dar: „[...] denn es gibt eine einfachste, eine zweite wurzelhafte, eine dritte quadratische, eine vierte würfelhafte. [...] Um diese geistigen Einheiten ansprechen zu können, gibt er [= der Geist] ihnen Bezeichnungen; und zwar nennt er den ersten, höchsten und einfachsten Gott; den zweiten, wurzelhaften, der keine Wurzel vor sich hat, nennt er Intelligenz; den dritten, quadratischen, die Einschränkung der Intelligenz, nennt er Seele; den letzten, festen und dicken, ausgefalteten, der nichts weiter einfaltet, nennt er auf mutmaßende Weise Körper.“11
11 De coni. (H 17 n. 13f.).
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Nicolaus Cusanus interessiert der Übergang von der Zahl (numerus) zur Anzahl/Quantität (quantitas). Während die Einheit im göttlichen Geist die Grundlage für die Quantität ist, wird das letztere in der Vernunft mit der Zahl gleichgesetzt: „Wie also das Eine das Prinzip der Zahl ist, so ist das kleinste Gewicht das Prinzip des Wägens und das kleinste Maß das Prinzip des Messens. Jenes Gewicht soll Unze und das Maß Petit heißen. Wird nicht, wie mit der Eins gezählt, so mit der Unze gewogen und mit dem Petit gemessen? So ist auch aufgrund der Eins das Zählen, aufgrund der Unze das Wägen, aufgrund des Petits das Messen.“12
Für Cusanus stößt sich das Problem der Messung der Stoffe an die Idee der universellen Harmonie, die nicht nur im Geiste, sondern auch in der Natur entfaltet werden kann. Er entfaltet diese Harmonie der Zahlen auf verschiedenen Stufen des Daseins in den berühmten Idiota-Dialogen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung stellt hauptsächlich der vierte unter ihnen besonderes Interesse dar, nämlich der Traktat Der Laie über Versuche mit der Waage (Idiota de staticis experimentis), in dem sich von Kues unmittelbar dem Experiment mit der Waage zuwendet. Wie Paula Pico Estrada richtig schließt, ist das Gewicht für Cusanus nur deshalb wichtig, weil der Verstand zu ihm jede messbare Erscheinung zurückführen kann.13 Cusanus schreibt: „LAIE: Doch sage mir bitte, ob nicht jemand die durch Erfahrung bestätigten Gewichtsunterschiede zusammengestellt hat […]? RHETOR: Darüber habe ich weder gelesen, noch habe ich etwas gehört. LAIE: Gäbe uns jemand solche Aufzeichnungen, ich würde sie dem Wert vieler Bände vorziehen. […] RHETOR: Kann man wohl aus dem Gewichtsverhältnis der Metalle etwas über das Verhältnis ihrer Natur erfahren?
12 De sap. I (H. 1 n. 6). 13 Siehe PICO ESTRADA: Weight and Proportion in Nicholas of Cusa’s Idiota de staticis experimentis, S. 144-145.
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LAIE: Blei ist Gold dem Gewicht nach sehr ähnlich, keineswegs jedoch in der Vollkommenheit. Daher meine ich, dürfte man nicht nur einem Gewicht seine Aufmerksamkeit widmen, sondern den einzelnen Gewichten. Betrachtet man die Menge des Schmelzfeuers bei Gold sowohl als bei Blei, dann findet man, daß Blei dem Gold weniger nahe kommt als irgendein anderes Metall. Achtet man auf die Feuermenge beim Eisenguß, so erfährt man, daß Eisen Gold näher kommt als irgendein anderes Metall, auch wenn es ihm hinsichtlich seiner Gewichtsschwere (pondus gravedinis) weniger nahe steht. Wir müssen also auf alle Maße achten, nicht nur auf die Schwere (gravitas), dann erfahren wir, daß Silber Gold am nächsten kommt. RHETOR: Vitruvius sagt bezüglich des Gewichtes der Gold-Natur, daß es allein im Quecksilber untergeht, wie klein auch immer das Gewicht gewesen sein mag, während alle anderen Metalle, wie groß ihre Masse auch immer sein mag, oben bleiben. LAIE: Quecksilber kann mit allen Metallen verbunden werden wegen des Gemeinsamen, das in ihm und in ihnen ist. In größter Zuneigung jedoch vereint es sich mit dem Gold, so wie etwas sehr Unvollkommenes seiner eigenen, ganz vollkommenen Natur anhängt. Daher versuchen jene, die sich mit Alchemie beschäftigen, das Quecksilber im Feuer zu bezähmen, und zwar solange, bis es nicht nur nicht mehr das Feuer meidet, sondern auch alle Metalle, denen es sich verbindet, fest in sich zusammenhält; und nicht nur das, sondern sich auch im Gewicht dem Golde nähert während es als biegbare und bearbeitbare feuchte Masse verbleibt und sich mit einer festen beständigen Farbe färbt. RHETOR: Glaubst du, daß jene ausführen können, was sie sich vornehmen? LAIE: Genauigkeit bleibt unerreichbar. Welche Fortschritte sie jedoch machen werden, zeigt die Waage, ohne die sie keine genauen Ergebnisse erzielen können. Dem Urteil des Feuers nämlich und der Waage bleibt die Erforschung dieses Problems überlassen.“14
Die Temperatur des Feuers und das Gewicht der Materie verwandelten sich aus einem Geheimnis in einen allgemein zugänglichen Maßstab des alchemistischen Wissens; die Waage wurde zur ‚Waagschale im Jüngsten Gericht‘ für die gesamte hermetische Kunst. Es ist zu vermerken, dass 14 De stat. exp. (n. 161, n. 172f.); deutsch nach Dupré III, S. 613ff.
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Cusanus im zitierten Abschnitt die Prinzipien von Metallen wahrscheinlich buchstäblich, d.h. als materielle Elemente interpretiert. Quecksilber ist Quecksilber und nicht der geheimnisvolle Mercurius der Philosophen, was wiederum bedeutet, dass sich die Frage der Zusammensetzung der Urmaterie des Lapis Philosophorum für ihn nicht stellt. Man soll keinen verdeckten Sinn und kein Geheimnis hinter den Worten der Philosophen der Hermetik suchen, sondern einfach Experimente durchführen und Ergebnisse fixieren. Selbstverständlich führt Cusanus keine genauen Rezepte an und offenbart keine neuen chemischen Zusammensetzungen, aber er bietet eine Methode an; mit ihm beginnt ein neuer Weg, eine neue Naturwissenschaft. Weder verneint er die Alchemie noch bejaht er sie, aber er schlägt vor, die Rechtfertigung ihrer Ansprüche zu überprüfen, und zwar mithilfe des Feuers und des Gewichts. Auf diese Weise erweist sich Nikolaus von Kues in seinen Schlussfolgerungen anlässlich der Alchemie wirklich als Vorläufer des Paracelsus. Das gilt nicht nur dem Problem der Maße, sondern auch der Feuerprüfung, die sich für Paracelsus als die Universallösung der Frage der Kombinierbarkeit der Elemente in Naturkörpern erweist.15 Natürlich setzte sich Cusanus nicht zum Ziel, die Alchemie zu reformieren, aber sein Verdienst darin ist außerordentlich groß. Als ein anschauliches Beispiel, das das Verhalten der Mediziner des XVI.XVII. Jahrhunderts gegenüber Nikolaus von Kues illustriert, mag hier die Geschichte des Mediziners Santorio aus Padua und des Ferrarischen Arztes Ippolito Obizzi dienen. Im Jahre 1614 hat Santorio Santorio, der einen großen Einfluss auf den Alchimisten und den deutschen Arzt Joachim Jungius hatte, den Traktat mit dem Titel Statische Medizin (Ars de statica medicina) geschrieben, wo er zum folgenden Schluss kommt: „Nur derjenige, der weiß, wie viel und wann, ob mehr oder weniger der Körper in unmerklicher Weise im Prozess der Perspiration verliert, nur der wird feststellen können, wie viel und wann man wegnehmen oder hinzufügen soll, um die Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen“.16 15 Siehe PARACEL’S: Opus Paramirum, S. 205-206. WAGNER: Vielfalt in der Wissenschaft, S. 69 ff. 16 SANCTORIUS: De statica medicina, S. 2. Dieses Beispiel habe ich bei W. SUBOW entlehnt.
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Ein dem Wesen nach ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Paracelsus im Zusammenhang mit der Theorie von drei Prinzipien: „Und deswegen soll man in ihnen [d.h. in den drei Prinzipien – W.M.] sowohl das Maß der Gesundheit, als auch das Maß der Krankheit suchen, denn ein Arzt soll nie das Gewicht, die Quantität oder das Maß der Krankheit außer Acht lassen.“17 Dennoch wird der Paduaner Santorio vom Mediziner Ippolito Obizzi in dessen Schreiben Peitsche der Statik (Statico Mastix sive Staticae medicinae demolitio), das als Antwortschreiben auf den Traktat Über die statische Medizin konzipiert war, des puren Plagiats bei Cusanus beschuldigt. In Obizzis Peitsche der Statik treffen sich „die Galenische Kunst“ und „die statische Medizin“ Santorios, die in Gestalt einer Frau mit sieben Beinen vorgestellt wird, so dass „die Galenische Kunst“, die diese anspricht, sie mit einem „Ungeheuer“ vergleicht. Und bereits im zweiten Dialog der Peitsche der Statik spricht Magister Robert: „O Galenische Kunst! Der Kardinal von Kues lehrt im vierten IdiotaGespräch, und zwar da, wo er von den Gegenständen der Statik spricht, wunderbar über all das, was du gesagt hast.“
Die „Galenische Kunst“ erwidert: „Ja, es ist so, Magister Robert. Der gelehrte Sanctorius hat das statische Prinzip von diesem Autor, und deswegen kann er nicht Vater der statischen Medizin heißen. “18
Ein Verweis auf Paracelsus wäre hier natürlich nicht angebracht, denn der letztere hat medizinische Schriften Galenos’ und Avicennas häufig kritisiert, aber der Verweis auf Nikolaus von Kues ist äußerst kennzeichnend. Nikolaus wird als „Vater des statischen Prinzips“ anerkannt, das den ersten experimentellen Arbeiten der späten Alchemie des XVI.XVII. Jahrhunderts zugrunde liegt. Es ist offensichtlich, dass die Palme des Vorranges in Bezug auf das metrische System, das für die moderne Medizin als Grundlage diente, selbst im XVII. Jahrhundert unter den 17 PARACEL'S: Kniga Paramirum, S. 201. 18 OBICIUS: Statico mastix sive Staticae medicinae demolitio, S. 248.
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Medizinern dem katholischen Kardinal gehört. Gerade sein Projekt der statischen Messungen wurde zum Grundstein im Fundament der paracelsischen Wende, die zur vollen Transformation der hermetischen Kunst sowie zur Entstehung der modernen europäischen Chemie und Medizin führte. Das System der Maße nimmt in der Lehre Nikolaus von Kues’ nur eine marginale Stellung ein, auch ist er nicht für diesen Teil seiner Lehre ist zu Ruhm und Anerkennung gelangt, aber gerade mit diesen ersten Schritten fing die Neuzeit an.
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Konstruktive Vernunft und göttliche Namen Transformationen der Lehre von den göttlichen Eigenschaften bei Cusanus und Schleiermacher CHRISTIAN STRÖBELE Das cusanische Werk hat wie wenig andere seinen Lesern ermöglicht, es entweder von mittelalterlichen Problemlagen her oder im Blick auf neuzeitliche Konstellationen hin zu interpretieren. Zahlreiche zeitgeschichtliche, stilistische, methodische und inhaltliche Eigenheiten tragen zu dieser Ambivalenz bei. Die Frage nach „Modernitäten“ des Cusanus kann aus entsprechend vielen Richtungen respezifiert werden. Die nachfolgende Diskussion fasst diese Frage dahingehend auf, ob und wenn ja, wie Cusanus solche Optionen antizipiert oder in strukturell vergleichbarer Weise ausarbeitet, wie sie im Rückblick als spezifisch für aus heutiger Sicht moderne Problemkonstellationen zu identifizieren sind. Dazu musste ein Testfall gewählt werden. Gewählt wurde ein Zentralstück philosophischer Theologie, die Theorie der göttlichen Attribute. Zum Vergleich herangezogen wird eine Ausarbeitung des Themas, die wie vielleicht keine andere spezifisch und wirkungsgeschichtlich dominant für die moderne systematische Theologie ist: diejenige Schleiermachers. Mit guten Gründen hat Karl Barth ihn einen
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Christian Ströbele
„Kirchenvater“1 der modernen Theologie genannt. Was macht diesen Ansatz aus? In der Diagnose seines Kritikers Barth: Dass die Theologie vom menschlichen Bewusstsein aus konstruiert wird und dass Theologoumena gegebenenfalls als bloße Symbole „entmythologisiert“ werden.2 Dieser Zuspitzung muss man sich nicht anschließen. Für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse ist aber entscheidend, dass durch Schleiermacher ein substanzmetaphysischer Theorierahmen subjektphilosophisch transformiert. Es resultiert ein bis ins Detail durchgestalteter Umbau der Gotteslehre dahingehend, dass Spezifikationen endlichen menschlichen Bewusstseins durchgehend Erkenntnisgrund und Erkenntniskriterium bereitstellen. Für die Analyse der von Gott plausiblerweise aussagbaren Eigenschaften hat dies zur Folge, dass dieses Zentralstück philosophischer Theologie der Frage unterstellt wird, wie unter Bedingungen endlicher Subjektivität und Individualität überhaupt vom Göttlichen als Absolutem in adäquater Form zu sprechen ist. 3 Das Resultat dieser Umbauten wird zunächst in den nötigen Grundzügen
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BARTH: Nachwort, S. 290 spricht – in Anführungszeichen – von einem „»Kirchenvater des 19. (und auch des 20.!?) Jahrhunderts«“. Die jüngere Sekundärliteratur, spricht, wie schon Troeltsch, gern von einem „Vater der modernen Theologie“; genannt sei, nicht nur des programmatischüberschwänglichen Titels wegen, hier nur GERRISH: A prince of the church. Kandidaten für diesen Titel waren in der älteren Literatur hingegen beispielsweise Calvin, Semler, Melanchthon, Wieland, Lessing, Kierkegaard. Hier wie für viele andere derartige Etikettierungen gilt, dass durch dieselbe eher das Werk des zur Rede stehenden als Interpretament für das Konzept (hier „moderne Theologie“) herangezogen wird als umgekehrt (analog MIETH: Meister Eckhart, S. 96 zur Anwendung des Mystikbegriffs). Vgl. BARTH: Nachwort, S. 298 u.ö. In dieser Verortung der Problemstellung beider Theoretiker stimme ich weitgehend überein mit der für das hier verfolgte systematische Interesse nach wie vor fast einzigen vergleichsweisen Behandlung beider Theoretiker bei ECKERT: Identität und Individualität. Ebenfalls zu nennen, aber diesbezüglich weit unergiebiger sind die Darstellungen bei SOMMER: Cusanus und Schleiermacher, und GRABERT: Religiöse Verständigung (letztere Studie kam auf Anregung Rudolf Ottos zustande; über den nicht unbedenklichen forschungsgeschichtlichen Kontext informiert JUNGINGER: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches).
Konstruktive Vernunft und göttliche Namen
vorgestellt, um dann als Vergleichsfolie für die cusanische Behandlung des Themas zu dienen. Eine verbindende Grundintuition beider Autoren, so die hier vertretene These, liegt in Folgendem: Beide, Schleiermacher wie Cusanus, vertreten eine Metatheorie religiöser Rede, die ausschließt, dass von Gott überhaupt mittels objektiver Beschreibungen mit semantisch wohlbestimmten Begriffen zu sprechen ist. Gegenstand und Ziel theologischer Klärungen ist zuvorderst, dass von Gott im vorbenannten Sinn nicht beschreibend gesprochen wird. Unzulänglich ist darum jede Herangehensweise, die zumindest in der Folge doch erlaubt – oder zumindest nicht hinreichend wirksam untersagt –, vom Göttlichen zu reden, als sei dieses, äußerlichen Zuwiderreden zum Trotz, faktisch durchaus beschreibbar wie sonstige Objekte einer im terminologischen Kernbestand aristotelischen Metaphysik. Ein solcher Theorierahmen wird transformiert und letztlich ersetzt. Eine Strebensethik4 integriert eine Rekonstruktion der Struktur unserer theoretischen und praktischen Vernunft im Gesamtrahmen einer Vergewisserung über die theoretischen und praktischen Vollzüge bewussten Lebens. Göttliche Eigenschaften beschreiben dann nicht material Gottes Wesen, sondern formal das Bezogensein alles Endlichen auf seinen transzendenten Grund, einschließlich der Struktur unseres Wissens- und Begriffssystems und unseres praktischen Strebens. Die Verschiedenheit der Eigenschaften gründet einzig in der Vielfalt der Anlässe, dieses Bezogensein zu reflektieren.5 Soviel zum inhaltlich Gemeinsamen. Zu den gravierenden Differenzen später. Zunächst zu Schleiermacher, und zwar zuerst zur methodischen Verortung, dann exemplarisch zu deren Anwendung auf die At-
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Der Terminus „Strebensethik“ ist zumal gegenüber im Raum gegenwärtiger normativer Ethik erwartbaren Konnotationen nicht unproblematisch. Zumindest ist er etwas etablierter als die z.T. wohl ähnliches intendierende Rede von z.B. „praktischer Metaphysik“ (KOBUSCH: Mystik als Metaphysik des moralischen Seins u.ö.). Angezielt sein soll damit insb. die vorprädikative und vortheoretische Adressierung des Göttlichen als höchster Bestimmung menschlicher Bestrebungen, welche retrospektiv motiviert, einen Mangel diskursiver Bedeutungsklärungen (wie ihn bereits PUTNAM: On negative theology konstatiert, aber aus hier nicht weiterverfolgbaren Gründen nicht befriedigend löst) auf eine göttliche Sinnüberfülle zu beziehen. Ausgenommen bleiben hier zunächst die trinitarischen Namen.
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tributenlehre.6 Schleiermacher behandelt die göttlichen Eigenschaften dezidiert nicht in seinen eigentlich philosophischen Werken, insb. also in den verschiedenen Entwürfen seiner „Dialektik“. Das hat dieselben systematischen Gründe wie seine klare methodologische und inhaltliche Abgrenzung der Disziplinen Philosophie und Theologie 7: Durch vorstellbare Bildanteile, Affektanteile usw. angereicherte Repräsentationen wie z.B. spezifische Gottesvorstellungen bleiben aus philosophischer Perspektive je dem transzendenten Grund von Wissen, Wollen und Handeln8 gegenüber inadäquat. Dieser Grund ist notwendig vorauszusetzen ist, will man diese Grundvollzüge bewussten Lebens nicht als absurd missverstehen.9 Weil Wissen sich je im Gegensatz von Denken und Gedachtem bewegt, der transzendente Wissensgrund als Grenzbe-
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Unter den zahlreichen Behandlungen des Themas ragt nach wie vor EBELING: Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, heraus; eine ausführliche Darstellung gibt ferner O STHÖVENER: Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth. Schleiermacher spricht u.a. von einer Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion, von „Analyse der Denkfunktion“ und „Reflexion über das religiöse Selbstbewusstsein“ in der „Glaubenslehre“: Dialektik 1822 hg. Odebrecht (nachfolgend kurz DialO), S. 296f / Ausarbeitung zum Kolleg 1822, in: Dialektik hg. Arndt (nachfolgend kurz DialKGA), Bd. I, S. 267 / Vorlesungsnachschrift Kropatscheks zum Kolleg 1822, DialKGA, II, S. 573; vgl. das Grundheft nach Jonas 1814, (nachfolgend kurz DialJ), § 215, 2 (auch in DialKGA I, hier S. 143). Wenig später im Vortragsduktus nimmt er die Abgrenzung nochmals auf, dann als die von „Philosophie und Dogmatik“: DialO, 310ff vgl. DialJ § 228; DialKGA I, 271f; II, 255ff. Die Glaubenslehre setzt dann ein: „daß Philosophisches und Dogmatisches nicht vermischt werden dürfe, ist der Grundgedanke der vorliegenden Bearbeitung“, Der christliche Glaube, 1. A. 1821-22, nachfolgend CG1, § 2, Anm. b, S. 14. Auch hier wird nicht nur philosophische und theologische Ethik („Sittenlehre“) präzise getrennt (bzw. erstere in einigen „Lehnsätzen“ als präliminar zu letzterer positioniert), sondern auch abgelehnt, christliche Sittenlehre als Zusatz zur Glaubenslehre zu behandeln: Dann würden auch die „Pflichten gegen Gott auf das lebendige Bewusstsein der göttlichen Eigenschaften“ zurückgeführt, CG1 § 32, S. 113. Das Postulat einer Realmöglichkeit von Wissen wird etwa regulativ geltend gemacht gegen Bestreitungen eines transzendenten Grundes (wie in manchen „Atheismus“ genannten Positionen): DialO S. 268f.312. Von einem Wollen, Streben oder „Bestreben“, über bloße Meinung oder streitige Vorstellungen hinauszukommen, ist vielfach die Rede, etwa DialKGA II, S. 428.509 u.ö.
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griff aber die vorauszusetzende Identität beider Gegensätze meint10, kann Göttliches kein Fall von auf dem Wege transzendentaler Analyse erschließbarem Wissen sein. Es sind auf diesem Wege nur je sich wechselseitig in ihrer jeweiligen Mangelhaftigkeit ergänzende Formeln für Grenzbegriffe des Wissens erhaltbar.11 Ähnliches ergibt sich für die praktische Philosophie. Auch hier ist ein Einheitsprinzip vorauszusetzen, jedenfalls wenn die uns nun einmal vertraute Unterschiedlichkeit von Zwecksetzungen nicht letztlich strittig bleiben soll. 12 Auch im Feld der Praxis ist aber eine theoretische Gewissheit über den transzendenten Grund nicht unabhängig letztbegründbar, schon darum, weil jede Konzeption eines Zweckes wieder auf ein Denken verweist.13 Damit theoretische und praktische Vollzüge aber überhaupt ineinander übergehen können, muss eine im Subjekt realisierte Identität vorausgesetzt werden. Deren Kennzeichnung lautet „unmittelbares Selbstbewusstsein“. Die Kennzeichnung für die Wirklichkeit dieser Identität in zeitlich ausgebreitetem Bewusstsein wird dann „Gefühl“ genannt. Was hier „Gefühl“ genannt wird, ist nicht zu verwechseln mit durch Äußerliches hervorgebrachten einzelnen affektiven Zuständen (diese heißen „Empfindung“)14, es begleitet diese Zustände aber je. Was andererseits hier „unmittelbares Selbstbewusstsein“ genannt wird, ist nicht zu verwechseln mit dem Gegenständlichwerden des „Ichs“ im reflexiven Selbstbezug, aber dessen Voraussetzung.15 10 Vgl. etwa DialO, S. 272 („Gedanken“ können „als Bedingtes das Unbedingte nie wiedergeben“) und S. 314 (vgl. DialKGA II, S. 586 mit Variante Klamroth): „alles, was in der Sprache liegt“ (zwischen Sprache in Äußerungen und im Denken wird hier nicht differenziert) „hat immer nur eine Beziehung aufs Endliche“, also gehört der transzendente Grund unter das Unsagbare. 11 Vgl. DialO, S. 265f. 314 / DialKGA I, S. 260ff u.ö. 12 Vgl. DialO, S. 277 / DialKGA I, S. 263; II, S. 558 u.ö. 13 Vgl. DialO, S. 280ff. / DialKGA II, S. 560ff u.ö. 14 Vgl. DialO, S. 287 / DialKGA II, S. 565ff. Vgl. auch die Unterscheidung von „ursprünglich“ und „abgeleitet“ CG1 § 8 S. 26f. Zum sachlichen und begriffsgeschichtlichen Kontext umfassend Frank, Selbstgefühl. 15 Vgl. DialO, S. 287: „Der Gegensatz Subjekt-Objekt bleibt hier gänzlich ausgeschlossen“ und nachfolgend zu „Ich“ als „reflektiertem Selbstbewusstsein“. CG1 § 21, S. 81 werden „Selbstbewusstsein und das gegenständliche Bewusstsein“ unterschieden. Für die Interpretation dieser Theoriestücke ist nach wie vor die Rekonstruktion als (nur) postulatorische Notwendigkeit einer vor-reflexiven Selbstvertrautheit grundlegend, wie sie
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Diese Zusammenhänge können hier nicht vertieft werden. Stattdessen sei als Abschluss dieser erkenntnistheoretischen Grundlinien notiert, was auch Schleiermacher mit den Worten anfügt, es „kann nur als ein Faktum hingestellt werden“: Das religiöse Bewusstsein birgt einen Gehalt, demgegenüber alles, einschließlich der Differenz von Denken und Sein, zurückbleibt. Dabei besteht eine „vollständige Analogie“ zwischen der Phänomenologie religiösen Gottesbewusstseins und dem unmittelbaren Selbstbewusstsein, wie es in der beschriebenen Weise rekonstruiert wird. Analog sind sie insbesondere, weil beide nie unmittelbar einen Bewusstseinszustand erfüllen. Jeder wirklich erlebte Zustand ist vielmehr mitgeprägt von einem Überschuss an Affiziertsein von der Mannigfaltigkeit weltlicher Ursachen.16 Nur ex negativo kann im Modus der Nichtgegenwärtigkeit ein Affiziertsein vom transzendenten Grund thematisch werden. Und zwar fällt dann das Scheitern philosophischer Konzeptualisierungen mit der Kontamination religiösen Gefühls in eins. Entsprechend vollzieht auch jede Reflexion über das Religiöse notwendig eine „Vermenschlichung“ des transzendenten Grundes.17 Hier kommen nun die göttlichen Eigenschaften ins Spiel. Wie Selbstbewusstsein je durch Endliches mitgeprägt ist, so auch jede Prädikation. Jede Rede von Göttlichem muss somit einerseits dieses veranschaulichen18 und wird andererseits damit aus philosophischer Sicht notwendig inadäquat.19 Der notwendigen Konkretion religiöser Reflexion entspricht die durchgehende Bezogenheit von Schleiermachers Glaubenslehre auf Modifikationen religiösen Bewusstseins20 in je der spezifischen Form
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FRANK: Das individuelle Allgemeine, entwickelt und kompakter auch etwa in FRANK: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, S. 236ff. dargestellt und teils weiterentwickelt hat. Vgl. DialO S. 293.296 u.ö.; CG1 § 10, S. 34-37. CG1 § 10, S. 38. CG1 § 2, S. 14f. Vgl. DialO S. 313 (insoweit die „anthropeidisierenden Darstellungen“ den Entdeckungszusammenhängen der „Formeln“ der Denkgrenzen zurechenbar sind, kann die Transzendentaldialektik sich ihrer „befreunden) u.ö.; CG1 § 19, S. 76f. (darum sind sie nie „buchstäblich“ evaluierbar; entsprechend muss jeder Lehrsatz sowohl übervernünftig sein, um überhaupt als christlich gelten zu können, als aber auch vernunftmäßig rekonstruierbar sein, vgl. CG1 § 20, S. 80f). Vgl. etwa CG1 § 1, S. 11: „unmittelbare Beziehung der Lehrsäze auf die frommen Gemüthszustände“; S. 12: „wie die Lehre als Ausdruk der Frömmigkeit und des Glaubens entsteht“; § 2 S. 16: „alles dogmatische
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einer historisch vorfindlichen21 Vergemeinschaftung22. Eine apriorische Konstruktion würde ebenso wie eine empirische Befunderhebung23 die Aufgabe einer Hermeneutik religiösen Glaubens verfehlen. „Gegeben“ sind der Untersuchung auch hier nur die Subjekte.24 Der Konfiguration des Selbsterlebens entspricht eine Mehrfachbehandlung der Eigenschaftsthematik. Wir sind erstens verwiesen auf einen transzendenten Grund, der unsere je unvollendet bleibenden Betätigungen allererst ermöglicht. Wir erfahren eine „Sehnsucht“, uns „in jedem Zustande als abhängig von ihm zu fühlen“. 25 Im Unterschied zur sonstigen Phänomenalität des Selbsterlebens zwischen Selbstmächtigkeit und Abhängigkeit ist diese Abhängigkeit absolut.26 Dabei erleben wir uns im Zwiespalt von zweitens Sinnlichkeit und Freiheit und zugleich drittens im hoffenden Ausblick auf eine letztliche Lösung dieses Konflikts. Für alle drei phänomenale Grunddaten bietet das Christen-
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Denken [...] [ist] nichts anders [.,.] als eine [...] zerlegende Betrachtung der ursprünglichen frommen Gemüthszustände“; ähnlich § 3 S. 17. Vgl. Kurze Darstellung 1831 (nachfolgend KD2), § 2: „und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung und Selbstständigkeit gewinnt“. Vgl. auch § 3435 und in CG1 etwa § 17, S. 58; § 18, S. 68 zum moderaten Geltungsanspruch; ähnlich z.B. § 38, S. 127; § 21, S. 80. Diese Option manifest sich geht indirekt schon in der Kritik an „natürlicher Theologie“, vgl. Rede 2 zum Dogmenbegriff, KGA 2, S. 239f und dann v.a. Rede 5 und CG2 § 10 Zusatz: „als Basis einer religiösen Gemeinschaft nirgend [...] nur das was sich aus den Lehren aller [...] gleichmäßig abstrahiren läßt“, S. 87; in CG1 u.a. § 2 S. 15f; § 19 S. 69ff; § 68a S. 210; vgl. auch die weiterführende Diskussion bei PANNENBERG: Systematische Theologie (2 Bde.), I, S. 108ff., dort S. 110 fälschlich CG1 statt CG2). Der Kritik trägt die wissenschaftssystematische Grundkonzeption (vgl. KD2 § 1) und Ausarbeitung Rechnung (s. vorstehend und Fn. 20 angeführte Passagen). Vgl. KD2 § 21, § 32, § 37; CG1 § 1 nebst Nr. 4; § 6, S. 21. Zur Abhängigkeit von der Philosophie S. 13 mit Verweis auf KD2 §§ 26-27 und das Zugeständnis, dass der Gedanke von Gott dem Gefühl von Gott der Zeit nach vorausgehen mag § 9, S. 32f. Vgl. etwa CG1 § 7, S. 25: „Nichts anderes aber ist uns gegeben ..“; dieselbe Wendung nimmt auch z.B. DialO S. 270 („Die Identität des Seins und Denkens tragen wir in uns selbst [...]“). CG1 § 10, S. 37 („die Grundvoraussezung aller Frömmigkeit“); eine bedrohlichere Qualität, wie sie etwa dem Heideggerschen „Geworfensein“ zukommt, ist insoweit nicht vorrangig konnotierbar. Vgl. CG1 § 9, S. 31ff.
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tum spezifische Symbolisierungen27 an: erstens einen personalen Gott, zweitens die Konzepte von Sünde und Gnade, drittens Jesus Christus.28 Dem entsprechen jeweils drei Komplexe göttlicher Eigenschaften: erstens Ewigkeit, Allgegenwart, Allmacht, Allwissenheit und „einige andere“29, der Sache nach verzichtbare; zweitens Heiligkeit und Gerechtigkeit; drittens Liebe und Weisheit. Hier kann nur auf den ersten Komplex eingegangen werden, und auch dies nur exemplarisch. Eine Legitimation für derartige Selektivität formuliert Schleiermacher selbst: Die göttlichen Attribute drücken je „dasselbe nur auf andere Weise“30 aus. Anders gesagt: die Referenz ist dieselbe, nämlich die Einfachheit des Göttlichen in ihrer Kausalität für Alles, aber die Weise der Bezugnahme, die Intension, verschieden, und zwar, weil von verschiedenen von uns gewählten Gesichtspunkten her angegangen. Dieser Reduktion geht zunächst eine radikale Vereinfachung des sonst vorfindlichen Systems einer „Construction göttlicher Eigenschaften“ vorweg, also des Verfahrens, diese „nach verschiedenen Entheilungsgründen zu sondern und zusamenzufassen“. Diese Abweichung ist programmatisch.31 Denn nicht durch eine solche Systematik, sondern gerade „in der gänzlichen Aufhebung dieses Apparates“ würde vollendete Gotteserkenntnis bestehen.32 Methodisches Axiom der gesamten Glaubenslehre ist, „dass nichts in der Lehre sein kann, was nicht im frommen Gefühl gewesen ist“33. 27 Hier im Sinne von etwa CG1 § 64 S. 190 („daß unsere Erkenntnis von Gott nur symbolisch sei“), während in Schleiermachers Redeweise „Symbol“ oft auch oder vorrangig Bezüge auf ‚Credo’ und Lehrautorität meint; vgl. etwa CG1 § 30, S. 107 Z. 34f; S. 108; § 58, S. 167. 28 Dieser Bezug ist konstitutiv, vgl. etwa CG1 § 18, S. 61 und ff; S; § 39, S. 129. Die christologischen Parallelen zur kompakten Darstellung in der Weihnachtsfeier, insb. der zweiten Rede, sind öfters frappant, etwa § 18 S. 66 Nr. 4. Schleiermacher verwendet aber auch durchaus problematische Formulierungen, etwa CG1 § 9 S. 33 („[...] nur Veranlassungen für diese Erregungen [...]“); § 17 S. 60; § 33 S. 117f; § 18 S. 67: „Vater Christi“ als „mehr asketische[r] als wissenschaftliche[r]“ Ausdruck. 29 CG1 § 69, S. 222. 30 CG1 § 65, S. 194. 31 CG1 § 64, S. 190. 32 CG1 § 64, S. 190. 33 CG1 § 17, S. 59. Man könnte hier eine problematische Subjektivierung oder gar einen Dezisionismus unterstellen. Das Fundament im frommen Gefühl soll aber nicht das einzige Kriterium sein. So wird etwa auch „die
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Es kommt hier voll zum Tragen. Denn die Rede von göttlichen Eigenschaften ist nur eine bestimmte Weise, dogmatische Sätze auszudrücken, und zwar nachgeordnet derjenigen, welche diese als „Beschreibungen menschlicher Zustände“ behandelt34. Die Nachordnung besteht, weil Sätze über göttliche Eigenschaften je durch Sätze über die Gemütszustände vermittelt sind und keinen zusätzlichen Gehalt ergänzen35. Anzumerken ist, dass es dabei nicht um Besonderheiten einzelner Zustände geht, „sondern nur das ihnen allen gemeinsame“36. Ferner geht es nicht um deren phänomenale oder somatische Qualität, sondern den Gehalt, wie er eben in Sätzen rekonstruierbar ist und sich in dieser Repräsentation in das Schema unserer Begriffe einfügt bzw. dieser sperrt. Sonstige Dogmatiken sprechen allerdings nicht in ihrer Grundform über Bewusstsein. Dieser Fehler wird erklärt mit der vorherrschenden Verkopplung von Dogmatik und Metaphysik. Außerdem werde Wissenschaft und lyrische, „Hymnische und Rhetorische“ Rede zuwenig auseinandergehalten. Die meisten Eigenschaften würden nämlich im zweiten Feld produziert.37 Die einzelnen Eigenschaften beschreiben nun konsequenterweise nicht eigentlich etwas in Gott, was ja in Gott Unterscheidungen eintragen müsste. Sondern die Eigenschaften beschreiben eigentlich nur etwas „in der Art, wie wir unser absolutes Abhängigkeitsgefühl auf Gott beziehen“.38 Damit kann und soll explizit dem Rechnung getragen wer-
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allgemeine Stimme der christlichen Kirche“ herangezogen: CG1 § 18, S. 64. CG1 § 34, S. 119; dritte Kategorie sind Weltbeschreibungen. Vgl. CG1 § 34, S. 119f., „weil nur vermittelst jener ersten Form, die also die dogmatische Grundform ist, Sätze von den andern […] als der Ausdruk frommer Gemüthserregungen gedacht werden können“. Vgl. aber CG2 § 30, S. 195: eine Reduktion auf die Grundform wäre geschichtslos, ohne „kirchlichen Charakter“, würde die Aufgabe der Dogmatik verfehlen, denn die „dogmatische Sprache“ habe sich „nur allmählig aus der in den öffentlichen religiösen Mittheilungen herrschenden gebildet“. Diese Überlegung ist beinahe der Kritik an natürlicher Theologie strukturanalog. CG1 § 69, S. 224. CG1 § 34, S. 120. Vgl. § 64, S. 189 Z. 12–15; CG1, §1 (10, 9); § 2, S. 14; § 47, S. 139; § 53, S. 154; § 58, S. 167. Das ist nicht als Fiktionalismus misszuverstehen, da es gleichwohl ein fundamentum in re gibt. CG1 § 64 S. 188. Man könnte insoweit von einem kontrastiven-reduktiven Antirealismus sprechen, wie dies DOLE: Schleiermacher's Theological Anti-Realism, einleitend vorschlägt: Rede von Gott scheint sich auf Fakten
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den, dass Gott die konstituierende Einheit der Gegensätze und nicht unter diese zu bringen ist. Dies ist, wie sich aus der Argumentation der Dialektik ergibt, eine negative Forderung der spekulativen Vernunft. Es ist nunmehr zusätzlich auch positiv begründet durch das Abhängigkeitsgefühl. Denn dieses soll als „überall und schlechthin eines und dasselbe gesetzt werden“.39 Das ermöglicht eine Reformulierung der traditionellen Erklärung der Verschiedenheit der göttlichen Namen: diese ist nur eine namentliche. Sie ist nur in unseren Vorstellungen gegründet, genauer, in den „Verschiedenheiten der Lebensmomente, auf deren Veranlassung sich das uns einwohnende Bewusstsein von Gott realisiert“.40 Der Verschiedenheit des Affekt-Anteils religiösen Bewusstseins entspricht insofern die Verschiedenheit der von uns aufgestellten Eigenschaftsaussagen. Damit wird zugleich die traditionelle Distinktion reformulierbar zwischen dem unerkennbaren einfachen göttlichen Wesen41 und den uns fasslichen vielen Wirkungen. Die Kausalität verweist nur auf das Woher ihrer Abhängigkeit, ganz wie allgemein der „Abhängigkeit, welche wir fühlen, die Ursächlichkeit in Gott
über das göttliche Wesen zu beziehen (bzw. durch diese wahrgemacht zu werden), bezieht sich tatsächlich aber auf das Bezogensein endlicher Subjektivität auf Gott bzw. sein Wirken. Schon die Umständlichkeit dieser Formulierung, das beidemalige Vorkommen von „Gott“ im Referenten und die nach heute geläufigen begrifflichen Festlegungen nicht evidente strikte Unterscheidung von Wesen und Wirkungen macht deutlich, wie viele Probleme hier zu klären wären. Dole gewinnt seine klar positionierte antirealistische Lesart aus einer Übergewichtung von Passagen aus den Sendschreiben an Lücke, wo die Nichtangreifbarkeit der Dogmatik durch „Wissenschaft“ betont wird, einem darauf eng geführten Wahrheitsbegriffs sowie aus einer Vernachlässigung der in anderem Sinne durchaus ‚wissenschaftlichen’ und u.a. per Fundierung und Kriterienetablierung für Theologie und ihre Wahrheit relevanten Konzepten der Dialektik und der transzendentaldialektisch Passagen der „Einleitung“ zu CG1 und v.a. CG2 sowie der in deren Lichte zu lesenden ontologischen Formulierungen in den Reden und der Glaubenslehre bezüglich des einfachen Grundes religiösen Bewusstseins, des Ausschnittscharakters endlicher Realität usf. 39 CG1 § 64, S. 188. 40 CG1 § 64, S. 189f. 41 CG1 § 64, S. 189 Z. 2-3. Einen „Unterschied zwischen Wesen und Eigenschaften oder Zuständen“ (der die Einfachheit des Wesens verletzen würde) akzeptiert Schleiermacher natürlich nicht, wie mehrfach explizit deutlich wird, u.a. CG1 § 68b, S. 218.
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entspricht“42. Nun erkennt man aber „aus der Wirkung niemals das Wesen dessen, was die Causalität ausgeübt hat“.43 Das ist gerade ein Vorzug. Denn die Ursache wird dann gerade nicht kontaminiert mit vom endlichen genommenen Gegensätzen. In genau diesem und nur diesem Sinne akzeptiert Schleiermacher die Identifikation von kausaler und affirmativer Redeweise. Es ist auch das Schema, nach welchem die im ersten Teil behandelten Eigenschaften des Abhängigkeitsgefühls erklärt werden. Der Analyse des Bewusstseins im Gegensatz zum Sinnlichen, also zwischen „Sünde“ und „Gnade“, entspreche dagegen die Verbindung von via eminentiae und via negationis entspricht. 44 Schleiermacher gibt hier eine komprimierte Kritik des klassischen Dreierschemas45 der Rede vom Göttlichen: Erstens Absprechung – bezogen auf unhaltbare Wesensattribute, zweitens Affirmation – bezogen auf die Wirkungen, und drittens Entschränkung – bezogen auf die endlichen Gehalte der so gewonnenen Annäherungen an das Göttliche. Anstatt im scholastischen Duktus länglich über privatio und negatio zu disputieren, wird sofort als „klar“ festgehalten: die Verneinungen negieren nichts an Gott, sondern etwas, was „selbst eine Verneinung ist oder eine Unvollkommenheit“46. Insofern also der Verneinung die negatio negationis schon inhärent ist, fällt sie zusammen mit der Entschränkung47. Unsere bestimmten Begriffe sind ja „immer positives und negatives in einander“.48 Weil auch die 42 43 44 45
CG1 § 64, S. 191. CG1 § 64, S. 192. Vgl. CG1 § 64, S. 192. Die mittelalterlichen Theologen führen die tres viae zurück auf PseudoDionysius, insb. De divinis nominibus 7,3; ungefähre Vorläufer haben sie aber schon bei Alkinoos (Did. 10) und Kelsos (Contra Celsum VII, 42); als Autoritäten zur Sache gelten zu Recht auch u.a. Clemens Alexandrinus (Stromata 5, 11, 71), Basilius (Adversus Eunomium 1, 14 u.ö.), Gregor von Nyssa (Contra Eunomium 1,12; 5,12 u.ö.), Johannes Damascenus (De fide orthodoxa 1, 4.12 u.ö.). 46 CG1 § 64, S. 191. 47 CG1 § 64, S. 191: „indem nur die Schranken das zu verneinende sind. Wie denn auch dies in dem Begriff der Unendlichkeit ausgedrükt ist, der zugleich die allgemeine Formel der Entschränkung ist, denn was unendlich gesezt wird, wird entschränkt, und zugleich der allgemeine Repräsentant der Verneinung in Bezug auf Gott, denn was in ihm verneint werden soll, kann immer nur endliches sein.“ 48 CG1 § 64, S. 191.
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Entschränkung und die Verneinung (jedenfalls sofern überhaupt noch Bestimmtes ausgesagt wird) auf die Endlichkeit ihres semantischen Ausgangspunkts bezogen bleiben, führt es nicht weiter, endliche Begriffe zu entschränken, und sei es gar, um künstliche Begriffskonstruktionen zu bilden. Soweit jedenfalls Schleiermacher.49 Grundlage dieser Analysen bilden zwei Sachverhalte, die in folgenden Sätzen zum Ausdruck kommen: (1) „alles endliche Bewusstsein [ist] unter die Abhängigkeit von Gott gestellt“50 (nachfolgend kurz Allabhängigkeit resp. Allkausalität). (2) Das absolute Abhängigkeitsgefühl ist in sich einfach, so dass dessen Instanzen „nur Andeutungen von Einem sein können“51 (Einheit resp. Einfachheit). Beide Sachverhalte beschreiben offensichtlich nicht eigentlich Gott, sondern unsere Abhängigkeitsgefühl. Sie können zugleich als formale Attribute der einzelnen göttlichen Attribute verstanden werden, also als Meta-Attribute. Auf diese Meta-Eigenschaften sind eigentlich alle Eigenschaften des ersten Komplexes reduzierbar. So etwa die Redeweise von einer Einheit des Göttlichen. Man kann dies zunächst so verstehen, dass Gott nicht seinesgleichen hat. Schleiermacher nutzt dann seine in der Dialektik gebotene Rekonstruktion der metaphysischen Grundbegriffe: Die Gattung ist das Wesen der Individuen. Die Individuen sind Dasein der Gattung. Weil Gott keinen Konkurrenten in seiner Gattung hat, es also keinen ihm gleichen gibt, 49 Faktisch werden diverse Theologoumena vor allem als in ihrer „Hauptabzwekkung […] abwehrend“ (CG1 § 48, S. 140.) expliziert, etwa: Schöpfung aus dem Nichts hat „keine Aehnlichkeit mit dem menschlichen Bilden“; Gott wird „nicht in die Zeit gesezt“ und „nicht unter den Gegensaz von Freiheit und Nothwendigkeit gestellt“ (CG1 § 49, S. 141.). Die Welterhaltung darf, weil sie sonst dem „allgemeinen Abhängigkeitsgefühl von Gott widerspricht“, nicht konzipiert werden so, dass die „gänzliche Abhängigkeit“ der Welt „von Gott gefährdet würde“ oder dessen „Unabhängigkeit“ „von allen erst in der Welt und durch die Welt entstandenen Bestimmungen und Gegensäzen“. (CG1 § 50, S. 148) 50 CG1 § 64, S. 194. 51 CG1 § 69, S. 223; vgl. auch § 10, S. 36f. Präzisierend hinzu tritt, was strukturanalog auch schon für die Analyse der Quasi-Relation zwischen subjektiven Reflexionen und deren ermöglichendem Grund entwickelt wurde: „daß dasjenige, wovon wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine äußerliche Weise uns gegenüberstehend gegeben werden“, CG1 § 9, S. 33.
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besteht auch zwischen Individuum und Gattung weder eine extensionale noch intensionale Differenz. Also sind Wesen und Dasein identisch. Diese in der Tradition auch sonst häufigst konstatierte, aber anders begründete Ausnahme für die metaphysischen Hauptbegriffe hat die produktive Implikation: da kein Gattungsbegriff applizierbar ist, ist natürlich auch keine Definition, keine Eingrenzung und kein Artgegensatz angebbar. Dass Schleiermacher nicht die traditionellen Argumente verwendet, hat seinen Grund darin, dass er Einheit ebenso wie Dasein Gottes für nach üblicher wissenschaftlicher Methode unbeweisbar bzw. derartige Versuche für neben der Sache einer Strukturanalyse religiösen Bewusstseins hält. Stattdessen identifiziert er Glauben, Gottesbewusstsein und diejenige unmittelbare Gewissheit, die alle sonstigen theoretischen und praktischen Gewissheiten begründet und ermöglicht.52 Von solcher unmittelbaren Gewissheit ist nun auch die Einheit des Selbstbewusstseins.53 In dieser hat nun letztlich auch die Rede von einer Einfachheit des Göttlichen ihren sachgemäßen Grund. Dieser besteht im „Verhältniß aller in unserm Abhängigkeitsgefühl angedeuteten göttlichen Eigenschaften zu einander“, welchem das „ungetrennte Ineinandersein aller göttlichen Thätigkeiten“ entspricht. 54 Ein eigentlich verzichtbares Meta-Attribut ist für Schleiermacher dagegen das der Unendlichkeit. Denn dieses akzentuiert nur eine ohnehin evidente Eigenschaft der einzelnen Eigenschaften. Reifiziert man die Unendlichkeit, erhält man eine Verschiedenheit von Unendlichkeitsmodifikationen: unendlich (im Raum erstreckte) Substanz, unendlich (in der Zeit erstreckte) Existenz und so fort – was allesamt fehlerhafte Analysen der herkömmlichen Attribute wären, etwa von Unermesslichkeit, Ewigkeit, Allwissenheit und Allmacht. Fehlerhaft wären diese Analysen bereits wegen des Widerspruchs zur Einheit des Göttlichen. Die korrekten Analysen sind wiederum eigentlich Reduktionen. So wird etwa die All52 Für Schleiermacher vertritt die „Annerkennung, daß jenes Abhängigkeitsgefühl eine wesentliche Lebensbedingung sei […] die Stelle aller Beweise vom Dasein Gottes, welche bei unserm Verfahren keinen Ort finden“. (CG1 § 38, S. 127) Denn per definitionem ist Gott dasjenige, was unmittelbar gewiss ist und „woraus alles andere seine Gewissheit ableitet“; Glaube ist unmittelbare Gewissheit (S. 128 Z. 7). 53 Vgl. CG1 § 69, S. 223. 54 CG1 § 69, S. 223.
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macht auf die Allabhängigkeit reduziert. Die Rede von Ewigkeit hat ihren Grund in der Einfachheit und Zeitlosigkeit des absoluten Abhängigkeitsgefühls.55 Die Rede von einer Allgegenwart hat ihr Fundament darin, dass Gott auch den Raum bedingt und als solcher selbst raumlos sein muss. Etliche Eigenschaften sind auch ganz unnötig, etwa die Rede von einer „Unabhängigkeit“ Gottes. Denn es ist ohnehin kraft der Allabhängigkeit all dessen, worauf wir uns intentional beziehen können, bereits etabliert, dass „in Beziehung auf Gott überall nach keinem Grund gefragt werden“ kann.56 Mit der Strukturanalyse göttlicher Kausalität ist also fast alles wissenschaftlich nötige bereits gesagt. Auch das Attribut „Allwissenheit“ hat nur einen heuristischen Zweck: göttliche Kausalität darf nicht als reine Naturnotwendigkeit missverstanden werden.57 Letztere vermittelt nur, aber produziert keine Kraft.58 Das Erkenntnisinteresse an methodischen und kriteriologischen Grundoptionen und ihrer exemplarischen Veranschaulichung zwingt hier zum Abbruch der Darstellung. Anstatt einer wiederholenden Zusammenfassung sei ein Zitat angeführt, welches den Grundgedanken Schleiermachers besonders treffend ausdrückt: Endliches, das „im Gegensatz begriffen ist“, kann „nur erkannt“ werden „mit und aus dem außer und über den Gegensatz gestellten“, so dass „also allem Erkennen des Entgegengesetzten das Bewusstsein der absoluten Einheit zum Grunde liegt“59. Nun also zu Cusanus. Für den hiesigen Zweck musste die Textgrundlage über sonstige Gebühr eingegrenzt werden. Die Wahl fiel auf die späte Selbstinterpretation in De venatione sapientiae. Dies deshalb, weil hier bereits eine komprimierte Zusammenschau davon gegeben wird, in welcher Weise, Absicht und mit welchen leitenden Prinzipien Cusanus eine adäquate Rede vom Göttlichen analysiert und erprobt.60 55 CG1 § 65, S. 193. 56 CG1 § 68a, S. 210f, nämlich „in dem ursprünglichen allgemeinen Abhängigkeitsgefühl […] mit enthalten“. Alternative Verständnisse des Attributs führen auf die Allmacht oder die Gerechtigkeit. 57 Die Zweckformulierung, Allmacht als „Geistigkeit“ vorzustellen (CG1 § 68b, S. 211), erscheint hingegen ungenauer, da dies fälschlich unsere Vorstellungen von Seele usf. konnotiert. 58 CG1 § 65, S. 194. 59 CG1 § 37, S. 125. 60 Differenzen zwischen verschiedenen Werkphasen werden damit zunächst methodisch ausgeklammert – ähnlich wie von Cusanus selbst. Beabsichtigt
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In etwas forcierter Parallelität zur obigen Schleiermacher-Darstellung ließen sich auch für die cusanische Behandlung der sogenannten göttlichen Eigenschaften zwei Prinzipien benennen, die formale Kriterien für die Behandlung der verschiedenen Einzeleigenschaften angeben. Das erste könnte man entsprechend Aktualitäts- oder Vollendungsprinzip taufen, das zweite Prinzip der Nichtandersheit. Zunächst zum Ersten. Die Benennung konnotiert absichtlich Debatten um die göttliche actualitas, ohne diesen ideengeschichtlichen Verwicklungen hier aber nachgehen zu können. Ich beziehe mich auf die cusanische Konzeption des Göttlichen als Wirk-, Form-61, Zielursache und damit Strebensziel62 für alles. Als solches ist es dem Menschen natürlicherweise bekannt; seinem eigenen Streben nach und auch aus der Ordnung der Welt. Dazu sind keine apriorischen oder transzendentaldialektischen Beweise nötig oder möglich. Nur aus dieser strebensethischen Einbettung erklärt sich die Zulassung zahlloser Benennungen in Anwendung auf das Göttliche, nämlich als „Lobpreis“63. Das gilt vornehmlich für zehn Grundbegriffe, die bezeichnenderweise „laudabilia“ (nicht etwa transcendentalia) genannt werden.64 Damit wird das primärsprachliche, doxologische Fundament der Rede von und primär zu Gott auch für die eigentliche Theologie wiedergewonnen und nicht nur in’s uneigentlich-Poetische verwiesen (wozu Schleiermacher tendierte). Menschliches Streben und Lobpreis sind eingeordnet in eine vorprädi-
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ist also nur eine angemessene Repräsentation des in diesem Spätwerk repräsentierten Theoriestands. Dass derartige Differenzen in der hier verhandelten Sache geringer sind, als etwa die fulminante Analyse von FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 160ff., 190ff., 266, 378ff., 403ff., 443, 452f., 509ff., 528ff., 562ff., u.ö. herausstellt, dafür kann in diesem Rahmen nicht zureichend argumentiert werden. Die Identifikation Gottes mit der forma essendi (siehe auch De docta ign. II, 2; Trialogus de possest n. 14.65 u.ö.) in dem Sinne, dass Gott letztlich Form aller Dinge ist, findet sich u.a. bereits bei Thierry von Chartres (Traktat über das Sechstagewerk, n. 31–32, vgl. die Parallelen z.B. zu De ven. sap. n. 107, 120), vgl. dazu z.B. KREMER: Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin, S. 120 u.ö. (Lit.). Vgl. De ven. sap. (h XII n. 20). Vgl. De ven. sap. (h XII n. 51): mit „diffinitionem se et omnia diffinientem esse bonam“ usw. versucht die mens, ihrem Lob Ausdruck zu verleihen. Sowie n. 105: Gott ist des Lobpreises durch alle preiswürdigen Dinge würdig, weil er der absolute Lobpreis selbst ist. De ven. sap. (h XII n. 104f).
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kativ gegebene Ausrichtung auf Grund und Ziel ihrer selbst. Die Einordnung ist dort sichtbar wirksam, wo eine Rekonstruktion mit deskriptiv gehaltvollen Begriffen scheitert. Warum etwa wird derjenige Ort, wo unser Unterscheidungsvermögen versagt, nicht etwa mit einem ebenfalls nicht differenzierbaren Chaos identifiziert?65 Auch für Schleiermacher ist dies, soweit dabei das Gesamt menschlicher Existenz auf dem Spiel steht, eine Frage äußerlich bedingter Modifikationen: Welches allgemeine Weltverständnis liegt vor? Welches Bild produziert die Einbildungskraft? Welche Symbolisierung religiöser Vorstellungen entspricht der Hoffnung auf eine letztlich Lösung der Ambivalenz menschlicher Existenz? Auch der Ausschluss der Aussage von Unvollkommenheiten erklärt sich in diesem Rahmen: Die Überschreitung endlicher Aussagewerte hat eine bereits fixierte Richtung. Cusanus vertritt grundsätzlich eine Inadäquatheit von Beschreibungen des Göttlichen mit in ihrem deskriptiven Gehalt wohlbestimmten Termini. Gott ist aber zugleich allnennbar. Dies gilt jedoch dem Aktualitätsprinzip gemäß nur, sofern die Worte die Ursache von allem bezeichnen – und nicht in der Bedeutung bezeichnen, für die sie gebildet wurden.66 Die Ohnmacht menschlichen Konzeptualisierungs-, Begriffsprägungs- und Ausdrucksvermögens wird demnach durch die Allkausalität des Göttlichen kompensiert. Zugrunde liegt, dass die Worte prinzipiell nie gebildet werden als genaue Aussage des Wesensgrundes der Dinge. Auch nicht beim ersten 65 Bekanntlich deuten die Autoritäten, voranstehend Dionysius, die hinsichtlich des Absoluten manifeste Verdunkelung metaphorisch durch einen bei uns, nicht aber im Gegenstand liegenden Mangel, dem umgekehrt eine Lichtüberfülle entspreche. Allein, mit welchem Recht? Es ist wohl eine pragmatische, nicht allein durch Rationalisierungen rekonstruierbare Determination, die der Möglichkeit ausweicht, den Punkt der Unanwendbarkeit diskursiver Klärungen statt auf den Inbegriff von Sinnüberfülle auf eine „insignifikante Masse“ oder „Chaos“ zu beziehen; letztere diskutiert HOFF: Kontingenz, Berührung, Überschreitung, 369ff., 517f., u.ö. 66 De ven. sap. (h XII n. 100): „Sed haec nostra inquisitio ineffabilis sapientiae, quae praecedit impositorem vocabulorum et omne nominabile, potius in silentio et visu quam in loquacitate et auditu reperitur. Praesupponit vocabula illa humana, quibus utitur, non esse praecisa nec angelica nec divina; sed ipsa sumit, cum aliter non posset conceptum exprimere, praesupposito tamen, quod illa non velit aliquod tale, propter quod imposita sunt, significare, sed talium causam, verbumque nullius temporis esse, cum aeternitatem per ipsa velit figurare.“
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Namengeber, Adam. Um Wesensaussagen ringt zwar in der Tat die menschliche Wissenschaft.67 Aber der Mensch beherrscht nur den Sinn dessen, was er selbst hervorbringt und auffindet.68 Und dazu zählen die Dinge, dem Aktualitätsprinzip gemäß, gerade nicht69. Auch das eigene Wesen kann der Intellekt nicht in sich erreichen.70 Gemäß der vom Menschen geprägten Bedeutung und Aussageabsicht müssen die Worte daher von Gott verneint werden.71 Dies widerspricht eigentlich der Faustregel des Pseudo-Dionysius, mehr auf die intentio als die vim vocabuli zu achten72; und zwar wohl, weil die Kraft der Worte eben das menschliche Sinnsetzungsvermögen übersteigt, da sie nämlich, als geschaffene, letztlich selbst die Erst- und Allursache bezeichnen. 73 Insofern wird also Gott durchaus in allen Dingen erkannt.74 Cusanus scheint also mit zusätzlichen Gründen an der traditionellen Distinktion der Aussagbarkeit von Wirkungen, aber Negationspflichtigkeit von Wesensbeschreibungen75 des Göttlichen festzuhalten. Dem entspricht auch die weitere Explikation des Aktualitätsprinzips. Diese schließt eigentlich auch alle weiteren Metaeigenschaften des Göttlichen ein. Denn für das Gesamt endlicher und zeitlicher Wirklichkeit kann es nur genau ein erstes Prinzip und Ziel geben, von dem gilt, dass es ist, was es sein kann – ein Axiom, das Cusanus mit „possest“ abkürzt.76 Um den formalen Gegensatz dieses Prinzip zu allem zu betonen, worauf wir uns intentional beziehen können, nämlich jedes „Etwas“77, führt Cusanus ein zweites Prinzip ein. Dessen Modifikationen stellen die Vielheit des Endlichen dar. Cusanus nennt es bekanntlich posse fieri, also Werden-Können. Es entspricht in diesem Status ziem67 68 69 70 71 72 73
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De ven. sap. (h XII n. 97). De ven. sap. (h XII n. 86). De ven. sap. (h XII n. 86-88). De ven. sap. (h XII n. 87). De ven. sap. (h XII n. 98). Den ven. sap. (h XII n. 97). Vgl. De ven. sap. (h XII n. 100). Cusanus hat bekanntlich für den Vorgriff auf eine das Vermögen von ratio und intellectus übersteigende Prädikationsweise insb. in De Coniecturis eine komplexe Theorie entwickelt, für deren Behandlung indes hier kein Raum ist. De ven. sap. (h XII n. 89). Vgl. etwa De ven. sap. (h XII n. 31-32): die quidditas dei bzw. Gott in seinem quid sit ist nicht begreifbar. Vgl. De ven. sap. (h XII n. 7, n. 34 u.ö). Vgl. De ven. sap. (h XII n. 34).
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lich genau Schleiermachers Weltbegriff in der Funktion eines Totalitätsbegriffs für alles Endliche und darin, dass es nur die göttliche Allkausalität vermittelt, sich bzw. seine Instanzen aber nicht selbst in Wirklichkeit überführen kann.78 In der Opposition zur Gradualität endlicher Realisierungen von Möglichkeiten hebt sich die Nichtbenennbarkeit des possest durch von uns beherrschte technische Begriffe zwingend ab. Explizit fordert dies etwa die Regel der docta ignorantia, welche die Nichterreichbarkeit des aktual Unendlichen von allem in Gradualitäten verbleibenden hervorhebt.79 Zum Metaprinzip der Nichtandersheit des Göttlichen wäre viel zu sagen; hingewiesen sei hier nur auf einen Aspekt: Die Nichtgegensätzlichkeit hat vor allem auch die negativ-theologische Funktion, alle vom Menschen her genommenen Bezeichnungen, etwa „lebend“, „sterblich“ usw. insofern von Gott fernzuhalten, als diese Gott wieder in einen Gegensatz einrücken würden. Daher reduzieren sich letztlich alle Eigenschaften, die wir Gott zusprechen, auf den Bezug auf das Göttliche als Einfaches, Absolutes und Allursächliches; sie sind darum nur begrifflich und nicht ihr Referent tatsächlich verschieden. Selbst eine derart verknappte Skizze wäre irreführend unvollständig ohne folgende Beobachtung. Worauf alle Namen verweisen und was alle Benennungen über menschliches Vermögen hinaus wahr macht – und wonach alles strebt, ist die Drei-Einheit des Göttlichen. Davon ist kein Wissen ohne Offenbarung und nur durch Philosophie möglich. Aber im Glauben an dieses Mysterium sind „Bilder“ der Trinität allgegenwärtig.80 Dahin führt kein argumentativer Weg aus natürlichen Vorbedingungen. Auch nicht etwa von der formalen Begriffsdiskussion zur Identifikation der Gleichheit, durch die alles ist, was es ist, mit Christus. Nur unter Voraussetzung des Glaubens sind die mysteria wiederentdeckbar in Strukturen der Wirklichkeit und des Geistes.81 Am zuletzt genannten Punkt weichen Cusanus und Schleiermacher wohl am stärksten voneinander ab. Zuvor seien aber einige Parallelen festgehalten, beginnend bei Äußerlichkeiten. Beide Autoren wissen und 78 Vgl. De ven. sap. (h XII n. 17). Schleiermacher diskutiert die Unmöglichkeit einer Autarkie von Naturnotwendigkeit, wie dargestellt, bei Gelegenheit der Reduktion des Attributs der Allwissenheit. 79 Vgl. De ven. sap. (h XII n. 79). 80 Vgl. De ven. sap. (h XII n. 22). 81 Vgl. De ven. sap. (h XII n. 70).
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sagen es auch explizit, dass sie bei der Bearbeitung der sogenannten göttlichen Eigenschaften abweichen von den ihnen vorliegenden Entwürfen und in der Sache innovativ vorgehen. Schon die abweichende Stoffgliederung und Stoffpräsentation nicht in einem isolierten Traktatteil macht dies deutlich. Beide entwickeln eine innovative Reformulierung tradierter Inhalte mit allen nutzbaren Mitteln, welche die zeitgenössische Wissenskultur bereitstellen kann. Während aber Schleiermacher Traditionsbestände gegebenenfalls wegen schlechter Passfähigkeit mit subjektphilosophischen Theorievorgaben reduziert, geht das cusanische Projekt dahin, die Mysterien christlichen Glaubens in der mit „modernen“ Augen und Begriffen gesehenen Wirklichkeit wieder aufzufinden. Inhaltlich ist zunächst die Reduktion des überlieferten Distinktionenapparats auffällig, die Vereinfachung auf wenige Grundprinzipien und die Ineinanderüberführung diverser Benennungsweisen. Dies geht jeweils einher mit einer semantischen Entkernung. Dem entspricht eine Akzentuierung formaler Meta-Eigenschaften, die bei Cusanus produktiv vermehrt werden und die Funktion haben, die Nichtanwendbarkeit aller in unserem Verständnis eigentlich deskriptiv bestimmten Aussagen zu verdeutlichen. Anstatt über die Bau- und Funktionsweise etwa göttlichen Wissens oder Planens zu spekulieren und dabei die Möglichkeiten endlicher Vernunft weit zu überschreiten, werden die entsprechenden Aussagen rückgebunden an formale Kriterien für eine taugliche Rede von Gott. Übereinstimmung besteht natürlich darin, dass keine unserer Eigenschaften Gott an sich und seinem Wesen nach beschreiben und auch, dass stattdessen eher unser Bezogensein auf Gott repräsentiert wird. Um nur eine bis in spätmoderne Kontexte hinein weiterführende „Modernität“ der aus vormodernen Motiven gespeisten cusanischen Vernunftkritik zu benennen: Die eben benannte Einsicht lassen viele Debattenbeiträge82 zum derzeit wiederauflebenden Thema im Kontext analytischer Theologie vermissen, mit Ausnahme bezeichnenderweise eines jüngeren Debattenstrangs zur Einfachheit des Göttlichen.83 Ein weiterer Punkt: Dass und wieso überhaupt viele Eigenschaften ausgesagt werden, liegt den hier behandelten Analysen zufolge wesent82 Besonders deutlich etwa bei PLANTINGA: Does God have a nature?. 83 Eine gute Übersicht gibt VALLICELLA: Divine Simplicity (letzte Änderung vom 2.7.2010).
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lich bei uns. Bei Schleiermacher scheint der „Subjektivismus“ dabei stärker ausgeprägt. Aber auch Cusanus lässt die material gehaltvollen Eigenschaften wie „lebendig“ nur als unvollkommene Rückwendung von uns auf Gott als vollendet-aktuale Erstursache zu und weist jede distinkte Vielheit auch von laudabilia oder auch intelligibilia in Gott ab. Kriterium ist auch für ihn, ob unser Streben praktisch und theoretisch zufrieden sein kann mit den theoretischen Bestimmungen, welche unsere Vernunft dem Grund und Ziel desselben zuschreibt: „Der Intellekt wäre mit sich nicht zufrieden, wenn er die Ähnlichkeit wäre zu einem so geringen und unvollkommenen Schöpfer, dass dieser Schöpfer größer oder vollendeter sein könnte.“84 Eine entscheidende Differenz zwischen beiden Autoren besteht dort, wo bestimmte Eigenschaften durch Analogie mit trinitarischen Strukturen erklärt werden. Diese bleibende Differenz scheint mir wie folgt zu erklären. Das hier diskutierte Theoriestück, für Cusanus kann man es auch direkt „negative Theologie“ nennen, hat seinen systematischen Ort dort, wo primärsprachliche und insbesondere doxologische Rede zu Gott transformiert wird in wissenschaftliche Rede über Gott. Die von Schleiermacher etablierten Mechanismen operieren hier deutlich selektiver und verweisen etliche Redeweisen allein ins Gebiet der „Rhetorik“. Barth hat dabei nicht ohne Grund oftmals eine „Entmythologisierung“ avant la lettre diagnostiziert. Cusanus ist hier, wenn man so will, zwar rückwärtsgewandter, wird aber der prädiskursiven Bedingtheit der Rede von Gott stärker gerecht. Wenn er Glauben als „unbedingte Gewissheit“ auf das Mysterium des trinitarischen Gottes orientiert, ist damit der Abgründigkeit endlicher Vernunft auf „vormodernere“, und zugleich prekärere wie stabilere Weise Rechnung getragen. Unzweifelhaft ist jedenfalls, wenn man heutige Begrifflichkeiten verwendet, bei Cusanus hier mehr Theologie, mehr Offenbarung und mehr Relativität auf kontingente, extrinsezistische Bedingungen im Spiel: der Entdeckungszusammenhang bei Cusanus ist die „moderne“ Welt, der Begründungszusammenhang aber bleibt zumindest für diese Momente das undurchdringliche trinitarische Geheimnis.
84 De ven. sap. (h XII n. 32).
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Die Cusanismen der Moderne Zur Cusanus-Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert DETLEF THIEL „Wägt, zählt und meßt, entwerft eure Tabellen und Register – und es wird unfruchtbar bleiben, so lange eure sinnenscharfen Empirismen aus jenem Drange nicht ihren Ursprung nehmen, vielmehr, so lange dieser Ursprung verleugnet wird.“ FRIEDLAENDER/MYNONA, Julius Robert Mayer (1905)
Modernitäten? welche? Es gibt viele Modernen: philosophische, literarische, technische, aber keine Moderne an sich. Das Adjektiv ‚modern‘ bedeutet zeitgemäß, der Gegenwart entsprechend, dem Heute. Dazu gehört das Kontrastwort ‚antik‘, und sofort sind nicht nur Zeitangaben etabliert, sondern auch Wertungen und Abgrenzungen. Die konkrete Bedeutung der beiden Wörter muß jedesmal definiert werden, genau so wie wenn man sagt: im Westen, im Süden. Ähnlich steht es mit dem Cusanusbild. Es gibt viele Einzelbilder, aber, zum Glück, kein generell akzeptiertes. Vor allem gibt es Deutungsmuster, Paradigmen, die nicht immer ganz bewußt sind. Diese nenne ich „Cusanismen“. Es ist höchste Zeit, einige davon zu überprüfen! Meine Absicht ist kritisch: mit diesen Cusanismen bin ich nicht recht einverstanden. Ich will das an Beispielen aus der ‚modernen‘ Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen. Cusanus selbst gebraucht das Adjektiv modernus kaum und fast nur in den 1440er Jahren; das Substantiv, meist im Plural, moderni, hat er
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etwa zwölfmal, siebenmal allein in De concordantia catholica, gemeint sind moderne Juristen, doctores usw. 1 In dem berühmten Kapitel 12 des zweiten Buches von De docta ignorantia heißt es: Merkur, Venus und die übrigen Planeten stehen über (supra) der Region von Erde, Sonne und Mond, „ut dixerunt antiqui et aliqui etiam moderni“ (n. 168). Die Alten sind hier Platon und Macrobius, die „Modernen“ nur einer, Wilhelm von Conches. In De coniecturis sagt Cusanus, es sei die Methode fast aller modernen Theologen, die von Gott vernunftgemäß sprechen, daß sie ihn den Vernunftregeln unterwerfen, also einiges bejahen, anderes verneinen usw.2 In der Apologia wird dem Johannes Wenck empfohlen, die Mystische Theologie des Dionysius Areopagita zu lesen und dann die moderniores commentatores. Als solche „modernen“ Kommentatoren nennt Cusanus hier Maximus, Eriugena, Hugo von St. Viktor, Grosseteste.3 In der Cribratio Alkorani bedeutet moderni einfach die ‚Zeitgenossen‘.4 Damit zum 1. Cusanismus. Nach etwa 300 Jahren der Vergessenheit sei der Kardinal um 1830 von Theologen wiederentdeckt worden; die moderne Rezeption jedoch beginne erst mit dem Neukantianismus, mit Cassirer. – Dagegen ist zu sagen: Cusanus ist niemals ,wiederentdeckt‘ worden. In seiner Rezeptionsgeschichte gibt es keine Brüche, Zäsuren, Pausen. Der seit Meier-Oeser so berühmten „Präsenz des Vergessenen“
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De conc. cath. (h XIV/1 R. 16): in Buch III, Kap. 13 gebe er Beispiele von Herrschern, „ut obstruantur ora modernorum, qui pauca veterum viderunt“. Von den allgemeinen Konzilien sei zu sehen, „in quo deceptio multorum modernorum aperitur“ (ebd., II, c. 6, n. 86). „Dicunt quidam moderni Petrum apostolos misisse ad particulares provincias“ etc. (ebd., II, c. 13, n. 119) Über die verschiedenen Rechtsbücher: „licet moderni Gratianum ibi reprehendant“ (ebd., II, c. 20, n. 177). Ähnlich: „Et quoniam ob varias praesertim modernorum iuristarum ac theologorum scripturas“ (ebd., II, c. 34, n. 249). Ob das Heilige Reich von Gott sei usw., und weil diese Frage vielfach „per multos modernos doctores habentur, delegi tacendum esse“ (ebd., III, c. 2, n. 294). De coni. I (h III n. 34): „haec est paene omnium theologorum modernorum via“. Apol. doctae ign. (h II p. 20f. [n. 30]). Vgl. auch Sermo CCXXXV (h XIX n. 11): „Quidam dixerunt in hoc sacramenta esse corpus Christi et panem, quod moderni non admittunt“ In einem Koran-Zitat: „Moderni te magum affirmantes tu dic: [...]“; „Wenn die Zeitgenossen dich Zauberer nennen, sage ihnen: [...]“; vgl. Crib. Alk. I (h VIII n. 34).
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entspricht ja ein Vergessen seiner kontinuierlichen Präsenz. Deren Intensität allerdings schwankt. Die Werkausgaben (Straßburg 1488, Mailand 1502, Paris 1514, Basel 1565) haben zweifellos einem jeweils bereits existierenden Publikum Impulse gegeben, 5 so wie heute die Hamburger Edition des Cassirer. Die Cusanus-Rezeption im 19. Jahrhundert wurde bislang nur punktuell beleuchtet. 6 Es fehlt ein systematischer und ‚moderner‘, also kritischer Literaturbericht. Johann Jakob Brucker stellt 1735 den Kusaner dar als Kritiker und Erneuerer, welcher „der scholastischen unnützen Philosophie auf den Leib gegangen und dadurch der heilsamen Reformation auch in der Philosophie den Weg gebahnet“ habe.7 Woher hat Brucker das übernommen? Jedenfalls wird das Bild wiederholt bis in die Philosophiegeschichten von Buhle 1800 und Tennemann 1812, die Kirchengeschichte von Schröckh 18028 sowie von dem Tübinger Theologen Johann Adam Möhler. Er gilt als Initiator des Preisausschreibens der Tübinger Universität 1831 (Leben und Werk des Cusanus); drei seiner Studenten beteiligen sich: Karl Joseph Hefele, Johann Ludwig Schmitt und Franz Anton Scharpff. Letzterer erhält den Preis. Er stellt den Kusaner wieder hin als Antischolastiker und als Vorläufer neuzeitlicher Philosophie, er stehe auf der „Gränzscheide“ zwischen Mittelalter und Neuzeit.9 1847 behauptet Franz Jakob Clemens, Privatdozent in Bonn, Cusanus sei der Vorläufer von Malebranche, Leibniz, Vico, Kant. In der Philosophie gebe es eine aufsteigende Entwicklung, Fortschritt; mit dem Kusaner sei
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Vgl. FLASCH: Cusanus, S. 145-167. Er drückt sich allzu vorsichtig aus: „Daß Cusanus vergessen gewesen sei, kann heute als widerlegte Legende gelten.“ (ebd., S. 146) KÖHLER: Nikolaus von Kues; ARIS: Nikolaus von Kues. BRUCKER: Kurtze Fragen aus der Philosophischen Historie, 6. Theil, Bd. 2, S. 1362f.; zitiert bei MEIER-OESER: Präsenz, S. 368, bei ARIS: Nikolaus von Kues, S. 103 sowie bei FLASCH: Cusanus, S. 158. GAWLICK: Nachwirkung, S. 227 wirft Brucker vor, in Sachen docta ignorantia ein Mißverständnis perpetuiert zu haben. Vgl. ARIS: Nikolaus von Kues, S. 103. BUHLE: Geschichte, S. 342-353, bes. S. 347 erklärt, Cusanus habe sich vor allem nach der aristotelischen Philosophie gebildet; sein System „ist abermals ein Pantheismus, der zugleich Theismus seyn sollte, und eben dadurch sich selbst zerstörte.“ Zu Tennemanns Grundriß der Geschichte der Philosophie (4. Aufl., 1825, S. 276f.) vgl. NAGEL: Cusanus, S. 173. SCHARPFF: Der Cardinal; vgl. ARIS: Nikolaus von Kues, S. 98.
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ein Gipfel erreicht; die nachfolgende Neuzeit, sogar Kant fielen wieder zurück: „Steht Cusanus nicht auch hier wie ein Prophet da ...?“10 Im selben Jahr gibt Moriz Carrière, wenig später Philosophieprofessor in Gießen, eine Zusammenfassung der Docta ignorantia inklusive der „Zahlenmystik“; er stellt Cusanus an die Spitze der Renaissance: „Er war der erste Deutsche, der sich dem neuerwachten Studium des Griechischen Alterthums anschloß“; er erhebt sich „am Ausgange des Mittelalters“ und „bemüht sich um eine begriffsmäßige und begreifende Darstellung des christlichen Glaubens“.11 1850 widmet Heinrich Ritter der cusanischen Philosophie gut 80 Seiten, er beginnt mit einer, wie Aris sagt, „geradezu heilsgeschichtlichen Exposition“: „Gleich im ersten Jahre des 15. Jahrhunderts wurde ein Kind geboren, dessen Leben und Wirken, wie es in Wendepunkten der Geschichte wohl zu gehen pflegt, als eine Vorbedeutung fast alles dessen angesehen werden kann, was die folgenden Jahrhunderte bringen sollten.“12
1852 erklärt Robert Zimmermann in einem Aufsatz Cusanus erneut zum Vorläufer von Leibniz. Das ist bestätigt und bestritten worden.13 Der Münchner Philosophiehistoriker Carl v. Prantl nennt es „eine viel zu weit gehende Parallele“. Prantls Artikel von 1876 in einem StandardNachschlagewerk, der ADB, wirkt wie eine kalte Dusche: Den Kardinal „einen Reformator zu nennen“, sei „in der That eine Übertreibung“, denn es fehle ihm an Erfolgen; man habe von ihm „eher den Eindruck
10 CLEMENS: Bruno; vgl. ARIS: Nikolaus von Kues, S. 101 u. 105f. sowie BLUM: Philosophenphilosophie, S. 235-253, der Clemens’ „Tendenzschrift“ neu herausgab. 11 CARRIÈRE: Weltanschauung, S. 16. 12 ARIS: Nikolaus von Kues, S. 103; RITTER: Geschichte, S. 141. SIMON: Cusanus, S. 298f. vermerkt, dass Eucken, Cohen und Cassirer sich an Carrière und Ritter anschließen. NAGEL: Cusanus, S. 173 lobt: Ritter gebe die „erste tiefergehende Interpretation der Mathematik als ‚Bild des Übersinnlichen‘.“ 13 ZIMMERMANN: Der Kardinal. „Von unmittelbarer Kenntnis des Cusanus kann jedoch bei Leibniz keine Rede sein.“ GAWLICK: Nachwirkung, S. 225. Dem widerspricht NAGEL: Cusanus, S. 135-139 mit Bezug auf mehrere Stellen bei Leibniz. ROTH: Die Bestimmung, hält diese Kontinuität für problematisch; nicht so KREMER: Praegustatio, S. 526-533.
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eines Projectenmachers“, er sei „Mystiker nach Methode und nach Inhalt“, von „phantastischer Mystik“ und „abentheuerlicher Denkweise“; sogar über seine Christologie und Trinitätsauffassung dürfte die orthodoxe Dogmatik „zu bedenklichem Kopfschütteln gelangen“.14 2. Cusanismus. Der angeblich Vergessene erscheint plötzlich als Begründer der ganzen modernen Philosophie, „Ahnherr der Neuzeit“, Initiator künftiger Entwicklungen und Positionen, oder, punktuell, als Vorläufer von X oder von Y. Der Umschwung geschieht in knapp 20 Jahren; ein gewisser Patriotismus spielt mit. Es hat lange gedauert, bis das zu Bewußtsein kam. In der Diskussion um die „Legitimität der Neuzeit“ weist Hans Blumenberg 1966 darauf hin, daß es ein „Bedürfnis nach der epochalen Limesfigur“ gibt; das Bedürfnis wandelt sich, und die „Gründerfiguren“ erliegen immer wieder der „Erosion des historischen Fleißes“. Die Forschung erzeugt Legenden, zerstört sie aber auch wieder. Man macht Cusanus zu einem „Protagonisten“, um so die Neuzeit zu schützen vor dem Vorwurf, sie habe das Mittelalter preisgegeben, ein lange bewährtes „Konzept des europäischen Daseinsstiles mutwillig“ weggeworfen. Die Neuzeit kann sich legitimieren mit Hilfe einer Gründerfigur, die den „Traditionsbruch“ bewußt will und durchführt, Altes für erledigt erklärt und abrupt etwas Neues beginnt.15 Das beansprucht Cusanus ja selber: prius inaudita. Die Suche nach solchen Gründerfiguren, sagt Blumenberg, enthält „rational nicht verifizierbare Momente“ (ebd. S. 440). Zweifellos! Unreflektiert bleibt der Zeitbegriff. Man nimmt stillschweigend an, „daß die geschichtliche Zeit eine homogene lineare Struktur“ habe und daß
14 PRANTL: Cusanus. Prantl hatte Cusanus bereits 1870 erwähnt; PRANTL: Geschichte, S. 282. Im ADB-Artikel handelt Prantl ausführlich über Kirchenpolitik, bes. die Brixener Streitsachen mit Herzog Sigmund (wohl nach der zweibändigen Darstellung des Wiener Historikers Albert Jäger, 1861). Cusanus erscheint als halsstarriger Charakter; auf der Legationsreise habe er „eine Summe von angeblich 200.000 Goldgulden aus Deutschland zum Baue der römischen Peterskirche“ zusammengebracht (ebd. S. 658). Die Arbeiten von Scharpff 1843 und Düx 1847 nennt Prantl „curialistisch gefärbte Darstellungen“. Cusanus’ Philosophie wird komplett verrissen, außer De reparatione calendarii. – Daß Cusanus’ Trinitätskonzept bedenklich sei, bemerkt auch FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 141. 15 BLUMENBERG: Die Legitimität, S. 439f. Die ausgedehnte Diskussion, auch um die „Achsen-“ bzw. „Sattelzeit“ (Jaspers, Koselleck), ist keineswegs beendet. Vgl. etwa SEELE: Philosophie, S. 61-77.
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man da irgendwo einen Bruch markieren könne. Dagegen stellt Blumenberg das Modell eines „Zeitstranges“, aus „vielen einzelnen Adern“ geflochten, ein Plural „von Zusammenhängen, Traditionen, Sach- und Schulgeschichten, Rezeptionen und Reaktionen“. Die Epochenschwelle wäre in einer Interpolation zwischen zwei Punkten zu suchen. Es waren vor allem Theologen, Kirchenhistoriker, die Cusanus als zentrale Figur der Epochenschwelle hinstellten und allerhand „Einflüsse“ bürokratisch-doxographisch verrechneten. Man benötigt solche initialen Figuren zur Orientierung und aus strategischen Gründen. Es geht ja gar nicht immer nur um den Kusaner, sondern oft um bestimmte, handfeste Interessen: nicht nur philosophische und/oder theologische, sondern politische, also ökonomische. Die Figur des ausgezeichneten Menschen, der etwas repräsentiert, was über den anderen Menschen waltet – dieses religiös-politische Modell wäre im Fall Cusanus auf die Geistesgeschichte übertragen worden.
Euckens Konstrukti onen 1878 veröffentlicht Rudolf Eucken, Schüler Lotzes, 32 Jahre alt, den Aufsatz Nikolaus von Cues als Bahnbrecher neuer Ideen. Darin bündeln, ja verknoten sich viele Fäden. Eucken unterstreicht den „modernen Zug“. Cusanus sei „neuerdings“ der am meisten beachtete „Forscher der Übergangszeit“, man gebe ihm „immer bereitwilliger“ den „Ehrenplatz am Eingang der neueren Philosophie“. Es fehle noch eine Gesamtdarstellung, sie müßte zeigen, wie „hier auf wissenschaftlichem Boden zuerst das moderne Weltbewußtsein hervorbräche“. Die Scholastik sah die Welt als armseligen Rest; Cusanus betone dagegen den Reichtum des Individuums. Er fasse das Schema complicatio/explicatio prozeßhaft, die absolute Einheit sei in der Welt aktiv: „das verrät den Geist einer neuen Zeit“: Weltbejahung, „Weltlichkeit“ gegenüber der alten „Weltflucht“.16 Mit seiner „neuen Denkart“, erklärt Eucken später, stehe Cusanus am Ende einer „weltmüden Zeit“ und an der Schwelle eines „lebensfrohen Geschlechtes“. 17
16 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 5 und 20. 17 EUCKEN: Lebensanschauungen, S. 308.
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Eucken stützt sich ausdrücklich auf Heinrich Ritter.18 Er hat wohl auch das oben herangezogene Kapitel 12 aus De docta ignorantia im Sinn. Cusanus zerstört dort zwei korrelative Dogmen: das von der Bewegungslosigkeit der Erde und das von ihrer Wertlosigkeit. Die Erde ist stella nobilis.19 Entsprechend wertet er die von Antike und Mittelalter verachteten Phänomene der Bewegung und Veränderung auf.20 Eucken zitiert den Satz aus De possest, n. 72: „Was ist die Welt anders als die Erscheinung des unsichtbaren Gottes, Gott anders als die Unsichtbarkeit des Sichtbaren?“21 Die Welt als sichtbarer Gott – Gott als unsichtbare Welt. Damit wird die Welt gleichsam vergöttlicht. Nicht aber umgekehrt Gott verweltlicht! Eucken übergeht, daß durch diese Asymmetrie der Pantheismus-Vorwurf erledigt wird. Die Welt ist unendlich, weil sie göttlich ist. So vor allem auch der Mensch. Das besagen die Bilder vom Keim, Samen als intellektuelle Kraft, lebendiger Spiegel.22 Deshalb ist der Mensch in Entwicklung, im Fortschritt; sein Unendlichkeitsdrang ist sogar ein Argument für Unsterblichkeit (De mente, c. 15). Wir haben hier den 3. Cusanismus. Wie viele andere Interpreten unterstreicht Eucken gewisse progressive Gesten: offene Entwicklung, unendliche Approximation, asymptotische Adäquation ... So aufmunternd das klingt: es ist einseitig. Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie bleibt ungeklärt. Freiheit gibt es nur partiell, restringiert, in zugemessenem Spielraum. Man ignoriert leicht den strengen Rahmen, innerhalb dessen sich alle infiniten Prozesse abspielen, man verkennt, daß der Relativismus bei Cusanus eingemauert bleibt in einen grundlegenden Absolutismus. Infinitas infinita und infinitas finita; der ungeschaffene und der geschaffene Schöpfer. Anfang und Ende, Ursprung und Ziel von Allem sind unweigerlich und aus-
18 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 17. RITTER: Geschichte, S. 218f. schrieb: Cusanus’ Lehre unterscheide sich „von der scholastischen Ansicht, welche vielmehr im Weltlichen nur das Armselige und Kümmerliche zu sehen gewohnt war. Eben hierdurch hat er den folgenden Zeiten die Aufgabe gestellt, welche sie lösen sollten.“ 19 De docta ign. II, c. 12 (n. 166) etc. Vgl. GAWLICK: Nachwirkungen, S. 230. 20 Eucken hätte hier auf die Nominalisten des 14. Jahrhunderts verweisen sollen: auf den Individualismus und die impetus-Theorie Ockhams und Buridans. 21 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 4; wiederholt: EUCKEN: Lebensanschauungen, S. 308. Auch dieser Satz bereits bei RITTER: Geschichte, S. 171. 22 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 12.
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nahmslos theozentrisch, folglich christozentrisch konzipiert. Die Christologie fehlt bei Eucken; er deutet nur an: „Über allem diesem Wissen aber beharrt in unerschlossener Erhabenheit die letzte Einheit, die Trägerin alles Seins. ,Gott als in sich triumphierend ist weder erkennbar noch wißbar ...‘ Um zu solcher Höhe zu gelangen, ist Sinn, Vernunft und Intellekt abzulegen ...“23
Dieses sacrifizio dell’ intelletto ist eine Möglichkeit, die besagte Grenze zu bestimmen. Überspitzt: Wo der Theologe danach strebt, hat der Philosoph eine Heidenangst davor, die Kontrolle und die Verantwortung abzugeben. Man findet bei Cusanus sehr wohl auch jene (scholastische) „Weltflucht“, etwa in De mente, Kap. 7. Die höchste Stufe der Schau geschieht außerhalb des Körpers, extra corpus, ohne den Leib, also post mortem. Das ist – wie im platonischen Phaidon – eine Empfehlung, zu sterben; der Tod wird noch hingestellt als Mittel zum Zweck.24 Eucken deutet das nur an: Der Tod als Auflösung des Zusammengesetzten steht im Dienst des Lebens: Hier entspringe „jene schwärmerische Naturbegeisterung“ eines Giordano Bruno.25 Ein so ordentlicher Geist wie Reinhold Weier hat darauf hingewiesen, daß die cusanische Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Lehre von der Sündenverfallenheit „einander ergänzen“.26 Die viva imago ist das Gegenstück, ich möchte sagen: das Gegengeschenk, zur Erbsünde. Eucken markiert historische Zusammenhänge: Augustin, Plotin. Bei Cusanus finde sich bereits das dem Leibniz zugeschriebene principium
23 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 17. Das Zitat aus De fil. (h IV n. 63): „Nam deus in se triumphans nec est intelligibilis aut scibilis, nec est veritas nec vita, nec est, sed omne intelligibile antecedit ut unum simplicissimum principium.“ 24 Vgl. THIEL: Der schöpferische Geist, S. 255-259. Todeswunsch und Todesverachtung überkreuzen sich in De venatione sapientiae (c. 15, n. 45): Der von froher Hoffnung beschleunigte Lauf des Jägers wird verzögert durch die „Bürde des Leibes, den er mit sich schleppt“; deshalb wünscht der Jäger sich „eine Loslösung vom Leibe“ (cupit dissolvi a corpore). 25 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 19. Die Definition des Todes als Auflösung des Zusammengesetzten steht ebenfalls in De docta ignorantia II, c. 12 (n. 172). 26 WEIER: Anthropologische Ansätze, S. 91f.
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identitatis indiscernibilium: zwei Dinge können einander nicht völlig gleichen, sonst wären sie identisch. Dies, sagt Eucken, gab es schon in der Stoa. Beim Kusaner sei alles „alt, und doch ist das Alte ein Neues geworden“. Durch seine Umbildung der alten Zahlensymbolik zur exakten Mathematik sei er Vorläufer Keplers; die Mathematik gelte ihm als „das Sicherste in all unserem Wissen“. Doch sei Cusanus noch verworren, er vermenge metaphysische Begriffe mit mathematischen.27 In seinen Studien zur philosophischen Terminologie und Metaphorik – das hat Blumenberg weitergetrieben – beobachtet Eucken: „Bei allen Philosophen der Übergangszeit (von Nicolaus dem Cusaner bis zu Baco), welche auf ein positives Schaffen ausgehen, finden wir eine Fülle, oft eine Häufung von Bildern.“ So gehe etwa Leibniz’ „Bild von den Monaden als lebendigen Spiegeln des Universums“ zurück auf Cusanus und Eckhart; und wie Leibniz will auch „die mittelalterliche Mystik, vor allem Eckhart“, Cusanus, Paracelsus, Kepler, das Wissen nicht empiristisch von außen ableiten, sondern gleichsam anamnetisch von innen: Das Erkennen wird verglichen mit dem Erwachen aus einem Traum.28 Eucken betont die Universalität des Cusanus „auch in seinen religiösen Überzeugungen“, besonders in der „merkwürdigen Schrift“ De pace fidei. Cusanus wolle nicht nur die streitenden Philosophen konkordieren, sondern auch die „Vielheit der Gebräuche“ in einer einzigen Religion. Eucken mahnt, „nicht zu vergessen, daß er die universale Religion nicht jenseits der positiven Religionen, sondern im richtig verstandenen Christentum selbst suchte.“29 Dies ist der 4. Cusanismus. Cusanus habe die Idee der Toleranz formuliert; man pflegt dafür auf De pace fidei zu verweisen. – Man unterschlägt, daß dort genausowenig wie sonst beim Kusaner von tolerare etc. die Rede ist! Religionsgespräche gehören zur religiösen Praxis; nur hier, in der Konkurrenz, lassen sich Differenzen und Spezifitä-
27 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 7-10. 28 EUCKEN: Über Bilder, S. 8, 16 und 44.; ebd. S. 19f. zu Eckhart. Die Bemerkung zu Leibniz wird bestätigt von FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 14, mit Bezug auf LEIBNIZ: Principes de la nature et de la grace, III. 29 EUCKEN: Nikolaus von Cues, S. 20. Bereits Johann Salomo Semler, der 1787 die erste Übersetzung herausgab (Dialogus von der Übereinstimmung oder Einheit des Glaubens), sagte: „Diese Fiction ist ihrem Inhalt nach allerdings sehr merkwürdig ...“; zitiert nach GAWLICK: Nachwirkungen, S. 239.
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ten bestimmen. Fordert und betreibt Cusanus denn etwas anderes als die Katholisierung der Welt? Seine Modernitäten liegen definitiv nicht in der Kirchenpolitik; hier bleibt er konservativ, z.B. verteidigt er die kirchliche Lehre von Ablaß und Sündenvergebung.30
Hermann Cohens Mathematismus Die Rolle, die Cohen in der Konstruktion der modernen Cusanus-Bilder spielt, ist bislang sträflich vernachlässigt worden. Ich weise nur auf einen Aspekt hin. Cohen erwähnt den Kusaner erstmals 1883.31 Seit den 1890er Jahren beschäftigt er sich mit mittelalterlichen jüdischen Philosophen.32 Nach 1900 spricht er oft von Cusanus. Cohen war bemüht, die Vorgeschichte dessen, was er für Kants Kritizismus hielt, bis in ihre frühesten Anfänge zu rekonstruieren; zugleich nahm er Stellung zu aktuellen Fragen um die politische Situation des deutschen Judentums. 1904, in der Gedenkrede auf Kant, bringt er zum ersten Mal sein Schlüsselzitat. Kants methodische Vorbilder waren Newton und der „Platonische Geist“: Die Logik könne erst dann beginnen, wenn sie sich an der Mathematik orientiere. Dieser Geist war „im Mittelalter schlafen gegangen“, und es sei „weder allgemein genug bekannt, noch richtig erkannt“, daß es ein Deutscher war, der diesen Schläfer weckte: Cusanus. Cohen behauptet: Das „Fundament“ der cusanischen Philosophie bilde der Satz: nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam, wir haben nichts Sicheres in unserem Wissen außer unserer Mathematik. Auch das steht im Trialogus de possest (n. 44). „Das war die echte Erneuerung des Platonismus; der erste Sonnenstrahl der Renaissance.“ Die Mathematik, so Cohen, ist unser Bewußtsein selber. Das Wesen des Menschen offenbare sich in der wissenschaftlichen Vernunft. „Und Offenbarung versteht dieser kühne Denker im Sinne
30 Vgl. oben Anm. 13 sowie THIEL: Die Predigten. 31 COHEN: Das Prinzip, S. 30 Anm. 3 schlägt eine „wichtige und anziehende Untersuchung“ vor. Sie müsste nachweisen, „wie das theologische Interesse am Unendlichen mit diesem Grundbegriff der wissenschaftlichen Renaissance sich verbündet, um wie bei Nicolaus von Cues und Giordano Bruno die Discussion des Infinitesimalen zu fördern.“ Weiteres zu Cohen und Cusanus im Beitrag von Kirstin ZEYER im vorliegenden Band. 32 Vgl. WIEDEBACH: Cohen, S. 264.
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der Entwickelung und der Selbstentwickelung der Vernunft.“ Cohen zieht die Linie des so verstandenen Mathematismus über Descartes und Leibniz bis zu Kant; die genauen „Kanäle“ seien „leider verschüttet.“33 Warum ist jener Satz so wichtig? Weil er einen anderen Satz bestätigt, den Cohen eben bei Kant finden konnte. In der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) heißt es: „Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ Das ist, wie Kants Herausgeber, Alois Höfler, anmerkt, „der aus der ganzen Schrift wohl am häufigsten citierte Satz“.34 Allerdings hat Kant von Cusanus wohl nichts gewußt; Cohen stellt nirgends diese Verbindung zwischen den beiden her. Im übrigen reißt er den Satz aus dem Kontext heraus – das ist nicht nur eine Spezialität Cohens,35 sondern überhaupt eine sehr beliebte Art geworden, mit Cusanus (und anderen) umzugehen. Ich möchte das den 5. Cusanismus nennen. Kurt Flasch hat den „Unfug der Parallelstellen“ angeprangert als einen „Wissenschaftsaberglauben“. 36 Wir wissen, daß Kommentare fehlen, Studien, die deutlich machen, wie das Gewebe der cusanischen Texte strukturiert ist – die Faktur, die Machart (nicht nur der Stil) seiner Texte hat es jahrhundertelang begünstigt, einzelne Fragmente aus dem Kontext herauszubrechen und als eigenständige Sentenzen oder Lehrstücke zu behandeln – ähnlich wie bei einem Mann drüben in Frankfurt, bei dem bekanntlich fast jeder Halbsatz heute als ein ,Diktum‘ gehandelt wird: Adorno. Andererseits haben, wie die „Fragmente der Vorsokratiker“, auch die Ideen des Cusanus auf solche Weise überlebt, als Zeitkapseln, Kassiber, Hologramme. Schlagen wir kurz De possest auf. Den Satz spricht Bernhard, der ‚Konservative‘ der drei Gesprächspartner; er resümiert eine Rede des Kardinals, also ungefähr des Cusanus selber. Alle Kenntnis, die wir von den göttlichen Werken haben, können wir nur gewinnen aus „dem Rätselbild und Spiegel der erkannten Mathematik“. Anders gesagt: Die Form, die das Sein gibt – forma dat esse rei (Boethius), ein Grundsatz der abendländischen Philosophie! –, erkennen wir nur durch Vermu-
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COHEN: Rede, S. 473f. KANT: Anfangsgründe, S. 470 und 638. Zahlreiche Beispiele bei KÖHNKE: Entstehung, S. 269-301. FLASCH: Nikolaus von Kues, S. 306-308.
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tung, durch assimilatio; und zwar aus der Figur, die in der Mathematik das Sein gibt (n. 43). Mit der Analogie ist zugleich eine Hierarchie etabliert. Auf diese Zusammenfassung des Bernhard antwortet der Kardinal merkwürdig distanziert: „Wenn wir jene Theologie der Christen, daß Gott einer und drei sei, im Rätselbild sehen wollen, dann können wir zum Ursprung (principium) der Mathematik zurückgehen: dieser ist durchaus zugleich einer und drei.“ (n. 44)
Unum et trinum – Cusanus gibt hier eine prinzipielle Verknüpfung von Mathematik und Trinität.37 Cohen hat das gesehen, aber nicht sehen wollen. Er zeigt sich begeistert vom Mathematismus, unterschlägt aber, daß er damit ein christliches Element mit in Kauf nehmen muß. War er zu fasziniert von seiner Konstruktion? Er zitiert jenen Satz noch öfter, anderswo kommt er auch auf die Trinität zu sprechen.38
37 In der Mathematik, erklärt der Kardinal, geht es nur um Quantität, die ist diskret und kontinuierlich; Prinzip des Diskreten ist die Eins, das Eine; Prinzip des Kontinuums ist die Drei. Das übernimmt Cusanus via Thierry von Augustin ... Ernst HOFFMANN („Dies Sanctificatus“, S. 46) vermerkt, die Stelle sei im Zusammenhang des ganzen Trialogs zu lesen, nämlich im Kontext eines christlichen Pythagoreismus, d.h. der Lehre, dass das Buch der Natur in mathematischen Formeln verfasst sei. Cusanus vollziehe hier den Schritt von der Intuition des Absoluten zum Versuch eines symbolischen Begreifens der Welt, deshalb erscheine er oft als Philosoph der mathematischen Spekulation. 38 Die Gewissheit, das von Descartes aufgenommene Motiv, sei begründet in der „Mathematik, die ‚wir‘ sind, die unseren Geist ausmacht: in der wir daher die Gewißheit der Erkenntnis, unserer Erkenntnis begründen müssen, begründen dürfen.“ COHEN: Über das Eigentümliche, S. 243. – Cusanus „umfaßt in seinem modernen Geiste alle Interessen der systematischen Philosophie ... Er spricht es aus: „Wir haben nichts Gewisses als unsere Mathematik (nihil certi [...]). Er sucht Gewißheit in der Erkenntnis, und er findet das Prinzip der Gewißheit in der Mathematik, deren Erneuerung er herbeiführte. Der mathematische Begriff des Unendlichen wird ihm der Angelpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. So geht von ihm die zwar in ihren Kanälen verschüttete, nichtsdestoweniger aber sichere Strömung zu Galilei und Leibniz. Das Endliche wird am Unendlichen gemessen.“ COHEN: Logik der reinen Erkenntnis, S. 32. – „Er spricht es aus: wir haben nichts Gewisses [...] Und das Unsere bedeutet [...] die Zurückführung der Mathematik auf das Ich, auf das Selbstbewußtsein des Geistes. Auch im Cogito ist
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Nun hat Cusanus nicht bloß ein Wortspiel geliefert, wenn er sagt: „Der Geist ist das, woraus aller Dinge Grenze und Maß stammt. Der Geist wird nämlich von messen her benannt, vermute ich.“39 Aus demselben Jahr wie Euckens Aufsatz, 1878, stammt folgende Betrachtung. „Der Mensch als der Messende. – Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maß und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort ,Mensch‘ bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.“40
Das schreibt Friedrich Nietzsche. – 6. Cusanismus. Man stürzt und stützt sich auf jenen Satz aus De possest: Sicherheit, Gewißheit gibt es nur in der Mathematik. Der Geist erkennt, indem er mißt, also unterscheidet und vergleicht.41 In Idiota de staticis experimentis führt Cusanus die Globalisierung dieser Intention vor: Die ganze Welt soll meßbar, wägbar gemacht und faktisch vermessen und gewogen werden. Eine solche Inbesitznahme kata holon erscheint heute, im Zeitalter der Klimakatastrophen, naiver denn je. Die wissenschaftlich-technische Moderne, als deren „Vorläufer“ Cusanus gerne gefeiert wird, steckt in einer Krise. Und wieso eigentlich beruht Wissenschaft auf Messungen? Mit der bloßen Verrechnung statistischer Daten erhält man noch lange keine Wissenschaft. Es fehlen Hypothesen, verrückte Ideen, Phantasie, es fehlen Reflexionen, sprachliche Formeln, Gesetze. Was hat Wissenschaftstheorie mit konkreter Forschung zu tun?42 Wissenschaftliche
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daher Cusa der Vorläufer Descartes’.“ COHEN: Kants Theorie der Erfahrung, S. 41. De mente (h 2V n. 57): „Mentem quidem a mensurando dici conicio.“ NIETZSCHE: Menschliches, Allzumenschliches, II, 2. Abt., Nr. 21. De beryllo (h 2XI/1 n. 71): „Cognoscere enim mensurare est.“ („Erkennen nämlich ist Messen.“) Sir Karl Popper ist gelegentlich über Cusanus gestolpert: POPPER: The Self, S. 559: „Concerning the vastness of our ignorance, I would like to make a reference to the Introduction to my Conjectures and Refutations [1963], section x, page 16. In this section there are allusions to Nicolas of Cusa’s De Docta Ignorantia – On Learned Ignorance.“
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Projekte hängen einzig und allein an den Finanzmitteln. Außer Betracht bleibt die cusanische Theozentrik: das absolute Maß, mensura adaequatissima: Gott, schafft die Form, die das Sein der Dinge gibt; der menschliche Geist schafft rerum notiones, indem er den Dingen Maß, Grenze, mentale Form gibt. Diese Differenz hat sich Leibniz notiert: was der Erste Geist erschafft, das können wir nur berechnen.43 Ist die Mathematik nicht ein Lieblingsspielzeug der Theologen, von Pascal und Malebranche bis hin zu Bachs Kunst der Fuge, worin Musik und Mathematik verschmelzen? Cusanus’ Faszination durch bestimmte Begriffe der Zahl und des Unendlichen verdankt sich auch der spezifischen, von den Medici geförderten Mathematicomanie des 15. Jahrhunderts. Übrigens hat Kant stets darauf bestanden, daß die Methode der Mathematik niemals die der Metaphysik sein könne. Der Mathematiker beginnt mit Definitionen, klaren Begriffen, Axiomen (Euklid: eine Linie ist die kürzeste Verbindung ...) und leitet daraus Folgerungen ab; der Philosoph beginnt mit unklaren Vorstellungen und erlangt erst am Schluß Begriffe. Nachspiel zu Cohen. Heinz Heimsoeth, der in Marburg studiert und sich habilitiert hatte, hegt Ende 1915 den Plan einer Cusanus-Edition; er bespricht das mit Paul Natorp und mit Nicolai Hartmann (deren CusanusInterpretationen auch einmal zu untersuchen wären); letzterem schreibt er: „(der Himmel bewahre mich gegebenenfalls davor, daß ich mir von ihm [= Cohen] eine Einleitung muß schreiben lassen, welche feststellt, daß Nic. Cus. ein, nur gelegentlich durch Träume der Mystik sich ausruhender Urrationalist und Denk-Mathematiker gewesen ist ...)“44
Aus dem Plan wurde nichts. Tatsächlich nennt Heimsoeth noch 1930 in einem RGG-Artikel Cusanus „den schlechthin führenden und überragenden Denker aus der Übergangsepoche vom Mittelalter in die Neuzeit“ und den „größten deutschen Philosophen vor Leibniz“. 45 Heimsoeth trat dann in die NSDAP ein. –
43 LEIBNIZ: Philosophische Schriften, S. 1677: „Nota: Nicolaus Cusanus egregie: id est creare primae Menti, quod numerare est nostrae.“ 44 HARTMANN: Briefwechsel, S. 209 (Brief vom 28. November 1915). 45 HEIMSOETH: Nikolaus von Kues, Sp. 566. In seinen bis heute unverdrossen nachgedruckten Überblicken (Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 1922; Metaphysik der Neuzeit, 1929) hatte Heimsoeth,
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Zur außerakademischen Rezeption und zur Neo-M ystik um 1900 7. Cusanismus. Trotz einer imposanten Akademie-Ausgabe erschöpft sich das Cusanus-Studium nicht in akademischen Theologie- und Philosophieseminaren. Dieser Autor wurde seit seinen Lebzeiten in beachtlichem Maß auch außerhalb der Universität rezipiert, er genoß immer eine „Popularität“ (Eucken). Sie ist freilich schwer zu erfassen, weil die interessierten Laien nur selten zu Feder und Papier greifen. Die ‚graue‘ Rezeptionsgeschichte ist noch kaum erforscht. Ihre Durchleuchtung könnte aber deutlich machen, aus welchen Perspektiven heraus bestimmte Cusanusbilder entstanden, die weithin, eventuell bis heute, gewirkt haben.46 Hier einige Stichproben aus der halb- und außerakademischen Beschäftigung mit Cusanus vor Beginn der Heidelberger Ausgabe. Zwischen 1890 und 1930, vor und nach der tiefen Zäsur des Ersten Weltkrieges, gab es die letzte große Moderne in Europa – Expressionismus, Abstraktion, Neue Sachlichkeit, Einfluß der russischen Kunst, Literatur, Politik. In diesem Kräftefeld sind die Opera omnia entstanden. Der Verleger Eugen Diederichs in Jena brachte von 1903 bis 1913 viele Texte aus der Mystik des europäischen Mittelalters, aus Indien, dem Fernen Osten usw. Er bediente ein Publikumsinteresse, eine neomystische Welle richtete sich gegen den Zeitgeist, den „öden Materialismus“, gegen eine „einseitige Verstandes- oder Willensreligion“. 47 Meister Eckhart wurde geradezu Mode. Schopenhauer und Nietzsche kannten ihn;48 die zweibändige Ausgabe des Romanisten Herman Büttner war ein Bestseller, gelobt von Georg Simmel, Kafka u. a.; noch im Dritten Reich mehrfach aufgelegt.49 Davon hat Cusanus posthum profi-
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wie Cassirer u. a., das unendliche Erkenntnisbemühen hervorgehoben. Vgl. BENZ: Individualität, S. 50-52. Ansätze bei FLASCH: Cusanus, S. 146–148. HOFFMANN: Neue Mystik, Sp. 609; vgl. HEIDLER: Der Verleger, S. 274. SCHOPENHAUER: Die Welt, § 68 (Bd. I, S. 498); ebd., Kap. 48 (Bd. II, S. 713): „daß Schakia Muni oder Meister Eckhard das Selbe lehren“. NIETZSCHE zitiert Eckhart zweimal: Dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Nr. 4; Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, Nr. 292. BÜTTNER: Meister Eckehart.
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tiert. Er ist ebenfalls erstaunlich populär, überall stößt man auf seine Formeln docta ignorantia, coincidentia oppositorum, possest usw.50 Martin Bubers Wiener Dissertation von 1904 über die Geschichte des Individuationsproblems von Cusanus bis Böhme wird erst 2001 gedruckt.51 Bubers Freund Gustav Landauer, Literaturforscher, Übersetzer, Anarchist, Pazifist, folglich 1919 in München totgeschlagen, legt 1903 eine Eckhart-Übersetzung vor, die heute noch als Taschenbuch verkauft wird;52 er kommt oft auf Cusanus zu sprechen.53 Otto zur Linde (1873-1938), mit Rudolf Pannwitz seit 1904 Haupt der keineswegs unbedeutenden Berliner Dichterschule Charon, setzt sich mit Cusanus’ geometrischen Spekulationen auseinander; in seinem philosophischen Gedicht Die Kugel (1909, 2. Teil 1923), in dem er „die uralte Form der Kugelwelt vergeistigen wollte gleich dem Kusaner“ heißt es: „In Cusa sprach ein weiser Mund: / Lieb, Welt, und All und Eins ist rund.“54 Seit Ende der 1970er Jahre haben jüngere Kunst- und Literaturhistoriker auf die starken mystischen Züge bei Expressionisten und Dadaisten hingewiesen.55 Ich sage nichts zu Hugo Ball, er ist stets bekennender Katholik geblieben, auch bei der Eröffnungsfeier der Galerie Dada, Zürich, 29. März 1917 – man kennt das Foto, wie er im Bischofskostüm
50 Zum Beispiel: P LESSNER: Die wissenschaftliche Idee, S. 133; DRIESCH: Wirklichkeitslehre, 2. Aufl., S. 270. 51 Dazu BOCKEN: Die Wahrheit. 52 Meister Eckharts mystische Schriften, in unsere Sprache übertragen von G. Landauer, Berlin 1903; vgl. HEIDLER: Der Verleger, S. 275. 53 Nur drei Beispiele: 1913 nennt er den Kusaner als einen Vorgänger Bubers (LANDAUER: Dichter, Ketzer, S. 166). In einem oft abgedruckten Essay über Walt Whitman vergleicht er die Lehre des amerikanischen Dichters „mit dem nicht entsagungsvollen, sondern freudig dem vollen Leben zugewandten magischen Pantheismus, wie er sich in der Renaissance von Nicolaus Cusanus her bei Paracelsus, Agrippa von Nettesheim und ähnlichen Geistern gebildet hatte.“ (ebd., S. 82) In einem Gespräch: „Der Gebildete: Ich gestehe, mir geht eine Ahnung auf und ich erinnere mich jetzt bei deinen Worten jenes zweiten Heraklit, des Nikolaus Cusanus ...“ (LANDAUER: Der werdende Mensch, S. 239). 54 ZUR LINDE: Prosa, S. 53. Vgl. RÖTTGER: Otto zur Linde, S. 167-172, 185, 196, 212f., 216, 218-220. 55 Den fundiertesten Vergleich gibt SHEPPARD: Dada. Vgl. BENSON: Hausmann, S. 179; VAN DEN BERG: Dada, S. 91–93; VAN DEN BERG: From a New Art, S. 146 und 150.
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aus Pappe deklamiert: „jolifanto bambla ô falli bambla ...“ Im Zentrum der Aktionen der Berliner Dadaisten wie Raoul Hausmann und Hannah Höch stehen Momente wie: spontane Schöpfung, erfüllter Augenblick, ,Plötzlichkeit‘; auch André Breton, Chef der Surrealisten, wußte von der coincidentia oppositorum.56 Heute ist die Literatur zu Dada unendlich. Es wäre interessant, wenn auch Mystik- und eben CusanusSpezialisten das mal prüfen wollten. Der Österreicher Hermann Bahr (1863-1934) ist einer der Urheber des genannten Begriffs der ‚Moderne‘: Kritik der wissenschaftlichtechnisch-ökonomischen Vernunft, des Naturalismus, Individualismus, Kapitalismus, Liberalismus; Bahr plädiert für die „hohe Schule der Nerven“.57 Er war ein einflußreicher Kritiker mit europaweiten Verbindungen, schrieb zahllose Theaterstücke, Romane, Essays. Seit etwa 1917 kommt er immer wieder auf Cusanus zu sprechen. Es sind Aperçus, Plaudereien, doch geben sie durch ihre literarisch-kulturellen Assoziationen ein interessantes Bild vom Symbolwert des Kusaners. Nur zwei Beispiele: „Im Nicolaus Cusanus stehen schon alle Gedanken der neueren Philosophie, und was im Nicolaus Cusanus steht, haben die Pythagoräer auch schon gewußt; sie wußten es aus Ägypten. Neu ist immer nur der Irrtum, den jede Zeit der alten Wahrheit beisetzt.“ „Höchste Harmonie so durchaus durch stärkste Spannung der Gegensätze, ganz cusanisch.“58
56 Hausmann & Höch waren Schüler von Salomo Friedlaender/Mynona, der Eckhart bewunderte und Cusanus kannte; vgl. THIEL: Der schöpferische Geist. Hausmann kommt zeitlebens auf die coincidentia oppositorum zu sprechen. Zu Breton vgl. P ESSIN: La rêverie, S. 67f. 57 KIESEL: Geschichte, S. 28: „Mit seinen Essaybänden Zur Kritik der Moderne (1890), Die Überwindung des Naturalismus (1891) und Studien zur Kritik der Moderne (1894) bemühte Bahr sich um eine Bestimmung der Moderne, die den avanciertesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und künstlerischen Bewegungen gerecht werden sollte.“ Der Begriff „die Moderne“ wurde zuerst 1886 von dem späteren Kieler Literarhistoriker Eugen Wolff verwendet; vgl. MÜLLER-SEIDEL: Wissenschaftskritik, S. 360f. und 370f. 58 BAHR: Das alte Wahre, S. 197; BAHR: Liebe, S. 198.
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Genannt sei der Wiener Philosoph und Polyhistor Friedrich Eckstein (1861–1939), ein Freund von Bahr und Hofmannsthal.59 Robert Musil, dessen Titel Der Mann ohne Eigenschaften bewußt eine Formulierung und ein Grundmotiv Meister Eckharts aufgreift, zitiert in einem Entwurf den bekannten Satz aus De visione Dei: „Sis tu tuus ...“60 1919 erschien eine Auswahlübersetzung von De docta ignorantia im Verlag von Jaques Hegner in Hellerau, der berühmten Gartenstadt bei Dresden.61 Dort wurden auch Schriften von Max Scheler und Carl Schmitt veröffentlicht. Schmitt, der umstrittene Rechtstheoretiker, kannte Cusanus. 1919 erwähnt er dessen „seltsame Wortbildung“ possest.62 1923 weist er darauf hin, „wie sehr die katholische Kirche eine complexio oppositorum ist. Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie nicht umfaßt.“ Dazu zählt er alle Staats- und Regierungsformen. „Aber auch theologisch herrscht überall die complexio oppositorum. Altes und Neues Testament gelten nebeneinander“.63 In seiner Verfassungslehre von 1928, einem Standardwerk, stützt er sich auf einen Satz des Kusaners, der das Wesentliche einer politischen Form zeige: „daß das Repräsentative nicht in irgendeiner Vertretung, sondern in der Darstellung der Einheit des Ganzen liegt.“64 1970 lobt er Blumenbergs „meisterhafte Demonstration“
59 ECKSTEIN: Alte unnennbare Tage, S. 79: „Im Frühjahr 1917 brachte mir Hofmannsthal einen Brief Bahrs aus Salzburg. Dieser bat ihn darum, wegen einiger ihm schwierig erscheinender Begriffe der mittelalterlichen Scholastik bei mir anzufragen. Es handelte sich um den Einfluß der altjüdischen ,Pardes‘-Mystik auf die Lehren des Thomas von Aquino und um die Dialektik der ,Coincidentia oppositorum‘, wie sie Nicolaus Cusanus behandelt hat. Ich beantwortete Bahrs Anfrage sogleich in einem ausführlichen Brief, den ich Hofmannsthal übergab. Wenige Tage später erhielt ich aus Salzburg Bahrs Antwort vom 23. April 1917.“ 60 MUSIL: Der Mann, S. 1183. Dazu die Anm. S. 2057f., mit einem Brief von Rudolf Haubst an Frisé. 61 NICOLAUS VON CUES: Vom Wissen des Nichtwissens, Übers. ALEXANDER SCHMID, Hellerau 1919. 62 SCHMITT: Politische Romantik, S. 100: „Er ist, wie die seltsame Wortbildung des Nicolaus Cusanus lautet: das Possest. Das ist eine mystische Auflösung, aber nicht Romantik.“ 63 SCHMITT: Römischer Katholizismus, S. 12. In einer Rezension bemerkt Friedrich STERNTHAL: Über eine Apologie, S. 765: „Die complexio oppositorum kommt eher jener schöpferischen Indifferenz nahe, wie S. Friedlaender sie konzipiert hat.“ 64 SCHMITT: Verfassungslehre, S. 214. Folgt ein Zitat aus De concordantia catholica III, c. 25 (h XIV/3 n. 471): „et dum simul conveniunt ...“ – „Om-
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der ,Epochenschwelle‘ in einer Konfrontation Cusanus – Bruno; darauf hat Blumenberg brieflich reagiert.65 Schmitts Antipode Hans Kelsen spricht von concordantia oppositorum.66 Ich sage hier nichts mehr über die Rezeption des Kusaners im Kreis um Graf Hermann Keyserling in Darmstadt, nichts mehr über die Cusanus-Romane der 1930er Jahre und Cusanus im Dritten Reich, nichts mehr über .... Ich sage gar nichts mehr.
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„Nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam“ Zur Cusanus-Rezeption Hermann Cohens KIRSTIN ZEYER Auf die Frage nach der Wiederentdeckung des Nicolaus Cusanus hat Hans-Georg Gadamer eine klare Antwort gegeben: „So war es der Neukantianismus, der als erster mit einem echten philosophischen, problemgeschichtlichen Interesse an den Cusaner heranging. Dies Interesse aber war das an der Entstehung und philosophischen Begründung der modernen Naturwissenschaften.“1
Auch wenn in der Wiederentdeckung die Tübinger Schule als Schulformation dem Neukantianismus bekanntlich zuvorkam,2 bleibt das Urteil in doppelter Beziehung aufschlussreich: Zum einen ist es das Resultat einer Auseinandersetzung mit dem Marburger Neukantianismus, die in personeller Hinsicht zeigt, wie entscheidend bereits Hermann Cohen (1842-1918) das Interesse an Cusanus gefördert hat, noch bevor sein Schüler, Ernst Cassirer, die gestellte Aufgabe zur Ausführung brachte. Wie hochaktuell dieser Hinweis ist, beweist Cohens Cusanus-Rezeption, die heute – fast ein halbes Jahrhundert nach Gadamers 1 2
GADAMER: Nicolaus Cusanus, S. 297. Als Thema einer von der Universität ausgeschriebenen Preisarbeit trat Cusanus bereits im Jahr 1829 ins Blickfeld Tübinger Theologen. Siehe KÖHLER: Nikolaus von Kues; SCHMITT: Beschreibung des Lebens.
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Ausführungen – noch immer ein Forschungsdesiderat darstellt. Zum anderen ist die enge Verklammerung des Neukantianismus mit dem Feld der Naturwissenschaften hervorzuheben. Behauptet wird: So wie die Marburger allgemein ihr Augenmerk auf die Wissenschaftsgrundlegung heften, so dehnen sie diese Perspektive nun auch speziell auf Cusanus aus. Für die Strukturierung meiner Untersuchung ergeben sich damit zwei Fragestellungen: 1. Welche Stellung nimmt Cohen in der Cusanusforschung ein? 2. Beschränkt sich Cohens Rezeption auf die wissenschaftsorientierte Perspektive?
Cohens Vorhaben einer Cusanus-Editi on Während eine über die vereinzelten Skizzen und Ansätze hinausgehende systematische Erschließung von Cohens Cusanus-Rezeption bisher schlichtweg ausgeblieben ist,3 hat das bleibende Verdienst, das dem Begründer der Marburger Schule mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Edition der Werke des Cusanus zukommt, seitens der Cusanusforschung inzwischen eine ausreichende, ja sogar internationale Würdigung erfahren. Unveröffentlichte Notizen des Verlegers Felix Meiner versetzten zuerst Morimichi Watanabe in die Lage, dem amerikanischen Publikum den Anteil Cohens an der Editionsgeschichte detailliert darlegen zu können; diese Ergebnisse für das deutsche Publikum aufbereitet hat einige Jahre später, in geraffter Form, Hans Gerhard Senger, der sich auf dieselbe Quelle stützt.4 Als Felix Meiner 1911 die Philosophische Bibliothek von der Dürr’schen Buchhandlung übernahm, stieß er in dem letzten Dürr’schen Prospekt auf eine Voranzeige einer Werkausgabe des Cusanus in zwei 3
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Einige wenige Literaturhinweise zu Cohens Cusanus-Interesse verzeichnet SENGER: Zur Geschichte der Edition, S. 45, Anm. 12 und 13. Eine ausgezeichnete Kenntnis der Konstellation Cusanus – Cohen – Cassirer beweist MEYER: Kulturphilosophie. Zu Gadamer, der 1922 bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann in Marburg promovierte, ist festzuhalten, dass seine „Skizzen der Forschungsgeschichte“ zu Cusanus „regelmäßig bei Cohen, Natorp und Cassirer“ beginnen, wie bemerkt von FLASCH: Nicolaus Cusanus, S. 166. Siehe WATANABE: The Origin, S. 25-31; siehe auch SENGER: Zur Geschichte der Edition, S. 44-46.
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Bänden. Als Herausgeber angegeben war Hermann Cohen. Wie Watanabe ausführt, sei Cohen allerdings nicht direkt an der editorischen Arbeit beteiligt gewesen, sondern habe die textliche Arbeit entsprechend der in Deutschland üblichen akademischen Praxis einem Schüler übertragen.5 Der Name des Schülers wird nicht genannt. Sollten die Aufzeichnungen von Felix Meiner die Identität des Schülers verraten und sollten sie eine Antwort auf die Frage enthalten, wann die verlagsseitige Verabredung mit Cohen zustande kam? Trotz freundlicher Unterstützung seitens der Cohenforschung,6 und obwohl mir Manfred Meiner dankenswerterweise die unveröffentlichten Aufzeichnungen seines Großvaters zur Verfügung stellte,7 ließen sich gerade die entscheidenden Fragen vorläufig nicht weiter beantworten. Was sich Weiteres aus den Aufzeichnungen ergibt, ist die den gesetzten Anführungszeichen zu entnehmende große Wahrscheinlichkeit, dass die Werkausgabe exakt mit dem Text beworben wurde, es handele sich bei Cusanus um den „ersten deutschen und ersten modernen Philosophen“; ferner lässt sich eine als reine Spekulation zu bezeichnende Vermutung über Cohens Schüler anstellen, der sich laut den Aufzeichnungen „bald wegen des Zustandes seiner Gesundheit als unfähig für strengere Arbeit erwiesen hatte“.8 Das Indiz der angegriffenen Gesundheit führt noch einmal zur Philosophischen Bibliothek zurück, die, ihrerseits angeschlagen, noch im Besitz der Dürr’schen Buchhandlung wiederbelebt worden war. Als 5 6 7
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Siehe WATANABE: The Origin, S. 27. Mein Dank gilt Hartwig Wiedebach, besonders für die Hinweise auf Cohens Bibliothek, und Helmut Holzhey. Es handelt sich (jeweils in Kopie) um ein maschinenschriftliches Dokument (5 Seiten) vom 18. Mai 1945 unter dem Titel Die Cusanus-Ausgabe sowie eine spätere, in „wesentlichen Punkten unveränderte Wiedergabe einer vorsichtshalber im Juli 1945 in Leipzig gemachten Niederschrift“ unter dem Titel Über die Anfänge der kritischen Cusanus-Ausgabe vom 17. Juli 1964 (masch., 4 Seiten). Beigefügt ist eine Ergänzung von Raymond Klibansky zur Darstellung vom 17. Juli 1964 (masch., 1 Seite), die auf den späteren neuen Anstoß Ernst Cassirers zu einer kritischen CusanusGesamtausgabe aufmerksam macht. Siehe Anm. 7, S. 1. Davon erfuhr Felix Meiner offenbar durch Mitteilung von Artur Buchenau; im jüngeren Dokument ist diese zusätzliche Angabe getilgt. Artur Buchenau (1879-1946), Philosoph, Schulreformer und literarischer Beirat des de Gruyter Verlages, promovierte 1901 in Marburg und gehörte zum Kreis der Marburger Schule.
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zuständiger Lektor und Berater wurde 1901 der Theologe Friedrich Michael Schiele (1867-1913) von Marburg aus tätig, der, an seiner Amtsausübung infolge einer schweren Tuberkulose verhindert, sich arbeitssuchend an den Verlag gewandt hatte. Schiele unterhielt Beziehungen zu den Marburger Schulhäuptern Hermann Cohen und Paul Natorp, die ihn beim Wiederaufbau der Philosophischen Bibliothek berieten.9 Sollte Schiele der gesuchte Schüler sein, entstünde hiermit allerdings ein neues Rätsel: Warum sollte Felix Meiner, der unter ausdrücklicher Würdigung von Schieles Verdiensten nach dessen Tod die Herausgabe der Philosophischen Bibliothek übernahm,10 dem Verstorbenen später die Ehre versagen und ihn nicht erneut beim Namen nennen? Das Interesse an Cusanus betreffend sprechen die Herausgabepläne Cohens hingegen für sich. Senger unterstreicht den Sachverhalt mit einem zusätzlichen Hinweis auf einen Bibliotheksbesuch Cohens in Kues.11 Und Ernst Hoffmann schlägt in einem Brief vom 21. Oktober 1927 an Ernst Cassirer diesen selbst als Herausgeber der Cusanusausgabe vor mit der Begründung, dass Marburger Tradition vertreten sein müsse, „da Cohen der eigentliche Entdecker des Cusanus“12 sei. Cohens Anteil an der Entstehungsgeschichte der Edition der Werke des Cusanus ist somit zu keiner Zeit in Vergessenheit geraten, auch wenn die von ihm geplante Werkausgabe aufgrund des ersten Weltkrieges und seines Todes im Jahr 1918 nicht mehr realisiert werden konnte. Nun macht das Bekunden von Interesse allein aus Cohen freilich noch keinen Cusanusforscher. Eine solche Einstufung erfordert den Nachweis einer intensiven und kontinuierlichen Auseinandersetzung, der sich im Falle Cohens jedoch mühelos erbringen lässt. Es ist sogar eher überraschend, ein Werk Cohens ausfindig zu machen, in dem Cusanus keine einzige Erwähnung findet. Lediglich in drei von fünfzehn durchgesehenen Bänden der vom Hermann-Cohen-Archiv Zürich her9
Siehe BAST: Die Philosophische Bibliothek, S. 149. Schiele war auch Mitorganisator des fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt sowie Mitherausgeber des Kongressprotokolls, das unter anderem einen Beitrag von Cohen enthielt. Siehe COHEN: Bedeutung des Judentums. 10 Siehe BAST: Die Philosophische Bibliothek, S. 154. 11 Siehe SENGER: Zur Geschichte der Edition, S. 45. 12 CASSIRER: Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, S. 101.
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ausgegebenen Werkausgabe ging meine untief an Registereinträgen orientierte Suche leer aus.13 Demnach beschäftigte sich Cohen wenigstens seit 1883 (Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte) bis kurz vor seinem Tode, also rund fünfunddreißig Jahre, kontinuierlich mit Cusanus. Die Intensität dieser Beschäftigung geht bereits aus einer Aufstellung seiner Bibliothek hervor, die akribisch die mit eigenen Anstreichungen versehenen, also nachweislich durchgearbeiteten Werke verzeichnet. Wie Cassirer benützte Cohen vor allem die Pariser Ausgabe (1514) der Werke des Cusanus, besaß daneben aber auch die deutsche Auswahlübersetzung von Franz Anton Scharpff (1862), sowie – Cassirers Schriften noch gar nicht eingerechnet – eine beachtliche Zahl von Sekundärwerken. 14
13 Die drei Ausnahmen sind Cohens Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (Bd. 4), der erste Band der zwei Teilbände umfassenden Ästhetik des reinen Gefühls (Bd. 8) sowie der 2009 erschienene Band Kants Begründung der Ästhetik. Nachweislich erwähnt wird Cusanus in folgenden Bänden: Kants Theorie der Erfahrung (Bd. 1), Kants Begründung der Ethik (Bd. 2), Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (Bd. 5 I), Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange (Bd. 5 II), Logik der reinen Erkenntnis (Bd. 6), Ethik des reinen Willens (Bd. 7), Ästhetik des reinen Gefühls (Bd. 9), Der Begriff der Religion im System der Philosophie (Bd. 10), [Bd. 11-14 bisher nicht erschienen], Kleinere Schriften IV. 1907-1912 (Bd. 15), Kleinere Schriften V. 1913-1915 (Bd. 16), Kleinere Schriften VI. 1916-1918 (Bd. 17). Der Supplementa-Band 1 Reflexionen und Notizen enthält zumindest keinen Registereintrag und die flüchtige Durchsicht der ersten Ausgabe von Kants Theorie der Erfahrung aus dem Jahr 1871 (Bd. 1, Teil 1.3) ergab ebenfalls keinen Treffer. 14 Siehe COHEN: Die Hermann-Cohen-Bibliothek. An mit eigenen Anstreichungen versehener Sekundärliteratur zu Cusanus besaß Cohen u.a. folgende durchnummerierte Werke: Franz Jakob Clemens, Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa, Bonn 1847 (Nr. 120); August Heller, Geschichte der Physik von Aristoteles bis auf die neueste Zeit (2 Bde.) Bd. 1: Von Aristoteles bis Galilei, Stuttgart 1882 (Nr. 296); Hermann Löb, Die Bedeutung der Mathematik des Nikolaus von Kues, Berlin 1907 (Nr. 476). Weitere angeführte Autoren, die für die Cusanus-Rezeption Relevanz besitzen, sind W. Traugott Krug, Johann Gottlieb Buhle und Moritz Cantor. Richard Falckenbergs Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, Leipzig 1886, und Johann Uebingers Die Gotteslehre des Nicolaus Cusanus, Münster/Paderborn 1888, hat Cohen (vor der von Cassirers Schriften geprägten Zeit) gut gekannt laut MEYER: Kulturphilosophie, S. 72.
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Stellt man diesen aussagekräftigen Befunden die Tatsache gegenüber, dass in den einunddreißig Bänden der Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft (MFCG) nicht ein einziger Aufsatz zu Cohen publiziert worden ist, dann dürfte es kaum übertrieben sein, Cohen das Prädikat eines bisher unterschätzten oder wenigstens vernachlässigten Cusanusforschers beizulegen.15
Ist Cohens Cusanus-Rezeption rein w issenschaftsori entiert? Von den statistischen Befunden möchte ich jetzt zu einer Auswertung der Inhalte übergehen, die vor allem einen Anstoß zur Neubewertung von Cohens Cusanus-Rezeption geben soll. Wie erwähnt, besagt eine bisher maßgebliche Einschätzung, es sei das Interesse an der Wissenschaftsgrundlegung gewesen, das im Zentrum der neukantianischen Aufmerksamkeit für Cusanus gestanden habe. Zum Beleg dieser Bewertung lässt sich ein Satz des Cusanus heranziehen, 16 der wie ein roter Faden die Schriften Cohens durchzieht: „Nichts Gewisses haben wir in unserer Wissenschaft, als unsere Mathematik.“17 Mit diesem Satz verbindet Cohen zwei für seine eigene Philosophie charakteristische Aspekte.18 Zum einen ist dies der Ausgangspunkt von der Grundwissenschaft Mathematik, die auf das Selbstbewusstsein des Geistes zurückgeführt wird. Der vom Cartesischen cogito erhobene Gewissheitsanspruch darf sich mit Cusanus somit auf einen würdigen Vorläufer zurückgeführt wissen. Zum anderen führt der Ausgangspunkt der Mathematik 15 Eine Berücksichtigung findet Cohens Infinitesimal-Methode bei SFEZ: L’hypothétique influence. Weitere, oft knappe, Erwähnungen Cohens finden sich in folgenden Bänden der MFCG (Trier): Bd. 12 (1977), S. 124; Bd. 14 (1980), S. 154; Bd. 16 (1982), S. 125; Bd. 17 (1986), S. 235; Bd. 22 (1995), S. 226 Anm., S. 240; Bd. 25 (1999), S. VII; Bd. 30 (2005), S. XV. 16 De possest (h XI/2 n. 44): „[...] nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam [...].“ 17 COHEN: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 243. Herv. i. O. Der Satz des Cusanus findet sich auch in folgenden Schriften: Kants Theorie der Erfahrung, S. 41; Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange, S. 20 ; Logik der reinen Erkenntnis, S. 32; Rede bei der Gedenkfeier der Universität Marburg, S. 9 (letzteren Hinweis verdanke ich Detlef Thiel). 18 Siehe COHEN: Kants Theorie der Erfahrung, S. 41.
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auf eine erste Hypothese schlechthin zurück, welche die Philosophie im Marburger Verständnis braucht, um überhaupt mit der Grundlegungsarbeit beginnen zu können: Dies ist die (methodische) Voraussetzung der Wissenschaft als eines Faktums, dessen Ermöglichungs- und Geltungsbedingungen zu klären in die Zuständigkeit der Philosophie fällt. Cohen – und später auch Cassirer – entdeckt diese Voraussetzung (praesuppositio) und den Grundsatz scientiam esse ebenfalls bereits bei Cusanus.19 Mit der doppelten Einsicht in sowohl die grundlegende Hypothesis als auch die Grundwissenschaft Mathematik avanciert Cusanus zum Begründer der deutschen Philosophie als der Philosophie des wissenschaftlichen Idealismus.20 Im März 1918, also wenige Wochen vor seinem Tod am 4. April, fügt Cohen im Vorwort zur dritten Auflage seiner Schrift Kants Theorie der Erfahrung Cusanus in die Reihe derjenigen Denker ein, die von Platon über Galilei, Descartes, Newton und Leibniz bis zu Kant den Geist der wissenschaftlichen Philosophie repräsentieren, im Unterschied zu „allem, was sonst mit Unfug als Philosophie sich aufspielt“21, wie Cohen sich grimmig ausdrückt. Zu den wenigen Modifikationen der dritten Auflage rechnen insbesondere die Ausführungen zu Cusanus, so dass von einem verstärkten Interesse in Cohens Spätphilosophie auszugehen ist. 22 Überblickt man den Zeitraum von wenigstens fünfunddreißig Jahren, in denen sich Cohen mit Cusanus beschäftigte, so kann zusammenfassend festgehalten werden, dass der Aspekt der Wissenschaft in der Tat ein zentraler und durchgehender Gesichtspunkt ist. Es ist die wissenschaftliche Diskussion des Infinitesimalen, von der bereits 1883 feststeht, dass es einen Gewinn erbringe, Cusanus thematisch einzube19 Siehe ebd. De theol. compl. (h X/2a n. 4): „Praesupponit enim omnis scire quaerens scientiam esse, per quam omnis sciens est sciens [...].“ In Cassirers Übersetzung: „Denn wer immer zu wissen begehrt, setzt voraus, daß es eine Wissenschaft gibt, vermöge deren der Wissende zum Wissenden wird.“ CASSIRER: Das Erkenntnisproblem, S. 59. 20 Siehe COHEN: Kants Theorie der Erfahrung, S. 41. 21 Ebd., S. XXIII. 22 Diesbezüglich wäre auch die Wechselwirkung mit Ernst Cassirer zu berücksichtigen, dessen erste Schrift Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit mit einem Kapitel zu Cusanus seit 1906 vorlag; die zweite Studie Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance erschien 1927, fast ein Jahrzehnt nach Cohens Tod.
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ziehen.23 Sodann ist es der Cusanische Gedanke der Gewissheit der Mathematik, der weitere Werke durchzieht, bis eine letzte Änderung von eigener Hand im Jahr 1918 die Lücke zwischen Platon und Galilei mit Cusanus als einem bedeutenden Repräsentanten der wissenschaftlichen Philosophie endgültig schließt. Wir könnten an dieser Stelle unsererseits das Kapitel über Cohens Cusanus-Rezeption schließen, wenn auf nichts weiter aufmerksam zu machen wäre, als auf die Tatsache des fortgesetzten Interesses an der Entstehung und philosophischen Begründung der modernen Naturwissenschaften. In Wirklichkeit ist hiermit jedoch nur die halbe Wahrheit getroffen. Der aus der Theologie herausgelöste und auf Wissenschaft reduzierte Cusanus ist ein ‚halbierter‘ Cusanus. Das gleiche Schicksal wird nun Cohen zuteil, wenn man dessen religionsphilosophisches Interesse, in das Cusanus ausdrücklich einbezogen ist, einfach ausblendet. Cohens Cusanus-Rezeption beinhaltet eine kulturwissenschaftliche Dimension, deren Vorhandensein kaum zur Kenntnis genommen worden ist.24 Hierfür gibt es eine naheliegende Erklärung, ist doch das Bild von Cohen selbst klar von den Zügen des klassischen Rationalismus und Logizismus geprägt. Gleichwohl gab es offenbar Kreise, die wussten, dass er noch etwas anderes war als reiner Logizist, weil er sich abseits seiner rationalen Systementfaltung an der Diskussion zeitgeschichtlicher Probleme beteiligte; vor allem ‚Deutschtum und Judentum‘ bildeten hierbei die beiden Brennpunkte seines geschichtlichen Bewusstseins.25 Nicht ohne Grund bezeichnet Cohen Cusanus als einen „vielseitigen Pfadfinder der Frührenaissance“26, wenn dessen Ideen offenbar nebst der Wissenschaft in Geschichte, Religion, Ethik und Ästhetik ihre eigentümliche Wirkung zu entfalten vermögen. Eine wechselseitige Beeinflussung von Cohen und Cassirer ist auch hinsichtlich dieser anderen Seite der Cusanus-Rezeption deutlich spürbar. Nicht nur Cassirer weitet sein Interesse an Cusanus nach 1906 deutlich aus, sondern ebenfalls Cohen, in dessen Betrachtungen etwa das italienische 15. Jahrhundert eine zunehmende Rolle spielt. Auch Cohen lässt im Leben des 23 24 25 26
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Siehe COHEN: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode, S. 30. Als eminente Ausnahme darf gelten MEYER: Kulturphilosophie. Siehe BARTH: Hermann Cohens religionsphilosophische Schriften, S. 110. COHEN: Kants Begründung der Ethik, S. 499. Eine vergleichbare Würdigung findet sich in ders.: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 243-245.
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Cusanus „alle Fäden der Renaissance zusammenlaufen“27, eine mit Blick auf Cassirers Ausführungen viel gerügte globale Einschätzung, die den historischen Verhältnissen so nicht gerecht zu werden scheint.28 Damit ist aber über Cassirers oder Cohens Motive noch nichts gesagt. Auch die Diagnose, der Neukantianismus sei bestrebt, seine Vorgeschichte bis ins hohe Mittelalter hinein zu verlängern,29 verschafft noch keine befriedigende Erklärung. Will man die neukantianischen Motive verstehen, genügt es offenbar nicht, Cohen oder Cassirer als Historiker zu kritisieren, wenn man sie nicht auch als Philosophen zur Kenntnis nimmt. Gerade in ihrem Falle lohnt es, die Mühe näheren Hinschauens nicht zu scheuen, denn die eigentliche Pointe – im Sinne der Frage nach den ‚Modernitäten‘ – besteht in einer Rückwirkung des Cusanus auf ihre eigenen religionsphilosophischen Motive, für die er zum Ideengeber wird, indem es seine Impulse sind, die der Frage nach ‚Deutschtum und Judentum‘ zu einer Aktualisierung und Präzisierung verhelfen. Ein Bedenken gilt es freilich noch auszuräumen: Wie passt das kulturphilosophische Unternehmen zur neukantianischen Vorschrift, vom Faktum der Wissenschaft auszugehen, ein Weg, den ja gerade auch Cusanus mit der Mathematik so vorbildlich einzuschlagen scheint? Der Eindruck dogmatischer Eingleisigkeit ist trügerisch. Schon 1871 ist es für Cohen „nur halb wahr, dass in der Philosophie ein Jeder von vorne anfangen müsse“30; vielmehr manifestiere die Philosophie bei der Bearbeitung ihrer Geschichte die ‚Einheit des Kulturbewußtseins‘.31 Das Motiv, die Wissenschaften in der Kultur historisch zu verankern, ist für den Neukantianismus insgesamt nicht ungewohnt, sondern charakteristisch. Was versteht Cohen hier nun unter ‚Einheit’? Was bedeutet dies für die einzelnen Inhalte? Die ‚Einheit des Kulturbewußtseins‘ gibt den vielzähligen Inhalten Zusammenhang, ohne ihre Verschiedenheit auszulöschen.32 Der an die Spitze der Renaissance gestellte Cusanus repräsentiert in persona, worauf es Cohen ankommt, nämlich auf die von einer inneren Einheit zusammengehaltene Universalität verschiedener Interessen und Wissensgebiete. Exemplarisch führt Cohen die Cusani27 28 29 30 31 32
COHEN: Was einigt die Konfessionen?, S. 468. Siehe FLASCH: Nicolaus Cusanus, S. 149-151. Siehe GADAMER: Nicolaus Cusanus, S. 298. COHEN: Kants Theorie der Erfahrung, S. VI. Siehe ORTH: Leben und Erlebnis, S. 78. Siehe COHEN: Logik der reinen Erkenntnis, S. 609f.
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sche Formel „una religio in rituum varietate“33 an und bezeichnet die Schrift De pace fidei (1453), aus welcher die Formel stammt, entsprechend als „Universaldialog“34, verfasst von einem religiösen Universalisten, der selbst dem Juden Gerechtigkeit widerfahren lasse.35 Es ist allerdings nicht nur der Toleranzgedanke des deutschen Kardinals,36 für den sich Cohen als Angehöriger jüdischen Glaubens begeistert. Sein spezielles Interesse gilt dem Vorbild, das sich Cusanus an dem jüdischen Denker Maimonides bereits in De docta ignorantia (1440) nahm. Maimonides, der aristotelisches Denken und jüdische Tradition zu vermitteln versuchte, vertrat eine radikal negative Theologie, auf die sich Cusanus in seiner Lehre von der docta ignorantia mit Zustimmung bezieht.37 Im Begründungsgang der Religionsphilosophie Cohens erhält Maimonides sogar eine Schlüsselfunktion. Im ersten Schritt betont Cohen ganz im Sinne der radikal negativen Theologie die scharfe Trennung des Schöpfers vom Kosmos. Diese habe der Monotheismus vollzogen, indem sich der Begriff der Einheit rein auf Gott beziehe und nicht auch auf das Denken des Kosmos, wie in den Verirrungen des Pantheismus. Die Einheit müsse folglich zur Einzigkeit werden, durch welche „das Sein Gottes von allem Sein der Natur geschieden wird“38 Cohen ist anders, aber nicht weniger als Cusanus
33 De pace fidei (h VII n. 6): „[...] religio una in rituum varietate.“ 34 COHEN: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 245. Wiederholt gewürdigt wird De pace fidei als „Grundschrift der Aufklärung und der Toleranz“ in ders: Was einigt die Konfessionen?, S. 468; siehe ferner ders.: Eine Selbstanzeige, S. 490. 35 Siehe COHEN: Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 265. 36 Vor dem Hintergrund des Falls von Konstantinopel (1453) erscheint der Toleranzgedanke allerdings in einem anderen Licht. Detlef Thiel zufolge handelt es sich bei De pace fidei eher „um das aus einem realen Konflikt erwachsene ideale Konstrukt eines reinen christlichen Systems“. THIEL: Koinzidenz – Disexzidenz, S. 232. 37 De docta ign. I c. 16 (h I p. 31 [n. 44]). Cusanus stimmt der Auffassung zu, die Weisheit sei im Zuge der Unmöglichkeit, das Wesen des Schöpfers zu erfassen, als Nichtwissen erfunden worden. Moses Maimonides (11351204) gilt als der bedeutendste jüdische Denker des Mittelalters, der die lateinische Scholastik stark beeinflusste. Sein philosophisches Hauptwerk, Dux neutrorum, zitiert Cusanus von Meister Eckhart her. Siehe die Belege bei WACKERZAPP: Der Einfluß Meister Eckharts, S. 7-9. 38 COHEN: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 68.
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klar,39 dass es bei einer solchen radikalen Geschiedenheit nicht bleiben kann, will man in einem zweiten Schritt zu einem positiven, begründeten Gottesbegriff gelangen. Wie hält man die Geschiedenheit ihrem Prinzip nach aufrecht, ohne zugleich den „Grund der Welt von seiner Beziehung auf das Begründete ablösen“40? Wie macht man eine begründete Ausnahme von der Regel? Zur Bewältigung der Aufgabe greift Cohen auf die Lehre der negativen Attribute des Maimonides zurück. Ihre Lösung bestehe darin, die Negation mit der Privation zu verbinden, so dass Schöpfung und Vernunft keinen Widerspruch mehr bilden können. Auf logische Weise verleiht der von Cohen als „Klassiker des Rationalismus“ gerühmte jüdische Gelehrte der Schöpfung die Bedeutung des Ursprungs. Nicht die positiven Attribute werden negiert, sondern die privativen: „Gott ist nicht träge, das heißt: er ist der Ursprung der Aktivität [...], Gott ist der Schöpfer.“41 Cohen, der moderne Rationalist, überbietet somit in seiner Religionsphilosophie den für die Marburger typischen Logizismus: Galt es zunächst vor allem den Ursprung des Denkens innerhalb seiner selbst zu bestimmen, so wird jetzt die Einzigkeit Gottes als Voraussetzung des Daseins, als der Ursprung der Existenz herausgestellt. In der Literatur des 19. Jahrhunderts zu Cusanus war es durchaus verbreitet, das System des Cusanus explizit als ‚pantheistisch‘ zu charakterisieren.42 Vielleicht lässt sich durch diesen Einfluss erklären, wieso Cohen zumindest dazu tendiert, im Unterschied zu Maimonides
39 Das Verhältnis von negativer und affirmativer Theologie bei Cusanus im Vergleich zu den Positionen Cassirers und Cohens ausführlicher dargestellt habe ich in folgendem Beitrag: Willst du ins Unendliche schreiten. 40 REINHARDT: Negative Theologie, S. 33. 41 COHEN: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 73. Herv. i. O. 42 Zu nennen ist etwa J. G. Buhles Geschichte der neueren Philosophie (Bd. 2, Göttingen 1800), S. 347, von der Cohen ein Exemplar besaß (Nr. 96). Von W.T. Krug besaß er zwar vier Bücher (Nr. 405-408), aber nicht das interessierende Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften (Bd. 3, Leipzig 21833), S. 57. Auch G.B. Jäsche, Der Pantheismus (Bd. 2, Berlin 1828), findet sich nicht in Cohens Bibliothek. Zu diesen Verfassern siehe MEIER-OESER: Die Präsenz des Vergessenen, S. 19 u.a. Der Begriff ‚Pantheismus‘ fand infolge des weite Kreise ziehenden Spinozismusstreits Verbreitung, der von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) ausgelöst wurde.
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dem Cusanus der Mystik pantheistische Züge zuzuschreiben, 43 auch wenn es sich hierbei nur um „Ornamente in seinem Bau“ handeln soll, dessen Fundament ansonsten die „legitime wissenschaftliche Anwendung [ist], die er von der Identität zwischen Denken und Sein macht“44, nämlich im Einschlagen des platonischen Weges zur Mathematik. Cohens eigene Scheu vor dem Pantheismus ist zu groß, als dass er erkennt, dass Cusanus von diesem Vorwurf gar nicht getroffen wird.45 Cassirer spricht sogar von „violent attacks“46, die Cohen gegen das klassische System des Pantheismus geführt habe. Kaum jemand kannte den Denker Cohen besser, als der lebenslang mit ihm freundschaftlich verbundene ‚Meisterschüler‘ Ernst Cassirer.47 Als Cassirer 1933 Deutschland verließ, emigrierte er nicht unmittelbar nach Schweden, sondern verbrachte eine längere Zeit in England, in der er auch seine Beschäftigung mit Cohens Religionsphilosophie wieder aufnahm.48 Von besonderem Interesse ist ein erst 1996 veröffentlichter Vortrag,49 den er in Oxford vor einer studentischen jüdischen Vereinigung hielt. Da Cassirer sein Publikum nicht überfordern darf, bemüht er sich um eine ausholende,
43 Cohen vergleicht an anderer Stelle die negativen Attribute des Maimonides und die docta ignorantia des Cusanus miteinander, betont aber zugleich, Maimonides „graut vor dem Pantheismus, den Cusa nicht gescheut hat, dem er aber auch nicht ganz entgangen ist.“ COHEN: Der Begriff der Religion, S. 46. 44 COHEN: Logik der reinen Erkenntnis, S. 32. 45 In der Cusanusforschung ist dies von verschiedenen Seiten nachdrücklich demonstriert worden. Siehe etwa mit Blick auf das Verständnis der ‚Ähnlichkeit‘ (similitudo) LEINKAUF: Nicolaus Cusanus, S. 150-153, oder hinsichtlich der Auffassung von Gott, als vor der Differenz von Differenz und Indifferenz stehend, FLASCH: Philosophie hat Geschichte, S. 114f. 46 CASSIRER: Cohen’s Philosophy of Religion, S. 100. 47 Cassirer war sein designierter Nachfolger. Als Cohen 1912 emeritiert wurde und nach Berlin ging, scheiterte der Versuch, Cassirer in Marburg durchzusetzen. Cohens Schüler Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth wandten sich seit 1912 immer mehr vom Marburger Neukantianismus ab. Als unfreiwillige Reminiszenz hegten sie gleichwohl 1915, also vier Jahre nach Cohen, ihrerseits Herausgabepläne bezüglich Cusanus. Vergleiche dazu den Beitrag von Detlef Thiel im vorliegenden Band. 48 Cassirer nahm eine Lehrtätigkeit am All Souls College in Oxford (bis 1934) auf und verfasste 1933 die kleinere Schrift Hermann Cohens Philosophie der Religion und ihr Verhältnis zum Judentum. 49 CASSIRER: Cohen’s Philosophy of Religion. Der Vortrag wurde Ende 1935 vor der ‚Oxford Jewish Society’ gehalten.
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aber klar verständliche Darlegung der Religionsphilosophie Cohens. Wie wir uns noch überzeugen werden, erweist sich zu deren Präzisierung gerade auch das Cusanische Denken als äußerst hilfreich.50 Cohen fasst die Religion als eine Tätigkeit des menschlichen Geistes auf. Zur schärferen Konturierung dieser Auffassung wird sie von Cassirer zunächst gegen Schleiermachers Rückführung der Religion auf das Gefühl abgesetzt.51 Für das liberale Religionsverständnis, in dem Geschichte, Psychologie und Theologie zusammentrafen, bedeutete das tatsächlich eine schroffe Herausforderung, zumal auf den Kathedern noch bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts die Lehre von der Religion als einer ‚Besonderheit des Bewußtseins‘ vertreten wurde.52 Cassirer betont dagegen – durchaus konform seiner Symbolphilosophie –, dass religiöses Bewusstsein nicht als eine neue oder unabhängige Form des Bewusstseins auftrete, sondern die theoretische, ethische oder ästhetische Weise der Welterfassung voraussetze und sich ihrer bediene.53 In der jüdischen Religion entfällt nun aber ein spezielles Gewicht auf die Ethik. Dies gilt auch für die bedeutende Ausnahme von der Regel der negativen Theologie des Maimonides.54 Cohen selbst hatte erklärt, der jüdische Gottesbegriff erschöpfe sich in der ethischen Bedeutung der Gottesidee.55 Die Attribute des Maimonides sind folglich die Attribute der Handlung: 50 Für eine ausführliche Darstellung von Cassirers Vortrag, unter Berücksichtigung der verwendeten Cusanischen Terminologie, siehe MEYER: Kulturphilosophie, S. 49-53. 51 Siehe CASSIRER: Cohen’s Philosophy of Religion, S. 94f. 52 Siehe BARTH: Hermann Cohens religionsphilosophische Schriften, S. 111. Heinrich Barth (1890-1965) rechtfertigt das Vorgehen seines Marburger Lehrers, wenn dieser eine Selbständigkeit der Religion neben der Ethik bestreitet: „Wer vermochte aber die Paradoxie zu durchschauen, daß sich mit dieser unerhörten Sprödigkeit gegenüber dem Religionsbegriff eine systematisch immer gehaltreichere Bejahung des Gottesgedankens verband, ein Bekenntnis zum Monotheismus, das sich mit steigender Kraft die Sache des angestammten Glaubens zu eigen machte? Dieser Paradoxie hätte die Belehrung entnommen werden können, daß die Gottesfrage vor der Frage nach der Religion einen unbedingten Primat besitzt. Heute dürfte wenigstens der Theologe eingesehen haben, daß von einer in sich selbst schwingenden ‚Religion‘, als einer ‚Richtung des Kulturbewußtseins‘ u. dgl. zu reden ein Unding ist.“ Ebd. 53 Siehe CASSIRER: Cohen’s Philosophy of Religion, S. 96. 54 Siehe ebd., S. 98f. 55 Siehe COHEN: Religion und Sittlichkeit, S. 135.
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„Nur diejenigen Attribute Gottes sollen Gegenstand der menschlichen, der religiösen Erkenntnis sein dürfen, welche das Wesen Gottes als das Urbild der Sittlichkeit bestimmen. Außerhalb dieses Interesses an der Sittlichkeit ist das Wesen Gottes unerforschlich, d. h. nicht Gegenstand des philosophischen Interesses und ebensowenig des religiösen Glaubens.“56
Wie Cassirer erläutert, kann Gott zum ‚Urbild‘ nur werden, indem der einzelne neben seinem auf Gott hinzielenden Denken und Wollen sich zugleich ein neues Verhältnis zur ganzen Menschheit, zur ethischen Allheit, gibt.57 Mit der Idee der Menschheit vollziehe sich in der Religion die Wendung vom Mythos, in dem die Gottesidee auf einen bloßen Stammes- oder Nationalgott eingeengt blieb, zum Ethos, in dem kraft der Einheit Gottes die Einheit des Menschengeschlechts, als höchster Gedanke der Sittlichkeit, entdeckt wird. Wenn wir nun beides affirmieren, sowohl die Realität Gottes als auch die Realität der Geltung unserer sittlicher Ideale, so sei der begrifflichen Differenzierbarkeit ungeachtet im Sinne Cohens doch nur ein und derselbe Gedanke gemeint. Entsprechend Kants Begriff von Gott als von etwas Aufgegebenem sei diese Form der Identität als eine ethische zu verstehen: Gott, nicht als metaphysische Gegebenheit, sondern als der höchste und letzte Zweck (ultimate end), in dem all unsere sittlichen Ideale schließlich zusammentreffen (converge). Das Ringen um einen treffenden Ausdruck oder ein Konzept wird durch den Cusanischen Begriff der ‚Koinzidenz‘ entschieden, auf den Cassirer hier nun zurückgreift: Die Idee Gottes koinzidiere (coincides) mit der Idee der Menschheit, insofern beide den gleichen Anspruch einer Ausrichtung auf einen universellen Zweck (universal end) ausdrücken.58 Es ist das ‚Postulat der Allheit‘, das neben dem ‚Ursprung‘ einen zentralen Begriff in Cohens System darstellt und mit ihm des jüdischen Monotheismus. Der Umstand, dass Cassirer Cusanus gar nicht nennt, für ein besseres Verständnis Cohens aber Cusanisch denkt, bekräftigt einmal mehr das Potential, das in dem ersten ‚modernen‘ Philosophen, auf den sich die Marburger berufen, für 56 Ebd., S. 133. 57 Siehe CASSIRER: Hermann Cohens Philosophie der Religion, S. 260. Die beiden Beiträge aus den Jahren 1933 und 1935 sind in Aufbau und Aussage vergleichbar; siehe MEYER: Kulturphilosophie, S. 49f. 58 Siehe CASSIRER: Cohen’s Philosophy of Religion, S. 101.
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die Aktualisierung vielfältiger philosophischer Gedankengänge liegt. Auch Cusanus kennt die Problematik von ‚Allheit und Einheit‘,59 die wie die übrigen skizzierten Themenfelder einmal systematisch aufzurollen dem noch zu entdeckenden Cusanusforscher Cohen besonders zu wünschen ist.
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gen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft Bd. 29), Trier 2005, S. 127-158. THIEL, DETLEF, Koinzidenz - Disexzidenz. Cusanus und die Schleier(macher) Europas, mit Blick auf Jan Assmann und Salomo Friedlaender/Mynona, in: Das europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues. Geistesgeschichte als Geistesgegenwart, hg. von HARALD SCHWAETZER/KIRSTIN ZEYER, Münster 2008, S. 229-255. WACKERZAPP, HERBERT, Der Einfluss Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (1440-1450), hg. von JOSEF KOCH, (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters Bd. 39, Heft 3), Münster 1962. WATANABE, MORIMICHI, The Origins of Modern Cusanus Research in Germany and the Foundation of the Heidelberg Opera omnia, in: Nicholas of Cusa in Search of God and Wisdom, hg. von GERALD CHRISTIANSON/THOMAS M. IZBICKI, Leiden u.a. 1991, S. 17-42. ZEYER, KIRSTIN: „Willst du ins Unendliche schreiten, Geh im Endlichen nach allen Seiten“. Ernst Cassirers Cusanus-Rezeption mit Blick auf den Subjektbegriff. (Im Erscheinen; Vortrag anlässlich des Colloque „Le sujet chez Eckhart et Nicolas de Cues“, 9.-10. Dezember 2009, Metz)
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Nikolaus von Kues und Ortega y Gasset HARALD SCHWAETZER Die Rezeption cusanischer Gedanken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist ein Gebiet, dem gegenwärtig immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser ruht nicht zuletzt auf der Beobachtung, dass sehr viele und sehr verschiedene Strömungen von ihm Anregungen bekommen haben. Neben Dekonstruktivisten wie Derrida stehen Religionsphilosophen wie Simon Frank oder Phänomenologen wie Jan Patocka.1 Insofern scheint es nicht ungereimt, nach einer Rezeption cusanischer Gedanken bei José Ortega y Gasset zu fragen. Eine solche Frage liegt um so näher, als Ortega y Gasset durch zwei philosophischen Richtungen geprägt ist, die beide Cusanus nahe stehen. Ortega y Gasset kommt vom Marburger Neukantianismus her. Man muss nur den Namen Ernst Cassirers nennen, um die Bedeutung des Cusanus für diese Gruppe von Denkern zu umreißen. Freilich hat sich Ortega y Gasset von den Marburgern bald distanziert2 und gehört im weiteren Sinne zu derjenigen philosophischen Richtung, die sich als Existenzphilosophie beschreiben lässt. Diese Wendung hat er übrigens mit einigen der Existenzphilosophen gemeinsam; am bekanntesten ist Heinrich Barth, der in seinem Werk „Die Philosophie der praktischen Vernunft“ eine Wende von den Marburgern weg zu einer Existenzphi-
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Vgl. REINHARDT und SCHWAETZER (Hgg.): Cusanus-Rezeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Vgl. „Kant. Reflexiones de centenario (1724-1924)“ (1924) (II, 414ff.).
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losophie vollzog.3 Bekannter für seine Cusanus-Rezeption ist aber der Basler Kollege von Barth, nämlich Karl Jaspers, der eine eigene Monographie zu Cusanus vorgelegt hat,4 die erst neulich von Inigo Bocken einer subtilen Interpretation unterzogen worden ist.5 Ortega y Gasset bewegt sich also in einem Umfeld, das eine Cusanus-Rezeption durchaus wahrscheinlich macht. Zugleich aber stellt sich die Frage, wie diese Rezeption aussieht, scheint es doch einerseits angesichts seiner Abkehr von den Marburgern zumindest fraglich, ob er die Deutung Cassirers übernehmen wird, und andererseits zweifelhaft, dass er die tragischexistentialistische Version von Jaspers akzeptieren kann.
Urteile Ortega y Gassets über Cusanus Beginnen wir unsere Überlegungen mit einer kurzen Überschau über einige Urteile, die Ortega y Gasset zu Cusanus abgegeben hat. Einen guten Überblick verschafft uns die Abhandlung „En torno a Galileo“ (1933). An dieser Abhandlung ist interessant, dass ihr buchstäblich letzter Held nicht Galilei, sondern Cusanus heißt. Gegen Ende der Abhandlung fällt der Name des Cusanus ein erstes Mal. Ortega y Gasset scheidet das echte Christentum von einer Entartungsform, die seiner Meinung nach durch die Aufnahme des Aristotelismus im Mittelalter entstanden sei. Gegen diese breit wirkende und wirksame Linie setzt er eine „echte christliche Philosophie“ ab: „Die echte christliche Philosophie wäre eine irreale Linie, die wir nur in einigen ihrer Punkte festlegen können: St. Augustinus, die Viktoriner, Duns Scotus, Eckehart, Nikolaus von Cues.“ (III, 482)
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BARTH: Die Philosophie der praktischen Vernunft. Vgl. ZEYER: Heinrich Barths Grundlegung der praktischen Vernunft. Der Vergleich von Heinrich Barth mit Ortega y Gasset ist noch ein Desiderat; beide Philosophen weisen viele Übereinstimmungen auf bei der Bestimmung des Begriffs der Entscheidung, in der Relation von Vernunft und Leben, differieren freilich auch stark in Hinblick auf ihre Intention: Während Barth systematischer Philosoph war, verstand sich Ortega y Gasset mehr als politisch-literarisch wirkender Schriftsteller. JASPERS: Nicolaus Cusanus. BOCKEN: Der Kampf um Kommunikation.
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Was es heißt, Christ zu sein, macht Ortega y Gasset in einem historischen Rückblick deutlich. Er greift dazu auf einige Theoreme zurück. Dem Rationalismus der Moderne stellt er das Leben als Drama, als Geschehen gegenüber.6 Dabei ist das Lebensdrama etwas, was auf Zukunft zielt. Für Ortega y Gasset ist die Situation vor Christi Geburt eine hoffnungslose, verzweifelte gewesen. Ortega y Gasset verdeutlicht diesen Sachverhalt am Beispiel Ciceros, des Priesters, der nicht mehr weiß, ob es Götter gibt und wie sie beschaffen sind (III, 487f.). Das Christentum brachte in dieses Leben Hoffnung, eine Hoffnung, die sich bewusst absetzte von der Intellektualität und dem Rationalismus der damaligen Kultur. Ortega y Gasset zufolge wiederholt sich eine ähnliche Struktur zu Beginn des für die Renaissance exemplarischen Jahrhunderts. Man wendet sich ab von den intellektuellen Trägern der Kultur: „Wer am meisten Wert ist, ist gerade derjenige, der nichts weiß, der nichts hat, der Arme, der Demütige, der Laie.“ (III, 494).
Die Laien-Philosophie des Cusanus und ihr Umfeld sind hier nicht nur indirekt angesprochen, sondern es folgen auf dem Fuße „Beispiele aus dem 15. Jahrhundert“: „die ‚Einfachen‘ und Laien der devotio moderna, der ‚Nachahmung Christi‘, die docta ignorantia des Nikolaus von Cues, seine Lobrede auf den Unwissenden, das ‚Lob der Narrheit‘ von Erasmus und als letzter Niederschlag im 16. Jahrhundert die lode del asino, das Lob des Esels, bei Giordano Bruno.“ (ibid. 494f.)
An dieser Stelle ist bezeichnend, dass Cusanus in einen eigenständigen Bereich einer cum grano salis eigenständigen ‚nördlichen Renaissance‘ eingebunden wird. Nicht Italien, sondern Deutschland und Flandern sind seine Heimat: die devotio moderna, Thomas von Kempen, Erasmus von Rotterdam und der heimatlose Bruno sind seine Gefährten. Weiter fällt auf, dass Cusanus nicht nur mit einem Werk, sondern mit „De docta ignorantia“ und den „Idiota-Dialogen“ vertreten ist; er scheint die Mitte zu bilden und den eigentlichen Vertreter dieser Richtung darzustellen.
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Vgl. „Historia como sistema“, § VII.
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Weiter im Text lesen wir freilich, dass auch schon dieses echte Christentum keines mehr ist. Auch in es dringt ein fremder Geist ein: das, „was später die natürliche Religion heißen sollte. Nikolaus von Kues lehrt sie höchstpersönlich. Nach seiner Anschauung sind die Bekenntnisse der verschiedenen Religionen letzten Endes gleichwertig“ (III, 556). Doch liegt dahinter nicht einfach eine Tendenz zur Rationalisierung; vielmehr handelt es sich um den Versuch, ein Gleichgewicht zwischen Jenseits und Diesseits zu erzeugen, also offenbar um eine Vorform eines Ausgleichs von Wissen und Leben, wie er Ortega y Gasset vorschwebt. „Und wir sahen, wie auch diese devotio moderna bereits eine Verweltlichung des Glaubens, ein zwar auf Gott gegründetes, jedoch der Welt zugewandtes Leben war.“ (III, 556)
Diese Darstellung kulminiert am Schluss in der Bezeichnung des Cusanus als „des genialsten Menschen der Epoche, der genaugenommen die gesamte Renaissance vorwegnimmt“ (III, 562). Die Abhandlung „En torno a Galilei“ bietet uns also das Bild des Nikolaus von Kues als eines genialen Menschen, der die Synthese von Wissen und Leben unter dem christlichen Vorzeichen des Nichtwissens im Ansatz vollzieht. Offenbar muss im Folgenden geklärt werden, welche tragenden Momente von Ortega y Gassets Anschauung es sind, die eine solche Inanspruchnahme cusanischer Gedanken nach sich ziehen und welche cusanische Ideen auf diese Weise von ihm rezipiert werden.
Wahrheit und Perspektive Bereits im programmatischen ersten Stück der ersten Sammlung von „El Espectador“ mit dem Titel „Verdad y perspectiva“ begegnen wir Gedanken, die für Ortega y Gasset ebenso zentral sind wie sie auf Verbindungen zu Cusanus hinweisen. Der „Betrachter“ ist Programm. Denn der Philosoph wehrt auf der einen Seite die Vorstellung eines theoretischen Schauens im Sinne des Aristoteles ab. Es geht ihm nicht um ein rein intellektuelles oder gar rationalistisches Schauen. Auf der anderen Seite wendet er sich aber auch gegen das bloße Leben: Don Juan „soll bei der Frau, die ihn gerade erwartet, aufs
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neue sein ewiges Abenteuer erleben [...] Aber er soll nicht meinen, er müßte wichtigtuerisch wie ein eitler Hahn für uns die Wahrheit erringen“ (I, 15). Der „Betrachter“ „spekuliert, er betrachtet, der Gegenstand seiner Betrachtung aber ist das Leben, wie es gerade an ihm vorbeifließt“ (ibid.). Offenkundig formuliert Ortega y Gasset an dieser Stelle sein Grundprogramm: eine differenzierte Einheit von Vernunft und Leben. Dieses Grundkonzept lässt sich weiter bestimmen. Auf der Seite derjenigen, welche der Vernunft folgen, findet sich die Hochschätzung der Wahrheit. Auf der Seite derjenigen, welche dem verfließenden Leben den Primat einräumen, hat der Relativismus und in der Folge der Skeptizismus seine Heimat. Das Problem stellt sich für Ortega y Gasset folgendermaßen dar: „Es gibt keinen anderen Blickpunkt als den individuellen, folglich gibt es keine Wahrheit – also Skeptizismus; zum anderen: es gibt eine Wahrheit, folglich ist ein überindividueller Blickpunkt einzunehmen – also Rationalismus. / Der Espectador wird sich von beiden Ansichten gleichermaßen distanzieren, weil sie nicht der Anschauung entsprechen, aus der heraus er geboren ist. Der persönliche Blickpunkt nämlich ist meines Erachtens der einzige, von dem aus die Welt, wie sie in Wahrheit ist, betrachtet werden kann.“ (I, 15)
Daraus folgt: „Die Wahrheit, die Wirklichkeit, das Leben, oder wie man es sonst nennen mag, bricht sich in unzähligen Facetten, deren jede sich einem Individuum entgegenwendet. Bleibt dieses seinem Blickpunkte treu, widersteht es der ewigen Versuchung, sein Auge mit einem imaginären zu vertauschen, so wird das von ihm Gesehene ein wirklicher Aspekt der Welt sein.“ (I, 16f.)
Eine solche Philosophie der Perspektive ist das eigentliche Anliegen des Espectador. An späterer Stelle heißt es lapidar: „Um den zukünftigen Fortschritt vorzubereiten, müssen wir eine Wissenschaft der Perspektive betreiben. Sonst wird uns keine wirkliche Erweiterung unserer Welt gelingen.“ (I, 92)
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Wir können an dieser Stelle innehalten und verweisen darauf, dass Ortega y Gasset diesen Ansatz u.a. in „El tema de nuestro tiempo“ (1923) (II, 79ff.) weiter ausgebaut hat – sowohl in historischer wie in systematischer Hinsicht. Was er hier vorträgt, ist aber offenkundig der cusanischen Lehre von den Konjekturen sehr verwandt. Cusanus definiert die Konjektur in „De coniecturis“ bekanntlich als Partizipation an der Wahrheit in Andersheit.7 Diese Bestimmung wird durch ein Kreis-Bild erläutert:8 Die Kardinäle stehen im Kreis um Papst Eugen IV. Jeder Kardinal sieht den Papst nicht in seinem Ansich, sondern unter einem bestimmten Wahrnehmungswinkel. Gleichwohl sehen sie doch den Papst. Die Wahrheit wird demnach in einer eingeschränkten Form erfahren. Dabei betont Cusanus den Wirklichkeitsgehalt dieser Anschauung; auch er macht geltend, dass die Wahrheit nicht in ihrem Ansich, sondern nur unter einer Perspektive erfahren werden könne, dass aber Perspektivität gerade nicht bloße Subjektivität bedeute.9 7
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De coni. I (h III n. 57); (H 17, 67): „Coniectura igitur est positiva assertio in alteritate veritatem, uti est, participans.” „Daher ist die Mutmaßung eine bejahende Feststellung, die in der Andersheit am Wesen der Wahrheit teilhat.“ De coni. I (h III n. 57); (H 17, 67-69): „Nam dum tu, pater, clarissimis tuis oculis faciem pontificis summi, sanctissimi domini nostri Eugenii papae quarti, coram conspicis, de ipsa positivam assertionem concipis, quam praecisam secundum oculum affirmas. Dum autem ad radicem illam, unde discretio sensus emanat, te convertis - ad rationem dico -, intelligis sensum visus participare vim discretivam in alteritate organice contracta. Ob quam causam defectum casus a praecisione intueris, quoniam faciem ipsam non, uti est, sed in alteritate secundum angulum tui oculi, ab omnibus viventium oculis differentem, contemplaras.“ „Wenn du z.B., Vater, mit deinen hellen Augen das Antlitz des obersten hohen Priesters, unseres heiligsten Herrn und Vaters Eugen IV., vor dir siehst, dann bildest du dir davon einen Begriff, und zwar eine bejahende Feststellung, die du für genau entsprechend deinem Gesichtssinn hältst. Sobald du dich aber der Wurzel zuwendest, aus der die Unterscheidungsfähigkeit der Sinne herausfließt – ich meine zur Vernunft –, dann siehst du ein, daß der Gesichtssinn an der Unterscheidungskraft nur in einer dem Organ entsprechend eingeschränkten Andersheit teilhat. Daher erkennst du auch, daß hierin ein Mangel und ein Abfall von der Genauigkeit liegen, da du ja das Antlitz nicht in seinem Wesen betrachtest, sondern in der Andersheit gemäß deinem Sehwinkel, der von dem aller andere Menschen unterschieden ist.“ Vgl. BOCKEN: Konjekturalität und Subjektivität, und DERS.: Toleranz und Wahrheit bei Nikolaus von Kues.
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Das Programm von El Espectador erweist sich damit als Rückgriff auf ein zentrales Theoriestück des Nikolaus von Kues. Doch lässt sich dieser Vergleich noch weiter führen.
Filosofía pura Zur 200. Wiederkehr von Kants Geburtstag schreibt Ortega y Gasset „Kant. Reflexiones de centenario (1724-1924)“. Der Anfang ist programmatisch: „Zehn Jahre habe ich innerhalb des Kantischen Gedankens gelebt; ich habe ihn eingeatmet wie eine Atmosphäre, und er war zugleich mein Haus und mein Gefängnis.“ (II, 414)
In Kant, so der Philosoph, lebten dieselben Tendenzen, die seit der Renaissance wirksam seien. Kantianer sei aber nicht nur die Bezeichnung einer philosophischen Schule, sondern auch einer Lebenshaltung. „Die intellektuelle Welt zählt viele Bürger, welche Kantianer sind, ohne es zu wissen, Kantianer zur Unzeit, so daß sie es immer bleiben werden, weil sie es nie mit Bewußtsein waren. Solche unheilbaren Kantianer bilden heute den schlimmsten Hemmschuh für das fortschreitende Leben.“ (II, 414)
Im unbewussten Kantianer sieht Ortega y Gasset deswegen den schlimmsten Hemmschuh des Fortschritts, weil dieser nach wie vor das alte, einseitige Ideal des Rationalismus verkörpert. Freilich gilt eben diese Abwertung nicht für Kant selbst. Im Gegenteil, Ortega y Gasset hält seine Zeit für den Gipfelpunkt der europäischen Geschichte. Seine Deutung Kants ist dabei einigermaßen eigenwillig. Er richtet sein Augenmerk wirklich auf Kant, weniger auf seine Lehre, und versteht ihn als Ausdruck eines bestimmten Typus von Mensch, „in welchem der Argwohn die vorherrschende Stimmung ist“ (II, 422). Kantischer Kritizismus und bürgerlicher Kapitalismus seien beide Produkte dieses Typus’. In beiden sei das radikale Misstrauen Methode geworden. In der Folge liest Ortega y Gasset Kant als „Klassiker dieses angeborenen Subjektivismus“ (II, 425): Alles, was der Geist anschaue, werde ihm zum Inhalt seiner Seele,
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ohne dass er eine Außenwelt erreiche, wie dem Midas alles zu Gold werde, was er berühre. Die daraus folgende so genannte Kopernikanische Wende Kants sei radikal: „Kant wendet sich gegen jede Wirklichkeit; er wirft die Magistermaske ab und proklamiert die Diktatur“ (II, 438). Eine solche „Wikingerphilosophie“ werde sofort gefährlich, wenn dahinter ein „menschlich-allzumenschliches Ich“ stehe. Auf diesen Aufsatz folgt im Jahre 1929 ein Anhang – offenbar fühlte Ortega y Gasset selbst, dass an seinem Kant-Bild noch manches der Erläuterung bedürftig wäre. In dem Anhang „Pura Filosofía“ geht es nochmals um den Kernpunkt Kantischen Denkens. Ortega y Gasset wirft seinen alten Marburger Lehrern und Kollegen vor, dass sie mit ihrer Konzentration auf das Lehrwerk der drei Kritiken Kant eher verdunkelt hätten. Im Gegensatz dazu macht er geltend, dass das Entscheidende bei Kant nicht seine Lehre sei, sondern das Problem, das er aufgeworfen habe (II, 445f.). Das Problem Kants ist für ihn das folgende: Der transzendentale Idealismus lasse sich nach herkömmlicher – Marburger – Interpretation in den Satz zusammenfassen: Sein ist Denken (II, 448). Dieser Satz berge aber einen gewaltigen Umschwung. Vor Kant bedeute er, dass alle äußere Wirklichkeit auf ein Ideensein zurückzuführen sei. Kant versteht diesen Satz anders; für ihn impliziert der Satz, dass äußere Wirklichkeit nur dann ist, wenn ein Subjekt zu ihm in Relation sich setzt. „Diese Entdeckung, daß Sein allein Sinn hat als Antwort auf die Frage eines Subjektes, kann nur einer machen, der die beiden Bedeutungen des Terminus Sein geschieden und sich erkühnt hat, die uralte Würde des Seins als des ‚An sich‘ zu bezweifeln.“ (II, 451)
Gleichwohl macht Ortega y Gasset geltend, dass man diese Aussage – und damit auch Kant – nicht notwendig subjektivistisch verstehen müsse, im Gegenteil, die tiefste Schicht von Kants Werk, ihr eigentlicher Kern, lasse sich vollständig von dieser Deutung befreien: „Der Umstand, daß Existenz keinen Sinn hat und nichts bedeuten kann ohne die Dazwischenkunft des erkennenden Subjekts und das Denken sich daher in das Sein der Dinge einmischt, indem es sie setzt, impliziert noch nicht, daß die Gegenstände sich in Denken verwandeln, wie
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zwei Orangen nicht darum etwas Subjektives werden, weil sie nur gleich sind, wenn ein Subjekt sie vergleicht.“ (II, 451)
Ortega y Gasset will also Kant so lesen, dass eine Neubestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt möglich wird, indem das Subjekt auf das Objekt hin sich öffnet und indem das Objekt nur existiert im Hinblick auf den Menschen als „lebendige Vernunft“ (II, 452). Mit der Bestimmung des Menschen als lebendiger Vernunft sind wir dicht an cusanischen Formulierungen und Ideen. Doch die folgenden Überlegungen gehen noch weiter in das Gebiet cusanischen Denkens. Ortega y Gasset macht im Sinne seines revidierten Kantischen Ansatzes den Satz des Protagoras stark: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dabei versteht er ihn aber keineswegs subjektivistisch. Auch diese Eigentümlichkeit teilt er mit Cusanus, der den Satz vor allem in „De Beryllo“ in gleicher Weise auffasst und im Sinne seiner Konjekturenlehre stark macht. Ortega y Gasset fährt fort: „Die Dinge haben an sich kein Maß, sie sind maßlos; sie sind nicht mehr oder weniger, nicht so oder anders, kurz, sie sind weder, noch sind sie nicht. Das Maß der Dinge ist ihr so und nicht anders, ihr nicht mehr noch weniger, ist ihr Sein, und dies Sein setzt das Eingreifen des Menschen voraus.“ (II, 453)
Und er fügt eine Fußnote an: „Der Kardinal Cusanus beging tiefsinnige Wortspiele, als er mensura von mens herleitete.“ (Ibid.)
Mit dieser Bemerkung wird tatsächlich klar, dass im Hintergrund der Theorie von Ortega y Gasset cusanisches Denken steht. Denn er adaptiert nicht nur dessen Konjekturenlehre, sondern bezieht sich bei der epistemologischen Begründung derselben direkt auf die cusanische Erkenntnis- bzw. Geistlehre. Die Verbindung von mens und mensurare gehört in der Tat zum Grundbestand cusanischen Denkens. Sie ist in „De mente“ untrennbar verknüpft mit der Beschreibung des Menschen als „viva imago Dei“,
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wobei sich diese Lebendigkeit des Bildes in der kreativen Erkenntnisfähigkeit zeigt. Doch können wir tatsächlich noch einen Schritt weiter gehen und den anthropologischen Grund von Ortega y Gassets Konzeption bei Cusanus finden.
Historia como sistema Die Abhandlung Historia como sistema (1941), die mit den bereits zitierten in einem systematischen Zusammenhang steht und für das Werk Ortegas von einiger Bedeutung ist, bietet zunächst einmal eine Zusammenfassung des bisher entwickelten Konzeptes. Zunächst wird das Leben als die Grundwirklichkeit beschrieben, auf die alle anderen sich beziehen müssen.10 Dann stellt er dar, wie der Glaube an den Rationalismus verlorengegangen bzw. zu überprüfen ist, so dass sich also Vernunft und Leben krisenhaft gegenüberstehen. Die eigentliche Krise wird daran deutlich, dass die Vernunft sich mit Natur beschäftigt und die Natur zu erfassen bemüht ist. Der Mensch aber, so Ortega y Gasset, hat keine Natur: „La causa tiene que ser profunda y radical; tal vez, nada menos que esto: que el hombre no es una cosa, que es falso hablar de la naturaleza humana, que el hombre no tiene naturaleza.“ (Historia 76)
Ortega y Gasset macht also die Naturlosigkeit des Menschen geltend. Sie ist der Grund, warum die Vernunft der Wissenschaft an das Wesen des Menschen nicht herankommt. Das Argument ist natürlich nicht originell. Dabei wird wohl weniger an den frühen Schelling zu denken sein, der in „Vom Ich als Princip der Philosophie“ das Ich als Unbedingtes, als das, was kein Ding ist, einführte. Vielmehr findet sich diese Wendung von der Naturlosigkeit vor allem in Picos berühmter Rede über die Würde des Menschen – und bei Cusanus. Sie ist eine Errungenschaft der Renaissance. 10 Historia 67: „La vida humana es una realidad extraña, de la cual lo primero que conviene decir es que la realidad radical, en el sentido de que a ella tenemos que referir todas las demás, ya que las demás realidades, efectivas o presuntas, tienen de uno u otro modo que aparecer en ella.“
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Ortega y Gasset setzt seine Überlegungen fort, indem er die schon erwähnte Idee des Menschen als eines Dramas anführt: „El hombre no es cosa ninguna, sino un drama“ (Historia 84)
Weder Körper noch Seele noch sonst etwas ist der Mensch – er ist kein „Etwas“, sondern ein „Drama“, ein sich in Freiheit ereignendes Lebensgeschehen, eine Lebens-Geschichte. Nun fragt es sich, wie das Denken in diese Lebensgeschichte eingreifen kann, wie Leben und Vernunft zusammengehen, nachdem die Wissenschaft die Verbindung nicht zu leisten vermag. Dazu verweist Ortega y Gasset auf die Fähigkeit des Denkens, etwas denken zu können, was ihm völlig entgegengesetzt ist. Dazu verweist er auf so genannte „okkasionelle Begriffe“ / „conceptos ocasionales“, etwa den Begriff „Ich“ oder den Begriff „Hier“, welche imstande seien eine formale Identität, die gerade von Materie unabhängig ist, zu denken.11 Alle Begriffe, welche die Wirklichkeit erreichen wollen, haben solche Begriffe zu sein, so fährt Ortega fort, um anzufügen: „Lo cual no es extraño, porque la vida es pura ocasión, y por eso el cardenal Cusano llama al hombre un Deus occasionatus.“ (Historia 88)
Dass der Mensch auf seine Weise zu allen Dingen der Welt werden kann, ist in der Tat eine Aussage, die Nikolaus trifft. Wenn er auch den Begriff des „Deus occasionatus“ nur einmal gebraucht, so ist dieser doch geeignet, den Grundzug der Selbstgestaltungsfähigkeit, wie sie für Cusanus typisch ist, zu beschreiben – mag es auch nicht der glücklichste Verweis sein. Immerhin fügt Ortega y Gasset die cusanische Erläuterung an, dass der Mensch eben kein absoluter Gott ist, sondern einer, der durch die Bedingungen der Welt und der Endlichkeit begrenzt ist, also eben ein „Gelegenheitsgott“. Dass diese Wendung mit dem sich selbst im Drama des Lebens gestaltenden Menschen bei Ortega große Übereinstimmung hat, steht fest. So hat Ortega y Gasset Recht, wenn er abschließend bemerkt: 11 Historia 87: “Tales conceptos o significaciones tienen una identidad formal que les sirve precisamente para asegurar la no-identidad constitutiva de la materia por ellos significada o pensada”.
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„Por tanto, literalmente, lo que yo oso afirmar: que el hombre, se hace a sí mismo en vista de la circunstanica, que es un Dios de ocasion.“ (Historia 88)
Resümee Wenn wir den Weg zurücksehen, den wir abgeschritten haben, so läßt sich folgendes festhalten: Es gibt bei Ortega y Gasset nicht nur eine Cusanus-Rezeption, sondern diese Rezeption betrifft zentrale Stücke seiner Konzeption. Seine Lehre von der Perspektvität der Welt, in der sich Vernunft und Leben verbinden, ist eine Adaption der cusanischen Konjekturenlehre. Beider Ansichten fußen auf einem Verständnis des Menschen als lebendiger Vernunft, und Ortega y Gasset gibt Cusanus als Quelle an. Im Begriff des „Deus occasionatus“ findet er darüber hinaus die für ihn geeignete Version des Menschen als eines freien Gestalters seiner selbst. Dabei fungiert das cusanische Konzept, systematisch gesehen, für Ortega y Gasset als korrigierte bzw. eigentliche Anschauung Kants. Cusanus ist also durchaus wie im Neukantianismus ein Vorreiter Kants. Darüber hinaus ist er sogar Gewährsmann für einen nicht subjektivistischen Kant. Angesichts dieses Befundes wird man sich freilich fragen müssen, ob man Cusanus zu einem Vorläufer einer Lebens- bzw. Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, die von einem modifizierten Kantianismus ihren Ausgang nimmt, machen kann. Dazu wird man sagen müssen, daß die Anknüpfungspunkte, die Ortega y Gasset wählt sachlich zutreffend sind. Cusanus selbst liefert dabei freilich nur die Theoriestücke einer Erkenntnislehre und Anthropologie, keineswegs aber eine Existenzphilosophie. Zudem liegt der Akzent bei Cusanus auf dem geistigen Leben des Menschen. Die Entdeckung einer lebendigen Vernunft ist es, die ihn umtreibt. In diesem Sinne wird man sagen müssen, daß der Lebensbegriff bei Ortega y Gasset den Lebensbegriff bei Cusanus unsachgemäß eingrenzt. Leben ist nicht allein Vitalität, Lebensprozeß, historisches Geschehen, Leben ist durchaus als Erfahrung geistiger Realität bei Cusanus gemeint. Ein solcher Aspekt ist für Ortega y Gasset – darin bleibt er Neukantianer – nicht denkbar. Die Akzentuierung, daß der Mensch keine
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Natur, sondern Geschichte habe,12 greift für eine cusanische Anthropologie zu kurz. Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage einer nicht nur am Leben, sondern auch am Geiste entwickelten Existenzphilosophie. An sie denkt Ortega y Gasset nicht; dass der Mensch viva imago Dei ist, kann er nur im Sinne eines vivus intellectus verstehen, den existentiellen Rückbezug auf Gott bleibt er Cusanus schuldig.
Literatur BARTH, HEINRICH, Die Philosophie der praktischen Vernunft, Tübingen 1927. BOCKEN, INIGO, Toleranz und Wahrheit bei Nikolaus von Kues, in: Philosophisches Jahrbuch 105 (1998), S. 241-266. DERS., Konjekturalität und Subjektivität. Einige Anmerkungen zur Position der Geistphilosophie des Nicolaus Cusanus in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte, in: HARALD SCHWAETZER (Hg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Regensburg 2003, S. 51-63. DERS.: Der Kampf um Kommunikation. Karl Jaspers’ existentielle Cusanus-Lektüre, in: KLAUS REINHARDT und HARALD SCHWAETZER (Hgg.), Cusanus-Rezeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Regensburg 2005, S. 51-66. JASPERS, KARL, Nicolaus Cusanus, München 1964. REINHARDT, KLAUS und SCHWAETZER, HARALD (Hgg.), CusanusRezeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Regensburg 2005. ZEYER, KIRSTIN, Heinrich Barths Grundlegung der praktischen Vernunft, in: Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft 11 (2004), S. 6-30.
12 Historia 93: „En suma, que el hombre no tiene naturaleza, sino que tiene... historia.”
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Die Seins- bzw. Gottesfrage in Nicolaus Cusanus’ Idiota de sapientia (1450) und Karl Rahners Hörer des Wortes (1941) 1 FELIX RESCH Sofern unter ,Modernitäten‘ die aktuellen Bezüge des Nikolaus von Kues zu verstehen sind, ist es durchaus legitim, ihn mit Karl Rahner, einem Denker, der die aktuelle Theologie entscheidend geprägt hat, zu vergleichen. Der vorliegende Aufsatz versucht, gewisse strukturelle Parallelen zwischen der cusanischen Frage nach Gott in ,Idiota de sapientia‘2 und der Seinsfrage Karl Rahners in seiner Schrift ,Hörer des
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Dieser Aufsatz beruht teilweise auf Ergebnissen meiner Magisterarbeit zur Erlangung des Magister Artium an der Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät S.J. München, eingereicht bei Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Sommersemester 2008 zum Thema „Karl Rahners transzendentale Christologie im Vergleich mit Nicolaus Cusanus“, wovon sich ein Exemplar in der Bibliothek des Instituts für Cusanus-Forschung der Universität Trier befindet. Hierbei handelt es sich um ein exemplarisches Werk, in dem der außergewöhnliche Charakter der cusanischen Gottesfrage besonders deutlich wird. Klaus Kremer geht in seinem Aufsatz auch noch auf ähnliche Gedankengänge in anderen cusanischen Werken, wie De coni. I (h III n. 5-7), De theol. compl. (h X/2a n. 4), De non aliud (h XIII n. 4), De ludo globi II (H IX) und De ap. theor. (h XII n. 5 n. 13), ein (siehe KREMER: Jede Frage nach Gott).
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Wortes‘ hervorzuheben, ohne eine Cusanus-Rezeption Rahners postulieren zu wollen.3 Ein systematischer Vergleich zwischen dem transzendentalen Ansatz Rahners und Nicolaus Cusanus’ Reflexion auf die absolute Voraussetzung jeder Frage ist meines Wissens bisher noch nicht versucht worden, wenngleich einige Cusanus-Forscher durchaus auf die Ähnlichkeiten beider Denkansätze hingewiesen haben: Rudolf Haubst macht darauf aufmerksam, dass die cusanische Thematik im 20. Jahrhundert in Gestalt Martin Heideggers und des transzendentalen Thomismus „aktuell“4 geworden sei. In diesem Kontext fällt auch der Name Rahners: „Am überraschendsten stimmt mit dem, was schon Cusanus anzielte, das überein, was Karl Rahner im 9. und 10. Band seiner ,Schriften zur Theologie‘, also vom Jahre 1970 an, zu den Themen ,Gotteserfahrung heute‘, ,Selbsterfahrung und Gotteserfahrung‘, und schließlich im ,Grundkurs des Glaubens‘ unter den Überschriften ,Der Mensch als Wesen der Transzendenz‘ sowie ,Die Erkenntnis Gottes‘ dargelegt hat“5.
Erstaunlicherweise erwähnt er dabei nicht das bereits 1941 erschienene Werk ,Hörer des Wortes‘, in dem die Ähnlichkeiten zu Cusanus’ transzendentaler Reflexion wesentlich offenkundiger sind. Mariano Álvarez-Gómez nennt hingegen in einigen Fußnoten zu seinem Aufsatz ,Die Frage nach Gott bei Nikolaus von Kues‘ explizit Rahners Werke ,Hörer des Wortes‘ und ,Geist in Welt‘.6 Eusebio Colomer zitiert in seinem Aufsatz ,Die Erkenntnismetaphysik des Nikolaus von Kues im Hinblick auf die Möglichkeit der Gotteserkenntnis‘ einmal aus ,Hörer des Wortes‘.7 3
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Aufschlussreich ist der von Rahner an Rudolf Haubst adressierte Brief vom 17.2.1959, dem Haubsts Vergleich der cusanischen und Rahnerschen Christologie in seiner Mainzer Antrittsvorlesung am 11.12.1958 vorausgegangen war: „Sie werden es verstehen, wenn ich sage: ich bin froh und glücklich darüber, nichts Neues gesagt zu haben, und fast ein wenig stolz, mich (ohne es gewußt zu haben) in der Gefolgschaft dieses großen Mannes zu wissen“ (HAUBST: Streifzüge, S. 370). Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Siehe ÁLVAREZ-GÓMEZ: Die Frage nach Gott, S. 66, Anm. 15, S. 67, Anm. 23, S. 70, Anm. 37, S. 71, Anm. 46, S. 72, Anm. 54, S. 80, Anm. 94.
Die Seins- bzw. Gottesfrage
Im Folgenden werde ich zunächst Rahners transzendentalen Argumentationsgang in ,Hörer des Wortes‘ im Hinblick auf die menschliche Seinsfrage rekonstruieren, um danach Entsprechungen und Abweichungen in Cusanus’ Schrift ,Idiota de sapientia‘ aufzuweisen. Zur Erleichterung des systematischen Vergleichs ziehe ich bewusst bestimmte Begriffe Rahnerscher Prägung auch für Cusanus heran.
Karl Rahner, ‚Hörer des Wortes‘ Um mögliche Missverständnisse auszuschließen, weise ich gleich zu Beginn auf den Bedeutungswandel des Begriffs ,transzendental‘ bei Rahner im Vergleich zu Kant hin. Grundlegend für Rahner ist Joseph Maréchal, der Kants Transzendentalphilosophie dahingehend überwindet, dass „die Konstitution des Erkenntnisgegenstandes durch die apriorischen Möglichkeitsbedingungen nicht mehr ein das Ansich des Gegenstandes verhüllendes, sondern ein dieses vielmehr grundsätzlich eröffnendes Apriori“8 ist. Diese Modifikation von Kant, die den „umfassende[n]“ oder „Seinsbereich“9 als Absolutes eröffnet, führt dazu, dass Gott nicht mehr bloß als regulativ, sondern als konstitutiv für jedwede menschliche Erkenntnis anzusehen ist.10 Darin folgt Rahner seinem Lehrer Maréchal.11 Nikolaus Knoepffler stellt abschließend fest, „daß das Transzendentale bei Kant strikt auf die im strengen Sinn apriorischen subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bezogen ist, die Notwendigkeit und Allgemeinheit beanspruchen und aus denen sich ableiten läßt, in welcher Weise die Gegenstände der Erfahrung erscheinen, bei Rahner dagegen einen Seins- und Gottesbezug in sich birgt.“12 Rahner selbst legt die Methode seiner 1941 erschienenen Schrift ,Hörer des Wortes‘ als „fundamentaltheologische Anthropologie“13 dar,
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Siehe COLOMER: Die Erkenntnismetaphysik, S. 212, Anm. 30. MUCK: Thomas – Kant – Maréchal, S. 38. Ebd. Siehe ebd., S. 39. Siehe dazu bes. Rahners Kantkritik in RAHNER: Hörer des Worte, S. 98. KNOEPFFLER: Der Begriff „transzendental“, S. 184. RAHNER: Hörer des Wortes, S. 260.
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die unter Absehung von jeglichen Offenbarungsdaten nach dem Menschen „als de[m] für eine Offenbarung Aufnahmebereiten“14 fragt. Die „apriorische Möglichkeit des Hörenkönnens einer möglicherweise ergehenden Offenbarung Gottes“15 gründet darin, dass der Mensch immer schon auf Gott als absolutes Sein verwiesen ist. Die Verwiesenheit selbst wird dadurch manifest, dass der Mensch nach dem „Sinn von ,Sein‘“ bzw. dem „Sein des Seienden“16 fragt.17 Dieses alltäglich-unthematische Seinsverständnis kann nun im Rahmen der Metaphysik systematisch-begrifflich thematisiert werden: „Eine Frage metaphysisch stellen heißt aber, sie als Seinsfrage stellen. Das aber schließt ein, daß jede metaphysische Frage irgendwie das Ganze der Metaphysik umgreifen muß. […] Denn Metaphysik als Wissenschaft ist eigentlich nur dort, wo langsam und in weit ausholender Arbeit das immer schon Bekannte in systematischer und streng begrifflicher Arbeit entwickelt wird, wo der Mensch in Begriffen sich die Metaphysik vorzustellen sucht, die er im Voraus in seinem Sein und Handeln immer schon getrieben hat.“18
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Ebd., S. 40. Ebd., S. 18. Ebd., S. 52. Peter Eicher und Hansjürgen Verweyen betonen jedoch gegenüber Rahner den Vorrang des menschlichen Staunens vor dem Fragen (siehe EICHER: Die anthropologische Wende, S. 156-160; VERWEYEN: Ontologische Voraussetzungen, S. 159-213). 18 RAHNER: Hörer des Wortes, S. 52. Insofern bewegt sich der Metaphysiker in einem ,hermeneutischen Zirkel‘. Nicht ganz zutreffend ist die Kritik Colomers an Rahner, der, wie das Zitat belegt, eine Seinsmetaphysik und keine „Metaphysik der Frage“ (COLOMER: Die Erkenntnismetaphysik, S. 212) betreibt. Zuzustimmen ist eher Eichers Kritik, wonach „sich bei Rahner eine Äquivokation des Terminus ,ganz‘ und ,Sein‘ zeigt: ,Sein‘ und ,das Ganze‘ werden bald als Termini für den Erkenntnisgegenstand genommen, der vom Fragevollzug unabhängig in sich existiert, bald bezeichnen dieselben Termini nur die schon gewusste Bedeutung der Namen und also nicht die Wirklichkeit, wie sie von sich selbst her ist, sondern sowie sie gewusst wird“ (EICHER: Die anthropologische Wende, S. 163f.). Ich sehe bei Rahner darüber hinaus noch eine Äquivokation bzgl. der Termini ,Metaphysik‘ und ,Seinsfrage‘: Der Terminus ,Metaphysik‘ wird einerseits systematisch-ontologisch, andererseits als Bezeichnung jedweden menschlichen Denkens und Handelns verwendet (siehe RAHNER: Hörer des Wortes, S. 52-54). Auch wenn
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In der Seinsfrage des Menschen kommt zum einen ein menschlicher Mangel zum Ausdruck, da der Mensch nur nach dem fragt, was er noch nicht weiß,19 zum anderen doch ein gewisses Vorwissen um den gefragten Gegenstand, also ein apriorischer Fragehorizont. Das Sein ist also „immer schon offenbar und bekannt, aber nicht erkannt“20. Diese subtile Unterscheidung ist entscheidend, um Rahners Argumentation folgen zu können. Jeder Mensch verfügt über ein transzendentales, sprich: unthematisches, Vorwissen vom Sein. Im Rahmen seiner metaphysischen Seinsfrage strebt er jedoch nach einer reflexen Erkenntnis des bekannten Seins. Dadurch ergeben sich zwei Modi der Relation Sein-Mensch21: (i) Das Sein ist ‚fraglich‘, d.h. der Mensch muss als Metaphysik Treibender danach fragen.22 (ii) Das Sein ist ‚fragbar‘, d.h. der Mensch kann danach fragen.
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letzteres immer in einem transzendentalen Bezug zum Sein steht, scheint es mir aus Gründen der Begriffspräzision sinnvoller, den Terminus ,Metaphysik‘ lediglich in seiner systematisch-ontologischen Bedeutung zu verwenden. Der Terminus ,Seinsfrage‘ wird zum einen als explizite „Frage nach dem Sein des Seienden als eines solchen“ (ebd., 52), zum anderen als „vorgängige[s], obzwar unausdrückliche[s] Wissen[] um Sein überhaupt“ (ebd., S. 56) erklärt. Handelt es sich demnach bei diesem unthematischen Vorwissen nicht eher um eine ursprüngliche Gewissheit bzw. Offenbarkeit von Sein, die jeder menschlichen Frage, die doch stets aus einer bestimmten Ungewissheit resultiert, vorausgeht? Von der rhetorischen Frage ist hier abzusehen. Ebd., S. 58. Siehe RAHNER: Hörer des Wortes, S. 72; darüber hinaus auch MUCK: Thomas – Kant – Maréchal, S. 53. An anderer Stelle erläutert Rahner die ,Fraglichkeit des Seins‘ näher: „[I]n seiner [=des Menschen] metaphysischen Frage manifestiert sich nicht das absolute Bewußtsein; es kommt nicht im Menschen, auch nicht in seinem transzendentalen Bewußtsein zu sich selber, sondern in der Frage nach dem Sein als einem Fragenmüssen zeigt sich gerade die Endlichkeit seines Geistes, […]“ (RAHNER: Hörer des Wortes, S. 80). Selbst ein pragmatistisches Desinteresse an der systematisch-metaphysischen Seinsfrage, wie es Richard Rorty in seiner Akzentverschiebung von einem „desire for objectivity“ zu einem „desire for solidarity“ (RORTY: Objectivity, S. 21) bekundet, wäre laut Rahner noch immer insofern metaphysisch, als es sich hierbei um eine menschliche Antwort auf die sich dem Menschen unabweislich stellende Seinsfrage handelt (siehe RAHNER: Hörer des Wortes, S. 54).
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Rahner sichert sich dabei gegenüber dem metaphysischen Skeptizismus ab: „Das gefragte Sein ist in all seiner Fraglichkeit immer auch schon ein gewußtes Sein. Das Sein ist für die Metaphysik Wohin und Woher, Anfang und Ende alles Fragens zumal. Wenn aber so das Sein im selben Umfang und unter allen den Rücksichten, unter denen nach ihm in der Metaphysik gefragt wird, auch immer schon ein Gewußtes ist, dann ist damit implizite die grundsätzliche Erkennbarkeit alles Seins bejaht.“23
Demnach entzieht sich jeder, der die ,grundsätzliche Erkennbarkeit des Seins‘ radikal bestreitet, selbst jeglichen argumentativen Boden: „Ein wesenhaft nicht erkennbares Seiendes ist ein Unbegriff. Denn es wäre nach ihm gefragt, da ja die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seiner Erkenntnis zur Frage steht, und es hätte doch kein Woher für eine solche Frage, da nach einem schlechthin Unerkennbaren nicht gefragt werden kann, weil jede Frage das Gefragte auch schon als Bekanntes setzt, ein schlechthin Unerkennbares aber nicht ein Bekanntes sein kann.“24
Die ,grundsätzliche Erkennbarkeit des Seins‘ entspricht dem scholastischen Diktum „Omne ens est verum“25, worin verdeutlicht wird, „daß Sein und Erkennen eine ursprüngliche Einheit [bilden], d.h. [dass] zum Wesen des Seins die erkennende Bezogenheit auf sich selbst [gehört]“26. Daraus folgt, dass umgekehrt „[d]as Erkennen, das zur Wesensverfassung des Seins gehört, das Beisichsein des Seins [ist]“27.
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Ebd., S. 60. Ebd. Zit. n. ebd., S. 62. Ebd. Ebd.
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Dieses ,Beisichsein‘ nennt Rahner im Anschluss an Heidegger28 auch „Gelichtetheit“29. Da das Sein erkennbar ist, muss es in sich völlig gelichtet sein, darf also für sich keinen Raum mehr an Fraglichkeit bieten. Dies gilt jedoch nur insofern, als ein Seiendes Anteil an der „absoluten Identität von Sein und Erkennen im reinen Sein“30 hat, das Rahner mit der aristotelischen ȞȠȒıܭȦȢ ȞȠȒıȚȢ31 identifiziert, um den intelligiblen Charakter des Seins zu beschreiben.32 Dies hat zur Folge, dass Sein und Erkennen nicht länger als zwei voneinander isolierte Sphären betrachtet werden können, da „das Wesen des Seins Erkennen und Erkanntheit in einer ursprünglichen Einheit [ist], die wir das Beisichsein, die Gelichtetheit des Seins für sich selbst nannten.“33 Rahner ist sich dieser ontologischen Konsequenz durchaus bewusst, wenn er ausführt, dass das Sein kein irrationaler „Urgrund“34 ist, dem das Erkennen völlig unvermittelt gegenüberstehe, wie im Zuge von Ockhams Nominalismus behauptet wurde.35 Im Gegenteil: „Nur wenn Sein von vornherein ‚Logos‘ ist, kann der fleischgewordene Logos im 28 Bereits Martin Heidegger spricht in ,Sein und Zeit‘ von der „Gelichtetheit des Daseins“ (HEIDEGGER: Sein und Zeit, § 69, S. 464). Rahner bezieht diesen Begriff jedoch auf das Sein selbst und nicht auf das menschliche Dasein, das gemäß Heidegger „an ihm selbst als In-der-Welt-sein gelichtet [ist], nicht nur durch ein anderes Seiendes, sondern so, daß es selbst die Lichtung ist“ (ebd. § 28, S. 177). 29 RAHNER: Hörer des Wortes, S. 62. 30 Ebd., S. 78. Derjenige, der die Frage „Ist denn überhaupt ein ,reines Sein‘?“ stellt, missversteht den onto-logischen Charakter des ,reinen Seins‘, indem er das Sein kategorialisierend als Seiendes auffasst und somit das in Frage stellt, was er in seiner eigenen Frage als transzendentalen Fragehorizont voraussetzt. In ,Geist in Welt‘ differenziert Rahner zwischen dem esse commune, d.h. dem einschränkbaren Sein, das von Seiendem als Seiendem ausgesagt werden kann, und dem esse absolutum, das als transzendentale Möglichkeitsbedingung des einschränkbaren Seins im Urteil ,mitbejaht‘ wird: „Nicht als ob er [=der menschliche Vorgriff auf das Sein] unmittelbar auf das absolute Sein ginge, um es in seinem Selbst gegenständlich vorzustellen, sondern weil die Wirklichkeit Gottes als die des esse absolutum durch die Weite des Vorgriffs, durch das esse commune implicite mitbejaht ist“ (RAHNER: Geist in Welt, S. 143). 31 Met. XII, 9, 1074b. 32 Siehe RAHNER: Hörer des Wortes, S. 78. 33 Ebd., S. 70. 34 Ebd., S. 80. 35 Siehe HEINZMANN: Philosophie des Mittelalters, S. 257.
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Worte sagen, was in den Tiefen der Gottheit verborgen ist.“36 Rahner verfolgt somit eine philosophische Grundlegung des christlichen „Primat[es] des Logos“37. Damit überwindet er argumentativ den während der Moderne fortschreitenden Entfremdungsprozess38 zwischen Sein und Erkennen (Logos).
Nicolaus Cusanus, ,Idiota de sapi entia I‘ In den zwei Büchern des Dialogs ‚Idiota de sapientia‘ aus dem Jahre 1450 schildert Cusanus die auf dem Forum Romanum stattfindende Unterhaltung eines Laien (Idiota) und eines Redners (Orator). Dabei ist es der Laie, der die entscheidenden Denkanstöße gibt, während er das akademische Wissen des Redners als „Hochmut“39 klassifiziert. Wahre Demut werde hingegen nicht durch das „Bücherstudium“ 40, sondern durch „[w]ahres Wissen“41 bzw. „Weisheit“42 erreicht, die sich wiederum „aus Gottes Büchern“43 speise. Auf die Frage des Redners, wo sich denn diese Bücher finden lassen, antwortet der Laie: „Überall“44, selbst auf dem Forum Romanum.45
36 RAHNER: Hörer des Wortes, S. 80. 37 RATZINGER: Einführung, S. 140. 38 Siehe dazu paradigmatisch Freuds Äußerungen in seinem religionskritischen Werk ‚Die Zukunft einer Illusion‘: „[U]nser Gott ȁȩȖȠȢ ist vielleicht nicht sehr allmächtig, kann nur einen kleinen Teil von dem erfüllen, was seine Vorgänger versprochen haben“ (FREUD: Die Zukunft, S. 156). 39 De sap. I (h 2V n. 1): „ […] fastu […].“ Renate Steiger weist auf die Ähnlichkeit dieses Gedankens zur Schrift ,De imitatione Christi‘ (1441) des zu Cusanus zeitgenössischen Thomas von Kempen hin (siehe STEIGER: Anmerkungen, S. 81, Anm. 1). Im Folgenden wird stets aus der deutschen Übersetzung in Nikolaus von Kues. Der Laie über die Weisheit. Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Renate Steiger (Philosophische Bibliothek Bd. 411), Hamburg 1988 zitiert. 40 De sap. I (h 2V n. 1): „[…] studium litterarum […]“. 41 Ebd. I (h 2V n. 1): „[v]era […] scientia […].“ 42 Ebd. I (h 2V n. 3): „[…] sapientia […].“ 43 Ebd. I (h 2V n. 4): „[…] ex dei libris.” 44 Ebd. I (h 2V n. 4): „Ubique.” 45 Siehe ebd. (h 2V n. 4). Steiger ordnet die Metapher von den zwei Büchern in ihren mittelalterlichen Kontext ein (siehe STEIGER: Anmerkungen, S. 83f., Anm. 4,12-15).
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Letzteres wird nun auch zum eigentlichen Forum der vom Laien angeleiteten Prinzipienerkenntnis: „[Laie:] Sag mir zuerst: Was siehst du, geschieht hier auf dem Markt? Redner: Ich sehe, daß dort Geld gezählt, in einer anderen Ecke Ware abgewogen, gegenüber Öl und anderes abgemessen wird. Laie: Das sind die Tätigkeiten derjenigen Verstandeskraft, durch die die Menschen sich vor den Tieren auszeichnen; denn zählen, wägen und messen46 können Tiere nicht. Nun achte darauf, Redner, wodurch, worin und aufgrund wessen dieses geschieht, und sag es mir. Redner: Durch Unterscheidung. Laie: Richtig. Wodurch aber geschieht Unterscheidung47? Wird nicht vermittelst der Eins gezählt? Redner: Wie? Laie: Ist nicht die Eins das Eine einmal, und die Zwei ist das Eine zweimal, und die Drei das Eine dreimal und so fort? Redner: Ja. Laie: Durch das Eine also kommt jede Zahl zustande? Redner: So scheint es.“48
46 Siehe Weish 11,21. 47 Der Begriff ,Unterscheidung‘ (discretio) findet sich bereits in De docta ign. I, c. 10 (h I p. 20,26-27) in Bezug auf die zweite göttliche Person. 48 De sap. I (h 2V n. 5): „Et primum velim dicas: Quid hic fieri conspicis in foro? ORATOR: Video ibi numerari pecunias, in alio angulo ponderari merces, ex opposito mensurari oleum et alia. IDIOTA: Haec sunt opera rationis illius, per quam homines bestias antecellunt; nam numerare, ponderare et mensurare bruta nequeunt. Attende nunc, orator, per quae, in quo et ex quo haec fiant, et dicito mihi. ORATOR: Per discretionem. IDIOTA: Recte dicis. Per quae autem discretio? Nonne per unum numeratur? ORATOR: Quomodo? IDIOTA: Nonne unum est unum semel, et duo est unum bis, et tria unum ter, et sic deinceps? ORATOR: Ita est. IDIOTA: Per unum igitur fit omnis numerus? ORATOR: Ita videtur.“
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Analog dazu weist nun der Laie die Unze als Prinzip des Gewichts und das Petit als Prinzip des Maßes auf.49 Zwei Fragen leiten den weiteren Argumentationsgang des Laien: (i) Welcher ontologische Stellenwert kommt den gerade aufgewiesenen Prinzipien gegenüber ihren Prinzipiaten zu? (ii) Welcher ontologische Stellenwert kommt diesen Prinzipien in Bezug auf das ‘Prinzip von allem’ zu? (i) Die drei Prinzipien sind ontologisch früher50 als ihre Prinzipiate: „Laie: Wodurch aber gelangt man zur Einheit, wodurch zur Unze, wodurch zum Petit? Redner: Das weiß ich nicht. Ich weiß jedoch, daß die Einheit nicht durch eine Zahl erreicht wird, weil die Zahl nach dem Einen kommt; so auch nicht die Unze durch ein Gewicht und das Petit nicht durch ein Maß. Laie: Sehr gut sprichst du, Redner. Wie nämlich das Einfache von Natur aus früher ist als das Zusammengesetzte, so ist das Zusammengesetzte von Natur aus später; daher kann das Zusammengesetzte das Einfache nicht messen, sondern umgekehrt. Daraus siehst du, daß das, wodurch, aufgrund wessen und worin alles Zählbare gezählt wird, nicht durch eine Zahl erreichbar ist, und das, wodurch, aufgrund wessen und worin alles Wägbare gewogen wird, ist nicht durch ein Gewicht erreichbar. Dementsprechend ist auch das, wodurch, aufgrund wessen und worin alles Meßbare gemessen wird, nicht durch ein Maß zu erreichen.“51
Im Folgenden weist der Laie dem Redner den Weg der Erkenntnis von den aus pluralen Kontexten gewonnenen Prinzipien zum absolutsingulären Allprinzip: 49 Siehe ebd. I (h 2V n. 6). 50 Siehe Met. V, 11, 1018b. 51 De sap. I (h 2V n. 6): „IDIOTA: Per quid autem attingitur unitas, per quid uncia, per quid petitum? ORATOR: Nescio. Scio tamen, quod unitas non attingitur numero, quia numerus est post unum, sic nec uncia pondere nec petitum mensura. IDIOTA: Optime ais, orator. Sicut enim simplex prius est natura composito, ita compositum natura posterius; unde compositum non potest mensurare simplex, sed e converso. Ex quo habes, quomodo illud, per quod, ex quo et in quo omne numerabile numeratur, non est numero attingibile, et id, per quod, ex quo et in quo omne ponderabile ponderatur, non est pondere attingibile. Similiter et id, per quod, ex quo et in quo omne mensurabile mensuratur, non est mensura attingibile.“
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„Laie: Diesen Ruf der Weisheit auf den Straßen übertrage auf die höchsten Höhen, wo die Weisheit wohnt, und du wirst viel Ergötzlicheres finden als in all deinen prächtig ausgeschmückten Büchern.“52
(ii) Die drei genannten Prinzipien sind nur Illustrationen 53 des einen Allprinzips: „[Laie]: Ich behaupte nämlich: Wie ich schon vorher von der Einheit, der Unze und dem Petit geredet habe, so muß von allem hinsichtlich des Prinzips von allem geredet werden. Denn das Prinzip von allem ist das, wodurch, worin und aufgrund wessen alles, was durch ein Prinzip begründet werden kann, begründet ist, und dennoch ist es durch nichts, was durch ein Prinzip begründet ist, berührbar.“54
Der vom Laien angeleitete Weg der Prinzipienerkenntnis führt letzten Endes zur Weisheit, die in der Einsicht in die Unbegreifbarkeit des Allprinzips besteht.55
Nicolaus Cusanus, ,Idiota de sapi entia II‘: Zu Beginn des zweiten Buches von ‚Idiota de sapientia‘ wendet sich der Redner explizit dem Gottesbegriff zu: „[Redner:] O ersehntester Mann! Hilf meinem Unvermögen, daß ich in den schwierigen Dingen, die den Geist übersteigen, mit einer gewissen
52 Ebd. I (h 2V n. 7): „IDIOTA: Hunc clamorem sapientiae in plateis transfer in altissima, ubi sapientia habitat, et multo delectabiliora reperies quam in omnibus ornatissimis voluminibus tuis.“ 53 Hierbei handelt es sich nicht um nachträgliche bzw. willkürliche Veranschaulichungen des Menschen, sondern um Spiegelungen des Allprinzips selbst (siehe auch die Anrede Gottes in De vis., c. 10 (h VI n. 41): „Tu me in limine ostii constitutum illustras, quia conceptus tuus est ipsa aeternitas simplicissima).“ 54 De sap. I (h 2V n. 8): „Dico autem, quod, sicut iam ante de unitate, uncia et petito dixi, ita de omnibus quoad omnium principium dicendum. Nam omnium principium est, per quod, in quo et ex quo omne principiabile principiatur, et tamen per nullum principiatum attingibile.“ 55 Siehe ebd. I (h 2V n. 7).
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Leichtigkeit mich nähre; andernfalls wird es wenig nützen, so viele hohe Betrachtungen von dir gehört zu haben. Laie: Es gibt keine leichtere Schwierigkeit als die göttlichen Dinge zu betrachten, wo das Ergötzen mit der Schwierigkeit zusammenfällt. Doch sag, was du wünschst. Redner: Daß du mir sagst, da doch Gott größer ist als daß er begriffen werden könnte56, wie ich von ihm einen Begriff bilden soll.“57
Der Redner charakterisiert die ‚göttlichen Dinge‘ deshalb als ,schwierig‘, da er sich des Ungenügens einer rational verantwortbaren Theologie, die die Anstrengung des Begriffs nicht scheut, angesichts des unbegreiflichen Mysteriums Gottes bewusst ist. Die ‚Leichtigkeit‘ des Laien besteht jedoch nicht darin, jeglichen Gottesbegriff als inadäquat abzuweisen und stattdessen Zuflucht bei einer rational nicht weiter verantworteten Religiosität zu suchen58, sondern die Aufmerksamkeit des Redners auf den transzendentalen Sinnhorizont jedes Begriffs zu lenken: „Redner: Wie soll ich dann einen genaueren Begriff bilden? Laie: Bilde den Begriff Genauigkeit, denn Gott ist die absolute Genauigkeit selbst.“59
Der Laie betont somit die Identität Gottes mit der ‚absoluten Genauigkeit‘, der sich jeder Begriff annähert, um das Begreifbare möglichst präzise begreifen zu können. Gerade darin, dass Gott als die jedem Begriff
56 Dies stellt wohl eine Abwandlung von Anselms Gottesbegriff aliquid, quo nihil maius cogitari possit (Prosl. 2) dar. 57 De sap. II (h 2V n. 28): „O vir desideratissime, adiuva impotentiam meam, ut in difficilibus, quae mentem transcendunt, quadam facilitate depascar, alioquin parum proderit tot altas a te audisse theorias. IDIOTA: Nulla est facilior difficultas quam divina speculari, ubi delectatio coincidit in difficultate. Sed quid optas dicito. ORATOR: Ut mihi dicas: Ex quo deus est maior quam concipi possit, quomodo de ipso facere debeam conceptum?” 58 So kann durchaus das Ende von Wittgensteins ‚Tractatus logicophilosophicus‘ interpretiert werden (siehe WITTGENSTEIN: Tractatus, 6.5227). 59 De sap. II (h 2V n. 29): „Orator: Quomodo tunc faciam praecisiorem conceptum? Idiota: Concipe praecisionem, nam deus est ipsa absoluta praecisio.“
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als Möglichkeitsbedingung60 zu Grunde liegende Begriffspräzision begriffen wird61, zeigt sich die absolut-singuläre Unbegreiflichkeit Gottes. Anhand der daran anschließenden Fragen des Redners nach präzisen Wesensbegriffen Gottes verdeutlicht der Laie die ‚Leichtigkeit‘62 seiner transzendentalen Methode63: „Laie: Sieh, wie leicht die Schwierigkeit in den göttlichen Dingen ist, so daß sie sich dem Fragenden immer selbst darbietet in der Weise, in der gefragt wird. Redner: Nichts, zweifellos, ist wunderbarer. Laie: Jede Frage über Gott setzt das Gefragte voraus, und man muß das zur Antwort geben, was in jeder Frage über Gott die Fragestellung vor-
60 Der Begriff ,Möglichkeitsbedingung‘ ist hier nicht rein logisch aufzufassen, da er den ontologischen Grund alles Begreifbaren bedeutet, d.h. aller begreifbaren Seienden, die dem Menschen in seiner aposteriorischen Welterfahrung begegnen. Unter Rekurs auf das erste Buch von ,Idiota de sapientia‘ spricht daher Kremer vom „Begriff für alle Begriffsbildungen (conceptionum conceptus), den ich im vorhinein schon haben muß, weil allein in ihm, wie Buch I derselben Schrift ausführt, jedes Erkenn- und Begreifbare erkannt und begriffen werden kann“ (KREMER: Jede Frage über Gott, S. 157). Insofern ist er „ontologischer Grund von allem Erschaffbaren, sodann aber auch […] gnoseologischer Grund für alles Erkennbare“ (ebd.). 61 Siehe De sap. II (h 2V n. 28): „Audisti, quomodo in omni conceptu concipitur inconceptibilis. Accedit igitur conceptus de conceptu ad inconceptibilem.“ 62 Álvarez-Gómez macht darauf aufmerksam, dass „die Leichtigkeit, von der hier die Rede ist, eine metaphysische Tragweite [hat], nicht nur sozusagen eine methodische. Sie will dem Sein des Gefragten entsprechen, das die unendliche Leichtigkeit selbst ist. […] Da Gott anderseits die absolute Unbegreiflichkeit (incomprehensibilitas absoluta) ist, fällt das schlechthin Unbegreifliche mit dem in jeder Hinsicht Leichtesten in eins zusammen“ (ÁLVAREZ-GÓMEZ: Die Frage nach Gott, S. 77). Demnach entspreche die theologische Leichtigkeit der ontologischen Einfachheit Gottes. Als ,an sich schwierig‘ bzw. ,kompliziert‘ lasse sich hingegen das Gegensätzliche und somit Vielfältige bezeichnen, das vom menschlichen Verstand (ratio) jedoch als ,für uns leicht‘ erfasst wird (siehe ebd., S. 77f.). 63 Álvarez-Gómez ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass es „sich nicht um einen transzendentalen Ansatz im Sinne Kants“ (ebd., S. 71) handelt. Davon bleibt jedoch der transzendentale Ansatz im Sinne Rahners unberührt (siehe Anm. 2).
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aussetzt. Denn Gott wird in jeder Bezeichnung von Begriffen bezeichnet, obwohl er unbezeichenbar ist.“64
So wie Rahner sich der absoluten Voraussetzung der Seinsfrage zuwendet, so thematisiert Cusanus den transzendentalen Grund der Gottesfrage. Dadurch gelingt es ihnen, die absolute Unbegreiflichkeit und Unvergleichbarkeit Gottes gegenüber allen gegenständlich Seienden metaphysisch aufzuweisen. Die cusanische ,Leichtigkeit‘ wird besonders im Vergleich mit den thomanischen ,Fünf Wegen‘65 deutlich, da die Frage nach der Existenz Gottes66 mittels einer singulären Reflexion auf deren absolute Voraussetzung anstelle fünffacher logischer Deduktionen aus pluralen Prämissen beantwortet wird67: „Laie: Wenn man dich also fragt, ob Gott ist, dann sag das, was vorausgesetzt wird, nämlich daß er ist, denn er ist die in der Frage vorausgesetzte Seinsheit.“68 64 De sap. II (h 2V n. 29): „IDIOTA: Vide, quam facilis est difficultas in divinis, ut inquisitori semper se ipsam offerat modo, quo inquiritur. ORATOR: Nihil indubie mirabilius. IDIOTA: Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum, et id est respondendum, quod in omni quaestione de deo quaesitio praesupponit, nam deus in omni terminorum significatione significatur, licet sit insignificabilis.“ Angesichts dieser cusanischen ‚Leichtigkeit‘ erweisen sich jegliche Gottesbeweise laut Claudia D’Amico als „estériles“ (D’AMICO: Nicolás de Cusa, S. 115). 65 Siehe STh I q.2 a.3 c. 66 Siehe De sap. II (h 2V n. 30): „[...] an sit deus, [...]“; sowie Thomas’ einleitende Frage zu den ,Quinque Viae‘: „An Deus sit“ (STh I q.2.). 67 Klaus Jacobi sieht den Unterschied zu den scholastischen Gottesbeweisen darin, dass bei Cusanus „[d]as Unendliche, Gott, […] nicht in der Weise des rationalen Fortschreitens erreicht werden [kann]. Es kann keinen ,discursus‘ zu Gott geben. Der Diskurs bleibt, auch wenn er endlos fortgesetzt wird, immer in der Dimension des Endlichen, […]“ (JACOBI: Die Methode, S. 220). Der Sprung vom Endlichen zum Unendlichen geschehe somit nicht „diskursiv-rational, sondern spekulativ-intellektual“ (ebd.). Abgesehen davon, dass der Laie die entscheidenden Einsichten dem Redner durchaus ,diskursiv-rational‘ vermittelt, widerlegt Haubst mit vielen cusanischen Belegstellen Jacobis etwas einseitige Position (siehe HAUBST: Theologie, S. 249-252). 68 De sap. II (h 2V n. 30): „IDIOTA: Cum ergo a te quaesitum fuerit, an sit deus, hoc quod praesupponitur dicito, scilicet eum esse, quia est entitas in
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Analog dazu erfolgt die Antwort des Laien auf die Frage nach der Wesenheit Gottes: „[Laie:] Ebenso wirst du, wenn jemand fragt, was Gott ist, weil diese Frage voraussetzt, daß es Washeit gibt, antworten, daß Gott die absolute Washeit selbst ist. Und so mit allem. Und in bezug darauf gibt es keine Bedenken. Denn Gott ist die absolute Voraussetzung von allem, was wie auch immer vorausgesetzt wird, so wie in jeder Wirkung die Ursache vorausgesetzt wird.69 Siehe also, Redner, wie leicht die theologische Schwierigkeit ist.“70
quaestione praesupposita.“ Jasper Hopkins merkt dazu kritisch an: „Wenn man also bezüglich der affirmativen Theologie einen Gottesbegriff bildet, dann muß man Gott als seiend begreifen. Die Frage, ob diesem Begriff etwas in der Wirklichkeit entspricht, bleibt dennoch, vom Blickpunkt der philosophischen Argumentation aus betrachtet, offen“ (HOPKINS: Glaube und Vernunft, S. 20). Zwei Punkte legen den Verdacht nahe, dass Hopkins einen zu stark kategorial geprägten Gottesbegriff zu Grunde legt: Zum einen behauptet Cusanus an dieser Stelle nicht, dass Gott ,als seiend zu begreifen‘ sei, sondern dass er vielmehr der transzendentale Seinsgrund selbst ist, von dem her wir überhaupt erst Seiendes als Seiendes begreifen können. Zum anderen ist unklar, was Hopkins an dieser Stelle mit ,etwas in der Wirklichkeit‘ meint. Gott ist Cusanus zufolge eben kein ,etwas‘, d.h. kein kontingentes Seiendes, sondern vielmehr die ,Wirklichkeit‘, die jedem ,etwas‘ sein jeweiliges Sein verleiht (siehe dazu De non aliud, c. 2 (h XIII p. 5,25-27) oder bereits De docta ign. I, c. 2 (h I p. 7,16-17)). Insofern stimme ich mit Wilhelm Duprés Feststellung überein: „Der denkende Mensch, der die Wirklichkeit erkennen möchte, ist, soweit er in der Tat erkennt, auf dem Weg zu Gott. Was darum in der Gotteserkenntnis gesagt wird, ist nicht ein Etwas in, neben oder über der Wirklichkeit der Dinge und der Welt, sondern diese Wirklichkeit selbst“ (DUPRÉ: Apriorismus oder Kausaldenken, S. 181). Noch prägnanter scheint mir Colomers Fazit zu sein: „Wenn man Gott als das Absolute verstanden hat, kann man sein Dasein nicht in Frage stellen“ (Diskussion zu COLOMER: Die Erkenntnismetaphysik, S. 225). 69 Kremer weist auf den Unterschied des hier von Cusanus verwendeten Begriffspaares ,Wirkung-Ursache‘ (effectus-causa) zu „dem auf dem Wirkung-Ursache-Schema beruhenden Kausalschluß“ (KREMER: Jede Frage über Gott, S. 171) hin. Während sich bei diesem die Ursache erst am Zielpunkt des Denkprozesses zeige, sei sie bei Cusanus bereits sein Ausgangspunkt (siehe ebd.). 70 De sap. II (h 2V n. 30): „Sic si quis quaesiverit quid est deus, cum haec quaestio praesupponat quiditatem esse, respondebis deum esse ipsam qui-
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Aus dem Bisherigen zieht der Laie zwei Schlussfolgerungen: (i) Es gibt auf die Gottesfrage keine „eigentliche […] Antwort“71, da sich in der Frage nach Gott bereits ihre Antwort findet, d.h. sie ist dem Fragenden – um mit Rahner zu sprechen – als transzendentaler Fragehorizont bekannt.72 Dadurch unterscheidet sie sich von allen anderen Fragen, die auf eine ihr fremde, unbekannte Antwort zielen.73 (ii) Darüber hinaus gibt es auf die Gottesfrage auch keine „genaue Antwort“74, da jeder begriffliche Antwortversuch stets hinter der absoluten Begriffspräzision, die Gott selbst in seiner singulären Unendlichkeit ist, zurück bleibt.75 Der Laie sieht in der Reflexion auf Gott als absolute Voraussetzung die beste Annäherung an die göttliche ,Leichtigkeit‘: „Laie: Wer mit mir sieht, daß die absolute Leichtigkeit zusammenfällt mit der absoluten Unbegreifbarkeit, kann nicht anders als dies mit mir zu bejahen.“76
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ditatem absolutam. Ita quidem in omnibus. Neque in hoc cadit haesitatio. Nam deus est ipsa absoluta praesuppositio omnium, quae qualitercumque praesupponuntur, sicut in omni effectu praesupponitur causa. Vide igitur, orator, quam facilis est theologica difficultas.“ Ebd. II (h 2V n. 31): „propria […] responsio.“ Haubst spricht im Hinblick auf die Gottesfrage davon, dass Frage und Antwort ,koinzidieren‘ (siehe HAUBST: Theologie, S. 247). Josef Stallmach betrachtet darüber hinaus die cusanische Gotteserkenntnis „nicht als kosmologische[n] Aufstieg des gegenstandsbezogenen, sondern als jene[n] noologische[n] Rückgang des auf sich selbst reflektierenden, sich selbst auslegenden Geistes“ (STALLMACH: Vernunft, S. 76). ÁLVAREZ-GÓMEZ: Die Frage nach Gott, S. 74, Anm. 63: „Nur der Frage nach Gott ist es eigen, in sich die Antwort zu bergen. Anderseits aber heißt das Fragen nach den Voraussetzungen jeder Frage, im Grunde nach Gott selbst zu fragen, da er die ,absoluta praesuppositio omnium‘ ist.“ De sap. II (h 2V n. 31): „[…] praecisa responsio […].“ Siehe ebd. II (h 2V n. 31). Ebd. II (h 2V n. 32): „IDIOTA: Qui mecum intuetur absolutam facilitatem coincidere cum absoluta incomprehensibilitate, non potest nisi id ipsum mecum affirmare.“
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Dies setzt jedoch voraus, dass affirmative Aussagen über Gott nicht ausgeschlossen werden. Demgegenüber würde die theologia negativa von Gott alles verneinen.77 Dabei ergibt sich jedoch wiederum die Schwierigkeit, dass man auf diese Weise nicht zur Erkenntnis dessen gelangt, „was Gott ist, sondern was er nicht ist.“78 Deshalb werden theologia affirmativa und theologia negativa von jener „Betrachtung von Gott“79 überwunden, die Gott jenseits von Affirmation, Negation und Kopula denkt: „[Laie:] Aber nach Maßgabe dessen, daß er [=Gott] über aller Setzung und Wegnahme ist, ist zu antworten, daß er weder ist, nämlich die absolute Seinsheit, noch nicht ist, noch beides zugleich, sondern darüber.“80
Der Redner prägt dafür den Begriff der theologia sermocinalis81: „Redner: Ich verstehe jetzt, daß du sagen willst, daß in der an die Rede gebundenen Theologie, das heißt wo wir über Gott sprachliche Äußerungen zulassen und die Bedeutung des Wortes durchaus nicht ausge-
Siehe ebd. II (h 2V n. 32). Ebd. II (h 2V n. 32): „ […] quid deus sit, sed quid non sit.“ Ebd. II (h 2V n. 32): „[...] consideratio de deo [...].“ Ebd. II (h 2V n. 32): „Sed secundum quod est supra omnem positionem et ablationem respondendum eum nec esse, absolutam scilicet entitatem, nec non esse nec utrumque simul, sed supra.“ 81 Haubst schildert die nominalistische Verengung der scientiae sermocinales (Logik, Grammatik und Rhetorik) im Spätmittelalter und stellt abschließend fest: „Cusanus geht es bei dem Stichwort theologia sermocinalis vollends um die Tragweite und den rechten Gebrauch des menschlichen Wortes für die Gotteserkenntnis […]“ (HAUBST: Theologie, S. 245f.). Peter J. Casarella vermutet auf Grund einiger Marginalien, dass Cusanus’ theologia sermocinalis darüber hinaus von Hugo von St. Viktors ,Didascalion‘, Abaelards ,Theologia scholarium‘, Albertus Magnus’ ,Summa Theologiae‘ und der ,Modistae‘ beeinflusst worden sein könnte (siehe CASARELLA: Language, S. 135). Des Weiteren macht Casarella auf eventuelle Einflüsse von Johannes Gersons ,De modis significandi‘ und ,De concordantia metaphysicae cum logica‘ sowie Lorenzo Vallas theologia rhetorica aufmerksam und belegt Cusanus’ offenkundige Abhängigkeit von Heymericus de Campos ,Tractatus problematicus‘ (siehe ebd., S. 135–138).
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schlossen wird, du dort das Zureichen von Schwierigem zur Leichtigkeit der Weise, über Gott wahrere Sätze zu bilden, gemacht hast.“82
Der heuristische Wert der theologia sermocinalis wird daraufhin vom Laien erklärt: „Laie: Gut hast du es erfaßt. Denn wenn ich dir den Begriff von Gott, den ich habe, zugänglich machen soll, muß meine Rede, wenn sie dir dienen soll, derart sein, daß ihre Wörter hindeutend sind, damit ich dich so in kraft der Wortbedeutung, die uns gemeinsam bekannt ist, zum Gesuchten führen kann. Gott aber ist es, der gesucht wird. Daher ist dies die an die Rede gebundene Theologie, durch die ich mich bemühe, dich durch die Wortbedeutung zu Gott zu führen auf die, soviel ich kann, leichtere und wahrere Weise.“83
Die theologia sermocinalis des Laien verbleibt somit im Rahmen der von Pseudo-Dionysius Areopagita inspirierten theologia mystica und erweist sich als konkreter Weg des Redners zu Gott. Insofern stimme ich Peter J. Casarellas’ Schlussfolgerungen aus der gerade zitierten Rede des Laien vorbehaltlos zu: „On the one hand, by admitting the meaning of words, he [=the layman] binds theology to language, more precisely, to language which is readily accessible to all. Alternatively, theology is also bound to lead the interlocutor through the meaning of the word to God, a task which is avowedly speculative under the ministrations of Cusanus’ Neoplatonic theology of the Word.“84
82 De sap. II (h 2V n. 33): „ORATOR: Intelligo nunc te dicere velle, quod in theologia sermocinali, scilicet ubi de deo locutiones admittimus et vis vocabuli penitus non excluditur, ibi sufficientiam difficilium in facilitatem modi de deo propositiones veriores formandi redegisti.” 83 Ebd. II (h 2V n. 33): „IDIOTA: Bene cepisti. Nam si tibi de deo conceptum, quem habeo, pandere debeo, necesse est, quod locutio mea, si tibi servire debet, talis sit, cuius vocabula sint significativa, ut sic te lucere queam in vi vocaboli, quae est nobis communiter nota, ad quaesitum. Deus est autem qui quaeritur. Unde haec est sermocinalis theologia, qua nitor te ad deum per vim vocabuli ducere modo quo possum faciliori et veriori.“ 84 CASARELLA: Language, S. 133f.
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Abschließender Ver gleich Rahner und Cusanus ist gemeinsam, dass sie die anthropologische Relevanz85 ihrer metaphysischen Erörterungen aufweisen. Während Rahners Argumentationsgang in ,Hörer des Wortes‘ als Thematisierung des vorphilosophischen Seinsverständnisses auf seine transzendentale Möglichkeitsbedingung hin angesehen werden muss, wählt Cusanus als Ausgangspunkt von ,Idiota de sapientia‘ das menschliche Streben nach Weisheit, das sich in der Schau des absolut-singulären Prinzips hinter bzw. über allen von ihm bedingten pluralen Phänomenen vollendet. Beide Denker betonen die der metaphysischen Suchbewegung vorgängige Offenbarkeit des absoluten Prinzips.86 Die Suchbewegung selbst erfolgt zunächst ohne expliziten Rekurs auf den Gottesbegriff als genuin philosophische Annäherung an den Grund alles Seienden. Im ,Grundkurs des Glaubens‘ definiert Rahner die menschliche Gotteserkenntnis als „[t]ranszendental[] und aposteriorisch[]“87: ,Aposteriorisch‘ insofern, als das In-der-Welt-Sein eines freien Subjekts konstitutiv für die Erkenntnis Gottes ist. ,Transzendental‘ insofern, als der Mensch in Erkenntnis und Freiheit immer schon unthematisch auf Gott als das ,absolute Geheimnis‘ ausgerichtet ist.88 Dieser Definition würde wohl auch Cusanus zustimmen,89 wenngleich seine Philosophie primär durch den Begriff der symbolica investigatio zu charakterisieren ist.90
85 Siehe De sap. I (h 2V n. 5); Rahner, Hörer des Wortes, S. 56. 86 Siehe De sap. I (h 2V n. 4); Rahner, Hörer des Wortes, S. 58. Dass diese der menschlichen Vernunft zugängliche ,Offenbarkeit‘ Gottes von der neuzeitlichen Vorherrschaft des objektivierenden Verstandes verdunkelt ist, zeigt Stallmach (siehe STALLMACH: Vernunft, S. 74). 87 RAHNER: Grundkurs, S. 55. 88 Siehe ebd., S. 55f. 89 Auch wenn Klaus Kremer Cusanus einen „apriorischen Weg zur Gotteserkenntnis beschreite[n]“ (KREMER: Jede Frage über Gott, S. 150) lässt, steht diese Aussage nicht im Widerspruch zur vorhin genannten transzendental-aposteriorischen Methode, da Kremer ausdrücklich darauf hinweist, „daß dieses apriorische Wissen um die göttliche Weisheit nur in Verbindung mit der Weltbegegnung zur Erkenntnis der göttlichen Weisheit führt“ (ebd.). Insofern entspricht der Kremersche Begriff ‚apriorisch‘ wohl dem Rahnerschen Begriff ,transzendental‘.
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Ein grundlegender Unterschied zwischen Rahner und Cusanus besteht in der mangelnden Kontextualisierung der menschlichen Seinsfrage in ,Hörer des Wortes‘. Peter Eicher vermisst an Rahners Ansatz zu Recht die dialogische Dimension, da „das im wirklichen Vollzug genetisch primäre Jemanden-etwas-fragen […] eingeengt [wird] auf das Etwas fragen, so dass das Du von allem Anfang an aus der denkenden Bewegung herausgenommen wird.“91 Cusanus entgeht dieser Kritik bereits durch den dialogischen Aufbau der Schrift ‚Idiota de sapientia‘, in der sowohl die Rolle des fragenden Ich als auch diejenige des „[a]ngefragten“92 Du besetzt sind.93 Anders als Rahner, der gleich zu Beginn von ‚Hörer des Wortes‘ auf die absolute Voraussetzung der Seinsfrage reflektiert94, wird die absolute Voraussetzung der Gottesfrage vom cusanischen Laien erst zu Beginn des zweiten Buches des Dialogs erörtert.95 Diese Erörterung erfolgt nicht losgelöst vom Gesprächskontext, sondern als Antwort auf die Frage des Redners nach der Möglichkeit eines adäquaten Gottesbegriffs angesichts der Unbegreiflichkeit Gottes. Die Frage des Redners ist wiederum insofern kontextabhängig, als er dabei an das Gespräch des ersten Buches anknüpft, in dem das darin aufgewiesene Allprinzip mit Gott identifiziert wird96, und zugleich das Ungenügen der konventionellen Gottesbegriffe empfindet. Cusanus’ transzendentale Reflexion auf die absolute Voraussetzung der Gottesfrage in ‚Idiota de sapientia‘ ist im Gegensatz zu Rahners transzendentalem Ansatz in ‚Hörer des Wortes’ lediglich ein Abschnitt auf dem Weg zum vollkommenen ‚Verkosten‘97 der göttlichen Weis90 Vgl. De docta ign. I, c. 12 (h I p. 24,15). Siehe auch JACOBI: Die Methode, S. 204-214. D’Amico bezeichnet die symbolische Dimension der pluralen Welt gemäß dem ersten Buch von ‚Idiota de sapientia‘ als „transferencia“ (D’AMICO: Nicolás de Cusa, S. 112). Zu Rahners von Cusanus abweichendem Symbolbegriff siehe RAHNER: Zur Theologie des Symbols, S. 427. 91 EICHER: Die anthropologische Wende, S. 154. 92 Ebd., S. 156. 93 Neben ,Idiota de sapientia‘ besitzen auch viele andere cusanische Schriften dialogischen Charakter, von denen insbesondere das Werk ,De visione Dei‘ zu nennen ist (siehe bes. ab De vis., c. 4 (h VI n. 9)). 94 Siehe RAHNER: Hörer des Wortes, S. 52-72. 95 Siehe De sap. II (h 2V n. 28). 96 Siehe ebd. I (h 2V n. 21). 97 Der Laie leitet den Begriff ,Weisheit‘ (sapientia) von ,schmecken‘ (sapere) ab (siehe ebd. I (h V n. 10)) und stellt fest, dass die menschliche Vernunft
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heit. Dieser Abschnitt bezeugt das cusanische Ringen, wie die menschliche Sprache trotz der Unaussprechlichkeit Gottes als dialogische Hinführung zur persönlichen Begegnung mit der ewigen Weisheit legitimiert werden kann. Insofern bleibt bei Cusanus die theologia sermocinalis stets im Dienst der theologia mystica.
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HAUBST, RUDOLF, Streifzüge in die cusanische Theologie, Münster 1991. DERS., Theologie in der Philosophie - Philosophie in der Theologie des Nikolaus von Kues (mit Diskussion), in: Nikolaus von Kues in der Geschichte des Erkenntnisproblems. Akten des Symposions in Trier vom 18. bis 20. Oktober 1973, hg. von DERS., (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft Bd. 11), Mainz 1975, S. 233-273. HEIDEGGER, MARTIN, Sein und Zeit, (1927) in: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 2, Frankfurt am Main 1977. HEINZMANN, RICHARD, Philosophie des Mittelalters, (Grundkurs Philosophie Bd. 7), 2. Aufl., Stuttgart 1998. HOPKINS, JASPER, Glaube und Vernunft im Denken des Nikolaus von Kues. Prolegomena zu einem Umriß seiner Auffassung, (Trierer Cusanus Lecture Heft 3), 2. Aufl., Trier 2008. JACOBI, KLAUS, Die Methode der cusanischen Philosophie, (Symposion 31), Freiburg u. a. 1969. KNOEPFFLER, NIKOLAUS, Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft, (Innsbrucker theologische Studien Bd. 39), Innsbruck u. a. 1993. KREMER, KLAUS, Nikolaus Cusanus. „Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte voraus“ (Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum), in ders.: Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004, S. 147-178. MUCK, OTTO, Thomas – Kant – Maréchal: Karl Rahners transzendentale Methode, in: Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners, (Quaestiones disputatae Bd. 213), Freiburg 2005, S. 31-56. RAHNER, KARL, Sämtliche Werke. Hg. von der Karl-Rahner-Stiftung unter Leitung von Karl Kardinal Lehmann, Johann Baptist Metz, Karl-Heinz Neufeld, Albert Raffelt und Herbert Vorgrimmler. DERS., Geist in Welt, (1939), in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Geist in Welt. Philosophische Schriften, bearb. von Albert Raffelt, Freiburg u. a. 1996. DERS., Grundkurs des Glaubens: Einführung in den Begriff des Christentums, (1976), in: Sämtliche Werke, Bd. 26, Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, bearb. von Nikolaus Schwerdtfeger und Albert Raffelt, Freiburg u. a. 1999.
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Nikolaus von Kues im Kontext der Moderne-Kritik der Radical Orthodoxy DOMINIK WEISS Mit meinen Überlegungen möchte ich Nikolaus von Kues in Bezug setzen zu den Arbeiten einer Gruppe englischsprachiger Autoren, die unter dem Schlagwort Radical Orthodoxy in den letzten 20 Jahren für Diskussionen gesorgt haben. Ich werde in drei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich die entscheidenden modernekritischen Thesen der Radical Orthodoxy vorstellen. Dann will ich etwas darüber sagen, welche Einordnung der Cusaner in den Werken dieser Autoren erfährt. Schließlich werde ich die Frage stellen, ob diese Einordnung sich auf die Texte des Nikolaus von Kues stützen kann.1
Was ist Radical Orthodoxy? Radical Orthodoxy ist zunächst der Name einer Buchreihe im Londoner Routledge-Verlag, begründet und herausgegeben von den anglikanischen Theologen John Milbank, Catherine Pickstock und Graham Ward. Unter dem Titel Radical Orthodoxy wurden in dieser Reihe in den letzten Jahren theologische und philosophische Thesen zur Diskussion gestellt, die im englischsprachigen Raum sehr kontrovers debattiert
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Dabei kann und will dieser Aufsatz nicht mehr sein als eine erste Skizzierung dieser Thematik. Ich beabsichtige, die Fragestellung im Rahmen einer Dissertation ausführlich zu bearbeiten.
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wurden.2 Eine programmatische Grundlegung dieser Thesen erfolgte 1990 durch John Milbanks Monographie Theology and Social Theory. Neben den anglikanischen Begründern der Buchreihe umfassen die Autoren auch katholische und reformierte Theologen sowie Philosophen. Wenn man die Radical Orthodoxy in die gegenwärtige theologische Landschaft einordnen will, dann muss man sie als Teil einer Bewegung hin zu einer postliberalen Theologie verstehen, die sich bewusst von einer unkritischen Aufnahme von Prämissen eines modern-säkularen Wissenschaftsverständnisses durch eine liberal-moderne Theologie absetzt. Deutliche inhaltliche Parallelen finden sich dabei in der Ressourcement-Bewegung des 19. und 20. Jh. (u.a. J.H. Newman, H.U. v. Balthasar, H. de Lubac): Hier wie dort findet eine konsequente Rückbesinnung auf vormoderne Autoren statt (Kirchenväter, v.a. Augustinus; Thomas v. Aquin in Absetzung von seinen barockscholastischen und neuscholastischen Interpreten). Der erste und für John Milbanks Denken programmatische Satz in Theology and Social Theory lautet: „Once, there was no secular.“3 Einst gab es kein Säkulares, keine säkulare Wirklichkeit. Säkularismus wird von Milbank nicht verstanden als kritisch-negatives Projekt einer Desakralisierung der Wirklichkeit und Freilegung einer neutral-objektiven Weltsicht. Säkularismus ist für ihn vielmehr selbst eine bestimmte, partikulare Weltsicht, die von nicht eingestandenen theologischen Prämissen ausgeht, die er in Theology and Social Theory in detaillierten Untersuchungen aufzuweisen versucht. Theologie hat, so die Konsequenz, die Prämissen einer säkularen Weltsicht nicht als gegeben zu akzeptieren, sondern vielmehr eine Beschreibung der ganzen Wirklichkeit sub ratione Dei zu leisten. Was die Autoren der Radical Orthodoxy verbindet, ist die These von einer bestimmten Genealogie der Moderne, nach der die Wurzeln des modernen Denkens nicht etwa in der Aufklärung, sondern im Spätmittelalter liegen. Das Denken des Johannes Duns Scotus wird dabei als der entscheidende Bruch mit den Grundannahmen mittelalterlicher Orthodoxie betrachtet, und zwar aus zwei Gründen.
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Als Einführung in die Denkschule der Radical Orthodoxy eignen sich besonders SMITH: Introducing Radical Orthodoxy; MILBANK/OLIVER: The Radical Orthodoxy Reader. MILBANK: Theology and Social Theory, S. 9.
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Bei Duns Scotus löst ein univokes Seinsverständnis die Vorstellung von der analogia entis ab. Gott wird dadurch prinzipiell zu einem Seienden neben anderen Seienden. Als Folge dessen wird die Wirklichkeit auch ohne Gott denkbar.4 Außerdem rückt im Voluntarismus, der durch Scotus in die Franziskanerschule eingeführt wird, die Kategorie Macht ins Zentrum der Wirklichkeit und lässt Religion (und in deren Gefolge Ethik und Politik) zu einer Angelegenheit von Wille und Affekt werden. Der Weg zu einer Verinnerlichung und Privatisierung von Religion scheint damit vorgezeichnet. Dass diese Charakterisierung des skotischen Denkens nicht etwa exotisch ist, belegt ein Zitat aus dem einschlägigen LthK-Artikel von Karl Balic: „Wenn der Primat des Seins im gnoseolog. od. metaphys. Bereich bezeichnend für die skotistische Philosophie ist, so ist der Primat des Willens die Besonderheit der Ethik des D.S.“5
Mit der kritischen Freilegung der theologiegeschichtlichen Wurzeln der Moderne und der bewussten Absetzung vom modern-säkularen Denken verfolgen die Autoren der Radical Orthodoxy nun allerdings kein neokonservatives Projekt eines einfachen Zurück. Ihre Frage ist vielmehr, ob die positiven Anliegen der Moderne nicht auch in einer stärkeren Kontinuität zu antiker und mittelalterlicher christlicher Orthodoxie realisierbar gewesen wären (unter Umgehung der folgenschweren Entwicklungen hin zu privatisierter Religiosität, Macchiavellismus, nationalstaatlicher Militanz, kapitalistischer Ökonomie und marxistischem Sozialismus als deren Spiegelbild) bzw. wie ein solches Projekt einer anderen Moderne heute anzugehen wäre. In Texten der Radical Orthodoxy tauchen immer wieder Repräsentanten dieser „anderen Moderne“ auf, so z.B. B. Pascal, S. Kierkegaard, G.K. Chesterton – und Nikolaus von Kues.
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Diese Aussage impliziert keinesfalls, Duns Scotus habe intendiert, Gott zu einem Seienden neben anderen herabzustufen. Allerdings, so zumindest die Deutung der Radical Orthodoxy, ist es die logische Konsequenz eines univoken Seinsverständnisses, dass Schöpfer und Geschöpf nun zwar einen unendlichen quantitativen Abstand haben können, qualitativ aber auf der selben Stufe der Wirklichkeit stehen. BALIC: Duns Scotus, Sp. 604.
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Nikolaus von Kues im Kontext der Radical Orthodoxy Welche Rolle spielt nun Nikolaus von Kues für die Radical Orthodoxy? Zunächst einmal keine ganz große. Die entscheidenden Bezugsgrößen für Milbank, Pickstock, Ward und ihre Mitstreiter sind Augustinus und Thomas. Bei einer genaueren Beschäftigung mit der Materie taucht dann aber doch der Name des Cusaners immer wieder auf, so z.B. in der Einleitung zur zweiten Auflage von Theology and Social Theory und an anderen verstreuten Stellen. Interessant ist, dass auf den Kusaner dabei durchgehend zustimmend Bezug genommen wird. Cusanus habe demnach die „Protomodernität“ der Franziskanerschule kritisiert. Die Radikalität seines Denkens bestehe bei genauer Betrachtung in einer radikalen Verteidigung orthodoxer Positionen. Er befinde sich in essentieller Kontinuität zur klassischen mittelalterlichen Theologie.6 Er habe dem zentralen Stamm des mittelalterlichen Exemplarismus neue Einsichten eingepfropft und ihm dadurch neues Leben verliehen. 7 Zugleich – und auch hier zeigt sich, dass Milbank keinem prinzipiellen Neokonservatismus huldigt – werde bei Cusanus deutlich, dass eine Wiederaneignung mittelalterlicher Theologie nach der Renaissance nicht ohne Reflexion auf den Gedanken kreatürlicher Freiheit auskommen könne.8 Cusanus wird so zu einem prominenten Beispiel, wie parallel zur säkularen Moderne und zu einer in ihren Spuren folgenden liberalen Theologie eine „andere Moderne“ als innovative Fortschreibung vormodernorthodoxer Theologie wirksam geblieben ist. Neben diesen zahlreichen verstreuten Bezügen widmet ein Autor der Radical Orthodoxy, Robert Miner, in seiner Monographie Truth in the Making dem Kusaner ein eigenes Kapitel, in dem er zu zeigen versucht, dass die in Idiota de mente entwickelte Sicht auf die Kreativität des menschlichen Geistes viel näher bei Thomas als bei Hobbes, Bacon oder Descartes angesiedelt ist.9
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MILBANK: Man as Creative and Historical Being, S. 257. Ebd., S. 246. Ebd., S. 257. Siehe MINER: Truth in the Making.
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Nikolaus von Kues und mittelalterliche Orthodoxie: Kontinuität in Eigenständi gkeit Im Folgenden werde ich die von der Radical Orthodoxy vorgeschlagene Genealogie der Moderne als Arbeitshypothese akzeptieren und anhand ausgewählter Texte des Cusaners versuchen, ihn in diese Genealogie einzuordnen und damit einen Beitrag zur Frage nach seiner vermeintlichen Modernität zu leisten. Wenn man von den geistesgeschichtlichen Grundannahmen der Radical Orthodoxy ausgeht, ist eine zentrale Frage für die Einordnung des cusanischen Denkens die, ob sein metaphysisches Denken in stärkerer Nähe zum univoken Seinsverständnis von Duns Scotus u.a. oder zur klassischen Vorstellung von der analogia entis steht. Dem Begriff nach spielt die analogia entis zwar erst bei E. Przywara eine entscheidende Rolle, der Sache nach aber hat sie eine zentrale Bedeutung u.a. für das Denken Thomas von Aquins. Das analoge Seinsverständnis geht davon aus, dass Sein im ursprünglichen Sinn nur Gott zukommt. Das Geschaffene hat Sein nur dadurch, dass es am göttlichen Sein partizipiert. Dazu einige Belege aus De principio, wo Nikolaus im 6. Kapitel das Problem von Einheit und Vielheit diskutiert. Alle Vielheit, so Cusanus, partizipiert am Einen. Die gegenteilige Behauptung würde in eine Antinomie führen: Dinge, die nicht an Einem teilhaben, sind einander unähnlich. Zugleich wären sie aber einander darin ähnlich, dass sie nicht an Einem teilhätten.10 „Aus demselben Grund ist offenbar, dass es, abgetrennt vom Einen, keine Mehrheit von Seiendem gibt. Weil sie nämlich nicht am Einen teilhätten (quando enim non participarent uno), wären sie zugleich, ein und für allemal und in derselben Hinsicht ähnlich und unähnlich.“11 „Es wird also keine Mehrheit von durch sich Eigenständigen geben. Daher sind die vielen Erschaffenen vom durch sich Eigenständigen das, was sie sind. Sie haben also am Einen teil, weil das Viele nicht sein
10 Siehe De principio (h X/2b n. 6). 11 De principio (h X/2b n. 7).
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kann ohne das Eine, an dem es teilhat (participant ergo uno, cum plura sine uno, quo participent, esse nequeant)“.12 „Der eine Ursprung, der allen Dingen das Eigenständigsein gibt, ist nicht anders als sie oder mit ihnen identisch (nun aliud aut idem), sondern ist hoch über sie erhaben, weil er sie überragt (superexaltatum per eminentiam). Und der Schöpfer ist in allem, was er geschaffen hat, nicht mit seinem Geschöpf identisch, wie auch die Ursache nicht mit dem Verursachten identisch ist, aber er ist nicht so weit entfernt, dass er etwas anderes wäre; es müsste sonst nämlich für ihn und das Geschöpf, die dann eine Anzahl bildeten, irgendeinen Ursprung geben, weil die Einheit Ursprung jeder Vielheit ist, und so wäre der erste Ursprung nicht der erste Ursprung.“13
Ausdrücklich zielt Cusanus in seinem Seinsdenken auf einen Mittelweg zwischen Äquivozität (identisch/idem) und Univozität (anders/aliud). Dieser dritte Weg ist der der Analogie. Außerdem benennt Cusanus explizit ein entscheidendes Problem der Univozität: Wenn dem Schöpfer und dem Geschöpf Sein in gleicher Weise zukäme, wäre das Sein selbst als Schöpfer und Geschöpf vorgeordnete Größe der eigentliche Ursprung – und nicht der Schöpfer. Die Beobachtung der zentralen Stellung der Größen Analogie und Teilhabe deckt sich mit dem Ergebnis von Michael Thomas in seiner Monographie Der Teilhabegedanke in den Schriften und Predigten des Nikolaus von Kues, der allerdings ergänzend darauf hinweist, dass bei Nikolaus die Teilhabe wegen einer grundsätzlichen Nichtpartizipierbarkeit Gottes nur durch eine vorausgehende aktive Teilgabe Gottes möglich wird. „Nikolaus von Kues stellt sich grundsätzlich in die platonisch-neuplatonische Methexis-Tradition. […] Letztlich […] bewirkt der aktive dynamische göttliche Grund selbst in seiner Teilgabe das geschöpfliche Sein als Teilhabe, die wesentlich Hinordnung, Rückbezug auf den Ursprung ist […]. Ist mithin Welt als Teilhabe an Gott, stellt die Struktur der Teilhabe die Ordnung der Welt dar.“14
12 De principio (h X/2b n. 25). 13 De principio (h X/2b n. 38). 14 THOMAS: Teilhabegedanke, S. 2.
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„Das Verursachte bleibt als Teilhabendes in seiner defizienten Seinsweise (esse per participationem) hinter seiner Ursache als Teilgehabtem und somit Fülle seiner Wirklichkeit (esse per essentiam) zurück […] In dieser Hinordnung des Endlichen auf das Unendliche liegt die Möglichkeit einer Analogie des Seins [...]. Der eine alles umfassende in sich ruhende schöpferische Grund, der das aus ihm Hervorgehende in Ähnlichkeit zu sich gründet, ist in unumkehrbarer Transzendenz allem Endlichen als oberste Ursache vorgeordnet.“15
Sein kommt also bei Cusanus wie auch beim Aquinaten und anders als bei Duns Scotus dem Schöpfer und dem Geschöpf auf analoge Weise zu, nämlich so, dass das Geschöpf am Sein des Schöpfers partizipiert. Die Vielheit der Dinge kann für Cusanus ohne diese Teilhabe schlechterdings kein Sein haben, ist ohne diese Teilhabe gar nicht denkbar. Eine säkulare Konstruktion von Wirklichkeit, die sich auf Nikolaus beruft, muss dieses zentrale Element im Denken des Cusaners ignorieren. Wie schon erwähnt, findet sich eine ausführlichere Beschäftigung mit Cusanus in der Radical Orthodoxy-Reihe in Robert Miners Beitrag Truth in the Making. Miner untersucht in dieser Monographie die Entwicklung der Vorstellung von der menschlichen Erkenntnis als schöpferischer Tätigkeit. Ist Cusanus in dieser Frage ein Vorreiter von Bacon, Descartes und Hobbes? Miners Urteil: „Ohne Cusanus ތrelative ,Modernität‘ im Vergleich zum Aquinaten zu bestreiten, werden wir behaupten, dass das, was Cusanus interessant macht, nicht seine Rolle darin ist, diesen oder jenen späteren Philosophen vorwegzunehmen […], sondern seine Fähigkeit, menschliches Machen in den Rang des Schöpferischen zu erheben und zugleich dem thomistischen Rahmen metaphysischer Analogie treu zu bleiben.“16
Schon bei Thomas ist menschliches Tätigsein zwar als verschieden von der Schöpfung, aber nicht als getrennt von ihr zu verstehen. Aufgrund der analogia entis ist auch menschliches Tun eine Weise der Teilhabe am Göttlichen. Cusanus geht in Idiota de mente über Thomas hinaus, indem er dem menschlichen Geist schöpferische Tätigkeit zuschreibt, 15 Ebd., S. 130–132. 16 MINER: Truth in the Making, S. xiv (eigene Übersetzung).
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bleibt aber der Überzeugung treu, dass menschliches Sein am göttlichen Sein, menschliches Tätigsein am Tätigsein des Schöpfers, teilhat. „Daher ist alles, was in der absoluten Kunst in voller Wahrheit enthalten ist, in unserem Geist als dem Bild wahr enthalten.“17 „So hat jeder Geist, auch der unsrige, obgleich er niedriger erschaffen ist als alle anderen, von Gott, dass er in der Weise, in der er kann, vollkommenes und lebendiges Bild der unendlichen Kunst ist. […] So hat unser Geist, wenn er auch zu Beginn der Erschaffung keinen tatsächlichen Widerschein der Schöpferkunst in Dreiheit und Einheit enthält, dennoch jene anerschaffene Kraft, durch die er sich, einmal angeregt, der Wirklichkeit der göttlichen Kunst gleichförmiger machen kann.“18
Der menschliche Geist hat Teil am göttlichen Geist als sein Bild. Späteres Denken (Bacon, Descartes, Hobbes) versteht die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes unabhängig von seiner Teilhabe am göttlichen schöpferischen Geist. Als drittes und letztes Problemfeld möchte ich noch kurz auf Cusanus’ Stellung zum Voluntarismus, wie er durch die Franziskanerschule für das moderne Denken prägend wird, eingehen. Voluntarismus „ist B[egriff] für jene Lehren, die in einem von einem rezeptiven Intellekt absolut unterschiedenen produktiven Willen das ausschließliche oder maßgebliche Prinzip des Wirkens, Geschehens u. Seins in der Seele des Menschen bzw. im Kosmos sehen.“19 Als theologische Konsequenz verlagert sich im Voluntarismus auch die Gottesfrage vom Intellekt auf den Willen. Das Problem der Unerkennbarkeit des Unendlichen (für den rezeptiven Intellekt) spielt bekanntlich auch bei Cusanus eine entscheidende Rolle: „Da das schlechthin und absolut Größte, dem gegenüber es kein Größeres geben kann, zu groß ist, als dass es von uns begriffen werden könnte – ist es doch die unendliche Wahrheit -, so erreichen wir es nur in der Weise des Nichtergreifens. Da es nämlich nicht zu den Dingen gehört,
17 De mente (h 2V n. 148). 18 De mente (h 2V n. 149). 19 AUER: Voluntarismus, Sp. 870.
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die ein Mehr oder Weniger zulassen, steht es über allem, was durch uns begriffen werden kann.“20
Diese Einsicht führt Cusanus aber nicht zu voluntaristischen Konsequenzen wie der Verlagerung der Frage nach Gott auf den Willen oder den Affekt. Bei Cusanus gibt es keinen „Escapismus des Begriffs“, wie Werner Beierwaltes betont: „[Einem] Escapismus des Begriffs [...] gliche ein Schweigen von Anfang an, ungebrochen einer ihm immanenten Forderung folgend, das Absolute müsse unmittelbar ‚gesehen’ werden, also ohne voraufgehende Reflexion, die sich dann selbst überstiege.“21
Die Ferne zum Voluntarismus zeigt sich auch darin, dass im Zitat aus De docta ignorantia Gott trotz – oder wegen - seiner Unerkennbarkeit als „unendliche Wahrheit“ bezeichnet wird, nicht etwa als unendlicher Wille oder unendliche Liebe. So konstatiert auch Klaus Kremer: „Im Unterschied zu der heute vielfach eingenommenen Position, dass der Glaube der einzige Zugangsweg zu Gott sei, ist es für Cusanus fast selbstverständlich, auch die Vernunft den Weg zu Gott finden zu lassen. Ja, Gott ist sogar ihr eigentümliches ,Objekt'. Allein die Vernunft, trägt der Laie in De sapientia vor, ist geeignet, sich zum Geschmack der Weisheit zu erheben.“22
Das soll noch durch ein Originalzitat aus De sapientia belegt werden: „Sie [die ewige und unendliche Weisheit] ist nämlich das geistige Leben der Vernunft (vita spiritualis intellectus), die in sich einen gewissen naturgegebenen Vorgeschmack hat, durch den sie mit großem Eifer nach der Quelle ihres Lebens sucht. […] Daher bewegt sich die Vernunft zu der Weisheit hin als zu ihrem eigentlichen Leben.“23
20 De docta ign. I, c. 4 (h I p. 10 [n. 11]). 21 Zitiert nach FISCHER: Zur philosophischen Struktur des Cusanischen Denkens, S. 33, Anm. 28. 22 KREMER: Praegustatio naturalis sapientiae, S. 195. 23 De sap. I (h 2V n. 11).
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Gott als unendliche Weisheit und unendliche Wahrheit bleibt der Vernunft unabweisbar aufgegeben – auch wenn ihre Suche auf dem Weg der docta ignorantia verläuft. „Das Unberührbare wird auf nicht berührende Weise berührt (attingitur inattingibile inattingibiliter).“24 Ein Überstieg in den Voluntarismus findet nicht statt.
Fazit Als Fazit meiner Überlegungen möchte ich festhalten, dass die Radical Orthodoxy eine zumindest diskussionswürdige Genealogie der Moderne bietet. Nikolaus von Kues nimmt in dieser Genealogie eine interessante Stellung ein: Er steht, wie ich anhand von drei ausgewählten Feldern zu zeigen versucht habe, in inhaltlicher Kontinuität zur klassischen, vornominalistischen mittelalterlichen Theologie, reagiert aber zugleich originell und kreativ auf die veränderte geistesgeschichtliche Situation der anhebenden Moderne. Wenn diese Deutung richtig ist, könnte sich Cusanus als wichtiger Impulsgeber für das Projekt einer postliberalen Theologie erweisen. Dabei könnte er auch gegenüber der Radical Orthodoxy selbst als Korrektiv fungieren, indem die Beschäftigung mit ihm die dort eher unterrepräsentierte Tradition apophatischer Theologie stärker ins Spiel bringen könnte.
Literatur AUER, JOHANN, Art. „Voluntarismus“, in: LthK II/10, Sp. 870-872. BALIC, KARL, Art. „Duns Skotus“, in: LthK II/3, Sp. 603-605. FISCHER, NORBERT, Zur philosophischen Struktur des Cusanischen Denkens. Überlegungen zu De docta ignorantia, in: Theologie und Glaube 91 (2001), S. 24-42. KREMER, KLAUS, Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004. MILBANK, JOHN, Man as Creative and Historical Being in the Theology of Nicholas of Cusa, in: The Downside Review 97 (1979), S. 245-257.
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24 De sap. I (h V n. 7).
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MILBANK, JOHN, Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford 1990. MILBANK, JOHN/OLIVER, SIMON (Hg.), The Radical Orthodoxy Reader, London 2009. MINER, ROBERT C., Truth in the Making. Knowledge and Creation in Modern Philosophy and Theology, London 2003. NIKOLAUS VON KUES, Philosophisch-Theologische Werke, Hamburg 2002. SMITH, JAMES K. A., Introducing Radical Orthodoxy. Mapping a Postseular Theology, Grand Rapids 2004. THOMAS, MICHAEL, Der Teilhabegedanke in den Schriften und Predigten des Nikolaus von Kues. 1430-1450 (Buchreihe der CusanusGesellschaft 12), Münster 1996.
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Wahrheit als Geschehen – strukturelle Verbindungen im Denken von Nikolaus von Kues und Martin Heidegger SUSAN GOTTLÖBER „Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit […] blickt in das Eine hinaus, was jede ,Wahrheit‘ überhaupt als Wahrheit auszeichnet.“1
Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit gehört neben der Frage nach dem Wesen von Sein zweifelsohne zu den zentralen Problemstellungen, die die Philosophie seit ihrer Entstehung beschäftigt haben. Schon damit zeigt sich, dass die Fragestellung – im Gegensatz zu den auf sie gegebenen Antworten – keinem bestimmten kulturellen oder auch Zeitindex zu unterliegen scheint. Im Gegenteil: Schon anhand der Problematik lassen sich über kulturelle und historische Grenzen hinweg Brücken schlagen und die Entwicklungen bestimmter philosophischer Problematiken ablesen. Bis in die Gegenwartsdiskussionen kann man in den geistesgeschichtlichen Debatten zwei Grundverständnisse von Wahrheit freilegen, die immer wieder die Diskussion bestimmt haben: zum einen die Frage nach Wahrheit in ihrer ontologischen Bedeutung als Seinswahrheit gelesen, zum anderen im Sinne der Korrespondenztheorie, i.e. eine Aussage stimme mit der Sache überein. Es ist diese Doppeldeutigkeit,
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HEIDEGGER: Vom Wesen der Wahrheit, S. 5.
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die im berühmten thomistischen Credo adaequatio rei et intellectus ihren Ausdruck findet.2 Grundlegend bleibt Wahrheit als Stimmigkeit – als Übereinstimmung.3 Schon in der näheren Wesensbestimmung sieht man sich dann allerdings konträren Positionen gegenüber: Die Ontologie betreffend wird wahres Sein entweder als unveränderlich4 oder als dynamisch5 verstanden, Aussagen betreffend als dialektisch erarbeitet und demzufolge als Annäherung oder intuitiv und damit präzise erfassbar bestimmt.6 Aber wie auch immer diese Bestimmungen im Einzelnen erfolgen mögen – sie bleiben letztlich Wesensfragen und damit die Fragen, die auch dem Wesen der Philosophie als Fragen nach Weisheit und Wissen (und damit Wahrheit) lange Zeit ihre Prägung gaben.7 Es ist also eher selbstverständlich, dass sowohl Cusanus als auch Heidegger die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als einen zentralen Gedanken unter beiden eben gestreiften Aspekten aufgreifen. Allerdings: Die Ähnlichkeit, die „begrifflichen, erkenntnismäßigen Mittel der Realisierung dieses Motivs [der Wahrheitsbestimmung]“8 betreffend – gerade auch im Umgang mit Sprachlichkeit – lässt aufmerken. Damit bleibt die Frage, ob sich – neben der Tatsache, dass das Philosophieren beider Denker essentiell von denselben philosophischen Ansät2
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Dass Thomas in seinen Schriften eine Umdeutung der Priorität vom Sein zum Denken vorgenommen hat (vgl. die entsprechenden Passagen in De veritate und in der Summa theologica) ist in dieser Frage zweitrangig, da die essentielle Wesendeutung als Adäquation erhalten bleibt. Vgl. THOMAS VON AQUIN: De veritate, 1,1. Vgl. HEIDEGGER: Wesen der Wahrheit, S. 7ff. Unter anderem: „Denn wahrhaft sein bedeutet: niemals nicht sein und niemals anders sein.“ PLOTIN: Enneaden III.3, wobei Plotin hier zweifelsohne vom parmenidischen Denken her zu lesen ist, der das wahre Sein als unveränderlich und unbeweglich deutet. Vgl. PARMENIDES: Über das Sein, B 8. „Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes […] denn dies schlägt um und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um und ist dies.” HERAKLIT: Fragmente, B 88. Wobei die Verbindung von dialektisch und Annäherung bzw. intuitiv und präzise wiederum nur mögliche und keine notwendigen Zusammenhänge darstellt. Eines der grundlegenden Merkmale von Philosophie, das diese als Disziplin von anderen Wissenschaften trennt. Vgl. dazu HEIDEGGER: Phänomenologie des religiösen Lebens, S. 7f. Ebd., S. 7.
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zen ihren Ausgangspunkt nimmt – auch genealogische Verbindungen9 und strukturelle Ähnlichkeiten im Philosophieren aufdecken lassen. 10 Diese könnten wiederum Aufschluss darüber geben, ob sich nicht in der Denktradition doch (wenn auch gebrochene) Linien aufzeigen lassen, was so zentrale Themengebiete wie Relationalität angeht.11 Schon Gadamer hatte im Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit des cusanischen Denkens für die Philosophie der Gegenwart darauf hingewiesen, dass zentrale Probleme cusanischer Spekulation sich auch als Kernpunkte heideggerscher Überlegungen wieder finden lassen.12 Die wenigen ausgezeichneten Arbeiten, die sich den Parallelen zwischen dem cusanischen und dem heideggerschen Denken widmen,13 leisten dieser Ansicht weiteren Vorschub und soll im Folgenden auf den Begriff der Wahrheit zugespitzt werden. Es lässt sich nämlich aufzeigen – so die im Folgenden vertretene These – dass ein relationaler, i.e. ein essentiell dynamischer Wahrheitsbegriff sich schon bis zu Cusanus und über diesen hinaus bis in die Antike zurückverfolgen lässt 14, wobei man
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Man kann davon ausgehen, dass Heidegger Cusanus kannte, vermutlich über Cassirer und vor allen Dingen Karl Jaspers. Nicht zuletzt unterstreicht auch der Heidegger-Schüler Gadamer, der mit dem Denken des Cusaners ebenfalls gut vertraut war, die systematisch-denkerischen Verbindungen zwischen Heidegger und Cusanus. Vgl. unter anderem: http://www.emsf. rai.it/gadamer/interviste/10_cusano/cusano.htm (zuletzt eingesehen am 12.07.2010). So unter anderem was ihre hermeneutische Methode angeht. Damit ließe sich zum Beispiel die These weiter untermauern, dass entgegen der traditionellen Interpretation, wie wir sie bei Cassirer finden, das relationale Moment schon deutlich früher einen zentralen Stellenwert in der geistesgeschichtlichen Tradition einnimmt und daher nicht als Charakteristikum der Postmoderne einzustufen ist. Vgl. dazu CASSIRER: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. GADAMER: Nikolaus von Kues im modernen Denken, S. 46. Vgl. unter anderem CASARELLA: Nicholas of Cusa and the Power of the Possible. So hatte unter anderem der Heidegger Schüler Volkmann-Schluck darauf hingewiesen, dass schon im platonischen Denken die Idee nicht einfach als unstrukturiertes Eines zu interpretieren ist. Vgl. VOLKMANN-SCHLUCK: Plotin als Interpret der Ontologie Platos, S. 65ff. Vielmehr zeichnet es (das Eine) sich durch Charakteristika wie Bewegung aber auch als Initium für den Eros und Teilgabe aus. Vgl. dazu unter anderem PLATON: Phaidros, 254b, wo Platon vom „von sich aus waltenden (i.e. einem dynamischen) Schönen“ spricht: en tou kallous physin.
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dem Cusaner zweifelsohne (auch aufgrund geistesgeschichtlicher und historischer Gegebenheiten) eine Schwellenposition zusprechen kann. Für Cusanus wie auch Heidegger ist neben dem Rückgriff auf das (neu)platonische Denken ein wesentliches „Sprungbrett“ ihrer Überlegungen die Insuffizienz geschlossener Denksysteme, die sowohl epistemischer Dynamik keinen Raum lässt als auch die relationale Grundstruktur von Sein nur ungenügend berücksichtigt. Die Parameter der anschließenden Untersuchung können daher wie folgt zusammengefasst und gegenüber gestellt werden: 1. Aus dem cusanische Prinzip der Relationalität lässt sich ein Wahrheits- und Seinsverständnis ableiten, das seinen Ausgang von der (a) innertrinitarischen Relationalität nimmt, die (b) als Grundstruktur auf die Ontologie übertragen werden kann und schließlich als Grundlage für (c) epistemische Relationalität als Prinzip aller Erkenntnis im menschlichen Geist wiederholt und abgebildet wird. Ontologische und epistemische Relationalität können (und müssen) dabei zwar separat betrachtet werden, bleiben jedoch letztlich essentiell aufeinander bezogen, da beide auf dasselbe Prinzip der Bezüglichkeit zurückgehen. 2. Bei Heidegger ist die Sachlage noch offenkundiger: Sein Denken ist ohne das Prinzip der Relationalität nicht nachvollziehbar. Allein der heideggersche Fokus auf die zugrunde liegenden Bedeutungen in Begriffen wie Offenheit, Übergang, Vollzug, Ereignis etc. verweisen auf die zentrale Stellung im Gesamtwerk. Und obwohl Heidegger aufgrund seiner phänomenologisch-hermeneutischen Herangehensweise von einer grundlegenden göttlichen Struktur als Ausgangspunkt bewusst Abstand nimmt, um die Authentizität der Fragestellung (i.e. der Seinsfrage) nicht zu diskreditieren15 zeigen sich hinsichtlich der Frage nach der Rolle von Relationalität auffallende strukturelle Ähnlichkeiten mit Cusanus – nicht zuletzt dahingehend, dass Heidegger (überraschenderweise, wenn man die eben erwähnte heideggersche Ablehnung gesicherten Wissens auf religiösen Grundlagen mit in Betracht zieht) wie 15 So spricht er unter anderem in seiner Einführung in die Metaphysik davon, dass religiöse Grundannahmen die Frage nach dem Sein zur „als ob“ Frage verwandeln. Siehe HEIDEGGER: Einführung in die Metaphysik, S. 4ff. Die Frage nach dem wahren Wesen des Seins wird zur Frage nach der Unverborgenheit (aletheia). Zur problematischen Übersetzung von Wahrheit als Unverborgenheit (deren sich Heidegger auch selbst bewusst) war vgl. unter anderem ROSEMANN: Heidegger’s Transcendental History.
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auch die christliche abendländische Denktradition von einer Vorgängigkeit des Seins vor dem Denken, i.e. einer ontologischen Vorgegebenheit (die bei Heidegger zu einer ontischen wird) ausgeht: Heidegger deutet Wahrheit sowohl hinsichtlich ihrer Bedeutung als Aussagewahrheit als auch in ihrer nichtprädikativen Form als ontische Wahrheit (Unverborgenheit) als relational. Wie auch bei Cusanus gründen demzufolge prädikative Wahrheiten im Vorprädikativen: „Die ‚Wahrheiten‘ nehmen [...] ihrer Natur nach Bezug auf etwas [...]“16. Die Wesensbestimmung der ontischen Wahrheit (also des etwas) aber ist die „vorprädikative Offenheit von Seiendem“17. Noch einen Schritt weitergedacht erfolgt schlussendlich eine Verschränkung vom Wesen der Wahrheit mit Transzendenz und Grund18 – alles Bestimmungen, die nur über eine ihnen inhärente Relationalität ihre volle Bedeutung entfalten können.
Das Pri nzip der Rel ationalität im cusanischen Denken Die Basis für sein relationales Grundverständnis von Sein – womit sich der Cusaner von der Dominanz der aristotelischen Substanzontologie verabschiedet19, findet der Kardinal in der trinitarischen Grundstruktur des vorherrschenden christlichen Gottesverständnisses angelegt, wie er es schon in der docta ignorantia entwickelt: Die Dreieinigkeit von Gott-Vater, dem Sohn Jesus Christus und dem Heiligen Geist verweist in seinen Augen darauf, dass der Gedanke der Dreiheit in der Einheit wesentlich ist und so alles übersteigt: Denn Einheit (unitas), Gleichheit (aequalitas) und Verknüpfung (connexio) sind dasselbe in der wahren und ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Dieses, Das, Dasselbe – unitas, iditas, identitas; wobei „[d]ieses Selbe nämlich, welches Das genannt wird, [...] auf das Erste bezogen [wird]; was aber Dasselbe
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HEIDEGGER: Vom Wesen des Grundes, S. 11. Ebd. Vgl. ebd. S. 15. Eine Bestimmung, die wir im Wesentlichen der Arbeit Rombachs zu verdanken haben. Vgl. dazu ROMBACH: Substanz, System, Struktur. Die Cusanus betreffenden Passagen finden sich in Bd.1, Kapitel 2 und 3, S. 140– 240. Die eher kurz gehaltene Zusammenfassung muss an dieser Stelle genügen.
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genannt wird, verknüpft und verbindet das Bezogene zum Ersten.“20 Nicht nur sind Vater und Sohn in einer gemeinsamen Natur miteinander verbunden, sondern sie können auch als Einsehendes, Einsichtiges und Einsehen [intelligens, intelligibile und intelligere] oder Ungeteiltheit, Unterschiedenheit und Verknüpfung [indivisio, discretio und connexio] gelesen werden. Daher gilt: Gott ist als Vater oder Zeugender die Einheit, als Gleichheit der Einheit ist er Gezeugter oder Sohn und als Verknüpfung und Liebe bzw. Heiliger Geist.21 Zentral für die folgenden Überlegungen ist vor allen Dingen das im Einen eingeschlossene Verhältnis von Identität, Differenz und ihrer Relation. Cusanus sucht es in seinem Spätwerk noch einmal im Begriff des Nicht-Anderen, des non-aliud, zu erfassen, in dessen relationalem Verweisungscharakter des Anderen auf das Nicht-Andere sich die Relationalität als tragendes Prinzip erweist: Relation wird so zum Bild des Absoluten. Genau das ist nun der Überschritt von der aristotelischen Substanz- zu einer Relationsontologie, d.h. die Relation wird aus der vierten Kategorie auf die gleiche Ebene wie die ousia22 gehoben, aber – im Gegensatz zum modernen Strukturalismus – übersteigt diese nicht, sondern nimmt (ontologisch gesehen) den gleichen Stellenwert ein. Diese Struktur überträgt der Kardinal nun in einem zweiten Schritt auf das Sein. Die sich daraus ergebenden ontologischen Strukturen sind nun zugleich genau jene Vorgaben, denen jede Erkenntnisbewegung, die auf Wirklichkeit abzielt, will sie nicht ihre eigene Intention, Wirklichkeit erkennen zu wollen, ad absurdum führen, folgen muss. Welt zeichnet sich demzufolge essentiell durch Differenz und Pluralität aus, d.h. sie ist der Ort alles Seienden, das sich im Universum nur über Andersheit und Abgrenzung zeigen kann. Simultan bleibt aber Welt als Einheit erhalten und zerfällt nicht in ein pluralistisches System, in dem die Differenz selbst absolut gesetzt wird. Trotz aller vorgenommenen Modifizierungen (auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll) verzichtet Cusanus aber nicht vollkommen auf das aristotelisch-thomistische Akt-Potenzschema: Jede Kreatur, i.e. jedes Geschaffene, drückt actualiter die Realität ihrer
20 De docta ign. I cap. IX. 21 Ebd., cap. X. 22 Wobei die geläufige Übersetzung von ousia mit Substanz eher unglücklich scheint, da sie in vielerlei Hinsicht zu Missverständnissen führen kann.
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Potenz aus, d.h. die tätige Kraft, die sich in ihr manifestiert. Alles – nicht nur der Mensch – erfährt in dieser Integration eine Öffnung auf das Unendliche hin. In dieser strebt jedes Seiende seiner eigenen Vervollkommnung entgegen, denn nichts in Welt hat all seine Möglichkeiten ausgeschöpft und ganz zur Wirklichkeit gebracht. Vielmehr ist es ein ständiges Fließen, ein Umsetzen von Potenz und Akt. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Während Thomas (erneut Aristoteles folgend) dem Akt eine eindeutige Priorität vor der Potenz einräumt,23 die in Gott als purem Akt keinerlei Möglichkeit mehr zulässt, wird für Cusanus die absolute Möglichkeit, posse ipsum, als Koinzidenz von absolutem Akt und Potenz zur Bedingung der Möglichkeit alles Seienden.24 Dazu Gadamer: „Er [Cusanus] liebt den daher den traditionellen Ausdruck des actus purus nicht, in dem alle dynamis, alle potentia, zur reinen Anwesenheit untergegangen ist – er sucht in Sein selbst das posse. Er wagt dafür die kühne Wortbildung des possest, d.h. den totalen Ineinsfall von Können und Sein, und am Gipfel der Betrachtung erscheint das Können selbst, das posse ipsum, die unendliche und unbeschränkte Bedingung allen Seins.“25
Damit erhält aber auch das Werden-Können eine gleichsam göttliche Qualität, die in jedem einzelnen Seienden aufscheint. Die bereits erwähnte Öffnung auf das Unendliche ist also im wahrsten Sinne des Wortes (etwas anthropomorph gesprochen) als desiderium zu verstehen: als die Sehnsucht zur eigenen vollkommenen Wirklichkeit jedes einzelnen Seienden. Die Öffnung als Bedingung der Möglichkeit von Aktualität26 wird also von Cusanus konsequenterweise weiterinterpretiert und
23 Vgl. THOMAS VON AQUIN: Quaestiones Disputatae de Potentia, q. 7.3. 24 Vgl. De ap. theor. Insofern könnte man and diesem Punkt in weiterer Bezugnahme auf Heidegger argumentieren, dass dessen konstatierte Seinsvergessenheit der philosophischen Tradition, die stets über das Seiende spreche, wenn sie doch das Sein meine (Vgl. HEIDEGGER: Sein und Zeit, S. 2ff.), diesen wichtigen Aspekt abendländischen Denkens nur ungenügend berücksichtigt hat. Vgl. zu dieser Analyse im Kontext der aristotelischscholastischen Tradition ausführlicher auch CASARELLA: Power of the Possible, S. 7 und 12-15. 25 GADAMER: Nikolaus von Kues im modernen Denken, S. 48. 26 Vgl. THOMAS VON AQUIN: Quaestiones, q. 1.1.
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die Bedingung (i.e. die Möglichkeit) zum absoluten Ur-sprung.27 Rückgelesen auf die Schöpfung bedeutet dies, dass jedes einzelne Seiende, das auf die ihm je zugedachte bestmögliche Wirklichkeit drängt, auf seinen Ursprung zielt: Telos und Principium werden eins. In seiner Schrift De venatione sapientiae präzisiert Nikolaus seine Vorstellung vom Begriff des Werden-Könnens noch einmal dahingehend, dass dieses nicht identisch mit dem absoluten Ursprung sei, der nicht erreicht werden könne: „Die Wirklichkeit steht vor der Möglichkeit und ist so nicht der ewige Ursprung“28. Auch Dynamik und Relationalität darf also nur analog gelesen werden. Zugleich wird die doppelte Wesensart letzterer offenbar: Zum einen als sich ständig ändernde Beziehung im innerweltlichen Bereich zu umgebenden Seienden (i.e. horizontal), d.h. kein Seiendes kann für sich allein bestehen, sondern vermag nur über Bezogenheit zu anderen Seienden zu seinem Selbst zu kommen. Gleichzeitig sind aber all diese einzelnen Seienden in ihrer Wirklichkeit auf das Unendliche hin geöffnet. Damit ist das Ganze mehr als nur seine Teile: Die gegenseitige Bezogenheit ist ebenso integriert wie ein ständiges Transzendieren über die Seinsebene hinaus. 29
27 Vgl. dazu CASARELLA: Power of the Possible, S. 8-12. 28 De ven. sap., cap. VII. 29 Als Konsequenz für das Universum als maximum contractum gewinnt Cusanus mit diesem Ansatz (und kombiniert mit seinen spezifisch aus der Geometrie gewonnen infinitätsspekulativen Überlegungen (der Mittelpunkt eines unendlich gedachten Kreises sei überall)) eine neue, ünbeschränkte Werthaftigkeit jedes einzelnen Individuums, die wiederum im Ursprung im Unendlichen seine Begründung findet: Da die im Endlichen präsente Immanenz des Infiniten jedes Seiende Mittelpunkt sein lässt, haftet diesem ein immanent unendliches Moment an, das das Wesen in seiner geschaffenen Endlichkeit zugleich über sich hinaushebt und transzendiert.Vgl. De docta ign. I, cap. XXI. Vgl. dazu auch Bocken: „Jedes Wesen ist als solches unendlich wertvoll, einfach weil es ist.“ BOCKEN: Wahrheit des Dialogs, S. 16. Rückbezogen auf die Wahrheitsproblematik als Vollzug zeigen sich hier Parallelen vor allen Dingen darin, dass sowohl Cusanus (unter anderem über Aristoteles und Thomas) als auch Heidegger (wesentlich vom extremen Individualismus Nietzsches geprägt) dem Individuum einen extrem hohen Stellenwert einräumen. Während bei Heidegger – wiederum wesentlich über Nietzsche – dieser Prozess in der Vereinzelung und (trotz allen Mit-seins) von einem einsamen Dasein vollzogen wird, bleibt bei Cusanus die Bezogenheit zum Ganzen als integrierendes Moment bestehen.
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Wahrheit als Vollzug Aus diesen Ausführungen lässt sich ableiten, dass Relationalität nicht ohne die Fähigkeit des Transzendierens zu denken ist. Rückbezogen auf die eingangs vorgenommene Bestimmung von Wahrheit als adaequatio ergeben sich damit eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. Auffällig unter diesen ist vor allen Dingen die Inadäquatheit terminologischer und gedanklicher Festlegungen. Sowohl Heidegger als auch Cusanus sahen sich in gewisser Weise derselben Herausforderung gegenüber: dem Nominalismus, wie er sich in vielerlei Hinsicht auch in den Anfängen der Analytik wie etwa dem frühen Wittgenstein widerspiegelt und der als Kernthese davon ausgeht, dass Wahrheit als Begriff allein auf logischen oder linguistischen Ebenen Relevanz besitzen könne. Cusanus greift, um sowohl die Schwierigkeiten also auch die Möglichkeiten seines erkenntnistheoretischen Ansatzes zu präzisieren, erneut auf spekulative mathematischen Überlegungen zurück. Mit deren Hilfe lassen sich nicht nur die enorme Reichweite rationaler Erkenntnismöglichkeiten, sondern auch ihre Grenzen aufzeigen; auch und gerade nicht nur in Bezug auf die ontologischen Vorgaben, sondern darüber hinaus gleichermaßen in Bezug auf das Zeichen selbst: das Wort, das als „geistiges Seiendes“ ebenfalls finit ist, i.e. sich nur über Abgrenzung und Bezogenheit überhaupt zu zeigen vermag. Als Konsequenz lässt sich ableiten, dass sowohl in Bezug auf Sein und Seiendes als auch das gesprochene/geschriebene Wort die gesetzten Idealitäten nur noch als Hilfsmittel und Konstrukte zur (Welt)Erschließung dienen können. Dass die cusanischen Überlegungen dennoch nicht zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus führen, wird am Begriff des mensurare besonders deutlich: Die mens bezeugt nämlich in ihrer Fähigkeit, sich trotz der Unmöglichkeit eines direkten Zugriffs (auch auf Gott) ein Bild machen zu können (eine wahrhaft göttliche, weil schöpferische und somit ursprüngliche Leistung) ihr eignes göttliches principium. Der Mensch wird so zum Maß aller Dinge, „weil er die unverarbeitete Form und wertlose Begebenheit nach seinen sensitiven, rationalen, intelligiblen und supra-intelligiblen Kräften ordnet.“30 Das Mittel, dessen sich 30 GANDILLAC: Nikolaus von Cues, S. 209. So kann sich auch Cusanus auf (Platons) Protagoras berufen: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ PLATON: Theätet, 152a.
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der menschliche Geist bedient, um Wissen über das Universum zu erlangen, ist die Mut-Maßung (coniecturs). Dieses Messen des Geistes kann wieder sowohl mit der ratio im Bereich des Endlichen, als auch mit dem intellectus im Bereich des Unendlichen erfolgen. Grundvoraussetzung für die Notwendigkeit eines solchen Messvorgangs als Mittel zur Welterschließung ist aber zunächst noch etwas anderes, das letztlich die ontologischen Vorgaben, i.e. die Pluralität von Welt, nachvollzieht: das Auseinandertreten von Maß und Gemessenem, das, wenn es einmal bewusst wird, nicht mehr in eine (einfache) Identität rücküberführt werden kann. Der Mensch erfährt sich so auch denkerisch als Teil der Vielheit der Welt, mit der er über Relationen verbunden bleibt und die er nun über die Reflexion wieder einzuholen versucht. Traditionell ist als wesentliche Initialzündung dieses Bewusstwerdens der Differenz in der Philosophie das Staunen (thaumazein) gesehen worden: eine geistige Bewegung von derartiger Intensität, dass sie die gewohnte Einheit brüchig werden lässt. Von da an ist das Staunen der Antrieb für alles Wissen-Wollen. Cusanus wie Heidegger übernehmen es als Beginn allen Philosophierens und dehnen seine Bedeutung für die Dynamik jeglicher Erkenntnisprozesse aus. 31 Im Aufbrechen von Strukturen und (Denk)gewohnheiten wird dem menschlichen Geist der Raum geschaffen32, der es ihm ermöglicht, die Dinge in ihrem Werden zu betrachten, das bewirkt, dass jedes einzelne Seiende auf seine ihm jeweils bestmögliche Weise sein kann:33 „Die unendliche Gestalt 31 Vgl. die Widmung der docta ignorantia. Heidegger stellt dem Staunen in seiner Bedeutung für Philosophie zusätzlich das Ent-setzen zur Seite. 32 Man beachte die passive Komponente! Obwohl ihm (im Offensein) der Boden durch die mens selbst bereitet werden muss (aktives Moment), bedarf es eines äußeren Auslösers, so zum Beispiel bei Platon der Schönheit, die den Blick anzieht, „gefangen nimmt“ (passives Element). 33 Vgl. dazu die von Cusanus verwendete Lichtmetapher in De dato patris luminum, mit der sich Cusanus auf Jakobus 1:17 bezieht: „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts“. Das vom Cusaner im Folgenden entwickelte Argument zeigt eine deutliche Anlehnung an das platonische Denken, wie es unter anderem paradigmatisch im Symposion entwickelt wird: Der eros bedarf des Schönen und Guten, i.e. dessen, was er nicht hat. Vgl. PLATON: Symposion, 201a–c. Dass den Dingen dieser Antrieb innewohnt, darauf verweist Cusanus schon früh. Siehe unter anderem De docta ign. II, cap. II. In der phänomenologischen Bewegung wird die Betonung, den Dingen Raum zu geben, noch deutlich stärker vorangetrieben.
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ist nur auf endliche Weise aufgenommen, so dass jedes Geschöpf eine endliche Unendlichkeit oder ein geschaffener Gott ist und dies auf die bestmögliche Weise.“34 Überraschenderweise wird also nicht nur der Mensch, sondern Seiendes per se nicht mehr über einen festen Standpunkt im (Welt)Gefüge bestimmt, sondern orientiert sich primär seinem Wesen nach an seiner Verbindung und Suche nach dem Unendlichen. Allerdings muss der Mensch aufgrund der Gabe des Geistes dieses Werden als Selbsttranszendenz über die ontologische Ebene hinaus auch auf der geistigen nachvollziehen, um seiner ihm eigenen Vollkommenheit entgegenzustreben. Durch diesen Mit- und Nachvollzug wird der Mensch so selbst zum Mikrokosmos, sein Geist zum Abbild des göttlichen schaffenden Geistes: Im Schaffen ist er (der menschliche Geist) ganz bei sich – bis hin zur potentiellen Identität. Indem Cusanus sich so auf die Kreativität als spezifisches humanum konzentriert, postuliert er eine dem restlichen Seienden nicht zugängliche Ebene, auf welcher der Mensch seiner Ebenbildfunktion gerecht wird. Konzentrieren wir uns deshalb nun in einem nächsten Schritt weg vom Seinsvollzug hin auf die erkenntnistheoretischen Implikationen einer solchen Annahme: Schaffen und Erkenntnis als spezifisch dem Menschen eignende Fähigkeiten lassen sich nämlich auf dieselbe Begabung zurückführen, die wiederum untrennbar mit Intentionalität verbunden ist. Die dem Erkenntnisvermögen innewohnende Dynamik wird seit der Antike als Gerichtetheit eines erkennen-wollenden-Geistes gelesen – ein Streben, das keiner weiteren Begründung mehr bedarf, sondern selbstevident ist: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“35. Die Freude des Erkennens ist eine Freude an der (Erkenntnis der) Wirklichkeit. Damit ist die epistemische Intentionalität (durch die der Geist die dem einen Ursprung innewohnende intellektuale Struktur nachvollzieht) aber als Freigabe und nicht als Vorgabe an die Dinge zu verstehen. Nur so kann der menschliche Geist wirklich seiner Bestimmung, sich in Nachahmung dem göttlichen intellectus anzunähern, nachkommen. Denn auch dieser schafft den Dingen den Raum, dessen sie bedürfen, um zu sich selbst zu kommen. Letztlich ist es der Nachvollzug einer liebenden (und damit intentionalen) Bewegung, die durch
34 De docta ign. II, cap. II. 35 ARISTOTELES: Metaphysik I.1.
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ihre Vermittlung „die Möglichkeit wirklich und die Wirklichkeit“36 möglich werden lässt. Die Infinität der Suchbewegung menschlicher Erkenntnis (die sowohl die unendliche Anzahl an Möglichkeiten als auch den immerwährenden Abstand impliziert) gründet simultan sowohl in der (privativen) Unendlichkeit des geschaffenen Universums als auch der negativen Unendlichkeit der ewigen Koinzidenz von Aktualität und Potentialität. Zugleich bestätigt die Suche (die sich auf der geistigen Ebene im Fragen ausdrückt) in ihrer Existenz noch einmal die Verwurzelung des menschlichen Geistes im Infiniten, die sie über Nachvollzug auf erkenntnistheoretischer Ebene stets aufs Neue absichert. Es ist genau diese Stelle, an der neben der neuplatonischen Vorstellung der Unbeweglichkeit des Einen oder des aristotelischen unbewegten Bewegers das Prozesshafte im cusanischen Wahrheitsverständnis am besten hervortritt: im Verweisungscharakter des Wortes bzw. Zeichens (in den Worten Gadamers) „ein[em] Prozeß, in dem sich die Einheit des Gemeinten zum vollendeten Ausdruck bringt.“37 Cusanus’ eigener Argumentation gemäß ist aber das Wort identisch mit dem Einen Gott selbst.38 Beim Philosophieren, dem Suchen nach Wahrheit, sind der Verweisungscharakter des Zeichens und die Fragebewegung deutlich und unmittelbar miteinander verlinkt. Heidegger hat schon frühzeitig, unter anderem in seiner Einführung in die Metaphysik, immer wieder auf die Suchbewegung der Philosophie Bezug genommen, die nicht anders zu sich selbst kommen kann als im Philosophieren, ergo im Vollzug ihres sie wesensbestimmenden Aktes. Das Wesentliche an einer solchen Fragedynamik ist nun, dass sie zwar (ganz im Sinne des platonischen Eros) das Gesuchte noch nicht hat, dieses aber in der Richtung des Fragens zugleich schon als Wissen um die Antwort (und damit richtungweisend) mit enthalten ist. Diese simultane Kombination aus Wissen und Nichtwissen macht die eigenartige und einzigartige Struktur der Frage (und speziell der Wahrheitssuche) aus. Darin liegt aber – für Cusanus wie auch für Heidegger – nicht die Tragik, sondern die Größe
36 Vgl. De docta ign. II, cap. IX. 37 GADAMER: Wahrheit und Methode, S. 438. 38 Vgl. dazu unter anderem seine Argumentation in seiner Spätschrift Crib. Alk. I, c. XII (h VIII n. 59).
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menschlicher Erkenntnisbewegung und damit die Erhabenheit des menschlichen Geistes selbst: die Möglichkeit zu unbegrenzt fortschreitender Erkenntnis oder – und das kann auch auf den intersubjektiven Bereich übertragen werden – die Aussicht auf unerschöpfliche Annäherung. So sind im dialektischen Prozess immer neue, vertiefte Positionen erreichbar, ohne dass es deswegen in der Welt der ratio (mit Ausnahme der Mathematik) zu einer endgültigen Aussöhnung im hegelschen Sinne kommen könne. Denn die suchende Erkenntnisbewegung deckt mit dem von ihr genutzten methodos, der Mut-Maßung, genau die – um hier einen Ausdruck von Derrida zu entlehnen – „différance“39 auf, „das grenzenlose Anders-Sein, die Unaufhebbarkeit des gleichsam ursprünglichen Unterschieds, des Unterschieds von [...] Zeichen und Sache“40. Damit wird auch evident, dass sich der Cusaner mit der Mutmaßung keineswegs von der klassischen Wahrheits- und Erkenntnisvorgabe adaequatio rei et intellectus vollkommen verabschiedet, sondern sie vielmehr in Richtung einer adaequatio rei ad intellectum auf der Basis einer aequalitas modifiziert. Denn Mutmaßen ist mehr als nur eine Vermutung, vielmehr zeigt sich in ihr „ein Angleichungsstreben der mens humana an das Wahrheitsmaß der mens divina.“41 Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist Sein per se sowohl für Cusanus als auch für Heidegger durch Offenheit und Vollzug (für den Cusaner mit dem Telos der eigenen Vervollkommnung in Gott) charakterisiert. Dieselben Maßgaben gelten nun auch für den Geist: Offenheit als Voraussetzung für ein Angleichen an Vollkommenheit bedeutet auf der intellektualen Ebene ein Streben nach Wahrheit, die sich in diesem Angleichen ebenso realisiert, wie Seiendes in seinem Werden seine ihm eigene Wirklichkeit zu Tage treten lässt: Wahrheit als Vollzugsgeschehen. Cusanus wechselt mit seinem Ansatz also keineswegs in das Lager eines auf ockhamschen Denkansätzen basierendem Skeptizismus; vielmehr schützt er die Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit des Menschen über die Methodenbestimmung durch das Aufzeigen ihrer Grenzen vor Überforderung. Dabei folgt das Messen als Methode des Rationalen eben jenem trinitarischen Prinzip, das Cusanus als grundlegend für das gesamte Sein 39 Vgl. sein gleichnamiges Werk: DERRIDA: Die différance. 40 RUHSTORFER: Eine Spur christlicher Wahrheit?, S. 70. 41 SCHNEIDER: Gott – das Nicht-Andere, S. 24/25.
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identifiziert: denn Maß und Gemessenes werden – einmal auseinandergetreten – über den Akt des Messens in einer dynamischen Relation wieder miteinander verbunden. Zugleich zeigt diese Überführung der Dynamik, die in ihrer ständigen Bewegung von einer fixierenden Rationalität nicht vollkommen erfasst werden kann, in der Besetzung mit der Bestimmung „Relationalität/Dynamik“ ihr statisches Moment. Beide Grundlagen – statisch und dynamisch – sind im Erkenntnisprozess miteinander verbunden. Nach dem Auseinandertreten in die Differenz folgen die epistemischen Prozesse damit also durchaus dem dialektischen Prinzip, die Exklusivität von Alterität und Gegensätzen koinzidieren zu lassen, um die so neu konzipierte Identität sofort nur als vorläufig zu erkennen und erneut in das Spannungsfeld der Differenz zu stellen. Cusanus ist demnach das menschliche Denk- und Erkenntnisvermögen betreffend in mehrfacher Hinsicht ein Grenzgänger oder noch besser: -denker, denn er nimmt die Grenze des Rationalen und diejenige zwischen Finitem und Infinitem aus beiden Richtungen in den Blick: Das Messen ist in erster Instanz zunächst eine Verwehrung des Geistes gegen die Unendlichkeit, indem das Vorhandene „zuhanden“ gemacht wird (um einen Terminus Heideggers zu verwenden). Erst über das Bewusstwerden der Tatsache, dass der Augenblick, in dem die Gegensätze absolut gedacht werden, diese verschwinden lässt, verweist die ratio auf eine – wenn auch ihr nicht voll zugängliche – Verwurzelung in etwas sie Umfassendes, das jedoch aufgrund dieser Bestätigung im Rationalen seinen Schrecken verliert, weil es nun nicht mehr als dem Endlichen gegensätzlich, sondern als dieses fundierend empfunden wird. Die bisher erfahrene Selbstmächtigkeit wird so nicht zugunsten einer sie auflösenden Gegebenheit negiert; vielmehr tritt der eigene Ursprung mit ins Blickfeld, so dass sich die Vernunft über das attingere aufgehoben weiß. Das unendliche Fortschreiten der Erkenntnis, das sich in diesen Überlegungen offenbart, verweist somit eben nicht nur auf die Inadäquatheit allen geistigen Messens, sondern legt zugleich stetig neue Relationen frei. Für die Bestimmung des Menschen bedeutet dies, dass Cusanus schon 500 Jahre vor Heidegger den Menschen als ein offenes Wesen kennzeichnet, das sich auf der geistigen Ebene über seine Wahrheitsbezogenheit des Verdeckenden und Erstarrten entledigen muss, um zu sich selbst zu kommen. Der angestrebten Adäquation von Geist und
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Ding kann sich immer nur durch erneute Denkakte angenähert werden: Wahrheit als Akt und Vollzug sowohl im Seins- wie auch im prädikativen Bereich. Blickt man auf Heidegger und seine Interpretation von Wahrheit als Geschehen zeigen sich im Wahrheitsverständnis (das bei beiden Denkern eng mit Seinsverständnis verbunden ist) erstaunliche Parallelen. Für Heidegger wie Cusanus gilt, dass erst im Einrichten der Wahrheit in das Seiende letzteres in seiner Einmaligkeit zur Gegebenheit gebracht wird – ein adventhaftes Moment, das bei Cusanus im christlichen Weltverständnis eingebettet ist und bei Heidegger auf mitgenommene theologische Vorgaben verweist. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, dass nicht nur der dafür ohnehin bekannten phänomenologischen Methode, sondern auch dem cusanischen Ansatz wesentlich das Moment des „Sein-lassens“ eignet: Da Wahrheit sich in der Dynamik des Geschehens zeigt, bedarf es des Aufbrechens bestehender (Denk)Strukturen, um Raum dafür zu schaffen, dass sich die „einwohnende“ Wahrheit vor den Augen des Betrachters entfalten kann.42 Diese Ausführungen machen deutlich, dass beide Denker letztlich derselben Tradition verbunden sind, die zwar einen Zugang zur Wahrheit (als Seinswahrheit) voraussetzt, zugleich aber ihre letztliche Unbegreiflichkeit (auch das Seiende selbst betreffend) postuliert. Die Begründung dafür ist jeweils in der Unabgeschlossenheit von Sein und Seiendem zu suchen; für Heidegger basiert diese wesentlich auf der Zeitlichkeit, für Cusanus darauf, dass der dem einzelnen Seienden inhärente Kern infiniten Wesens ist. Dass jedem Seienden dieses simultan transzendente und immanente Moment innewohnt, hält dann durchaus der heideggerschen Kritik der Seinsvergessenheit stand, die Heidegger zu Beginn von Sein und Zeit erhob43, da Cusanus so postulieren kann, dass das, was Bedeutung gibt, mit keinem identisch und doch von keinem verschieden ist. Und das menschliche Denken? Spätestens seit Platon ist die Bestimmung des menschlichen Geistes als von Natur aus auf Wahrheit 42 Bei Cusanus lässt sich dies erneut über den Zusammenfall von Wahrheit mit Wirklichkeit begründen: Die Washeit der Dinge ist identisch mit der Wahrheit des Seienden. Vgl. De docta ign. I, cap. III. Vgl. dazu auch Heidegger: „Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens“ in: HEIDEGGER: Vom Wesen der Wahrheit, S. 29. 43 Vgl. DERS.: Sein und Zeit, S. 2. Ein Punkt, auf den bereits Beierwaltes hinwies. Siehe BEIERWALTES: Identität und Differenz, besonders S. 34.
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ausgerichtet wesentlicher Bestandteil anthropologischer Reflexionen. Was an Cusanus bereits dargelegt wurde, wird bei Heidegger bestimmt als Da-sein – als ein Seiendes, in dem sich das Sein seiner selbst bewusst wird.44 Dazu bedarf er (der Mensch) aber genau dieser Offenheit zum Sein hin, wie sie sich unter anderem in der Kreativität, im schaffenden Menschen ausdrückt. Dazu Heidegger: Das Wesen der Kunst sei es, „inmitten des Seienden eine offene Stelle“45 aufzuschlagen. Für beide Denker ist es der menschliche Geist, der so selbst Wahrheit ins Werk zu setzen vermag. Damit treffen sich Heidegger und Cusanus auch in ihrer Methode: Seinswahrheit ist nicht einfach aus dem Gegebenen deduzierbar – das Denken kann nur im Sprung einen Zugang erlangen. Über die Relationalität (bei Cusanus die des Messens) kann dem Verstand daher nicht mehr – aber auch nicht weniger – gelingen als ein Offenhalten „für den unermesslichen Horizont der möglichen Seinsverhältnisse“46 mit ontologischer Relationalität als fundamentale Voraussetzung. Heidegger beschreibt es als die Erfahrung des In-derWelt-Seins. Erst darauf können Konzepte basieren, auf die sich unser Denken richtet, die aber schon immer in Richtung des wahrhaft seienden Dinges hin aufgebrochen werden müssen.
Fazit Weder der Cusaner noch Heidegger können auf die Frage, was das Sein, was die Wahrheit als Grundvoraussetzung von Wahrheiten ist, im eigentlichen Sinne keine Antwort geben, weil mit der Definition genau diese Offenheit abgeschlossen und begrenzt wird. Nun könnte man fragen: Was ist also damit gewonnen? Nichts – im Sinne einer Definition. Weder durchgängige Determination noch Erklärbarkeit kann einer 44 Vgl. dazu unter anderem seine Ausführungen zum ontischen Vorrang der Seinsfrage. HEIDEGGER: Sein und Zeit, S. 11ff. 45 DERS.: Der Ursprung des Kunstwerks, S. 113. 46 SAFRANSKI: Heidegger, S. 341. Heidegger hatte bereits in seinen frühen Arbeiten Wahrheitsdenken aus der Relation heraus auf den Weg gebracht. Schon in seinen Metaphysik-Vorlesungen zielt er darauf an, die Welt zu einem Raum werden zu lassen, in dem die Dinge zu sich selbst kommen können und so ihre Gewöhnlichkeit verlieren. Es ist nämlich genau diese Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit – Gleichgültigkeit – die die Dinge einschränkt und ihnen den Raum nimmt, dessen sie bedürfen um zu sich selbst zu kommen.
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sich vollziehenden Realität wirklich Rechnung getragen werden. Wohl aber lässt sich ein erweitertes Verständnis des menschlichen Seinsbezuges und der menschlichen Stellung in und zum Sein erwerben, das in der berühmte Frage: „Was ist der Mensch, was ist seine Stellung im Sein?“47 Ausdruck findet – und zwar indem über geschichtliche Kontextualisierungen der Antworten hinweg Verbindungslinien in der Entwicklungsgeschichte des abendländischen Denkens aufgezeigt werden. Gerade was anschließende Probleme wie Sinnvorgaben etc. betrifft wäre zu fragen, inwiefern nicht eine weiterführende Bezogenheit beider Ansätze aufeinander dazu führen könnte, durch Differenzen und Parallelen ein tieferes Verständnis der verschiedenen Positionen zu erreichen und in der Interpretation aufeinander fruchtbar zu machen. Zudem könnte die hier lediglich angedeutete Bestimmung von Wahrheit als Seinsoffenheit, die wiederum selbst auf einem relationalen Prinzip mit Schwellenstellen (d.h. durchlässigen Bezogenheiten und Grenzen) beruht, dazu genutzt werden, nicht nur den (gerade im öffentlichen Diskurs) verpönten Wahrheitsbegriff wieder zu etablieren, sondern ihn auch jenseits rein sprachphilosophischer Diskurse erneut enger mit dem Sein zusammenzuführen. In diesem Sinne sind Heidegger und Cusanus – wenn auch nicht in den präzisen Formulierungen so doch der Fragestellung nach – demselben Geist verpflichtet: „Die Schrittfolge des Fragens ist in sich der Weg eines Denkens, das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern, sich als Wandlung des Bezugs zum Sein erfährt und erprobt.“48
Literatur BEIERWALTES, WERNER, Identität und Differenz. Zum Prinzip cusanischen Denkens, Opladen 1970 BOCKEN, INIGO, Die Wahrheit des Dialogs. Die Bedeutung des cusanischen Denkens für Martin Bubers Entwurf einer Dialogphilosophie, in: Klaus Reinhardt/Harald Schwaetzer (Hg.), Cusanus-Rezeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Regensburg 2005, S.7-32 47 Die Frage, die Scheler, seinen eigenen Angaben in Die Stellung des Menschen im Kosmos zufolge seit dem ersten Erwachen seines philosophischen Bewusstseins umtrieb. 48 HEIDEGGER: Vom Wesen der Wahrheit, S. 30.
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CASARELLA, PETER J., Nicholas of Cusa and the Power of the Possible, in: American Catholic Philosophical Quarterly 64, no. 1: S. 7-34. CASSIRER, ERNST, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Hamburg 2001 DERRIDA, JAQUES, Die différance, Stuttgart 2004 GADAMER, HANS-GEORG, Nikolaus von Kues im modernen Denken, in: Nicolo Cusano agli inizi del mondo moderno, Florenz 1970, S. 39-48 DERS., Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1976 DE GANDILLAC, MAURICE, Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung. Düsseldorf 1953 HEIDEGGER, MARTIN, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1966 DERS., Phänomenologie des religiösen Lebens, Bd. 60 von Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen, Frankfurt/Main 1995 DERS., Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 2002 DERS., Sein und Zeit, Tübingen 1993 DERS., Vom Wesen des Grundes, Frankfurt/Main 1983 DERS., Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt/Main 1954 DERS., Was ist Metaphysik? Frankfurt/Main 1969 ROMBACH, HEINRICH, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg/München 1966 ROSEMANN, PHILIPP W., Heidegger’s Transcendental History, in: Journal of Philosophy, vol. 40, no. 4 (2002), S. 501-523 RUHSTORFER, KARLHEINZ, Eine Spur christlicher Wahrheit? Michel Foucault und die Grenzen der Postmoderne, in: Christian Bauer/ Michael Hölzl (Hg.), Gottes und des Menschen Tod? Die Theologie vor der Herausforderung Michel Foucaults, Mainz 2003, S. 65-77 SAFRANSKI, RÜDIGER, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt/Main 2001 SCHNEIDER, GERHARD, Gott – das Nicht-Andere. Untersuchungen zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues, Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, Bd. IV, Münster 1970 VOLKMANN-SCHLUCK, KARL-HEINZ, Plotin als Interpret der Ontologie Platos (Philosophische Abhandlungen 10), Frankfurt/Main 1957
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Praxis der Theorie Cusanus und die Kritik der Moderne INIGO BOCKEN Die Frage ob Cusanus nun ein genuin mittelalterlicher Denker war oder als ein genialer und prophetischer Vorläufer des neuzeitlichen Denkens gelten kann, gehört zu den ständig wiederkehrenden Fragen der Cusanus-Forschung seit Ernst Cassirers Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Nun braucht man kein gut ausgebildeter Geschichtsphilosoph zu sein um zu verstehen, dass diese Frage wahrscheinlich mehr über uns, spätmoderne Leser des Cusanus, sagt, als über Cusanus selbst. Es scheint manchmal, als ob der Streit der Interpretationen des cusanischen Werkes zugleich auch als ein Kampf um die Legitimität der Neuzeit (wie Blumenberg es formuliert hat) fungiert. Die Frage nach der Modernität des Cusanus begleitet – so oder so – die Cusanus-Rezeption des 20. und des 21. Jahrhunderts und es ist fraglich, ob sie jemals die Ebene des Ideologischen Vorurteils hinter sich lassen kann.1 Dennoch bin ich der Meinung, dass diese Frage unumgänglich ist. Denn fest steht, dass eine Lektüre des Cusanus vor dem Hintergrund der Modernisierungsdebatte allzu feste Vorurteile und vorschnelle Kategorisierungen in Frage zu stellen und neu zu modellieren vermag. Wir können nicht anders als unseren vorausgesetzten neuzeitlichen Subjektbegriff zur Diskussion zu stellen, wenn wir in De visione Dei von der 1
Einen Überblick über die Diskussion um die Modernität des Cusanus findet man u.a. bei JACOBI: Die Methode der cusanischen Philosophie, STADLER: Rekonstruktion einer Philosophie der Ungegenständlichkeit. Paradigmatisch für die Diskussion ist jedoch BLUMENBERG: Die Legitimität der Neuzeit.
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Unumgänglichkeit des eigenen, an unsere konkrete Sinnlichkeit gebundenen Standpunkts lesen, von dem aus wir die Wirklichkeit und sogar die Unsichtbarkeit Gottes sehen – um nur dieses Beispiel zu nennen. Es kann deshalb in der Frage nach der Modernität des Cusanus niemals darum gehen, ‚objektiv‘ festzustellen, ob der Autor Cusanus einigen feststehenden Kriterien der Moderne entspricht oder nicht, um damit die Frage vom Wesen der moderne Rationalität endgültig zu beantworten.2 Eine Lektüre von Cusanus vor dem Hintergrund der Modernisierungsdebatte zwingt uns in gewisse Masse neu über die Interpretationsmöglichkeiten der Moderne nachzudenken und nicht allzu schnell in Schablonen steckenzubleiben, die wir gerne verwenden, wenn wir als Philosophen über unsere eigene Lage zu reflektieren versuchen. Deshalb halte ich es für fruchtbar die Frage nach der Modernität des Cusanus vor dem Hintergrund einer Kritik der Moderne zu thematisieren, einer Kritik die eigentlich die ganze Neuzeit begleitet hat – von Edmund Burke und Joseph De Maistre über Chesterton bis zur postmodernen Kritik am modernen Subjektbegriff. Diese Modernitätskritik gehört interessanter Weise zum festen Repertoire der modernen Rationalitätsauffassung und deshalb, so glaube ich, wäre es nicht uninteressant einige Gedanken des Cusanus aus der Perspektive auch dieser Modernität zu betrachten. Denn seit dem jüngsten Erscheinen einiger Studien, wie der von Arne Moritz3 und Johannes Hoff4, scheint sich die Frage nach der Modernität des Cusanus nicht mehr auf die Zuteilung zum Vormodernen bzw. zum Modernen zu konzentrieren. Es geht jetzt vielmehr um die Fragen, inwieweit eine Lektüre des Cusanus zur Einsicht der inneren Grenzen der neuzeitliche Rationalität beitragen kann (wie z.B. bei Hoff die ultimative Verwiesenheit auf Orthodoxie, auf das göttliche Wort der Offenbarung, jedenfalls ein ‚voluntaristisches‘ Moment), oder ob sein Denken – als ein aufklärerisches Denken vor der Aufklärung – vielmehr einen Beitrag dazu liefern kann, die unvollendete Aufklärung zur Vollendung zu bringen.
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Wie dies Hubert Benz beansprucht ohne jedoch die eigene Dynamik der neuzeitlichen Philosophie zur Kenntnis zu nehmen; vgl. BENZ: Individualität und Subjektivität. MORITZ: Explizite Komplikationen. HOFF: Kontingenz, Berührung, Überschreitung.
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Pavel Fl orensky Beziehen möchte ich mich dabei auf einen der radikalsten Modernitätskritiker des 20. Jahrhunderts, den russischen Theologen, Kunsthistoriker und Physiker Pavel Florensky (1882-1937) – manchmal der Leibniz des 20. Jahrhunderts genannt. Ich tue dies mit ein wenig Scheu, denn wir finden – wie dies oft bei Modernitätskritikern der Fall ist – bei Florensky manchmal Sätze, die uns, die die Erfahrungen des Nationalsozialismus kennen, erschrecken. Und obwohl er unter Stalin nach Sibirien geschickt wurde und unter dunklen Umständen ums Leben gekommen ist, hatte er am Anfang der russischen Revolution unter Lenin ganz wichtige Funktionen inne. Als Physikprofessor war er u.a. verantwortlich für die Elektrifikation Sibiriens.5 Dennoch bin ich der Meinung, dass Florensky, dessen Werke eigentlich erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Europa ankamen und in zugängliche Sprachen übersetzt wurden, symptomatisch ist für eine Art der Kulturkritik, die auch heutzutage noch in verschiedensten Formen wiederkehrt. Ich verweise hier auf Florensky, weil die Radikalität seiner Kritik als ein paradigmatischer Grenzfall vieler antimodernistischer Positionen gelten kann, deren Hauptvorwurf der Neuzeit gegenüber im Verlust der Transzendenz und der Vergöttlichung des Menschen gefunden werden kann.6 Und ebenso verweise ich auf Florensky, weil er in seiner Schrift Die umgekehrte Perspektive einige Gedanken entwickelt, die Cusanus‘ Überlegungen aus De visione Dei ganz nahe kommen.7 Denn obwohl Florensky Cusanus wohl gekannt hat, auch wenn er ihn kaum erwähnt, 8 möchte ich doch seine Denkfigur der ‚umgekehrten Perspektive‘ im Vergleich zum cusanischen Sehen Gottes betrachten. Nicht damit wir ein objektiv feststellbares historisches Verhältnis zwischen beiden Denkern darlegen könnten, sondern vielmehr damit wir die antimodernisti5 6 7
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BOCKEN: Sophia or Modernity? FRANZ (Hg.): Pavel Florenskij – Tradition und Moderne. Eine deutsche Übersetzung der wichtigsten Schriften von Florensky wird seit 1993 herausgegeben: FLORENSKY: Denken und Sprache; hier beziehe ich mich jedoch auf die deutsche Übersetzung der umgekehrten Perspektive aus dem Jahr 1969: FLORENSKY: Die umgekehrte Perspektive. Es gibt ein Hinweis auf Cusanus bei FLORENSKY: The Pillar and Ground of the truth, S. 45.
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sche Kritik am cusanischen Denken kritisch einschätzen können (denn eine Kritik der Moderne bei Cusanus zu unterstellen wäre selbstverständlich völlig unhistorisch) – dies heißt, ihre Plausibilität sowie ihre Einseitigkeit aufdecken können. Für Florensky ist – wie es in seiner ‚Umgekehrten Perspektive‘ sowie in seinem späteren Werk Ikonostasis9 dargelegt wird – klar, dass die Neuzeit eine Epoche der Dekadenz und des Verfalls ist. Sie ist eine Zeit der Illusionen und der Gottvergessenheit – wobei die wichtigste Illusion sei, dass die menschliche Subjektivität in der Lage wäre, die Wirklichkeit zu beherrschen. Die Neuzeit ist, Florensky zufolge, wesentlich perspektivisch und ihr grundlegendes Paradigma ist das der Zentralperspektive, wie sie von Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert kodifiziert und neu begründet wurde. Die Dekadenz der Neuzeit hat im 15. Jahrhundert ihren Ursprung, es ist sozusagen in der Epoche des Cusanus, dass die theozentrische Sichtweise von der anthropozentrischen ersetzt wird. Descartes und Kant, die beide großen modernen Philosophen haben im Grunde nichts anderes geleistet, als eine philosophische Begründung dessen, was in der Kunst der Renaissance vorgezeichnet wurde: Die Kunst der Malerei, die Alberti als eine Art Wissenschaft neu begründen wollte, ist der paradigmatische Ausdruck eines neuen Weltbildes, in dem der geometrische Raum die Wirklichkeit auf den Standpunkt eines menschlichen Betrachters reduziert. Der moderne Mensch lebt mit der Illusion, die Welt willkürlich gestalten zu können. Doch diese Freiheit ist wirklich eine Illusion – die Zentralperspektive findet nicht umsonst ihren historischen Ursprung in der Welt des Theaters, also der Welt des Scheinbaren, wo Tiefe nur suggeriert und nicht wirklich gelebt wird.10 Die Zentralperspektive ist ein geometrisches Modell, in dem der Zuschauer außerhalb der lebendigen Wirklichkeit gehalten wird. Der Zuschauer sieht nur eine der unendlich vielen Möglichkeiten und ist deshalb überhaupt nicht frei und kreativ. Eher das Gegenteil ist der Fall: die zentralperspektivische Sichtweise ist ein totes Bild – keine imago viva, und die Neuzeit ist, Florensky zufolge, die Epoche, in der die Wirklichkeit getötet wird. Der Mensch ist innerhalb dieses Rahmens nicht frei, sondern eher Gefangener einer einseitigen, geometrisch geprägten Sichtweise. Der im geometrischen Raum gefan9 FLORENSKY: Die Ikonostase. 10 FLORENSKY: Die umgekehrte Perspektive, S. 16-18.
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gene Zuschauer lebt in einer Welt der Illusionen, halbwegs repräsentierter Wirklichkeit, die die unendliche Zahl der Möglichkeiten ausschließt. Hier greift Florensky auf die Korrespondenztheorie und die Theorie der unendlichen Versammlung des Mathematikers Georg Friedrich Cantor (1845-1918) zurück.11 Anhand dieser Korrespondenztheorie zeigt Florensky auf, dass der hiatus zwischen Bild und Wirklichkeit unüberbrückbar ist. Die Zentralperspektive schafft die Illusion, diese Kluft schließen zu können und somit allen Risiken, die dem geistigen und an Gott orientierten Leben eines kreativen Künstlers anhaften, aus dem Wege zu gehen. Der wirkliche Künstler ist derjenige, der die unendliche Zahl an möglichen Verbindungen zwischen Bild und Wirklichkeit wiedererkennt und damit kreativ umgeht, das heißt: ohne jegliches Vorbild, er muss selber schaffend sein. Und es mag auch klar sein, dass der Künstler für Florensky hier paradigmatisch ist für den geistig lebenden Mensch, der mit der Unendlichkeit Gottes zu leben versucht. Diese Kunst sieht Florensky bei den Ikonenmalern, deren Verteidigung gegen die neuzeitliche, von der Zentralperspektive geprägte Ästhetik Florensky vornimmt. Sie wurden von den modernen Theoretikern und Wissenschaftlern immer abwertend als naiv und unmethodisch kritisiert. Dennoch haben gerade sie verstanden, worum es in der Kunst geht – um die umgekehrte Perspektive, die Perspektive der unendliche Zahl der Möglichkeiten, das heißt: Das Sehen Gottes. Florensky interpretiert diese göttliche Perspektive von dem Gedanken einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Bild und Wirklichkeit aus. Dieser hiatus ist so absolut und radikal, dass er einen unendlichen Raum für menschliche Kreativität schafft. Wir sehen nur eine Seite einer Kugel, oder dessen, von dem wir glauben, dass es eine Kugel sei. Vielleicht ist es etwas völlig anderes, was wir sehen. Diese Möglichkeit der Andersheit ist, Florensky zufolge, ständig gegeben. Aufgabe des Künstlers ist es, wie Florensky am Ende seines Buches sagt, die schockierende Tiefe der Wahrnehmung zu zeigen und Führer zu werden in einer Region voller permanenter Erdbeben.12 Dabei ist der Künstler, d.h. der Ikonenkünstler, zugleich auch Zuschauer – genau wie der Zuschauer immer auch Künstler ist. Anders als in der euklidischen Zent11 Diese Korrespondenztheorie wird herausgearbeitet in BOCKEN: The Reverse Perspective in Pavel Florenskij, S. 157-158. 12 FLORENSKY: Umgekehrte Perspektive, S. 30.
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ralperspektive soll der Zuschauer nicht passiv den vorgegebenen fixierten Ort suchen, von dem heraus das Bild stimmt, d.h. mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Zuschauer soll herumgehen und die Wirklichkeit von den verschiedensten Standpunkten betrachten und so den Bruch zwischen Bild und Wirklichkeit, der die Wahrnehmung konstituiert, besser kennenlernen. In seinem Werk Ikonostasis betont Florensky, dass der Zuschauer erst wirklich Zuschauer wird, indem er wirklich am tiefgründigen Geschehen des Bildes teilhat. Zuschauen wird erst komplett, indem es liturgisch vollzogen wird – wir können hier an die performative Dimension, von der wir im gestrigen Vortrag gehört haben, denken. Im Gegensatz zu zentralperspektivischen Werken sind die Ikone polyzentrisch. Und wir verstehen jetzt, wie Florensky dies interpretiert. Ikonen setzen keineswegs einen statischen und fixierten Standpunkt, wie dies in der neuzeitlichen Wahrnehmung der Fall ist. Die ikonischen Abbilder sehen zwar naiv aus, wenn man z.B. drei Seiten eines Hauses sieht. Dennoch zeigt gerade diese Entfremdung, dass es andere Standpunkte gibt. Der Zuschauer befindet sich plötzlich innerhalb eines unendlichen Raumes, er wird Teil des Bildes, denn sein Standpunkt ist nur einer von unendlich vielen, von denen er einen Teil ausmacht. Er wird – wie Florensky betont – lebendiges Bild, indem er sich so auf das Bild bezieht. Es wäre eigentlich kaum zu glauben, dass Florensky Cusanus nicht kennt. Hier passiert etwas ganz interessantes, weshalb Florenskys Kritik als charakteristisch für eine bestimmte Art der Moderne-Kritik gelten kann – eine Art, die man auch mit dem Namen Neo-Orthodoxie verbindet, und die man vor allem in der neueren Theologie und Philosophie findet. Denn Florensky, der Verteidiger der Unendlichkeit, der unendlichen Zahl der Möglichkeiten, scheint davon auszugehen, dass diese Region voller permanenter Erdbeben nur in der Liturgie um die Ikonostase zur Ruhe kommt. Nur der orthodoxe Glaube scheint einen Endpunkt setzten zu können, der diesen Raum für den Menschen lebensfähig macht. Die liturgische Mauer ist die ultimative Autorisierung der alltäglichen Erfahrung einer geistigen Vision. Nur diese ist es, die es ermöglicht, die Fülle der Wirklichkeit zu eröffnen und die ständige Unruhe der Unendlichkeit zu stabilisieren. Die Aufklärung dagegen ist in den Augen Florenskys nichts weniger oder mehr als eine Weiterführung dessen, was Alberti mit seiner Zentralperspektive zum Ausdruck
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gebracht hat: eine (euklidische) Reduzierung der unendlichen Wirklichkeit, ein geometrisches Gefängnis in dem jede Kreativität getötet wird.
Die umgekehrte Perspekti ve in De visi one Dei Dem mit De visione Dei vertrauten Lesern mag klar sein, weshalb ich an dieser Stelle auf Cusanus verweise. Denn dieses Buch macht klar, dass Cusanus, Zeitgenosse von Alberti und bekannt mit den Entwicklungen in der Malerei seiner Zeit, Gedanken entfaltet, die denen von Florensky und seiner umgekehrten Perspektive relativ ähnlich sind. Das Buch scheint als eine Art Gebrauchsanweisung gedacht zu sein: für ein Gemälde, das Cusanus offenkundig zusammen mit dem Text übersendet und das den Mönchen Anlass zur Reflexion geben soll. Es handelt sich um ein Porträt des Allsehenden – wahrscheinlich ein Christusbild, dessen Blick dem Betrachter folgt, wohin auch immer sich dieser bewegt. Interessant an dieser Stelle ist, dass Cusanus hier auf ein Selbstporträt von Rogier van der Weyden verweist, das er im Rathaus von Brüssel gesehen hatte. Im weiteren Verlauf der Schrift De visione Dei inszeniert Cusanus ein fast theatralisches Geschehen, an dem seine Leser – die Mönche vom Tegernsee, aber auch wir, die heutigen Leser dieser Schrift – sich zu beteiligen haben.13 Das Buch enthält die Aufforderung zur ‚Übung‘ (praxis), bei der das Tun das Sagen erst ermöglicht, wie Michel de Certeau es so schön formuliert hat. Das Sehen Gottes wird nicht ‚theoretisch‘ bewirkt, sondern dadurch, dass der Leser selbst den Weg geht, der von Cusanus angedeutet wird. Wer in diesen szenischen Raum eintritt, wird verstehen, wie er das göttliche unsichtbare Licht konkret in der sinnlichen Wahrnehmung des irdischen Lichts sehen kann. Der Mönch soll sich in einem Kreisbogen um das Porträt herum bewegen. Cusanus beschreibt, wie der Mönch den Eindruck hat, dass das Porträt nur für ihn da sei, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Blickes stehe. Je mehr der Betrachter dieses erprobt, desto mehr wird er in diesem Eindruck bestätigt. Wenn er sich östlich bewegt, bewegt sich auch der Blick des Bildes östlich, bewegt er sich westlich, dann ist auch dort der Blick des Bildes noch da. Da er weiß, dass das
13 BOCKEN: Theatre of Knowledge and Truth.
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Bild unbeweglich an der Wand befestigt ist, wird er die Beweglichkeit des unbeweglichen Blickes noch mehr bewundern.14 Erst recht fängt der Betrachter an zu staunen, wenn er von seinen Mitbrüdern auf dem gleichen Bogen um das Porträt erfährt, dass diese die gleiche Erfahrung haben. Er entdeckt, dass das, was er sieht, nur seine Art des Sehens ist, von einem bestimmten konkreten Standpunkt aus. Er steht überhaupt nicht im Mittelpunkt, seine Sehweise ist nur eine von unendlich vielen möglichen Sehweisen. Doch ist diese Entdeckung für Cusanus kein Anlass, dieser Sehweise ihre Wahrheit zu nehmen oder sie zu relativieren. Denn auch wenn diese Sehweise von einem konkreten Standpunkt ausgeht, wird tatsächlich etwas sichtbar. Es ist erst innerhalb dieser Sehweise, dass der Betrachter versteht, dass er das, was er sieht, nie vollständig sehen kann. Und er versteht auch, warum er es nicht sehen kann. Es ist ihm nämlich unmöglich, einen anderen Standpunkt als seinen eigenen einzunehmen. Auch wenn wir 1000 Jahre lang versuchen ein anderer zu werden als derjenige, der wir sind, so sagt Cusanus in „De docta ignorantia“, wird uns niemals dergleichen gelingen.15 Wir sind an unsere Bedingungen des Sehens gebunden. Doch diese Gebundenheit beinhaltet für Cusanus keine tragische Situation. Von unserer Beschaffenheit, unseren Erwartungen, unserer Sehweise her können wir verstehen, dass es immer auch andere Sehweisen gibt, die wir niemals im Griff haben werden. Dieses Wissen eröffnet die Möglichkeit, sich auch mit anderen Sehweisen auseinanderzusetzen. Der Mensch ist tatsächlich in der Lage, sich hin und her zu bewegen, so dass er mehrere Blickpunkte sammeln kann, wenn er auch diese nur in seinem eigenen Blickfeld integrieren kann. Deshalb kann Cusanus im 6. Kapitel von „De visione Dei“ auch die alte religionskritische Aussage des Griechen Xenophanes wiederholen und ihr eine neue Bedeutung verleihen: Gott ist für den Jüngling ein Jüngling, für den Greis ein Greis, für den Löwen ein Löwe und für das Rind ein Rind.16
14 De vis. (h VI n. 12). 15 De docta ign. II (h I p.62/63 [n. 94]): „Quoniam nemo est ut alius in quocumque neque sensu neque imaginatione neque intellectu neque operatione aut scriptura aut pictura vel arte etiam si mille annis unus alium imitari studeret in quocumque, numquam tamen praecisionem attingeret, licet differentia sensibilis aliquando non percipiatur.“ 16 De vis. (h VI n. 18).
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Die göttliche Wirklichkeit bleibt zwar auch für Cusanus unsichtbar, dennoch ist es eine Unsichtbarkeit, die im Sehen auftritt, sie ist ein Teil des Sichtbaren. Sie würde sichtbar, wenn es möglich wäre, alle Blickpunkte vor dem Bild zugleich einzunehmen. In diesem Sinne ist die unsichtbare göttliche Wahrheit, die im Sehen erscheint, letztendlich nichts anders als das Ganze aller Sehweisen, die unendliche Summe des Gesehen-Werdens. Mit anderen Worten: es ist das Sehen als Ganzes, das man sieht. Das Göttliche zu sehen heißt, in einen Spiegel zu blicken, der leicht entfremdet wirkt. Man sieht das eigene Sehen, doch zugleich sieht man, dass es immer auch anderes zu sehen gibt. In diesem Spiegel sieht man den unendlichen Kreis aller Sehweisen, der den Raum bildet, in dem das menschliche Sehen stattfindet. Die eigentliche Wahrheit des Bildnisses ist nicht nur im Rahmen des Bildes zu finden – vielmehr bildet das Bildnis einen Raum, in dem der Betrachter sich bewegen kann und in dem er die Möglichkeiten des Sehens explorieren kann.17
Ähnlichkeiten zw ischen Fl orensky und Cusanus In der von Cusanus gemalten Szene werden einige Ähnlichkeiten mit Florensky deutlich. Zuerst betont Cusanus den entfremdenden Charakter des Blickes eines anderen, der die Wirklichkeit, gesehen von einem bestimmten Standpunkt heraus, stört. Dieses störende Moment scheint dabei in jeder Wahrnehmung konstitutiv zu sein. Man kann das Ganze der Wirklichkeit von diesem konkreten Standpunkt aus sehen, aber immer auf die Weise dieses Standpunktes (wie ein Rind oder ein Löwe). Von Perspektive kann hier schon die Rede sein – doch es ist nicht die monokuläre Perspektive, wie man sie bei Alberti vorfindet. Der Zuschauer ist aktiver Betrachter und zugleich realisiert er, dass er vom Blick des Anderen betrachtet wird. Genau wie bei Florensky tritt der Zuschauer im Geschehen des Sehens herein, er wird Teil des Sehkreises. Zweitens ist es die Idee des Unendlichen, die bei Cusanus, wie bei Florensky, das Fundament für diese bewegende Perspektive bildet. Für Cusa17 Eine ähnliche Analyse von De visione Dei findet man auch und weiter ausgearbeitet bei DE CERTEAU: Nikolaus von Kues. Das Geheimnis eines Blickes.
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nus bleibt immer – um noch mal dieses Wort von Florensky zu verwenden – ein hiatus zwischen der unendlichen Zahl von Sehweisen und dem einen konkreten Standpunkt des Sehens. Genau wie es bei Florensky der Fall ist, ist diese Disproportionalität ein Startpunkt menschlicher Kreativität. Denn sie fordert den Menschen heraus, Bilder zu machen. In gewissem Sinne sind beide Texte zu verstehen als ein kritischer Kommentar auf die Entwicklung der Zentralperspektive von Leon Battista Alberti. Doch gerade hier ergibt sich eine ebenso interessante wie signifikante Differenz zwischen beiden Kommentaren. Florensky lehnt die ganze Entwicklung der Zentralperspektive, samt der ganzen neuzeitlichen Kunstgeschichte, ab. Sie ist eine Geschichte des Verfalls und des Verlusts der Kreativität und der Unendlichkeit. Die Zentralperspektive muss aufgegeben werden und ersetzt werden von einer anderen, ikonischen Malkunst. Diese These mag einigermaßen absurd erscheinen; das wird sie aber weniger, wenn man den Einfluss Florenskys auf die russische Avantgarde, z.B. auf den Suprematismus von Malewitsch, bedenkt. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen dies genauer zu erläutern, doch Verbindungen zwischen konservativer oder manchmal reaktionärer Kulturkritik und avantgardistischen Perspektiven scheinen im 20. Jahrhundert keinen Einzelfall darzustellen. Cusanus dagegen verwirft die Perspektive keineswegs, sondern argumentiert von innen heraus. Cusanus radikalisiert die Einsicht, dass auch sein eigener theoretischer Standpunkt Teil des Seh-Kreises ist. Die Entdeckung der unendlichen Zahl von Sehweisen findet innerhalb einer bestimmten Perspektive statt, das Unsichtbare ist Teil des Sichtbaren. Von Cusanus aus betrachtet wird klar, dass Florensky für seine eigene theoretische Position eine Ausnahme ausmacht, denn er sieht von außen die Lage des Transzendenzverlusts. Cusanus dagegen sucht – fast phänomenologisch – nach Momenten der Unterbrechung des Sehens innerhalb des konkreten Sehens. Indem für Florensky die Theorie eine Position außerhalb des Kreises einnimmt, braucht er auch ein voluntaristisches Entscheidungsmoment – die Ikonostasis, die die notwendige Grenze ist und die vom Theoretiker ‚von außen‘ auferlegt wird. Die Strategie von Cusanus ist anders: sie ist experimenteller Art und spielt – um auf einen Vortrag von gestern zu verweisen – mit dem performativen Charakter des Denkens. Der Leser von De visione Dei muss etwas tun, damit das Geheimnis sichtbar wird.
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In diesem Sinne kann man, von Cusanus her kommend, die Kritik der Moderne darin kritisieren, dass sie nicht genug auf die unendliche Präsenz Gottes vertraut, wenn sie sich über den Transzendenzverlust der Neuzeit beklagt. Das Denken des Cusanus zwingt uns nicht, vor der Ikonostase inne zu halten, sondern weist darauf hin, dass wir ständig schon mit den verschiedensten Ikonostasen konfrontiert werden und damit zu leben lernen müssen. Von Cusanus aus kann eine Modernitätskritik wie die von Florensky, die charakteristisch ist für eine Tendenz im Denken des 20. und des 21. Jahrhunderts, in ihrer Plausibilität verstanden werden, ohne jedoch deren fundamentalistischer Verführung nachzugeben. Mit Recht hat Johannes Hoff darauf hin gewiesen, dass das Vermögen, sich der Vielheit der Perspektiven zu öffnen, – die ‚neuzeitliche‘ Seite des Cusanus – letztendlich ein ‚orthodoxes‘ christliches Glauben voraussetzt und darin auch seine Vollendung findet.18 Dies ist nur von einer bestimmten Interpretation der Modernität inkonsequent. Und es ist gerade diese Interpretation die heute zur Diskussion steht. Cusanus scheint sich dieses Spannungsverhältnisses bewusst zu sein, und dieses auch als Problem zu thematisieren. Vernunftkritik (‚docta ignorantia‘) hat bei Cusanus immer die Rückbindung an die Praxis als Ziel und kann ohne diese nicht stattfinden. Gerade an diesem Knotenpunkt ist es, dass die Moderne mit sich selbst ringt. Eine solche Perspektive steht weit jenseits der Frage, ob Cusanus nun der Moderne zuzuordnen ist oder nicht. Vielmehr wird eine solche Interpretation des Cusanus, die gerade erst angefangen hat, dazu verhelfen, das Problem der Praxis und ihre ‚notwendige Kontingenz‘ – wie Niklas Luhmann es formuliert hat, indem er auf Cusanus hinweist19 – in der Neuzeit neu zu verstehen.
Literatur BENZ, HUBERT, Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, Münster 1999. BLUMENBERG, HANS, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966. 18 HOFF: Kontingenz, Berührung, Überschreitung, S. 522 und passim. 19 LUHMANN: Beobachtungen der Moderne, S. 107-108.
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BOCKEN, INIGO, Theatre of Knowledge and Truth, in: HEIN BLOMMESTIJN (Hg.), Seeing the Seeker. Explorations in the Discipline of Spirituality, Leuven 2008, S. 5-23. DERS., Sophia or Modernity? The Reverse Perspective in Pavel Florenskij as a Critique of Modern Naturalism, in: Transcultural Studies 4 (2008), S. 151-168. DE CERTEAU, M ICHEL, Nikolaus von Kues. Das Geheimnis eines Blickes, in: VOLKER BOHN (Hg.), Bildlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 325-356. FLORENSKY, PAVEL, Die umgekehrte Perspektive. Texte zur Kunst, übersetzt und herausgegeben von PAVEL SIKORJEV, München 1969. DERS., Die Ikonostase. Urbild und Grenzerfahrung im revolutionären Russland, Übersetzt und herausgegeben von ULRICH WERNER, Stuttgart 1990. DERS., Denken und Sprache, herausgegeben von S IEGLINDE und FRITZ MIERAU, übersetzt von FRITZ MIERAU, Berlin 1993ff. DERS., The Pillar and Ground of the truth, translated and edited by BORIS JAKIM, Princeton 1997. FRANZ, NORBERT (Hg.), Pavel Florenskij – Tradition und Moderne, Frankfurt a. M. 2001. HOFF, JOHANNES, Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues, München 2007. JACOBI, KLAUS, Die Methode der cusanischen Philosophie, München 1969. LUHMANN, NIKLAS, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992. MORITZ, ARNE, Explizite Komplikationen. Der radikale Holismus des Nikolaus von Kues, Münster 2006. STADLER, MICHAEL, Rekonstruktion einer Philosophie der Ungegenständlichkeit. Zur Struktur des cusanischen Denkens, München 1983.
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Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren? Zu ‚demokratischen‘ Ideen in De concordantia catholica ARNE MORITZ „Nichts aber will bei ihm Sprengkraft haben.“ 1
Im ersten Satz der Vorrede seiner Concordantia Catholica tritt Nikolaus von Kues dem Eindruck entgegen, das Konzil in Basel, auf dem das Werk 1433 fertig gestellt wurde, befasse sich mit Neuem. Dieser irrige Eindruck könne nur bei denjenigen entstehen, welche ihr Urteil allein auf moderne Autoren (moderni) stützten. Das von Nikolaus vorgelegte Werk werde indessen zeigen, dass gerade der Rückgriff auf ältere Autoren (veteres) geeignet sei, um die Probleme der Epoche zu reflektieren und zu bewältigen.2 Cusanus stellt sich selbst dabei ausdrücklich in den größeren Zusammenhang einer die Zeit bestimmenden Rückkehr zur Weisheit der Alten, die in den mechanischen und freien Künsten der Zeit verbreitet sei und insbesondere
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JASPERS: Nikolaus Cusanus, S. 213. De conc. cath., praefatio generalis (h XIV n. 1): „Exposcunt agitata sacri huius Basiliensis concilii, quae forte novitate quadam facile apud eos, qui modernioribus scribentibus indubiam fidem in voluntariis praebent, diiudicarentur, aliqua peritiora veterum ingenia vetustate iamdudum abolita ob eorum, qui hoc aevo dies graves ad finem ducunt, et priscorum illuminatissimorum naturam disparem palam facere.“
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in Italien besonders blühe. Großen Wert legt Nikolaus dabei auf das Detail, dass die Concordantia catholica ihre Behauptungen auf der Basis der Kenntnis alter Originalmanuskripte und nicht mit Bezug auf die gekürzten Textsammlungen der Zeitgenossen entwickle.3 Modern, im Sinne von beschränkt auf das Wissen seiner Zeitgenossen, will der Cusanus der Concordantia catholica also nicht sein. Als neu an seinem Vorgehen hebt er im Gegenteil seinen Rückgriff auf überlieferte Rechtsquellen, nach dem Ideal des humanistischen Gelehrten, hervor. Die spätere Diskussion kirchen- und reichsrechtlicher Fragen in De concordantia entspricht bekanntlich diesem eingangs formulierten Anspruch, Argumente auf dem Boden einer philologisch gesicherten Tradition vorzulegen. 4 Dabei greift Cusanus die Wendung gegen die Traditionsvergessenheit der moderni durchaus wieder auf. So formuliert er explizit als Irrtum der moderni, dass sie den Vorsitz des Papstes bereits als hinreichende Bedingung für die universale Kompetenz eines Konzils über die Kirche betrachten – während Cusanus selbst, gestützt auf kirchenrechtliche und konzilsgeschichtliche Dokumente, als hinreichende Bedingung für diese universale Kompetenz die Repräsentation der Gesamtkirche annimmt. 5 Im Folgenden werde ich allerdings den von Cusanus auf diese Weise gebrauchten Begriff des Modernen, der im Einklang mit anderen spätmittelalterlichen Autoren – man denke etwa an die logica modernorum –6 das Moderne in der Gegenwart eben dieses späten Mittelalters situiert, nicht weiter aufgreifen.7 3 4 5
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Ebd., n. 2. Vgl. bspw. De conc. cath. (h XIV, II, c. VII, n. 90). De conc. cath. (h XIV, II, c. VI-VIII, insbes. c. VII, n. 87). Vgl. in diesem Zusammenhang den Überblick zur cusanischen Lehre von der Repräsentation bei HOFMANN: Repräsentation, S. 286-321; LÜCKING-MICHEL: Konkordanz und Konsens, S. 157-186; SCHAEDE: Stellvertretung, S. 212-220. Mit Bezug auf die weniger temporal als auf das Grundverständnis und die Erkenntnismöglichkeiten der natürlichen Vernunft bezogene Unterscheidung von via antiqua und via moderna, vgl. HOENEN: „Isti moderni“, scheinen mir die zitierten Aussagen gegen die moderni keine Stellungnahme des Cusanus zu implizieren. Auch werde ich nicht das Thema des Neuheitsanspruchs verfolgen, den Nikolaus mit Bezug auf seine philologische Methode erhebt, obgleich es sicherlich lohnenswert wäre, die integrale Bedeutung dieser Methode für die Argumentation der Concordantia detaillierter zu untersuchen. Immerhin gehörte die mit Hilfe dieser Methode in De concordantia geleistete
Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren?
Stattdessen wird in einem ersten Teil des Aufsatzes der Begriff der modernen Interpretation im Sinne einer durch anachronistische, nämlich weitaus später entstandene Begriffe und Probleme geleiteten Lektüre bestimmt.8 Dabei entwickle ich die Annahme, dass die Möglichkeit einer entsprechenden Lektüre u.a. davon abhängig ist, dass der entsprechend gelesene Text, von seiner gegebenen, objektiven Struktur her, eine solche anachronistische Interpretation überhaupt erlaubt. Inwiefern die Quelle die Rolle einer objektiven Bedingung ihrer anachronistischen Lesarten spielt, stelle ich zunächst im zweiten Abschnitt des Aufsatzes anhand einer einschlägigen Stelle aus De concordantia dar. Ich versuche zu zeigen, dass verschiedene Eigenschaften der logischen Struktur der entsprechenden Textpassage dafür verantwortlich sind, dass diese immer wieder im Sinne des modernen Verständnisses einer Legitimation demokratischer Herrschaft interpretiert wurde. Im zweiten Abschnitt des Aufsatzes erläutere ich entsprechend auch, was ich als spezifisch modernes Verständnis von Demokratie bzw. der Legitimation demokratischer Herrschaft voraussetze. Im letzten Teil des Aufsatzes schließlich dehne ich die zuvor exemplarisch entwickelte Erklärung moderner, „demokratischer“ Lesarten auf den Gesamttext der Concordantia aus. Ich versuche dabei zu zeigen, dass trotz z.T. gegenläufiger Inhalte des Werks insgesamt dessen logischer Struktur als Ganzer durchaus eine Verantwortung dafür gegeben werden kann, dass die entsprechenden Lesarten eben dieses Textes möglich sind.
Die Quelle als objektive Bedingung ihrer anachronistischen Lesarten Die Frage nach „modernen“ Interpretationen „demokratischer“ Ideen in der Concordantia catholica und nach der Verantwortung des Cusanus
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Kritik des Cusanus an der Echtheit der konstantinischen Schenkung über viele Jahrhunderte zu seinen meistgelesenen Texten – und wies tatsächlich auf die moderne Methode der Quellenkritik voraus. Vgl. De conc. cath. (h XIV/3 c. II-III); sowie MEIER-OESER: Die Präsenz des Vergessenen. Vgl. zur allgemeineren Problematik derartiger Lektüren MORITZ: Explizite Komplikationen, S. 13-20, sowie im besonderen Zusammenhang der Concordantia Catholica MORITZ: Concordantia als normatives Prinzip, S. 269-274.
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für diese Lesarten klingt vielleicht etwas eigenartig. Deshalb möchte ich sie zunächst kurz erläutern. Als moderne Interpretationen verstehe ich im Folgenden solche Interpretationen, welche anachronistische, nämlich von unserer eigenen Gegenwart her bestimmte Fragen an die Texte des Cusanus richten. Die Frage nach einem positiven Verständnis demokratischer Herrschaft in der Concordantia catholica ist, was den Ausdruck „Demokratie“ bzw. democratia im engeren Sinn betrifft, ein klarer Fall eines solchen Anachronismus. Cusanus verwendet den Demokratiebegriff nicht nur durchweg pejorativ. Dieser Begriff steht auch hinsichtlich seiner systematischen Stellung keineswegs im Zentrum der Untersuchungen der Concordantia. Oder anders gesagt: De concordantia catholica versteht sich dem Begriff nach nicht als Demokratietheorie und alles andere wäre hinsichtlich der Begriffsgeschichte des Demokratiebegriffs, in der dieser zu weithin geteilter Popularität erst nach der amerikanischen Revolution aufsteigt, auch erstaunlich.9 Diese negative Bedeutung des Ausdrucks Demokratie bei Cusanus anzuerkennen, schließt allerdings meines Erachtens nicht aus, den Text der Concordantia catholica dennoch mit Bezug auf seine Aussagen zu Problemen der Demokratie, im modernen Sinn des Begriffs, zu konsultieren. Ich kann mir im Wesentlichen zwei Varianten einer derartigen Interpretation vorstellen: 1. Interpretationen, welche ein historisches Interesse an der Genese des modernen Demokratieverständnisses verfolgen und 2. Interpretationen, die ein systematisches Interesse an Aussagen des Cusanus verfolgen, die für das moderne Verständnis von Demokratie relevant sein könnten. Offensichtlich setzen solche Konsultationen des Textes zumindest zweierlei voraus: 1. dass man sich überhaupt für demokratietheoretische Fragen interessiert und 2. dass man über ein Demokratiekonzept verfügt, welches dazu dient, aus dem Text, der sich selbst dem Begriff nach nicht als Abhand-
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Vgl. zur pejorativen Bedeutung des Demokratiebegriffs in De concordantia die ausführlichere Darstellung in MORITZ: Concordantia als normatives Prinzip, S. 260-263.
Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren?
lung zur Demokratie versteht, bestimmte „relevante“ Passagen zu selektieren (und weniger relevante auszusondern). Diese beiden Voraussetzungen werden im möglichen Interpreten des cusanischen Textes erfüllt (oder nicht erfüllt). Cusanus kann mit Sicherheit nicht verantwortlich dafür gemacht werden, dass seine modernen Leser sich für Demokratie interessieren und in der Interpretation seiner Texte sich auf ein Demokratiekonzept stützen, welches in diesen Texten als solches gar nicht explizit formuliert wird. Dies zugegeben kann man allerdings nach weiteren Bedingungen fragen, welche demokratische Interpretationen der Concordantia catholica begünstigen oder sogar erst ermöglichen. Ich halte es in diesem Zusammenhang generell für wenig plausibel, die seit Beginn der modernen Cusanus-Rezeption immer wieder kehrenden „modernen“ Interpretationen der cusanischen Philosophie und Theologie allein auf die Modernitätsobsession der jeweiligen Interpreten zurück zu führen. Jasper Hopkins hat bekanntlich in seinem Aufsatz Nicholas of Cusa. First Modern Philosopher?10 Nicht weniger als 16 Themenfelder zusammen getragen, mit Bezug auf welche Nikolaus von verschiedenen Interpreten als ein moderner Denker verstanden worden ist. Dabei lässt Hopkins die beiden prominenten Themen der praktischen Philosophie, nämlich den cusanischen Beitrag zum pluralistischen Diskurs über Religion und religiöse Koexistenz und eben das Thema der Demokratie in De concordantia noch aus.11 Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl modernisierender Cusanus-Interpretationen erscheint mir die Annahme unwahrscheinlich, es liege allein an den Interpreten, dass sie in so vielerlei Hinsicht ihren Cusanus immer wieder „modern“ lesen. Welche alternativen Erklärungen lassen sich anbieten? In Verfeinerung der allein auf die persönlichen Ambitionen der Interpreten verweisenden Erklärung könnte man eine gewisse Traditionsbildung in der Cusanus-Forschung für die modernisierenden Cusanus-Interpretationen verantwortlich machen. Obgleich von Seiten einer stärker historisch-philologisch orientierten Forschung zunehmend kritisch begleitet, ist der Topos der Modernität des Cusanus in verschiede-
10 HOPKINS: Nicholas of Cusa. 11 Vgl. die sowohl historisch wie aktuell interessierte Bearbeitung der Thematik des religiösen Pluralismus bei Cusanus in RIEDENAUER: Pluralität und Rationalität.
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nen Formen von Anfang an in der modernen Cusanus-Forschung kultiviert und stets weiter tradiert worden.12 Man könnte insofern die wissenschaftssoziologische Hypothese formulieren, dass Cusanus (im Unterschied zu anderen Autoren seiner Zeit) deshalb so oft modern gelesen wurde, weil die entsprechenden Leserinnen und Leser sich in die wachsende Tradition solcher Lesarten stellen konnten. Ich halte diese Erklärung für nicht abwegig. Allerdings verbleibt auch sie letztlich auf der Ebene der Interpreten, nämlich nun der objektiven Bedingungen ihrer Arbeit. Zu diesen objektiven Bedingungen der Arbeit der Interpreten des Nikolaus von Kues gehören aber unstrittig auch die cusanischen Werke, die Gegenstand der Arbeit jener Interpreten sind. Es scheint mir als Ausgangshypothese durchaus plausibel, dass zu den Bedingungen modernisierender Cusanusinterpretation auch bestimmte Eigenschaften der cusanischen Texte gehören – wenngleich dies, wie eingangs erläutert, nicht auf die einfache Behauptung hinaus laufen dürfte, das Unzeitgemäße stünde bei Cusanus doch eigentlich alles schon da. Im Folgenden möchte ich also versuchen zu zeigen, dass und inwiefern die Texte des Cusanus ihre modernisierende Interpretation, im eingangs eingeführten Sinn der Beantwortung anachronistischer Fragen, begünstigen. Ich frage nach der Verantwortung des Cusanus für „unsere“ modernen Interpretationen in dem Sinn einer Quellenanalyse, welche die cusanischen Texte in ihrer logischen Struktur so beschreibt, dass deutlich wird, warum sie sich modern, im vorliegenden Fall der Concordantia catholica, demokratietheoretisch bzw. im Sinne einer Legitimation demokratischer Herrschaft lesen lassen.
Al lgemeinheit und l ogische Unabhängi gkeit der Forderung nach Zustimmung Ich beziehe mich bei der folgenden Untersuchung exemplarisch auf einige Beobachtungen, die vom XIV. Kapitel des zweiten Buches der Concordantia catholica ausgehen. In diesem berühmten Kapitel formuliert Cusanus bekanntlich die Forderung, dass jede Form der Herrschaft der Zustimmung der Untergebenen bedürfe. Ich zitiere zunächst im 12 Vgl. WATANABE: The origins of modern Cusanus research.
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Was kann Cusanus dafür, dass wir ihn modern interpretieren?
Wortlaut die Stelle in diesem Kapitel, welche in der modernen, demokratietheoretischen Rezeption der Concordantia stets besonders prominent gewesen ist: „Weil von Natur aus alle frei sind, hängt jede Herrschaft, sei es in Form eines geschriebenen Gesetzes oder aber in lebendiger Form durch einen Fürsten, [...] allein von dem Einverständnis und der Zustimmung der Untergebenen ab. Denn wenn die Menschen von Natur mit gleicher Macht ausgestattet und gleich frei sind, kann eine wahre und geordnete Macht eines unter ihnen, der gleich mächtig wie die übrigen ist, natürlicherweise nur durch Wahl und Zustimmung der anderen konstituiert werden, wie auch das Gesetz durch Zustimmung zustande kommt“13
Mit Bezug auf die Frage nach objektiven Bedingungen der demokratischen Interpretation der Concordantia catholica lässt sich zunächst Folgendes feststellen: die zitierte Stelle scheint schlicht von ihrem Gehalt her den anachronistischen Bezug zur Demokratietheorie zu stützen. Natürlich muss ich aber, bei dieser Gelegenheit spätestens, inhaltlich ausfüllen, was ich formal zuvor schon angekündigt habe: dass die demokratische Interpretation der Concordantia catholica eines exogenen Demokratiekonzepts bedarf. Mir scheint in diesem Zusammenhang Ronald Dworkins Versuch hilfreich, ein allgemeines Demokratiekonzept zu formulieren, welches die in verschiedenen Kulturräumen und Zeiten durchaus unterschiedlichen Typen der Institutionalisierung dieser Regierungsform zu umfassen versucht. Dworkin plädiert dabei für folgende Eigenschaft als verbindendes Kontinuum der unterschiedlichen Typen demokratischer Institutionen: Entscheidend sei, dass die jeweilige politische Ordnung eine Form der Institutionalisierung der Ideale von Gleichheit und Freiheit darstelle.14 Dworkin versteht diese Ideale dabei näherhin als Überzeugung vom in13 De conc. cath. (h XIV, II, c. XIV, n. 127): „Unde cum natura omnes sint liberi, tunc omnis principatus, sive consistat in lege scripta sive viva apud principem, [...], est a sola concordantia et consensu subiectivo. Nam si natura aeque potentes et aeque liberi homines sunt, vera et ordinata potestas unius communis aeque potentis naturaliter non nisi electione et consensu aliorum constitui potest, sicut etiam lex ex consensu constituitur.“ 14 Vgl. ähnlich auch DIPPEL: Republikanismus und Liberalismus.
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trinsischen Wert jedes menschlichen Lebens (Gleichheit) und von dessen Verantwortung für die eigene Lebensführung (Freiheit).15 Da nun Cusanus in der zitierten Passage just auf die Freiheit und Gleichheit aller Menschen Bezug nimmt, scheint inhaltlich durchaus dasjenige angesprochen zu sein, worauf Dworkins Demokratiekonzept Bezug nimmt. Vor allem leitet Nikolaus aus der Bezugnahme auf die menschliche Freiheit und Gleichheit ja tatsächlich auch eine institutionelle Forderung ab: die nach Zustimmung der Untergebenen zu ihrer Regierung und die Forderung nach der Wahl der Regierenden. Man kann an dieser Stelle bereits hinzufügen, dass Cusanus es in dieser Hinsicht nicht bei prinzipiellen Feststellungen belässt, worauf ich später zurück komme. Zunächst möchte ich allerdings mit Bezug auf meine Frage nach der Rolle der objektiven, logischen Struktur des cusanischen Textes für seine anachronistischen Interpretationen einige weitere Beobachtungen anstellen. Dabei möchte ich die zitierte Stelle aus dem XIV. Kapitel des zweiten Buches nach und nach etwas mehr im Gesamttext kontextualisieren. Wichtig ist zunächst die Feststellung, dass die zitierte Stelle im Kontext des zweiten Buches der Concordantia in einer Abhandlung zur geistlichen Macht, respektive kirchlichen Gewalt steht. Cusanus nimmt aber auf diesen ekklesiologischen Kontext an der zitierten Stelle in keiner Weise Bezug. Seine Formulierungen sind generalisierend, ja Allsätze – er spricht von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und folglich der Zustimmungsbedürftigkeit jeder Form von Herrschaft (omnis principatus). Das ist für die Möglichkeit einer demokratietheoretischen Lesart von De concordantia offensichtlich durchaus von Belang. Würde Nikolaus den ekklesiologischen Zusammenhang seiner Ausführungen hier einbeziehen, seine Äußerungen gar auf diesen Zusammenhang oder damit gar auf einige, statt alle Menschen einschränken, bliebe zwar die Bindung von Herrschaft an Zustimmung behauptet, aber eben nicht im Rahmen eines universellen Ansatzes, wie ihn der Demokratiebegriff, den ich mit Dworkin eingeführt habe, fordert. Die Universalität der zitierten Formulierung scheint also ein erstes zu sein, was Cusanus selbst für die demokratischen Lesarten seines Textes verantwortlich macht. Im Zusammenhang damit erscheint es erwähnenswert, dass das fragliche Kapitel, welches, wie die Editoren meinen, von Cusanus möglicherweise erst spät im Verlauf der Abfassung eingefügt wurde, auch bereits mit 15 DWORKIN: Is Democracy Possible Here?, S. 11-21.
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einem Satz beginnt, der es logisch deutlich von seinem Kontext absetzt. Cusanus schreibt: „Um allerseits noch mehr zu überzeugen, füge ich noch eine Überlegung an (annecto aliam considerationem) [...].“16 D.h. der cusanische Text behauptet auch explizit, in der Exposition der eben zitierten Passage eine logisch relativ unabhängige Ergänzung des bisherigen Argumentationsgangs. Die Passage wird nicht als Konklusion oder Fortführung der vorangegangenen Argumente präsentiert. Sie teilt mit diesen Argumenten lediglich das Argumentationsziel, den Nachweis der Zustimmungsbedürftigkeit kirchlicher Herrschaft. Indem sie diesen Nachweis aber in universeller Form erbringt, führt sie, wie gesagt, über den engeren Kontext des zweiten Buches hinaus – in den allgemeinen Bereich, der demokratietheoretisch relevant ist.
Zur Kritik an der Selektivität demokratischer Lesarten der Concordantia cat holica Aus der Berufung auf die im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeitete Universalität und logische Unabhängigkeit des XIV. Kapitels vom Kontext des zweiten Buches der Concordantia catholica ergibt sich allerdings ein Folge-Problem. Man scheint sich damit einem Einwand auszusetzen, den Paul Sigmund bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert hat. Er warf den demokratietheoretisch interessierten Lesern des Textes vor, diesen einseitig und selektiv zu lesen und zu Gunsten der zitierten Passage aus Buch II andere Stellen zu vernachlässigen, in denen das Werk Herrschaft metaphysisch-theologisch begründe und die Distribution dieser Herrschaft im Sinne traditioneller Hierarchiekonzepte verstehe, also etwa im Sinne der Vorherrschaft der Klügeren über die weniger Klugen, oder der Priester über die Laien, oder des Fürsten über den Untertan. Besonders problematisch erschien Sigmund, dass Cusanus die im XIV. Kapitel geforderte Zustimmung in der konkreten Anwendung nicht durchweg an explizite Ausdrucksformen binde, sondern stillschweigende Zustimmung (etwa zu einem Gesetz) zulasse.17 16 De conc. cath., c. XIV (h XIV/2 n. 127). 17 Vgl. SIGMUND: Cusanus’ Concordantia, insbes. S. 182, aber auch SIGMUND: The Concept of Equality; sowie entsprechend auch LÜCKINGMICHEL: Konkordanz und Konsens, S. 204-206 und NEDERMAN: The Puzzling Case, S. 916-917.
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Mit diesem Einwand wird die Frage aufgeworfen, ob die im vorigen Abschnitt zitierte Passage aus dem zweiten Buch der Concordantia catholica mehr oder weniger solitär in einem Text steht, welcher ansonsten die Inhalte eben dieser Passage gerade dementiert. Man könnte auch sagen: mag das XIV. Kapitel von Buch II der Concordantia catholica allgemein und logisch unabhängig vom übrigen Text formuliert sein – dieser übrige Text der Concordantia jedenfalls ist nicht logisch unabhängig von jenem Kapitel, sondern dementiert dessen Inhalt. Ich glaube, dass diese Behauptung einer inhärenten Spannung in De concordantia für meine Frage danach, ob es objektive Gründe im Text für dessen demokratische Interpretation gebe, hoch relevant ist. Die anachronistische Interpretation der Concordantia catholica muss den Eindruck einer solchen Spannung zumindest zum Teil relativieren können – und kann dies, mit Bezug auf die logische Struktur des Textes, m.E. auf mindestens drei Weisen: 1. Es lässt sich zeigen, dass De concordantia das Konzept einer durch Zustimmung legitimierten Regierung, Legislative und Jurisdiktion, sowohl für kirchliche wie weltliche Herrschaft durchaus nicht nur an der eben zitierten Stelle generalisiert herleitet, sondern an vielen einzelnen Stellen zu konkretisieren versucht: Die detaillierten prozeduralen Vorschläge zu an der Zustimmung der Betroffenen orientierten Wahl- bzw. Deliberationsverfahren können in diesem Zusammenhang genannt werden.18 Daneben sind Nikolaus‘ korporationstheoretische Überlegungen relevant, denen zu Folge das Ganze eines Zusammenschlusses von Menschen stets besser durch eine repräsentative Vielheit ihrer Mitglieder als durch einen einzelnen repräsentiert werde, auch wenn dieser Einzelne das Oberhaupt ist.19 Entsprechend lehnt Nikolaus es auch ab, dass aus dem Besitz der richterlichen Gewalt in der Kirche die Autorität zur Legislative abgeleitet wird, und begründet eher umgekehrt den Besitz der richterlichen Gewalt aus der Zustimmung der Betroffenen.20 Folgerichtig bindet Nikolaus das richterliche Urteil auch an das Bestehen eines Gesetzes,
18 Vgl. insbes. De conc. cath. (h XIV/2 c. XXXIII; h XIV/3 c. XXXVII-c. XXXVIII); sowie ausführlicher MORITZ: Politik als künstliche Vollendung, S. 240-246. 19 De conc. cath. (h XIV/2 c. XIV insbes. n. 131; c. XVIII insbes. n. 163-164). 20 Ebd. (h XIV/2 c. XIII n. 123-124).
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welches diesem Urteil zu Grunde gelegt werden kann und dem im Übrigen auch das Oberhaupt der politischen Gemeinschaft unterworfen ist.21 Auch nimmt Nikolaus bekanntlich positiv die römisch-rechtliche Formel quod omnes tangit in Anspruch, der gemäß, was alle betrifft, auch von allen genehmigt werden muss.22 Cusanus vertritt außerdem das veritative Argument für die Berücksichtigung der Vielzahl der von einer Entscheidung Betroffenen, dem gemäß jene Betroffenen gemeinsam tendenziell eher die Wahrheit finden bzw. dem Gemeinwohl gemäß entscheiden als ein Einzelner. 23 Dem entspricht, dass Cusanus sich prinzipiell für eine möglichst breit geöffnete Zulassung zur konziliaren Beratung ausspricht, 24 bzw. davon ausgeht, dass die Bereitschaft zur Normbefolgung bei gemeinschaftlich abgestimmten Normen tendenziell höher sei als bei Normen, die den Betroffenen von Einzelnen auferlegt werden.25 Auch wenn alle diese Stellen die jeweiligen kirchlichen bzw. weltlichen Oberhäupter in den die politische Herrschaft fundierenden Konsens eher ein- als von diesem ausschließen wollen, zeigen sie doch, dass die im voran gegangenen Abschnitt heraus gearbeitete Fundierung solcher Herrschaft in Zustimmung der Betroffenen ein durchgängiges und nicht etwa nur singulär artikuliertes Motiv des cusanischen Textes bildet. 2. Um die Kritik an der Selektivität der demokratischen Interpretation von De concordantia zurück zu weisen, lässt sich außerdem anführen, dass Nikolaus stellenweise durchaus klärende Relationen zwischen seiner Theorie der Zustimmungsbedürftigkeit von Regierung und Gesetzgebung und einigen der oben genannten Elemente in der Concordantia herstellt, die dieser Zustimmungs-Theorie zu widersprechen scheinen. Ich will hier nur kurz auf einige wichtigere Beispiele hinweisen: So ist es zwar richtig, dass die Concordantia catholica durchweg (und man muss mit Blick auf die Realitäten der Abfassungszeit wahrscheinlich sagen, mit einem gewissen Realitätssinn) implizite Formen der Zustimmung zu Gesetzen oder Amtsbesetzungen als ausreichend an21 Ebd. (h XIV/2 c. XIV n. 127-129; c. XX-XXI; h XIV/3 prooem. n. 284; c. XI n. 375). 22 Ebd. (h XIV/3 prooem. n. 276). 23 Ebd. (h XIV/1 c. IV; c. VIII n. 43; h XIV/2 c. 4; c. XVI n. 139; c. XVIII n. 158; c. XXXIV n. 248; h XIV/3 prooem. n. 279). 24 Ebd. (h XIV/2 c. XV n. 136; c. XVI n. 139). 25 Ebd. (h XIV/3 c. XXVI; c. XXXIV).
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erkennt. Allerdings markiert Nikolaus, etwa im Zusammenhang der Besetzung von Bischofsämtern durch die Päpste, auch die Grenzen dieser impliziten Legitimation, die genau dort liegt, wo expliziter Protest formuliert wird. Angesichts der bestehenden Opposition in der Kirche gegenüber der zunächst stillschweigend geduldeten Amtsbesetzung durch die Päpste sei nun eine ausdrückliche Zustimmung (durch das Konzil) erforderlich geworden.26 Ein weiteres Beispiel betrifft die Idee einer natürlichen Herrschaft der Klugen über die weniger Klugen, welche nicht nur am Beginn des dritten, wesentlich durch Marsilius von Padua inspirierten Buches von De concordantia aufgegriffen wird,27 sondern auch im oben interpretierten Kapitel XIV von Buch II. Nikolaus argumentiert hier zwar (unter Bezug auf die Naturrechtsgebundenheit, d.h. Vernunftgebundenheit aller Gesetzgebung), dass die mit größerer Vernunft ausgestatteten Menschen die natürlichen Herren und Meister der übrigen seien.28 Aber der Autor der Concordantia sagt ebenso klar, dass diese natürliche Vorherrschaft nicht durch ein Zwangsgesetz erreicht werden könne (non per legem coercivam). Die eingangs zitierte Bezugnahme auf die natürliche Gleichheit und Freiheit der Menschen folgt unmittelbar auf diese Absage an eine gewaltsam begründete Vorherrschaft der Exzellenz. Die These, dass die kontingenten Unterschiede in der Vernunft der Menschen die Regierung von Menschen durch Menschen begründe, steht also der These einer Zustimmungsbedürftigkeit von Herrschaft nicht entgegen. Vielmehr wird Zustimmung als einzig legitimer Weg verstanden, wie die aktualen Unterschiede im Vernunftgebrauch zur Begründung von Herrschaft taugen könnten. Um dies zu begründen, bezieht sich Nikolaus auf eine Gleichheit, die vor den aktualen Unterschieden der Menschen liegt, ihre wesenhafte Übereinstimmung in der menschlichen Natur. Ein drittes Beispiel dafür, dass Cusanus seine These von der Zustimmungsbedürftigkeit von Herrschaft mit weniger demokratischen Elementen der Concordantia so korreliert, dass kein Dementi der demokratisch-naturrechtlichen Argumentation erfolgt, scheint mir schließlich mit Bezug auf den Umgang des Textes mit traditionellen hierarchi26 Vgl. ebd. (h XIV/2 c. XV n. 132; c. XXXII). 27 Vgl. ebd. (h XIV/3 prooem. n. 274). 28 Ebd. (h XIV/2 c. XIV n. 127): „Ex quo evenit quod ratione vigentes sunt naturaliter aliorum domini et rectores, sed non per legem coercivam aut iudicium, quod redditur in invitum.“
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schen Gliederungen in Kirche und Reich vorzuliegen. Tatsächlich übernimmt De concordantia entsprechende kirchliche oder politische Hierarchisierungen weitgehend aus der zeitgenössischen Realität. Dennoch formuliert der Text den bemerkenswerten Gedanken, dass die Aufteilung der administrativen herrschaftlichen Gewalt in niedrigere und höhere Ränge in der Kirche allein durch das positive Recht bestehe, nicht durch Naturrecht oder göttliches Recht.29 Dem entspricht im weltlichen Bereich eine Auffassung hierarchischer Positionen, die dem modernen, demokratischen Verständnis des politischen Amtes sehr nahe kommt, indem es an die Wahl gebunden ist und nicht durch Vererbung erworben werden soll.30 Wie ich gleich ausführen werde, sollen diese Beobachtungen nicht nahe legen, dass Cusanus die Herstellung einer kohärenten Beziehung der verschiedenen Elemente im Aufbau der Concordantia catholica immer gelingt. Sie zeigen aber, dass der Text eher traditionelle Ideen z.T. durchaus kohärent zu seiner Begründung politischer Legitimität durch Zustimmung der Betroffenen in Beziehung setzt. Somit kann demokratischen Lesarten der Concordantia in gleichem Maße nicht generell eine Missachtung der Rolle traditioneller politischer Ideen im Text vorgeworfen werden. 3. Ich komme damit abschließend zu der dritten möglichen Erwiderung auf den Einwand einer Spannung zwischen demokratischen und eher traditionell geprägten politischen Konzepten in De concordantia. Die entsprechende Beobachtung unterscheidet sich von den beiden vorangegangenen dadurch, dass sie teilweise die Position des Einwandes übernimmt und zugibt, dass die Concordantia aus heterogenen Elementen komponiert ist, die sich nicht alle gleich gut in eine demokratische Interpretation des Textes fügen. Allerdings bietet das exemplarisch bereits anhand des XIV. Kapitels von Buch II durchexerzierte Modell der Feststellung einer logischen Entkopplung der entsprechenden Elemente im Text m.E. eine generalisierbare Möglichkeit zu erklären, warum sich die Concordantia trotz der Heterogenität der Elemente, aus denen sie aufgebaut ist, demokratisch interpretieren lässt. 29 Ebd. (h XIV/2 c. XIII n. 116). 30 Vgl. ebd. (h XIV/3 prooem. n. 274-275, n. 283; c. IV; c. VII-IX) sowie MORITZ: Concordantia als normatives Prinzip, S. 272.
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Ich möchte dies abschließend kurz erläutern mit Bezug auf die bereits erwähnte theologisch-metaphysische Begründung von Herrschaft in De concordantia. Es ist durchaus richtig, dass der Text kirchliche wie weltliche Herrschaft als von Christus her stammende Mittel versteht, die mystische Einheit mit eben diesem Christus wieder zu erlangen. Dies wird im gesamten I. Buch der Concordantia, aber auch an verschiedenen Stellen in den übrigen Büchern des Werkes deutlich.31 Diese metaphysische Herleitung von Herrschaft und ihre teleologische Festlegung auf ein theologisches Ziel scheint durchaus in Spannung zu stehen mit der Konsenstheorie der Herrschaft aus Kapitel XIV, Buch II der Concordantia – oder zumindest mit der demokratischen Interpretation dieser Konsenstheorie, die ich bisher gegeben habe, nach der Herrschaft ihr Fundament in den Individuen besitzt. Die Frage, was Cusanus für die Modernität seiner Interpretationen kann, betrifft in diesem Zusammenhang also die Verantwortung dafür, dass es möglich ist, die metaphysisch-theologische Fundierung und Perspektivierung von Herrschaft bei der demokratischen Interpretation von De concordantia aus- oder einzuklammern. Inwiefern wird dies durch die logische Struktur des Textes unterstützt? Mir scheint man kann hier zwei Aspekte hervorheben: einerseits, dass Nikolaus die logische Relation der beiden Herrschaftskonzepte unterdeterminiert. Seine bevorzugte Beschreibung der Relation beider stellt lediglich metaphorisch beide in eine Raumbeziehung: Herrschaft komme von oben wie von unten, bestehe in der concordantia, dem harmonischen Zusammentreffen dieser beiden Richtungen.32 Die damit hergestellte, bloß aggregative Beziehung beider Herrschaftskonzepte ist m.E. so schwach, dass sie es ermöglicht, in der demokratischen Interpretation der Concordantia das metaphysisch-theologische „oben“ der Begründung von Herrschaft selektiv zu ignorieren. Dies wäre unmöglich, hätte Nikolaus beide Herrschaftskonzepte in irgendeine stärkere logische Abhängigkeit zueinander gesetzt – etwa wenn er dafür argumentiert hätte, der Zustimmung der Betroffenen sei durch das teleologische Ziel politischer
31 Vgl. De conc. cath. (h XIV/2 c. XXXIV n. 160; h XIV/3 c. VII n. 348349). 32 Vgl. etwa ebd. (h XIV/2 c. XII; c. XIII n. 117; c. XXXIV n. 261).
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Herrschaft eine normative Orientierung vorgegeben, welche selbst als zusätzliches Kriterium legitimer Herrschaft fungiere. Zweitens ist zu erwähnen, dass die zustimmungsbezogene Konzeption von Herrschaft und die metaphysisch-theologische Konzeption zwar einander durchaus zu ergänzen vermögen, aber inhaltlich aufeinander nicht angewiesen sind. Dass die Herrschaft den Regierenden von Christus verliehen sei, um die Menschen zur Vereinigung mit ihm zu führen, und dass die Herrschaft aus der freiwilligen Zustimmung bzw. Wahl ursprünglich Gleicher hervorgeht – beides sind ganzheitlich abgeschlossene Konzeptionen der Begründung von Herrschaft. D.h. die beiden Herrschaftskonzeptionen der Concordantia catholica werden durch den Text nicht nur in ihrer Beziehung zueinander zu schwach determiniert, um eine selektive Lesart des Textes auszuschließen. Sie sind auch inhaltlich jeweils so überdeterminiert, dass eine von beiden Herrschaftskonzeptionen – mit welcher sich demokratische Interpretationen des Textes in der Regel zufrieden geben – alleine eine hinreichende systematische Grundlage für eine Interpretation zur Verfügung stellen kann. Diese Eigenart cusanischen Schreibens: inhaltliche Überdeterminierung einzelner theoretischer Elemente bei nur schwacher Bestimmung ihrer Relation, stellt also die dritte Erklärung für die Möglichkeit einer anachronistischen Interpretation des Textes dar.33
Fazit Ich fasse kurz die Ergebnisse des vorliegenden Aufsatzes zusammen. Dass wir die cusanische Schrift De concordantia catholica modern, nämlich im Sinne einer Befürwortung der demokratischen Legitimation von Herrschaft zu interpretieren vermögen, lässt sich nicht allein mit Bezug auf uns Interpreten oder einer Kultur der Cusanusinterpretation begründen. Wichtiger ist die Struktur des cusanischen Textes, der als objektive Bedingung entsprechender Interpretationen fungiert. Dieser Text entwickelt nicht nur inhaltlich ein mit dem modernen Demokratieverständnis konvergierendes Modell der Legitimität politischer Herrschaft und konkretisiert dieses Verständnis in einzelnen Forderungen an die institutionelle Organisation politischer Ordnung. Auch erhält dieses Demo33 Vgl. die durchaus ähnliche Strukturbeziehung der verschiedenen Stränge der Darstellung ebd. (h XIV/2 c. XII).
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kratiekonzept im Text des Cusanus gegenüber eher traditionellen politischen Ideen z.T. explizit eine logisch übergeordnete Stellung. Schließlich lässt sich aber auch feststellen, dass der Text demokratische und nicht demokratische Elemente gewissermaßen in so schwacher Abhängigkeit zueinander präsentiert, dass es der systematischen Stimmigkeit einer Interpretation keinen Abbruch tut, wenn man selektiv nicht auf alle diese Elemente zugreift. Wenn wir Cusanus modern interpretieren, können wir also wohl nicht in Anspruch nehmen, all das zu erfassen, was er uns bzw. seinen Lesern hat sagen wollen. Aber wir können beanspruchen, Interpretationen zu liefern, die kohärent sind mit der logischen Struktur des cusanischen Textes, in der das Moderne oftmals gewissermaßen neben dem Traditionellen herläuft. Die „Sprengkraft“ des politischen Denkens des Cusanus, um das eingangs zitierten Urteil von Karl Jaspers aufzugreifen, liegt also nicht nur in der Modernität einiger Ideen in De concordantia catholica, sondern auch in der Art und Weise, wie Nikolaus diese mit eher traditionellen politischen Vorstellungen vermittelt – bzw., wie gezeigt wurde, z.T. auch gerade nicht vermittelt.
Literatur DIPPEL, HORST, Republikanismus und Liberalismus als Grundlagen der europäischen Demokratie, in: Europäische Perspektiven der Demokratie. Historische Prämissen und aktuelle Wandlungsprozesse in der EU und ausgewählten Nationalstaaten, hg. von GUIDO THIEMEYER / HARTMUT ULLRICH, Frankfurt a.M. [u.a.] 2005, S. 11-32. DWORKIN, RONALD: Is Democracy Possible Here? Principles for a New Political Debate, Princeton, Oxford 2006. HOENEN, MAARTEN J.F.M., „Isti moderni“ – oder modernes Denken im Mittelalter, in: Isti moderni. Erneuerungskonzepte und Erneuerungskonflikte in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora; 43), hg. von CHRISTOPH KANN, Düsseldorf 2009, S. 211-238. HOFMANN, HASSO: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin, 3. Aufl., 1998. HOPKINS, JASPER, Nicholas of Cusa (1401-1464) – First Modern Philosopher?, in: Midwest Studies in Philosophy XXVI (2002), S. 13-29. JASPERS, KARL, Nikolaus Cusanus, München 1964.
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Ich möchte in meinem Vortrag noch einmal an das Projekt des Bühnenwerkes: „Cusanus – Fragmente der Unendlichkeit“ erinnern, welches am 24. November 2007 im Theater Trier seine Uraufführung hatte. Gleichzeitig möchte ich aber auch zeigen, wie sich aus diesem heraus als ein längerfristiges Folgeprojekt die Erarbeitung und Veröffentlichung von Unterrichtsmaterialien und Lehrerfortbildungen ergeben hat. Dieses Projekt mit dem Namen „Cusanus-Oper“ war das Ergebnis einer gelungenen Zusammenarbeit regionaler und überregionaler Institutionen der Wissenschaft, der Kunst und der Bildung. Sie ging weit über das sonst übliche theaterpädagogische Programm hinaus und ist damit in diesem Umfang nicht nur künstlerisch beispiellos, sondern kann durchaus kulturpolitisch richtungweisend sein: Hier zeigt sich, wie durch die Vernetzung gegenseitige Kreativität freigesetzt wird und Kommunikation übergreifend lebendig wird und nicht nur ein punktuelles Strohfeuer entfacht, sondern auch eine gewisse Nachhaltigkeit erreichen kann. Es gab für die besondere Konstellation „Cusanus“ a priori kein dramaturgisches Modell. Alles musste und muss – mir sei die cusanische Anspielung erlaubt – „ins Nichts hinein entfaltet werden“. Von Anfang an stand fest, dass es nicht darum gehen könne, eine lineare Biographie auf die Bühne zu bringen, denn dies würde unweigerlich den Akzent
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auf Nikolaus als Person, zulasten seiner Gedankenwelt legen. Zudem war ein opulentes, historisches Drama weder finanzierbar, noch personell durchführbar. Denken Sie nur an die vielen Reisen und die unterschiedliche Ort, an den er studiert, gelebt und gewirkt hat (auf der Suche in Bibliotheken, als päpstlicher Legat, in diplomatischer Mission nach Konstantinopel), die Teilnahme an Reichstagen, das Baseler Konzil, die eine große personelle Ausstattung erforderlich gemacht hätten. Letztlich schien das auch zur Umsetzung der inhaltlichen Vorgaben nicht sinnvoll. Was sich schließlich durchsetzte, war eine Lösung, die – in Analogie zur docta ignorantia – das Fragmentarische nicht als Übel, als Einschränkung, sondern als produktive Chance anerkannte. So entstand der Titel des Projektes: „Cusanus – Fragmente der Unendlichkeit“.
Die Idee „Zentrale Begriffe der cusanischen Philosophie, etwa die Koinzidenz der Gegensätze, Vielheit versus Einheit, Unendlichkeit, Gottsuche geben die formale wie ästhetische Richtung vor: Text, Musik, Deklamation, theatralische Darstellung, Choreographie und visuelle Gestaltungselemente sollen sich – ganz im Sinne der „Einheit in der Vielfalt“ – in Ausgewogenheit zusammenfügen.“ (Peter Larsen, Exposé)
Eine szenische Realisation von „Cusanus – Fragmente der Unendlichkeit“ ist schon aufgrund der Universalität des Nikolaus von Kues nur als sparten-übergreifendes Projekt vorstellbar. Musik, Theater, Bewegung, szenischer Raum und Licht reflektieren in ihrer theatralischen Ganzheitlichkeit sowohl die interdisziplinäre Haltung des Cusanus wie die Vielseitigkeit seiner Persönlichkeit und seines überaus weiten Gesichtskreises. Ganz im Sinne der „Einheit in der Vielfalt“ sollen zentrale Begriffe der cusanischen Philosophie, wie sie in dem Zitat von Larsen aufgezeigt sind, die formale wie ästhetische Richtung vor geben. Text, Musik, Deklamation, theatralische Darstellung, Choreographie und visuelle Gestaltungselemente sollen sich in Ausgewogenheit zusammenfügen. Der multimedial-Sparten übergreifende Ansatz ist demnach nicht Selbstzweck, sondern essentieller Teil der Konzeption.
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Ziel ist es, die Philosophie des Cusanus nicht eindimensional auf die Theaterbühne zu versetzen, sondern „zwischen“ den textlich-musikalisch-visuellen Elementen in der szenischen Disposition hervorscheinen zu lassen. Dem musikalischen Theater kommt dabei vor allem die Aufgabe der inneren Reflexion zu: Dabei steht der „gesungene“ Text vor allem für die Auseinandersetzung mit seelischen Vorgängen und Affekten. Zudem kommt der Musikdramatik die wirkungsvolle Ausgestaltung repräsentativer „Szenen“ zu, z.B. einer Schlacht bei den Auseinandersetzungen mit der Äbtissin Verena von Stuben. Das Schauspiel mit dem gesprochenen Text kommt zum Einsatz, wenn es um klare Textverständlichkeit zu gehen hat, wenn sich also bestimmte zentrale Inhalte unmittelbar durch das Medium Wort vergegenwärtigen sollen.
Musik und Text Für den Bühnentext konnte der Philosoph und Cusanus-Forschers Inigo Bocken gewonnen werden. Er stellt die Originalschriften und -aussagen des Nikolaus von Kues in den Mittelpunkt des Librettos. Dabei entwirft er eine fiktive Spielhandlung, in der situativ Momente der cusanischen Philosophie sozusagen zwischen den agierenden Figuren entstehen. Verschiedene Dialogschriften des Cusanus, die bereits ihrerseits ein hohes szenisches Potential besitzen, werden dabei in die szenische Konzeption integriert. Zwischen die Spielszenen hat Peter Larsen Intermezzi eingefügt, in denen man unmittelbar mit der Gedankenwelt des Cusanus konfrontiert wird und zwar in Form von Dialogen, in denen die Figuren kurzzeitig die Handlung verlassen, um darüber zu reflektieren. Seit vielen Jahren ist für Boudewijn Buckinx’ geistiges Spektrum die Philosophie des Cusanus eine fixe Größe. Er hat schon mehrfach Texte des Nikolaus von Kues als Lieder vertont. Daher nahm er die Anfrage an ein Auftragswerk durch das Theater Trier und das Institut für Cusanus-Forschung mit Begeisterung an. Entstanden ist ein durchkomponiertes Musikstück, das – ohne sich festlegen zu wollen – Elemente der Oper und des Oratoriums mit einem sinfonischen Klangkonzept kombiniert. Dabei werden solistischer und
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chorischer Gesang in Beziehung zu einem großen Sinfonieorchester gestellt Zugänglichkeit der Texte für die Annäherung, die weitere Auseinandersetzung und den Gebrauch im Unterricht sollte, so war schnell allen klar geworden, auch mit Hilfe eines Internet-Portals erreicht werden. Dort konnten dann ebenfalls Termine angegeben werden und Materialien vorgestellt werden. Das Libretto wurde so aufbereitet, dass es mit den umfangreichen Anmerkungen (und Textübersetzungen – die Lateinische Sprache ist ja nicht mehr unbedingt vielen geläufig) – im Internet zugänglich wurde. Ebenso war es mit einer kleinen Einführung in Leben und Werk von Nikolaus von Kues1.
In den Bildungseinr ichtungen Die CUSANUS-Oper als Projekt ist auch das Ergebnis einer erstaunlichen Zusammenarbeit regionaler und überregionaler Institutionen der Wissenschaft, der Kunst und der Bildung. Sie ging weit über das übliche theaterpädagogische Programm hinaus und ist in diesem Umfang nicht nur künstlerisch beispiellos, sondern kann durchaus kulturpolitisch richtungweisend sein: Hier zeigte sich im konkreten Miteinander, wie durch die Vernetzung gegenseitige Kreativität freigesetzt wurde und Kommunikation übergreifend lebendig wird. Schon im Vorfeld wurden umfangreiche Kontakte zu einer ganzen Reihe von Institutionen, Bildungseinrichtungen, Schulen, aber auch zum Institut für Lehrerfortbildung in Mainz und der Flämischen Akademie der Wissenschaften hergestellt und auch die Öffentlichkeit für die Arbeit an der Cusanus-Oper sensibilisiert. An Universität, Theologischer Fakultät und Theater Trier wurde in Zusammenarbeit mehrerer Fächer ein Seminar mit dem Thema „CUSANUS – Fragmente der Unendlichkeit“ gehalten. In verschiedenen Arbeitsgruppen befassten sich Dozenten und Studenten mit der Theaterumsetzung des Stückes und der Vorbereitung von Unterrichtsmaterial schwerpunktmäßig für den Religions- und Philosophieunterricht.
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Die beiden Texte sind als Band 7 Heft 1 der Litterae Cusanae erschienen und auch im Internet unter www.cusanus-oper.de weiterhin zugänglich.
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Eine Vorlesung im Wintersemester 2006/2007 beschäftigte sich mit dem Leben und den Werken von Nikolaus von Kues und entwickelte daraus die Einleitung in „Leben und Werk“ des Cusanus, die Sie z.B. im gedruckten Libretto nachlesen können und die auch – in etwas erweiterter Form – dem Brett-Spiel beiliegt, welches eine andere Gruppe entwickelte. Einige Studenten höherer Semester bereiteten sich auf Vorträge für die Erwachsenenbildung vor. So konnte eine Liste von Referaten sowohl von diesen Studenten als auch von Mitgliedern des Instituts für Cusanus-Forschung für die Bildungsarbeit der evangelischen und katholischen Kirche, wo sich das bischöfliche Generalvikariat und der Evangelische Kirchkreis Trier engagiert haben, und für die Volkshochschulen im Umkreis erstellt werden. Titel wie „Toleranz und Wahrheit – Perspektiven des interreligiösen Dialogs“ oder „Cusanische Anregungen zum europäischen Menschenund Demokratieverständnis“ – und „Nikolaus von Kues – Ein Stoff für das Theater?“, um hier nur drei von zwanzig Themen zu nennen, zeigen die Aktualität der Gedanken auch für uns heute. Von den gemeinsamen Arbeitsgruppen wurden ebenso wie von Lehrerinnen und Lehrern Ideen, Anregungen und Materialien für den Unterricht erstellt und in einigen Klassen im Unterricht verwendet. Dieses Materialien wurden auf einer CD gesammelt, die den Schulen kostenfrei angeboten wurden. Auf der CD befinden sich folgende Materialien für den Unterricht in verschiedenen Schulfächern: • Deutsch: Texte zum Religionsfrieden und zum Bühnenwerk • Geographie: Nikolaus von Kues als Geograph • Kunst: Perspektive und Porträt – mit Bildern von Masaccio, Jan van Eyck, Gentile de Fabriano und Hintergrund-Informationen • Latein: Eine Unterrichtseinheit zu „De ludo globi“ • Musik: Annäherung an die Musik von Boudewijn Buckinx • Philosophie: Cusanus und die Mathematik • Religion: Nikolaus von Kues und die Gottesfrage • Nikolaus von Kues – Mittler zwischen Aristoteles und Einstein. – Material der Lehrerfortbildung des ILF2 aus dem Jahre 2001
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IFL: Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung Mainz. Informationen unter www.ilf-mainz.de im Internet.
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Nikolaus von Kues – Orte eines Lebens. Ein Film der Video-AG des Cusanus-Gymnasiums St. Wendel 2001
Fernerhin wurden weitere Materialien erarbeitet, um sich mit ihrer Hilfe auch außerhalb der Schulen dem Denken des Nikolaus von Kues annähern zu können. Dazu gehören • Das Libretto, gedruckt und im Internet • Die Einführung „Nikolaus von Kues: Leben und Werk“, ebenfalls gedruckt und in Internet • Der Kreisel • Das Brettspiel „Auf der Jagd nach Weisheit“ • Das Globulus-Spiel Das Beispiel des Kreisels dient Cusanus, seine Grundidee des Ineinsfalls der Gegensätze deutlich zu machen: Je schneller der Kreisel sich dreht, desto ruhiger scheint er zu sein. Deswegen sind Bewegung und Ruhe noch lange nicht dasselbe. Nikolaus überträgt darum das Bild in die Geometrie. Hier ist die Vorstellung einer Unendlichkeit leichter. Eine irdische Größe ist immer endlich, eine mathematische Größe hingegen kann unendlich sein. Aber aufgepasst: Auch das ist noch keine wirkliche Unendlichkeit. Der dem Kreisel beigegebene Text bietet eine Anregung, sich noch weiter auf eine Annäherung an das Denken des Kuesers einzulassen: Auch der Kreisel findet das Kreiseln anstrengend. Nach einer Weile werden Sie bemerken, dass er nicht mehr so gut läuft wie am Anfang. Aber jetzt wird es erst interessant! Greifen Sie zum Taschenmesser und schnitzen Sie die Spitze wieder an. Von nun an ist Ihr Kreisel nicht nur „Ihr“ Kreisel durch die individuelle Abnutzung, sondern durch Ihre aktive Gestaltung. Vielleicht sind Ihre ersten Versuche, den Kreisel anzuspitzen, nicht sehr erfolgreich. Sie sehen, dass Sie ein wenig Geschick und vor allem ein waches Auge entwickeln müssen. Kleiner Tipp: Drehen Sie den Kreisel langsam und betrachten Sie dabei die Spitze, ob sie gleichmäßig und gerade ist! Kleiner Trost: Jeder Kreisel wird seine „Delle“ behalten, doch das ist gut; Sie können ihn immer wieder neu perfektionieren. Jeder Kreiselwurf ist ein neuer, anderer Wurf, es lässt sich kein Wurf wiederholen. Und begegnen Sie nicht dem, was Ihnen
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im Alltag widerfährt, auf ähnliche Weise? Schnitzen Sie sich nicht auch dort immer wieder neu zurecht, um Neuem neu mit Liebe und Aufmerksamkeit gegenübertreten zu können? Der cusanische Kreisel ist eine Philosophie unendlicher kreativer Individualität gegen alle Wiederkehr des Gleichen.
Auf der Bühne Der Ausdruck „Szenisches Oratorium“ bezeichnet hier eine besondere Haltung, die sich sowohl Andacht bzw. Meditation als auch sinnliche und geistige Aufmerksamkeit und Flexibilität als ideale Rezeptionshaltungen wünscht. Diese wechselnden Haltungen ergeben sich vor allem durch die Abfolge von Spielszenen mit auf der Bühne vorgeführten unmittelbaren theatralischen Ereignissen und im Gegensatz dazu eher kontemplativen Einschüben, die rein dramatisch als Ruhepunkte wirken, dabei aber im Geistigen, auf der inhaltlichen Ebene höchste Beweglichkeit erfordern. Die Gliederung des Werkes entspricht dieser Grunddisposition: Der musikalisch-dramatische – also der komponierte – Werkteil umfasst 6 Szenen mit einem Vorspiel, die auf folgende Weise miteinander verbunden sind: Das Vorspiel, die 1. und 2. Szene gehen unmittelbar ineinander über, auch die Szenen 5 und 6 am Ende sind miteinander verknüpft. In der Mitte verbindet die Szenen 3 und 4 dagegen ein längeres Orchesterzwischenspiel. Zwischen den Szenen 2 und 3 sowie 4 und 5 sind Teile eingefügt, die – an den jeweiligen szenischen Kontext anknüpfend – bestimmte Aspekte der cusanischen Philosophie reflektierend präsentieren und diese sinnbildlich weiterfabulieren. In diesen „Intermezzi“ schweigt die eigentliche, unmittelbar vorgetragene Musik, was jedoch die Möglichkeit von Toneinspielungen nicht ausschließt. Der Akzent dieser interpolierten Abschnitte, zu denen im Übrigen auch die längere Prologszene zählt, liegt klar auf dem Wort als Vermittler wichtiger Inhalte, während in den eigentlich Spielszenen eher das sinnlich Erlebbare, das – wenn Sie wollen – Opernhafte im Vordergrund steht. Vergegenwärtigt man sich nun die Form des Stückes, so fallen bestimmte Symmetriebildungen ins Auge, die, wie man sieht, sich überschneiden, dabei aber niemals das Ganze einschließen. Anders ausge-
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drückt: Das Ganze ist nur in zwei diskongruenten Modellen zu beschreiben, die in sich wiederum sehr einfach und logisch sind. Dies symbolisiert einerseits die Nicht-Erfassbarkeit des Ganzen, die letztlich sich der Beschreibbarkeit durch Modelle entzieht, andererseits und analog dazu verweist die Form nicht zufällig an die unrunde Kugel des Globusspiels: Ein ungleich ausgelegter Gesamtkorpus, der dennoch zentralperspektivisch auf einen Mittelpunkt verweist. Im Fokus steht das Orchesterintermezzo zwischen der 3. und 4. Szene, das die zentralprägende Initiation des Cusanus bei der Rückfahrt von Konstantinopel szenisch aufgreift, in der ihm angesichts der Unendlichkeit des Meeres die docta ignorantia wie eine Vision aufleuchtete. Zu diesem Instrumentalteil schweigt das Wort, stattdessen wird das Tanztheater in Aktion treten. Wie soeben dargestellt, wechselt die Struktur in der Abfolge der Szenen und Zwischenteile beständig im Medium und in der Intensität und berührt damit verschiedene Wahrnehmungsebenen: Mal ist das konkrete Wort, mal die Musik / der Gesang, mal die Kontemplation in der reinen Instrumentalmusik, dann wieder die direkte und unmittelbare Bühnenaktion, der Tanz mit seiner sinnlichen Abstraktion oder die illustrierende bzw. assoziative Kraft der Bilder im Vordergrund. Es soll so – durchaus cusanisch gedacht – eine Ausgewogenheit der künstlerischen Mittel erfolgen. Fiktive Figuren – doch für das Stück von großer Bedeutung – sind ein Student mit dem Namen Julianus und vor allem ein Mädchen, eine Studentin, die beide aus unserer Zeit zu kommen scheinen und mit der ihnen anfangs noch fremden Welt des Cusanus zusammentreffen. Insbesondere das Mädchen, das in den Zwischenszenen eine Hauptrolle spielt, nähert sich zunächst intuitiv der cusanischen Welt an: Im Prolog erfährt sie wesentliche Denkansätze in einer Art visio mystica in einem morgendlichen Halbwach-Halbtraumzustand. Im Folgenden gebe ich noch einmal einen Überblick über das Geschehen auf der Bühne:
Der Traum des Mädchens (Prolog) Früher Morgen. Ein schlafendes Mädchen träumt, wie sie das helle Licht der Weisheit gegen eine verwirrende Welt schillernder Erschei-
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nungen eintauscht. Sie erwacht und bemerkt, wie ein Schmetterling verzweifelt an einer vom ersten Sonnenlicht erleuchteten Fensterscheibe zappelt. Sein Verhalten ist ihr zunächst unverständlich. Da erscheint der Philosoph Cusanus, der mit dem Mädchen in einen inneren Dialog tritt. Es entsteht ein Gedankenaustausch über das Streben nach dem Licht, über die Möglichkeiten des Wissens und die unüberwindlichen Grenzen der Fähigkeit zur Erkenntnis.
Bild 1: Das Mädchen und Cusanus; Der Schmetterling am Fenster; Das Mädchen sieht den Kristall Mädchen: „Der Kristall versperrt mir die Sicht, mein Blick wird trübe. Wo ist das Klare, das Weiße, das alle Farben in sich verhüllte? Wohin die Weisheit? Ich weiß nicht.“
Mit diesen wenigen Worten beschreibt das Mädchen eine Art Sündenfall als Verlust der Urweisheit als Trübung des Blicks durch den Beryll.
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Damit wird das Nichtwissen zum neuen Ausgangspunkt, und zwar als Nichtwissen tatsächlich in negativer Bedeutung. Im weiteren geht es darum, wie sich diese „ignorantia“ positiv entfalten lässt. Gilt der Schmetterling seit jeher als ein Symbol der Verwandlung (und der Auferstehung) so symbolisiert die Glasscheibe, an die der Schmetterling – ohne sie wahrzunehmen und zu begreifen – stößt und nicht weiterkommt, die Beschränkung unserer Erkenntnismöglichkeiten. Zugleich korrespondiert die Fensterglas-Metapher auch mit dem Bild des Prismas, des Kristalls, hinter dem sich – aus dieser Perspektive – die allumfassende Weisheit befindet. Doch der Blick durch das Prisma lässt nur Farben, nicht das Licht zum Vorschein kommen. Das Mädchens thematisiert in seinem Monolog das cusanische Motiv der „Jagd nach Weisheit“ hier noch unter negativem Vorzeichen. Cusanus: Absolutes Wissen ist unmöglich: Denn nichts von dem, das wir kennen, kennen wir genug. Immer wird unser Wissen noch erweiterbar sein, doch nie können wir etwas so erfassen, dass sich darüber hinaus nichts mehr dazu sagen lässt. Der Horizont, den wir greifen wollen, flieht vor uns zurück, je mehr wir uns auf ihn zu bewegen. So bleibt alles Mutmaßung. Nur klug ist es da, sich das einzugestehen
Das Eingeständnis eines Nicht-Wissens im Letzten und das dadurch möglich gewordene „Immer-besser-Wissen“ gehören zusammen. Dabei ist aber keine Relativierung des Wissens gemeint. Wenn man ein Ding oder ein Wesen besser versteht, bedeutet das nicht, dass das vorige Wissen falsch war. Die Erweiterung des Wissens integriert das alte Wissen in einen neuen Horizont. Es ist gerade das Eingeständnis eigener Begrenztheit, welches eine Chance eröffnet: er ermutigt über den Verstand hinausgehende Wege der Erkenntnis zu suchen – denn dort liegt der Schlüssel zur Weisheit.
Vorspiel Auf einem öffentlichen Platz begegnen sich Passanten, Studenten, ein Bettler und ein Kleriker. Unter dem Grüßen der Leute hört man auch den Satz: Sapientia foris clamat in plateis. Die Weisheit ruft auf Straßen und Plätzen! Daher beginnt das eigentliche Stück auf einem öffentli-
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chen Platz und der Löffelschnitzer, ein selbstbewusster, künstlerisch begabter Handwerker ist dabei.
Der Löffelschnitzer (Szene I) Hier betreten zwei weitere zentrale Figuren die Bühne: die eine ist der Löffelschnitzer, der ja einer Parabel des Nikolaus entstammt und den wissenden Laien repräsentiert. Er spielt am Anfang und am Ende des Stücks eine wichtige Rolle. Dazu der Kleriker bzw. Akademiker – gleichsam als Widerpart zu Cusanus. Er verkörpert die alte Welt des scholastischen Denkens, die erstarrt ist: Löffelschnitzer: Ihr lasst euch von den Ansichten der Tradition führen wie ein Pferd, das zwar frei geboren, aber mit einem Halfter an eine Krippe gebunden ist, wo es nichts anderes frisst als das, was ihm dargeboten.
Der Löffelschnitzer spottet über die Studenten, welche sich nur nach den Büchern richten und nach Autoritäten. In dieser Zeit begann die Abwendung von Autoritäten wie Aristoteles, deren Schriften stets als wahr galten. Die Laienbewegung ist der Träger der neuen intellektuellen Elite im 15. Jahrhundert. Nicht in den Büchern steckt die Weisheit, sie ruft auf Straßen und Plätzen. Und so streitet man darüber, wer geeignet wäre, bei hochtrabenden wissenschaftlichen Themen mit diskutieren zu können. Der Gegensatz zwischen dem aus Büchern und durch Kenntnis der Sprachen gebildeten Akademiker und Kleriker und dem Laien, der sein selbst erworbenes Wissen in die Waagschale wirft, wird betont. Die Studenten und der Kleriker sind davon überzeugt, dass akademische Bildung vorausgesetzt werden müsse. Dagegen wendet der Löffelschnitzer ein, dass das Lesen von Büchern keine Weisheit garantiere – im Gegenteil: Zuviel Vorwissen belaste die Unbefangenheit beim Denken und Begreifen. Dagegen wird Widerstand laut – einzig eine junge Studentin überlegt: Vielleicht hat er Recht…
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Das Spiel (Szene II) In einem Weinlokal trägt ein Akademiker langatmige philosophische Traktate vor. Die anwesenden Studenten zeigen aber keinerlei Interesse daran. Das Weinlokal wird nur durch die Würfel, die als Tische fungieren, angedeutet und vom Marktplatz unterschieden; somit ist es ebenfalls ein „öffentlicher Raum“ – und damit wiederum ein Hinweis auf die Straßen und Plätze, auf denen die Weisheit ruft. Der Wirt versucht die Stimmung zu heben, in dem er einlädt, sein neues Spiel auszuprobieren. Eine merkwürdig geformte Kugel soll so geworfen werden, dass sie den Mittelpunkt konzentrisch angeordneter Kreise erreicht. Der Akademiker drängelt sich vor und prahlt, wie einfach das wäre. Sein Wurf landet allerdings außerhalb des Spielfelds. Nun versuchen auch die anderen, mit der eigenartig trudelnden Kugel das Ziel zu erreichen. Keiner schafft es. Dann kommt die junge Studentin an die Reihe. Abgelenkt von einem Schmetterling, der durch den Raum fliegt, wirft sie die Kugel unabsichtlich ins Spiel – und erreicht die höchste Punktzahl. Allgemeine Aufregung. Die Studentin feiert mit dem Studenten Julianus ihren Erfolg. Wichtigste Figur ist der Wirt, hinter dem sich augenscheinlich Cusanus selbst verbirgt. Dieser taucht im Stück in vielfältiger Weise in unterschiedlichster Gestalt auf. Im Folgenden wird das von Cusanus erfundene Globusspiel eingeführt. Es besteht aus einer Kugel und einem Spielfeld. Die Kugel weist eine „Delle“ auf, so dass sie, wenn sie geworfen wird, eine spiralförmige Bewegung vollzieht. Das Spielfeld besteht aus 9 ineinander liegenden Kreisen. Ziel des Spieles ist es, dass die Kugel im Mittelpunkt der Kreise zum Stillstand kommt. Das Spiel wird von Cusanus selbst in verschiedener Weise gedeutet. Eine wichtige Bedeutung ist dabei, dass das Zentrum Christus symbolisiert, in dem die Kugel, die menschliche Seele, zur Ruhe kommt. Wirt: „Ich gedachte ein Weisheitsspiel zu erfinden. Ich überlegte, wie dies zu geschehen habe; danach beschloss ich, es so zu machen, wie du siehst. Nachdenken, Überlegen und Beschließen sind Kräfte unserer Seele. Kein Tier kommt auf einen solchen Gedanken, ein neues Spiel zu erfinden, darum überlegt oder beschließt es auch gar nicht darüber. Die-
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se Kräfte gehören zum lebendigen Verstand, der Seele genannt wird, und sind lebendig, weil sie ohne die Bewegung des lebendigen Verstandes gar nicht sein können.“3 „Warum aber der Globus durch die Kunst des Drechslers jene ungefähr konkave Halbkugelgestalt bekam, das ist euch nicht unbekannt, wie ich meine. Er würde nämlich nicht die Bewegung machen, die ihr seht, schneckenförmig oder spiralig oder in einer Kurve eingerollt, wenn er nicht eine solche Gestalt hätte. [...] Auch dass der Globus auf unendlich viele Weisen je nach dem verschiedenen Verhältnis der genannten Oberflächen verändert werden kann und immer wieder einer je anderen Bewegung angepasst werden kann.“4
Der Zuschauer im Theater hat – auf die dort übliche Entfernung – ja kein unmittelbares Bild von der „seltsamen Kugel“. Daher wird sie auf einem der vorher produzierten Videos in den Bühnenraum eingeblendet – sich drehend, damit der sichtbare Teil ihrer Auffälligkeit auch augenfällig wird. Mit einer auf der einen Seite ausgehöhlten Kugel muss der Spieler versuchen, sich der Mitte der Kreise anzunähern, welche die höchste Geistesstufe, hier das Einswerden mit Christi, darstellt. Durch die Aushöhlung – der Mensch ist kein perfektes Wesen – verfolgt der Wurf keine gerade Bahn, sondern bewegt sich spiralförmig in immer kleiner werdenden Kreisen, bis die Kugel schließlich auf einem der neun Kreise zum Stillstand kommt. Dieses Verhalten der Kugel erschwert es dem Spieler, den Wurf vorauszusagen. Der Wurf ist, wie das Leben selbst, so scheint es, mehr oder weniger dem Zufall überlassen – obwohl auf der einen Seite makellos rund, verläuft seine Bahn chaotisch und wahllos. Doch zeigt die Spiralbewegung als Ineinsfall von gerader und kreisförmiger Bewegung, dass die Bahn durch die Individualität der Kugel bestimmt ist. Der Zusammenfall der Ordnung und des Chaos in der Freiheit wird deutlich. Während mittelalterliche Aufstiegsschemata Schritt für Schritt zu Gott emporstiegen, liegen im Weg des Cusanus je einzelne, existentielle, der Individualität verpflichtete Würfe, die sich gleichwohl auf ihre Weise in die Ordnung einfügen. Das Spiel zeigt,
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„Über das Globusspiel“ (I n.31): „Über das Globusspiel“ (I n.4):
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wie sich Geschehnisse in der Welt nicht vorhersehen lassen und sich immer neu zusammensetzen.
Bild 2: Der Wirt erklärt sein neues Spiel / Die Videoeinspielungen zeigt den Zuschauer die Kugel Wirt: „Jede Kugel hat ihre Eigenheit und ist anders gekrümmt als die andere. Demnach kann die eine nicht der andern folgen. [...] Niemand kann dem Pfad eines andern genau folgen. Es ist jedoch notwendig, dass jeder die Neigungen seiner Kugel und ihre Leidenschaften beherrscht, indem er sich selbst übt. Solcherart endlich gemäßigt, mag er dann versuchen, seinen Weg zu finden, auf dem die Krümmungsverhältnisse der Kugel nicht zum Hindernis werden, näher zum Kreis des Lebens zu gelangen. Das ist die geheimnisvolle Kraft des Spieles, dass durch allseitige Übung auch die gekrümmte Kugel geregelt werden
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kann, so dass sie nach unsicheren Bewegungsschwankungen im Reich des Lebens zur Ruhe kommt.“5
Jeder probiert einmal. Keiner schafft es. Dann kommt die junge Studentin an die Reihe. Abgelenkt von einem Schmetterling, der durch den Raum fliegt, wirft sie die Kugel unabsichtlich ins Spiel – und erreicht die höchste Punktzahl. Allgemeine Aufregung. Die Studentin feiert mit dem Studenten Julianus ihren Erfolg. Das Mädchen wird beglückwünscht und gefeiert. Kreisförmiger Tanz, der Mittelpunkt ist überall und nirgendwo. Das Mädchen tritt, aus der Harmonie des unendlich drehenden Kreises und nimmt Julianus an ihre Hand. Die beiden stehen auf einem Tisch und sehen auf die tanzende Menge hinab. Das Mädchen nimmt den Tanz wieder auf und bewegt sich – tanzend – zum Hintergrund.
Der Wirt und das Mädchen (Intermezzo I) Der Bühnenboden hebt sich, von hinten tanzt das Mädchen herein – die Schauspielerin. Im Intermezzo I entspinnt sich jetzt ein Dialog zwischen dem Mädchen und dem Wirt; Ein Dialog über den Unterschied von Zufall und Absichtslosigkeit und über den Lauf der Spielkugel: Eine Bogen, eine Spirale. Dies ist jetzt eine Phase der Reflexion, des Zwiegesprächs, der Vertiefung. Nicht nur redundante Wiederholung des schon gesungenen und gesehenen – Der Blick wird gleichsam geweitet. Wirt: Ein Schmetterling kann einen Wirbelsturm entfachen. Seine Flügel haben die Kraft für den Anfang. Was dann kommt, kann kein Mensch fassen: Viele Ereignisse wirken aufeinander, alle vorhanden, doch ohne Absicht, ohne Ziel. Vom ersten Hauch eine unendliche Kette bis zum Auge des Orkans. Unsichtbare Kettenglieder verbinden den zarten Anfang mit dem gewaltigen Ende. Absichtslos, aber nicht zufällig.
Der durch seinen Flügelschlag einen Wirbelsturm entfachende Schmetterling ist ein Bild aus der Chaostheorie. Es handelt sich dabei um eine
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„Über das Globusspiel“ (I n.54):
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Anspielung auf die „goldene Kette“, die alle Wesen und Dinge miteinander verbindet, eine bereits aus der Antike stammende geläufige Vorstellung. Der ideale Wurf beschreibt eine spiralförmige Bahn. Im Zusammenhang mit den konzentrischen Kreisen auf dem Spielfeld entsteht so eine Symbolik der Widersprüche. Dieses Bild zeigt noch einmal die wichtige Rolle, die die Videoeinspielungen in dieser Produktion hatten: Die schon im Text verbalisierte Symbolik wird durch das Bild untermalt und auf einer anderen Ebene sichtbar gemacht: vom Boden auf die Wand! Und man erfährt: Widersprüche. Mädchen : Ein Spiel der großen Widersprüche. Wirt: Nichts kommt zusammen. Alles bleibt getrennt. Aus einer Spirale wird kein Kreis und aus dem Kreis nie eine Spirale. Mädchen: Ich glaube: doch! Kreis und Spirale, Ruhe und Bewegung kommen zusammen. Du hast es genau gesehen: Meine Kugel ließ sich hier in der Mitte nieder. Das ist ein himmlischer Platz, denn dort fällt alles zusammen, da wird alles eins: Hier, im Innern der Kreise, endet die Spirale. Auf der Spitze steht der Kreisel bei der schnellsten Umdrehung. Er ruht in sich selbst in der größten Bewegung. Ein Punkt wird zum Ganzen, das Ganze wird zum Punkt.
Wie konnte sie das herausfinden? Durch die Liebe. Mit den Augen der Liebe zu sehen, bedeutet nämlich die Widersprüche der Welt zu überwinden. So wird auch der Blick geweitet für Widersprüchlichkeiten, in denen Menschen sich befinden. Mädchen: Gedankenspiele, kosmische Gesetze, philosophische Spekulationen – was hilft alle Weisheit, alle Erkenntnis des Guten und Schönen, wenn wir selbst nicht folgen. Unsere Welt hat Risse, mein Freund. Risse, die durch Menschen gehen. Ich habe Menschen gesehen, durch die gingen Risse von oben bis unten der Länge nach: Barfuß kauerten sie im Staub vor dem geschmückten Oberhaupt und über ihnen flog man zu den Sternen.
Die Erkenntnis, vermittelt durch die Kraft der Liebe, zieht ethische Fragen nach sich. Müssen nicht, was alle angeht, alle wollen? Dieses
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Wort verweist auf einen Grundsatz aus der Schrift „Von der allgemeinen Eintracht“ des Cusanus, um seine Auffassung von „Demokratie“ anzudeuten: „Was alle angeht, muss von allen entschieden werden.“ Der Gedanke stammt bereits von Marsilius von Padua. Und das berührt wiederum die Frage nach der Ausübung von Macht.
Die Schlacht (Szene III) Historische Bilder werden lebendig. Allerdings ist nichts auf der Bühne, was an Brixen erinnert – außer den Personen. Mit kräftigen, plakativen Bildern wird die Allianz von Thron und Altar dargestellt. Die mächtige Äbtissin Verena von Stuben und ihr Verbündeter, der Herzog Sigismund von Tirol, schwelgen verschwenderisch in Ausschweifungen und Völlerei. Man huldigt dieser lasterhaften Allianz von Thron und Altar. Alles wäre vollkommen, wenn nur Cusanus, der neue, reformeifrige Bischof von Brixen, sich nicht ständig mit seinen Ermahnungen einmischen würde. Sein Auftreten provoziert sogleich gewaltsame Auseinandersetzungen. In dieser Szene spielt das Tanztheater eine große Rolle: es stellt die Spannung und den Kampf mit den Mitteln der Musik und des Körpers in Bewegung dar. Cusanus unterliegt und muss die Flucht antreten. Er entschwebt der irdischen Schwierigkeiten und gelangt in das luftige Reich des reinen Geistes. Hier erinnert er sich noch einmal an das wundersame Erlebnis der Unendlichkeit auf der Überfahrt von Konstantinopel, das ihm das Begreifen auf unbegreifliche Weise, das nicht-wissende Wissen eingab. Cusanus: „Und dahin bin ich geführt worden, daß ich das Unbegreifliche auf unbegreifliche Weise in gelehrter Unwissenheit umfange.“6 „Exakte Gleichförmigkeit in allem zu suchen bedeutet eher, den Frieden in Aufruhr zu bringen.“7
Aus diesem Bild der Ruhe und Kontemplation heraus entwickelt sich nun auf der Bühne die nächste Szene:
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„Über die belehrte Unwissenheit“ (III c.12): „Über den Frieden im Glauben“ (n. 67):
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Das Sehen des Sehens (Szene IV) „Wir sehen und wir werden gesehen“. Gott schaut jeden Menschen ganz individuell an, obwohl er alle gleichermaßen anschaut. Während der Mensch immer nur seine eigene Perspektive kennt, sieht der Allsehende mit allen Perspektiven. Dieser Widerspruch, den man nicht erklären, sondern nur erspürend wissen kann, hängt mit Gottes Wesensart zusammen: In ihm verschmelzen alle Widersprüche zur allumfassenden Einheit. Diese Szene zeigt, wie die verschiedenen Möglichkeiten der theatralischen Umsetzung ineinander greifen, um sich diesem – doch sicher zugegebenermaßen abstrakten Thema – einfühlsam anzunähern – wie Cusanus in seiner Schrift De visione Dei: An dieser Stelle möchte ich kurz etwas näher auf die Musik von Buckinx eingehen. Der im Folgenden abgebildete Auszug aus der Partitur zeigt im Anfang der ersten drei Takte jeweils eine kleine Terz aufwärts, dann im 4. Takt eine Quart mit Dur-Terz (fast: Concordantia perfecta mit imperfecta gefolgt im 5. Takt von einer kleinen moll-Terz mit kleiner Sechst.
Bild 3: Ausschnitt aus der Partitur
Schaut man jetzt auf den Text, stellt man fest: gleicher Anfang in Text und Musik: ER bzw. SIE schaut... Allerdings mit dem Unterschied, dass die Frauenstimmen singen SIE schaut..., die Männerstimmen hingegen ER schaut... Die ist wie eine Reflexion über
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Chor: „Es hielte ein Löwe, wenn er Dir ein Angesicht zuspräche, es für nicht anders als löwenartig; ein Rind hielte es für rindartig und ein Adler für adlerartig. O Herr, wie wunderbar ist Dein Angesicht, das sich ein Jugendlicher, wollte er sich davon einen Begriff machen, als jugendlich, ein Mann als das eines Mannes und ein Greis als das eines Greises vorstellen würde.“8
Ist der Beginn der Stelle in den einzelnen Stimmen als gleich, ist der weitere Satzteil „...mich an“ in jeder Stimme anders, also je individuell geformt – der Einzelne ist angesehen, wie es Cusanus beschreibt. Buckinx’ Musik ist, obwohl sie von heute ist, tonal. Die Konsonanz – oder wie Tinctoris, der bedeutendste Musiktheoretiker des 15. Jahrhunderts, sie nannte – Konkordanz steht im Mittelpunkt. Mehr noch: Wichtiges Grundelement der Musik von Buckinx ist der Dreiklang, jene Trias harmonica, die musikalisch die Trinität symbolisiert. Die Musiksprache von Buckinx ermöglicht es so, auf ideale Weise die tonalen Prinzipien der Konsonanz und Dissonanz, der Spannungs- und Entspannungsklänge als Synonym für cusanische Anschauungen nutzbar zu machen. So stellt etwa das Changieren von Halbtonrelationen, die nicht im eigentlichen Sinne chromatisch sind (etwa das cantus-firmusartige Eingangsthema des Vorspiels) einen Versuch dar, die Grenzwertigkeit in der Koinzidenzlehre des Cusanus musikalisch zeichenhaft zu erfassen. Zugleich wird durch die unregelmäßige Folge von Ganzton- und Halbtonrelationen, die weder funktionsharmonisch, noch nach den Gesetzen der klassischen Melodielehre, noch nach melodisch-energetischen Vorgängen begreifbar. Mit anderen Worten, die Melodie, so einfach und klar sie ist, birgt unablässig Überraschungen und ihr tonmäßiges Fortschreiten ist nicht vorhersehbar. Man weiß nicht, wie es im nächsten Moment weitergeht. Und das ist eines der Prinzipien dieser interessanten Musik. Buckinx gelingt hier etwas wirklich Großartiges: Nämlich auf überaus „belehrte“ Weise, dem Hörer das Gefühl des „Nicht-Wissens“ zu vermitteln.
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„Vom Sehen Gottes“ (n.19):
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Die Hochzeit (Intermezzo II) Beflügelt durch die Kraft der Liebe, entdeckt das Mädchen den Weg zum verloren geglaubten Licht der Weisheit neu. In einer mystischen Hochzeit vermählt Cusanus sie mit dem Studenten Julianus. Die Szene ist eine Anspielung auf eine „unio mystica“ als dem Ziel des Erkenntnisweges, der traditionell durch die Stufen der Reinigung, der Erleuchtung und der Vollendung geht. Cusanus: Der Eine ist die Eine ist das Eine. Unzählige Namen und doch immer nur einer: Der Eine ist die Eine ist das Eine. Seid eins!
Die Philosophie der Namen, gemäß der kein einziger Name Gott wirklich erreicht, aber alle mehr oder minder gut Aspekte von ihm ausdrücken, ist ein Spezifikum cusanischen Denkens.
Das Gespräch (Szene V) Der Akademiker, der Löffelschnitzer, ein Mönch und die Studentin diskutieren über die Wahrheit. Dabei komme es auf den Standpunkt an. Wie bei der Religion. Denn eigentlich gebe es überhaupt nur eine einzige Religion; die unterschiedlichen Bekenntnisse sind dagegen lediglich Ausdruck unterschiedlicher religiöser Riten. Am Ende einigt man sich auf die Parole: Zuerst der Mensch! Studentin: Der Rhein scheint lange beständig zu fließen, jedoch niemals im selben Zustand. Einmal unruhig, einmal klar, einmal ist er unruhig, einmal klar, einmal führt er viel Wasser, einmal wenig. Ebenso fließt auch die Religion unbeständig zwischen Geistigkeit und Zeitlichkeit. Die Politik schwankt beständig zwischen größerem und geringerem Gehorsam.9
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Der Text ist ein Zitat aus: „Über Mutmaßungen“ (II c. 15, n. 149).
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Der Laie und der Philosoph (Szene VI) Die ganze letzte Szene bringt noch einmal Ruhe zur Betrachtung auf die Bühne. Im Hintergrund werden ausgewählte Textstellen als Videoeinspielungen projiziert. Die junge Studentin und Julianus der Student genießen die Unbeschwertheit ihrer Liebe. Noch einmal begegnen sie dabei dem Löffelschnitzer … Löffelschnitzer und Chor: Etiam si mille annis unus alium imitari studeret in quocumque, numquam tamen praecisionem attingeret. [„Über die belehrte Unwissenheit“ (II c. 1, n. 94): „Auch wenn einer tausend Jahre versuchte, einen anderen in irgendeiner Sache nachzuahmen, er würde doch niemals eine wirkliche Genauigkeit erreichen.“]
Mit diesen Worten klingt das Bühnenwerk „Cusanus – Fragmente der Unendlichkeit“ aus.
Presse Um die Reaktionen der Presse kurz wiederzugeben, habe ich im Folgenden einige Zitate zusammengestellt und deren Quelle direkt bein Zitat in Klammern angegeben. Ute Hallaschka stellt fest, dass die Werke Nikolaus von Kues wohl den wenigsten Zeitgenossen bekannt seien und schreibt dann weiter: „Dabei verdanken wir ihm geistige Fundamente, auf denen wir heute wie selbstverständlich gründen – ohne zu wissen, woher sie stammen. Wie sich zeigen wird, führen die geistigen Wege, die der Moselaner gebahnt hat, weit in die Zukunft. Dies ist das erste und wichtigste Ergebnis des Opernprojekts, eine buchstäbliche Kulturentdeckung.“ (Ute Hallaschka, die Drei I/2008) „Inigo Bocken (Libretto) und Peter Larsen (Dialoge) gelang es, aus der Fülle des Materials einen durchaus schlüssigen Text zu erstellen, Stationen aus dem Leben des Cusanus mit Texten aus seinen Abhandlungen plausibel zu verknüpfen.“ (Wolfgang Valerius, 16vor, 26.11.2007) „Roter Faden des szenischen Oratoriums ist die cusanische Philosophie über die Weisheitssuche des Menschen. Die menschliche Erkennt-
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nisfähigkeit im Hinblick auf das Absolute ist begrenzt. Unser Wissen von der ‚Unendlichkeit‘ ist immer nur Teilwissen. Wir können uns Gott somit immer nur in Fragmenten annähern. Solche „Fragmente“ der Weisheitssuche zeigt nun die Oper.“ (Dorothée Becker, Paulinus) „Vor der Musik des Belgiers Boudewijn Buckinx brauchen sich auch Opernfans nicht zu fürchten, die eher tonale Klänge bevorzugen. Er praktiziert eine fröhliche Polystilistik, die von der süffigen Romantik des späten Puccini über Mahler’schen Monumentalismus und Weill’sche Rhythmik bis zu jazzigen Bläsersätzen Marke Gershwin reicht – ohne dass es geklaut klänge.“ (Dieter Linz, Trierischer Volksfreund, 26. u. 27.11.2007) „Die stärksten Momente hatte die Inszenierung immer dann, wenn keine Bewegung stattfand, in der Stille der Pause. Oft begann eine Szene mit einem ‚freezing‘, starr arrangierten Bildtabelaus, die choreographisch sehr sprechend und ausdrucksstark waren.“ (Ute Hallaschka, die Drei I/2008) „Die gesamte Produktion vermittelt den Eindruck, das Ensemble habe sich des sperrigen Themas engagiert angenommen.“ (Dieter Linz, Trierischer Volksfreund, 26. u. 27.11.2007) „Auch die zweite Pointe der cusanischen Philosophie wird in Trier wort- und bildkräftig umkreist: das „omnia ubique“ und die „coincidentia oppositorum“, die Lehre von der letztlichen Einheit von Einzelheit und Mannigfaltigkeit, Minimum und Maximum, fernster Ferne und nächster Nähe. Jeder Teil der Welt, lehrte Cusanus, spiegelt dasselbe Ganze und ist in dieser Spiegelung auch mit dem Ganzen identisch. Und die Trierer spielen das regelrecht nach, und zwar so überzeugend und gut überlegt, daß man es ihnen glaubt.“ (Pankraz, Junge Freiheit 30.11.2007)
Die Zeit danach... Um das Potential des innerhalb des Cusanus-Oper Projekts erarbeiteten Schulmaterials weiter nutzen zu können, wurde es in einem vom der Nikolaus Koch Stiftung Trier geförderten Projekt ausgebaut und für eine allgemeine Plattform im Internet umgewandelt und ausgebaut. Auf diese Weise soll Nikolaus von Kues als die Gestalt eines prominenten Vordenkers der Region für die neuzeitliche Entwicklung Europas sicht-
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bar werden und bereits in der schulischen Bildung zentrale Impulse für Kultur, Gesellschaft und Politik im Sinne des Cusanus geben werden: für einen friedlichen, auf Diskussion und wechselseitiger Achtung basierenden Religionsdialog, ein neuzeitliches Demokratieverständnis, ein kritisch – reflektiertes Verhältnis zu den Wissenschaften sowie ein Wissen um die Eigenständigkeit und unabdingbare Bedeutung der Geisteswissenschaft für Bildung, Kultur und Soziales. Die im Rahmen des Folgeprojekts „Cusanus und Descartes – Paradigmen für Europa“ erarbeiteten Materialien sollen helfen, die Gedankenwelt des Nikolaus von Kues schwerpunktmäßig mit derjenigen von René Descartes zu vergleichen, um den Prozess zu verstehen, der zu einer einseitigen Betonung der Naturwissenschaften und ihres umfassenden Geltungsanspruches geführt hat. Die im Rahmen der Vorbereitung der Oper aufgebaute Kooperation mit Fachleitern, Schulleitern und Lehrern einzelner Fächer aus Schulen der Region konnte so in beiden Projekten fortgesetzt werden. Zu bereits bestehenden Unterrichtsreihen wurden neue gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrer entwickelt. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Ebenen der Schulpraxis (Institut für Lehrerfortbildung, Fachleiter, Schulleiter, Fachlehrer) wurden die einzelnen Reihen zunächst didaktisch konzipiert, wobei die Rolle des Institutes in der wissenschaftlichen Absicherung der Inhalte lagt. Danach wurden sie konkret an Schulen ausprobiert. Im Anschluss wurden in einer Reflexionsphase die Reihen noch einmal überarbeitet, bevor sie im letzten Schritt auf der Homepage www.cusanus-oper.de zugänglich gemacht wurden. Die Internetplattform soll in einer weiteren Ausbauphase gleichzeitig ein Forum für Lehrerinnen und Lehrer bilden, um sich über Nikolaus von Kues austauschen zu können, weitere von ihnen auch nach dem Abschluss des Projektes entwickelte Reihen vorstellen zu können und Wünsche an Kollegen oder das Institut einbringen zu können. Für der Zeit vom 5. bis zum 12. November 2008 hatte aus Anlass der 50 Jahre Städtepartnerschaft zwischen Ascoli Piceno und Trier die Stadt Ascoli zu einem internationalen wissenschaftlichen Treffen eingeladen, das zusammen mit dem Institut für Cusanus-Forschung Trier vorbereitet worden war. Daran sollten auf Einladung der Stadt Ascoli auch Schüler aus Trierer Gymnasien teilnehmen. Die seit der Uraufführung von „CUSANUS – Fragmente der Unendlichkeit“ vor einem Jahr
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bestehenden guten Kontakte zu den Trierer Gymnasien ermöglichten eine schnelle Information der Lehrer und Schüler, so dass sich letztlich 21 Schüler/innen gemeinsam mit ihren Lehrer/innen unterstützt vom Cusanus-Institut auf das Thema „Essere Infinito – L’umanità e l’infinità nel pensiero di Nicola Cusano“ („Das unendliche Sein – Der Mensch und die Unendlichkeit im Denken des Nicolaus Cusanus“) vorbereiteten. Nach einem Besuch des Geburtshauses und des Cusanus-Stiftes in Bernkastel-Kues mit einer Führung und einem Workshop im CusanusInstitut flogen die Schüler/innen vom fünf Trierer Gymnasien begleitet von einigen Lehrkräften nach Ascoli, wo sie herzlich von der Gemeinde und ihren Gastfamilien empfangen wurden. Die deutschen Referenten der Tagung flogen ebenfalls mit den Schülern schon einige Tage früher, um sie in Ascoli in gemeinsamer Arbeit auf die Tagung vorzubereiten. In ihrem Bericht über diese Tagung stellt Kirstin Zeyer fest: „Ein Novum für das Cusanus-Institut stellte die Kopplung des wissenschaftlichen Kongresses mit dem Schüleraustausch Trier – Ascoli Piceno dar. Für das Gelingen sorgte in erster Linie das engmaschige Netz von Vor- und Nachbereitungen, die maßgeblich von Dr. Harald Schwaetzer und August Herbst (Cusanus-Institut) konzipiert und unter Beteiligung der Lehrkräfte von fünf Gymnasien sowie weiterer Mitarbeiter des Cusanus-Instituts (u.a. Tom Müller) in den Schulen, in Bernkastel-Kues, im Institut für Cusanus-Forschung und – unter Mitbeteiligung der deutschen Referenten – in Ascoli Piceno durchgeführt wurden. Insgesamt 21 Schüler von [fünf -AH] Trierer Gymnasien […] reisten in Begleitung [einiger] Lehrer nach Ascoli, wo sie in Gastfamilien untergebracht wurden.“10
Ebenfalls in die didaktischen Überlegungen eingegangen ist das gemeinsam mit Studierenden entwickelte Spiel „Auf der Jagd nach Weisheit“, so benannt in Anlehnung an den Titel einer späten Schrift des Nikolaus von Kues. In der dem Spiel beiliegenden Einführung in Leben und Werk stehen weitere und genauere Informationen zu Cusanus, die auch für die Beantwortung der Fragen helfen, die im Spiel gestellt werden. Die Spieler haben die Aufgabe, Nikolaus von Kues bei drei seiner Vorhaben zu unterstützen. Es gilt, ihm als Alchimistin, Nonne oder Bibliothekarin, als Landstreicher, Händler oder Mystiker bei der Jagd nach 10 Kirstin Zeyer, Pressebericht vom 16.11.2008
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Handschriften, Edelsteinen und Goldtalern zu helfen. Diese müssen auf einer Reise durch fünf Städte Europas aufgespürt werden, wo sie in Bibliotheken, Kirchen und auf den Marktplätzen zu finden sind. Man kann aber auch unterwegs auf sie treffen – oder sie verlieren. Diese Funde werden benötigt, um die ‚Europaunion‘ sowie die Kirchenunion zu ermöglichen und das St. Nikolaus-Hospital („Cusanusstift“) zu gründen. Die Jagd nach der Weisheit gelingt jedoch nur, wenn sich auch der Charakter entwickelt; die Weisheit stellt jeden vor ganz eigene Aufgaben. Die Konzeption des Spieles lässt eine Varianz der Aufgaben zu, da sie über Spielkarten gestellt werden. Auf diese Weise ist es möglich, mit Hilfe des Spieles gezielte Lernkontrollen für verschiedene Reihen zu entwerfen. Die wesentlichen Materialien können auf der Homepage bereit gestellt werden. Ein Spielplan und die nötigen Figuren können gegen eine Schutzgebühr vom Institut bezogen werden. Da das Spiel bereits vorliegt, müssen nur noch die entsprechenden Aufgabenkarten als Lernzielkontrolle für einzelne Reihen entworfen werden, was einen großen Synergieeffekt bedeutet. Das Spiel ist auch in seiner Grundform von den Schulen bereits sehr positiv aufgenommen worden. Die Erstellung von Schulmaterial geht weiter. Reihenkonzeptionen sowie einzelne Arbeitsblätter und Materialien können aus dem Internet heruntergeladen werden und von den Lehrerinnen und Lehrern darüber hinaus noch individuell angepasst werden. Vorgesehen sind die Fächer Ethik, Philosophie, Geschichte, Religion, Deutsch, Latein, Geographie, Mathematik, Kunst und Musik. Ein besonderer Akzent soll dabei auf der fächerübergreifenden Verknüpfung von Unterrichtsmaterial liegen. Das Leben und Denken des Nikolaus von Kues hat in unterschiedlichsten Bereichen einen großen Einfluss auf das sich bildende Europa der Neuzeit ausgeübt. Es ist Nikolaus von Kues, der als Theologe maßgeblich an einer Aussöhnung von Ost- und Westkirche beteiligt war, der zu einem friedlichen Dialog der Religionen aufrief, der als Politiker zur Einigung Europas im Wiener Konkordat beitrug und das erste Konzept freier und geheimer Wahlen entwarf, als Philosoph das neue europäische Menschenbild konzipierte, als Jurist die konstantinische Schenkung als Fälschung entlarvte, als Sozialpolitiker ein bis heute wirkendes Sozialmodell für alte Menschen im von ihm und seinen Geschwistern gestifteten St. Nikolaus Hospital ausarbeitete, als Geograph die Zeichnungen für die ersten modernen Europakarten lieferte, als Mathematiker
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die Infinitesimalrechnung vorbereitete, als Humanist wichtige Handschriften wiederentdeckte – kurz ein Denker, der bis heute Europa wesentlich prägt und eine weltweite Ausstrahlungskraft hat Mit Hilfe einiger ausgewählter Beispiele jenseits des Philosophie- und Religionsunterrichtes möchte ich die Relevanz cusanischer Inhalte in der Schule kurz deutlich machten. Für die beiden genannten Fächer ist sie offenkundig; für andere könnte sie indes fraglicher erscheinen. Im Deutschunterricht der Oberstufe wird häufig „Nathan der Weise“ gelesen. Ein besonderer Akzent liegt naturgemäß auf der Ringparabel. Nun gehört es zu den Ergebnissen der Forschung, dass Lessing, als er den „Nathan“ schrieb, mit einigen Kollegen die Werke des Cusanus übersetzte; vor allem von dessen Religionsdialog „Vom Frieden im Glauben“ war er so beeindruckt, dass er diesen Dialog ins Deutsche übersetzen lassen wollte. Für den Gedanken eines toleranten, friedlichen Miteinanders in dem Versuch, sich seinem Gotte(sbild) möglichst würdig zu erweisen, sowie der weitere, immer nach den gemeinsamen Voraussetzungen von Religiosität zu fragen, steht indes die cusanische Schrift unbestritten exemplarisch. Dieser auch in der Forschung leicht übersehene Zusammenhang bietet eine sinnvolle Möglichkeit, Nikolaus in den Deutschunterricht der Oberstufe einzubinden. In den Geographieunterricht gehört Nikolaus aufgrund der Tatsache, dass die ersten modernen Europakarten von ihm abstammen. Man unterscheidet in der Fachgeographie zwischen der „Cusanus-Karte, Typ A“ und der „Cusanus-Karte, Typ B“. Ein Studium dieser Karten erlaubt nicht nur eine Charakterisierung neuzeitlicher Kartentechnik, ein Verständnis von den Voraussetzungen der Kartographie – theoretisch und praktisch –, sondern macht auf diese Fragen anhand einer Karte aufmerksam, in deren Zentrum die Trierer Region steht. Auch im Mathematikunterricht kann Cusanus eingesetzt werden; er gilt nicht nur als einer der Stammväter der Infinitesimalrechnung, sondern hat auch anschauliche, gleichwohl bahnbrechende Verfahren zur Berechnung der Zahl „pi“ entwickelt, die heutzutage leicht auf den Computer übertragen und automatisiert werden können; zudem ist sein Beitrag zur Problematik des „Unendlichen“ wesentlich. Einsichtig ist wiederum die Verbindung mit dem Fach Kunst. So verbindet sich der Umbruch in die Neuzeit mit der Malerei Flanderns, vor allem mit den Namen van Eyck und van der Weyden. Cusanus nennt Rogier van der Weyden in seiner Schrift „Vom Sehen
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Gottes“ den „größten Maler“ der Zeit; er kannte dessen Bilder und möglicherweise auch diejenigen van Eycks. Außerdem war Cusanus mit den Häuptern der italienischen Renaissance wie Alberti vertraut. Neuere Forschungsarbeiten haben auf den Zusammenhang zwischen Religion, Kunst und Naturwissenschaft (etwa durch die Verwendung der mathematisch gefassten Zentralperspektive) aufmerksam gemacht. Ein zentraler Bildtypus der Zeit, welcher für das „moderne“ Konzept steht, ist derjenige des alles sehenden Christus („Mona-Lisa-Effekt“). Ihm widmet Cusanus seinen Traktat „Vom Sehen Gottes“.
Bild 4: Szenenfoto aus der Szene: „Das Sehen des Sehens“
Zum Schluss bleibt für den Augenblick nur noch zu berichten, dass auch die Arbeiten in der Lehrerfortbildung noch fortgeführt werden, wobei das Material aus der Cusanus-Oper weitere Verwendung findet. In Rahmen des Themas „Mystisches Sprechen von Gott“, welches im Kurrikulum für den katholischen Religionsunterricht für die Gymnasiale Oberstufe im Saarland aufgeführt ist, bietet sich die Schrift „Vom Sehen Gottes“ des Nikolaus von Kues an. Einen ersten Zugang kann dabei eine Aufnahme aus der Cusanus-Oper erleichtern, da hier „Das Sehen des Sehens“ trainiert und den Schülern bewusst gemacht werden kann. Hier lassen sich viele Perspektiven erkennen: Der Kameramann links im Bild sieht (mit seiner Kamera) den Mönch im Profil, den der Zuschauer nur von hinten sieht. Der Chor hingegen kann ihn von vorne sehen, wie wir den Cusanus. Dieser wiederum sieht uns an – und wir sehen mehrfaches Sehen, außer unserem Blick auf dieses Bild...
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Literatur BERGER, CHRISTIAN: Die „Coniuncta“, oder: Wie Johannes Tinctoris Halbtöne zu beschreiben versucht. URN: urn:nbn:de:bsz:25-opus16376; URL: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/1637/; Quelle: Nova de veteribus : mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt / hrsg. von Andreas Bihrer ... München : Saur, 2004, S. 787-798 HERBST, AUGUST: Opern-Fragmente. In: Litterae Cusanae Band 8, Heft 1 (2008), S. 32-33. LARSEN, PETER: Expose zur Cusanus-Oper (2006) (nicht veröffentlicht) DERS.: CUSANUS – Fragmente der Unendlichkeit. In: Litterae Cusanae Band 7, Heft 1 (2007), S. 2-13. Libretto: CUSANUS – Fragmente der Unendlichkeit. Von INIGO BOCKEN; Prolog und Zwischenspiel: PETER LARSEN. In: Litterae Cusanae Band 7, Heft 1 (2007), S. 29-65. Programm Heft 7, Spielzeit 2007/2008. Herausgegeben vom Theater Trier. Intendant GERHARD WEBER. ZEYER, KIRSTIN: Rückblick: Internationaler Kongress „Essere Infinito – L’umanità e l’infinità nel pensiero di Nicola Cusano“ in Ascoli Piceno vom 8.-9. Nov. 2008 mit Schüleraustausch Trier-Ascoli vom 5.-12. Nov. 2008. (Pressebericht vom 16.11.2008)
Bildnachw eis Probenfotos der 1. Hauptprobe vom 20.11.2007: KLAUS-DIETER THEIS, Konz, © 2007 Theater Trier.
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Agosta, Silvio, geb. 1975, Studium der Katholischen Theologie und der Chemie in Tübingen. Staatsexamen in Katholischer Theologie und Chemie. Seitdem Lehrtätigkeit an einem allgemeinbildenden Gymnasium und Beschäftigung mit Cusanus im Zuge eines Promotionsvorhabens. Bartosch, David, M.A., arbeitet in Oldenburg sowie teilweise in China an seiner Dissertation zum Vergleich der Philosophien Nicolaus Cusanus’ und Wang Yangmings. Seine Forschungsgebiete sind Geschichte der abendländischen und chinesischen Philosophie, Kultur(en)philosophie, komparative und interkulturelle Philosophie sowie Sprachphilosophie. Bocken, Inigo, Prof. Dr., Wissenschaftlicher Direktor des Titus Brandsma-Instituts der Radboud Universität Nijmegen. A. v. Humboldt Alumnus und Gründungsmitglied der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte Filippi, Elena, Dr., Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. A. v. HumboldtAlumna und Mitglied der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, so wie der Renaissance Society of America und der Società di Studi Cusaniana. Geiger, Heinrich, geb. 1954, ist nach einem Studium der Sinologie, Philosophie, Chinesischen Kunst und Archäologie im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungszusammenarbeit tätig. Zahlreiche Veröf-
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fentlichungen zu Themen der chinesischen Kunst, Ästhetik und Philosophie sowie, ganz allgemein, zu Fragen der Bildungskooperation und des interkulturellen Dialogs. 2005 erschien sein Hauptwerk zur chinesischen Ästhetik Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne, Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 334 S. Im Jahr 2009 Erblühende Zweige. Westliche klassische Musik in China, Schott Campus, Mainz, 204 S. Gottlöber, Susan, Contract Lecturer an der National University of Ireland, Maynooth. Herbst, August, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte. Hua Li, Philosophische Doktorin, studierte von Oktober 2008 bis September 2010 unter der Betreuung von Professor Michael Eckert in Tübingen, promoviert im Juli 2011 an der Fudan Universität in Shanghai. Mandrella, Isabelle, geb. 1968; Studium der Kath. Theologie und Philosophie in Bonn; 2001 Dissertation in Philosophie in Bonn; 20022004 Mitarbeiterin der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am Institut für Cusanusforschung in Trier; 2005-2010 Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bonn; 2011 Habilitation in Bonn; zur Zeit Lehrstuhlvertretung an der LMU München. Moritz, Arne, Dr. phil., geb. 1972, wissenschaftlicher Mitarbeiter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie. Morosow, Witalij, Dr. phil., Studium und Promotion an der Staatlichen Universität St. Petersburg, forschte mit einem DAAD-Stipendium an der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte zu Cusanus und die Alchemie; z.Zt. Mitarbeit an einem Forschungsprojekt der Universität Trier zur Cusanusrezeption in Russland. Müller, Tom, Dr. phil., geb. 1980, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte.
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Autorinnen und Autoren
Omodeo, Pietro Daniel, Dr. phil., research scholar am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte Berlin (zur Geschichte der Astronomie und Philosophie). Ranff, Viki, Dr. phil., Studium der Philosophie, kath. Theologie und Geschichte, Promotion in Philosophie über „Scientia und sapientia bei Hildegard von Bingen“, Habilitationsprojekt über „Die Verähnlichung des Menschen mit Gott und Vergöttlichung bei Dionysius Areopagita, Johannes Scotus Eriugena und Nikolaus von Kues“; seit 2009 Dozentin am Institut für Cusanus-Forschung der Theologischen Fakultät Trier und der Universität Trier. Resch, Felix, M.A., Jahrgang 1985, studierte Philosophie und Theologie in München, Freiburg, Trier und Mexiko-Stadt. Im Rahmen seines Promotionsprojektes über Cusanus’ Trinitätsspekulation mehrmonatiger DAAD-Forschungsaufenthalt in Paris. Seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Christliche Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Rusconi, Cecilia, Dr. phil. der Universidad de Buenos Aires; Forscherin am Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas (Argentinien). Schick, Stefan, Dr. phil., geb. 1979. Seit Mai 2011 Akademischer Rat a.Z. am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Regensburg. Promotion im Jahre 2009 zum Thema „Contradictio est regula veri. Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik“ an der Universität Regensburg. Schneider, Wolfgang Christian, Dr. phil., Professor für Geschichte an der Universität Darmstadt und Mitglied des philosophischen Seminars der Universität Hildesheim. Schwaetzer, Harald, Professor für Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Außerdem ist er wissenschaftlicher Vorstand der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte.
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Ströbele, Christian, Studium der Philosophie, Germanistik, katholischen Theologie; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Fundamentaltheologie/Religionsphilosophie der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Thiel, Detlef, freier Philosoph; Mitherausgeber der „Gesammelten Schriften“ von Salomo Friedlaender/Mynona (13 Bände bisher); Bücher zu Derrida (1990), Platon (1993), Friedlaender/Mynona (2012); Aufsätze und Rezensionen zu diesen sowie zu Cusanus, Ficino, F. Bacon, Kant, Husserl, Patoþka. Vengeon, Fréderic, Dr. phil, Directeur de programme am Collège International de Philosophie, Paris. Vollet, Matthias, Dr. phil., Geschäftsführer der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte. Weiß, Dominik, hat in Tübingen und Dublin Katholische Theologie, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur studiert. Er arbeitet als Pastoralreferent in Stuttgart. Zahnd, Ueli, Assistent für Kirchengeschichte an der ‘Faculté autonome de théologie’, Genf. Zeyer, Kirstin, Dr. M. A., Münster / Bernkastel-Kues. Wiss. Mitarbeiterin der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, Redakteurin der Zeitschrift Coincidentia; Stiftungsratsmitglied der Hugo-DinglerStiftung (Aschaffenburg); Sekretariat der Heinrich Barth-Gesellschaft (Basel). Publikationen: Die methodische Philosophie Hugo Dinglers und der transzendentale Idealismus Immanuel Kants (1999); Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Die kontroversen klassischen Posi-tionen von Spicker, Cassirer, Hartmann, Dingler und Popper (2005); Paul Jostock (1895-1965). Christlicher Widerständler und Sozialreformer aus der Trierer Region (2007); hg. zus. mit Harald Schwaetzer: Das Europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues. Geistesgeschichte als Geistesgegenwart (2008); hg. zus. mit August Herbst: Gideon Spicker: Mensch und Thier. Samt Carl von Prantls Reformgedanken zur Logik (2010).
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer (Hg.) Räume der Macht Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit April 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2221-8
Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane Dezember 2012, 570 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2137-2
Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1
Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution August 2012, 412 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2164-8
Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de