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German Pages 260 Year 2014
Aldo Mascareño Die Moderne Lateinamerikas
a Gino Germani (1911-1979) Sociólogo de asincronías y diferencias
Aldo Mascareño (Dr. rer. soc.) lehrt Soziologie an der Escuela de Gobierno, Universidad Adolfo Ibáñez (Santiago, Chile). Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Rechtstheorie sowie die Soziologie Lateinamerikas.
Aldo Mascareño
Die Moderne Lateinamerikas Weltgesellschaft, Region und funktionale Differenzierung
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
9
2 Funktionale Differenzierung 2.1 2.2 2.3 2.4
Institutionen und funktionale Differenzierung . . . . . . . . Organisation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien . . . . Konzentrische Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Sachdimension: Das Problem der Unterscheidung . 2.4.2 Sozialdimension: Autopoiesis und Kommunikation . 2.4.3 Zeitdimension: Steigerung der Selbstreferenz . . . .
15 . . . . . . .
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3 Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft
41
3.1 Der Begriff der Weltgesellschaft in der Systemtheorie . . . . . . . . 3.2 Zum Begriff der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Differenzierungsformen in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Operatorik der Ersatzmechanismen in der Region Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Der Weg der Region Lateinamerika in der Weltgesellschaft 3.4 Das Primat der funktionalen Differenzierung . . . . . . . . . . . .
4 Strukturevolution in Lateinamerika 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Zentralisierungstradition in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . Der Übergang zur funktionalen Differenzierung . . . . . . . . . . Ausdifferenzierung des politischen Systems . . . . . . . . . . . . Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems . . . . . . . . . . . . . Ausdifferenzierung des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Zivilisierung der Macht durch Positivierung des Rechts . 4.5.2 Entwertung der Legalität durch Macht . . . . . . . . . . . 4.5.3 Rechtsänderung als Außerkraftsetzung der Rechtsordnung 4.5.4 Symbolische Konstitutionalisierung . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Konsequenzen für die Regionalisierung Lateinamerikas .
15 18 22 26 26 31 34
41 47 59 60 66 75
77 . 77 . 80 . 86 . 93 . 100 . 100 . 102 . 105 . 108 . 112
5 Semantik der Moderne in Lateinamerika
115
5.1 Semantik der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Einheit und Differenz in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie . 5.3.1 Lateinamerika als unvollkommene Version der europäi schen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Lateinamerika als ethische Gemeinschaft . . . . . . . 5.3.3 Soziologisches Wissen als politisches Programm . . . 5.3.4 Die soziologische Selbstbeschreibung Lateinamerikas jenseits der Erkenntnisblockaden . . . . . . . . . . . .
. . . 117 . . . 122 . . . 129 . . . 131 . . . 136 . . . 144 . . . 150
6 Steuerungsprobleme in Lateinamerika 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Komplexitätsasynchronien und Steuerungsbedarf Komplexitätsasynchronien im politischen System . Komplexitätsasynchronien im Wirtschaftssystem . Komplexitätsasynchronien im Rechtssystem . . . . Steuerungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Zentrifugale Steuerung . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Konzentrische Institutionalisierung . . . . .
7 Koordination und dezentrale Steuerungspraxis 7.1 7.2 7.3 7.4
161 . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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. 162 . 165 . 168 . 173 . 177 . 178 . 182
199
Kompromissstaat: Integration durch Planung . . . . . . . . . . . . 200 Autoritärer Staat: Zwang und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Supervision des Staates und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Koordination und dezentrale Steuerungspraxis . . . . . . . . . . . 212 7.4.1 Tarifverhandlungen und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . 212 7.4.2 Selbstbeschränkung und die Schaffung deliberativer demokratischer Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.4.3 Gescheiterter Versuch einer proaktiven Lokalpolitik . . . . 217 7.4.4 Die Entparadoxierung der Menschenrechtsprobleme in Chile . 219 7.4.5 Marktnetzwerke und Steuerungskonstellationen . . . . . . 222 7.4.6 Reflexive Regulierung und „regulatory agencies“ . . . . . . 226 7.4.7 Supranationale Steuerung und Schiedsgerichtsbarkeit . . . 228
8 Epilog
231
Literatur
235
Tabellenverzeichnis
3.1 Territoriale, regionale und globale Ebenen der Weltgesellschaft . 3.2 Positive und negative Sanktionsformen in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Geschichte und Strukturevolution I . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Geschichte und Strukturevolution II . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 48 . 64 . 73 . 74
6.1 Corruption Perception Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.2 Generative und deliberative Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . 194 7.1 Staats- und Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
1 Einleitung Die hier vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Beschreibung der Moderne in Lateinamerika als eine funktional differenzierte Gesellschaft. Die Systemtheorie bildet den theoretischen Hintergrund dieses Versuchs. Drei Abstraktionsebenen werden im Text untersucht: die Systemtheorie als begrifflicher Bezugsrahmen, die Theorie der funktionalen Differenzierung als Diagnose der lateinamerikanischen Gesellschaftsordnung und die Steuerungstheorie als Beobachtungsposition, um empirische Transformationsprozesse in Lateinamerika zu interpretieren. Die Systemtheorie besagt, dass die moderne Gesellschaft durch das Primat der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet ist. Primat der funktionalen Differenzierung bedeutet, dass es in dieser Gesellschaft eine zunehmende Spezialisierung von Teilsystemen gibt (Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Intimität), die die Einwirkung anderer Differenzierungsformen (segmentäre, Zentrum/Peripherie- und stratifizierte Differenzierung) auf die moderne Gesellschaft relativiert. Die Gesellschaft wird als eine polyzentrische Gesellschaft geschildert, d. h. eine Gesellschaft, die ohne ein Steuerungszentrum auskommen muss. Jedes System stellt sich selbst als Zentrum der Gesellschaft dar und erhebt den Anspruch, autonom zu sein. Diese Autonomie basiert auf der systemtheoretischen Formulierung eines operativ geschlossenen Systems, das von außen nur über Irritationen und Perturbationen beeinflusst werden kann, die im System und vom System als eigenständiges Ereignis prozessiert werden. Die moderne Gesellschaft wird dann zu einer atonalen Symphonie verschiedener Operationslogiken, die zwar miteinander kommunizieren, sich aber nicht untereinander instruieren können. Ohne dem Primat der funktionalen Differenzierung zu widersprechen, geht es in diesem Buch um die Plausibilisierung einer nicht polyzentrischen Form der funktionalen Differenzierung in der Weltgesellschaft. Anders formuliert, es handelt sich dabei um den lateinamerikanischen Weg der funktionalen Differenzierung. Der Begriff der konzentrisch institutionalisierten Ordnung spielt dabei eine zentrale Rolle. Er besagt, dass der Entfaltung der formellen Institutionen der funktionalen Differenzierung Entdifferenzierungsepisoden zugrunde liegen, die sich ständig von informellen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken aus auf das Ganze verbreiten und ein kommunikatives Gravitationsfeld um
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sich herum erzeugen, das Zentralisierungstendenzen im Rahmen des Primats der funktionalen Differenzierung entstehen lässt. Es handelt sich aber um keinen völlig entdifferenzierten gesellschaftlichen Raum, in dem alles auf solche Netzwerke hinausläuft. Das würde bedeuten, dass es keine funktionale Differenzierung gibt und dass das Ganze allopoietisch funktioniert, wie in früheren stratifizierten Gesellschaften. Vielmehr geht es bei einer konzentrisch institutionalisierten funktional differenzierten Gesellschaftsordnung um eine komplexe Kombination von differenzierten, sich ausdifferenzierenden Teilsystemen und Entdifferenzierungsepisoden unterschiedlicher Dichte und Intensität, die die Konstellationen systemischer Koordination tendenziell hierarchisieren. Aus diesen Überlegungen lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen ableiten, auf die im Laufe der Untersuchung eingegangen wird. Als methodologische Vorbemerkung sei an dieser Stelle bereits auf zwei prägnante Unterscheidungen bei der Interpretation Lateinamerikas hingewiesen: die Unterscheidung Zivilisation/Barbarei im 19. Jahrhundert im sogenannten lateinamerikanischen Sozialdenken (Sarmiento, Alberdi, Bello u. a.) und die Unterscheidung Entwicklung/Unterentwicklung, die im 20. Jahrhundert dominierte. Diese Unterscheidungen haben dazu beigetragen, eine Vorstellung der Verhältnisse in Lateinamerika aufzubauen, die die Außenseite „der Zivilisation“ und „der Entwicklung“ als Negativität beschreibt – als das, was zum positiven Wert der Unterscheidung hin verändert werden müsse. Ensprechend wurden im 19. Jahrhundert die Abwesenheit von Zivilisation und im 20. Jahrhundert eine Unvollkommenheit der Entwicklung als zentrale Probleme Lateinamerikas begriffen. Ziel war es, eine einheitliche Zivilisation bzw. eine einheitliche Entwicklung zu erreichen, ohne zu hinterfragen, ob solche Erwartungen tatsächlich zu erfüllen sind. Dahinter verbarg sich eine lineare Evolutionstheorie, die man mit dem Begriff Fortschrittsvorurteil umschreiben könnte. Folgt man dieser Sichtweise und gleicht sie mit dem Argument der funktionalen Differenzierung ab, dann wird für Lateinamerika zwischen einer hochentwickelten und einer korrupten, zwischen einer vollkommenen und einer mangelhaften Form der funktionalen Differenzierung unterschieden: Ausgehend von einem idealen Endzustand der funktionalen Differenzierung, der durch eine polyzentrische Struktur gekennzeichnet ist, gilt dem Fortschrittsvorurteil entsprechend all das, was mit diesem Modell nicht übereinstimmt, als zurückgebliebene Form der funktionalen Differenzierung. Lateinamerika wird so als eine minderwertige Kopie Europas betrachtet, ohne Berücksichtigung seiner spezifischen gesellschaftlichen Evolution – wie es im 19. und 20. Jahrhundert mit den Unterscheidungen Zivilisation/Barbarei bzw. Entwicklung/Unterentwicklung der Fall war. Der Interpretationsversuch dieses Buches folgt einer anderen Sicht. Dieser
Kapitel 1. Einleitung | 11
liegt die Prämisse zugrunde, dass es ein Primat der funktionalen Differenzierung auf weltgesellschaftlicher Ebene gibt, jedoch nicht als fixiertes Vorbild, wie dieses Primat ausgeübt werden soll. Diese Interpretation führt also nicht zu einer hierarchisierten und zeitlich bedingten Unterscheidung zur Beschreibung der modernen Gesellschaft: Es geht nicht um eine barbarische, unterentwickelte oder korrupte funktionale Differenzierung, die in eine zivilisierte, hochentwickelte und vollkommene Differenzierungsform verwandelt werden muss. Zwei idealtypische Strukturierungsmuster werden hier präsentiert: eine polyzentrische und eine konzentrisch institutionalisierte Ordnung. Sie sind als zwei unterschiedliche Formen der funktionalen Differenzierung zu verstehen, wobei keine von beiden als fortschrittlicher oder rückständiger zu bezeichnen ist. Würden der theoretischen Reflexion eine Fortschrittsperspektive und damit die normativen Annahmen eines Fortschrittsvorurteils zugrunde gelegt, so würde sich eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung als eine untergeordnete Gesellschaftsordnung darstellen, die sich in einer Übergangsphase zur polyzentrischen Moderne befindet. Das soll hier vermieden werden. Evolution ist das, was ist, und nicht das, was sein soll. In diesem Sinne soll die lateinamerikanische Strukturierung der funktionalen Differenzierung als eine eigene Form des Einbruchs in die Moderne verstanden und als solche soziologisch analysiert werden. Es bleibt die Frage, ob man in anderen Regionen der Weltgesellschaft von einer konzentrischen Form der funktionalen Differenzierung sprechen kann – eine Frage, die in diesem Buch jedoch nicht behandelt wird. Wenn aber die Moderne durch das Primat der funktionalen Differenzierung gekennzeichnet ist, dann ist anzunehmen, dass die in anderen Regionen der Welt von den unterschiedlichen Differenzierungsformen herausgebildeten gesellschaftlichen Konstellationen anders sind als in Europa oder Lateinamerika. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um eine Frage des Kontinents, sondern um die Inklusions-/Exklusionsvorgänge und um die Governance-Regimes, die durch das Zusammenspiel der Differenzierungsformen und Netzwerke einen gesellschaftlichen Raum konstituieren. Der Mittlere Osten gilt als Raum der Weltgesellschaft, der insbesondere durch religiöse und moralisch-politische Kommunikation gesteuert wird. Der Asien-Pazifik-Raum wiederum zeichnet sich aus durch ein selbstgesteuertes Wirtschaftssystem und eine teilweise hegemoniale, teilweise demokratische Politik. Es bedarf aber weiterer empirischer Forschung, um diese Konstellationen präziser zu analysieren und aufzuzeigen, inwiefern sie einen Weg der funktionalen Differenzierung, einen Weg in die Moderne darstellen. Diese Überlegungen machen aber bereits deutlich, dass es nicht sinnvoll erscheint, für Lateinamerika von einem Sonderweg der funktionalen Differen-
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zierung zu sprechen. Nicht sinnvoll vor allem deshalb, weil es keinen normalen Weg der funktionalen Differenzierung gibt, keine privilegierte Beobachtungsposition, von der aus die parallelen Entwicklungen der Weltgesellschaft bewertet werden können. Der Mittlere Osten, der Asien-Pazifik-Raum, Zentralafrika, Zentralasien, Europa, Osteuropa und Lateinamerika lassen sich unter soziologischen Aspekten vergleichen. Es ist jedoch nicht möglich, diese regionalen Konstellationen nach dem Grad Ihrer Differenzierung oder ihrer Annäherung an das „richtige Ziel“ in eine Hierarchie zu bringen. Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. In Kapitel 2 werden die Grundlagen einer Theorie der Systemdifferenzierung in Lateinamerika beschrieben. Zur Erläuterung der scheinbar paradoxen Hypothese, dass das Primat der funktionalen Differenzierung auf weltgesellschaftlicher Ebene institutionell polyzentrisch und konzentrisch strukturiert sei, wird auf verschiedene Aspekte der Theoriebildung eingegangen. In Kapitel 3 wird versucht, Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft zu präsentieren. Eine Interpretation des Begriffs der Weltgesellschaft als Zusammenspiel dreier emergenter gesellschaftlicher Ebenen (Territorium, Raum und Welt – oder anders formuliert: Nationalstaat, regionale Institutionalisierung und funktionale Differenzierung) wird hier skizziert. Diese Interpretation unterstützt die Auffassung, dass Lateinamerika eine besondere gesellschaftliche Konstellation funktional differenzierter Institutionen und informeller Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke darstellt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der historisch-strukturellen Plausibilisierung des in Kapitel 2 und 3 entwickelten theoretischen Modells. Die Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Recht in Lateinamerika werden hier untersucht. Es wird postuliert, dass Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke als derivative Strukturen früherer Differenzierungsformen entstanden sind und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg zur konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung geebnet haben. Die Morphogenese dieser Ordnung wird beeinflusst durch die Operationsmechanismen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke Gewalt, Korruption, Zwang und Einfluss, die die Durchsetzung rechtlicher Entscheidungen blockieren – was als eine Entwertung der Legalität durch politische Macht bezeichnet werden kann. Kapitel 5 befasst sich mit den semantischen Konsequenzen der Strukturrevolution einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung. Eine funktional differenzierte Tiefenorganisation mit einer konzentrisch institutionalisierten Struktur führt zu Widersprüchen auf semantischer Ebene. Diese Widersprüche und Paradoxien werden mithilfe einer Analyse lateinamerikanischer Literatur und Sozialwissenschaft aufgezeigt. Unter der Annahme, dass das Zusammenspiel zwischen den universell pro-
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zeduralisierten Institutionen der funktionalen Differenzierung und den partikularistischen, informellen Operationen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke unterschiedliche Komplexitätsasynchronien auf regionaler und weltgesellschaftlicher Ebene auslöst, wird in Kapitel 6 auf zwei Formen von Steuerungsstrategien eingegangen, die zur Verarbeitung der Komplexitätsasynchronien angewendet werden: generative und deliberative Steuerungsstrategien. Generative Steuerungsstrategien sollen die wachsende systemische Selbststeuerung unterstützen – und zwar vor allem durch Mechanismen der Autonomiebildung. Deliberative Steuerungsstrategien sind darauf gerichtet, die Rahmenbedingungen der Zusammensetzung sich formierender Verhandlungssysteme und Netzwerke abzusichern. Schließlich befasst sich Kapitel 7 mit den staatlichen Steuerungsformen in Lateinamerika und deren Suboptimalität in Bezug auf die Bewältigung der Komplexitätsasynchronien. Das Prinzip Planung im Kompromissstaat und das Prinzip Kontrolle im autoritären Staat werden analysiert. Es folgt eine Einführung in die Form des relationalen Programms des Rechts in einem Supervisionsstaat, um der Frage nachzugehen, wie dezentrale Koordinations- und Steuerungsmuster im Rahmen eines immer komplexer werdenden lateinamerikanischen Gesellschaftssystems erfolgreich sein können. Umfassende Analysen im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Forschung Lateinamerikas sind kaum zu finden. In den 1950er Jahren hat die Dependenztheorie wirtschaftliche, strukturalistische und marxistisch orientierte Klassenanalysen in ein Theoriemodell zusammengeführt und damit ein völlig neues Bild Lateinamerikas entworfen, das jedoch unter dem Fortschrittsvorurteil litt. In den 1960er Jahren stellte Gino Germani seine Theorie des Übergangs auf. Diese stützte sich auf die Theorie Parsons, die Lateinamerika mit dem Begriff der strukturellen Asynchronie beschrieb. Es handelt sich dabei um die bisher wichtigste und komplexeste soziologische Analyse des Modernisierungsprozesses in Lateinamerika. Die hier vorliegende Untersuchung versucht, eine alternative Gesamtinterpretation Lateinamerikas zu entwickeln, die auf dem aktuellen und raffinierten Instrumentarium der modernen Systemtheorie Luhmann’scher Prägung basiert.
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Danksagung An erster Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Helmut Willke bedanken. Seine Kommentare und Anregungen haben es mir erlaubt, meinen eigenen Weg zu gehen. Bei Darío Rodríguez bedanke ich mich für seine Unterstützung im akademischen Leben. Daniel Chernilo verdanke ich unzählige, jahrelange Diskussionen über Gesellschaftstheorie. Seine Provokationen wiesen präzise auf bestimmte blinde Flecken meiner Beobachtung hin. Mein herzlicher Dank gilt auch Elina Meremiskaya. Ihre bedingungslose Unterstützung war eine unerlässliche Hilfe für die Fertigstellung dieses Buches. Die Begegnung mit Christian Büscher war für mich von überragender Bedeutung. Ohne seine Anregungen und die Kombination aus Freundschaft und akademischer Zusammenarbeit wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ihm, Gotthard Bechmann und Armin Grunwald gebührt ein besonderer Dank für ihren freundlichen Empfang am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am damaligen Forschungszentrum Karlsruhe (FZK) und heutigem Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie ermöglichten es mir, am Forschungsprojekt „Risk Habitat Megacity“ teilzunehmen und einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt am ITAS durchzuführen, in dem grundlegende Teile dieses Buches entstanden sind. Im Rahmen dieses Projekts und mit dessen finanzieller Unterstützung wurde dieses Buch verwirklicht. Schließlich verdanke ich Jorge Larraín, Marcelo Arnold und Miguel Chávez die Öffnung von Arbeits- und Diskussionsräumen, die zur Raffinierung der Argumentationen führten. Kapitel 5 und Teile des Kapitels 3 basieren auf Analysen, die im Rahmen der Fondecyt-Projekte Nr. 1070826, 1110437 und Nr. 1110428 unter meiner Leitung durchgeführt wurden. Bei den Mitarbeitern dieses Projekts (Daniel Chernilo, Gabriela Azócar, Pedro Güell, Francisco Mujica, Camila Malig und Felipe Padilla) bedanke ich mich auch ganz herzlich. Für ihre sprachliche Überarbeitung danke ich Sylke Wintzer. Sie hat es verstanden, an einigen Stellen im Manuskript den Sinn des Gemeinten besser darzustellen als der Autor. Verbliebene Fehler liegen weiterhin in meiner Verantwortung.
2 Die Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung in Lateinamerika Lateinamerika kann erst dann systemtheoretisch verstanden werden, wenn es nicht als Ergebnis einer begrenzten Entwicklung einer polyzentrischen Gesellschaft betrachtet wird. Eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung ist nicht gleichzusetzen mit einer unterentwickelten polyzentrischen Gesellschaft. Es handelt sich eher um eine evolutive Restabilisierung bestimmter gesellschaftlicher Selektionen, die zu einer Art der Institutionalisierung mit zentralisierenden und dezentralisierenden Tendenzen führen. Auch wenn das Ziel dieser Untersuchung nicht darin besteht, konzentrisch und polyzentrisch stabilisierte Institutionen zu vergleichen, versuche ich in diesem Kapitel diese zwei Idealtypen theoretisch zu charakterisieren. Dazu verwende ich den Institutionenbegriff als Erwartungsstruktur, die durch Organisationen (2.1) und den Unterschied zwischen Organisation und Struktur im Sinne Maturanas spezifiziert wird (2.2). Die unterschiedlichen Erwartungsstrukturen der institutionellen Ordnung führen zu Asymmetrien bei den symbolisch generalisierten Medienkonstellationen (2.3), die wichtige Konsequenzen für die Sach-, Sozial- und Zeitdimension haben (2.4). Eine analytische Untersuchung bringt die Unterschiede zwischen beiden Institutionalisierungsformen ans Licht und ermöglicht die systemtheoretische Beschreibung einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung.
2.1 Systemdifferenzierung I: Institutionen und funktionale Differenzierung Der Institutionenbegriff wird in der Systemtheorie nicht sehr geschätzt: „Alle Akzente, die man mit dem Begriff der Institution zu setzen versucht, richten sich direkt oder indirekt gegen Annahmen, die man der älteren Systemtheorie, teilweise zu Recht, zuschreibt [...] Aber die dagegen sich richtende Polemik hat ihr eigenes theoretisches Fundament nicht sichern, nicht einmal explizieren können“ (Luhmann 2000a: 36).
Die Alternative Luhmanns heißt Systemtheorie selbstreferenzieller Systeme und Organisationsforschung.
16 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
In dieser Untersuchung verwende ich den Institutionenbegriff aus mehreren Gründen: (1) Er ist ein Zentralbegriff unterschiedlicher theoretischer Ansätze zu Lateinamerika, insbesondere in Gino Germanis Theorie der Asynchronie des Übergangs zwischen Tradition und Moderne, die von großer Bedeutung für die hier durchgeführte Analyse der funktionalen Differenzierung in Lateinamerika ist. (2) In diesem Buch basiert die Beschreibung des lateinamerikanischen Weges der funktionalen Differenzierung auf der Spannung zwischen den zentrifugalen Erwartungen der Funktionssysteme und den zentralisierenden Erwartungen anderer Gesellschaftsformationen (segmentierte Differenzierung, Zentrum/Peripherie-Differenzierung und stratifizierte Differenzierung). Hier scheint der Begriff der Institution flexibel genug, um den Spezialisierungsdruck der Differenzierung mit der eher traditionellen Plurifunktionalität älterer Strukturen zu kombinieren. (3) Der Institutionenbegriff schließt formalisierte Verhaltensmaßregeln und wenig formalisierte Regeln wie Sitten, Routinen und Gewohnheiten ein. Durch funktionale Differenzierung in Lateinamerika können Institutionen ihre Leistungen prozeduralisieren und zugleich informelle Routinen am Leben erhalten, die solche Leistungen ermöglichen, wenn man im Netzwerk als Mitglied gilt. (4) Aufgrund der Kombination von formellen und informellen Regeln ist der Institutionenbegriff geeignet, um die Inklusions- und Exklusionsprobleme nicht nur aus der Perspektive der Funktionsleistung zu thematisieren, sondern auch aus der Perspektive von Inklusions- und Exklusionsnetzwerken, die unterschiedliche Routinen kombinieren. Theoretische Grundlage dieser Untersuchung ist jedoch eine Systemtheorie selbstreferenzieller Systeme. Ich verwende den Begriff der Institutionen in einem allgemeinen Sinn als Erwartungsstrukturen, die das Handeln und Entscheiden der Institutionen beeinflussen (Hasse/Krücken 1999). In diesem Zusammenhang werden Organisationen als leistungsspezifische Einheiten der funktionalen Differenzierung betrachtet, die im institutionellen Umgang operieren und denen die gesellschaftlichen Teilsysteme als Orientierungshorizont dienen (Büscher 2004; Schimank 2007). Eine Rollendifferenzierung auf der Basis der Organisationsstruktur wurde bereits mit der klassischen Definition Parsons eingeführt: „The institution should be considered a higher order unit of social structure than the role, and indeed it is made up of a plurality of inter-dependent role-patterns or components of them. Thus when we speak of the ‚institution of property‘ in a social system we bring together those aspects of the roles of the component actors which have to do with the integration of action-expectations with the value-patterns governing the definition of rights in ‚possessions‘ and obligations relative to them“ (Parsons 1970: 39).
2.1. Institutionen und funktionale Differenzierung | 17
Parsons betont die Komplexität der institutionellen Ordnung, die aus einer nicht spezifizierbaren Aggregation von Rollen mit entsprechenden Erwartungsstrukturen besteht. Solche Erwartungsstrukturen entstehen nicht nur aus der formalen Organisationsstruktur, sondern werden auch durch das kulturelle Umfeld geprägt. Man kann in diesem Sinne mit Meyer und Rowan (1977) von institutionalized organizations sprechen. Damit sind Werte, Normen, scripts, Symbole, Sitten, Mythen, Gewohnheiten, Routinen u. a. gemeint, die zwar mittelbar mit der formellen Rollendifferenzierung zusammenhängen können, die aber auch Einfluss auf die damit verbundenen Erwartungsstrukturen haben. Parsons spricht in diesem Zusammenhang von normative patterning: „I have chosen to treat institutions as modes of normative patterning of relations among component units of social systems“ (Parsons 2007: 68). Dieses Argument lässt sich erweitern um den von DiMaggio und Powell (1991) definierten Begriff des institutionellen Isomorphismus. Isomorphismus setzt Angleichungsprozesse zwischen Organisationen voraus, die im selben Umfeld operieren. Die Autoren unterscheiden drei Typen: Zwang, Isomorphismus mimetischer und normativer Art. Zwang entsteht aus formellen, vor allem gesetzlichen Regelungen und aus kulturbedingten Erwartungen gegenüber der Organisation. Mimetischer Isomorphismus ergibt sich aus der Beobachtung erfolgreicher und als legitim geltender Organisationsoperationen. Normativer Isomorphismus bezieht sich auf die Professionalisierung und Standardisierung von Rollen. Die Unterteilung ist allerdings analytisch zu verstehen. Angleichungsprozesse erfolgen als Verknüpfung solcher formellen und informellen Dimensionen und bilden Organisationsfelder, die zwar differenziert, aber zugleich integriert sind. Institutionen werden damit als eine Zusammensetzung aus formellen Regeln und informellen Routinen, Sitten und Gewohnheiten verstanden, die eine Verbindung zwischen spezialisierten Rollen und der allgemeinen gesellschaftlichen Situation etablieren (March/Olsen 1989; Meyer/Scott 1992). Aus diesem Grund können Institutionen Beobachtungs- und Operationsschemata bilden, die allgemeine Erwartungsstrukturen entwickeln und unterschiedliche, regionale Umsetzungsformen der funktionalen Differenzierung ermöglichen. In diesem Sinne bietet die Idee der Institution ein breites Feld soziologischer Möglichkeiten zur Analyse der funktionalen Differenzierung in Lateinamerika: • Sie verbindet die funktionale Differenzierung mit der Konkretisierung von Erwartungen, die anderen Differenzierungsformen entstammen. • Sie erlaubt, aus einer soziologischen Perspektive die formellen Strukturen der funktionalen Differenzierung mit dem informellen Charakter von Normen, Gewohnheiten, Sitten und scripts zu kombinieren.
18 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
• Sie ermöglicht, eine adäquate Antwort auf die Inklusions- und Exklusionsprobleme in Lateinamerika zu geben: Man kann Inklusion nicht nur formell, sondern auch informell erzielen, oder man wird aus informellen aber institutionalisierten Gründen von bestimmten Leistungen ausgeschlossen. • Schließlich ist eine institutionelle Perspektive hilfreich, um die Spannungen zwischen der Differenz der Funktionssysteme und der Einheit traditioneller Kulturformen zu analysieren. Damit gewinnen die Idee des lateinamerikanischen Weges der Moderne und die Rede von einer Region Lateinamerikas an Plausibilität und Bedeutung. Des Weiteren geht die Untersuchung davon aus, dass es in Lateinamerika eine Spannung zwischen den zentrifugalen Erwartungen der funktionalen Differenzierung und den zentralisierenden bzw. entdifferenzierenden Erwartungen anderer Gesellschaftsformationen – der segmentierten, stratifizierten und der Zentrum/Peripherie-Differenzierung – gibt, die zu einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung führt.
2.2 Systemdifferenzierung II: Organisation und Struktur Um eine theoretische Erklärung zu skizzieren, worin eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung besteht, wird hier die Unterscheidung Maturanas zwischen Organisation und Struktur eingeführt. Mit dieser Unterscheidung versuchen Maturana und Varela, die Trennung zweier Abstraktionsebenen im System zu verdeutlichen. Die Organisation ist die Tiefenebene des Systems und die Struktur gilt als die Oberfläche. Organisation wird von Maturana folgendermaßen beschrieben: „The relations between components that define a composite unity (system) as a composite unity of a particular kind constitute its organization. In this definition of organization the components are viewed only in relation to their participation in the constitution of the unity (whole) that they integrate. This is why nothing is said in it about the properties that the components of a particular unity may have other than those required by the realization of the organization of the unity“ (Maturana/Varela 1980: xix).
Struktur wird folgendermaßen definiert: „The actual components (all their properties included) and the actual relations holding between them that concretely realize a system as a particular member of the class (kind) of composite unities to which it belongs by
2.2. Organisation und Struktur | 19 its organization, constitute its structure. Therefore, the organization of a system as a set of relations between its components that define it as a system of a particular class, is a subset of the relations included in its structure“ (Maturana/Varela 1980: xx).
Wichtig – laut Maturana und Varela – ist vor allem die Unterscheidung zweier Ebenen: „It follows that any given organization may be realized through many different structures, and that different subsets of relations included in the structure of a given entity, may be abstracted by an observer (or its operational equivalent) as organizations that define different classes of composite unities“ (Maturana/Varela 1980: xx).
Unter diesen Bedingungen kann man Institutionalisierung als Struktur bzw. Strukturerwartungen und eine Differenzierungsform als Organisationsbasis bezeichnen. Wie bereits erwähnt, betrachtet Luhmann die Differenzierungsform als Verhältnis zwischen Teilsystemen. Ebenso verhält es sich mit der Einheit (unity) in der Definition Maturanas: Unterschiedliche Beziehungen halten die Einheit des Gesamtsystems zusammen. „Yet since a particular organization can be realized by systems with otherwise different structures, the identity of a system may stay invariant while its structure changes within the limits determined by this same structure“ (Maturana 1981: 24).
Der Charakter einer Organisationsbasis ist jedoch relativ. Beziehungen der Struktur zur Umwelt können zur Transformation oder Anpassung der Verhältnisse zwischen den Organisationselementen führen. Die Organisationsbasis ändert sich dann, wenn die Strukturgrenzen überschritten werden, „the system becomes something else, defined by another organization“ (Maturana 1981: 24). Betrachtet man die Problematik auf diese Weise, stellt sich die Frage, ob eine konzentrische Institutionalisierung eine neue Differenzierungsform ist oder ob es sich nur um eine andere Struktur handelt, die auf derselben Organisationsbasis (also auf der funktionalen Differenzierung) beruht. Bei strikter Auslegung der Definition Maturanas lässt sich eine konzentrische Institutionalisierung als eine strukturelle Variation der funktional differenzierten Organisationsbasis verstehen,1 oder anders gesagt, als der lateinamerikanische Weg der Moderne. Es handelt sich dabei um eine konzentrische Institutionalisierung aufgrund der Macht- und Einflusskonstellationen, die im 1 | Maturana nennt dies structural plasticity : „if a composite unity is structurally plastic, then adaptation as a process of structural coupling to the medium that selects its path of structural change is a necessary outcome“ (Maturana 1981: 32).
20 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
Umfeld von Reziprozitätsnetzwerken und Schichtungsstrukturen entstehen, die die ausdifferenzierenden Funktionssysteme entdifferenzieren.2 Es muss jedoch betont werden, dass eine konzentrische Institutionalisierung zwar über funktional differenzierte Systeme verfügt. Warum aber diese Institutionen konzentrisch strukturiert sind, lässt sich dadurch erklären, dass die in Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken eingebetteten Erwartungen mit den Erwartungen eines funktionsspezifischen gesellschaftlichen Operierens kollidieren. Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme kann durch Einfluss- und Machtkonstellationen teilweise begrenzt bzw. kontrolliert werden. In diesem Sinne spielt die politische Macht eine bedeutende Rolle bei der Konsolidierung einer konzentrischen Institutionalisierung. Dass die institutionelle Ordnung nicht polyzentrisch strukturiert ist, bedeutet nicht, dass es kein Primat der funktionalen Differenzierung gibt. Das Problem besteht nicht in der Spezialisierung der Teilsysteme, sondern in der Fähigkeit bestimmter Medien (Macht und Einfluss), eine asymmetrische und vertikale Beziehung zu etablieren. Eine polyzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung wird vor allem durch die zentrifugale Dynamik der Institutionen charakterisiert. Solche Ordnungen können, so Willke, „[...] nicht mehr von einem Zentrum oder einer hierarchischen Spitze aus gesteuert werden. Sie sind nur noch zu begreifen als polyzentrische Gesellschaften, in denen die ausdifferenzierten Teilsysteme füreinander innergesellschaftliche Umwelten darstellen“ (Willke 1987a: 3).
Die Organisationsbasis polyzentrischer Gesellschaften wird dadurch definiert, dass a) jedes Teilsystem über eine eigene operative Logik verfügt, b) es sich um selbstreferenziell geschlossene Systeme handelt, c) die Teilsysteme aufgrund dieser Geschlossenheit an Indifferenz gewinnen und d) die Erwartungsstrukturen zunehmend mit dieser zentrifugalen Dynamik übereinstimmen. Diese Charakterisierung kann als Ergebnis der Moderne interpretiert werden: „Die zentrifugale Dynamik funktionaler Differenzierung wächst aus den geschichtlichen Prozessen der Säkularisierung, Kontingenzsteigerung und Zivilisierung – insgesamt aus dem Prozeß der Modernisierung“ (Willke 1996a: 236).
Eine konzentrische Institutionalisierung basiert auf einer anderen Strukturierung der Systembeziehungen, die in Verbindung mit scripts aus den anderen Differenzierungsformen stehen und wechselseitige Erwartungsstrukturen aktivieren. Dabei geht es vornehmlich um Relationen zwischen autonomen/teilautonomen Systemen und institutionalisierten Sitten und Gewohnheiten. Eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung 2 | Ausführlich dazu Kapitel 3.
2.2. Organisation und Struktur | 21
wird durch den von einem bestimmten System ausgeübten kommunikativen Einfluss über das Gesellschaftsganze charakterisiert, welches sich in einem Prozess der Komplexitätssteigerung befindet. Dies erzeugt eine zunehmende Spannung zwischen den entsprechenden polyzentrischen und konzentrischen Erwartungen. Einfluss ist in diesem Sinne als Intervention in die Komplexitätsbedingungen eines Systems zu verstehen (Willke 1995a, 1996a, 1996b, 2000). In diesem Umfeld entwickeln sich zwar Institutionen im Rahmen der Spezialisierungsprozesse, die auf der Basis funktional differenzierter Teilbereiche operieren; ihre Selektionsmöglichkeiten werden aber durch eine Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet (siehe unten), die die Strukturierung des Ganzen auf institutioneller Ebene tendenziell konzentrisch stabilisieren, da sie mit den institutionalisierten scripts verbunden sind. Dies fungiert als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität ausdifferenzierter bzw. sich ausdifferenzierender Systeme. Aus dieser Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden entwickeln sich erhebliche Selbstreferenzprobleme auf systemischer Ebene, denn die Fähigkeit relevante Kommunikationen zu selektieren, ist eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Entfaltung der Differenzierung. Zur Aufrechterhaltung der Kommunikationschancen und damit zur Entfaltung einer funktional differenzierten Ordnung dient, Luhmann zufolge, die Institution der Grundrechte (Luhmann 1999a). Grundrechte tragen die Funktion, die kommunikative Zentralisierungstendenz der Staatsbürokratie in Grenzen zu halten und mit den „Gefahren der Entdifferenzierung, der Reibung und der Strukturverschmelzung“ (Luhmann 1999a: 23) umzugehen. Die Gefahr der Entdifferenzierung und Politisierung gehört nach Luhmann immanent zum Differenzierungsprozess und erfordert daher korrigierende und blockierende Institutionen wie Gewaltentrennung, Trennung von Politik und Verwaltung und Grundrechte. Sind diese Institutionen aber asynchron zu den Machtkonstellationen bzw. -strukturen der Politik ausgerichtet, dann sind sie nicht in der Lage, die Politisierung des gesamten Kommunikationswesens zu vermeiden. Der Differenzierungsprozess wird tendenziell (durch Entdifferenzierungsepisoden) von einer politischen Rationalität besetzt, die zu Spannungen zwischen dezentralisierenden Erwartungen der funktionalen Differenzierung und zentralisierenden Erwartungen des Politischen in Bezug auf die Anerkennung und Verarbeitung der gesellschaftlichen Komplexität führt. Es handelt sich dabei weder um eine ununterbrochene noch um eine totale Kontrolle des Ganzen. Es geht also nicht um eine totalitäre Gesellschaftsordnung, die durch den Versuch charakterisiert ist, die funktionale Differenzierung aufzulösen. Die konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung kombiniert die zentrifugale Dynamik der Funktionssysteme mit einem machtbasierten Charakter der Kommunikation.
22 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
2.3 Systemdifferenzierung III: Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Teilsysteme sind in der Lage, „[...] durch den Einbau von Vermittlungs-, Koordinations- und Abstimmungsinstanzen die Regierbarkeit der eigendynamischen Funktionssysteme zu erhöhen, die Kapazitäten der Selbststeuerung der hochkomplexen Gesellschaften insgesamt zu steigern“ (Willke 1996b: 183).
Durch Selbststeuerung entwickeln die Teilsysteme verschiedene Kommunikationsstrukturen. Selbststeuerungsprobleme und die Schwierigkeiten bei der Schließung der zur Autopoiesis führenden operativen Prozesse hängen hauptsächlich von der Fähigkeit der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ab, eine Selbstbindung im Sinne von Selbstbeschränkung im System zu erreichen. Denn: „Nur so kann Systemdifferenzierung in Ausrichtung auf bestimmte Funktionen in Gang gebracht werden, und der Effekt ist dann, daß alle Operationen eines bestimmten Funktionssystems sich am systemeigenen Medium orientieren und dadurch die Autopoiesis des Systems bewirken“ (Luhmann 2005a: 41).
Beispiele symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien sind Macht, Geld, Wahrheit, Liebe u. a. Entscheidend ist auf alle Fälle, dass die Medien nicht durch eine fremde Kontrolle organisiert sind. Polyzentrische Kommunikationen sind insofern nicht reduzierbare, von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erzeugte gesellschaftliche intersystemische Sinnkonstellationen, die zur Aufrechterhaltung der autopoietischen Selbststeuerung aller Teilsysteme beitragen. Die Gesellschaft ist dann polyzentrisch strukturiert, wenn die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ausdifferenziert sind – wenn es im System keine andere Auswahlmöglichkeit und auch keine andere Erwartung gibt, als im Feld des entsprechenden Mediums zu operieren. Die Medien operieren unabhängig voneinander und sie und die von ihnen ermöglichten Kommunikationen sind aufgrund ihrer Unabhängigkeit dezentral organisiert. Denn Medien verzichten auf eine Suprasprache, die die Differenzen in Einheit umwandelt. Damit stellt sich die Frage nach der Integration einer polyzentrischen Ordnung. Mit der Ausdifferenzierung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und der Spezialisierung von Funktionen wird die Koordination der Teilbereiche immer schwieriger. Der Konflikt soll durch eine Selbstbeschränkung der Teilsysteme gelöst werden:
2.3. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien | 23 „Da jedes Teilsystem die Möglichkeit zur Überproduktion von Optionen hat, sobald es nur seine eigenen Kriterien, Ziele und seine eigene Teilsystemrationalität maximiert, gleichzeitig aber jedes Subsystem bei einer Maximierungsstrategie der anderen Teile Gefahr liefe, seine partielle Autonomie und funktionale Eigenständigkeit zu verlieren, ist Koexistenz, Kompatibilität und Koordination nur möglich, wenn die jeweiligen Teile sich selbst beschränken, ihre Optionsvielfalt reduzieren, indem sie sie schon mit Rücksicht auf die Möglichkeiten der anderen Teile und des Ganzen formulieren“ (Willke 2000: 237).
Unter den Bedingungen einer konzentrischen Institutionalisierung erweist sich eine solche Selbstbeschränkung der Selektionsmöglichkeiten und der Eigendynamik der verschiedenen Teilsysteme als stark asymmetrisch. Asymmetrien entstehen aus der ungleichen Fähigkeit der Medienkonstellationen, verbindende Selektionen nacheinander anzuknüpfen, sowie aus der Kopplung mit Sinnkonstellationen aus anderen Gesellschaftsformationen, wie allgemeine Reziprozitätsbeziehungen, Schichtung und rechtlich unkontrollierte Macht.3 Wenn diese Fähigkeit interveniert wird und Selektionsprozesse unterbrochen werden, verlieren die Medien an kommunikativen Anschlussmöglichkeiten und die kommunikationsfähigen Sinnkonstellationen des Kompetenzbereichs werden entdifferenziert. Diese Entdifferenzierungsepisoden sind weder permanent noch total, sonst könnte nicht von Funktionssystemen die Rede sein. Entdifferenzierungsepisoden entstehen vor allem dann, wenn die Erwartungen auf Inklusion nicht durch funktionsspezifische Leistungen von Funktionssystemen erfüllt werden, sondern durch die korruptions-, zwang- und gewaltbasierten Operationen institutionalisierter Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, die einen allgemeinen Einfluss auf die funktional differenzierten Systeme ausüben. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien befinden sich im Zentrum solcher Schwierigkeiten. Wenn das Problem durch das von Luhmann beschriebene dreiteilige Kommunikationsschema Information – Mitteilung – Verstehen analysiert wird, zeigt sich, dass die erste und die zweite Selektion, die von ausdifferenzierten Medien übernommen werden, nämlich die Selektion einer zu kommunizierenden Information und die Mitteilung der Information, bei Entdifferenzierungsepisoden einer konzentrisch institutionalisierten Ordnung von einer externen Intervention aufgehoben werden. Daraus ergibt sich, dass die dritte Selektion – das Verstehen – den Bedingungen der institutionalisierten Einflusskonstellation und nicht den Bedingungen der Systeme, an denen die Kommunikation orientiert ist, entspricht. Auf empirischer Ebene setzt dies voraus, dass es Kommunikationen gibt, die nicht wahrgenommen werden – 3 | Ausführlich dazu Kapitel 3.
24 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
Kommunikationen, die in vielen Fällen geheim gehalten und in anderen durch das Primat transversaler Netzwerke blockiert werden. Da durch solche Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke allgemeiner Einfluss bzw. Macht ausgeübt werden kann, stehen sie in enger Verbindung mit der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Dies findet im 19. Jahrhundert in Lateinamerika statt. Die Erwartungsstrukturen des politischen Systems schließen sich den Erwartungsstrukturen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke der Kolonialordnung an, indem die Form der Politik zur Oligarchie wird (Germani 1981; Larraín 2000). Die Oligarchie löst zwar die monarchische Macht ab, aber sie setzt eine Art der Ausübung politischer Macht in Bewegung, in der es keine enge Kopplung mit autonomen Rechtsoperationen gibt, d. h. in der es keinen Rechtsstaat gibt (Neves 2007). Das Rechtssystem wird durch die Verknüpfung autonomer Operationen des politischen Systems und der auf Machtund Einflussausübung eingestellten Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke instrumentalisiert. Dadurch entsteht eine aus formellen und informellen Prozeduren und Routinen zusammengesetzte politisch institutionalisierte Konstellation, die die Formalität eines funktionsspezifischen politischen Systems mit der Informalität der macht- und einflussorientierten Akteursnetzwerke kombiniert und zum Zentrum gesellschaftlicher Operationen wird, sodass es zu einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung kommt. Dies führt zu Informationsproblemen sowohl in der zentralen politischen Konstellation als auch in den anderen Teilbereichen. Unter polyzentrischen Umständen werden die Informationen nach den Regeln des Systems produziert. Die Information entsteht aus dem internen Prozessieren des Systems durch Irritationen und Perturbationen und besitzt dadurch eine systeminterne Relevanz. Bei Entdifferenzierungsepisoden wird die systeminterne Information extern gesteuert. Luhmann liefert ein interessantes Beispiel dafür: „Eines der dramatischen Geschehnisse der letzten 20, 30 Jahre war der Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaft, die offensichtlich nicht in der Lage war, Informationen aus der Wirtschaft in die Politik zu transformieren. Die Planungszentralen waren in Wirklichkeit nicht über das informiert, was wirtschaftlich geschah [...], sondern sie konnten nur sehen, ob ihre Pläne erfüllt waren oder nicht, und alle am Planprozess Beteiligten konnten wiederum sehen, dass die Zentrale sieht, ob die Pläne erfüllt sind oder nicht. Es ging um ein politisches Schema der Sollwerte, die mehr oder weniger erfüllt sind, und darauf war das ganze System bezogen. Man konnte die Information entweder durch reale Angaben oder durch Fälschungen, durch fiktive Daten leisten und so den ganzen Informationsverarbeitungsprozess in Gang halten, ohne dass in der Wirtschaft selbst eine andere
2.3. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien | 25 Information als die politische kursieren konnte. Vielleicht kann man in Grenzen sogar sagen, dass Wirtschaft und Politik im Bezug auf den Informationsverarbeitungsprozess nicht getrennt waren, da in der Wirtschaft nur diese politische oder gouvernementale Information zählte“ (Luhmann 2006: 130).
Sind Wirtschaft und Politik nicht getrennt, so kann das nur den Entdifferenzierungsepisoden zugerechnet werden, in denen ein System von einem anderen gesteuert wird. In diesem Fall könnte nicht von Systemdifferenzierung gesprochen werden. Immerhin war die Wirtschaft im sozialistischen Raum trotz allem auf internationale Kontakte angewiesen, die ebenfalls dazu führten, dass die Effektkumulation von wirtschaftlichen Entdifferenzierungsepisoden nicht mehr anknüpfbar an eine operativ geschlossene globale Wirtschaft war. Bedeutsam ist für uns das Beispiel Luhmanns, weil es darauf hindeutet, dass unter jenen Umständen, die wir als konzentrische Institutionalisierung bezeichnet haben, große Informationsverluste zustande kommen, die die Entfaltung der Selbstreferenz intervenierter Teilsysteme in Schwierigkeiten bringen. Information enthält eine volitive Komponente, die darauf gerichtet ist, bestimmte Kommunikationen in Gang zu setzen: „Bevor es zur Erzeugung von Informationen kommen kann, muss sich also ein Interesse an ihnen formieren“ (Luhmann 1997: 72). Unter polyzentrischen Umständen werden solche Interessen vom System selbst produziert, sodass das System auf sich selbst verweisen kann. Unter den Bedingungen einer aus Entdifferenzierungsepisoden belasteten konzentrischen Institutionalisierung werden gewisse Interessen des Systems von einem anderen System erzeugt, was zur Folge hat, dass die neuen Informationen keine Anknüpfungsmöglichkeiten im intervenierten System finden. Diese Leere an Information muss vom intervenierten System entweder durch Redundanz oder durch die Verweisung auf externe Interessen ausgefüllt werden. Im ersten Fall verliert die Information ihren Überraschungseffekt – it makes no difference –; im zweiten Fall wird die ganze Entdifferenzierungskonstellation stabilisiert und das intervenierte System bleibt nur teilweise autonom. Eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung ist damit als Informations-, Mitteilungs- und Verstehensselektion zu verstehen, deren teilsystemische Kommunikationsmedien vom Medium der zentralen politischen Konstellation (Macht, Einfluss) interveniert werden, was in diesen Fällen die gesellschaftlichen Operationen episodisch konzentriert. Empirisch ausgedrückt können in diesem Mittelpunkt der Staat, Interessengruppen, Akteursnetzwerke oder Institutionen stehen, deren kommunikative Selektivität in die Erwartungen anderer Teilbereiche eingreift. Damit kann man eine erste Definition der konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung in Lateinamerika zusammenfassen: Sie besteht aus autonomen
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und teilautonomen funktional differenzierten Systemen, deren gegenseitigen Beziehungen dadurch gekennzeichnet sind, dass es durch ständige Interventionen einer auf Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke basierten Machtund Einflusskonstellation, die gleichzeitig in enger Verbindung mit einem sich entwickelnden funktional differenzierten politischen System steht, zu einer Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden kommt, die eine konzentrische Institutionalisierung des Ganzen in Bewegung setzt. Wie sich diese Lage entwickelt und welche Konsequenzen eine solche Entwicklung hat, ist das Thema der nächsten Abschnitte.
2.4 Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen: Weitere Überlegungen zur Bestimmung der konzentrischen Institutionalisierung Wenn eine konzentrische Institutionalisierung durch eine Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet ist, leiten sich davon bestimmte Konsequenzen ab, die man unter den drei Dimensionen des Sinnes beschreiben kann. In diesem Abschnitt möchte ich diese Konsequenzen untersuchen.
2.4.1 Sachdimension: Das Problem der Unterscheidung In der Sachdimension wird die Differenz „innen/außen“ aufgebaut: „Damit entsteht die ‚Form‘ im Sinne einer Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und daraus die Konsequenzen zu ziehen“ (Luhmann 1987: 114). In den Worten Willkes: „Das Problem sachlicher Komplexität entsteht, ganz abstrakt formuliert, dadurch, daß sich in der Welt immer mehr Systeme entwickeln und sich durch die Ausbildung von Grenzen von ihrer Umwelt abheben“ (Willke 2000: 87).
So betrachtet, besteht die Sachdimension in der Entfaltung bedeutsamer Unterschiede, die zu einer zunehmenden Komplexität führen, denn sie multiplizieren die Sachlichkeit der Welt, solange „der Sinn die Verweisungsstruktur des Gemeinten in ‚dies‘ und ‚anderes‘ [zerlegt]“ (Luhmann 1987: 114). Damit entsteht nicht nur die Möglichkeit, Differenzen in sozialen Ordnungen zu erzeugen, sondern auch die Möglichkeit, die Einheit zu erkennen. Unterscheidungen zu treffen, ist ein Resultat des Beobachtungsprozesses. Die Beobachtung definiert sich nach Luhmann durch das Unterscheiden und Bezeichnen und wird insofern zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die Analyse eines polyzentrischen Arrangements. Denn es gäbe keine polyzentrische Ordnung, keine zentrifugale Dynamik, wenn die ausdifferenzierten
2.4. Konzentrische Institutionalisierung | 27
Teilsysteme nicht über eine autonome Beobachtungsfähigkeit verfügen würden. Durch die Beobachtung werden eine Einheit und ein Universum definiert (Maturana/Varela 1995). Spencer Brown (1979) – wie häufig erwähnt – hat diesen Prozess als mathematisches Kalkül formuliert. Was hier von Interesse ist, ist nicht das Kalkül Spencer Browns, sondern seine Konsequenzen: die Idee der Form und die Kopplung und Entkopplung von Elementen der Unterscheidung. Die Hypothese lautet, dass die Zusammensetzung der Form unter den Bedingungen einer konzentrischen Institutionalisierung, in denen dezentrale Unterscheidungen interveniert werden, problematischer ist als in polyzentrischen Ordnungen, weil die zentral liegende politisch institutionalisierte Konstellation in die autonome Selbstreferenz anderer Teilsysteme eingreift oder diese sogar übernimmt. In lateinamerikanischen Gesellschaften ist dem Staat eine solche Rolle zugeschrieben worden. Der Staat sei die Instanz gewesen, die die Nationalität (Radcliffe/Westwood 1996; Góngora 1986) und die Struktur zur Förderung der Industrialisierung gebildet habe (Larraín 1989) – ein revolutionärer Akteur des Übergangs zum Sozialismus (Puelma 1974; Smirnow 1979), der Große Bruder, der die Verantwortung für die Armut übernehmen müsse. Institutionell betrachtet ist aber der Staat, besonders im 19. und 20. Jahrhundert in Lateinamerika, nicht nur als formelle Kopplung politischer und rechtlicher Prozeduren bzw. Regelungen zu verstehen, sondern auch als Akteursnetzwerke, die durch informelle Kopplungen Macht und Einfluss auf die Organisation des Sozialen ausüben können. Wie gesagt, versucht das Adjektiv konzentrisch, auf die Zentralität dieser Netzwerke hinzudeuten und die Heteronomisierung des Unterscheidungsprozesses bei Entdifferenzierungsepisoden zu umfassen. Ein solcher heteronomer Charakter impliziert, dass die Problematik der Form unter besonderen Bedingungen betrachtet werden muss. Unter idealtypischen polyzentrischen Umständen stehen die getroffenen Unterscheidungen orthogonal zueinander; sie sind voneinander unabhängig, sonst gäbe es keine dezentrale Dynamik des Ganzen. Die Vorbedingungen der Entstehung eines Systems setzen voraus, dass (a) wer beobachtet, eine Unterscheidung trifft und eine Form erzeugt, und (b) die Form für den Beobachter Asymmetrie beinhaltet, da er nur eine Seite der Form bezeichnen kann (Baecker 1993). Luhmann zufolge kann man „[...] nichts bezeichnen, was man nicht, indem man dies tut, unterscheidet, so wie auch das Unterscheiden seinen Sinn nur darin erfüllt, dass es zur Bezeichnung der einen oder der anderen Seite dient (aber eben nicht: beider Seiten)“ (Luhmann 1997: 69).
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Damit ist jede Möglichkeit, Formen zu produzieren, untrennbar vom Bezeichnen, Beobachten, Unterscheiden: „Strukturell gesehen existiert die Zwei-SeitenForm im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit“ (Luhmann 1993a: 202). Bei einer konzentrischen Institutionalisierung lässt sich dieses Problem anders betrachten. Es geht dabei allerdings nicht um die Abschaffung polyzentrischer Kommunikationen, sondern um die Umstrukturierung ihrer Elemente. Aufgrund des Kumulationseffekts von Entdifferenzierungsprozessen wird die dezentrale Logik von autonomen Teilsystemen interveniert. Es findet im System eine Entkopplung von Beobachtung, Unterscheidung und Bezeichnung statt: Die Unterscheidung eines Systems wird von den Selektionen der politisch institutionalisierten Konstellation übernommen. Auf diese Weise kann man Entdifferenzierungsepisoden definieren als die Enttäuschung der Erwartungen eines Systems, bei bestimmten Selektionen auf operativ geschlossene Weise weiter operieren zu können. Aus der Kumulation solcher heteronomen Selektionen stabilisiert sich eine konzentrische Institutionalisierung. Das heißt, dass unter diesen Umständen nicht die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien interveniert werden, sondern die Selektionen, die sie vornehmen. Medien können im Bereich der Teilsysteme weiter operieren – deswegen bleibt die Organisationsbasis funktional differenziert –, aber Elemente der Komplexität der intervenierten Systeme werden bei bestimmten Selektionen extern gesteuert. Eine Frage ist im Bereich der Logik der Unterscheidung noch zu stellen – eine Frage, die sich mit den Bedingungen der Feststellung eines Unterschiedes beschäftigt. „Distinction is perfect continence“ behauptet Spencer Brown (1979: 1), das heißt, dass jede Unterscheidung, sofern sie als „perfect continence“ operiert, von außen nicht gesteuert werden kann. Solange die konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung durch eine Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage, ob es sich dabei um Perfect-Continence-Unterschiede handelt. Damit wird nicht behauptet, dass die Logik der Unterscheidung völlig unanwendbar ist. Sie ist zugleich die Logik der Beobachtung, sodass immer dann, wenn eine Beobachtung stattfindet, eine Unterscheidung getroffen wird. Andererseits ist die externe Steuerung nicht zentraler Systeme weder permanent noch total. Was allerdings fraglich ist, ist die Präzision der Unterscheidungen nicht zentraler Systeme bei solchen Entdifferenzierungsepisoden. In diesem Fall ist die Behauptung Spencer Browns, dass Unterschiede als PerfectContinence-Unterschiede operieren, neu zu interpretieren. Bei Entdifferenzierungsepisoden werden die Grenzen der Unterscheidung unscharf, die PerfectContinence-Unterschiede eines Systems werden interveniert, und damit verlieren die extern gesteuerten Unterscheidungen an Anschlussmöglichkeiten für
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das intervenierte System. Dies führt zur Instabilität bei den Erwartungskonstellationen in intervenierten Systemen: Man weiß nicht, ob man Recht bekommt, auch wenn die Rechtsentscheidung vorliegt. Man weiß nicht, ob man sich in der Öffentlichkeit frei äußern darf oder mit staatlicher Unterdrückung rechnen muss, wenn man es tut. Man weiß nicht, ob die Qualifikationen ausreichen, einen Posten zu bekommen, oder ob man politische Unterstützung suchen soll, um dieses Ziel zu erreichen. Erwartungen stabilisieren sich zeitlich in ihrer Instabilität. Damit wird angedeutet, dass unter den Bedingungen einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung die temporal und räumlich gesteuerten Unterscheidungen nicht zentraler Systeme, die bei Entdifferenzierungsepisoden immer wieder auftauchen, keine präzisen Grenzen zwischen innen und außen feststellen lassen und somit zu Informationsverlusten für die betroffenen Systeme führen: Man entscheidet etwas, aber Entscheidungen werden nicht durchgeführt; man plant Investitionen, aber man muss Netzwerke und Bestechung einkalkulieren, um diese wie geplant umzusetzen; man wird ausgebildet, weiß aber nicht, ob man eine Arbeitsstelle bekommt ohne politischen bzw. gemeinschaftlichen Einfluss auszuüben. Das Fuzzy-Konzept wird hier aus der mathematischen Reflexion über die Fuzzy-Logik übernommen. Fuzzy-Logik wird von L.A. Zadeh, Begründer des Ansatzes, folgendermaßen definiert: „[...] what is central about fuzzy logic is that, unlike classical logic systems, it aims at modelling the imprecise modes of reasoning which play an essential role in the remarkable human ability to make rational decisions in an environment of uncertainty and imprecision. This ability depends, in turn, on our ability to infer an approximate answer to a question based on a store of knowledge which is inexact, incomplete or not totally reliable“ (Zadeh 1988: 1).
Zadeh erklärt das Ziel der Fuzzy-Logik mit einem auf das Individuum bezogenen Ansatz. Systemtheoretisch betrachtet bedeutet dies aber, dass sich FuzzyLogik mit dem Problem von Selektion und Bezeichnung („rational decisions“) in einem unscharfen Medium („environment of uncertainty and imprecision“) beschäftigt. Fuzzy-Logik erweist sich als eine mathematisierbare Alternative, die das Unscharfe verarbeiten kann, „[sie] ist nicht etwa eine ‚unscharfe Logik‘, sondern eine Logik, die dazu dient, Unschärfen mathematisch zu beschreiben und handhabar zu machen“ (McNeill/Freiberger 1994: 17). Fuzzy-LogikKonzepte haben keine vorausbestimmten Grenzen; sie werden Zadeh zufolge in einem Kontinuum von Null bis Eins repräsentiert, sodass sich ein allmählicher Übergang von Mitgliedschaft zu Nichtmitgliedschaft entwickelt:
30 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung „Thus, if A is a fuzzy set in a universe of discourse U, then every member of U has a grade of membership in A which is usually taken to be a number between 0 and 1, with 1 and 0 representing full membership and nonmembership, respectively. The function which associates with each object its grade of membership in A is called the membership function of A. This function defines A as a fuzzy subset of U“ (Zadeh 1990: 99).
Da es um Begriffe wie „tall, fat, many, most, slowly, old, familiar, relevant, much larger than, kind, etc.“ (Zadeh 1990: 99) – die sogenannten „linguistic variables“ – geht, lassen sich die Vorstellungen dieser Begriffe nicht vom klassischen mathematischen Gesichtspunkt aus thematisieren, bei dem nur zwei Klassifizierungswerte zur Verfügung stehen: „The question is not longer how to formalize, reduce, or remove the conceptual imprecision and fuzziness (the ‚crisp‘ treatment of ‚fuzzy‘ systems), but how to enhance, amplify and utilize natural ambiguity and fuzziness towards reflecting the purposes of human communication, cooperation and knowledge production“ (Zeleny 1991: 361).
Um diese Ziele zu erreichen, führt Zadeh an, was er als „dispositional logic“ bezeichnet. Damit sind Ausdrücke gemeint, die nicht unbedingt Gewissheit beinhalten. „Snow is white“, „Swedes are blond“ und „high quality is expensive“ werden als Beispiele angeführt. Daraus schließt Zadeh, dass eine Disposition „[. . . ] may be viewed as a usuality-qualified proposition in which the qualifying quantifier usually is implicit rather than explicit. In this sense, the disposition snow is white may be viewed as the result of suppressing the fuzzy quantifier usually in the usuality-qualified proposition usually (snow is white)“ (Zadeh 1990: 2).
Das Beispiel Zadehs zeigt auf, wie unscharfe Unterscheidungen thematisiert werden können. Bei unpräzisen Unterscheidungen handelt es sich eher um Funktionen im mathematischen Sinne als um Perfect-Continence-Unterscheidungen. Fuzzy-Continence-Unterscheidungen verlieren an Differenzierungskraft und Anschlussmöglichkeiten, insofern als sie beim Selektieren keine Bezeichnung für eine Seite der Form ermitteln können oder die vorgenommene Bezeichnung von außen gesteuert wird. Eine Fuzzy-Continence-Unterscheidung, da sie als Äußerung eines Kontinuums oder im Sinne Zadehs als eine Funktion von A zu begreifen ist, kann nicht die Welt in eine zweiseitige Form spalten, denn es gibt keine Grenzen, die die Innen- und die Außenseite der Form bestimmen können. Die Form bleibt jedoch als eine Form, als eine Fuzzy-Form, denn ihre Konturen lassen sich mit den Werten 0 und 1 erkennen – die Extremwerte der Form.
2.4. Konzentrische Institutionalisierung | 31
Die Konsequenzen einer solchen Annäherung an gesellschaftliche Prozesse und Relationen, die bei den Entdifferenzierungsepisoden in einer konzentrischen Institutionalisierung entstehen, kommen zum Ausdruck in den drei Sinndimensionen: • Sachdimension: Entdifferenzierungsepisoden können als Zusammenspiel von Perfect-Continence- und Fuzzy-Continence-Unterscheidungen beschrieben werden. Entdifferenzierung ist in diesem Sinne das Unscharfwerden der Unterscheidungen. • Sozialdimension: Unscharfe Unterscheidungen lösen Instabilität bei den Erwartungsstrukturen intervenierter Systeme aus. Die Stabilität soll durch weitere Interventionen der zentralen politisch institutionalisierten Konstellation wiederhergestellt werden. • Zeitdimension: Unscharfe Unterscheidungen können bei Anfangszyklen der Selbstreferenzentfaltung eines Systems festgestellt werden, sodass man Systeme allopoietischer Episoden finden kann.
2.4.2 Sozialdimension: Autopoiesis und Kommunikation Die Sozialdimension des Sinnes befasst sich mit der Gestaltung der Ego/AlterPerspektiven als Doppelhorizont sinnvoller Verweisungen, in denen sowohl Ego-Ansatzpunkte als auch Alter-Perspektiven vorkommen (Luhmann 1997). Eine solche Verdoppelung von Beobachtungsperspektiven ist Voraussetzung für die Festsetzung von Erwartungsstrukturen. Das Problem der Spezifizierung und Entspezifizierung von Rollen, Funktionen und Relationen in verschiedenen Systemen kann nicht verstanden werden ohne eine Verdoppelung der Beobachtungsperspektiven, die zugleich einen doppelten Horizont von Möglichkeiten des Verstehens erzeugt. Die verdoppelten Beobachtungsperspektiven ermöglichen es, eine systemautonome, polyzentrische Ordnung zu entwickeln; in diesem Sinne lassen sich die Besonderheiten konzentrischer Arrangements als Strukturierungs- und Steuerungsprobleme verstehen. Die Sozialdimension des Sinnes befasst sich mit der Gestaltung der Ego/AlterPerspektiven als Doppelhorizont sinnvoller Verweisungen, in denen sowohl Ego-Ansatzpunkte als auch Alter-Perspektiven vorkommen (Luhmann 1997). Eine solche Verdoppelung von Beobachtungsperspektiven ist Voraussetzung für die Festsetzung von Erwartungsstrukturen. Das Problem der Spezifizierung und Entspezifizierung von Rollen, Funktionen und Relationen in verschiedenen Systemen kann nicht verstanden werden ohne eine Verdoppelung der Beobachtungsperspektiven, die zugleich einen doppelten Horizont von Möglichkeiten
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des Verstehens erzeugt. Die verdoppelten Beobachtungsperspektiven ermöglichen es, eine systemautonome, polyzentrische Ordnung zu entwickeln; in diesem Sinne lassen sich die Besonderheiten konzentrischer Arrangements als Strukturierungs- und Steuerungsprobleme verstehen. Der Begriff der Autopoiesis ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Der Begriff ist allerdings nicht neu. Er wurde vor vierzig Jahren im Bereich biologischer Reflexionen eingeführt (Maturana/Varela 1995). Neu ist allerdings der in der vorliegenden Untersuchung entwickelte Versuch, den Autopoiesis-Begriff auf die Beschreibung einer konzentrischen Institutionalisierung anzuwenden. Dies erfordert die Analyse, inwieweit sich eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung von den zyklischen Tendenzen, die die autopoietischen Prozesse charakterisieren, steuern lässt. Eine klassische und „offizielle“ (Teubner) Definition des Begriffs in Verbindung mit Autopoiesis und Organisation wurde von Maturana formuliert: „Die autopoietische Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die 1. rekursiv an demselben Netzwerk der Produktion von Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die Bestandteile sich befinden“ (Maturana 1982: 158).
Autopoietische Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie a) unter Bedingungen operativer Schließung operieren, b) die Elemente des Systems durch die Elemente des Systems definieren, c) ein Netzwerk von Relationen aufbauen und d) Systemgrenzen autonom festsetzen (Stichweh 1987). Der Begriff der operativen Schließung (oder operativen Geschlossenheit) – ein allgemeiner Begriff zur Definition zirkulärer und selbstreferenzieller Relationen – stammt aus den mathematischen Reflexionen F. Varelas: „Die Idee ist einfach: nur eine Zirkularität autopoietischer Art kann auf der Basis einer autonomen Organisation stehen. Die Charakterisierung einer solchen Organisation ist, was ich anfänglich das Prinzip der operativen Geschlossenheit nannte. Ich verwende hier das Wort Geschlossenheit im Sinne einer Operation innerhalb eines Transformationsraums, wie es in der Mathematik üblich ist“ (Varela 1995: 53).
Autonomie ist dann als unvermeidliche Konsequenz der Autopoiesis und der operativen Geschlossenheit zu verstehen: „Wird diese operative Geschlossenheit zerstört, so bricht ihre Autopoiese zusammen, sie hören auf als lebende Systeme zu existieren“ (Willke 2000: 62). Auf solcher operativen Geschlossenheit beruht der Zusammenhang zwischen Autopoiesis und Autonomie: Sie ermöglicht das Etablieren einer systemisch erkennbaren Grenze dessen, was
2.4. Konzentrische Institutionalisierung | 33
innen und außen steht. Damit betont die operative Geschlossenheit die autonome Dimension jedes Systems, die eine eigene Identität entwickelt und zur Voraussetzung des Aufbaus einer polyzentrischen Gesellschaft wird: „Der Verzicht auf zentrale Kontrolle, auf zentrales Kontingenzmanagement, auf zentralgarantierte Zukunftssicherheit ist in dieser Gesellschaftsordnung unvermeidlich“ (Luhmann 1993b: 59).
Unter den Umständen einer konzentrischen Institutionalisierung kommt es zu einer Kumulation von Entdifferenzierungsepisoden. Dies bedeutet Folgendes: • Die systemische Autonomie ist mit zunehmenden Entdifferenzierungsproblemen und Interventionen verbunden. • Selektionen in intervenierten Systemen unter Entdifferenzierungsepisoden erfolgen durch einen linearen externen Eingriff, was dazu zwingt, eine zentralisierende Koordinationsstruktur des Ganzen zu etablieren. • Kommunikative Ereignisse der Komplexität intervenierter Systeme öffnen sich operativ zu der Selektivität der zentralisierenden Koordinationsstruktur. • Die zentralisierende Koordinationsstruktur nimmt Kommunikationselemente des intervenierten Systems zur Reproduktion seiner eigenen Operationen an. Um diese Entdifferenzierungsepisoden theoretisch zu charakterisieren, wird hier von Allopoiesis im Sinne Maturanas gesprochen: „Allopoietische Systeme nennen wir demgegenüber jene mechanistischen Systeme, deren Organisation die Bestandteile und Prozesse, die sie als Einheiten verwirklichen, nicht erzeugt, und bei denen daher das Produkt ihres Funktionierens von ihnen selbst verschieden ist“ (Maturana 1982: 159).
Eine konzentrische Institutionalisierung besteht sowohl aus autopoietischen Systemen, als auch aus einer Kombination von Autopoiesis und Allopoiesis bei den intervenierten Systemen. Ob der Unterschied zwischen Autopoiesis und Allopoiesis die Stabilität einer solchen Ordnung in Gefahr bringt, lässt sich kaum diskutieren, denn autopoietisch basierte Prozesse tragen zur Differenzierung bei, während allopoietische Kommunikationen zur Entdifferenzierung neigen. Daraus resultiert die Aufrechterhaltung der konzentrischen Institutionalisierung. Es handelt sich allerdings um eine aus der Instabilität der Erwartungen gewonnene Stabilität. Dies lässt sich folgendermaßen beschreiben:
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• Die Stabilität einer solchen Ordnung hängt davon ab, ob die zentrale politisch institutionalisierte Konstellation die gegenhierarchischen Kommunikationen ausdifferenzierender Systeme prozessieren kann und ob diese die externen Interventionen absorbieren können. • Wenn Strukturen zur Verarbeitung autopoietischer und allopoietischer Kommunikationen entstehen, dann entwickeln sich Steuerungs- und Interventionsprozesse zur Koordinierung der konzentrischen Institutionalisierung. • Der Kumulationseffekt von Entdifferenzierungsepisoden führt zu Instabilität in den Erwartungsstrukturen intervenierter Systeme. Die Stabilität kann nicht von den intervenierten Systemen wiederhergestellt werden, sondern nur von der zentralen politisch institutionalisierten Konstellation, und zwar durch weitere Interventionen. Daraus folgt die Paradoxie, dass die Stabilität einer konzentrischen Institutionalisierung zugleich die Instabilität intervenierter Systeme voraussetzt. Dies bedeutet, dass keine langfristigen Projekte umgesetzt werden können.
2.4.3 Zeitdimension: Steigerung der Selbstreferenz Die Feststellung eines Unterschiedes setzt die Zeitdimension voraus. Bei der Zeitdimension des Sinnes handelt es sich um eine Unterscheidung zwischen vorher und nachher als Vergangenheits- und Zukunftshorizonte (Luhmann 1987). Vorher und nachher und die entsprechenden Zeithorizonte werden im Evolutionsprozess durch die Wirkung von Variations-, Selektions- und Restabilisierungsoperationen verarbeitet. Darauf beruht die Besonderheit der Zeitdimension: Sie eröffnet neue Möglichkeiten zur Verarbeitung systemischer Komplexität: „Neben dem Selektionspotential der durch Rollen und interne Differenzierung gebildeten Systemstruktur tritt das zusätzliche Selektionspotential zeitlich verbindlicher Prozeßregeln [...] Mit der Einrichtung geregelter Prozesse als temporaler Ordnungsform kontrolliert das Quasi-System die Folgewirkungen der internen funktionalen Differenzierung und erreicht damit eine neue evolutionäre Stufe seiner Fähigkeit zur Verarbeitung von Komplexität“ (Willke 2000: 95).
Die basalen systemischen Evolutionsoperationen sind Variation, Selektion und Restabilisierung (Luhmann 1997), aus deren Zusammenspiel verschiedene Evolutionsformen der Systemdifferenzierung entstehen, nämlich segmentäre, Zentrum/Peripherie-, stratifizierte und funktional differenzierte Differenzie-
2.4. Konzentrische Institutionalisierung | 35
rung. Setzt eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung die Existenz von Funktionssystemen voraus, so kann sie als Ergebnis der Evolution verstanden werden. Das heißt, dass Entdifferenzierungsepisoden nicht – wie beim klassischen lateinamerikanischen Entwicklungsdenken – als Anormalität zu interpretieren sind. Sie sind im Gegenteil ein bestimmtes Arrangement zeitlich selektierter gesellschaftlicher Elemente und Relationen, die den Weg Lateinamerikas in die funktionale Differenzierung bilden. Variationsoperationen setzen die Möglichkeit unerwarteter Kommunikation voraus. Nicht jede Variation muss angenommen werden. Sie kann akzeptiert oder abgelehnt werden. Wenn sie allerdings eine weitere Kommunikation erzeugt, setzt sie Strukturierungsprozesse in Gang und die Variation gilt als Normalfall; andernfalls wird sie als Umweltkomplexität betrachtet. Selektionsoperationen befassen sich ihrerseits mit der Auswahl verfügbarer Variationen. Sie operieren im Rahmen der in der Vergangenheit gekoppelten Strukturen und überprüfen das Strukturierungspotenzial neuer Variationen in Bezug auf ihre Fähigkeit, einen rekursiven Kommunikationsprozess zu entwickeln. Schließlich sind Restabilisierungsoperationen als eine Art systemischer Koordinationsstrategie zu verstehen. Der Begriff bezeichnet „[...] Sequenzen des Einbaus von Strukturänderungen in ein strukturdeterminiert operierendes System; und er trägt dabei der Einsicht Rechnung, dass dies auch über Variationen und Selektionen, immer aber durch eigene Operationen des Systems geschieht“ (Luhmann 1997: 488).
Interessant ist die Definition vor allem deshalb, weil die Operationen zur Restabilisierung einer konzentrischen Institutionalisierung mit autonomen und heteronomen Systemen konfrontiert sind. Wenn die Unterscheidungsmöglichkeiten intervenierter Systeme aufgrund der Interventionen unscharf werden, das heißt, wenn es um Fuzzy-Continence-Unterschiede geht, dann ist die Evolution vielmehr eine Frage des Zusammenhangs zwischen Ausdifferenzierung und Entdifferenzierung sozialer Systeme. Daraus ergibt sich, dass die Evolution einer konzentrischen Institutionalisierung zwei tendenziellen Richtungen folgen kann: Entweder gewährleisten die Strategien zur Koordinierung der Instabilität die Aufrechterhaltung der konzentrischen Institutionalisierung und verzichten auf die Selektion neuer Variationen oder die nicht-zentralen Systeme befreien sich von dem Interventionsdruck und entwickeln Selbststeuerungsstrategien zur Entfaltung der eigenen Selbstreferenz. Um dies näher zu erläutern, soll hier eine theoretische Darstellung der Temporalisierung des systemischen Zugangs zur Autopoiesis skizziert werden. Das Problem wird von Beyme formuliert:
36 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung „Während bei Luhmann ein System nicht ein bißchen autopoietisch sein kann, wurden bei anwendungsorientierten Forschern Autonomie und Autopoiese als graduelle Begriffe aufgefaßt. Einem gesellschaftlichen System wird nicht im voraus der Status eines autopoietischen Systems verliehen. In einer dreistufigen Entwicklung schreiten die autonomen Subsysteme von der Selbstbeobachtung zur Selbstkonstitution und zur Selbstproduktion fort. Selbstreferentialität der ersten Stufe wird der Selbstbeobachtung des Systems zugeordnet. Selbstkonstitution tritt ein, wenn Selbstbeobachtung im System operativ verwendet wird. Erst wenn in einem Hyperzyklus die selbstkonstituierten Systemkomponenten miteinander verkettet werden und sich wechselseitig produzieren, liegt nach dieser Ansicht Autopoiesis vor“ (Beyme 1991: 233).
Beyme bezieht sich auf den Vorschlag Teubners zur Klassifizierung verschiedener Typen von Selbst in der Systemtheorie. Der Allgemeinbegriff, der die anderen Konzepte (Selbstbeschreibung, Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution, Selbstproduktion) einschließt, heißt Selbstreferenz (Teubner 1993). Teubners Vorschlag reagiert auf das, was er „a type of ‚big bang‘ theory of autopoiesis“ nennt (1993: 24), die bei Luhmann zu finden sei, denn diese Theorie betrachte die Entstehung der Autopoiesis als eine binäre Möglichkeit ohne Übergang zwischen Null und Eins, wobei Null einen nicht autopoietischen Zustand repräsentiert und Eins Autopoiesis bedeutet. Teubner betrachtet das Problem aus zeitlicher Perspektive und spricht vom Vorkommen von Zyklen der Selbstreferenz. In Abbildung 2.1 wird diese Idee neu interpretiert und schematisch dargestellt. Unter dem Oberbegriff Selbstreferenz ist das ganze Modell, das zur Autopoiesis führt, zu verstehen: von Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung bis zur Konstituierung des Hyperzyklus zur Selbstproduktion. Da die Zyklen nacheinander auftauchen, kann man von Temporalisierung sprechen. Autopoiesis ist der Endzyklus dieser Temporalisierung; die anderen werden von ihr eingeschlossen. Das heißt: Spricht man von Autopoiesis (Zyklus 4), dann spricht man zugleich von Selbstproduktion (Zyklus 3), Selbstregulation und Selbstorganisation (Zyklus 2) und Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung (Zyklus 1). Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung schließen aber Autopoiesis nicht ein. Zyklus 1 kann nur den Weg zur Autopoiesis zeigen, er kann aber nicht den Weg erzwingen. Entweder entsteht Letzteres als Resultat der Evolution oder nicht. Zentrale Prozesse beim Zyklus 1 sind Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung. Die Definition von Selbstbeobachtung ist bei Teubner allerdings nicht deutlich:
2.4. Konzentrische Institutionalisierung | 37
1
Themen/Programme
2
Basale Unterschiede Selbstproduktion
1
4
2
Selbstorganisation Selbstregulation
Autopoiesis
3
2
Infrastruktur
3 4
Selbstreflexion
Selbstbeobachtung Selbstbeschreibung
1
=
Operative Schließung! Temporalisierte Selbstproduktion
Abbildung 2.1: Temporalisierung der Selbstreferenz; Quelle: AM
„[Die Selbstbeobachtung] describes the capacity of a system to influence its own operations in a way that goes beyond merely linking them together in a sequential manner“ (Teubner 1993: 19).
Es handelt sich dabei um eine negative Definition, die nicht so weit entfernt von der Definition der Selbstreferenz ist. Sie könnte alles einschließen, von Zirkularität bis zur Autopoiesis. Beobachtung wurde bereits als basaler systemischer Prozess definiert, durch den ein System Unterscheidungen treffen kann. Im Anschluss an diese Definition soll Selbstbeobachtung die Feststellung eines Unterschiedes des Selbst durch das Selbst bedeuten, eine Art Anerkennung dessen, was im System vorhanden ist. Wenn das zutrifft, ist die Selbstbeobachtung eine besondere Vorbedingung der Selbstbeschreibung, denn nur durch die Anerkennung dessen, was im System existiert, kann das System über sich selbst kommunizieren und Selbstbeschreibungen entwickeln. Nach Teubner funktioniert eine Selbstbeschreibung „as a programme of internal regulation, organizing the system in such a way that it corresponds to this self-description“ (Teubner 1993: 15). Eine solche Aufgabe kann nicht umgesetzt werden, wenn keine Selbstbeobachtungsfähigkeit vorhanden ist. Selbstbeobachtung bietet Unterscheidungsmöglichkeiten für Selbstbeschreibungen. Beides führt zur Konstitution einer bestimmten systemischen Identität, die eine primäre Sta-
38 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
bilität im System ermöglicht: Selbstbeschreibungen können also nicht ohne Selbstbeobachtung erfolgen. Ähnliches gilt für die Beziehungen zwischen Selbstorganisation und Selbstregulation im Zyklus 2. Selbstorganisation wird als „the ability of a system spontaneously to produce an autonomous order“ (Teubner 1993: 19) beschrieben. Eine ziemlich fuzzy Definition. In Bezug auf das entwickelte Schema wird hier von Selbstorganisation gesprochen, wenn die spontaneous order aus der Kopplung von Unterscheidungen entsteht, was andererseits dazu beiträgt, Strukturierungsprozesse in Gang zu setzen, die zur Konstitution des institutionellen Feldes führen (von geldbasierten Institutionen im Falle der Wirtschaft, von machtbasierten Institutionen im Falle der Politik, von wissensbasierten Institutionen im Falle der Wissenschaft). Dafür müssen Unterscheidungen und Bezeichnungen kompatibel sein, und gerade da liegt eines der grundlegenden Kennzeichen einer konzentrischen Institutionalisierung, nämlich die Spannung zwischen den zentrifugalen Erwartungen der funktionalen Differenzierung und den zentralisierenden bzw. entdifferenzierenden Erwartungen der institutionalisierten Macht- und Einflusskonstellation. In einer konzentrischen Institutionalisierung wird die Entfaltung kompatibler Differenzen im System durch eine Fülle von Entdifferenzierungsepisoden in-frage gestellt. Differenzen sind nur dann mit anderen Differenzen kompatibel, wenn sie unter selbstreferenziellen Bedingungen entstanden sind. Da bei einer konzentrischen Institutionalisierung die Unterscheidungsoperationen bei bestimmten Selektionen interveniert werden, wird die Kompatibilität der Unterschiede destabilisiert. Selbstregulierung ist „[...] the dynamic variant of self-organization. A system can be described as self-regulating if it is able not only to build up and stabilize its own structures, but also to alter them according to its own criteria“ (Teubner 1993: 20).
Selbstregulierung dient in diesem Sinne zur Strukturierung der Selbstorganisation im Rahmen der Temporalität, insofern als die Stabilisierung und Transformation von Strukturen Zeit benötigt. Interessant ist, dass es ebenso wie zwischen Selbstbeobachtung und Selbststeuerung auch zwischen Selbstorganisation und Selbstregulierung eine zeitliche Verbindung gibt: Eine Struktur kann nicht reguliert werden, wenn sie über keine bestimmte Organisation verfügt. Andererseits, wenn Selbstregulation und Selbstbeschreibung in Verbindung gesetzt werden, entsteht Selbstreflexion: „The development of a coherent form of argumentation about the identity of the system“ (Teubner 1993: 20). Immer wieder erweist sich die Kompatibilisierung der Unterschiede im Bereich der Selbstorganisation als notwendig. Ohne kompatible Unterschiede besteht keine Möglichkeit zur Selbstreflexion, weil Selbstreflexion Kohärenz bei der Konstitution der Identität
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erfordert. Immer dann wenn ausdifferenzierende bzw. differenzierte Systeme einer konzentrischen Institutionalisierung angegriffen werden, legt die Intervention Hindernisse in den Weg der Selbstreflexion, die schwer zu überwinden sind. Dies hat zur Folge, dass die Weiterentwicklung der Identität beschränkt wird. Wenn ein System den Zyklus 3 erreicht, kann es sich selbst reproduzieren. Die Grenze zwischen Zyklus 2 und 3 setzt eine qualitative Transformation des Systems voraus: Es kann nun seine eigenen Kommunikationen mit Bezug auf die eigenen Kommunikationen herstellen. Unterschiedliche Themen und Programme, die auf den beim Zyklus 2 errichteten systemischen Institutionen basieren, entwickeln sich als Konsequenz der Selbstproduktion des Systems. Man kann dies durch den Luhmann’schen dreiseitigen Kommunikationsprozess betrachten – Information, Mitteilung, Verstehen. Das Problem einer konzentrischen Institutionalisierung besteht darin, dass die systemische Intervention diesen Prozess unterbricht. Das Verstehen erfolgt nicht als Möglichkeit einer neuen Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung, denn das intervenierte System muss nicht verstehen, sondern die durchgesetzte Intervention faktisch akzeptieren. Damit blockiert man den Weg zur Selbstreferenzialität unterschiedlicher Teilsysteme. Schließlich setzt die Autopoiesis (Zyklus 4) die Verwirklichung dreier Bedingungen voraus: a) die Strukturierung anderer Zyklen unter den Bedingungen der eigenen systemischen Kommunikationen, was operative Geschlossenheit bedeutet, b) die Reproduktion einer solchen Strukturierung in Form eines Hyperzyklus und c) die fortdauernde Aufrechterhaltung der operativen Geschlossenheit. Anders gesagt, Autopoiesis bedeutet sachlich, sozial und zeitlich unbegrenzte Selbstproduktion von Elementen im System. So Teubner: „[...] the self-producing cycle must also be capable of maintaining itself. This is achieved through the interlinking of the first self-producing cycle with a second one which makes cyclical production possible by guaranteeing the conditions of its production (hyper-cycle)“ (Teubner 1993: 23).
Die sogenannten soft operations, die insgesamt den Zyklen 1 und 2 entsprechen, und die hard operations der Zyklen 3 und 4 werden im Rahmen des Hyperzyklus einbezogen (Roth 1994). Hyperzyklus soll in diesem Sinne heißen, dass die inneren Prozesse eines Systems Verbindungen zur Umwelt etablieren, die durch strukturelle Kopplungen die Koordination unterschiedlicher, operativ geschlossener, autonomer Zyklen jedes Systems ermöglichen. Hyperzyklus ist dann intersystemische Relationierung. Die Schlussfolgerungen dieses evolutiven Modells der Selbstreferenz zur Charakterisierung einer konzentrischen Institutionalisierung werden in den
40 | Kapitel 2. Funktionale Differenzierung
folgenden Kapiteln gezogen. Einige wichtige Feststellungen werden hier bereits hervorgehoben: Die systemische Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, kann im Hinblick auf die Entwicklung der Autonomie interpretiert werden: Je deutlicher und unabhängiger die Unterscheidungen von externen Faktoren sind, desto deutlicher nähern sie sich an die höheren Zyklen der Selbstreferenz an. Wenn man die Entfaltung der Selbstreferenz als Prozess betrachtet, wird der scheinbar basale Widerspruch zwischen Entdifferenzierungsepisoden allopoietischen Ursprungs und funktionaler Differenzierung aufgelöst. Denn man kann von ausdifferenzierenden Systemen sprechen, die selbstreferenziell, aber nicht autopoietisch operieren. Es wäre theoretisch denkbar, dass sie sich im Zyklus 1, 2 oder 3 der Entfaltung der Selbstreferenz befinden. Allerdings muss diese Frage empirisch beantwortet werden. Das Modell der Temporalisierung der Selbstreferenz dient dazu, eine empirische Beschreibung des Ausdifferenzierungsprozesses der Teilsysteme zu entwerfen, um aufzuzeigen, dass der Hintergrund der funktionalen Differenzierung in einer konzentrischen Institutionalisierung aus autonomen und teilautonomen Systemen besteht. Dies ermöglicht eine Neuinterpretation der Theorie institutioneller Asynchronie Germanis (1962), da Funktionssysteme und die institutionelle Ordnung in Bezug auf die Zyklen der Selbstreferenz analysiert werden können. Schließlich ist nach dem Modell der Temporalisierung der Selbstreferenz die Allopoiesis nicht als Negation der Autopoiesis zu verstehen. Damit zeigt sich deutlich die Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung. Wie diese Spannungen umgesetzt werden, ist Thema des nächsten Kapitels.
3 Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft Das vorliegende Kapitel geht von der Hypothese aus, dass die Region Lateinamerika als ein Zusammenspiel formeller Prozeduren funktional differenzierter Institutionen und informeller Operationen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken charakterisiert werden kann. Im Hintergrund steht die Thematisierung der gegenwärtigen modernen Gesellschaft als eine funktional differenzierte Weltgesellschaft, der in letzter Zeit vor allem im Rahmen der Systemtheorie erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde (3.1). Der Begriff der Region spielt in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle. Er baut eine Brücke zwischen territorial begrenzten Nationalstaaten und den globalen Kontexten der funktionalen Differenzierung – eine Brücke, die sich auf drei Säulen stützt, nämlich auf die Institutionalisierung von Governance-Formen, auf sich wiederholende Inklusions-/Exklusionsvorgänge und auf semantische Selbstbeschreibungen dessen, was man Lateinamerika nennt (3.2). All dies führt zu einer Charakterisierung des lateinamerikanischen Weges der Moderne als ein im Allgemeinen nicht trennbares Zusammenspiel formeller Prozeduren funktional differenzierter Institutionen und informeller Operationen von Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken, die Entdifferenzierungs- bzw. Zentralisierungsprozesse auf institutioneller Ebene auslösen (3.3). Zum Schluss werden aus der Diskussion einige Hinweise zur Betrachtung der Idee eines Primats der funktionalen Differenzierung auf weltgesellschaftlicher Ebene abgeleitet (3.4).
3.1 Der Begriff der Weltgesellschaft in der Systemtheorie Der Begriff der Weltgesellschaft wurde im Jahre 1971 von Luhmann in die systemtheoretische Soziologie eingeführt, aber erst in den 1990er Jahren gewann er an theoretischer Prägnanz. In der systemtheoretischen Szene werden drei Auffassungen des Begriffs diskutiert, die unterschiedlich, aber komplementär sind: erstens, eine formal theoretische Betrachtung der Weltgesellschaft als jenes System aller füreinander erreichbarer Kommunikationen (Luhmann 1997); zweitens, eine evolutive Annäherung an die Thematik, die die Ausdifferenzierung weltweit funktionierender Teilsysteme betont (Stichweh 2000); und drittens, eine institutionelle Betrachtung der global bzw. regional geltenden Formen von Governance (Willke 2006). Auf Letztere möchte ich im Folgenden
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näher eingehen, um Elemente hervorzuheben, die für eine Integration des Begriffs Region im Rahmen der Analyse der Weltgesellschaft sprechen. In einer vorautopoietischen Sichtweise begreift Luhmann die Idee der Weltgesellschaft 1971 als ein über die nationalstaatlichen Grenzen sich konsolidierendes Interaktionsfeld, in dem die Erwartungen agierender Menschen nicht mehr radikal voneinander getrennt sind – wie es in früheren Gesellschaftsformationen der Fall war. Man weiß mehr oder weniger, wie man sich unter Fremden verhalten soll und was man zu erwarten hat, wenn man unter anderen lebt oder handelt, sodass die Weltgesellschaft nicht nur zum hypothetischen, sondern auch zum realen Welthorizont wird (Luhmann 2005b). Dies lässt sich aber nicht als realer Kontakt von Mensch zu Mensch verstehen: „Dies ist nur eine Nebenerscheinung der Tatsache, dass in jeder Interaktion ein ‚Und so weiter‘ anderer Kontakte der Partner konstituiert wird mit Möglichkeiten, die auf weltweite Verflechtungen hinauslaufen und sie in die Interaktionssteuerung einbeziehen“ (Luhmann 2005b: 67).
Wahrscheinlich weil der Interaktionsbegriff schon damals für Luhmann konzeptionell zu eng war, entwickelt er im selben Aufsatz sekundäre Formen, den Begriff der Weltgesellschaft zu plausibilisieren, und zwar als „Wissen der Zugänglichkeit des Wissens im Bedarfsfalle“ und sogar als „weltweites Kommunikationsnetz“ (Luhmann 2005b: 66). Insbesondere die Letztere wird von Luhmann 1997 wieder aufgegriffen, als er Weltgesellschaft als das System aller füreinander erreichbaren Kommunikationen definiert: „Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern“ (Luhmann 1997: 150).
Weltgesellschaft ist in diesem Sinne „das Sich-Ereignen von Welt in der Kommunikation“ (Luhmann 1997: 150). Der Begriff stützt sich nicht mehr auf Interaktion, sondern auf Kommunikation, und er bezieht sich nicht mehr direkt auf die Kommunikation unter Anwesenden, sondern auf den Operationsmodus gesellschaftlicher Funktionssysteme, deren Grenzen nur kommunikativ und nicht regional zu begreifen sind. Dies bedeutet aber nicht, dass für Luhmann die Region im Rahmen der Weltgesellschaft keine Rolle mehr spielt oder dass Regionen einfach deswegen nicht mehr existieren, weil es funktionale Differenzierung gibt: „Fragt man nach einer Begründung für das Festhalten an einem regionalen Gesellschaftsbegriff, so wird in der Regel auf die krassen Unterschiede im
3.1. Der Begriff der Weltgesellschaft in der Systemtheorie | 43 Entwicklungsstand der einzelnen Regionen des Erdballs hingewiesen. Das Faktum ist selbstverständlich weder zu bestreiten noch in seiner Bedeutung abzuschwächen“ (Luhmann 1997: 161-162).
Es handelt sich vielmehr um eine methodologische Frage: Soll man für die Theoriebildung von der Idee der Regionalgesellschaften oder von der Weltgesellschaft ausgehen? Geht man von Regionalgesellschaften aus, fragmentiert sich die Beobachtung in verschiedene Bestandteile, die man erst dann erfassen kann, wenn man sie deskriptiv betrachtet. Geht man dagegen von der Idee einer Weltgesellschaft aus, dann lassen sich die Problemkonstellationen, auf die die Regionen unterschiedlich reagieren, besser erklären und es wird deutlicher, „weshalb gegebene Differenzen sich verstärken oder abschwächen, je nachdem, wie sie sich zirkulär mit weltgesellschaftlichen Vorgaben vernetzen“ (Luhmann 1997: 163). Es gibt Regionen in der Weltgesellschaft. Diese können aber der kommunikativen Kraft der weltweiten funktional differenzierten Teilsysteme nicht entkommen und lassen sich, laut Luhmann, charakterisieren durch Unterschiede in der Partizipation an weltgesellschaftlichen Ereignissen und in den Reaktionen auf die dominanten Strukturen der Weltgesellschaft. Diese Unterschiede greifen auf eine geschichtlich bedingte Formation eines Zentrum/Peripherie-Musters und auf Inklusions-/Exklusionskonstellationen zurück, die zur Reproduktion anachronistischer Tendenzen führen, die Luhmann vor allem im Bereich der Religion und innerhalb des Nationalstaates sieht, z. B. ethnische Bewegungen (Luhmann 1997: 167 ff.). Dass es sich um anachronistische Tendenzen handelt, ist fragwürdig, denn – wie selbst Luhmann erklärt – selegiert die Weltgesellschaft, was für sie an Tradition förderlich ist. Es geht dabei vielmehr um asynchrone Gesellschaftsformationen (Germani 1962, 1981), die sich aus einer Mixtur von Differenzierungsformen ergeben, deren Kumulationseffekte mit den unterschiedlichen Konkretisierungsformen der funktionalen Differenzierung zu tun haben. Asynchronie betont die ungleiche Gleichzeitigkeit der Gegenwart, wie es bei funktional differenzierten Systemen der Fall ist. Anachronie bedeutet dagegen, dass es in der Gegenwart eine „Gleichzeitigkeit des entwicklungsgeschichtlich Ungleichzeitigen“ gibt (Stichweh 2000). Dahinter verbirgt sich ein Fortschrittsvorurteil, das dazu führt, dass regionale Unterschiede als Entwicklungsstadien berücksichtigt und zugleich als zielgerichtete Prozesse angesehen werden. Sowohl in Bezug auf den kommunikativen Hintergrund des Weltgesellschaftsbegriffs als auch hinsichtlich der Unterkomplexität der Idee der Region als Ausgangspunkt einer Theorie der modernen Weltgesellschaft vertritt Rudolf Stichweh eine ähnliche Auffassung wie Luhmann, die vor allem auf einen regio-
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nal gedachten Kulturbegriff und auf die Einheitlichkeit der Lebensbedingungen zurückgeht (Stichweh 2000: 10 ff.). Weltgesellschaft bedeutet insofern kommunikative Erreichbarkeit eines Welthorizonts, dessen regionale Unterschiede dreifach interpretiert werden müssen: a) als historisch konditionierte Unterschiede, b) als synchrones Vorkommen ungleichzeitiger Entwicklungsniveaus und c) als strukturelle Effekte der Weltgesellschaft. Letzteres ist entscheidend, um ein Vorbild der Weltgesellschaft nachzuzeichnen. Dass es sich andererseits bei diesen Unterschieden um ungleichzeitige Entwicklungsniveaus handelt, geht auf Luhmanns Idee der Anachronie zurück. Mit einem solchen Ansatz läuft man jedoch Gefahr, in den Einflussbereich des Fortschrittsvorurteils zu geraten. Interessant ist vor allem Stichwehs Auffassung der Weltgesellschaft, weil er sie ontogenetisch und morphogenetisch analysiert. Evolutiv erreichte Innovationen und Mechanismen tragen zur Morphogenese eines Weltgesellschaftssystems bei und bestimmen seine gegenwärtige Dynamik. In einer offenen Liste von Innovationen nennt Stichweh folgende: a) funktionale Differenzierung, b) Organisationen und c) Kommunikationstechniken. Mechanismen der Weltgesellschaft seien inzwischen: a) globale Diffusion institutioneller Muster, b) globale Vernetzung kommunikativer Ereignisse und c) Dezentralisierung in Funktionssystemen, die zur Erosion regionaler Zentren führt (Stichweh 2000: 250 ff.). Die Operation dieser Innovationen und Mechanismen wirkt an der Reproduktion einer Weltgesellschaft mit und generiert evolutive Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Die Ontogenese einer Weltgesellschaftsordnung lässt sich andererseits nicht reduzieren auf den politisch und wirtschaftlich orientierten Gedanken einer nach dem Zweiten Weltkrieg globalisierten Welt, eben nicht auf die ökologischen Interaktionen zwischen verschiedenen Gesellschaften der Vergangenheit. Entscheidend ist, dass es im Kontaktvorgang zweier regional getrennter Gesellschaften zu Strukturveränderungen kommt, die sie mit dem Emergenzniveau der Weltgesellschaft verbinden: „Die Weltgesellschaft beginnt in dem Augenblick, in dem eines der Gesellschaftssysteme nicht mehr akzeptiert, dass es neben ihm noch andere Gesellschaftssysteme gibt und dieses Gesellschaftssystem zusätzlich über die Instrumente und Ressourcen verfügt, diese Nichtakzeptation in strukturelle Realität umzuformen“ (Stichweh 2000: 249).
Die Folge davon sind unterschiedliche und weltweit verbreitete Prozesse der Strukturbildung. Die verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft unterliegen ständig den Einflüssen weltweiter systemischer Strukturen und gehören aufgrund dessen zu einem einzigen Gesellschaftssystem. Zugleich zeigen sie aber
3.1. Der Begriff der Weltgesellschaft in der Systemtheorie | 45
Variabilität in dem Maß, wie sie auf den Druck der funktionalen Differenzierung mit der Entstehung unterschiedlicher institutioneller Arrangements reagieren. Im Anschluss an die in Kapitel 2 entwickelten Kategorien könnte man sagen, dass die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft als Organisationsform dieser Gesellschaft fungiert, während die institutionellen Konstellationen, die sich in diesen Regionen entwickeln, als variable Formen räumlicher Strukturierung betrachtet werden können. Es wird damit behauptet, dass das Primat der funktionalen Differenzierung in allen Regionen der Welt bestehen bleibt; es wird aber in den verschiedenen regionalgesellschaftlichen Konstellationen anders umgesetzt. Dies begründet die Idee eines lateinamerikanischen Weges der Moderne im Rahmen der funktional differenzierten Weltgesellschaft. Während es für Luhmann und Stichweh bei der Definition der Weltgesellschaft um die Hervorhebung der Kommunikation und der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme geht, vertritt Helmut Willke eine andere Auffassung des Weltgesellschaftsbegriffs. Es handelt sich dabei um die Definition, wie sich eine institutionelle Basis herausbildet, die aus den territorialen Bindungen des Nationalstaates ausbricht und sich zu globalen Kontexten vernetzt (Willke 2007: 140). Statt von der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen spricht Willke von der Entfaltung lateraler Weltsysteme zu Weltsystemen, die an Eigendynamik und Selbstreferenz gewinnen und durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien unterschiedliche Symbolordnungen errichten: Ordnung des Geldes, des Rechts, des Wissens (Willke 2005; Luhmann 1997). Durch ihre Selbstreferenz bilden die lateralen Weltsysteme eigene Formen der Selbststeuerung, die allmählich eine supranational operierende Basis entwickeln. Bei Willkes Definition der Weltgesellschaft als Gesellschaft ist die Idee der Selbststeuerung entscheidend. Definitionen, die Weltgesellschaft als reine Kommunikation bzw. Interaktion beschreiben, hält Willke für ungenügend – denn das wäre die Definition des Sozialen. Auch die Idee von globalen Institutionen greift hier zu kurz – denn das wäre die Bezeichnung für Globalisierung – ebenso wie die Vorstellung, dass die Weltgesellschaft über eine Wirklichkeit jenseits der nationalstaatlichen Grenzen verfügt – denn das wäre das Feld des Supranationalen. Nach Willkes Auffassung formt sich eine Weltgesellschaft erst dann, „[...] wenn ein kommunikativ konstituierter globaler Kontext die Fähigkeit der Selbststeuerung ausbildet. Dies meint, dass die Weltgesellschaft in der Lage sein müsste, ihre Ordnungsform als Balance notwendiger Ordnung und möglicher Unordnung selber zu bestimmen“ (Willke 2006: 34).
Subsidiarität und Föderalität seien die Prinzipien, die Ordnung und Unordnung
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in einer heterotopischen Weltgesellschaft versöhnen würden, und zwar Föderalität als dezentralisierte Selbststeuerung lateraler Weltsysteme und Subsidiarität als Kontextsteuerung für Koordinationsprobleme: „Entsprechend möchte ich Föderalität als Ordnungsprinzip für hohe Komplexität verstehen, wonach die im System insgesamt anfallende Steuerungslast nicht an der Spitze des Systems konzentriert ist (Hierarchie, Zentralstaat), sondern nach dem Prinzip der Subsidiarität primär auf der Selbststeuerung der Komponenten des Systems beruht und nur dort, wo es unabdingbar ist, auf der Kontextsteuerung des Ganzen durch Institutionen, die das System insgesamt repräsentieren“ (Willke 2003: 15-16).
Da es aber keine Selbststeuerung der Weltgesellschaft als Ganzes gibt – über einen Weltstaat z. B. (Albert/Stichweh 2007) – und da es in modernen Gesellschaften nicht nur um die Unordnung verschiedener Logiken unterschiedlicher Teilsysteme geht, sondern auch um die Ordnung ihrer Koordination, kommen Formen von Governance ins Spiel, die die Akteure im Bereich der lateralen Weltsysteme organisieren – denn Governance „is the activity of coordinating communications in order to achieve collective goals through collaboration“ (Willke 2007: 10). Governance ist in diesem Sinne ein allgemeiner Begriff zur Bezeichnung von Regelstrukturen, symbolisch verbreiteten Erwartungen und sich entwickelnden Institutionen, die jenseits des Nationalstaates operieren können, die sich aber auch nur um bestimmte Gesellschaftsfelder thematisch kümmern. Die gegenwärtige Selbstchaotisierung des Rechts, welches über die Grenzen des Nationalstaates in verschiedene Rechtsregimes zersplittert, ist das beste Beispiel dafür, wie ein Governance-Regime sowohl dezentral als auch einheitlich (in Bezug auf die Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen) operieren kann (Fischer-Lescano/Teubner 2006). Allerdings gilt dies nicht nur für das Rechtssystem, sondern auch für Governance-Regimes bzw. Institutionen der Wirtschaft, der Erziehung, der Wissenschaft Wichtig ist für uns die Idee von institutionalisierten Governance-Regimes, denn sie bezeichnet eine Ebene, die a) die territorialen Grenzen überschreitet, b) nicht mit den Operationen der funktionalen Differenzierung zu identifizieren ist, aber c) als Konkretisierung dieser in verschiedenen Regionen gilt. Offensichtlich sind Governance-Regimes nicht mit regionalen Grenzen zu identifizieren; sie können aber regionale Anwendung finden, wie z. B. bei den politisch-rechtlichen und sogar wirtschaftlichen Formen von Governance in der EU oder in der Organización de Estados Americanos (Organisation Amerikanischer Staaten), der Comunidad Andina de Naciones (Andengemeinschaft), dem Corte Interamericana de Derechos Humanos (Interamerikanisches Gericht für Menschenrechte) und dem Mercosur, deren Funktion in der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Koordination staatlicher Kommunikationen
3.2. Zum Begriff der Region | 47
in der internationalen Arena liegt (Phillips 2003; Grugel 2004). Auch wenn diese Art von Governance-Regimes in Lateinamerika tatsächlich existieren – durch umfangreiche Vertragswerke abgesichert –, so lassen sich weitere GovernanceStrukturen beobachten. Es handelt sich dabei um Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, die über Gewalt, geldbasierte Korruption und Zwang Einfluss auf die formellen Inklusionsprozeduren der funktionalen Differenzierung ausüben. Man denke an die unbetretbaren Stadtteile in vielen lateinamerikanischen Großstädten, wo gewaltbasierte Organisationen herrschen, oder an sich auf familiäre Verbindungen stützende Organisationen, oder die geldbasierte Korruption der politischen oder rechtlichen Kommunikationen, oder die Reziprozitätsnetzwerke, die sich mehr oder weniger spontan entwickeln, um auf informelle Weise Macht und Einfluss auf die formellen Inklusionsprozeduren der funktional differenzierten Institutionen auszuüben (Lomnitz 1988; Gilbert 1997; O’Donnell 1988; Holzer 2006). Diese Art von Governance-Regimes basiert auf Institutionalisierungsformen, die die Idee der Region Lateinamerika und des lateinamerikanischen Weges der Moderne stützen. Auf dieses Thema gehen wir in den nächsten Abschnitten ein.
3.2 Zum Begriff der Region Auf der Basis der im ersten Abschnitt vorgestellten Definitionen lässt sich ein Begriff der Weltgesellschaft entwickeln, der hilfreich für das Verständnis Lateinamerikas als Region der Weltgesellschaft sein kann. Weltgesellschaft wird in diesem Sinne als eine emergente Kommunikationsebene verstanden, die auf der Grundlage von Bottom-up- und Top-down-Beziehungen zwischen territorialen, regionalen und auf globaler Ebene stattfindenden funktional differenzierten Operationen konstituiert wird. Es wird auf diese Weise postuliert, a) dass die global geltende funktionale Differenzierung durch die Unterscheidung Zentrum/Peripherie auf nationalstaatlicher territorialer Ebene unterschiedliche Umsetzungsmöglichkeiten findet, sodass es zur strukturellen Variabilität der funktionalen Differenzierung kommt; b) dass die Unterscheidung Inklusion/Exklusion besonders regionale, formelle und informelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge in Gang bringt, die die Teilnahme an den Leistungen funktional differenzierter Teilsysteme begünstigen oder begrenzen; c) dass die Formen, die die Konkretisierung der funktionalen Differenzierung auf regionaler und territorialer Ebene annimmt, als asynchrone Ereignisse der Weltgesellschaft zu definieren sind und nicht als anachronistische Stadien einer nicht linearen Entwicklungsform; d) dass diese Asynchronien auf eine veränderliche Kombination derivativer Mechanismen früherer Differenzierungsformen (segmentäre, zentrum/peripherische,
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Das Territoriale
Das Regionale
Das Globale Funktionale Differenzierung System/ Umwelt Kommunikation
Organisationsform
Staat
Leitdifferenz
Zentrum/ Peripherie
GovernanceRegimes Inklusion/ Exklusion
Verweisungszusammenhang
Territorium
Raum
Tabelle 3.1: Territoriale, regionale und globale Ebenen der Weltgesellschaft
stratifizierte Differenzierungsformen), die im Rahmen des Primats der funktionalen Differenzierung stattfinden, zurückzuführen sind; e) dass die formellen Governance-Regimes, die sich im Rahmen der Konstituierung gesellschaftlicher Teilsysteme bilden, eine Institutionalisierung auf regionaler Ebene vorantreiben; f) dass diese Governance-Regimes auch informell sein können (indem sie sich in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken organisieren, können sie informelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge in Gang setzen, die über Gewalt, geldbasierte Korruption und Zwang funktionieren, um Einfluss auf die formellen Inklusionsprozeduren funktional differenzierter Institutionen auszuüben); und g) dass die wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Ebenen historisch-morphogenetisch konditioniert sind, sodass sich daraus eine Semantik entwickelt, die die Region anhand bestimmter Vorgänge, Merkmale und Erwartungen identifiziert, was zur Selbstbeschreibung der historisch konstituierten Region unter dem Begriff Lateinamerika beiträgt. Schematisch formuliert lässt sich dies wie in Tabelle 3.1 darstellen. Die funktionale Differenzierung gilt als basale Organisationsform der modernen Gesellschaft, d. h., Systeme wie Politik, Recht und Wirtschaft sind in der Lage, nationale Grenzen kommunikativ zu überschreiten und zugleich Formen der Institutionalisierung zu errichten, die operativ homogenisierend wirken, aber regionale Variabilität aufweisen. Die Organisationsform der Weltgesellschaft bleibt funktional differenziert; ihre Struktur aber – im Sinne Maturanas und Varelas (1980) – ändert sich je nach Region. Auf diesem Abstraktionsniveau lassen sich folgende Anhaltspunkte für die Anwendung des Weltgesellschaftsbegriffs ableiten: a) Am Anfang des 20. Jahrhunderts sind keine Inseln der Sozialität mehr zu finden. Das heißt, es gibt keine Weltregion, für die die Koordination unter den Prämissen einer systemisch differenzierten Kommunikation wichtige oder sogar entscheidende Konsequenzen auf regionaler oder territorialer Ebene hat. b) Gerade diese regionalen oder nationalen institutionalisierten Operationen sind diejenigen, die die empirische Variabilität der Weltgesellschaft belegen. c) Diese Operationen liefern Indizien für die Feststellung von Grenzen
3.2. Zum Begriff der Region | 49
eines gesellschaftlichen Raums. d) Aufgrund der steigenden Universalisierung der Weltgesellschaft darf keine soziologische Analyse ohne Referenz auf die strukturellen und semantischen Bedingungen solcher Regionen durchgeführt werden (Meremiskaya/Mascareño 2005). In diesem Sinne möchte ich Region als eine über den Raum definierte Konstellation von Inklusions- und Exklusionsvorgängen verstehen, die auf der Basis von institutionalisierten Governance-Regimes organisiert ist. Sie kombinieren die formellen Operationen funktionsspezifischer Systeme mit der informellen Logik von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken, die auf der Basis derivativer Sanktionsmechanismen früherer Gesellschaftsformationen, wie Gewalt, geldbasierte Korruption und Zwang, Einfluss auf die formellen Inklusionsprozeduren der funktionalen Differenzierung ausüben. Einiges muss dennoch in dieser Definition geklärt werden, nämlich: a) was unter dem Begriff Raum zu verstehen ist, b) wie die Unterscheidung Inklusion/Exklusion in Bezug auf die Regionalisierung der funktionalen Differenzierung durch Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke operiert und c) wie daraus eine regionale Semantik entsteht, die kommunikative Abläufe mit einem gesellschaftlichen Raum identifiziert.
Zu a) Auf den ersten Blick hat der Begriff Raum eine eher negative Bedeutung für die Systemtheorie. In gewisser Weise repräsentiert er all das, wovon sich die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften abgrenzt: die Bindung an das Lokale, den Einfluss des Ortes auf die Kommunikation, die Subkomplexität territorialer Vorstellungen für die Definition des Gesellschaftsbegriffs. In der Sachdimension verschiebt sich die räumliche Unterscheidung nah/fern auf sekundäre Positionen, denn die Verbreitungs- und Kommunikationsmedien fördern eine relative Wirkungslosigkeit der Distanz im globalen Umfang. In der Zeitdimension verliert auch der Raum an Bedeutung, denn man orientiert sich nun „weniger an räumlich begrenzten als an zeitlich begrenzten Kulturkomplexen, deren Variation von vornherein in Rechnung gestellt wird und gerade ihre Attraktivität begründet: an Moden und Stilen, Zeitstimmungen und Generationsschicksalen“ (Luhmann 1997: 765). Und in der Sozialdimension werden die Menschen nicht mehr – oder zumindest nicht vorwiegend – in Ränge eingeordnet. In den systemtheoretischen Reflexionen hat vor allem Rudolf Stichweh in letzter Zeit die Frage gestellt, ob diese Vernachlässigung des Raumbegriffs in der Theoriebildung berechtigt ist. Stichweh weist darauf hin, dass es in modernen Gesellschaften um neue Formen der Neutralisierung und der Kontrolle des
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Raums geht, die hauptsächlich auf Unterschieden wie nah/fern – zum Vergleich von Raum und Zeit – und innen/außen – zur Grenzziehung – basieren (Stichweh 2003, 2005). Bezogen auf das politische System, wird Raum als Territorialität verstanden, nämlich als ein hochgradig spezifischer Modus der Grenzbildung. Eine solche Verbindung von Raum und Territorialität im politischen System ist wichtig, weil sie die Art und Weise bezeichnet, wie sich der Nationalstaat in Bezug auf die Region verhält. Ein Staat grenzt sich von anderen Staaten ab und wendet im Inneren die Unterscheidung Zentrum/Peripherie an. Die innere Grenze zwischen Zentrum und Peripherie ist aber unscharf. Einerseits ist zu betonen, dass im Zentrum und nirgendwo anders entschieden wird. Andererseits darf nicht der Eindruck erweckt werden, dass das, was im Zentrum entschieden wird, in der Peripherie nicht gilt oder weniger gilt. Es handelt sich dabei um eine Fuzzy-Form (siehe Kapitel 2). Die äußere Grenze unterscheidet die interne Peripherie von den externen Peripherien, die zugleich über eigene Zentren verfügen. In diesem Sinne kann eine Region, wenn sie politisch definiert wird, verschiedene politische Zentren und Peripherien beinhalten. Relational aber geht es dabei immer um die Logik des politischen Systems. Diese konzentriert tendenziell die Kommunikationen mit Bezug auf das Territoriale. Sie erzeugt eine Spannung zwischen den globalen, funktional differenzierten und dezentralisierten Kommunikationen der Wirtschaft oder des Rechts sowie den politisch geprägten an das Territorium gebundenen zentralisierenden Kommunikationen. Hier zeigt sich eine wichtige Unterscheidung in der Definition des Raumbegriffs: der Begriff des Raums als Behälter und ein relationaler Raumbegriff: „Die Behälter-Raumauffassung eignet sich damit vortrefflich zur Analyse von Machtphänomenen. Sie kommt deshalb immer dort zum Tragen, wo von Herrschaft, Macht, Gewalt und Zwang die Rede ist“ (Schroer 2006: 175).
Nach dieser Auffassung können Stellen (Räume) nur einmal eingenommen werden, sodass neue Objekte die alten vertreiben müssen, um die Raumposition zu besetzen. Bei einem relationalen Raumbegriff hingegen, „[...] werden eher die kreativen Möglichkeiten und die Chancen der Akteure bei der Konstituierung, dem Aufbau und der Gestaltung von Räumen betont“ (Schroer 2006: 175).
Es handelt sich dann um eine sachliche Raumdimension („diese und keine andere Stelle“) und um eine soziale Raumdimension (einen kommunikativen Alter-Ego-Raum). Daraus entsteht eine Spannung, die von besonderer Bedeutung für die regional institutionalisierten Governance-Regimes ist, denn diese sind relational in
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dem Sinne, dass es ihre Aufgabe ist, Koordinationsprozesse in Gang zu setzen. Sie tendieren aber auch zur Zentralisierung und Territorialisierung, wenn es um Macht- und Einflussphänomene geht. Auf diese Weise kann in Lateinamerika eine politisch institutionalisierte Konstellation von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken, die über Gewalt, Korruption und Zwang funktionieren, die Vorstellung begünstigen, dass es sich dabei um eine einheitliche, zentralisierte Region handelt, was auch auf die semantische Ebene übertragen werden kann. Die folgenden Abschnitte befassen sich mit diesen Fragen.
Zu b) Die Unterscheidung Inklusion/Exklusion spielt eine gewichtige Rolle bei der Transformation des Raums in Region. Auf der Ebene der funktionalen Differenzierung kann sich Inklusion „[...] nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden. Man kann, an eine traditionale Bedeutung des Terminus anschließend, auch sagen: die Art und Weise, in der sie als ‚Personen‘ behandelt werden“ (Luhmann 2005c: 229).
Als Außenseite der Form bedeutet Exklusion, dass die Personen keine Teilnahme an den kommunikativen Vorgängen innerhalb eines Systems haben. Man muss davon ausgehen, dass es für differenzierte Teilsysteme unabdingbar ist, die Personen in Kommunikationen einzubeziehen, denn erst durch ihre Beteiligung wird Kommunikation und Kontingenz im System reproduziert. Für die Systeme ist es aber unerheblich, wer an der Kommunikation teilnimmt, auch wenn sie vom Prinzip der Vollinklusion ausgehen (Stichweh 2005: 181 ff.). Wichtig ist vor allem, dass sie über Menschen hinausgeht. Zur Verstärkung der Exklusion und zur Kettenreaktion, die diese Personen von den Leistungen der funktionalen Teilbereiche systematisch ausschließen, kommt es erst dann, a) wenn Systeme, „extreme Ungleichheit in der Verteilung öffentlicher und privater Güter [...] erzeugen und [...] tolerieren“ (Luhmann 2005c: 234) und b) wenn Beschränkungen gegen Exklusion schwach sind oder gar nicht existieren. Solche Beschränkungen entwickeln sich im Rahmen des Wohlfahrtsstaates und sollen gewährleisten, dass Exklusionen nur temporär bleiben und nicht auf andere Systeme einwirken. Die Gesellschaft ist dann – so Luhmann – im Exklusionsbereich hochintegriert: „Hochintegriert deshalb, weil der Ausschluß aus einem Funktionssystem quasi automatisch den Ausschluß aus den anderen nach sich zieht [...]. Familien, die auf der Straße leben und keine feste Adresse haben, können
52 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft ihre Kinder nicht zur Schule anmelden. Oder: wer keinen Ausweis hat, ist von Sozialleistungen ausgeschlossen, kann nicht wählen, kann nicht legal heiraten“ (Luhmann 2005c: 242-243).
Laut Luhmann entstehen dann Exklusionszonen, die sich von den Inklusionszonen, in denen diese Exklusionsbeschränkungen operieren, unterscheiden. Man kann also von Räumen oder Regionen der Weltgesellschaft sprechen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich von der funktionalen Differenzierung relativ abkoppeln. Die Gesellschaft wird zersplittert in Parallelgesellschaften (Stichweh 2005: 191). In solchen Fälle spricht Luhmann sogar von einer durch die Differenz Inklusion/Exklusion produzierten Primärdifferenzierung des Gesellschaftssystems: „[...] es liegt nicht fern, wie Untersuchungen in Ländern im Modernisierungsprozeß belegen, daß unter diesen Umständen eine kaum noch überbrückbare Kluft zwischen Inklusionsbereich und Exklusionsbereich aufreißt und dazu tendiert, die Funktion einer Primärdifferenzierung des Gesellschaftssystems zu übernehmen. Das heißt, daß große Teile der Bevölkerung auf sehr stabile Weise von jeder Teilnahme an den Leistungsbereichen der Funktionssysteme ausgeschlossen sind und daß im gegenüberstehenden Inklusionsbereich nichtvorgesehene Formen der Stabilisierung eingerichtet sind“ (Luhmann 2005c: 235).
Ob der Leitunterschied Inklusion/Exklusion die Primärdifferenzierung des Gesellschaftssystems übernimmt und dadurch das Primat der funktionalen Differenzierung unterläuft, ist fraglich (Schroer 2006: 152 ff.), denn die funktionale Differenzierung kann sich von den Kommunikationen der Inklusionszonen und von den Erwartungen einer Inklusion in den sogenannten Exklusionszonen nähren. Funktionale Differenzierung wirkt in diesem Sinne als ein Druckfaktor für die ganze Region: „Wenn es einen Primat funktionaler Differenzierung gibt, dann liegt er auch in dem enormen Druck auf Ziele, die schwer oder gar nicht zu erreichen sind“ (Japp 2007: 190).
Gerade weil diese Ziele schwer oder unmöglich zu erreichen sind, sucht man alternative Wege. Inklusion und Exklusion wirken immer zusammen. In den Inklusionszonen erhöht sich für die Betroffenen das Risiko, von den Leistungen der Funktionssysteme ausgeschlossen zu werden. Wenn Exklusion Realität wird, dann ist die funktionale Differenzierung nur ein Inklusionshorizont, der nicht erreicht werden kann, an dem man sich aber weiterhin orientiert. Innerhalb der betroffenen Regionen wird versucht, Inklusion über informelle Mechanismen zu erzielen – z. B. durch Gewalt, Korruption oder Zwang. In diesem Sinne
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möchte ich hier nicht direkt von Inklusions- und Exklusionszonen sprechen, denn dies erweckt den Eindruck, dass es in den sogenannten Exklusionszonen keine Inklusion gibt – oder keine Exklusion in Inklusionszonen. Es handelt sich vielmehr um formelle und informelle Inklusions-/Exklusionsvorgänge, die miteinander integriert operieren, sodass man über informelle Wege Inklusion erreichen kann, wenn man von den formellen Operationen der Funktionssysteme ausgeschlossen wird. Es stellt sich dann die Frage, auf welcher Basis diese informellen Inklusions/Exklusionsmechanismen operieren. Vor allem ein geschichtliches Faktum hat die Genese informeller Inklusions-/Exklusionsmechanismen in Lateinamerika bedingt: die Entstehung eines oligarchischen Staates mit prekären Integrationsmechanismen im 19. Jahrhundert und die damit verbundene große Ungleichheit und Diskriminierung innerhalb der staatlichen Grenzen (Larraín 2000; Germani 1959, 1962, 1978, 1981; Cardoso/Faletto 1990). Dies führte dazu, dass die formellen Inklusionsmechanismen funktional differenzierter Institutionen die Erwartungen auf Inklusion ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen nicht erfüllen konnten (Germani 1978, 1981). Evolutiv betrachtet sind die formellen Integrationsmechanismen funktional differenzierter Institutionen Lateinamerikas nicht in der Lage, die kolonialen und segmentären Gesellschaftsstrukturen von Schichtung und Reziprozität zu ersetzen. Wenn die formellen Integrationsmechanismen nicht ausreichen, um Inklusion in die Leistungen einer sich modernisierenden Gesellschaft zu ermöglichen, müssen informelle Strukturen diese Funktion erfüllen. Diese müssen sich aber dem Primat einer weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung anpassen. Dies geschieht durch die Bildung von Akteursnetzwerken, die nach den Prinzipien Schichtung und Reziprozität operieren. In diesem Sinne kann man von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken sprechen, die die Funktion erfüllen, über informelle Mechanismen wie Gewalt, Korruption und Zwang Inklusion in die Leistungen funktional differenzierter Institutionen zu erzielen. Lokale Caudillos, hegemoniale und populistische Regierungen Lateinamerikas operieren nach diesem Muster (Véliz 1980; Pietschmann 1980a, 1980b). Funktional differenzierte, prozedurale, demokratische Institutionen sind ebenfalls von solchen Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken durchdringt, sodass der institutionelle Rahmen Lateinamerikas durch formelle und informelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge charakterisiert werden kann. Die funktionale Differenzierung bleibt in diesem Sinne bestehen, sonst gäbe es keine Erwartung, daran teilzunehmen. Der Unterschied besteht darin, dass in der Region Lateinamerika die entsprechenden Kommunikationsmedien funktional differenzierter Institutionen durch informelle Inklusionsmechanismen ersetzt oder entdifferenziert werden. Dies führt zur Paradoxie, dass das
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Ziel der Inklusion durch die Strukturierung und Weiterentwicklung der formellen Prozeduren, die zu Inklusionserwartungen ausgeschlossener Individuen führen, unterminiert wird. Mit Bezug auf Asien stellt Japp Folgendes fest: „In solchen Fällen lassen sich selbststabilisierende Netzwerke beobachten, die gleichzeitig funktionale (Administration, NGOs) und lokale Institutionen (tribale, verwandtschaftliche, persönliche Netzwerke – ‚ties‘) nutzen. Diese Netzwerke haben keine Grenzen und können deshalb verschiedene Funktionskommunikationen inkorporieren – aber eben auch deren Effizienz reduzieren“ (Japp 2007: 188).
Im Allgemeinen ist das auch in Lateinamerika der Fall. Am Beispiel der favelas in Brasilien erläutert Deffner, dass es sich dabei „[...] um eine andere Gewalt als diejenige der ‚formellen‘ Stadt [handelt] [...] Infolge der Absenz von institutioneller Macht bzw. der Ohnmächtigkeit öffentlicher Polizei und Ordnung obliegt die Kontrolle der Favelas und die Deutungshoheit über Sicherheit und Schutz der ‚parallelen Macht‘, die vor allem in den größten Favelas des Landes die Gestalt von paramilitärischen Gruppen und Kommandos besitzt“ (Deffner 2007: 215).
Deffner schließt daraus, dass Verwundbarkeit die formelle Macht ersetzt. Man kann dies spezifizieren: Ersatzmechanismen wie Gewalt, Korruption und Zwang kommen dann ins Spiel, wenn die formellen Prozeduren eines Rechtsstaates nicht in der Lage sind, universelle Inklusionsbedingungen sicherzustellen. Erst dann fungieren die Logik „richtiger sozialer Beziehungen und Netzwerke, [der] Klientelismus, [die] Korruption im juristischen System, [die] Herkunft usw.“ (Deffner 2007: 218) als Inklusionshebel. Ähnliches gilt für den politischen Klientelismus in Argentinien. Wie Auyero gezeigt hat, operiert ein klientelistisches Netzwerk im Bereich des Politischen „as a problem-solving network that institutes a web of material and symbolic resource distribution“ (Auyero 2000: 57). Es fungiert als Quelle von Gütern und Dienstleistungen und als Schutznetzwerk vor alltäglichen Risiken – fügt Auyero hinzu. In diesem Sinne geht es hier nicht nur um die Form Leistung gegen Stimmen, die vor allem bei Wahlkämpfen an Bedeutung gewinnt, sondern auch um die Erfüllung von formell nicht gesicherten, meist grundlegenden Inklusionserwartungen über informelle Mechanismen. Daher ist das Netzwerk nach dem Leitunterschied innen/außen organisiert. Dieser wiederholt sich in seinem Inneren, sodass man zwischen einem inneren und einem äußeren Kreis des Netzwerkes unterscheiden kann: „A broker is related to the members of his or her inner circle through strong ties of long-lasting friendship, parentage, or fictive kinship [...] Members
3.2. Zum Begriff der Region | 55 of the outer circle (the potential beneficiaries of the brokers’ distributive capacities) are related to brokers by weak ties. They contact the broker when problems arise or when a special favor is needed (a food package, some medicine, a driver’s license, the water truck, a friend in jail). But those in the outer circle do not develop ties of friendship or fictive kinship with brokers [...] While the brokers’ ties to their inner circle are dense and intense, their ties to the outer circles are more sparse and intermittent“ (Auyero 2000: 64, 66 f.).
Durch den Unterschied zwischen dem inneren und äußeren Kreis des Netzwerkes kommt in der Reziprozitätsstruktur der Bindung das Prinzip der Stratifikation zum Tragen, sodass ein Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerk entsteht, dessen Funktion darin besteht, die über formelle Wege nicht erreichbaren Leistungen funktional differenzierter Institutionen über das Netzwerk direkt zu erhalten. Die Beispiele Brasiliens und Argentiniens zeigen deutlich, wie Netzwerke unter klassischen Exklusionsbedingungen funktionieren können. Am Beispiel Chiles kann man erkennen, wie sie auf elitärer und mittlerer Ebene operieren und Inklusions- und Exklusionsvorgänge kombinieren. In Bezug auf den Demokratisierungsprozess Chiles in den 1990er Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts nennt Siavelis (2006) drei informelle Institutionen, die seiner Meinung nach zur demokratischen Regierbarkeit beigetragen haben: der cuoteo político (Verteilung von Regierungspositionen nach parteipolitischen, klientelistischen Strukturen), die partido transversal (eine Art Große Koalition der politischen Regierungseliten) und die democracia de acuerdos (informelle, nicht explizite Regierbarkeitsvereinbarungen). Es mag ja sein, dass der Demokratisierungsprozess ohne diese informellen Mechanismen anders verlaufen wäre. Das Problem ist jedoch, dass gerade solche Mechanismen die Weiterentwicklung der Demokratie in Grenzen halten, da sie über informelle Wege das erreichen, was durch Demokratie formalisiert werden soll, nämlich: öffentliche, bekannte und durchsichtige Entscheidungsprozeduren. Dies scheint die harte Formulierung Japps zu bestätigen, dass die Durchsetzung der funktionalen Differenzierung in nicht europäischen Regionen der Weltgesellschaft erst um den Preis „sekundärer (neo-patrimoniale Staaten, klientelistische Netzwerke, ethnisch-religiöse Dauerkonflikte) oder parasitärer Systembildungen (Nepotismus, Terrorismus) [...], die die unterstellte Entwicklungsdynamik selbst in Frage stellen können“, möglich sei (Japp 2007: 189). Im letzten Abschnitt komme ich darauf zurück. Informelle Netzwerkbeziehungen sind auch in den chilenischen Mittelschichten zu beobachten. Es handelt sich dabei um Gefälligkeitsketten, die den Zugang zu den Leistungen funktional differenzierter, formeller Institutionen erleichtern:
56 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft „Favours dispensed to friends or relatives within such a system include job placement loans by government agencies; preference in legal matters; waivers of priorities; and miscellaneous bureaucratic favouritism in obtaining licenses, certificates, transcripts of documents, passports, permits, identity cards, tax clearances, and countless other items, including social introduction to people who can eventually procure these favours“ (Lomnitz 1988: 46).
Funktional differenzierte, formelle Institutionen und Leistungen werden in diesem Fall deutlich zum Inklusionshorizont informeller Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke. Es gibt in diesem Sinne keine Inklusions- und Exklusionszonen, sondern hoch integrierte Inklusions- und Exklusionsvorgänge, die oft ein und dieselbe Person betreffen: „Reciprocity networks exemplify the kind of sociocultural structures that have generated the modern systems of informal exchange within the formal sector. The individual official who defends and administers the system and who creates its laws and controls is simultaneously a member of a network of primary, culturally determined loyalty relations that include family and friends“ (Lomnitz 1988: 47).
All diese Beispiele belegen die Tatsache, dass auch unter Exklusionsbedingungen die Leistungen der funktionalen Differenzierung durch informelle Ersatzmechanismen erzielt werden und dass in diesem Sinne die Unterscheidung Inklusion/Exklusion nicht als Primärdifferenzierung der Gesellschaft bezeichnet werden kann, sondern als ein regionaler Beobachtungsmodus, der dazu dient, in diesen Regionen die funktionale Differenzierung mit informellen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken zu artikulieren. Wenn das so ist, dann entsteht eine Region in der Weltgesellschaft, die sich semantisch noch festigen muss.
Zu c) Weiter oben habe ich Region als eine über Raum definierte Konstellation von Inklusions- und Exklusionsvorgängen definiert, die auf der Basis von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken organisiert ist, welche über Gewalt, Korruption und Zwang operieren, um Einfluss auf die formellen Inklusionsprozeduren der funktional differenzierten Institutionen auszuüben. Nun möchte ich diese Definition auf semantischer Ebene spezifizieren. Regionen der Weltgesellschaft erhalten Namen, die als Selbstbeschreibung für solche Konstellationen dienen. Man spricht von „Europa“ bzw. von „West- und Osteuropa“, „Subsahara- Afrika“, „Asien-Pazifik“, „Black Atlantik“ und „Lateinamerika“. Wie
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bei jeder Selbstbeschreibung verbirgt sich hinter diesen Namen die Einheit des Verschiedenen: „Relativ stabile Selbstbeschreibungen bilden sich daher nicht einfach in der Form des überzeugenden Zugriffs auf ein gegebenes Objekt, sondern als Resultat eines rekursiven Beobachtens und Beschreibens solcher Beschreibungen aus“ (Luhmann 1997: 888).
Das, was „ist“, verbirgt sich hinter der Bezeichnung und wird zugleich von der Beschreibung immer wieder rekonstruiert. So könnte man die Funktion einer Selbstbeschreibung paradox formulieren: Sie bezeichnet das, was ist, indem sie das Nicht-Bezeichnete als Verweisungshorizont mitführt. Die historische Entwicklung der Semantik Europas gilt als Beispiel der Verortung einer durch strukturelle und semantische Operationen entstandenen Region der Weltgesellschaft: vom Abendland zum Europa im 16. Jahrhundert, zur Idee der Souveränität nach dem 30-jährigen Krieg, dann zur Vorstellung von der Machbarkeit der Welt nach der Französischen Revolution und zum Modell des Gleichgewichts in einer Familie der Nationen im 19. Jahrhundert. Und letztlich zur Semantik der „alten Welt“ nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich heute in eine neue Europäische Union verwandelt (Wobbe 2005). Als weiteres Beispiel für die strukturelle und semantische Entstehung eines sozialen Raums in der Weltgesellschaft gilt eine imaginierte atlantische Gemeinschaft. In Reflexion des Kolonialismus wurde von einem schwarzen Atlantik gesprochen, der die Herrschaftsbeziehungen und Sklaventransporte zwischen Afrika, Europa und Amerika verkörperte. Im nachkolonialen Zeitalter entwickelt sich daraus die Vorstellung vom Black Atlantik, die eine neue normative Perspektive eröffnet: „Sie versucht zunächst, die Teilnahme schwarzer Bevölkerung innerhalb nationaler Zivilgesellschaften und Öffentlichkeiten zu fördern. Zugleich aber stellt sie die Legitimität formeller Politik in Frage, indem sie die partikularistischen Konstituierungsbedingungen derselben offenlegt“ (Costa 2007: 130).
Für Lateinamerika könnte man eine ähnliche historische Semantik rekonstruieren: als „die Indios“ bei der Ankunft der Europäer im 15. Jahrhundert, als „neue Welt“ und „Amerika“ am Anfang der Kolonialzeit, als „amerikanisches Gefühl“ der Kreolen vor den Unabhängigkeitskriegen, als Barbarei bei der Formation der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und als Unterentwicklung und Dependenz im 20. Jahrhundert (Larraín 2000; O’Gorman 1958; Mignolo 2005). In all diesen Fällen geht es um die Beschreibung der Einheit des Dargestellten. Man selegiert bestimmte Auswahlmöglichkeiten aus den Erlebens- und Handlungshorizonten und führt sie systematisch in die Kommunikation ein, sodass man nur auf eine bestimmte Weise auf das beschriebene Objekt verweisen
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kann. Man erzählt damit eine kohärente Geschichte eines Gesellschaftsraums (die Geschichte Europas, des Black Atlantiks, Lateinamerikas) und bezeichnet eine imaginierte Zukunft als Einheit der Erzählung (die Union Europas, die Gleichberechtigung im Black Atlantik, die Entwicklung Lateinamerikas). Weil es aber um die Einheit des Dargestellten geht, muss die Selbstbeschreibung die Vielfalt konkurrierender Beschreibungen der Großerzählung unterstellen, aber nicht abschaffen, denn man braucht sie als die äußere Seite der Form. Sie wird in diesem Sinne zu einem konstitutiven Außen der Selbstbeschreibung (Derrida 2003). Konkurrierende Beschreibungen repräsentieren den Reflexionswert der Einheit und die Einheit definiert sich dadurch, dass sie nicht ist, was die Außenseite ist. Die Außenseite wird aber von der Innenseite vorausgesetzt, sodass es in jeder Selbstbeschreibung immer eine Verweisung auf das Andere gibt. Dies führt zur Paradoxie, dass die Selbstbeschreibung – wie gesagt – das, was ist, bezeichnet, indem sie es nicht bezeichnet. Anders formuliert: Lateinamerika ist, was es ist, aber zugleich und deswegen, was es nicht ist. Wie lassen sich diese Formulierungen mit der Idee der Region in Verbindung bringen? Ich habe bereits erklärt, dass die funktionale Differenzierung durch die Unterscheidung Inklusion/Exklusion moduliert wird. Man kann von formellen und informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen sprechen. Bei formellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen operieren die unterschiedlichen formellen Inklusionsmechanismen der funktionalen Differenzierung und die intersystemischen Beschränkungen gegen eine Ausweitung der Exklusion; bei informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen bleibt die funktionale Differenzierung als Verweisungshorizont, da Inklusion durch derivative Sanktionsmechanismen früherer Gesellschaftsformationen erzielt wird. Die Einheit der Selbstbeschreibung einer Region hängt davon ab, welche Seite der Unterscheidung dominiert. Man mag auf historische Gründe zurückgreifen – im Sinne einer institutionellen Geschichte der Inklusion (bzw. Exklusion) der Bevölkerung in die Leistungen der Teilsysteme –, um zu erklären, warum die Region zur Inklusions- bzw. Exklusionszone wird. Wichtiger ist nun aber, was für semantische Konsequenzen sich aus dieser strukturellen Konstellation ergeben. Mit Bezug auf Lateinamerika lässt sich dies wie folgt darstellen. Betrachtet man die Unterscheidung aus der Exklusionsperspektive, dann ist die Region durch eine Semantik der Einheit gekennzeichnet (Mascareño 2007a). Aus der Perspektive der Inklusionsseite hingegen wird die Region durch eine Semantik der Differenz charakterisiert. Eine Semantik der Einheit führt zu einer Verabsolutisierung der Exklusion und einer Invisibilisierung der Inklusion, also zu einer Verallgemeinerung der Vorstellung einer Abtrennung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Region von der funktionalen Differenzierung. Dazu greift sie a) auf die Einheit eines transzendentalen Identitätsvorbildes zurück, das
3.3. Differenzierungsformen in Lateinamerika | 59
besagt, dass Lateinamerika anders sei, nämlich eine unitär stilisierte barocke Welt, oder b) auf die Einheit des Fortschrittsvorurteils, nämlich Barbarei und Unterentwicklung, die in Zivilisation und Entwicklung verwandelt werden müssen, um Lateinamerika in die Leistungen der funktionalen Differenzierung zu integrieren. Im letzten Fall bleibt die funktionale Differenzierung als Verweisungshorizont. Eine Semantik der Differenz versucht hingegen, Möglichkeiten offenzuhalten. Sie ist vielmehr auf die Kontingenz der funktionalen Differenzierung eingestellt und versucht, dem Gravitationsfeld der Einheit zu entkommen. Weil aufgrund der strukturellen Bedingungen der lateinamerikanischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung die Semantik der Einheit dominiert, wird die Region Lateinamerika überwiegend durch Exklusion charakterisiert. Da aber Institutionen im lateinamerikanischen Raum ebenfalls dezentrale Kommunikationen aufweisen, profiliert sich zugleich eine Semantik der Differenz. Die strukturellen Spannungen zwischen zentralen und dezentralen Kommunikationen werden auf semantischer Ebene durch den Unterschied Einheit/Differenz reflektiert. Da aber auf struktureller Ebene die Exklusionskonstellationen hervorgehoben werden, wird Lateinamerika auf semantischer Ebene durch unitäre Identitäts- oder Fortschrittsvorstellungen als eine einheitliche Region der Weltgesellschaft definiert.1
3.3 Differenzierungsformen in Lateinamerika und der lateinamerikanische Weg der Moderne Wendet man die Unterscheidung Organisation/Struktur im Sinne Maturanas an (Maturana/Varela 1980), ist die funktionale Differenzierung als Grundform (Organisation) der Weltgesellschaft zu verstehen, die durch einen Kumulationseffekt von Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet werden kann. Wendet man die Unterscheidung Inklusion/Exklusion an, dann operiert das Primat der funktionalen Differenzierung bei den formellen Inklusions/Exklusionsvorgängen je nach gesellschaftlichem Teilsystem, also nach den unterschiedlichen Operationslogiken solcher Teilsysteme. Bei den informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen bleibt aber die funktionale Differenzierung als Verweisungshorizont. Es handelt sich dabei nicht um Operationen institutionalisierter Governance-Regimes lateraler Weltsysteme im Sinne Willkes, sondern um Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, in denen die Ersatzmechanismen der Gewalt, Korruption und Zwang, Einfluss auf die formellen
1 | Ausführlich dazu Kapitel 5.
60 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft
Inklusionsprozeduren funktional differenzierter Institutionen ausüben. Dies führt zur Definition des lateinamerikanischen Weges der Moderne.
3.3.1 Die Operatorik der Ersatzmechanismen in der Region Lateinamerika Luhmann argumentiert, dass in der Gesellschaftsevolution vier Differenzierungsformen identifiziert werden können: a) segmentäre Differenzierung, das heißt, auf Verwandtschaft basierende Gesellschaften, die füreinander Umwelten repräsentieren, b) Zentrum/Peripherie-Differenzierung, die erst dann entsteht, wenn sich aus segmentären Verhältnissen ein Zentrum entwickelt, das dazu dient, eine Rollendifferenzierung einzurichten, c) stratifizierte Differenzierung, die die Personen in eine Rangordnung eingliedert, und d) eine funktionale Differenzierung, die sich erst dann entwickelt, wenn die Gesellschaft in unterschiedlichen, autonomen und operativ geschlossenen gesellschaftlichen Funktionssystemen organisiert ist (Luhmann 1997). Wenn das zutrifft, dann sind zwei weitere Fragen in Bezug auf Lateinamerika von Bedeutung: a) Was geschieht bei informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen, in denen die funktionale Differenzierung als Verweisungshorizont fungiert und ihre ausdifferenzierten Steuerungsmechanismen (Geld für Wirtschaft, Rechtsgeltung für Recht, administrativ organisierte Macht für Politik) durch Ersatzmechanismen wie Gewalt, Korruption und Zwang, die auf positiven und negativen Sanktionen basieren, ausgetauscht werden? b) Wie lassen sich die informellen Inklusions-/Exklusionsvorgänge und die Entstehung von funktionalen Entdifferenzierungsepisoden korrelieren?
Zu a): Da bei informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen das Primat der funktionalen Differenzierung als Verweisungshorizont bleibt, entsteht dort eine gesellschaftliche Steuerungs- und systemische Leistungslücke, die durch eine Kombination von positiven und negativen Sanktionsmechanismen (im Feld der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke), welche sich aus den übrigen Differenzierungsformen ableiten lassen, ausgefüllt wird, nämlich: Gewalt, Korruption und Zwang. Solche Sanktionsmechanismen gelten in diesem Sinne als Derivate früherer Formen der Gesellschaftsdifferenzierung. Sie sind derivativ in dem Sinne, dass sie nicht wie in früheren Gesellschaftsformationen operieren, da sie mit den Medien der sich entwickelnden Funktionssysteme in Kontakt treten. Die Ersatzmechanismen werden dann nicht als Relikte der Vergangenheit verstanden, sondern als gegenwärtige informelle Erwartungsstrukturen,
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die mit den Erwartungsstrukturen einer funktional differenzierten Gesellschaft kollidieren. Die Leistungen der funktionalen Differenzierung werden dann bei informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen von diesen Mechanismen übernommen, was dazu führt, dass diese Regionen durch Einflussvorgänge und Entdifferenzierungsepisoden charakterisiert werden. Gewalt und Korruption sind gegenwärtige derivative Sanktionsmechanismen früherer Formen der segmentären, Zentrum/Peripherie- und stratifizierten Differenzierung der Kolonialordnung. Gewalt und Korruption sind darauf ausgerichtet, Einfluss auf wirtschaftliche, rechtliche und politische Konstellationen auszuüben. In modernen funktional differenzierten Gesellschaften ist Gewalt als symbiotischer Mechanismus der politischen Macht zu verstehen (Luhmann 2000b). Als legitime Gewaltausübung ist sie vom Staat monopolisiert und nur innerhalb der rechtlich festgelegten Grenzen anwendbar. In früheren Formen der Gesellschaftsdifferenzierung (besonders in segmentären und Zentrum/Peripherie-Gesellschaften) ist Gewalt vom Recht abgekoppelt und an moralische und religiöse Vorstellungen gebunden (Godelier 1980). Unter gegenwärtigen Verhältnissen ist eine von Rechtslegitimation abgekoppelte Gewalt mit dem Problem der Identitätsbildung bzw. -verteidigung konfrontiert. „Und weil es um Identität geht, geht es auch um Gewalt. Die harten Grenzen solcher Eigenbereiche sind in keiner Weise mit den Grenzen der Funktionssysteme abgestimmt. Sie werden expressiv kommuniziert, und leichte Bereitschaft zur Gewalt ist, wie einst in der Welt des untergehenden Adels, das vielleicht ausdrucksstärkste Mittel, mit dem man existentielles Engagement anzeigen kann. Selbstverständlich geht es nicht um psychologische Fakten. Was der Einzelne sich dabei denkt, bleibt unbekannt. Auch und gerade Gewalt ist, weil sie das Fürchten lehrt, ein kommunikatives Ereignis ersten Ranges“ (Luhmann 1997: 797).
Identitätserhaltung und -wiederbelebung ist besonders wichtig für indigene Völker, denn sie können dadurch informellen Einfluss auf die formellen Strukturen des Nationalstaates ausüben, um ihre Forderungen nach politi-scher Autonomie durchzusetzen (Mascareño 2007b). Andererseits basieren auch lokal organisierte Formen der Kriminalität, die in den Vierteln wie den brasilianischen favelas, argentinischen villas miseria und chilenischen poblaciones zu finden sind, auf Gewalt (Briceño/Zubillaga 2002; Caldeira 2002). Ausgedehnte Formen der Korruption entstehen dann, wenn Gewalt, Macht oder Geld mit auf Reziprozität basierenden Netzwerken in Verbindung gebracht werden. In diesem Sinne gilt Reziprozität als eine Art informelle Gefälligkeitskette (Pritzl 1997), die die Inklusionsmechanismen beeinflusst, die Teilnehmer des Netzwerks begünstigt, andere defavorisiert und zuletzt die autonomen, formellen Operationen funktionaler Teilsysteme entdifferenziert. Sowie sich
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segmentäre Gesellschaften auf Reziprozität stützen, entsteht durch Korruption eine spezifische gesellschaftliche Lage, die gekennzeichnet ist durch eine sich aus Reziprozität entwickelnde derivative Form gesellschaftlicher Koordination oder informell institutionalisierte Governance-Regimes, die bei den informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen Lateinamerikas operieren (Pritzl 1997). Luhmann verbindet dies mit positiven Sanktionen, da die Interaktionen auf Tausch basieren: „Schon die Möglichkeit, überhaupt anzurufen oder sonst wie in Interaktionen zu treten, mag als eine Art Kapital angesehen werden, mit dem man den Verhaltensdruck der Interaktion erzeugen und zu eigenen Gunsten nutzen kann. In diesem Sinne gibt es auch heute noch hochwirksame Reziprozitätsnetze und es gibt Bereiche, in denen der Ausschluss von der Mitwirkung an diesen ‚Beziehungen‘ [...] auf einen weitreichenden Ausschluss aus dem Zugang zu sozialen Ressourcen hinausläuft. Das gilt vor allem für Regionen der Weltgesellschaft, in denen die Familie nicht mehr und die Wirtschaft noch nicht ausreicht, um den Einzelnen zufrieden stellende Lebensperspektiven zu eröffnen“ (Luhmann 2000b: 44).
Schichtung in Lateinamerika existiert in zwei Formen: einmal als Nebenprodukt des Operierens der Wirtschafts- und Erziehungssysteme, die die kleinen Unterschiede in der Begabung, der Arbeitsfähigkeit, des Standorts usw. verstärken und eine Klassenstruktur produzieren, die von formellen Integrationsmechanismen nicht absorbiert werden kann, und zweitens als derivative Form einer stratifizierten Gesellschaft. Derivativ in dem Sinne, dass die sich herausgebildeten Unterschiede nicht auf einer früheren Rangordnung basieren, die jedem Gesellschaftsmitglied einen stabilen Status zuwies, sondern in Kombination mit Ersatzmechanismen entstanden, z. B. mit Gewalt, wie im Fall der favelas (Deffner 2007); mit Korruption, beispielsweise indem Arbeitsstellen nicht aufgrund von Leistung, sondern aufgrund der Tradition und Prominenz von Familien vergeben werden (Salman 2004), mit Reziprozität, indem Mitglieder der Oberschichten hierarchische Formen solidarischer Beziehungen zu Unterschichten entwickeln (Durston 1999) oder indem sie beim capturing the state die Entwicklung einer geschlossenen Wirtschaftselite fördern (Fernández 2004; Grzymala-Busse 2008). Da aber Schichtung komplementär zur Funktion ausdifferenzierter Teilsysteme operiert, trägt sie zugleich zur Entdifferenzierung solcher Operationen bei, weil sie über Gewalt, Korruption und Zwang erfolgreich Einfluss ausüben kann. Dies führt zur zweiten oben gestellten Frage.
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Zu b): All diese derivativen Sanktionsmechanismen sind darauf gerichtet, informellen Einfluss auf die systemisch formalisierten Konstellationen auszuüben, das heißt dort, wo die symbolischen Medien funktional differenzierter Teilsysteme prozedural operieren. Man will über Einfluss und Interventionen systemische Inklusion erreichen, ohne dafür die entsprechenden Medien zu verwenden, sondern über Entdifferenzierungsprozesse, die die Entfaltung der Selbstreferenzzyklen der Teilsysteme begrenzen (siehe Teubner 1993; auch Kapitel 2 in diesem Buch). Einfluss als Medium beruht darauf, „[...] daß das Aufeinanderangewiesensein die Möglichkeit von Sanktionen belohnender oder bestrafender Art gibt. Und nur weil dies bekannt ist und weil bekannt ist, dass es bekannt ist, können Einzelne ihr Verhalten auf dieser Grundlage planen“ (Luhmann 2000b: 41).
Belohnende oder bestrafende Sanktionen sind positive und negative Sanktionen, die im Feld der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke erfolgen. Positive Sanktionen gelten als Motivationsfaktor hinsichtlich erwarteter Handlung. Erfolgt sie, dann wird die positive Sanktion ausgeführt – was die Art der Sanktion legitimiert und sie wiederum erwartbar macht. Im Unterschied zu positiven hängen negative Sanktionen davon ab, „[...] daß sie nicht ausgeführt werden müssen; ja daß ihre faktische Ausführung dem Sinn des Mediums widerspricht und das Ende seiner Wirksamkeit im jeweiligen Fall manifest werden läßt [...] Negative Sanktionen sind also negativ auch insofern, als das Medium, das auf ihnen aufbaut, auf ihre Nichtbenutzung angewiesen ist“ (Luhmann 2000b: 46).
Bei negativen Sanktionen geht es vor allem um die Drohung ihrer Realisierbarkeit. Ego erwartet, dass Alter die Sanktion nicht in die Tat umsetzt, solange Ego sich entsprechend verhält (Luhmann 2000b: 47 ff.). Die Sanktionsfelder in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken Lateinamerikas sind in Tabelle 3.2 schematisch dargestellt. Im Feld der Reziprozitätsnetzwerke ist Tausch/Unterbrechung des Tausches die Form der Sanktion. Diese Sanktionen erfolgen in informellen Reziprozitätsnetzwerken, indem die belohnende Handlung einen Kompromiss darstellt, um eine entsprechende Rückhandlung Egos zu replizieren. Der Kompromiss wird auf die Zukunft verschoben, und zwar auf den Zeitpunkt, in dem Alter die Rückhandlung verlangt. So entsteht eine bindende Erwartung, die für beide bekannt ist – eine Bindung, die die gesellschaftlichen Beziehungen sachlich, sozial und zeitlich aufrechterhält. Wird diese Erwartung nicht erfüllt, dann unterbricht Alter den Tausch mit Ego und Ego wird vom Netzwerk ausgeschlossen. Dies gilt als negative Sanktion, da Reziprozität bei informellen
64 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft Reziprozität
Schichtung
Positiv
Tausch (Korruption durch Zahlungen und Gefälligkeiten, Unterstützung bei Konflikten)
Einschließung (Anerkennung, Mobilität)
Negativ
Unterbrechung des Tausches mit Ego (Zinsen, Indifferenz gegenüber Ego, Vergeltung, Anwendung physischer Gewalt)
Ausschließung (Deklassierung, Diskriminierung)
Tabelle 3.2: Positive und negative Sanktionsformen in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken
Inklusions-/Exklusionsvorgängen als Inklusionsmechanismus fungiert. Wird man vom Reziprozitätsnetzwerk ausgeschlossen, ist man doppelt aus den gesellschaftlichen Verhältnissen exkludiert: zum einen aus den formell institutionalisierten Mechanismen der Funktionssysteme, zum anderen aus dem informellen Reziprozitätsnetzwerk. Gewalt gilt auch als positive Sanktion der Reziprozitätsnetzwerke, wenn Alter sie den Zwecken Egos zur Verfügung stellt. Als negative Sanktion operiert sie, wenn Alter sie gegen Ego anwendet. Bei funktional differenzierten Inklusions-/Exklusionsvorgängen der Region Lateinamerikas operiert Gewalt als symbiotischer Mechanismus der Politik. In Bezug auf das Medium Macht, gilt sie als abwesende Anwesenheit, die erst dann angewendet wird, wenn Macht versagt (Luhmann 2000b). Unter funktional differenzierten Verhältnissen befinden sich Macht und Gewalt in strikter Kopplung mit dem Medium Recht (im Rechtsstaat), sodass man Gewalt erst dann anwenden darf, wenn dies im Medium des Rechts vorgesehen und legitimiert wird. Bei informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen in Lateinamerika ist aber Gewalt vom Medium Recht abgekoppelt, und wenn das der Fall ist, weitet sich ihre Anwendung jenseits einer rechtlich legitimierten Macht aus. Sie steht dann denen zur Verfügung, die sich dafür entscheiden, gewalttätig zu handeln, und die entsprechende Mittel dazu haben. Organisierte Kriminalität in favelas oder in Großstädten wie Mexikostadt (Deffner 2007; Schatz 2008), die Drogenkartelle in Kolumbien oder indigene Protestbewegungen, die auf nationaler oder supranationaler Ebene tätig sind, operieren mit dieser Art positiver und negativer Sanktionen einer vom Recht abgekoppelten Gewalt. Als positive und negative Sanktion ist Korruption in Lateinamerika eng mit den informellen Reziprozitätsnetzwerken gekoppelt. Positiv operiert Korruption in dem Sinne, dass Geld oder Gefälligkeiten gegen Inklusionsleistungen unter den Bedingungen eines vom Recht abgekoppelten Vorgangs getauscht werden, um Einfluss zu gewinnen. Aus der Perspektive des formellen Rechts er-
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hält man die Leistung illegitim; man darf aber erwarten, Inklusion zu erreichen, indem man Einfluss auf die Erwartungsstruktur des informellen Netzwerks ausübt. In Bezug auf bestimmte Leistungen verwandelt man die Exklusion in Inklusion auf Kosten der Exklusion von den Leistungen eines formell institutionalisierten und mit der Politik streng gekoppelten Rechtssystems. Da auch Korruption eine Abkopplung vom formellen Rechtssystem voraussetzt, können die informellen Korruptionsnetzwerke die Bedingungen der Gesellschaftsbeziehungen bestimmen, d. h., wenn Inklusionsleistungen nicht entsprechend erfolgen, fühlt man sich dazu berechtigt, Vergeltung zu üben, also die negative Sanktion in Bewegung zu setzen. Dies kann von der reinen Indifferenz Alters gegenüber Ego über erhöhte außerrechtliche Zinserhebung im Falle von privaten Schulden bis hin zur Anwendung physischer Gewalt reichen. Informelle Kredit- und Wirtschaftsbeziehungen (Cortés 1997), korrupte Netzwerke im politischen System und im Rechtssystem vor allem in Kolumbien (Escobar 2002) und Argentinien (Auyero 2000; Dewey 2011) und in letzter Zeit auch in Chile (Davis et al. 2004) funktionieren nach diesen Prinzipien. Schichtungsnetzwerke können als Pyramide von Ein- und Ausschließungsfaktoren dargestellt werden. Besonders wichtig ist in diesem Sinne die Erwartung auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht (Benton 2007). Als positive Sanktion in Schichtungsnetzwerken (vor allem im politischen System Lateinamerikas) gilt die Aufstiegsmöglichkeit in Caudillo-Strukturen auf der Basis populistischer Regierungen. Caudillo-Strukturen basieren auf klientelistischen, politisch hierarchischen Beziehungen. Die Stratifikation einer Caudillo-Gruppe richtet sich danach, wie nah oder fern die Mitglieder dem Caudillo sind. Ist ein Mitglied im nahe, erhält es Anerkennung und eine Fülle von Anschluss- und Mobilitätsmöglichkeiten, die das Netz bietet. Neuerdings spricht man in diesem Zusammenhang von social capital (siehe Durston 1999) – eine besonders privilegierte Strategie, um Inklusion über persönliche Kontakte zu erreichen. Ist ein Mitglied dem Caudillo oder den Bezugspersonen fern, bestehen Aufstiegsmöglichkeiten als positive Sanktion, wenn sich das Mitglied entsprechend verhält und sachliche Erreichbarkeit, soziale Loyalität und zeitliche Disponibilität zeigt (Benton 2007). Die negative Sanktion der Schichtungsnetzwerke in Caudillo-Strukturen erfolgt über Deklassierung und Diskriminierung. Da eine stratifizierte Struktur vorliegt, bedeutet Deklassierung und Diskriminierung den Verlust der Anschluss- und Mobilitätsmöglichkeiten, die in höheren Ebenen der hierarchischen Struktur gegeben sind. Für das von der negativen Sanktion betroffene Mitglied hat dies den Verlust von Einfluss zur Folge. Caudillo-Strukturen lassen sich in der gesamten Region Lateinamerikas feststellen – sowohl auf staatlicher Ebene, wie im Falle Chávez in Venezuela (Ellner 2001), als auch auf lokaler bzw. gemeinschaftlicher Ebene (Benton 2007) –,
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und dadurch, dass es bei ihnen besonders um Einflussstrukturen geht und sie auf stratifizierten Netzwerken basieren, sind sie in der Lage, den politischen Raum zu besetzen und die unterschiedlichen Sanktionsmechanismen zu kombinieren, um die partikularistischen Ziele des Netzwerks zu erreichen. So entsteht in der Region Lateinamerika eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung, in der die Politik nicht nur über formell institutionalisierte Macht, sondern auch über die Ersatzmechanismen der informellen Inklusions-/Exklusionsvorgänge verfügt, um ihren Einfluss auf andere gesellschaftliche Teilbereiche auszuüben, sie zu entdifferenzieren und damit die Entfaltung ihrer Selbstreferenz zu blockieren.
3.3.2 Der Weg der Region Lateinamerika in der Weltgesellschaft Zusammengefasst kann man das Zusammenspiel der Differenzierungsformen in der Region Lateinamerika wie folgt verstehen: Da die Weltgesellschaft über die Konsequenzen der funktionalen Differenzierung auf globaler Ebene einwirkt, darf man Lateinamerika nicht von der Weltgesellschaft abgrenzen. Diese Konsequenzen sind sowohl auf struktureller als auch auf semantischer Ebene spürbar und gehören so zu einem einzigen Gesellschaftssystem. In Lateinamerika gibt es funktionale Differenzierung und die entsprechenden Erwartungsstrukturen. Dass Gesellschaftsoperationen zu einem einzigen Gesellschaftssystem gehören, bedeutet aber nicht, dass es keine Diskontinuitäten in der Weltgesellschaft gibt. Bei der Analyse dieser Diskontinuitäten sind regionale Unterschiede festzustellen, die die funktionale Differenzierung in strukturelle Realität umformen. Man kann diese Diskontinuitäten erstens als eine Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung definieren, in der sich zweitens formelle und informelle Vorgänge kombinieren, die drittens erhebliche Spannungen auslösen aufgrund der universalistischen Erwartungsstrukturen der Funktionssysteme und der partikularistischen Erwartungen von Reziprozitäts- und Schichtungsnetzwerken. Eine solche Konstellation lässt sich durch den Begriff Governance-Regime spezifizieren. Lateinamerika kombiniert formell und informell institutionalisierte Governance-Regimes. Erstere sind streng mit den Erwartungsstrukturen der funktionalen Differenzierung und mit deren Medienkonstellationen gekoppelt; Letztere sind mit Erwartungsstrukturen gekoppelt, die als derivative Sinnkonstellationen und -strukturen früherer Gesellschaftsformationen bezeichnet werden können (Schichtung und Reziprozität). Beide Formen von Governance-Strukturen interagieren miteinander, sodass
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es zur Entdifferenzierung der formellen Operationen von Funktionssystemen kommt. Daher lassen sich formelle und informelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge in vielen Fällen nicht voneinander trennen. Wird man von formellen Operationen der Funktionssysteme ausgeschlossen, kann man über informelle Netzwerke Zugang zu ihnen erhalten, sofern man die Inklusionsvorgänge solcher Netzwerke akzeptiert. Die institutionalisierte Synthese aus formellen und informellen Vorgängen löst unterschiedliche Entdifferenzierungsepisoden bei den Strukturen und Institutionen der funktionalen Differenzierung aus, sodass man die Region Lateinamerika strukturell durch einen Kumulationseffekt von solchen Entdifferenzierungsepisoden und semantisch durch die Spannung zwischen einheitlichen und dezentralisierenden Weltvorstellungen charakterisieren kann. Die Region Lateinamerika gehört in dem Sinne zur Weltgesellschaft, als man die Entfaltung der Selbstreferenz von funktionsspezifischen Systemen und deren Leistungen feststellen kann. Sie zeigt aber Diskontinuitäten auf, die es durchaus rechtfertigen, von der Region Lateinamerika zu sprechen. Diese Diskontinuitäten dürften ebenso in anderen Regionen der Weltgesellschaft auftreten, wenn auch mit anderen Gewichtungen. Die Operationen der Schichtungsnetzwerke in Asien scheinen sich von denen in Lateinamerika zu unterscheiden. Dasselbe gilt für Afrika und Europa in Bezug auf die Reziprozitätsnetzwerke oder auf die Anwendung von Gewalt bei Exklusionsvorgängen (Larraín 2000). Die Frage ist nicht, ob Schichtung, Gewalt, Korruption und Reziprozität in anderen Regionen der Weltgesellschaft existieren, sondern wie sie sich untereinander kombinieren – wie sie mit den Erwartungsstrukturen der funktionalen Differenzierung in Verbindung treten und welche Konsequenzen dies für die Operationen der funktionalen Differenzierung hat. Erst wenn solche Konsequenzen deutlich gemacht werden, kann man nach dem Weg der Region Lateinamerika in der Weltgesellschaft fragen. Die Frage nach dem Weg unterschiedlicher Regionen in der Weltgesellschaft ist geschichtssoziologisch in der Idee der Wege der Moderne thematisiert worden (siehe Moore 1973; Huntington 1966; Therborn 1995; Wallerstein 1995; Hefner 1998; Mouzelis 1999; Eisenstadt 2000; Jepperson 2002; Japp 2007). Barrington Moore (1973) war einer der ersten, der in der Soziologie des 20. Jahrhunderts von diesem Gedanken ausging. Schwerpunkt der klassischen Analyse Moores ist die Entwicklung dreier Wege des Übergangs von traditioneller Ordnung zur modernen Gesellschaft: der demokratische, der faschistische und der kommunistische Weg. Unterschiede zwischen diesen werden in der Form des Klassenkampfes gesehen. Beim demokratischen Weg (England, Nordamerika, Frankreich) war es um eine erfolgreiche bürgerliche Revolution, die zur Entwicklung repräsentativer Institutionen führte. Wenn bürgerliche Revolutionen
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niedergeschlagen werden, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder übernimmt die Aristokratie die Führung und es wird ein faschistischer Weg eingeschlagen (Japan, Deutschland) oder die Arbeiterklasse herrscht und es wird ein kommunistischer Weg gegangen (Russland, China). Für uns von Interesse ist das, was Moore unter den Wegen der Moderne versteht: (a) Auch wenn die Moderne universelle Institutionen entwickelt (Staat, Klassendifferenzierung, industrielle Wirtschaft), werden diese Institutionen unterschiedlich umgesetzt. (b) Die drei Wege der Moderne werden auf der Basis universeller Institutionen errichtet und legitimiert. (c) Kein Weg wird als Anachronie verstanden, d. h. als eine unvollkommene Version der anderen betrachtet. In der gegenwärtigen Soziologie spricht Göran Therborn (1995) von Wegen in die und entlang der Moderne (routes to und through modernity). Damit versucht er, ein unilineares Verständnis der Gesellschaftsentwicklung bzw. das Fortschrittsvorurteil, das in den Modernisierungstheorien zu beobachten ist, zu vermeiden. Therborn schlägt vor, zwischen vier Wegen in die Moderne und entlang der Moderne zu unterscheiden: dem endogenen europäischen Weg, dem Weg der Neuen Welt, der aus früheren Migrationen Europas resultiert (Nordamerika, Lateinamerika), dem kolonialen Weg, der sich aus dem europäischen Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt, und schließlich der extern eingeführten Moderne, wie im Falle Japans (Therborn 1995). Jeder Weg ist Therborn zufolge zugleich ein Weg in die und entlang der Moderne. Wie bei Moore ist hier zu betonen, dass jeder Weg eine bestimmte historische Entwicklung nachzeichnet und dass alle zur Moderne gehören. Auf Therborn stützend thematisiert Jorge Larraín Lateinamerika als Weg in die Moderne. Larraín unterscheidet fünf Formen des Einstiegs in die Moderne: die nordamerikanische, die japanische, die afrikanische, die europäische und die lateinamerikanische Form (Larraín 1997, 2000). In ähnlicher Weise wie von der Entstehung der funktionalen Differenzierung gesprochen wird, erklärt Larraín, dass sich die Moderne im 18. Jahrhundert nur in Europa entwickelt hat und sich von diesem geografischen und zeitlichen Punkt aus über die Welt verbreitet. Larraín fügt hinzu, dass die Moderne im Laufe des Verbreitungsprozesses auf neue Szenarien ihrer Selbst trifft, sodass unterschiedliche Muster entstehen können. Larraín ist der Meinung, dass die lateinamerikanische Form der Moderne keine Abweichung oder Unvollkommenheit bezüglich des europäischen Modells darstellt. Es sei ein Fehler nicht nur von denjenigen, die behaupten, „[...] dass die Moderne schlicht unmöglich in Lateinamerika ist, sondern auch ein Fehler von denjenigen, die meinen, dass wir dieselbe europäische oder nordamerikanische Moderne erreichen werden“ (Larraín 1997: 315; Übersetzung A.M.).
3.3. Differenzierungsformen in Lateinamerika | 69
Europa und Nordamerika entsprechen nicht dem Gesellschaftsmodell Lateinamerikas. Der lateinamerikanische Weg in die Moderne lässt sich nach Larraín historisch in fünf Etappen unterteilen: die oligarchische Moderne des 19. Jahrhunderts, die populistische Modernisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Industrialisierungsphase bis 1970, die Diktaturphase bis 1990 und die neoliberale Modernisierung seit den 1990er Jahren. Larraíns Behauptung, dass eine Globalisierungstendenz immanent der Entwicklung der Moderne ist, basiert auf der Annahme, dass jede Etappe des lateinamerikanischen Weges in die Moderne die Beziehung zur Weltgesellschaft voraussetzt. Diese Beziehung zeige sich im 19. Jahrhundert durch die Einführung republikanischer Regierungsformen unter den in Europa und Nordamerika vorherrschenden liberalen und positivistischen Prämissen, die aber in ein oligarchisches politisches System mündeten. Im 20. Jahrhundert werde sie deutlich durch erstens den Ausbau des Staates zum populistischen Kompromissstaat (Weffort 1970), der als funktionale Äquivalenz des europäischen Wohlfahrtsstaates gilt, zweitens die Einführung von Strukturen des Weltkapitalismus, aber unter populistischen und marxistischen Prämissen, die zu Inflationskrisen und Diktaturen geführt haben, und drittens die Liberalisierung der Wirtschaftsstrukturen und -vorstellungen eines Weltwirtschaftssystems, dessen autonome, nicht vom Staat kontrollierbare Operationen der Wiederbelebung des Populismus in Lateinamerika gedient haben (z. B. in Venezuela, Ecuador und Bolivien). In den 1950er Jahren vertrat Gino Germani – eine zentrale Figur in der lateinamerikanischen Soziologie des 20. Jahrhunderts – einen ähnlichen Ansatz. Die Interpretation Germanis ist eine Soziologie des Übergangs zwischen Tradition und Moderne. Allerdings ontologisiert Germani diese beiden Zustände nicht. Auf der Basis der Parsons’schen Theorie ist er daran interessiert, das Zusammenspiel zwischen den früheren Differenzierungsformen in Lateinamerika und der Entstehung moderner Gesellschaftsbeziehungen zu analysieren. Dieses Zusammenspiel wird von ihm in drei Prinzipien unterteilt: „I. Die Art sozialer Handlungen wird modifiziert. Vorherrschend präskriptive Handlungen lassen sich in (relativ) selektive (überwiegend ‚rationale‘) Handlungen transformieren. II. Institutionalisierung der Tradition transformiert sich in Institutionalisierung der Änderung. III. Relativ entdifferenzierte Gruppierungen von Institutionen erreichen eine zunehmende Differenzierung und Spezialisierung“ (Germani 1962: 94; Übersetzung A.M.).
Der Hauptbegriff Germanis ist der Begriff der Asynchronie, nämlich die temporale Verschiebung geografischer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller und psychologischer Prozesse:
70 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft „As already noted, one of the main sources of variation in the paths followed by the total transition is the variation in rates and sequences in which the component processes take place. And the variations themselves should be explained in terms of the different contextual conditions (economic, cultural, political and social), both at the national and at the international level. The asynchronisms [...] may be now perceived as a result of this variations in rates and sequences“ (Germani 1981: 161).
Die verschiedenen Asynchronietypen lassen sich nach Germani folgendermaßen definieren (Germani 1962: 130 ff.): Geografische Asynchronie. Sie basiert auf der Zentrum/Peripherie-Differenz. Unterschiedliche Übergangsetappen zwischen früheren Differenzierungsformen und der funktionalen Differenzierung werden zu verschiedenen Zeitpunkten erreicht, sodass nicht nur auf weltgesellschaftlicher Ebene die Differenz zwischen Entwicklung und Unterentwicklung zu beobachten ist, sondern auch innerhalb jedes Landes. Institutionelle Asynchronie. Sie setzt die Koexistenz von aus verschiedenen Etappen des Übergangs stammenden Institutionen voraus. Asynchronie gesellschaftlicher Gruppen. Koexistenz von Gesellschaftsgruppierungen aus verschiedenen Etappen. Die Koexistenz kann entweder auf struktureller (Arbeitsteilung, Sozialstruktur) oder semantischer Ebene (Verhalten, Persönlichkeit) erfolgen. Motivationelle Asynchronie. Die Zugehörigkeit des Individuums zu verschiedenen Gruppen oder Institutionen führt zu unterschiedlichen Motivationen im Übergangsprozess. Auch wenn die Analyse Germanis an die Unilinearität der Modernisierungstheorien erinnert, geht Germani nicht von der Vermutung aus, dass das westliche Modell als Vergleichsmuster aller Modernisierungsprozesse verwendet werden könne, denn: „There is no reason to believe that the ‚Western‘ model should be repeated; in fact the contrary is more likely“ (Germani 1981: 164). So kommt er zu einer wichtigen Schlussfolgerung: „In fact the differences in rates and sequences of the component processes as well as the other variations generated by the different sources already mentioned are likely to generate such a variety of ‚paths‘ so as to eliminate or greatly restrict the validity of any general or universal scheme of succession of fixed stages“ (Germani 1981: 164).
Damit zeigt Germani zum ersten Mal in der Geschichte der lateinamerikanischen Soziologie die Möglichkeit auf, Lateinamerika als einen Weg der Moderne zu verstehen, auf dem unterschiedliche Differenzierungsformen zusammentreffen und miteinander interagieren.
3.3. Differenzierungsformen in Lateinamerika | 71
Germani schlägt sogar vor, die Analyse des Übergangs auf bestimmte Regionen zu beschränken, die „relatively more homogeneous in terms of their cultural and social structure and of the historical conditions under which the transition has occurred (or is occurring)“ sind (Germani 1981: 164). Damit lässt sich bei Germani die Analyse der gesellschaftlichen Differenzierung unter zwei Parametern betrachten, nämlich: Differenzierung innerhalb des Übergangsprozesses und Differenzierung unter den verschiedenen Übergangsformen. Im Falle der Komponenten des Übergangsprozesses wird die Existenz autonomer oder semi-autonomer Dynamiken verschiedener Teilbereiche (Wirtschaft, Politik, Recht) in den Begriff der Asynchronie eingeschlossen. Es gibt keine einheitliche Modernisierung, sondern Differenzen, die sich asynchron entwickeln. Daraus folgt nach Germani, dass in Lateinamerika die Moderne unterschiedlich betrachtet werden kann, denn jeder Übergang impliziert eine differenzierte Zusammensetzung von Differenzierungsformen. Auch wenn die Autoren verschiedene Begriffe verwenden, um das Thema zu analysieren (trajectory bei Moore und Larraín, route bei Therborn, path bei Germani), möchte ich sie hier unter dem Oberbegriff der Wege der Moderne zusammenfassen. Im Anschluss an Luhmann verstehe ich Moderne als die strukturellen und semantischen Konsequenzen der funktionalen Differenzierung (Luhmann 1997). Dies lässt sich mit Stichwehs Auffassung der Diskontinuitäten bei den Umsetzungsformen der funktionalen Differenzierung in verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft kombinieren, wonach unterschiedliche Konkretisierungen der funktionalen Differenzierung je nach Region der Weltgesellschaft festzustellen sind, die man als Wege der Moderne bezeichnen kann. Der lateinamerikanische Weg der Moderne ist dann als Evolution der weltweiten funktionalen Differenzierung zu verstehen, die in der Region Lateinamerika mit derivativen Strukturerwartungen früherer Gesellschaftsformationen in Verbindung tritt und Entdifferenzierungsprozesse auslöst. Die Entfaltung der Zyklen der systemischen Selbstreferenz wird vor allem durch die Entstehung informeller Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke episodisch unterbrochen und mit der formellen Dimension der Funktionssysteme evolutiv integriert, sodass sich die Inklusions- und Exklusionsvorgänge verdoppeln: sowohl bei formellen als auch bei informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen. In diesem Sinne sind Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke und deren Erwartungsstrukturen keine veralteten Gesellschaftsformationen, auch wenn sie das Prinzip der Hierarchie der stratifizierten Kolonialordnung bzw. der Zentrum/PeripherieDifferenzierung und das Prinzip des Tausches segmentärer Gesellschaften aufheben. Sie evoluieren in enger Verbindung mit den Zyklen der funktionalen Differenzierung und sind deswegen keine anachronistischen gesellschaftlichen Operationen. Man kann sie aber als asynchron in dem Sinne bezeichnen, als sie
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verschiedene Temporalitäten gleichzeitig aufweisen, wie es allerdings auch der Fall bei Funktionssystemen ist. Die Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung beim Evolutionsprozess ist deshalb an sich asynchron. Erst wenn Entdifferenzierungsprozesse einsetzen, kann man von einer erzwungenen Synchronisierung der Temporalitäten unterschiedlicher Strukturen reden und von einem Versuch, funktionsspezifische Leistungen extern zu kontrollieren. In Lateinamerika geschieht dies über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke. Auf struktureller Ebene führt dies zu Spannungen zwischen den dezentralisierenden Erwartungen von Funktionssystemen und den zentralisierenden Erwartungen der genannten Netzwerke; auf semantischer Ebene kommt es zu Spannungen zwischen unterschiedlichen Einheitsvorstellungen innerhalb Lateinamerikas, die mit den an Differenz orientierten Vorstellungen des Gesellschaftssystems kollidieren. Dies kennzeichnet den lateinamerikanischen Weg der Moderne. Die Frage ist nun, ob sich eine solche Beschreibung des lateinamerikanischen Weges der Moderne mit den oben genannten Analysen integrieren lässt. Was die Ansätze von Moore, Therborn und Larraín gemeinsam haben, ist primär eine geschichtssoziologische Annäherung an die Thematik der Moderne. Die hier entwickelte Perspektive ist eher eine evolutive Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse. Dies bedeutet aber nicht, dass Geschichte nichts dazu beitragen kann – sie wird jedoch als Korrelat der strukturellen und semantischen Evolution angesehen. Larraíns Sequenz des lateinamerikanischen Weges in die Moderne aus der Perspektive der Strukturevolution Lateinamerikas ist in Tabelle 3.3 dargestellt. Germani bezieht sich direkt auf die Strukturevolution Lateinamerikas. Die Theorie des Übergangs und der Begriff der Asynchronie spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Strukturevolution wird von ihm in drei Dimensionen unterteilt: Organisation (Normen, patterns, Werte jenseits konkreter Individuen), Morphologie (die materielle „Oberfläche“ des Sozialen), Sozialpsychologie (Internalisierung von Normen, Rollen und Status) (Germani 1962: 21-22). Die drei Dimensionen werden im Lichte der Transformation der Institutionen diachronisch analysiert. Daraus resultiert ein Bild der Evolution von der traditionellen zur Industriegesellschaft. Germani entwickelt dazu ein historisches Korrelat dieser institutionellen Evolution, das als Etappen des Übergangs von der Tradition zur Moderne mit zunehmender, asynchroner Differenzierung und Spezialisierung der Institutionen zu verstehen ist (Germani 1981). In einer vereinfachten Darstellung kann man die Perioden Germanis mit der hier entwickelten evolutiven Perspektive in Verbindung setzen (siehe Tabelle 3.4). Die vier Autoren (Moore, Therborn, Larraín, Germani) gehen explizit oder implizit davon aus, dass zwischen zwei Gesellschaftsordnungen – Tradition
3.3. Differenzierungsformen in Lateinamerika | 73 Larraíns historische Sequenz
Strukturevolution
Oligarchische Moderne des 19. Jahrhunderts
Ausdifferenzierung des politischen Systems und Entstehung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken
Populistische Modernisierung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Entdifferenzierung und Instrumentalisierung des Wirtschafts- und Rechtssystems. Konsolidierung formeller und informeller Inklusions- und Exklusionsvorgänge
Industrialisierungsphase bis 1970
Diktaturphase bis 1990
Entpolitisierung des Wirtschaftssystems. Politisierung anderer Teilbereiche über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke
Neoliberale Modernisierung seit den 1990er Jahren
Operative Schließung des Wirtschaftssystems. Weiterentwicklung der Inklusions- und Exklusionsvorgänge über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke
Tabelle 3.3: Geschichte und Strukturevolution I
und Moderne – zu unterscheiden ist. Moore spricht von Agrar-/Industriegesellschaften. Therborn, Larraín und Germani sprechen von Tradition und Moderne. Germani und Larraín oszillieren in Bezug auf Lateinamerika zwischen einer abstrakten und einer empirischen Interpretation von Tradition und Moderne. Wenn Germani abstrakt den path Lateinamerikas analysiert, spricht er von einer dualen Gesellschaft, von der Koexistenz beider Formen, die er theoretisch sogar als Idealtypen versteht. Modern zu werden heiße, die Tradition abzuschaffen. Germani bewegt sich zwar im Rahmen der Modernisierungstheorien. Nach diesen Theorien wird das Modernsein als Ziel betrachtet, das nach dem langen und schwierigen Weg des Übergangs zu erreichen ist – als ob es eine Liste gäbe, die man abarbeiten muss, um modern zu werden, wie Rostow (1959) behauptet. Wenn aber Germani das Problem empirisch betrachtet, sind die drei Gesellschaftsebenen (Organisation, Morphologie und Sozialpsychologie) mit traditionellen und modernen Elementen in einem Maße durchdrungen, dass es schwierig wird, von einer dualen Gesellschaft zu sprechen. Analoges gilt für Larraín. Sein Begriff des lateinamerikanischen Weges in die Moderne (trajectory to modernity) ist teleologisch: Danach ist Lateinamerika erstens vormodern und befindet sich zweitens auf dem Weg in die Moderne. In seinen empirisch-historischen Analysen wird aber deutlich, dass für Larraín Tradition und Moderne in Lateinamerika auf integrierter Weise operieren, sodass er selbst zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es dabei um eine andere
74 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft Germanis historische Sequenz
Strukturevolution
(15. bis 18. Jahrhundert) Traditionelle Gesellschaft – Koloniale Regierung
Primat der stratifizierten Gesellschaft
(18. bis erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) Auflösung der traditionellen Gesellschaft – Unabhängigkeitskriege; Entstehung urbaner Eliten; Caudillismo; Autokratien
Ausdifferenzierung des politischen Systems; Entstehung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken; Transformation des Primats der Gesellschaftsordnung
(19. Jahrhundert) Duale Gesellschaft; Koexistenz von traditionellen und modernen patterns und Gruppen in der Wirtschaft und Politik; Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb jedes Landes; Ausländisches Kapital; Produktion primärer Güter
Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems (Zyklus 1, 2, 3); Kopplung der Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke mit funktional differenzierten Systemen
(Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) Massenmobilisierung; Importsubstituierende Industrialisierung; Auflösung der Primärwirtschaft; Stagnation; Inflation; Migration Land-Stadt; Interne Kolonialisierung; Politische Mobilisierung der Unterschichten; Populismus; Zerfall der Oligarchie; Fragmentierung politischer Gruppen; Krise politischer Beteiligung
Konsolidierung formeller und informeller Inklusions- und Exklusionsvorgänge. Entdifferenzierung und Instrumentalisierung des Wirtschafts- und Rechtssystems durch die Kopplung von politischen Operationen und den Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken
Tabelle 3.4: Geschichte und Strukturevolution II
Moderne geht, die sich historisch beschreiben und von anderen trajectories der globalen Weltgesellschaft unterscheiden lässt (Larraín 1997). In den Analysen Larraíns spricht vieles dafür, dass diese beiden Gesellschaftsformen gekoppelt betrachtet werden müssen. Daraus ergibt sich ein Weg der Moderne (und nicht in die Moderne). Aus der hier entwickelten Perspektive und mit Bezug auf die oben beschriebenen Ansätze lässt sich der lateinamerikanische Weg der Moderne wie folgt charakterisieren: Aus evolutiver Perspektive kann man von der Transformation des Primats der Gesellschaftsdifferenzierung sprechen, d. h. dem Übergang von segmentären, stratifizierten und Zentrum/Peripherie-Gesellschaften zum Primat der funktionalen Differenzierung. Dieser Übergang ist nicht einfach als Transformation der traditionellen zur modernen Ordnung zu bezeichnen. Es geht vielmehr um die Neuorganisation und -strukturierung der Differenzierungsformen und der derivativen Erwartungsstrukturen früherer Gesellschaftsformationen. In diesem Sinne kann man nicht von einem Weg in die Moderne sprechen. Dies würde bedeuten, dass die Moderne als teleologisches Ziel der Evolution
3.4. Das Primat der funktionalen Differenzierung | 75
betrachtet wird. In der modernen funktionalen Differenzierung wird von Wegen der Moderne gesprochen, die dadurch gekennzeichnet sind, wie Institutionalisierungsvorgänge das Zusammenspiel der verschiedenen Differenzierungsformen unter dem Primat der funktionalen Differenzierung umsetzen. Die Bezeichnung Therborns als Wege entlang der Moderne wäre ebenfalls geeignet. Germanis Idee der Asynchronie ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, aber nicht als Asynchronie zwischen traditionellen und modernen Merkmalen der Institutionalisierung, sondern als Zeitunterschiede bezogen auf die Systemoperationen, die Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke und die Entfaltung der systemischen Zyklen der Selbstreferenz, die in Verbindung mit solchen Netzwerken evoluieren. Koexistenz von Tradition und Moderne bedeutet Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Bei einem Weg der Moderne wird das Ungleichzeitige zur Gleichzeitigkeit, sodass die unterschiedlichen Differenzierungsformen integriert sind. Man kann hier nicht von Koexistenz sprechen, sondern von der Kopplung der Differenzierungsformen. In diesem Sinne kann man von Wegen der Moderne und von dem lateinamerikanischen Weg der Moderne sprechen.
3.4 Das Primat der funktionalen Differenzierung Die Region Lateinamerika bezeichnet einen Weg der Moderne. Mit Luhmann gehe ich davon aus, dass das Modernsein das Primat der funktionalen Differenzierung auf struktureller und semantischer Ebene voraussetzt. Dies bedeutet aber nicht, dass in der heutigen Weltgesellschaft keine Mischformen zu finden sind, die dieses Primat mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Mechanismen auf ungleiche Weise kombinieren. Zweifellos verfügt die zentraleuropäische Region über funktional differenzierte, formelle Institutionen, die ihre Prozeduren und Operationen in einer langjährigen Geschichte verfestigt haben. Wenn es aber um eine Konkretisierung der weltweit wirkenden funktionalen Differenzierung geht, ist es soziologisch unhaltbar, von einer funktional differenzierten Region reiner Strukturen zu sprechen, in der keine Entdifferenzierungsprobleme auftreten. Dies gilt sowohl für Europa, wo auf persönliche Kontakte basierende Inklusionserwartungen in Ghettos und Migrantenvierteln sowie auf der Basis von Zwang, Korruption und Gewalt operierende organisierte Kriminalität existieren, als auch für die informellen Operationen lateinamerikanischer Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke. Ob es dabei um eine Peripherisierung des Zentrums geht (Neves 2006), ist noch eine offene Frage. Wenn man das Primat der funktionalen Differenzierung in der Weltgesellschaft als die tendenziell dominierende Differenzierungsform der Moderne versteht, lassen sich unterschiedliche Konkretisierungsmuster von Erwartungs-
76 | Kapitel 3. Lateinamerika als Region der Weltgesellschaft
strukturen der funktionalen Differenzierung identifizieren, die in verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft mit den Selektionen der lokalen bzw. regionalen gesellschaftlichen Evolution in Kontakt treten und die differenzierte Strukturierung des Gesellschaftssystems restabilisieren. Die Effekte dieses Kontakts sind auf beiden Seiten (System und Netzwerk) spürbar und als Gesamtsystem integriert. Europäische bzw. amerikanische Investoren wissen, was zu tun ist und mit wem sie verhandeln müssen, wenn es Vertragskonflikte gibt, die nicht über rechtliche, formelle Prozeduren zu lösen sind. In diesem Sinne gibt es keine Anachronie in der Weltgesellschaft – keine Merkmale, die zu einer vergangenen Zeit gehören und nicht unter dem globalen Druck funktional differenzierter Institutionen stehen, ständig darauf reagieren und sich mit deren Operationen integrieren. System und Netzwerk sind aber asynchron in dem Sinne, dass sie zeitlich unterschiedliche Register aufweisen: auf der einen Seite die durch die Operationen des Systems bedingte Zeitlichkeit des Geldes, der Macht, der Rechtsgeltung, auf der anderen die Zeit der Interaktion im Netzwerk. Sie wirken gleichzeitig aufeinander ein und haben Konsequenzen für die gesellschaftlichen Ereignisse auf beiden Seiten. Man kann Inklusion über informelle Wege erzielen, man kann aber auch informelle Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke rechtlich verfolgen und versuchen, sie abzubauen. Die Region Lateinamerika ist durch das Zusammenspiel formeller Prozeduren funktionaler Systeme und informeller Operationen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke gekennzeichnet. Sie gilt als ein Weg der Konkretisierung der weltweiten funktionalen Differenzierung. In diesem Sinne stellt sie einen Weg der Moderne dar, der die Konsequenzen der weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung mit lokalen institutionellen Konstellationen kombiniert (vgl. Knöbl 2006). Sie als reine Peripherie zu definieren, würde unterstellen, dass Modernität woanders liegt (im Zentrum) und eine uniformierte, homogene Einheit darstellt, die erst dann erreicht wird, wenn frühere Differenzierungsformen völlig abgeschafft sind. Primat der funktionalen Differenzierung heißt eher, dass die Erwartungsstrukturen der modernen Weltgesellschaft in einem Maße verbreitet und dominierend sind, dass sie sogar dann zum Tragen kommen, wenn die Inklusionsmechanismen funktional differenzierter Institutionen nicht mehr ausreichen, um die Inklusionserwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. Die Asynchronie zwischen Inklusionserwartungen und -möglichkeiten wird dann zur Asynchronie zwischen formellen und informellen Mechanismen der gegenwärtigen Weltgesellschaft.
4 Strukturevolution in Lateinamerika. Ausdifferenzierung von Politik, Wirtschaft und Recht Im letzten Kapitel wurde die These aufgestellt, dass der Übergang der stratifizierten Ordnung zur funktionalen Differenzierung nicht nur die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, sondern auch die Entstehung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken voraussetzt. In diesem Kapitel geht es darum, die Kopplung der beiden Vorgänge zu analysieren, die zur Konsolidierung einer konzentrischen Institutionalisierung führen. Das Kapitel setzt sich zunächst mit dem kulturellen Begriff einer Zentralisierungstradition in Lateinamerika auseinander (4.1). Anschließend wird der Übergang zur funktionalen Differenzierung sowie zur Entstehung der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke analysiert (4.2), auf die dann im Bereich der Politik (4.3), der Wirtschaft (4.4) und des Rechtssystems (4.5) näher eingegangen wird.
4.1 Die teleologische Interpretation einer Zentralisierungstradition in Lateinamerika Eine konzentrische Institutionalisierung kann sich nur unter den Bedingungen einer funktionalen Differenzierung herausbilden. Vor dem Ausdifferenzierungsprozess kann von zentral geleiteten Operationen gesprochen werden, die die Strukturierung früherer Differenzierungsformen – Zentrum/Peripherie und Stratifizierung – aufweisen. Claudio Véliz, Historiker und Soziologe, hat diese Thematik aus kulturtheoretischer Perspektive unter dem Stichwort Zentralisierungstradition behandelt (Véliz 1980). Mit dem Begriff der Zentralisierungstradition wird angedeutet, dass die Frage der gesellschaftlichen Integration im Evolutionsprozess Lateinamerikas stets mit einer deutlichen Tendenz zu zentral gesteuerten sozialen Mustern beantwortet wurde. Tradition wird im klassisch-kulturellen Sinne als Überlieferung verstanden, d. h., das, was überliefert wird, ermöglicht es, eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, die nach dem überlieferten Prinzip operiert – in diesem Fall nach einem Zentralisierungsprinzip. Es handelt sich dabei um eine Art teleologischen Prinzips, das die Evolution Lateinamerikas zu irgendeinem Zweck der Geschichte kontrolliert.
78 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika
Véliz geht auf die systemtheoretische Problematik selektierter Variationen aus der Perspektive der Geschichte ein, genauer gesagt, aus einer eher deskriptiven Theorie der Geschichte, die es ihm erlaubt, auf eine Definition des Hauptbegriffs – nämlich des Zentralismus – zu verzichten: „Here it would be legitimate to expect a careful definition of the term ‚centralism‘ that would otherwise remain diffuse and open to a variety of interpretations. However, I would rather allow the considerations put forward in this study to intimate the significance and limitations of the concept“ (Véliz 1980: 6).
Diese unscharfe Idee einer Zentralisierungstradition Lateinamerikas lässt sich systemtheoretisch deutlich besser formulieren, nämlich als ein asymmetrisches Zusammenspiel verschiedener symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und derivativer Ersatzmechanismen früherer Gesellschaftsformationen. Diese Asymmetrie führt zu Entdifferenzierungsepisoden, die eine Hierarchisierung zur Folge haben und zu einer institutionellen Konstellation führen, welche es ermöglicht, eine zentral gesteuerte Ordnung zu schaffen und die nicht zentralen Kommunikationsmedien zu intervenieren. Daraus entwickelt sich im Rahmen der funktionalen Differenzierung eine konzentrische Institutionalisierung als Antwort auf die Frage der gesellschaftlichen Integration. Eine eher intuitive Erklärung hierfür ist die Aussage von Véliz, dass die zentralistische Tendenz der evolutiven Prozesse „[...] can be taken to be a more or less felicitous description of the ways in which Latin Americans have gone about attending to their economic, social, and political arrangements“ (Véliz 1980: 6).
Véliz identifiziert fünf Etappen dieser Zentralisierungstradition: kastilischer Ursprung Iberoamerikas (1492-1700), bourbonischer Zentralismus (1700-1820), religiöser katholischer Zentralismus (1820-1929), liberale Pause (1850-1870) und autoritärer Zentralismus (1929-1980).1 Nach Véliz beginnt die Zentralisierungstradition Lateinamerikas mit der Kolonisierung: „The origins of Latin American centralism are not to be found in Spain generally, but in the Castile of Ferdinand and Isabella“ (1980: 45). Er übersieht dabei, dass es in Lateinamerika vom 15. bis zum 18. Jahrhundert ein Primat der stratifizierten Differenzierungsform gab, das mit den auf Ver1 | Die Jahresbezeichnungen werden von Véliz nicht angegeben, sie können aber aus seiner Analyse deduziert werden. Die erste Etappe 1492-1700 reicht vom Entdeckungsjahr durch Kolumbus (1492) bis zu dem Jahr (1700), in dem der letzte spanische Habsburger, König Karl II., starb und der erste König des bourbonischen Zeitalters, Philipp V., ernannt wurde. Die Jahre zwischen 1800 und 1820 bilden die Epoche, in der die nationalen lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege stattfanden. 1929 ist das Jahr der Weltwirtschaftskrise.
4.1. Zentralisierungstradition in Lateinamerika | 79
wandtschaft basierten plurifunktionalen Strukturen und Netzwerken segmentärer Ordnungen und mit dem religiösen Primat einer Zentrum-/PeripherieDifferenzierung brach. Dies ermöglichte es der Gesellschaft Lateinamerikas, „zentralisierte politische Herrschaft und eine durch Priesterschaft verwalte Religion zu akzeptieren“ (Luhmann 1997: 680). Die spanische Oberschicht kontrollierte die Verwaltung und gründete unterschiedliche Institutionen, die in den früheren Phasen der Kolonisierung (ab 1700) zur Verwaltung der neuen Gebiete dienten und als Frühformen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke gelten (Pietschmann 1972). Auf diese Weise wurde die Ausdifferenzierung eines politischen Systems in Lateinamerika unter der Führung einer Oligarchie gefördert: „[Es kommt], gesellschaftsgeschichtlich gesehen, nicht zu ausgeprägter Stratifikation ohne danebengesetzten politischen Zentralismus. Insofern dient der Übergang zu stratifizierten Gesellschaften zugleich der Vorbereitung einer funktionalen Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ (Luhmann 1997: 682).
Auf der Basis der sich organisierenden bürokratischen Maschinerie der Kolonialordnung sind in Lateinamerika die grundlegenden Beobachtungsmodi und die Infrastruktur eines politischen Systems entstanden, welches früher als andere Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Erziehung) seine selbstreferenziellen Operationen entfalten konnte. Da sie sich auf Stratifikation stützen, sind koloniale Gesellschaftsformationen an sich zentralisiert. Dies ist strukturell bedingt. Erst wenn die funktionale Differenzierung einsetzt, eröffnen sich Möglichkeiten zur Dezentralisierung des Systems. Erfolgt aber diese Entwicklung asynchron, dann übernimmt die Politik durch die alten Eliten (organisiert in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken) die Steuerung gesellschaftlicher Bereiche und eine konzentrische Institutionalisierung entsteht. Dies gilt auch für den Zeitraum, den Véliz als liberale Pause bezeichnet – eine Periode, in der seiner Ansicht nach die sogenannte Zentralisierungstradition im 19. Jahrhundert unterbrochen wurde. Véliz verwechselt dabei strukturelle und semantische Entwicklung, denn das liberale Denken im 19. Jahrhundert in Lateinamerika diente als ideologische Grundlage für eine Erweiterung der Staatskontrolle über die sich entfaltende Selbstreferenz unterschiedlicher Teilsysteme. Entscheidend für die Strukturevolution der Region Lateinamerika war der komplexe Übergang von einer kolonialen stratifizierten Gesellschaft zu einer funktional differenzierten Gesellschaft. Mit diesem Problem, das sich mit den allgemeinen kulturtheoretischen Überlegungen von Véliz nicht begreifen lässt, möchte ich mich im Folgenden befassen.
80 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika
4.2 Der Übergang von der stratifizierten Ordnung zur funktionalen Differenzierung in Lateinamerika und die Beziehung zur Weltgesellschaft Die stratifizierte Ordnung in Lateinamerika ist eng mit der Entwicklung europäischer Monarchien und der Entstehung der Weltgesellschaft verbunden: einerseits mit dem Herrschergeschlecht der Habsburger von Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und andererseits mit dem bourbonischen Herrschergeschlecht von 1700 bis zu den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts, unter denen sich unterschiedliche Formen der Organisation der Kolonialgebiete herausbildeten. In den früheren Phasen der Kolonialzeit (Habsburger Herrschaft) wurden die wichtigsten Institutionen der politischen Verwaltung in Spanien angesiedelt, während die bourbonischen Reformen in Lateinamerika einen Prozess der Entfaltung der systemischen Vorbedingungen eines politischen und Wirtschaftssystems in Gang setzten. Die grundlegenden Verwaltungsinstitutionen unter der Habsburger Herrschaft waren der Consejo de Indias (Indienrat) und das Casa de la Contratación (Handelshaus). 1503 wurde das Casa de la Contratación in Sevilla als Instanz zur Regulierung der Handelsbeziehungen gegründet. Im Laufe des Jahrhunderts entwickelte es sich jedoch zu einer Organisation, die unterschiedliche Funktionen konzentrierte – von wirtschaftlichen bis zu wissenschaftlichen Funktionen. Cervera identifiziert fünf Kompetenzbereiche des Casa de la Contratación: • Wirtschaftliche Kompetenz: Kontrolle des Handelsverkehrs und der Übersee-Schifffahrt. • Rechtskompetenz: Auflösung ziviler Konflikte im Bereich kommerzieller Angelegenheiten. • Korporative Kompetenz: Unterstützung und Schutz der Seefahrer in Übersee. • Politische Kompetenz: Beteiligung an politischen Entscheidungen Iberoamerikas. • Wissenschaftliche Kompetenz: Entwicklung nautischer Technologien, kartographische Registrierung, Ausbildung der Seefahrer (Cervera 1997: 32). Mit der Gründung des Casa de la Contratación wurde „der Anstoß zur Entwicklung einer spezialisierten, eigenständigen Verwaltungsorganisation für
4.2. Der Übergang zur funktionalen Differenzierung | 81
das entstehende Kolonialreich gegeben“ (Pietschmann 1980a: 44). Dies zeigt auch wie wichtig es für die Krone war, eine „uneingeschränkte Kontrolle über die kolonialen Unternehmungen sowohl in faktisch-kommerzieller als auch in politisch-administrativer Hinsicht zu gewinnen“ (Pietschmann 1980b: 113). Aus diesem Grund wurde 1524 neben dem Casa de la Contratación der Consejo de Indias gegründet. Die zunehmende Bedeutung Iberoamerikas für die Metropole zeigte sich hier nicht nur im Bereich der Handelsbeziehungen. Auch administrative, gesetzgebende, religiöse und politische Kompetenzen wurden dem Indienrat zugeschrieben. Im Laufe des 16. Jahrhunderts übernahm der Indienrat mehr und mehr die Funktionen des Casa de la Contratación. Bereits im Jahre 1558, unter Philipp II., wurde aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage, die Kaiser Karl V. seinem Sohn vererbt hatte, die Bedeutung des Casa de la Contratación infrage gestellt. Dennoch wurde es Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts weiter ausgebaut und erst unter der bourbonischen Herrschaft aufgelöst (Cervera 1997: 71 ff.). Die Entstehung des Indienrates führte nicht zu einer Ausdifferenzierung von Funktionen, sondern er stellte ein neues zentralisiertes plurifunktionales Organ dar, das von noch größerer Bedeutung war als das Casa de la Contratación, da er nicht nur kommerzielle, sondern auch politische, administrative und juristische Themen behandelte. Der Indienrat galt, was Iberoamerika betrifft, sowohl unter der Herrschaft der Habsburger als auch unter den Bourbonen als die wichtigste Institution der Zentralverwaltung. Er organisierte die Staatsverwaltung in den Überseegebieten und war „ein alles in allem energischer und langfristig recht erfolgreicher Verfechter des bürokratischen Herrschaftsprinzips des aufkommenden monarchischen Absolutismus“ (Pietschmann 1980a: 41). Anders gesagt, seine Gründung war ein wesentlicher Schritt in Richtung Konsolidierung einer zentral-bürokratischen Regierungsstruktur für Iberoamerika, in Richtung Konzentration der politischen Macht und Hierarchisierung der gesellschaftlichen Ordnung durch eine zentrale politisch institutionalisierte Konstellation. Die letzte Phase der Habsburger Herrschaft wird als eine Periode der Korruption und Desintegration der königlichen Macht beschrieben. So Véliz: „During the decades of decline under the later Hapsburgs, laxity, inefficiency, and at times plan corruption weakened the central control of the empire“ (Véliz 1980: 71).
Auch Burkholder und Johnson (1990: 76 ff.) legen dar, dass besonders im 17. Jahrhundert die königliche Autorität abnahm und die Korruptionsfälle zunahmen. Es war keine rational-bürokratische Verwaltung entstanden, die eine formelle Institutionalisierung der staatlichen Organisation hätte fördern können.
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Andererseits war das Reich in Europa so grundsätzlich mit militärischen und politischen Konflikten beschäftigt, dass der Stagnation der Kolonialentwicklung keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Schwächung der Metropole hätte nur dann zur Unabhängigkeit der Kolonialgebiete führen können, wenn von den Habsburgern im 16. Jahrhundert (Karl V. und Philipp II.) eine rationale Bürokratie im Sinne Webers in Iberoamerika entwickelt worden wäre. Stattdessen förderten sie eine auf einer Identifizierung von Positionen und Individuen basierende staatliche Organisation. So entstand die Grundlage für die Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke. Dies zeigt sich in der Zentralisierung von Funktionen, die insbesondere mit dem Ämterkauf unter Philipp II. begann und sich bis Ende des 17. Jahrhunderts fortsetzte. Es wurden vor allem Notariate, Mitgliedschaften von Stadträten und Positionen polizeilicher Orientierung verkauft. Ab 1633 wurden auch richterliche Ämter und ab 1677 administrative Positionen in der Provinz verkauft. Schließlich waren 1687 Ämter der Audiencia und 1700 sogar der Titel eines Vizekönigs zu kaufen (Burkholder/Johnson 1990: 76 ff.). All dies wirkte sich auf die Konstruktion hierarchischer Strukturen der staatlichen Verwaltungsorganisation Iberoamerikas aus. Machtpositionen konnten nun auch ohne Professionalisierung erlangt werden. Darin liegt der Ursprung des oligarchischen Schichtungsnetzwerkes, das später bei der Ausdifferenzierung des politischen Systems die Führung des Staates übernehmen wird. Die Korruption nahm zu und die Rolle des Königs an der Spitze der Hierarchie verlor an Bedeutung. Die Krise in Europa führte, laut Pietschmann, zu einer Stagnation der Kolonialentwicklung Iberoamerikas: „Der anhaltende Rückgang der Indianerbevölkerung bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, zahlreiche regionale und lokale Tumulte und Unruhen unter den ärmeren Bevölkerungsschichten und immer wieder auftretende Bevölkerungsschwierigkeiten sind die sichtbaren Äußerungen dieser Krise, in deren Gefolge sich tiefgreifende Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur vollzogen. Dazu gehört die Ausbildung des Großgrundbesitzes, die Herausbildung der europastämmigen kreolischen Oberschicht, die Entstehung von Handels- und Finanzoligopolen, das Aufkommen neuer Formen wirtschaftlicher Unternehmen und abhängiger Arbeit, um nur einige Beispiele zu nennen“ (Pietschmann 1980a: 58).
Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) übernahmen die französischen Bourbonen (Philipp V., Enkel Ludwigs XIV) die Krone Spaniens. Damit begann das Zeitalter der bourbonischen Reformen, die sich als Antwort auf die Legitimationskrise der Habsburger Herrschaft verstehen lassen. Sie waren Ausdruck einer Neuorientierung der Innen- und Außenpolitik der Krone, deren Erfolge die Einheit Spaniens und die Institutionalisierung des Verwal-
4.2. Der Übergang zur funktionalen Differenzierung | 83
tungsapparats in den Kolonien waren. Dies macht deutlich, wie sich aus den zentralistischen Strukturen einer stratifizierten Gesellschaft die Basis für die Ausdifferenzierung eines politischen und auch eines wirtschaftlichen Systems entwickelt hat. Besonders unter Karl III. war die Kraft der Reformen auf Verwaltungsebene spürbar: „Die Reformen, die von den Bourbonen, insbesondere von Karl III., in Angriff genommen wurden, sanierten die Wirtschaft und beschleunigten die Abwicklung der Geschäfte, verstärkten aber auch den Zentralismus in der Verwaltung und machten Neu-Spanien zu einer typischen Kolonie, d. h. zu einem Gebiet, das zu systematischer Ausbeutung bestimmt und daher gänzlich der Zentralgewalt unterstellt wurde“ (Paz 1987: 93).
Die Ausführungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass Neu-Spanien (Iberoamerika) nicht erst unter der bourbonischen Herrschaft zum zentralisierten Territorium wurde. Stratifizierung und zentral-peripherische Strukturen gibt es in Lateinamerika seit der Entstehung der vorkolumbischen Hochkulturen (siehe Ponce 1972; Rounds 1982). Unbestritten ist aber, dass die zunehmende Desintegration der gesellschaftlichen Strukturen, die hauptsächlich unter den Habsburgern erfolgte, durch einen aktiven Reorganisierungsprozess bekämpft wurde. Die bourbonischen Reformen lassen sich in Iberoamerika in: a) wirtschaftliche, b) politisch-religiöse und c) Verwaltungsreformen unterteilen.
Zu a) Im Wirtschaftsbereich ging es um die Förderung des Freihandels zwischen Spanien und Iberoamerika, der 1778 durch die Reglamento para el Comercio Libre de España e Indias (Freihandelsregelung zwischen Spanien und Indien) reguliert wurde. Durch diese Regelung wurde Iberoamerika erstmals zu einer Kolonie im modernen Sinne, d. h. zu einem Territorium, das nach seiner ökonomischen Bedeutung bewertet wurde und das dazu beitragen sollte, die Wirtschaftsentwicklung Spaniens, also der Metropole, zu beschleunigen (Malamud 1988). Eine wesentliche Ursache für diese Transformation war, dass England aufgrund der sich entfaltenden industriellen Revolution immer mächtiger wurde und dass der Besitz von Kolonien nun in erster Linie dazu diente, ein internationales, weltgesellschaftliches Gleichgewicht zwischen den westlichen Mächten im 18. Jahrhundert zu erreichen. Mit den Wirtschaftsreformen wurde nicht nur die Förderung der amerikanischen Gebiete angestrebt, sondern vor allem die Weiterentwicklung der Metropole. Trotz der Existenz des interkolonialen Handels blockierten die starken Restriktionen der Freihandelsregelung das Wachstum freier Märkte in Amerika.
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Laut Malamud dienten die Reformen in erster Linie dazu, Iberoamerika zugunsten der Krone auszubeuten: „Voraussetzung für die Liberalisierung des Handels war nicht der Freihandel, sondern die Lockerung der rigiden Bestimmungen, unter denen der Überseehandel im Rahmen eines protektionistischen Systems stattfand. Selbst die Regelung von 1778, die als Freihandelsregelung bezeichnet wurde, lässt erkennen [...], dass es um die Festsetzung von Zöllen ging, die den freien Handel Spaniens mit Indien regeln sollten, und nicht umgekehrt“ (Malamud 1988: 120; Übersetzung A.M.). Infolgedessen hatten die Wirtschaftsreformen nur auf spanische Gebiete eine bedeutende Wirkung, nicht aber auf Iberoamerika, wo weiterhin die wachsenden merkantilistischen Beziehungen durch monopolistische Unternehmen kontrolliert wurden (Pietschmann 1980a: 72).
Zu b) Auf politisch-religiöser Ebene waren die Reformen ebenfalls darauf gerichtet, in der Oberschicht die königliche Macht zu zentralisieren. Dies wird deutlich in der Ausweisung der Jesuiten aus dem Reich im Jahre 1767, sowohl in Europa als auch in Iberoamerika. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts hatten die Jesuiten durch die Missionen besonders in den Kolonien an Einfluss auf unterschiedliche Bevölkerungsschichten gewonnen. Die Krone nahm die Bedrohung der hierarchischen Ordnung Iberoamerikas durch zentrifugale Kräfte nicht hin. Jesuiten, so Pietschmann, hielten „an dem überkommenen spätscholastischen Denken mit seinem gegen den absoluten Machtanspruch des Königtums gerichteten und Theorien von der Rechtmäßigkeit des Widerstandes gegen tyrannische Herrschaft umfassenden politischen Ideengut fest“ (Pietschmann 1980a: 82-83). Es war ein Schlag gegen eine politische Opposition, die die zentralisierte Orientierung Spaniens infrage stellte (Vives 1988).
Zu c) Mit den bourbonischen Verwaltungsreformen, unter denen die Einführung des Intendantensystems in Iberoamerika die wichtigste war, sollte dieses Problem gelöst werden. Die Bourbonen hatten das Intendantensystem bereits im 17. Jahrhundert in Frankreich angewendet, um die Fragmentierung der königlichen Herrschaft zu verhindern. Eine hierarchische Ordnung wurde aufgebaut, die in Vertretung der Krone die Provinzen regieren sollte (Pietschmann 1972). In Spanien wurde das Intendantensystem zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingeführt. 1711 wurden die ersten zwölf Intendanten mit wirtschaftlichen, richterlichen und militärischen Funktionen ernannt (Navarro 1995). Erste Hinweise auf die Einführung des Intendantensystems in Iberoamerika finden sich um 1746. Als
4.2. Der Übergang zur funktionalen Differenzierung | 85
Projekt formuliert wurde es jedoch erst 1769, nach dem Besuch von José de Gálvez, Beamter des Kastilienrates. Gálvez hielt tiefgreifende Reformen für notwendig, um die Tendenzen zur Desintegration der Verwaltungsorganisation, die die Habsburger den Bourbonen vererbt hatten, zu überwinden. Die Gründe, die für die Einführung des Intendantensystems in Iberoamerika sprachen und die zugleich als Diagnose Iberoamerikas betrachtet werden können, sind unterschiedlich: Entstehung dezentralisierter Interessengruppen, eine nicht spezialisierte Bürokratie, Korruption, das Fehlen einer einheitlichen Regierungsorganisation und die Schwierigkeiten der Vizekönige, geografisch, militärisch und sozial weit voneinander entfernte Regionen zu regieren. Man könnte behaupten, dass sich bereits die Bourbonen der Gefahr informeller Netzwerke bewusst waren. Es ging allerdings nicht um eine Dezentralisierung der königlichen Gewalt, sondern um die Neuorganisierung der politischen Strukturen, denn der Ämterkauf während der Habsburger Zeit hatte zur Desintegration des iberoamerikanischen Verwaltungssystems geführt. Mit den neuen Intendanten sollte eine spezialisierte und vor allem loyale Bürokratie wiederhergestellt werden (Burkholder/Johnson 1995: 259 ff.). Die zwölf Intendanten sollten die große Anzahl von Alcaldes (Bürgermeistern), Corregidores (Kommissaren) und Gouverneuren ersetzen, die das alte System gekennzeichnet hatte. Die wirtschaftliche Funktion des Vizekönigs wurde beschränkt. Gleichzeitig wurde eine der zwölf Intendanzen zur Hauptintendanz (Superintendencia) erklärt, die die Koordinationsaufgaben des gesamten Systems übernehmen sollte. Das Intendantensystem wurde mit der Gründung neuer Intendanzbezirke bis zum Jahr 1787 (Tod von José de Gálvez) weiter ausgebaut. Aufgrund der Proteste der Vizekönige, die ihre Machtpositionen und Rollen durch die Intendanten gefährdet sahen, wurde es schließlich wesentlich umorganisiert. Die Auswirkungen der französischen Revolution auf die gesellschaftliche Ordnung Frankreichs und Spaniens spielten dabei ebenfalls eine Rolle. Unter den neuen politischen Bedingungen in diesen Ländern wurde das Intendantensystem als reines Instrument des Königs betrachtet und daher stark angegriffen. In Iberoamerika jedoch hatten die Intendanzen auch nach den Unabhängigkeitskriegen noch Bestand, allerdings nicht als Vertretungen der Krone, sondern als Lokalabteilungen der Nationalregierung und wichtiges Bindeglied zwischen einem ausdifferenzierten politischen System und den emergierenden Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken. Trotz ihrer kurzen Existenz im Vergleich zu den zwei Jahrhunderten, in denen das alte Kolonialsystem operiert hatte, gelang es den Intendanten, eine wirkungsvolle Hierarchie aufzubauen und zu einer Institutionalisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Organisation Iberoamerikas beizutragen.
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Infolge der instabilen Sozialbedingungen, die die französische und die amerikanische Revolution in der Weltgesellschaft ausgelöst hatten, wurde diese jedoch nicht von der spanischen Krone weiterentwickelt, sondern von den einzelnen lateinamerikanischen Ländern. Institutionalisierung setzt nicht unbedingt Dezentralisierung voraus; sie kann auch die Vollendung eines sich entfaltenden zentral orientierten Prozesses bedeuten, der nur auf die oberflächliche Struktur des Zentralismus einwirkt, aber nicht auf seine Tiefenorganisation. Nach Pietschmann haben drei Jahrhunderte Kolonialerbe zwei entscheidende Spuren hinterlassen: Erstens zeigt sich die einflussreiche Rolle der katholischen Kirche in den politischen und kulturellen Feldern, und zweitens ist „[...] als Ausfluß des iberischen Absolutismus eine zentralistische politische Tradition, mit einer schwerfälligen, an Eigentum orientierten Bürokratie und überspitzten juristischen Formalismus in der Verwaltung zu nennen“ (Pietschmann 1996: 217).
Zwar bedeutete die Unabhängigkeit von Spanien das Ende einer absolutistischen Herrschaft und damit das Ende einer stratifizierten Gesellschaftsordnung. Die Idee einer teleologischen Zentralisierungstradition von Véliz und Pietschmann greift als Erklärung hierfür jedoch zu kurz. Dieser Prozess lässt sich nicht kulturtheoretisch beschreiben, sondern es stellt sich die Frage, wie eine stratifizierte Ordnung ihre Funktionen erfüllt und inwiefern sich die Erwartungsstrukturen einer solchen Ordnung mit den sich entwickelnden Erwartungsstrukturen einer funktional differenzierten Ordnung kompatibilisieren lassen.
4.3 Ausdifferenzierung des politischen Systems Iberoamerika war unter den Habsburgern in Alcaldías (Kommunalbehörden) und Gobernaciones (Regionalverwaltungen) organisiert (Guerra 1994). Mit den bourbonischen Reformen und besonders der Einführung des Intendantensystems sollten diese Strukturen abgeschafft werden. In der Zeit des Aufbaus der Nationalstaaten haben sich jedoch die alten habsburgischen Strukturen in Form einer Zentrum/Peripherie-Differenzierung wieder stärker herausgebildet. Dies führte zu Auseinandersetzungen unter den neuen Staaten. Die spanische Krone hatte immer versucht, die Entwicklung repräsentativer Institutionen, die die Autorität des Zentrums infrage stellen konnten, zu verhindern. Städte in den peripheren Gebieten hatten deshalb zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Möglichkeit, ihre Interessen vor den zentralen Instanzen zu vertreten. Der Mangel an formell institutionalisierten Mechanismen und an Repräsentations- und Partizipationsformen einerseits sowie die geografischen, wirtschaftlichen und semantischen Unterschiede andererseits prägten die Ent-
4.3. Ausdifferenzierung des politischen Systems | 87
wicklung einer neuen Gesellschaftsstruktur, die nun nicht mehr vom König oder vom Reich ausging, sondern von der Figur des Caudillo, der mithilfe des Militärs und seiner klientelistischen Beziehungen den Aufbau des Nationalstaates und des Staatsapparates vorantrieb (Pietschmann 1996). Dies führte zu einer Phase der Konsolidierung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken: (a) Die Caudillos entwickelten ein personengebundenes und oft gewalttätiges zentralisiertes Netzwerk; (b) sie errichteten einen Staatsapparat mit einer starken politischen Kontrolle über Akteure aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen; (c) durch diese zentralisierte Kontrolle konsolidierten sie die Erwartungsstrukturen einer konzentrischen Institutionalisierung; (d) so entstand eine Governance-Form, die formelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge der Funktionssysteme mit informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke kombinierte. Dass die Unabhängigkeit keine Dezentralisierung der gesellschaftlichen Ordnung bewirkte, lässt sich anhand der Beispiele Argentinien und Chile belegen: Der Caudillo Juan Manuel Rosas regierte Argentinien zwischen 1829 und 1852 (von 1829 bis 1839 als Oberst der Provinz Buenos Aires, der damals ökonomisch wichtigsten Provinz Argentiniens). Laut Floria und García (1988) bemühte sich die Regierung Rosas um die Reduzierung provinzieller Macht durch eine zentralistische Staatsgewalt. Das ist insofern paradox, als Rosas eine föderative Regierungsform förderte und sich selbst als Gegner der unitären (zentralistischen) Tendenzen bezeichnete. Dennoch führte seine zentralisierte Regierungsform zu einer Schwächung des Föderalismus und zu einer Konzentrierung der politischen Operationen in der Region Buenos Aires. Unter Rosas war keine Unterscheidung zwischen der richterlichen, der gesetzgebenden und der exekutiven Gewalt festzustellen. Sein politisches Projekt bestand darin, sukzessiv diese drei Sphären wie auch die Führung der Streitkräfte in seinem Netzwerk zu konzentrieren. Myers (1995) beschreibt die Regierung Rosas unter drei Aspekten: (a) Ausnahmezustände zur Durchsetzung der politischen Meinung, (b) Übernahme der Funktionen anderer Staatsgewalten durch die exekutive Gewalt und (c) Eliminierung der politischen Gegner als Legitimationsmethode (Myers 1995: 20 ff.). Eine solche konzentrische Institutionalisierung bewirkte eine Entdifferenzierung von Staat, Recht, Partei und Öffentlichkeit, sodass kein Unterschied zwischen öffentlicher Meinung, die durch staatliche Überwachung der Presse eingeschränkt wurde, und Regierungsmeinung zu erkennen war. Andererseits wurde der politische Spielraum durch Gewalt stark eingeschränkt, und im Bereich der politischen Vorbilder wurde eine Homogenisierung des politischen Willens gesucht.
88 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika „Man musste den alten Wohlstand durch die Neuorganisierung einer hierarchischen Ordnung wiederherstellen, die jedem Menschen einen Platz zuwies. Dieser konnte nur unter der Voraussetzung akzeptiert werden, dass er sich aus einer Naturhierarchie individueller Fähigkeiten ergab“ (Myers 1995: 73; Übersetzung A.M.).
Der lateinamerikanische Mensch war in der Vorstellung Rosas so unvollkommen und unvollendet, dass nur starke politische Institutionen die Gesellschaft organisieren konnten. Um diese Bedingung zu erfüllen, ergriff Rosas verschiedene Maßnahmen: Polizeikontrolle, Kontrolle der öffentlichen Moral und des Erziehungssystems, Überwachung öffentlicher Räume und sogar die Abschaffung der Feiertage sowie eine offizielle Kleiderordnung für Beamte (Myers: 1995: 79). Hinter der Macht Rosas verbirgt sich mehr als „ein zentralistisch geführtes Regiment“ (Berg 1995: 114). Eine wichtige Grundlage für seine Macht waren die frühen Phasen der Entwicklung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken und damit die Entstehung einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung. Das Regime Chiles nach den Unabhängigkeitskriegen war zwar keine Militärdiktatur, kein Versuch, ein totalitäres Modell im Sinne Rosas zu errichten, es gab jedoch eine starke Tendenz zur konzentrischen Institutionalisierung und zur Entdifferenzierung und Politisierung zentrifugaler Kräfte. In der Nachkriegszeit, als die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft bereits entschieden war, war das Problem der rechtlichen Ordnung von besonderer Bedeutung. 1833 wurde die erste Verfassung in der politischen Geschichte Chiles verabschiedet. Durch die Verfassung sollte die Machtübernahme der Caudillo-Netzwerke verhindert werden, um der Entstehung personengebundener, regionaler Regierungen in Form von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken entgegenzuwirken. Theoretisch hätte die Verfassung zu einer Ausdifferenzierung von Regierungsfunktionen führen müssen; das war aber nicht der Fall. Auch wenn die Verfassung die klassische Gewaltenunterscheidung anerkannte, wurde die richterliche und gesetzgebende Gewalt der Exekutive untergeordnet, sodass dem Präsidentenamt das Monopol über die politischen Entscheidungen zugeschrieben wurde. Es galten folgende Bestimmungen: (a) Jedes Abkommen des Parlaments musste vom Präsidenten bewilligt werden; (b) Rechtsverordnungen der Exekutive erforderten keine Zustimmung des Parlaments; (c) das Parlament wurde vom Präsidenten einberufen und tagte nur drei Monate im Jahr; (d) die Mitglieder der richterlichen Gewalt wurden vom Präsidenten ernannt und entlassen; (e) ein Recht auf Versammlungsfreiheit war in der Verfassung nicht vorgesehen, sodass keine politische Opposition in Form von Parteien oder Verbänden zustande kommen konnte (Barros/Vergara 1991: 85 ff.). Diese Zentralisierung der politischen Operationen im Amt des Präsidenten
4.3. Ausdifferenzierung des politischen Systems | 89
führte zu einer Art Präsidentialismus, in dem die alten ländlichen Eliten Lateinamerikas sich bequem einrichten konnten. Eine der zentralen Institutionen der Kolonialphase, die tief in das 20. Jahrhundert hineinwirkt, war die Hacienda – eine plurifunktionale Struktur, die mit politischen, gesellschaftlich organisatorischen, militärischen und juristischen Funktionen ausgestattet war, ähnlich wie die römische Villa in Zeiten des Verfalls des römischen Reiches (Germani 1981). Auf den Haciendas entwickelten sich gesellschaftliche Netzwerke zwischen dem Hausherrn (und seiner Familie), der als Arbeitgeber, Beschützer, politischer Leader und Richter galt, und den Dienern (Inquilinos), die für ihn arbeiteten und unter seinem Schutz standen. So entstand einerseits eine Oligarchie von Kreolen, deren Einfluss auf Landwirtschaft und Agrarindustrie basierte und die die Macht im Unabhängigkeitsprozess übernahmen. Andererseits entwickelte sich eine breite Schicht, die sich von dieser Führungsstruktur leiten ließ. Es war die Genese der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, die beim Aufbau des Nationalstaates in Zeiten des Übergangs zum Primat der funktionalen Differenzierung die formellen Positionen in Regierungsstrukturen übernahmen und informell institutionalisierte Strukturen der Inklusion/Exklusion darstellten. Der lateinamerikanische Präsidentialismus stützte sich also sowohl auf formelle politische Strukturen als auch auf informelle Leistungen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, d. h., er nutzte die Medienkonstellationen der Politik und des Rechts sowie Ersatzmechanismen wie Gewalt, Korruption, Zwang und Einfluss. Rechtsoperationen wurden auf diese Weise entdifferenziert und ihre Autonomie blockiert. Barros und Vergara bezeichnen diese Regierungsform als Autokratie, das heißt als „[...] eine Form der Machtausübung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Beschlussfassung in wenigen Händen konzentriert ist. In unserem Fall ist es der Präsident der Republik, der die absolute Kontrolle über die politische Führung des Landes übernimmt, und dies nicht nur aufgrund der Befugnisse, die mit seinem Amt verbunden sind, sondern auch infolge des Fehlens gesetzlicher Verfahren, durch die die Bevölkerung die Person des Präsidenten beeinflussen oder unter Druck setzen kann“ (Barros/Vergara 1991: 89; Übersetzung A.M.).
Diego Portales, der chilenische Innenminister, war eine der wichtigsten Figuren dieser Periode. Nach Botana (1994) bestand das Projekt Portales darin, mithilfe einer als Oligarchie angelegten konservativen politischen Ordnung die Grundlage für eine republikanische Gewalt zu schaffen. Portales selbst beschreibt dies 1822 in seinem Brief an Cea: „Die Republik ist das System, das wir aufbauen müssen; doch wissen Sie, wie ich sie für diese Länder verstehe? Als eine starke, zentralisierte Regie-
90 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika rung, deren Menschen ein wahres Vorbild an Tugend und Patriotismus sind, sodass die Bürger den Weg der Ordnung und der Tugend folgen können. Wenn sie endlich moralisiert sind, dann sei die völlig liberale, freie und idealistische Regierung willkommen, an der jeder Bürger teilnimmt“ (Portales 1937: 117; Übersetzung A.M.).
Die zentralistische Verfassung Chiles von 1833, wie Roldán (1933) sie bezeichnet, war 1925 immer noch in Kraft. Die Folgen von Rosas Diktatur waren in Argentinien während des 19. Jahrhunderts deutlich zu spüren. Brasilien hatte sich als ein Reich mit bürokratischem Zentrum in Rio de Janeiro organisiert, und in Peru verhinderte eine konservative Elite die Entfaltung der zentrifugalen politischen Kräfte (Calvo 1996). Das 19. Jahrhundert ist politisch geprägt durch die Unterscheidung Ordnung/Anarchie: Anarchie im Sinne der Beobachtung des Zerfalls der Monarchie und Ordnung im Sinne einer neuen politischen Form des Nationalstaates – verstanden allerdings als Zusammenspiel von formellen und informellen Strukturen, die mit dem Ziel der Inklusion der Anhänger und Exklusion der Gegner zur Gründung von Governance-Regimes führten. Diese Ordnung kann als verfassungsgeleitetes Präsidialsystem oder als unipersonales System verstanden werden. Zur ersten Kategorie gehörte Chile, zur zweiten Argentinien unter Rosas. Außerdem kann zwischen föderativen oder unitären politischen Systemen unterschieden werden. Entscheidend ist jedoch, dass ein oligarchisches politisches System entsteht, das nach der Leitdifferenz Regierung/Opposition operiert. Rosas erließ keine Verfassung, um seine Macht durchzusetzen. Ein Jahr nach seinem Niedergang verabschiedete die aristokratische Opposition 1853 die erste Verfassung Argentiniens und entwickelte ein politisches System, das bis zur Machtübernahme der populistischen Opposition Yrigoyens im Jahre 1916 operierte. In Brasilien stürzte 1889 eine liberale Opposition die monarchische Regierung. Die oligarchische Opposition übernahm jedoch wenige Jahre später die Macht und hielt sich bis zur Gründung des Estado Novo im Jahre 1937. Das autoritäre System Chiles wurde 1861 von einer liberalen Opposition neu organisiert. 1891 wurde es von der Oligarchie wieder durchgesetzt und bestand bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Form des Parlamentarismus. Germani fasst diese Entwicklungen im Vergleich zur Situation in Europa folgendermaßen zusammen: „To considerable extent, the transition to modernity was initiated under the protection of modernizing oligarchies, in the form of autocracy or of restricted democracy (as in the European case), but always within the rigid limits of their class horizon. And these limits were to considerable extent determined not only by their own position as the monopolizer of power and the necessity of maintaining themselves as such, but also by a form of
4.3. Ausdifferenzierung des politischen Systems | 91 development based on the primary economy of export and not on industry. This is an almost complete inversion of the European situation“ (Germani 1981: 256).
Die Interessen der Oligarchie standen daher in enger Dependenzbeziehung zu den bürgerlichen Interessen der Industrieländer. Der Staat, die politische Elite und deren Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke übernahmen die Spitze der Gesellschaft und förderten so eine konzentrische Institutionalisierung der weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung, was zu einem hierarchischen Modernisierungsdruck in Lateinamerika führte. Dies führte zwar zu einer Ausdifferenzierung und Entfaltung politischer Operationen, nicht aber zu einer operativen Schließung der Politik. In Abbildung 2.1 des Kapitels 2 wurde das Schema zur Temporalisierung der Selbstreferenz entworfen. Nach diesem Schema befindet sich das politische System in Lateinamerika im 19. Jahrhundert in einem Übergangszustand von Zyklus 1 (Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung) zu Zyklus 2 (Selbstorganisation und Selbstregulation). Zyklus 1 lässt sich durch die Herausbildung basaler Unterschiede beschreiben und Zyklus 2 durch die Entwicklung infrastruktureller Bedingungen der Systemoperation. Die basalen Unterschiede (Anarchie/Ordnung, Regierung/Opposition, Liberalismus/Konservatismus, Föderalismus/Unitarismus) ermöglichen es dem System, sich selbst als politisches System zu beobachten und zu beschreiben. Die Entwicklung einer politisch basierten Infrastruktur wird von diesen Unterschieden bestimmt. Basale Unterschiede verleihen dem System eine Identität, die jeder Seite erlaubt, die Grenzen ihrer Einheit zu erkennen. Im politischen Bereich setzt dies voraus, dass sich die ideologischen Tendenzen oder die Interessen verschiedener Gruppen voneinander unterscheiden und die Grundlagen politischer Parteien im modernen Sinne entstehen lassen. Anders gesagt: Es entwickeln sich politisch basierte Erwartungsstrukturen und eine organisatorische, politische Infrastruktur. Die Politik schließt den zweiten Zyklus der Temporalisierung der Selbstreferenz erst dann ab, wenn eine politisch basierte Infrastruktur konsolidiert ist, wenn es repräsentative politische Parteien, ein Wahlsystem mit Wählern, Wahlbehörden und einem Wahlkampf gibt, und wenn sie die Funktion, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, stabilisiert hat. Die klassische Unterscheidung liberal/konservativ im 19. Jahrhundert genügte nicht, um diese Infrastruktur sich entwickeln zu lassen, da sie die Konsolidierung von systemischen Exklusionsvorgängen in Lateinamerika, die mit der Entstehung der Sozialen Frage verbunden war, unberücksichtigt ließ. Die Soziale Frage war ein direktes Resultat des oligarchischen bzw. hierarchischen Modernisierungsdrucks. Die Oligarchie und ihre Netzwerke wurden
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von den systemischen Leistungen eingeschlossen, die Massen nicht. Unter der Semantik der Sozialen Frage wurde die Exklusion der Massen thematisiert und moralisiert. Einer ihrer Kernpunkte war die Armut in der Peripherie der Zentren bzw. die in den Städten marginalisierten Zuwanderer vom Land, die deswegen ausgeschlossen wurden, weil die Funktionssysteme keine ausreichenden Inklusionsleistungen anboten. Vor allem im Bereich der Erziehung, des Gesundheitswesens und des Arbeitsmarktes entwickelten sich Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, um solche Leistungen zu erhalten (Fernández 2007). Daraus formierte sich eine Mittelschicht, die einerseits gegen die Oligarchie um Führungspositionen kämpfte und andererseits das Modernisierungsprojekt der Oligarchie aus moralischen Gründen, die mit der hohen Exklusion zu tun hatten, kritisierte (Valdés Canje 1998). Marxistisch orientierte politische Parteien übernahmen die Repräsentation der Armen im universalistischen Sinne, ohne zwischen Stadtarmut, Landarmut auf den Haciendas und Armut der indigenen Bevölkerung zu unterscheiden. Armut ließ sich so nur als Ausbeutung interpretieren. Die konservative Oligarchie wiederum verstand Armut im humanistischen und christlichen Sinne als Drama, welches über religiöse Institutionen und über die mittelalterliche Idee der Umkehrung im Jenseits überwunden werden könnte. Damit verteidigte sie Institutionen wie die Hacienda und gesellschaftliche Führungspositionen wie die Beteiligung an der Regierung. Der Abschluss des Zyklus 3 setzte die Entwicklung von Themen und Programmen im System voraus. Die politischen Themen und Programme lassen die Reichweite der nachkolonialen bzw. republikanischen konzentrischen Institutionalisierung insofern erkennen, als sie nicht nur spezialisierte Kommunikationen der Politik erzeugten, sondern auch die Selbstreferenz anderer Teilbereiche intervenierten, die sich ebenfalls in einem Ausdifferenzierungsprozess befanden. Das Zusammenspiel zwischen formellen Vorgängen politischer Organisationen und informellen Leistungen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke oligarchischer Prägung kontrollierte die Entfaltung der funktionalen Differenzierung und setzte Entdifferenzierungsepisoden in Gang. Dies lässt sich vor allem im Bereich der Gesundheit, der Erziehung, der Wirtschaft und des Rechtssystems feststellen (siehe Serrano 1994; Dabas/Najmanovich 1995; Mascareño 2000a; Eyzaguirre 2003). Inzwischen hatte die politische Semantik neue Unterscheidungen ins Spiel gebracht: liberal/konservativ, Präsidentialismus/Parlamentarismus, Oligarchie/Demokratie. Diese boten neue Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung und Selbstorganisation der Politik. Letztere Unterscheidungen lassen sich am Beispiel Chiles verdeutlichen. 1861 erfolgte die Neuorientierung der oligarchischen Politik durch eine liberal-demokratische Opposition. 1891 wurde die oligarchische Herrschaft wiedereingeführt, nicht
4.4. Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems | 93
aber unter einem präsidentialistischen, sondern unter einem parlamentarischen Programm, das bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hineinwirkte. Die Weiterentwicklung starker Formen der Machtausübung seitens der Caudillo-Regimes und autoritären Systeme, der politische Einfluss der Amerikanischen und Französischen Revolution, die ideologische Bedeutung des liberalen schottischen Denkens und des französischen Positivismus waren die grundlegenden Themen der Liberal/Konservativ-Unterscheidung, die zur Selbstproduktion politischer Operationen dienten. Es geht hier nicht um Parteien im modernen Sinne, sondern eher um politische Tendenzen, die sich wiederum in Subtendenzen unterteilen lassen. Allerdings, so Safford: „For no matter how bitter the divisions between the wings of the post-1850 parties, their members in most cases continued to think of themselves as indelibly marked as either liberal or conservative“ (Safford 1987: 65).
All dies macht deutlich, dass die politischen Operationen über eine eigene Dynamik verfügten, die die Selbstproduktion politischer Themen ermöglichte und ihre Ausdifferenzierung als Funktionssystem förderte. Dennoch wurde die operative Schließung des Systems (Zyklus 4 der Temporalisierung der Selbstreferenz) erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erreicht, als die wirtschaftlichen und politischen Strukturen durch die Wirtschaftsreformen neu organisiert wurden. Über weite Teile des 20. Jahrhunderts galt aber die Politik und damit der Staat als Entscheidungsträger nicht politischer Themen, als Zentrum einer gesellschaftlichen Ordnung, die, auch wenn sie über ausdifferenzierte Funktionssysteme verfügte, nicht dezentral operieren konnte, gerade weil Macht und Einfluss auf Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke verteilt waren.
4.4 Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems Auch wenn der Markt während des kolonialen Zeitalters über keine Autonomie gegenüber der politischen königlichen Macht verfügte, gab es bereits einen Protomarkt, der dem Zyklus 1 des Schemas zugeordnet werden kann – d. h., es gab einen Markt, der einige grundlegende Unterscheidungen wie Arbeitgeber/Arbeitnehmer, Produktion/Konsum, Kauf/Verkauf erkennen ließ, der aber keine Weiterentwicklung des Ausdifferenzierungsprozesses ermöglichte. Sempat (1987) assoziiert die Entstehung eines Wirtschaftssystems in Iberoamerika mit der Einführung der Technologien zur Silberproduktion gegen Ende des 16. Jahrhunderts, was auch zur Konsolidierung der Wirtschaft in der Weltgesellschaft beitrug: „The prior requisite, the point of departure for the formation of the system,
94 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika is mineral production, the final product which (the commodity money) has the capacity of being immediately realizable internationally“ (Sempat 1987: 21).
Diese Wirtschaftsstruktur „[...] creates its own markets, within which the agrarian products are converted into commodities, while at the same time it promotes new types of production which are based from the very start upon exchange with the mineral market. The result of this process is the constitution of a mercantile economic system, with commerce developed to a certain degree and the consequent circulation of money within certain limits“ (Sempat 1987: 22).
Nach Sempat blieb diese Wirtschaftsstruktur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, also bis zur Machtübernahme der Bourbonen, erhalten. Wie bereits erwähnt, hatten verschiedene politische und administrative Faktoren im 17. Jahrhundert zu einer schweren Wirtschaftskrise im spanischen Reich geführt, der mit den bourbonischen Reformen im 18. Jahrhundert begegnet werden sollte. Die wichtigsten Maßnahmen im Hinblick auf die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen waren die Entwicklung des Freihandels und die Einführung des Intendantensystems. Die bourbonischen Reformen festigten die Kolonialordnung, denn sie zogen keine deutliche Trennlinie zwischen politischen und wirtschaftlichen Themen. So Salvatore: „Die Wirtschaft schien keine ontologisch differenzierte Existenz zu haben, sie war ein Teil der Regierung und der Verwaltung“ (Salvatore 1994: 89; Übersetzung A.M.). Die Reformen, die die ungleichen Handelsbeziehungen zwischen Spanien und Iberoamerika förderten, sind zu verstehen als eine politische Entscheidung zugunsten der Krone und nicht als Ausdruck einer liberalen Interpretation des Individuums oder als Mittel zur Einschränkung der politischen Macht. Insofern kommt es nicht zum Abschluss von Zyklus 1 der Temporalisierung der Selbstreferenz. Selbstorganisation und Selbstregulierung (Zyklus 2) wurden durch die Reformen verhindert, da der Indienrat die Instanz war, die die iberoamerikanische Wirtschaftsproduktion organisierte. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Grundlagen zur Ausdifferenzierung der Wirtschaft bei den bourbonischen Reformen erkennbar sind. Der Handel sollte die Gesellschaftsbeziehungen im bourbonischen Zeitalter organisieren, und zwar nicht nur im Sinne eines Zuflusses von Gütern und Geld für die Krone, sondern auch im Sinne einer Beteiligung der Indianer am zivilisatorischen Prozess, der durch den Handel beschleunigt werden sollte (Salvatore 1994: 92). 1751 wurde gesetzlich festgelegt, dass die Indianer die von den spanischen Händlern angebotenen Produkte (Werkzeuge, Samenkörner, Arbeitstiere) kaufen mussten. Damit wurde die Arbeitsstruktur der Indianer
4.4. Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems | 95
auf einen Handelsbereich verlegt, auf dem sie keine Erfahrung hatten. Sie wurden dazu gezwungen, mit Großgrundbesitzern auf den Haciendas und mit spanischen Händlern vertragliche Arbeitsbeziehungen zu etablieren. Das Wirtschaftssystem konnte während des Kolonialzeitalters seine Selbstreferenz nicht erhöhen, da die Wirtschaft von der Politik als Teil der Regierung und des Regierens betrachtet wurde. Die oben genannten Handelsaktivitäten, die die bourbonischen Reformen in Iberoamerika in Gang setzten, konnten erst zu einer verstärkten Ausdifferenzierung der Wirtschaft führen, nachdem Zyklus 2 der Temporalisierung der Selbstreferenz abgeschlossen war, das heißt als Selbstorganisation entstand und sich die basal operierenden Prozesse des ersten Zyklus selbst regulieren könnten. Auch wenn der Begriff des Marktes im Kolonialismus bereits existierte, war dieser Markt nicht prägnant genug, um sich von der politischen Kontrolle zu befreien. Die Ausdifferenzierung der Wirtschaft hing von der Entwicklung der politischen Selbstreferenz ab, insbesondere dem Crossing von der Anarchie zur Ordnung. Unter Bedingungen der Anarchie ist ein autonomer Markt nicht denkbar, denn Anarchie weist nicht nur auf politische Instabilität hin, sondern auch auf einen Zustand gesellschaftlicher Ungewissheit, in dem die Möglichkeiten der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien durch Interventionsprozesse und Entdifferenzierungsepisoden eingeschränkt werden. Nur ein Ende der Anarchie und die Strukturierung einer Gesellschaftsordnung können die symbolische Bedeutung der Medien teilweise wiederherstellen und dadurch die Semantik des Marktes festsetzen. Dies erkannte auch der chilenische Minister Portales, ein Geschäftsmann, der zu Beginn der Republik im 19. Jahrhundert sagte: „Wenn ich erst einmal die Bauernhöfe in Besitz genommen und einen Knüppel ergriffen habe, um im Land Ruhe zu schaffen, so geschah dies in der Absicht, dass die [Männer und Frauen] aus Santiago mich in Ruhe arbeiten lassen“ (Portales 1937: 33; Übersetzung A.M.).
Der Entfaltung eines ausdifferenzierten Wirtschaftssystems muss eine politische, zivile und militärische Ordnung zugrunde liegen, denn nur unter den Bedingungen einer solchen Ordnung ist die wirtschaftliche Kodierung wirksam und die Selbstorganisation des Systems (Zyklus 2) möglich. Dennoch zielte die Bekämpfung der Anarchie – sei es durch die Verfassung oder mit Gewalt – vor allem auf den Aufbau einer politischen Struktur und nicht auf die Begründung eines autonomen Wirtschaftssystems. Daraus folgt, wie Salvatore (1994) feststellt, dass die Entwicklung des Marktes dem Aufbau der Nation untergeordnet wurde. Dies zeigt, dass die gesellschaftliche Ordnung nach der spanischen Herrschaft immer noch eine von der Politik kontrollierte Hierarchie darstellte,
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und andererseits, dass die Wirtschaft, genau wie bei den Bourbonen, als Teil der Regierungsaufgaben betrachtet wurde, und die nur dann operieren könne, wenn die Politik ihre Themen und Programme bestimmt, also wenn der Staat die wirtschaftliche Rolle der Selbstproduktion (Zyklus 3) übernimmt. Das liberale Denken des 19. Jahrhunderts entwickelte hier einen neuen semantischen Ansatz: Sowohl Domingo Faustino Sarmiento als auch Juan Bautista Alberdi lehnten protektionistische Maßnahmen lateinamerikanischer Länder ab, denn, so Sarmiento: „Wir sind weder Industrielle noch Seefahrer, daher wird uns Europa immer Güter im Austausch gegen unsere Seeprodukte liefern, und das wird uns zugute kommen“ (Sarmiento in Salvatore 1994: 99; Übersetzung A.M.).
Diese Meinung vertritt auch Alberdi: „Die Gründe für die Krise Südamerikas liegen in dem sinnlosen Versuch, durch gesetzlichen Schutz eine südamerikanische Technologieindustrie zu schaffen, die mit der europäischen Industrie konkurrieren soll“ (Alberdi in Salvatore 1994: 99; Übersetzung A.M.).
Die Ideen der Liberalen wurden zu einem gewissen Grad umgesetzt, aber wahrscheinlich nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Peru und Chile – allerdings unter Kontrolle des Staates und als Voraussetzung für die Entwicklung der Bergbauindustrie – Anreize für Auslandskapital geschaffen – ein Prozess, der 1879 sogar zum Krieg zwischen Peru, Chile und Bolivien führte (Anderle 1988). In Argentinien förderten die englischen Investitionen die Entfaltung einer starken Oligarchie, die die Wirtschaft staatlich kontrollierte (Rock 1975). In Uruguay gelang es Battle y Ordóñez, die Oligarchie Anfang des 20. Jahrhunderts zu besiegen, doch sein Regierungsprogramm beinhaltete keine Liberalisierung des Wirtschaftssystems, sondern die Kontrolle über verschiedene wirtschaftliche Produktionsbereiche (Anderle 1988). Ähnliches geschah in Mexiko durch die strategische Monopolisierung der Wirtschaftsressourcen durch den Staat (Hernández 1993). Und in Brasilien, einem Land, in dem die Oligarchie mehr mit den Zuckerausfuhren beschäftigt war als mit der politischen Organisation des Staates, begründete Getulio Vargas, der 1930 an die Macht gekommen war, im Jahr 1937 den Neuen Staat (Estado Novo) – einen autoritären, populistischen Kompromissstaat (Weffort 1970), der durch Geldverteilung die Wirtschaft benutzte, um gesellschaftliche Integration zu ermöglichen (Touraine 1987). Im Bereich der Politik brachte das 20. Jahrhundert in Lateinamerika den Nationalpopulismus hervor, der wesentlich zur Weiterentwicklung von Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken beigetragen hat. Gino Germani liefert hierfür eine
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plausible Erklärung (Germani 1962: 150 ff.). Er unterscheidet auf theoretischer Ebene zwischen Mobilisierung und Integration: Mobilisierung bedeutet sozialpsychologische Unterstützung politischer Beteiligung, Integration bedeutet politische Inklusion durch formell institutionalisierte und legitimierte Vorgänge. Nach Germani entwickelten die Oligarchie und die Mittelschicht Autokratien und Demokratien mit begrenzter Beteiligung, die die politische Integration der Unterschichten wiederum nur begrenzt gefördert haben. Auf diese Weise wurde eine zunehmende Zahl von Bürgern, die vom Land in die Stadt abwanderten und Mobilisierungserwartungen mit sich brachten, von urbanen Leistungen ausgeschlossen. In diesem Sinne, so Germani, gab es eine Asynchronie zwischen den Erwartungsstrukturen der neuen Unterschichten und den fehlenden institutionellen Integrationsmechanismen, wie Gewerkschaften, Sozialgesetze, politische Parteien, Wahlrecht, Massenkonsum. Die urbane Elite, die die politischen Prozesse steuerte, musste sich also neu orientieren. Semantisch entsprach diese Orientierung einer Mischung aus Industrialisierungsideologie, Autoritarismus, Nationalismus und Staatskapitalismus. Germani bezeichnet dies als die nationalpopulistische Bewegung. Sie entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weil die Mobilisierung der Unterschichten die mangelnden formellen Integrationsmechanismen überlasteten. Die Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke spielten dabei eine wichtige Rolle. Sie wurden zum informellen Ersatzmechanismus für die mangelnde formelle Institutionalisierung und hatten die operative Funktion, Sozialleistungen umzuverteilen und für eine teils reale (weil die Massen an gewissen politischen Entscheidungen teilnahmen), teils fiktive (weil die Entscheidungen keinen Einfluss auf die Regierung hatten) politische Beteiligung der Massen zu sorgen. Während des Nationalpopulismus wurden auf diese Weise die Leistungen von formell institutionalisierten Organisationen mit den informell institutionalisierten Operationen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke integriert, sodass formelle Inklusion über informelle Wege erreicht werden konnte. Germani bezeichnet dies als politische Struktur der totalen Beteiligung (Germani 1962). Eine Reihe nationalpopulistischer Regierungen sind in Lateinamerika entstanden. 1916 wurde Yrigoyen Präsident von Argentinien, 1924 wurde unter der Führung von Haya de la Torre die APRA in Peru gegründet, 1930 übernahm G. Vargas die Macht in Brasilien, 1934 Cárdenas in Mexiko, 1945 wurde Juan Domingo Perón in Argentinien zum Präsidenten erhoben, 1952 wurde Ibáñez in Chile gewählt, und in den 1960er Jahren befanden sich Peru, Argentinien, Brasilien und Chile unter dem Einfluss populistischer Programme. Um die Ziele des Nationalpopulismus zu erreichen, wurde mithilfe des Industrialisierungsprozesses eine wirtschaftsbasierte Infrastruktur errichtet. Die sogenannte In-
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dustrialisierung nach innen (oder importsubstitutive Industrialisierung) sollte durch den Staat nicht nur gefördert und unterstützt, sondern auch kontrolliert werden, und die öffentlichen Ausgaben sollten die Bedürfnisse aller gesellschaftlichen Bereiche erfüllen. Solche Maßnahmen führten zwar die Mehrheit der populistischen Regierungen in die Inflationskrise und zum Zusammenbruch ihrer Regierungsform, sie trugen aber zugleich zur Entwicklung der Infrastruktur des lateinamerikanischen Wirtschaftssystems bei. Um die Ziele des Populismus zu erreichen, musste die Wirtschaft als gesellschaftlicher Integrationsmechanismus konzipiert werden, das heißt, die Wirtschaft musste so manipuliert werden, dass sie die politische Inklusion und Kooptation der armen Massen ermöglichte. Somit wurden Wirtschaftsthemen und -programme von politischen Akteuren und Netzwerken bestimmt. Dass die Wirtschaft unter diesen Umständen keinen Ausdifferenzierungsprozess entfalten und konsolidieren konnte, ist nicht überraschend. Natürlich lagen der Wirtschaft basale Unterscheidungen wie Kauf/Verkauf, Produktion/Konsum, zahlen/nicht zahlen zugrunde, dies galt aber bereits Ende des 16. Jahrhunderts, als sich ein Protomarkt im Bereich der Silberproduktion entwickelte. Die Fähigkeit der Wirtschaft, Unterscheidungen zu treffen, ist ein mögliches Resultat der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, also von Zyklus 1 der Temporalisierung der Selbstreferenz, und zweifellos wurden in der Wirtschaft Lateinamerikas solche Unterscheidungen getroffen. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass ihre Themen und Programme extern gesteuert wurden und somit ihre Selbstreferenz durch Entdifferenzierungsepisoden begrenzt wurde. Sucht man nach den Gründen für den Zusammenbruch der Demokratie in Lateinamerika gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, so muss man bei dieser Einschränkung der Selbstreferenz der Wirtschaft ansetzen. Die Militärregierungen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wirtschaft von der Kontrolle des Staates befreit. Chile, Argentinien, Brasilien und Uruguay zeigten in dieser Hinsicht parallele Entwicklungen auf. Aus der Perspektive der Wirtschaft handelte es sich dabei um eine operative Schließung, d. h. eine Liberalisierung der Wirtschaftsprozesse gegenüber der strikten staatlichen Kontrolle. Das Ziel war die Autonomisierung der Wirtschaft gegenüber staatlicher Überwachung. Die Übernahme der staatlichen Aufgaben durch den Markt wurde vor allem durch folgende Maßnahmen verwirklicht (Ramos 1997): • Entwicklung von Strategien gegen Inflation, die an der Reduzierung des Staatsdefizits orientiert waren. • Privatisierung staatlicher Unternehmen und Reduzierung der Beteiligung des Staates an der wirtschaftlichen Aktivität.
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• Reform des Arbeitsmarktes, der von den nationalpopulistischen Regierungen kontrolliert worden war. Ziel war die Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes. • Handelsliberalisierung. Dies bedeutete hauptsächlich eine Auflösung protektionistischer Strukturen, die der Staat zur Förderung der importsubstituierenden Industrialisierung ergriffen hatte. • Finanzliberalisierung. Durch die Offenheit des Kapitalmarktes wurde versucht, die Zinsenlast, Kreditlinien und die Einschränkungen des Zuflusses ausländischen Kapitals flexibler zu gestalten. • Privatisierung des Rentensystems. • Steuerreform. Diese Transformationen führten den Markt zum vierten Zyklus der Temporalisierung der Selbstreferenz, nämlich zu einer unabhängigen, autopoietischen, selbstproduktiven, selbstregulierten und operativ geschlossenen Operationsform. Betrachtet man denselben Prozess aus der Perspektive der Akteure, zeigt sich, dass auch ein Umbau der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke des Nationalpopulismus stattgefunden hat. Neoliberale Reformen haben in Lateinamerika vor allem in ihrer Anfangsphase zu massiven Sozialunterschieden und Exklusionsproblemen geführt. Aus der Unterscheidung Germanis zwischen Mobilisierung und Integration lässt sich ableiten, dass die neuen privaten Integrationsmechanismen den Erwartungen und Konsummöglichkeiten der Bevölkerung nicht entsprachen. Dies hat zur Bildung neuer informeller Netzwerke geführt, z. B. der informelle Konsum- und Transportsektor in Peru (De Soto 1989), Drogenkartelle in Kolumbien und Bolivien (Escobar 2002), organisierte Kriminalität in marginalisierten urbanen Zonen (Deffner 2007), Korruptionsnetzwerke im Bereich der politischen Operationen auf lokaler und staatlicher Ebene (Pritzl 1997) und andere Formen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken im Bereich des Gesundheitswesens, der Erziehung und der gemeinschaftlichen „policies“ (Dabas/Najmanovich 1995). Sie haben nach wie vor die Funktion, Inklusion zu erzielen, wenn die formell institutionalisierten Mechanismen den Inklusionsdruck nicht absorbieren können. Wie in Kapitel 3 beschrieben, lassen sich diese informellen Inklusions-/Exklusionsvorgänge nicht von den formellen Vorgängen der Organisationen der funktionalen Differenzierung trennen. Die konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung lässt sich durch diese Kopplung charakterisieren.
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4.5 Ausdifferenzierung des Rechtssystems Wenn eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung durch Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet werden kann, ist die Frage nach den Rechtsoperationen von herausragender Bedeutung. Durch die Kopplung von politischen und rechtlichen Operationen gewinnt die Politik an Legitimität. Wird aber das Rechtssystem entdifferenziert, stellt sich das Problem der Machtlegitimierung. Um diese Thematik zu bearbeiten, werden im Folgenden die Positivierung des Rechts, die Bedingungen der Rechtsgeltung, der Prozess der Rechtsänderung, die Entdifferenzierung von Staat und Recht in Lateinamerika analysiert.
4.5.1 Zivilisierung der Macht durch Positivierung des Rechts Die in Lateinamerika entwickelte konzentrische Institutionalisierung ist bis Ende des 20. Jahrhunderts eine durch oligarchische bzw. populistische Akteursnetzwerke geprägte Ordnung, das heißt, die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme ist mit informellen Netzwerken streng gekoppelt. Eine zentrale Stellung politischer Operationen in der Gesellschaftsstruktur ist jedoch keine Besonderheit Lateinamerikas. Die Praxis des Interventionsstaates und des Wohlfahrtsstaates hat gezeigt, dass auch in westeuropäischen Ländern die Politik eine Repräsentation der Einheit anstrebte (Luhmann 1981). Der Unterschied liegt darin, dass in dieser Region das Recht als Vermittlungsstruktur zwischen Politik und anderen Teilsystemen funktionierte, sodass es zu einer Zivilisierung der Macht kam. Zivilisierung der Macht bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man von der Vorstellung Abschied nehmen muss, „[...] daß es die Politik sei, die in einer Aggregation und Vermittlung der divergierenden gesellschaftlichen Interessen und Rationalitäten über das bonum commune entscheide, und daß abweichende oder widerstrebende Meinungen letzten Endes mit dem Zwangsmittel politischer Macht zur Raison gebracht werden könnten“ (Willke 1993: 127-128).
Für moderne funktional differenzierte Gesellschaften gilt vielmehr, dass die Ausübung der Macht und die Verwirklichung des Gemeinwohls unter gesetzlichen Rahmenbedingungen erfolgen, die die Ausdifferenzierung des Rechtssystems und die strukturelle Kopplung von Recht und Politik ermöglichen. Die Funktion der Politik, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, wird insofern nicht direkt über Macht umgesetzt, sondern im Medium der Legalität verarbeitet – was zunächst die Kontingenz der Entscheidungen auf bestimmte juristische Alternativen beschränkt – und dann als Gesetz verabschiedet. Die
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Legitimität der Politik in einer differenzierten Gesellschaftsordnung basiert auf dem Erfolg dieser Kopplung. Aufgrund des Ausdifferenzierungsprozesses von Funktionssystemen und des damit verbundenen Säkularisierungsprozesses basieren die Rahmenbedingungen für dieses Rechtssystem aber nicht mehr auf einer externen überlegenen Instanz (etwa dem Naturrecht). Differenzierung bedeutet für das Rechtssystem (wie auch für andere Teilsysteme), dass es bezüglich des Aufbaus seiner Operatorik auf sich allein gestellt ist. Resultat dieser Einsamkeit ist die Entwicklung einer prozeduralen Rationalität: „Legitimität [lässt] sich gerade nicht über Werte oder Interessen herstellen [...], sondern nur über formale Regeln des Prozessierens von Widersprüchen und Konflikten. Denn es ist die besondere Qualität formaler Regeln und der durch sie konstituierten prozeduralen Rationalität, eine Form der Stabilität zu ermöglichen, welche beinahe beliebiger materialer Variabilität Raum läßt“ (Willke 1996b: 48-49).
Legitimation kommt in diesem Sinne aus dem Inneren des Rechtssystems, aus dem formellen Verfahren, oder genauer: aus der Transformation des Dissens in Konsens im Rahmen des Verfahrens (Luhmann 1983). Voraussetzung hierfür ist eine Positivierung des Rechts, die erst dann erfolgen kann, wenn zwischen moralischen und rechtlichen Normen unterschieden und damit der Kern des Naturrechts aufgelöst wird. Diese Entwicklung findet in Europa im 18. Jahrhundert statt (Luhmann 2005d), also zu Zeiten der bourbonischen Reformen in Lateinamerika. Mit der Positivierung des Rechts wird die Säkularisierung und Rationalisierung der unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsabläufe möglich; es entwickeln sich also die Bedingungen der Möglichkeit einer polyzentrischen Ordnung: „Positivität des Rechts bedeutet, daß Recht in einem Gesetzgebungsverfahren durch Entscheidung gesetzt wird und daß die normative Geltung des Rechts auf dieser Entscheidung beruht; daß die Möglichkeit der Rechtsänderung ihrerseits legalisiert und in Routineverfahren geregelt ist; und daß schließlich alle Beteiligten und Betroffenen sich der Kontingenz des Rechts bewußt sind. Diese Kontingenz des Rechts beinhaltet, daß die Entscheidung eine Auswahl aus Möglichkeiten ist, wodurch andere Alternativen, die auch hätten gewählt werden können, zunächst – und prinzipiell revozierbar – verworfen werden. Die Funktion der Positivierung des Rechts liegt in der Erhöhung der Kontingenz (Optionenvielfalt) und Komplexität des Rechts als Antwort auf die wachsende Kontingenz und Komplexität einer primär funktional differenzierten Gesellschaft“ (Willke 1983: 54).
Wenn die Positivierung des Rechts im Zusammenhang mit der Entfaltung einer polyzentrischen Gesellschaftsordnung steht, so scheint es plausibel, die
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Entstehung einer politisch geprägten Ordnung auf eine Reinterpretation des Positivierungsprozesses des Rechts in Lateinamerika zurückzuführen. Dem Zitat Willkes zufolge lässt sich die Positivierung durch folgende Aspekte charakterisieren: • Rechtsgeltung basiert auf den Entscheidungen und Abschlüssen im Verfahren. • Rechtsänderung ist nur als eine durch das Verfahren legalisierte Selbständerung möglich. • Rechtsordnung und die Entscheidungen sind kontingent im Sinne der Auswahl aus Möglichkeiten. • Rechtskomplexität hängt von Positivierung ab (also von den drei erstgenannten Voraussetzungen). Das Rechtssystem als Vermittlungsstruktur machtbasierter politischer Entscheidungen zu konzipieren ist also an seine Positivierung eng gebunden; existiert diese Positivierung nicht, haben die politischen Akteure keine andere Möglichkeit, als über Macht die Gesellschaft zu integrieren. Das wäre allerdings ein Extremfall. Die konzentrische Institutionalisierung ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass die Positivierung des Rechts mit strukturellen Schwierigkeiten konfrontiert ist, die eben im Ausdifferenzierungsprozess vor allem während des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung haben. Dies hat zur Folge, dass das Recht seine Rolle als Vermittlungs- und Legitimationsstruktur machtbasierter Entscheidungen nicht wirkungsvoll ausüben kann. In der Konsequenz übernehmen die Macht und die Ersatzmechanismen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke die Rolle von Richtern über das Gemeinwohl und die politischen Operationen nehmen eine zentrale Position in der Gesellschaftsordnung ein. Damit definiert sich diese Ordnung nicht nur durch die Regulierung von Dissens, wie in polyzentrischen Institutionen (siehe Willke 1996b: 49 ff.), sondern auch durch die macht-, einfluss-, gewalt-, zwang- und korruptionsbasierte Durchsetzung von Konsens.
4.5.2 Entwertung der Legalität durch Macht Die Positivierung des Rechts setzt voraus, dass die Rechtsgeltung auf Verfahren basiert, oder genauer: auf Abschlüssen in Verfahren. Dass dies z. B. auf die Rechtsordnung des Regimes Rosas in Argentinien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zutrifft, lässt sich kaum bestreiten. Das Projekt Rosas bestand darin, eine totale Entdifferenzierung zwischen Caudillo-Netzwerk,
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Staat und Regierung zu fördern. Die Ordnung wurde durch Ausnahmezustände, durch Eliminierung politischer Gegner und durch direkte und repressive Gesetzgebung durchgesetzt. Abschlüsse oder Verhandlungen im Medium der Legalität fanden nicht statt, denn es wurde nicht versucht, den Dissens zu koordinieren, sondern ihn auszulöschen (Myers 1995). Man könnte die Regierung Rosas als Extremfall betrachten, denn er hatte nicht die Absicht, seine Machtausübung durch eine Verfassung zu begründen. Rosas war aber kein Ausnahmefall. Solche Formen der Entdifferenzierung zwischen Caudillo-Netzwerken, Staat und Regierung, die der Legitimation durch Recht zu entgehen versuchen, tauchen in der lateinamerikanischen Geschichte immer wieder auf, und zwar nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch im 20. und 21. Jahrhundert. Wie bereits erwähnt, entstand die erste argentinische Verfassungsordnung erst 1853. Reformiert wurde sie in den Jahren 1866, 1898, 1957 und 1994. Die Tatsache, dass das Grundgesetz anderthalb Jahrhunderte in Kraft blieb, könnte auf eine extrem stabile politische Ordnung in Argentinien und eine enge Beziehung zwischen Rechtsgeltung und Verfahren hindeuten. Nach Bidart (1992) basierte diese Stabilität auf vier Prinzipien, die in der Verfassung aus dem Jahre 1853 festgeschrieben sind, nämlich: Republik statt Monarchie, Föderalismus statt Zentralismus, Demokratie statt Totalitarismus oder Autoritarismus und Konfessionalismus des Staates statt Agnostizismus. Am Anfang des 21. Jahrhunderts kann aber nicht mehr zwischen Monarchie und Konfessionalismus des Staates unterschieden werden, da die Monarchie als Regierungsform und der Konfessionalismus als Grundlage der politischen Legitimität von der funktionalen Differenzierung ausgelöscht worden sind und Argentinien kaum an politischer Stabilität gewonnen hat. In diesem Sinne ist sogar der Konfessionalismus ein gewaltiges Hindernis für die Positivierung des Rechts. Das Prinzip Föderalismus ist in Argentinien durch den lateinamerikanischen Präsidentialismus permanent geschwächt worden, sodass nur im Bereich gewisser Verwaltungsangelegenheiten von Föderalismus gesprochen werden kann. Nur das Prinzip Demokratie scheint seit 1853 unverändert. Ob dies als Grundlage für die Fortdauer der Verfassung interpretiert werden kann, ist äußerst fraglich, denn die politische Geschichte Argentiniens ist alles andere als demokratisch: „Since the 1930s Argentina has made short pendular swings between authoritarian and democratic regimes in which electoral fraud and coup d’états proved to be favorite mechanisms to gain power. From 1930 to the reestablishment of democracy in 1983 there were six major military coups (1930, 1943, 1955, 1962 and 1976) and numerous minor ones. In the same period there were twenty-five presidents: though one administration (Juan D. Perón’s) lasted ten years. There were twenty-two years of military rule (1930-1931, 1943-1946, 1955-1958, 1966-1973, 1976-1983); thirteen years
104 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika of Peronism, a regime with a populist-corporatist ideology; and nineteen years of restrictive democracy (1932-1943 and 1958-1966). During the periods of restrictive democracy constitutional forms were preserved, the President and the other executive officials were elected and Congress and other representative assemblies functioned, but the majority parties were excluded from electoral participation and otherwise restricted in their activities“ (Lhoëst 1995: 155-156).
Unter diesen Umständen kann man nicht behaupten, dass die Geltung des Rechts auf Abschlüssen im Verfahren basiert. Im Gegenteil: Das Beispiel Argentiniens zeigt mit aller Deutlichkeit, wie die Politik in Lateinamerika durch das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Macht und die Kopplung mit den Ersatzmechanismen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke die Frage nach der Geltung des Rechts übergeht und sich als übergeordnete gesellschaftliche Instanz durchsetzt. Insofern wird eine politisch geprägte Ordnung gerade deshalb gefördert, weil die Rechtsordnung als Vermittlungsstruktur, als Instanz zur Zivilisierung der Macht – die erste Vorbedingung der Positivierung des Rechts – nicht autonom operieren kann. Natürlich ist das keine Besonderheit Argentiniens. Die Verfassung von 1940 in Paraguay ist ein weiteres Beispiel für Machtdurchsetzung über informelle Mittel. Die Legalität wurde dem politischen Willen dabei absolut untergeordnet. Schoeller-Schletter beschreibt diese Verfassung folgendermaßen: „Die Exekutive [...] wurde durch umfassende Kompetenzerweiterungen gestärkt (Auflösung des Kongresses, Erlaß von Dekreten während des Rezesses, Erklärung des Ausnahmezustands, etc.). Der Gerichtsbarkeit wurde vor allem durch das Besetzungsverfahren die Unabhängigkeit genommen (Art. 84). Bei den Grundrechten gab es Einschränkungen; Normen mit sozialen Inhalten wurden eingefügt und weitgehende staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben ermöglicht“ (Schoeller-Schletter 1997: 231).
Wird das Gleichgewicht zwischen den Staatsgewalten zugunsten der Exekutive destabilisiert, verliert das Rechtssystem zunehmend seine Rolle als Instanz der Machtregulierung und wird von der Figur des Präsidenten oder eines Anführers der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke eingenommen. Die Abschlüsse sind dann nicht im Verfahren zu finden, sondern sie werden von einer macht, einfluss-, gewalt-, zwang- und korruptionsbasierten Entscheidungsstruktur abhängig, die als informelles, aber institutionalisiertes Governance-Regime fungiert. Zwar war die Verfassung von 1940 bis 1967 in Kraft; doch das neue Grundgesetz behielt die Kompetenzfülle der Exekutive bei, schuf neue Möglichkeiten zur Wiederwahl und stützte damit das längste Diktaturregime Lateinamerikas: das von A. Stroessner (1954-1989).
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Es gibt noch mehr Beispiele. Seit der Staatsgründung im Jahre 1821 sind in Peru zwölf Verfassungen in Kraft getreten. Bei diesen Zahlen kann man sicher nicht davon ausgehen, dass in diesem Land eine Legitimation durch Verfahren stattgefunden hat. Ähnliches gilt für Kolumbien – ein Land, in dem immer wieder unterschiedliche bewaffnete Gruppen um die Macht gekämpft haben (Garzón Valdés 1997). Die bereits erwähnte zentralistische Verfassung Paraguays von 1940 wiederum basiert auf dem von Getulio Vargas in Brasilien proklamierten Estado Novo. Dessen Hauptziel war: „the substitution of the principle of independence of powers by the supremacy of the Executive“ (Vargas in Veliz 1980: 286-287), anders gesagt: die Durchsetzung der Macht über die Rechtsordnung auf der Basis einer plebiszitär-charismatischen Konzeption des Präsidentialismus (Thibaut 1992). Und auch wenn in Chile bis 1973 eine gewisse demokratische Tradition mit Machtwechsel und freien Wahlen herrschte, waren seit der Einführung des Grundgesetzes im Jahr 1833 die Ausrufung von Ausnahmezuständen und die dem Präsidenten erteilten sogenannten außerordentlichen Befugnisse (facultades extraordinarias) ein Instrument der Exekutive, um die Rechtsordnung zu umgehen, wenn die politischen Bedingungen instabil wurden (Botana 1994: 481 ff.). All diese Beispiele machen deutlich, wie sich eine asymmetrische bzw. asynchrone Beziehung zwischen Politik und Recht entwickelt. Anstelle einer Kopplung von Politik und Recht, durch die Macht im Rahmen der Legalität bleibt, werden im Extremfall Macht und Ersatzmechanismen (Gewalt, Zwang, Korruption, Einfluss) eingesetzt, und zwar ohne Rücksicht auf die Legalität. Somit wird die zentrale Rolle der politischen Operationen ohne Gegengewicht ausgeübt, was die Politisierung anderer Teilbereiche konsolidiert. Dies bestätigt sich im Kontext des Transformationsprozesses des Rechts.
4.5.3 Rechtsänderung als Außerkraftsetzung der Rechtsordnung Neben der Legitimation durch Verfahren sind die Kontingenz und die Transformation des Rechts weitere Kennzeichen des Positivierungsprozesses. Rechtsänderung setzt voraus, dass geltendes Recht im Rahmen der Legalität geändert und durch neue Gesetze ersetzt wird. Nur so kann die Transformation des Rechts als Selbständerungsprozess betrachtet und seine Kontingenz als Auswahl aus Möglichkeiten verstanden werden: „Zur Positivität gehört, daß das ‚jeweils‘ geltende Recht als Selektion aus anderen Möglichkeiten bewußt wird und kraft dieser Selektion gilt. Das jeweils geltende positive Recht schließt die anderen Möglichkeiten zwar aus, eliminiert sie aber nicht aus dem Horizont des Rechtserlebens, son-
106 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika dern hält sie als mögliche Themen des Rechts präsent und verfügbar für den Fall, daß eine Änderung des geltenden Rechts opportun erscheint“ (Luhmann 1999b: 125).
Die Opportunität der Änderung wird rechtlich entschieden. Die Kontingenz der Entscheidungen und der Rechtsordnung impliziert keine Kontingenz des Rechtssystems selbst, solange es in der Gesamtgesellschaft der Erfüllung einer bestimmten Funktion dient (Luhmann 2005d), die als Regulierung von Dissens oder als Stabilisierung von Erwartungsstrukturen definiert werden kann. Im Falle einer konzentrischen Institutionalisierung kann man jedoch nicht behaupten, dass das Rechtssystem aufgrund seiner Probleme bei der Entwicklung der Selbstreferenz kontingent geworden sei und man infolgedessen darauf verzichten könne, über das Rechtssystem zu operieren. Immerhin setzt eine konzentrische Institutionalisierung Differenzierung voraus. In bestimmten Episoden aber wird dieses Rechtssystem ausgehebelt, indem die Rechtsordnung durch Ausnahmezustände suspendiert wird oder ihre Änderung nur durch Machtund Gewaltdurchsetzung (Militärputsche, ziviler Autoritarismus) erfolgt. In diesen Fällen übernimmt die Macht die Rolle des Rechts. Daraus entsteht keine Legitimation durch Verfahren, denn Macht ohne Kopplung mit Recht setzt die (fast immer gewalttätige) Auflösung des Dissenses voraus. Ausnahmezustände gelten vielmehr als zeitliche Suspendierung der Rechtsordnung und des Verfahrens. Loveman hat diese Problematik historisch aufgeschlüsselt: • Schon mit dem ersten Staatsgrundgesetz (Bill of Rights) Argentiniens von 1811 wurde der Ausnahmezustand als Außerkraftsetzung der Rechtsordnung eingeführt: „From this time Argentina would never be without constitutional foundations for dictatorship“ (Loveman 1993: 268). Dies wird von Garzón-Valdés für das 20. Jahrhundert bestätigt: „im Fall Argentinien z. B. währte der Ausnahmezustand in den 53 Jahren zwischen 1930 und 1983 insgesamt 35 Jahre lang. So kann die Verfassung nicht einmal die Aufgaben erfüllen, die sich ihre Schöpfer zumindest formal gestellt hatten“ (Garzón Valdés 1997: 329). • Die sogenannten sofortigen Sicherheitsmaßnahmen (medidas prontas de seguridad) der Verfassungsdebatten von 1828-1829 in Uruguay, die in die Verfassung von 1830 mündeten, legten nach Loveman die Basis für eine mögliche Außerkraftsetzung der Rechtsordnung, die sich hundertfünfzig Jahre später – im Jahr 1970 – in Staatsterror verwandelte (Loveman 1993: 294 ff.). • Durch die Verfassung von 1870 wurde in Paraguay der Ausnahmezustand zur Außerkraftsetzung der Rechtsordnung eingesetzt: „In the next eighty-
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five years Paraguay had forty-four presidents, most of whom experienced considerable internal commotion and adapted the ambiguity of the state of siege clause to suit their immediate needs“ (Loveman 1993: 310). • Die zahlreichen Verfassungen, die in Bolivien zwischen 1825 und 1870 verabschiedet wurden, sahen ebenfalls die Möglichkeit der Außerkraftsetzung der Rechtsordnung durch einen von der Exekutive einberufenen Ausnahmezustand vor. • In Chile traf die zentralistische Verfassung von 1833, die vor allem die Bekämpfung der politischen Instabilität vorheriger Jahre zum Ziel hatte, eine Reihe von Vorkehrungen, die „with some alterations, survived a new constitution in 1925 and served as the legal rationale for actions of the military junta that ousted President Salvador Allende in 1973“ (Loveman 1993: 332). Nach Loveman bildete Peru zu Beginn seiner Verfassungsentwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern – eine Ausnahme: „Executives had no constitutional authority to suspend the constitution, to declare a regime of exception unilaterally, or to suspend operation of legislature“ (Loveman 1993: 218). Wenn man aber die Verfassungsgeschichte Perus näher betrachtet, scheint zumindest fraglich, ob Peru tatsächlich eine Ausnahme bildete (Saligman 1995). Seit der Unabhängigkeit im Jahre 1820 wurden zwölf Verfassungen entworfen (1823, 1826, 1828, 1834, 1839, 1856, 1860, 1867, 1920, 1933, 1979 und 1993), zehn davon wurden in Kraft gesetzt (García 2000). Bei dieser Entwicklung kann man nicht von Verfassungsstabilität sprechen, sondern eher von einer hierarchisch geprägten Anpassung der Rechtsordnung an die politischen Ideologien. Die Politik versteht das Recht als Instrument zur Durchsetzung des politischen Willens und nicht als eine autonome Instanz zum Aufbau struktureller Kopplungen. Dies ermöglicht nicht nur die Außerkraftsetzung der Rechtsordnung durch den Ausnahmezustand, sondern auch die nicht reflexive Änderung dieser Rechtsordnung durch die politische Macht, d. h., die De-facto-Regierungen entwickeln eine verbindliche Normierung, die an die Stelle der Verfassung tritt oder als deren vorläufige Ergänzung gilt: „Under the various military dictatorships in Argentina the 1853 Constitution was even officially reduced to a second plan by the so-called ‚Revolutionary Statutes‘. Although the Military formally pledged their loyalty to the Constitution, in reality important parts of the Constitution were suspended by the Statutes“ (Lhoëst 1995: 156-157).
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Ähnliches gilt für die chilenischen bandos (Militärverordnungen) unter der Diktatur Pinochets in den 1970er Jahren. Die Änderung der Rechtsordnung erfolgt hier nicht über das Verfahren und nicht aufgrund eines juristischen Reflexionsprozesses, sondern über eine politische Durchsetzung und infolge der Faktizität der Macht im Rahmen des Ausnahmezustandes (Mascareño 2005). Neves spricht in diesem Zusammenhang von einer faktischen Entkonstitutionalisierung oder von einem rein politischen Verfassungswechsel: „Es entsteht dann ein neuer Verfassungstext ohne eine konsistente Bindung an die aus dem vorgängigen Verfassungstext hervorgehende Normativität, vor allem ohne jegliche Begründung in vorgegebenen rechtlichen Verfahren“ (Neves 1996: 310).
Nach Saligmann (1995: 222) ist das eine übliche politische Praxis in Lateinamerika: Werden Verfassungsänderungen geplant, dann wird dies nicht durch die von der Verfassung vorgezeichnete Form thematisiert, was eine Selbstreflexion des Rechts voraussetzen würde, sondern es wird eine besondere verfassungsgebende Versammlung einberufen, um die ganze Rechtsordnung zu ändern. Ursprung und Basis der Verfassungsänderung bleibt aber in all diesen Fällen die Macht sowie die Ersatzmechanismen und nicht die Selbstreflexion im Rechtssystem.
4.5.4 Symbolische Konstitutionalisierung Unter den geschilderten Umständen stellt sich die Frage, ob eine konzentrische Institutionalisierung durch einen Rechtsstaat gekennzeichnet ist. Diese Frage wird von García deutlich beantwortet: „Wir glauben behaupten zu können, daß innerhalb des Kontextes, den wir beschreiben, der Terminus Rechtsstaat einen Euphemismus darstellt, der die Entwicklung möglicher Techniken zur Institutionalisierung eines permanenten Ausnahmestaates verdeckt“ (García 1985: 98).
Die von García geschilderten Verhältnisse beziehen sich auf die Doktrin der inneren Sicherheit. Nach García impliziert diese Doktrin eine Negation des Rechtsstaates – als Garantie der individuellen Freiheit und Prinzip der Gewaltenteilung. In Bezug auf das Thema des Ausnahmezustandes als Außerkraftsetzung der Rechtsordnung und die dominierende Rolle der Exekutive im Rahmen der Gewaltenteilung scheint die These Garcías plausibel – jedoch nur, wenn man die Problematik unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung funktionaler Teilsysteme betrachtet. García betrachtet sie aber als ein rein ideologisches Problem. Die Tatsache, dass die Exekutive in dem von ihm untersuchten Fall
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Uruguays in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Judikative kontrollierte, erklärt sich seiner Ansicht nach „[. . . ] durch die Unfähigkeit der herrschenden Gruppen, die offizielle Ideologie der Streitkräfte [nämlich: die Doktrin der Inneren Sicherheit] innerhalb der Gruppe der ‚Männer des Rechts‘ durchzusetzen“ (García 1985: 100).
Insofern ist der Ausnahmestaat „eine vollendete Tatsache, bei der es darum geht, ihr einen juristischen Status zu verschaffen“ (García 1985: 99). Der Ausnahmestaat ist also ideologisch gesichert; er muss nur rechtlich umgesetzt werden. Mit dieser Erklärung wird die Komplexität des Unterschiedes Rechtsstaat/Ausnahmestaat aber nicht hinreichend erfasst. Der Begriff Rechtsstaat bezeichnet in einer funktional differenzierten gesellschaftlichen Konstellation die strukturelle Kopplung von Politik und Recht. Schon die Zusammensetzung des Begriffs impliziert, dass es sich dabei um zwei differenzierte, aber wechselseitig abhängige Systeme handelt. „Einerseits ist der moderne Staat ohne die Gesetzesförmigkeit seiner Verfassung und ohne die Gesetzesbindung seiner Verwaltung kaum vorstellbar. Andererseits wird die Gesetzgebungsmaschine politisch angetrieben, und sie liefert einen der großen Mechanismen, mit denen Politik sich in sofort sichtbare Erfolge, eben Gesetze, umsetzt“ (Luhmann 1999b: 155).
Ein Ausnahmestaat wäre folglich durch eine Entkopplung von Politik und Recht gekennzeichnet, bei der die zentrale politisch institutionalisierte Konstellation von formellen und informellen Strukturen die Funktion des Rechts für sich beansprucht und die Gesetzesförmigkeit ihrer Verfassung definiert. Mit anderen Worten hat die konzentrische Institutionalisierung entdifferenzierende Auswirkungen auf das Rechtssystem. Denn unter diesen Bedingungen wird nicht nur die Gewaltenteilung hierarchisiert und die Legislative und Judikative der Exekutive untergeordnet, sondern auch die Verfassungsordnung (Nino 1995). Am Beispiel Brasiliens hat Neves im Rahmen seiner Theorie der symbolischen Konstitutionalisierung bzw. nominalistischen Verfassung diese Entdifferenzierung von Politik und Recht als „die hypertroph politisch-ideologische Funktion des Textmodells der Verfassung“ definiert (Neves 1996: 316). Mit Bezug auf die Sozialpraxis unterscheidet Neves zwischen instrumentellen, expressiven und symbolischen Variablen. Instrumentelle Variablen sind durch Zweck-MittelBeziehungen charakterisiert, expressive Variablen durch die Vermengung von Handeln und Befriedigung eines Bedürfnisses und symbolische Variablen durch die Lösung von Interessenkonflikten. Rechtssysteme funktionieren hauptsächlich auf der Basis instrumenteller und symbolischer Variablen, sodass das
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Ungleichgewicht zwischen den beiden Variablen zu problematischen Fehlleistungen des Systems führt. Wenn die Verfassungsgebung der politischen Macht unterliegt, erfüllt die Verfassungsordnung mehr eine politische als eine rechtliche Funktion. Damit werden im symbolischen Bereich Lösungen vorgeschlagen, die nicht als Resultat einer Reflexion aus konkreten Verhältnissen und Normierung entstehen, sodass die instrumentelle Wirksamkeit des Rechts als Mechanismus für Konfliktlösung und Stabilisierung von Erwartungsstrukturen versagt (Neves 1992). Daraus resultieren die Schwierigkeiten bei der normativen Konkretisierung der Verfassungsbestimmungen (entkonstitutionalisierende Konkretisierung), die zugleich das politische System gegen andere Alternativen immunisieren, denn die hypertroph politische Funktion des Verfassungstextes blockiert die konkrete Beobachtung scheinbar normierter gesellschaftlicher Probleme und erschwert die Transformation der sozialen Ordnung im Rechtsstaat (Neves 1996). Daraus schließt Neves: „Was spezifisch die Verfassung angeht, kann man beobachten, daß sie weder als Mechanismus der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems noch als strukturelle Kopplung von Politik und Recht ausreichend funktioniert. Einerseits wird das Verfassungsrecht durch verschiedene gesellschaftliche Faktoren, Kriterien und Präferenz-Codes blockiert, ohne ihre Filterungsfunktion gegenüber den umweltlichen Einflüssen auf das Rechtssystem zureichend zu erfüllen. Andererseits impliziert die selbstund fremddestruktive Beziehung zwischen Politik und Recht die Implosion der Verfassung als struktureller Kopplung von beiden Systemen, besonders zu Lasten der Autonomie des Rechtssystems. Der Einfluß der Politik auf das Recht wird in großem Ausmaß und relevanterweise nicht gefiltert durch die rechtsstaatlichen Verfassungsverfahren“ (Neves 1997: 514).
Mit Bezug auf Brasilien fügt Neves hinzu, dass sich anstelle von Autopoiesis des Rechts von Allopoiesis des Systems sprechen ließe: „Das systemische Problem besteht primär nicht in dem Mangel an kognitiver Offenheit (Fremdreferenz), sondern in der unzureichenden operationellen Geschlossenheit (Selbstreferenz), was die Konstruktion der eigenen Identität des Rechtssystems verhindert“ (Neves 1997: 513).
Dies führe zu einer Überlagerung des Codes Recht/Unrecht durch andere Präferenzcodes, was die zirkuläre Selbstproduktion des Rechts verhindern würde (Neves 2006, 2007). Anknüpfend an das in Kapitel 2 vorgeschlagene Schema zur Temporalisierung der Selbstreferenz möchte ich hier nicht von Allopoiesis des Rechts in der Region Lateinamerika, sondern von Entdifferenzierungsepisoden sprechen. Entdifferenzierungsepisoden sind weder total noch permanent, d. h., sie besetzen das breite Feld der rechtlichen Kommunikationen nicht,
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sondern ersetzen bestimmte spezifische Konstellationen rechtsbasierter Komplexität (Elemente und Relationen) durch politisch basierte Kommunikationen (Mascareño 2005). Bei bestimmten Vorgängen kann zwar das Recht nicht selbstproduktiv bzw. autopoietisch operieren (Zyklus 4) – vor allem wenn es um politisch wichtige Grundfragen geht, die die Interessen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken betreffen; bei anderen kann aber das Recht als System selbstbeschreibend, selbstorganisatorisch und selbstproduktiv frei funktionieren, d. h., es erfüllt die Erwartungen der vier Zyklen der Selbstreferenz, z. B. bei der Regulierung von Wirtschaftsverträgen, Zivil- und Strafprozessen. In diesem Sinne möchte ich behaupten, dass es in der Region Lateinamerika ein ausdifferenziertes Rechtssystem gibt, das sich aber episodisch Entdifferenzierungsprozessen und Interventionen unterwirft. Die konzentrische Institutionalisierung wird hier auf der Ebene der Beziehungen zwischen Politik und Recht reflektiert. Es handelt sich dabei um die Existenz funktionsspezifischer Teilsysteme, deren Selbstreferenz sich noch nicht vollständig entfaltet hat, was die Immunisierung gegen externe Interventionen – vor allem der formellen und informellen politischen Operationen – erschwert und Entdifferenzierungsprobleme entstehen lässt. Betreffen diese Entdifferenzierungsprobleme das Rechtssystem, so verliert die Rechtsordnung an normativem Gehalt, denn die Funktion wird nicht ausreichend erfüllt oder bestenfalls durch die Vermittlung der Politik ausgeübt. Es findet dann episodisch eine faktische Entkonstitutionalisierung statt, d. h., „die semantische Entwertung des Verfassungstextes im Prozeß seiner Konkretisierung“ (Neves 1996: 312-313). Hier bietet sich ein Weg, die Problematik der Kluft zwischen Verfassungsordnung und Verfassungswirklichkeit in Lateinamerika neu zu bewerten. Die Kluft entsteht nicht, wie bisher angenommen, durch mangelnde Anpassung der Verfassungsordnung an die Wirklichkeit, sondern durch die intervenierende Rolle formeller und informeller politischer Konstellationen, die die operative Schließung des Rechtssystems blockieren. Wird das selbstreferenzielle Niveau der operativen Schließung vom Rechtssystem nicht erreicht, dann führt jeder Kopplungsversuch mit der politischen Konstellation formeller und informeller Vorgänge zur Entdifferenzierung und zur Reproduktion der faktischen Entkonstitutionalisierung. Die Kluft entsteht vor allem durch ein politisch gesteuertes Rechtssystem, nämlich durch häufige Militärputsche, durch Ausnahmezustände, durch die nicht selbstreflexiven Prozesse der Verfassungsänderung, durch Unterordnung der Gewalten der Exekutive, durch nackte Gewaltanwendung, durch gemeinschaftlichen Einfluss und Korruption. Damit wird letztendlich die Positivierung der Rechtsordnung in Lateinamerika blockiert, d. h., die Legitimation durch Abschlüsse in Verfahren, das Verfahren zur Gesetzesänderung und
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die Kontingenz der Entscheidungen als Auswahl aus Möglichkeiten können ihre Zyklen (vor allen 3 und 4) nicht abschließen. Nach Luhmann gibt es zwei Vorbedingungen für die Absicherung der Positivität des Rechts, nämlich Demokratie und Wirtschaftsprimat (Luhmann 1999b: 148 ff.). In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Lateinamerika beide Voraussetzungen erfüllt. Nach den Militärdiktaturen sind Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt worden, die im Vergleich zu den autoritären Zeiten eine Verbesserung der Lage darstellen, auch wenn sich Länder wie Peru, Paraguay, Bolivien, Ecuador oder Venezuela Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch in einer instabilen Anfangsphase der Demokratisierung befinden oder zu populistischen Regierungen neigen. Andererseits haben einige Länder durch radikale Wirtschaftsreformen ein autonomes Wirtschaftssystem aufgebaut. Beide Transformationen stellen große Anforderungen an die Rechtspraxis und können zur Positivierung des Rechts beitragen. Dies wird in Kapitel 6 dieser Untersuchung erforscht. An dieser Stelle geht es nur um die Analyse des genetisch-strukturellen Anbruchs der konzentrischen Institutionalisierung. Aus der Perspektive des Rechtssystems entsteht sie aus den Hindernissen für die Positivierung des Rechts, die die zentrale politisch institutionalisierte Konstellation von formellen und informellen Strukturen interveniert. Damit wird es dem Recht episodisch unmöglich, seine Rolle als Vermittlungs- und Legitimationsstruktur machtbasierter Entscheidungen wirkungsvoll auszuüben. Mit anderen Worten: Das Medium der Geltung stellte kein besonderes Gegengewicht zur Macht dar und konnte die Entwicklung einer konzentrischen Institutionalisierung nicht verhindern.
4.5.5 Konsequenzen für die Regionalisierung Lateinamerikas Wenn die Kopplung von Politik und Recht im Rahmen eines Rechtsstaates erfolgt, werden die politischen Entscheidungen im Medium des Rechts verarbeitet. Dadurch gewinnt sowohl das Recht an Durchsetzungskraft als auch die politischen Entscheidungen an Geltung. Wenn aber eine solche Kopplung nicht zustande kommt, wird das Medium der Geltung bei der faktischen Durchsetzung der politischen Entscheidungen durch weitere Mechanismen ersetzt – vor allem durch Gewalt, aber auch durch Korruption und Einfluss über Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke. Unter diesen Bedingungen wird der Unterschied Inklusion/Exklusion nicht durch die Universalkriterien des Rechts reguliert, sondern durch den Partikularismus der an der Macht stehenden Akteure: Eingeschlossen werden diejenigen, die die Ideologie solcher Akteure teilen oder keine andere Wahl haben, als sich diesen unterzuordnen (Japp 2007). Auf der anderen Seite werden konkrete Individuen ausgeschlossen, die dies nicht tun. Dies
4.5. Ausdifferenzierung des Rechtssystems | 113
radikalisiert die Unterscheidung zwischen informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen, die auf einer territorialen Basis operieren, und den formellen Inklusions- und Exklusionsmechanismen funktional differenzierter Systeme. Wie in Kapitel 3 festgestellt, entstehen die Mechanismen von Gewalt, Korruption und Zwang, die auf Einfluss angewiesen sind und über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke agieren, aus früheren Differenzierungsformen. Schichtung operiert als Inklusions-/Exklusionsmechanismus in stratifizierten Gesellschaften; Reziprozität tut dasselbe in segmentären Gesellschaften (Luhmann 1997). Korruption ist in diesem Sinne eine derivative Form der Reziprozitätsnetzwerke im Rahmen der funktionalen Differenzierung, die immer dann auftaucht, wenn die Erwartungen differenzierter Systeme, mit dem entsprechenden Medium zu operieren, enttäuscht werden, z. B. wenn politische Leistungen durch Zahlungen erreicht werden. Gewalt, der symbiotische Mechanismus der Macht, kann erst dann unter zentralisierte Kontrolle gebracht werden, wenn die Kopplung von Politik und Recht im Rahmen eines Rechtsstaates zustande kommt und gefestigt wird. Existiert diese Kopplung nicht, dann wird die Gewalt zum Mechanismus, an die Macht zu gelangen. Bei der Entstehung von informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen operieren solche Mechanismen nacheinander auf integrierte Weise. Wenn die Kopplung Politik-Recht instabil wird, dann wird Gewalt oder Zwang zum faktischen Erfolgsmedium der Entscheidungsdurchsetzung unterschiedlicher Akteure. Das ist z. B. in Kolumbien und Guatemala der Fall, wo Gewalt und Zwang als verbreitete gesellschaftliche Mechanismen dienen (Moser 2003). In manchen Fällen ist Schichtung die Quelle der Gewaltanwendung. Die Ungleichheit der Schichtung, die über Recht oder public policies nicht überwunden werden kann, zeigt sich in den Ethnizitätsunterschieden und der Armut. Gibt es keine formell institutionalisierten Mechanismen, um in die Leistungen der Funktionssysteme eingeschlossen zu werden, dann sucht man alternative Wege, um an solche Leistungen zu gelangen. Im Bereich Ethnizität zeigen die Beispiele von Chiapas in Mexiko in den 1990er Jahren, der Mapuches in Chile und der indigenen Bewegung in Bolivien im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, wie sich Exklusion und das Fehlen bzw. die Instabilität der Inklusionsmechanismen in Gewalt verwandeln können (Speed 2002; Goldstein 2005; Eaton 2007; Fenelon/Hall 2008). Es wird eine politische Lösung gefordert, nämlich Autonomie vom Nationalstaat, was die Politisierung der Gesellschaftsexklusion voraussetzt und keine wahre Lösung des Exklusionsproblems darstellt. Armut ist offenbar damit verbunden. Das Bild wird in diesem Sinne komplexer, denn die Schichtung der Ethnizität wird mit der Schichtung der Armut gekoppelt, was zur Folge hat, dass das Problem nicht nur aus der Sicht der Identität beschrieben
114 | Kapitel 4. Strukturevolution in Lateinamerika
und behandelt werden muss, sondern auch aus der Sicht der Klassen- bzw. Schichtungsunterschiede. Unter solchen Bedingungen werden Gewalt und Zwang zu Inklusionsmechanismen, wenn die rechtlichen Maßnahmen eines Rechtsstaates nicht vollständig und universal operieren und der Zugang zu den Leistungen von Funktionssystemen nur über die Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke gewährleistet ist. Wenn Gewalt oder Zwang zu faktischen Erfolgsmedien der Entscheidungsdurchsetzung werden, bilden sich Kooptationsnetze, in denen die Mitglieder auf Mechanismen der Reziprozität und Korruption angewiesen sind. Es entsteht in diesem Sinne ein Koordinationsmechanismus, der als Inklusions- und Exklusionsmediator operiert: Freien Zugang zu den Leistungen von Funktionssystemen erhält man nur dann, wenn man in die Reziprozitätsnetzwerke eingebunden ist und sich auf die Möglichkeit des Tausches von Leistung gegen Leistung oder Leistung gegen Zahlung einlässt. Für Lateinamerika fasst Pritzl (1997) dies unter dem Begriff der Korruption zusammen. Er unterscheidet zwei Formen von Korruption: Korruption (1) als Abweichung vom öffentlichen Interesse und (2) als Mangel an Amtsregeln und Prozeduralisierung in Regionen, in denen traditionelle Werte und Verhaltensweisen herrschen. Wie in Kapitel 3 vorgeschlagen, stützen sich die Mechanismen des Einflusses und der Korruption, der Gewalt und des Zwangs auf Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke, die diese Verhaltensweisen fördern und sie in Zusammenhang mit der wachsenden funktionalen Differenzierung bringen. Auf diese Weise entwickelt sich eine Form der konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung, in der die politische Macht gegebenenfalls ohne Berücksichtigung der Rechtslage oder direkt durch eine Instrumentalisierung des Rechts die Operation der Netzwerke und der Ersatzmechanismen übernimmt und kontrolliert. Historisch betrachtet basieren solche Konstellationen auf den CaudilloRegimes; gegenwärtig lässt sich dies deutlich bei den populistischen Regierungen Lateinamerikas beobachten – wie bei Chávez in Venezuela oder Correa in Ecuador. Gewisse lokale Governance-Regimes operieren unter den gleichen Prämissen, wie die der kolumbianischen Drogenkartelle, der organisierten Kriminalität und der informellen Wirtschaft in vielen Armenvierteln lateinamerikanischer Großstädte (Gilbert 1997; Márquez 2004; Gill 2007; Deffner 2007). In all diesen Fällen kann man von formellen und informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen sprechen, die sich darin unterscheiden, ob und wie die Leistungen der Funktionssysteme erreicht werden und wer auf welche Weise den Zugang zu solchen Leistungen kontrolliert – sei es über die rechtlichen und universellen Maßnahmen eines Rechtsstaates (public policies) oder über die partikularistischen Strukturen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke.
5 Semantik der Moderne in Lateinamerika Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme auf globaler Ebene setzt nicht nur eine weltweite Prozeduralisierung unterschiedlicher Operationsbereiche spezifischer Funktionen voraus, sondern auch die im Kommunikationsprozess entstandenen Beschreibungen und Selbstbeschreibungen solcher Operationen, die man in der Systemtheorie als Semantik bezeichnet (Luhmann 1998). Jedes System konstruiert seine eigene innergesellschaftliche Umwelt, seine eigene wahre Fiktion, die zur Regulierung der System/Umwelt-Verhältnisse dient. Handlungsintentionen, Interessen und Welthorizonte divergieren je nach System. Die Welt selbst wird „zur imaginären Meta-Welt aller Welten, die sich bilden, wenn Systeme System und Umwelt unterscheiden“ (Luhmann 2005e: 16). Was daraus entsteht, ist eine komplexe und kontingente Weltvorstellung ohnegleichen in der Gesellschaftsevolution – eine Welt, in der Gesellschaftsstruktur und Semantik zwar nebeneinander, aber in unterschiedlichen Registern laufen und sich wechselseitig beeinflussen: „So wird man davon ausgehen müssen, daß die Differenzierungsform teils direkt, teils indirekt, nämlich vermittelt durch die Komplexitätslage des Gesellschaftssystems, semantische Korrelate produziert“ (Luhmann 1998: 34).
Im 19. Jahrhundert sind wir in Lateinamerika mit einer besonderen Komplexitätslage des Gesellschaftssystems konfrontiert, die vielleicht zu jener Zeit auch in Afrika und Asien, aber nicht in Europa zu finden ist. Zu dieser Zeit ist die funktionale Differenzierung im Begriff, das Primat der gesellschaftlichen Differenzierungsform in Lateinamerika zu übernehmen. Stratifizierte und durch eine Zentrum/Peripherie-Unterscheidung bestimmte Formen aus der Kolonialzeit sind aber noch nicht völlig abgeschafft, ebenso wenig wie die segmentäre Gesellschaftsorganisation indigener Völker. Wie in den ersten Kapiteln ausgeführt, entwickeln sich daraus derivative Strukturen in Form von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken. Unter der Annahme, dass die Differenzierungsform direkt oder indirekt semantische Korrelate produziert, stellt sich aus systemtheoretischer Sicht die Frage, was für Selbstbeschreibungen die Gesellschaft produziert, wenn unterschiedliche Differenzierungsformen um das Primat der gesamtgesellschaftlichen Steuerung kämpfen.
116 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika
In einer funktional differenzierten Gesellschaft erscheint die Welt als Kontingenz: „Der Weltbegriff bezeichnet nicht mehr den Grund, sondern die Kontingenz alles Seienden; er bezieht sich nach der nominalistischen Wendung des Denkens nicht mehr auf eine kosmische Sphäre des Notwendigen, unter welcher die Faktizität des Wechsels, der Bewegung, des bloß Möglichen zum Problem wird; sondern meint umgekehrt die Kontingenz selbst, innerhalb derer es dann zum Problem geworden ist, Notwendigkeiten, Wahrheiten, Schönheiten, Geltungen zu begründen“ (Luhmann 1971: 379 f.).
Was ist aber, wenn die mythische Geltungsbegründung einer segmentären Differenzierungsform, die metaphysisch-religiöse und neonaturalistische Geltung eines kolonialen Gesellschaftssystems und die Kontingenz alles Seienden einer funktional differenzierten Gesellschaft, die im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung operiert, sich treffen, nebeneinander herlaufen und sich wechselseitig beeinflussen? Der Prozess der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert ist geprägt durch den immanent polyzentrischen Charakter einer funktionalen Differenzierung und die Kommunikationen einer zentralen politisch institutionalisierten Konstellation, welche einheitliche neonaturalistische Begründungen sucht, um ihre Position an der Spitze des Gesellschaftssystems gegenüber mythischen und sich formierenden systembezogenen Semantiken zu behaupten (Mascareño 2000b). Daraus entsteht ein strukturelles Spannungsfeld zwischen zentralisierenden und dezentralisierenden Operationen, deren semantisches Korrelat ich durch die Unterscheidung von Semantik der Einheit und Semantik der Differenz charakterisieren möchte. Die Semantik der Einheit in Lateinamerika im 19. Jahrhundert versucht, die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Regulierung zu begründen – sei es in Form eines universellen und positivistischen Fortschrittsvorurteils, das die Einheit der Zivilisation betont, oder in Form eines transzendentalen Identitätsvorbildes, das die Einheit des lateinamerikanischen Wesens akzentuiert. Das Fortschrittsvorurteil verwendet im 19. Jahrhundert die Semantik der Barbarei, die über politische Interventionen und Kontrolle in Zivilisation verwandelt werden müsse. Traditionen und die Pluralität von Sinnwelten sind aus dieser Sicht aus den neu gegründeten, modernen Nationalgesellschaften zu verbannen. Aus dieser einheitlichen Gesellschaftsvorstellung entwickelt sich im 20. Jahrhundert auf semantischer Ebene ein einheitliches transzendentales Identitätsvorbild. Diesem liegt die Idee zugrunde, dass Lateinamerika anders als Europa und Nordamerika sei, nämlich eine unitär stilisierte barocke Welt. In beiden Fällen handelt es sich um eine politisch gesteuerte normative Semantik, die entweder
5.1. Semantik der Einheit | 117
die Notwendigkeit einer transzendentalen Kulturidee oder die Notwendigkeit einer bestimmten Fortschrittsvorstellung der Moderne Lateinamerikas betont. Die Semantik der Differenz hingegen berücksichtigt die Kontingenz und Vielfältigkeit der funktionalen Differenzierung und versucht, dem Gravitationsfeld der normativen Einheit zu entkommen. Eine Semantik der Differenz schließt Interpretationen Lateinamerikas ein, die die divergierenden Tendenzen sich ausdifferenzierender Teilsysteme und eine Pluralität von Sinnwelten anerkennen und dazu beitragen, die Zentralisierung politischer Kommunikationen zu minimieren. Die Untersuchung dieser Problematik wird im Folgenden in drei analytischen Feldern durchgeführt: in der protosoziologischen Essayistik des 19. Jahrhunderts (5.1), in der künstlerischen Literatur des 20. Jahrhunderts (5.2) und in der Entwicklung der Gesellschaftsbeschreibung der lateinamerikanischen Soziologie (5.3).
5.1 Semantik der Einheit im 19. Jahrhundert Eine wichtige Rolle im Rahmen einer Semantik der Einheit spielt das Fortschrittsvorurteil, das im 19. Jahrhundert in Lateinamerika in der Unterscheidung Zivilisation/Barbarei zum Ausdruck kommt (Kirkpatrick 2004). Die konservative Politik in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertritt diese Position: Andrés Bello interpretierte beispielsweise die staatlich gesteuerte Erziehung als Basis für die Entwicklung demokratischer Institutionen und die Überwindung der Barbarei, die zu einem vom Staat gesteuerten, hierarchischen Konsens geführt habe (Botana 1994). Diego Portales diagnostiziert 1832, dass sich „das Land [Chile] in einem Zustand der Barbarei“ befindet (Portales in Grez 1995). Vor allem sind es aber die argentinischen Denker Sarmiento und Alberdi (die Generation von 1837), die die Unterscheidung Zivilisation/Barbarei als Interpretations- und Steuerungsschema verwenden – sei es, um den Unterschied zwischen Stadt und Land zu beschreiben, wie in Sarmientos Roman Facundo: civilización y barbarie en las pampas argentinas (1945[1854]), oder um die Einwanderungsstrategien zu rechtfertigen, wie im Falle Alberdis. Über die protosoziologische Analyse Sarmientos und Alberdis wurde bereits in Kapitel 3 gesprochen. Interessant ist nun, die literarischen Beschreibungen dieser beiden Autoren näher zu betrachten. Sarmientos berühmter Roman Facundo von 1854 – ein Roman über den argentinischen Regional-Caudillo Facundo Quiroga – zeigt deutlich die Verbindung zwischen einer Semantik der Einheit und einem Fortschrittsvorurteil. Er identifiziert die vormodernen gesellschaftlichen Strukturen und die kulturelle Differenz als Barbarei. Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf den lateinameri-
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kanischen Großgrundbesitz (die Hacienda), auf den sich Caudillos wie Facundo Quiroga und Juan Manuel de Rosas politisch und wirtschaftlich stützten (Hale 1996), als auch auf die indianische Bevölkerung, ihre Traditionen und Geschichte (Berg 1995). Kulturell gesehen bedeutete dies die Negation uralter Kulturformen Lateinamerikas, wie der spanischen Erbschaft, die von ihm als Barbarei bezeichnet wurden. Sein Ziel war die Unterstützung und Förderung eines sozialstaatlichen Zusammenlebens, das er als Zivilisation identifiziert. Sein Begriff von Zivilisation basiert auf Ideen, Institutionen, industriellen Gütern und Technologien europäischer Gesellschaften – also auf einer Vorstellung von Zivilisation französischer Prägung (Katra 1986). Der Fortschrittsbegriff wird damit als Grundlage der Unterscheidung Zivilisation/Barbarei etabliert: „So zeigte Sarmiento in Facundo ein nahezu bedingungsloses und unbegrenztes Vertrauen in das kulturelle und politische Potential jener europäischen Staaten, die er [...] immer noch ansieht als die Bannerträger des universellen Fortschrittes“ (Berg 1995: 159).
Sarmiento sieht für Lateinamerika keine andere Möglichkeit, als die strukturelle und semantische Differenz, die er als Barbarei bezeichnet, durch die Vorstellung der Einheit einer europäischen Zivilisation zu ersetzen. Der einzige Weg in die Moderne führt seiner Ansicht nach über die Abschaffung von Traditionen und die Aufhebung der Pluralität von Sinnwelten. Auch Juan Bautista Alberdi unterliegt dieser Vorstellung. Seine Fortschrittsidee orientiert sich an der europäischen industriellen Moderne des 19. Jahrhunderts, also dem Kolonialismus, dem freien Handel und ausländischen Investitionen. Alberdi ist in diesem Sinne zwar liberal; Liberalismus in Lateinamerika um 1850 bedeutet jedoch auch die Ablehnung der spanischen Monarchie, Zentralismus im Bereich politischer Angelegenheiten und Intoleranz gegenüber der gesellschaftlichen Differenz (Mignolo 2005). Sarmiento und Alberdi versuchen, die mythische Fundierung indigener Völker und die Naturgrundlage des Kolonialsystems durch eine Semantik des einheitlichen Fortschritts zu ersetzen. Diese lässt keinen Raum für Synthese bzw. Mischformen, die die Kontingenz einer neuen Welt fördern. Alberdi war aktiv beteiligt an der Entstehung der argentinischen Verfassung von 1853, der sein Buch Grundlagen und Ausgangspunkte zur Organisation der Argentinischen Republik (1957) zugrunde liegt. Wie bei Sarmiento lassen die Ziele Alberdis eine deutliche Orientierung an der Idee des einheitlichen Fortschritts erkennen: die Ausweitung der Handelsbeziehungen, Förderung der Industrialisierung und Verdrängung der vielfältigen kulturellen Selbstbeschreibungen unterschiedlicher Völker Lateinamerikas durch die Zivilisationsvorstellungen europäischer Einwanderer.
5.1. Semantik der Einheit | 119 „The Constitution of the newly consolidated Argentine nation must guarantee the expansion of commerce, the rise of a spirit of industry, the free pursuit of wealth, the entry of foreign capital and, most of all, immigration [...] Thus, the cult of material progress that engulfed the governing and intellectual elite between 1870 and 1914 was in harmony with the pragmatic spirit of the Constitution“ (Hale 1996: 140).
Ziel der Einwanderung war nicht nur materieller Fortschritt, sondern auch geistiger Fortschritt. Alberdi versteht die Indianer als eine wilde Nation mit einer langsamen Entwicklung (Anderle 1988), die nur unter dem Einfluss europäischer Rationalität zu verändern sei. Vernunft, Nation und Handel werden damit zu wichtigen Sinnquellen für eine gesamtgesellschaftliche Regulierung im 19. Jahrhundert. Andere semantische Formeln werden diskreditiert und der Semantik des einheitlichen Fortschritts untergeordnet. Eine Pluralität von Sinnwelten wird nicht in Betracht gezogen. Das einzig gültige semantische Korrelat heißt europäischer Fortschritt. Jede Abweichung von dieser Entwicklungslinie wird als Anomalie bezeichnet. Eine Kontingenz des Fortschritts wird verneint. Die chilenische Generation von 1842 (Francisco Bilbao, José Victorino Lastarria) vertritt eine ähnliche Auffassung. Sie bewegt sich im Rahmen einer Semantik der Einheit, ist jedoch von einem positivistischen Begriff der Moderne geleitet. Der wissenschaftliche Positivismus ist das Maß aller Dinge. Er fungiert als semantische Spezifizierung des Fortschritts. Nach ihm bemisst sich das Wahre, das Falsche und das Notwendige der neuen Welt. Bilbao ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse, weil er die Semantik der Einheit des kolonialen Zeitalters durch die Notwendigkeit einer positivistischen Gesellschaftsvorstellung ersetzt: „Unsere Revolution ist die Abschaffung der früheren Synthese und die Errichtung der modernen Synthese [...] Die Einheit, die den früheren Glauben organisierte, wurde zerstört. Die Fragen ‚wer bin ich‘, ‚wohin gehe ich‘, ‚woher komme ich‘ brauchen eine wissenschaftliche Lösung. Uns fehlt die wissenschaftliche Religion“ (Bilbao 1940: 89; Übersetzung A.M.).
Bilbao spricht sogar von einer reflexiven Revolution. Damit meint er allerdings keine Selbstreferenz im systemtheoretischen Sinne, sondern die wissenschaftliche Erzeugung einer aufgeklärten Wahrheit, die die einheitliche Orientierung der positivistischen Semantik aufzeigt und als normative Letztbegründung des politischen Handelns dienen soll. Der Einfluss des Positivismus lässt sich besonders ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika beobachten. Moderne – die moderne Synthese Bilbaos – bedeutet hier Fortschritt. Ein unilineares und eindimensionales Vorbild der gesellschaftlichen Ordnung wird gefördert, d. h., der Liberalismus führt zum
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Positivismus. Bilbao versteht die Errichtung der modernen Synthese daher auch als Entzauberung gesellschaftlicher Diskurse: „Die Antworten, die einer Gesellschaft das Wissen über sich selbst verleihen können, was sie ist, woher sie kommt, wohin sie geht, wurden vom Glauben geliefert. Da der Glaube zerstört wurde, wird es erforderlich, wissenschaftlich, also vernünftig diese Fragen zu beantworten“ (Bilbao 1940: 89; Übersetzung A.M.).
Sein Antiklerikalismus und vor allem sein Antikatholizismus als Quelle des Autoritarismus bestimmen seine klassisch-liberale Auffassung und bedeuten eine Wende im Denken Bilbaos, indem sich die Reflexion an der Differenz orientiert. Das Individuum müsse sich von der katholischen Semantik befreien, so die Schlussfolgerung Bilbaos: sich befreien von der Sklaverei des Sohnes in der Familie, von der Sklaverei des Denkens in der Gemeinschaft, von der Sklaverei der Bürger gegenüber der Zentralmacht. José Victorino Lastarria hat eine ähnliche Haltung gegenüber dezentralen politischen Arrangements und einer Interpretation der Moderne Lateinamerikas, deren Schwerpunkt die Differenz bildet. Lastarria bezeichnet die Periode der Kolonisierung Lateinamerikas als schwarzen Winter, in den erst mit der Unabhängigkeit wieder Licht eindringt. Diese sieht er jedoch nicht als einzige Voraussetzung für einen Weg in die Moderne: „[...] the first duty of the statesman of Latin America is to imitate the United States, to quicken, as they had done, the beneficial effects of the natural laws that rule humanity“ (Lastarria 2000: 35).
Lastarrias Vorstellung von der lateinamerikanischen Moderne im 19. Jahrhundert scheint mehr von strukturellen und politischen Problemen geprägt zu sein als von der religiösen Entzauberung, die bei Bilbao festzustellen ist. Sie ist auch Ausdruck seiner Bewunderung für die Amerikanische Revolution. Lastarrias bevorzugtes Modell für Lateinamerika ist nicht der französische Zentralismus, sondern die nordamerikanischen dezentralen bzw. föderativen Arrangements. Die deutliche Orientierung Lastarrias an der Semantik der Einheit zeigt sich auch in seinem Text El manuscrito del diablo (Handschrift des Teufels, 1849 veröffentlicht), in dem er die Schwierigkeiten Lateinamerikas auf dem Weg in die Moderne am Beispiel Chiles beschreibt: „Die chilenische Gesellschaft verfügt wie das Meer, über Grund und Oberfläche: Auf dem Grund liegen die Überreste der spanischen Kolonie; auf der Oberfläche entwickelt sich ein moderner Firnis“ (Lastarria 1995: 98; Übersetzung A. M.).
Schwerpunkt bei Lastarria ist die Modernisierung des Meeresgrundes, also die
5.1. Semantik der Einheit | 121
Auflösung der spanischstämmigen Aristokratie durch Aufklärung des lateinamerikanischen Volkes. Insofern sieht Lastarria – nicht anders als Bello, Sarmiento und Alberdi – die Lösung in der Abschaffung der Differenz und der Betonung der Einheit im positivistischen Sinne. Diese Einheitsorientierung der positivistischen Semantik fand in dem Mexikaner Gabino Barreda im 19. Jahrhundert einen würdigen Vertreter. In seinem Buch Horación cívica (Ziviles Gebet) von 1867 versucht Barreda, das DreiStadien-Gesetz von August Comte auf die Geschichte Mexikos anzuwenden. Er bezeichnet das koloniale Zeitalter als theologische Phase, den Liberalstaat als metaphysische und die Neuzeit als Beginn einer neuen wissenschaftlichen oder positivistischen Phase, die die vom revolutionären Liberalismus ausgelöste politische Anarchie korrigieren müsse. Nur unter einer positivistischen Weltvorstellung, so Barreda, könne man Ordnung und Fortschritt versöhnen, und zwar als Ordnung eines notwendigen Fortschritts, der die Kontingenz anderer semantischer Ordnungsvorstellungen aus dem Horizont des Möglichen verbanne. Das mexikanische Hochschulsystem wurde von Barreda unter diesen Prämissen reformiert (Barreda 1964). Diese Versöhnung von Ordnung und Fortschritt unter positivistischen Prämissen war auch bei der Gründung des Positivistischen Apostolats von Miguel Lemos und Raimundo Teixeira im Jahr 1890 in Brasilien von besonderer Bedeutung. Beide Denker versuchten, die Einheit der kolonialen, monarchischen und katholischen Welt Brasiliens durch die Einheit einer „wissenschaftlichen Politik“ zu ersetzen (Lemos/Teixeira 1980[1890]). Die Sklaverei war das Symbol der alten Welt; Symbol der Neuzeit war aber nicht die Kontingenz einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, sondern die Notwendigkeit einer Einheitsvorstellung der europäischen Moderne, die sich in Lateinamerika durchsetzen sollte. So Lemos und Teixeira: „Unsere Evolution soll in Paris münden, von dessen Initiative die Weiterentwicklung der ganzen Welt abhängt“ (Lemos/Teixeira 1980[1890]: 297; Übersetzung A.M.). José Murilo spricht von einer positivistischen Manipulation des Imaginären in Brasilien (Murilo 2006). Ähnliches gilt für das positivistische Denken in Bolivien. Alcides Arguedas erkennt zwar die prekäre Lage der indigenen Völker, deren Unterdrückung während des Aufbaus des Nationalstaates durch die semantische Vorstellung der Transformation von Barbarei in Zivilisation begründet wurde. Seine Beschreibung der bolivianischen Entwicklung ist jedoch nicht frei von positivistischen Prämissen: „Wenn das indigene Blut nicht überwiegen würde, wäre das Land heute auf demselben Niveau wie andere Völker, die von Einwanderungswellen aus der Alten Welt favorisiert wurden“ (Arguedas 1964: 516; Übersetzung A.M.).
122 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika
Die Differenz unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen, oder anders gesagt, die Kontingenz möglicher Sinnwelten, wurden in der Einheitsvorstellung einer tief positivistisch geprägten Semantik nicht akzeptiert. Die voraussetzungsreiche Ordnung des Fortschritts gilt unter dieser semantischen Perspektive als notwendige Selektion. Die Logik des Positivismus als Semantik der Einheit im 19. Jahrhundert in Lateinamerika folgte konsequent einer teleologischen Semantik, die die Kontingenz der Kulturen und der Beobachtung zweiter Ordnung von unterschiedlichen Funktionssystemen durch die Notwendigkeit einer einheitlichen gesamtgesellschaftlichen Regulierung ersetzte. Das Ziel war die Abschaffung der lateinamerikanischen Barbarei (Traditionen, indigene Völker, Katholizismus, spanisches Erbe) und deren Umwandlung in europäische bzw. französische Zivilisation. Erst im 20. Jahrhundert wurde diese Position hinterfragt.
5.2 Spannung zwischen Einheit und Differenz in der Semantik des 20. Jahrhunderts am Beispiel der künstlerischen Literatur Nach Octavio Paz setzt diese Gegenbewegung in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts ein: „Gegen 1880 entsteht in Hispanoamerika die literarische Bewegung, die wir Modernismus nennen. Der Modernismus war die Antwort auf den Positivismus, die Kritik der Sinnlichkeit und des Herzens – sowie der Nerven – am Empirismus und an der positivistischen Wissenschaft“ (Paz 1987: 131; Übersetzung A.M.).
Der lateinamerikanische Modernismus reagiert auf die Einheit des positivistischen Fortschritts, nämlich auf die Entfaltung des Marxismus, des Populismus, des Industrialismus, der Armut (Morse 1996) und auf die im 19. Jahrhundert verbreitete semantische Vorstellung, dass nur eine Welt in Lateinamerika möglich sei – die vom Fortschrittsvorurteil imaginierte Welt. Der Modernismus ist durch den Luxus, die Schönheit und die Nutzlosigkeit der Gegenstände definiert (Burgos 1985), und in diesem Sinne wird die Einheit einer positivistisch erfundenen Welt dezentralisiert. Neben den Sinnquellen der Vernunft, der Nation und des Handels beginnen die semantischen Korrelate in Lateinamerika, mit einer Pluralisierung von Sinnwelten zu experimentieren. Im 20. Jahrhundert bildet sich eine neue Semantik der Moderne heraus, die auf die Kontingenz der funktionalen Differenzierung eingestellt ist. Die Semantik des lateinamerikanischen Ancienne Régimes beginnt, sich in eine neue Selbstbeschreibung zu verwandeln:
5.2. Einheit und Differenz in der Literatur | 123 „For Europe now experienced the crisis of nerve associated with technification, commodification, alienation and rampant violence as these found expression in Marxian contradictions, Spenglerian decadence, Freudian invasions of the subconscious, and of course industrialism and the First World War. The seeming collapse of evolutionary assumptions gave Latin Americans leverage for dismissing presumed determinisms of their past and for inventing a new ‚reality‘ and a new future“ (Morse 1996: 54).
Die gesellschaftliche Transformation betrifft vor allem die politische und wirtschaftliche Struktur, hat aber bedeutende Konsequenzen auf semantischer Ebene, die unter dem Begriff der Pluralität von Sinnwelten verstanden werden kann. Ungewissheit ist der neue Zustand des Geistes. Beispielhaft für solche neu geschaffenen Sinnwelten ist die folgende Textstelle in Huidobros Werk Altazor: „Plegasuena Cantasorio ululaciente Oraneva yu yu yo Tempovío Infilero e infinauta zurrosía Jaurinario ururayú Montañendo oraranía Arorasía ululacente Semperiva ivarisa tarirá Campanudio lalalí Auriciento auronida Lalalí Io ia iiio Ai a i a a i i i i o ia“ (Huidobro 1989: 138). Sprachlosigkeit, die Erfindung einer neuen Sprache, die Allegorie der verlorenen Grundlage und der offenen Zukunft, der Schrei der Entrüstung und zugleich die Erwartung des Unerwarteten werden hier symbolisiert. Die Semantik des Modernismus versucht, sich von der positiven Welt – von der Welt des Fortschritts – zu entfernen und dadurch possible worlds (Ronen 1994) zu schaffen. Sie bedeutet eine Dezentrierung der Semantik der Einheit und eröffnet eine Semantik der Differenz, die eine Anpassung an die aus der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen entstehende zunehmende gesellschaftliche Komplexität darstellt.
124 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika
Huidobro fühlt sich von einem gewissen Konstruktivismus geleitet, den er selbst als Kreationismus bezeichnet: „[Die ästhetische Doktrin besteht darin,] ein Gedicht so zu schaffen, dass es bei der Transformation seiner Motive ein Eigenleben erhält. [Es geht darum,] ein Gedicht zu verfassen, so wie die Natur einen Baum hervorbringt“ (Huidobro in De Costa 1975: 119 f.; Übersetzung A.M.).
Das Werk Huidobros verkörpert eine Semantik, die sich mit der Einheit des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt. Sie bedeutet eine Abkehr von dem Versuch einer normativen Integration der gesamten Gesellschaft in die Zivilisation. Die neue Sprache Huidobros spiegelt die Erfahrung der Kontingenz der Neuzeit wider. Jorge Luis Borges entwickelt keine neue Sprache; seine Beobachtung öffnet sich aber der Pluralität der Welt und ist deutlich an der Kontingenz neuer Sinnwelten orientiert. Borges neigt zu einer kosmopolitischen Weltvorstellung. Dahinter verbirgt sich das Modell eines homo universalis (Borello 1986). Dieser Universalismus wird, im Gegensatz zum Positivismus des 19. Jahrhunderts, aber nicht als Abschaffung der Differenz verstanden. Der Universalismus Borges lässt sich vielmehr als Erfahrung der Kontingenz der Welt bezeichnen. Seine berühmte Erzählung El Aleph macht dies deutlich. Das von ihm beschriebene Aleph ist der Punkt im Keller, aus dem das ganze Universum zu sehen ist. Das Aleph fungiert als Symbol einer Beobachtung zweiter Ordnung, die Formen – im Sinne Spencer-Browns – beobachtet und sich selbst beobachten kann: „Ich sah den Blutkreislauf meines schwarzen Blutes [...] ich sah das Aleph [...] ich sah mein Gesicht und meine Eingeweide“ (Borges 1985: 359; Übersetzung A.M.).
Die Selbstbeobachtung steht im Mittelpunkt einer Semantik der Differenz, denn nur durch sie kann der Beobachter ein reflexiver Beobachter sein. In Borges und ich betreibt Borges diese Art der Selbstbeobachtung bis ins Extreme: „Ich muss in Borges verbleiben, nicht in mir (wenn ich überhaupt jemand bin) [...] Vor Jahren wollte ich unser Verhältnis lösen; von den Mythologien der Außenviertel ging ich zu den Spielen mit der Zeit und mit dem Unendlichen über, doch treibt heute Borges diese Spiele, und ich werde mich nach etwas anderem umsehen müssen. [...] Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt“ (Borges 1963: 43-44).
Borges macht deutlich, dass Zeit, Raum und Gesellschaft nicht mehr als Einheit zu begreifen sind – wie es bei der Trias Fortschritt, Nation und Zivilisation im 19. Jahrhundert der Fall war –, sondern als Verschiedenheit von sachlichen,
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zeitlichen und sozialen Ereignissen (wie bei Systemen), in denen man lebt und die sich zugleich als Kontingenz darstellen (Fuentes 1993). Neben Borges und Huidobro gibt es im 20. Jahrhundert auch Vertreter einer Semantik der Einheit, die sich mit der lateinamerikanischen Identität und der Einheit des Seins beschäftigt. In gewissem Sinne entsteht die Idee einer lateinamerikanischen Identität in Reaktion auf die Vorstellung der universellen Einheit des Fortschritts und der Zivilisation. Sie ersetzt jedoch die alte Einheit durch eine neue, die die Pluralität von Sinnwelten vereinigt. Der Kontingenz der Welt soll eine naturalistische Begründung gegenübergestellt werden, die das Lateinamerikanische repräsentiert. Daraus entwickelt sich der theologische Determinismus von José Vasconcelos und die Interpretation eines lateinamerikanischen Wesens bei Alejo Carpentier. In seinem Buch La raza cósmica (Die kosmische Rasse) von 1927 stellt José Vasconcelos die Behauptung auf, dass die lateinamerikanischen Mestizen (die fünfte Rasse) die Synthese aller Rassen seien – der weißen, der roten, der gelben und der schwarzen Rasse. Die Pluralität von Sinnwelten werde von der fünften Rasse absorbiert und zur Einheit eines Absoluten im Hegel’schen Sinne, da die Mestizen die Fähigkeit hätten, das Andere zu integrieren. Die Anderen hingegen „[. . . ] begingen den großen Fehler, diese Rassen zu vernichten, während wir sie assimiliert haben, und dies verleiht uns neue Rechte und Hoffnungen auf eine Mission ohnegleichen in der Geschichte“ (Vasconcelos in Berg 1995: 196).
Lateinamerikaner seien für diese Mission besonders qualifiziert, so Vasconcelos, da ihre Tradition „[. . . ] dem Ausländer leichter Sympathien entgegenbringt. Dies bedeutet, daß unsere Kultur, mit allen ihren Fehlern, dazu auserwählt sein kann, die ganze Menschheit mittels der Assimilation zu einem neuen Typus hinzuführen“ (Vasconcelos in Berg 1995: 197).
Es handelt sich dabei nicht um eine unitas multiplex, sondern um Assimilierung, um die Wiederbelebung einer Semantik der Einheit, die nach dem Muster der Identität des Entgegengesetzten operiert. Man könnte also annehmen, dass Vasconcelos, wie Borges, Anspruch auf einen gewissen Kosmopolitismus erhebt: Die fünfte Rasse sei eine Metapher avant la lettre für die Weltgesellschaft, in der nationale, geopolitische Grenzen von einer immer komplexer werdenden Gesellschaft aufgehoben werden. Doch dieser Synkretismus bei Vasconcelos – wie auch bei Carpentier – wird zeitlos verarbeitet, denn nach seiner Ansicht ist die Entstehung der Mestizen der christlichen Liebe zwischen Spaniern und Indianern (genauer Indianerinnen) zu verdanken. Von dieser Liebe besessen, habe Lateinamerika Spanien
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und das Christentum (den Katholizismus) absorbiert. So zeige sich Lateinamerika als „die Heimat der Heiden, das wahre Land der christlichen Verheißung“ (Vasconcelos in Berg 1995: 198). Die fünfte Rasse sei die Rasse der Liebe – die Rasse, die aus Liebe entsteht und für die Liebe lebt. Auf semantischer Ebene lässt sich diese Identität auf die Einheit der christlichen Liebe zurückführen und als Theologie bezeichnen. Borges betrachtete die Theologie offenbar als Spezialgebiet der phantastischen Literatur. Auch die theologische Interpretation Vasconcelos scheint in diese Richtung zu gehen – nicht nur weil sie die Machtasymmetrie aus der Zeit der Entdeckung übersieht, sondern auch weil die gesamte gesellschaftliche Evolution seit dem 16. Jahrhundert gegen eine Geschichte der Liebe spricht. Unterdrückung, Kriege und Armut widersprechen dieser Semantik der Einheit. Das Werk Alejo Carpentiers ist für die Bewertung der lateinamerikanischen Semantik der Einheit von besonderer Bedeutung aufgrund seiner deutlichen Unterscheidung zwischen Identität und Modernität. Das Wesentliche Lateinamerikas liege, nach Carpentier, nicht in den Konsequenzen der Moderne – Industrialismus, Armut, Klassengegensatz –, sondern in der Einheit der Identität. Dazu entwickelt Carpentier die Theorie des Wunderbaren, auch als magischer Realismus (M.A. Asturias) bekannt: „Dieses Wunderbare gründet sich in der lateinamerikanischen Natur, in der besonderen Geschichte des Erdteils und in der Mentalität seiner Bevölkerung: in einer Disposition zum Wunderglauben, die sowohl auf indigene und afrikanische religiöse Traditionen als auch auf eine durch die sichtbaren Wunder des lateinamerikanischen Kontinents angeregte Einbildungskraft zurückgeführt wird“ (Matzat 1996: 15 f.).
Der europäische Surrealismus hatte einige Jahre zuvor den Begriff des merveilleux geprägt, doch dieser erwies sich nach Carpentier als reine kosmopolitische Fiktion ohne faktisches Korrelat in Lateinamerika. Carpentier wollte kein Kosmopolit sein. Ganz im Gegenteil, er versuchte „[...] to break with cosmopolitan surrealism in favour of a ‚marvellous realism‘ (or magic realism from the Afro viewpoint) having roots in commonal faith, myth and identity“ (Morse 1996: 49).
Das Wunderbare Lateinamerikas ist nach Carpentier Wirklichkeit. Es existiert, genau wie die Geschichte, und dies müsse man berücksichtigen, so Carpentier, um die Besonderheit Lateinamerikas begreifen zu können, denn es begründe die Notwendigkeit seiner Identität. Geschichte könne sich ändern, Identität aber nicht, weil sich dahinter das Wesen der Einheit jeder Sinnwelt verberge. Nach der Semantik des magischen Realismus verfügt Lateinamerika über eine eigene und wesentliche Identität, die weder dem Einfluss der Vernunft
5.2. Einheit und Differenz in der Literatur | 127
noch der Reflexivität unterliegt. Identität bedeutet in diesem Sinne Negation der Vernunft, Negation der Reflexivität, Negation der Moderne und Bejahung eines mythischen Daseins. Matzat fügt hinzu: „Das Barocke ist für Carpentier eine ahistorische Konstante [...] Mit dem Barockbegriff wird also ein Wesenszusammenhang zwischen Natur und Kultur postuliert“ (Matzat 1996: 17).
Die Einheit Lateinamerikas werde durch die Einheit der Identität wiederhergestellt. Die Kontingenz der Moderne werde durch diese in den vormodernen Traditionen bewahrte Identität verdrängt. Sie werde von der Notwendigkeit eines absoluten, zeitlosen Wesens absorbiert. Die zeitgenössische lateinamerikanische Literatur tendiert eher zu einer Semantik der Differenz. Julio Cortázar schlägt in Rayuela und 62/Modelo para armar (Texte mit unterschiedlichen Lesarten) einen ästhetischen Weg ein. Ähnliches gilt für La ciudad y los perros von Mario Vargas Llosa, Coronación von José Donoso und Detectives Salvajes von Roberto Bolaño. Es entsteht eine Literatur ohne Zentrum, die schließlich die klassisch-modernen Ansprüche auf Wahrheit und Gewissheit infrage stellen wird. Dieser Ansatz wird von der postmodernen lateinamerikanischen Literatur übernommen: „Latin American society and culture have experienced the same crisis of truth that Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard and Frederic Jameson describe in the North Atlantic nations; this crisis of truth is manifested in the recent postmodern novel“ (Williams 1995: 127).
Als postmodern bezeichnet Williams Autoren wie Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Severo Sarduy sowie literarische Entwicklungen wie die feministische, lesbische und populäre Literatur. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Semantik der Einheit völlig ausgeschlossen wird. Die Spannung zwischen einer Semantik der Einheit und einer Semantik der Differenz wird im 20. Jahrhundert mit der Einführung des Begriffs der Einsamkeit deutlich. Er dient sowohl zur Begründung einer Semantik der Einheit als auch einer Semantik der Differenz Lateinamerikas. Im ersten Fall ist García Márquez zu nennen, im zweiten Fall Octavio Paz. Die Semantik einer wesentlichen Identität Lateinamerikas in Form eines magischen Realismus findet in Gabriel García Márquez einen bedeutenden Vertreter. García Márquez spielt in Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit) mit der Vorstellung eines gesellschaftlichen und eines territorialen Zentrums: die Buendía-Familie und Macondo. Die Einsamkeit steht für die Einsamkeit beider Zentren, die Matzat korrelativ als die Umgebungen einer psychosozialen und geografischen Einsamkeit identifiziert (Matzat 1996: 85 ff.). Die Pluralität
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von Sinnwelten und die Kontingenz des Möglichen reduzieren sich auf diese beiden Dimensionen, und die Idee der Einsamkeit betont auf semantischer Ebene die phantastische Entwicklung der gesellschaftlichen Existenzbedingungen und der Natur selbst (Díaz-Plaja 1983). Dies verbindet die Semantik von García Márquez mit der von Carpentier bereits eingeführten barocken Interpretation der lateinamerikanischen Identität – diesmal als Diskurs des Überflusses. Gesellschaftlich und naturbezogen versteht García Márquez diese ungeheure, wunderbare Wirklichkeit als das Verlassen der historischen Welt. Lateinamerika bleibt einsam am Rande der Weltgeschichte, und seine Einsamkeit ist auf die Singularität und Einheit des Wunderbaren zurückzuführen. Im Gegensatz zu García Márquez verwendet Octavio Paz den Begriff der Einsamkeit in einer anderen semantischen Variante, die die Annahme verschiedener Sinnwelten begünstigt. „Soledad ist für Paz gleichzusetzen mit ‚orfandad‘ [Verwaisung] und ist damit Indiz für ein gebrochenes Verhältnis zur Vergangenheit. [Paz] sieht die Ursachen in der Conquista [Eroberung] [...] Die gewaltsame Begegnung der Eroberer mit den Eingeborenen, der Bruch mit der europäischen wie der indianischen Vergangenheit [sind die Gründe dafür,] daß das Land [Mexiko] auf keine kontinuierliche historische Tradition zurückblicken kann und daher keine Geschichte im eigentlichen Sinn besitzt“ (Matzat 1996: 78).
Die Einsamkeit bei Octavio Paz – wie in Das Labyrinth der Einsamkeit – ist auf eine Ursprungsungewissheit zurückzuführen und wird als Ratlosigkeit interpretiert. Die Einheit der Identität wird in verschiedenen Bereichen gesucht: in den ursprünglichen Traditionen, im Katholizismus, in der Unabhängigkeit, im Positivismus, im Marxismus, in der Mexikanischen Revolution und im Neoliberalismus (Paz 1970) – jedoch ohne Erfolg. So stellt Paz in Bezug auf Mexiko fest: „Wir Mexikaner haben keine Form geschaffen, die Ausdruck unserer selbst wäre. Daher kann die Mexikanität mit keiner Form oder konkreten, historischen Richtung sich identifizieren: Sie ist ein Schwanken zwischen verschiedenen universalen Entwürfen, die nacheinander uns aufgetragen oder auferlegt wurden, uns aber heute nichts mehr zu sagen haben“ (Paz 1970: 129).
Die Erfahrung der Kontingenz ergibt sich dann aus der Unmöglichkeit, eine Semantik der Einheit auf eine widerspruchsvolle Geschichte zu stützen. Auch die Hoffnung, eine Wiederherstellung der Einheit fördern zu können, werden so zunichte gemacht, denn nun ist die ganze Welt instabil. „Wir lebten einst am Rande der Geschichte. Heute hat sich der Mittelpunkt
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 129 der Welt verschoben, so daß wir alle, einschließlich Europäer und Nordamerikaner, periphere Wesen geworden sind. Wenn es überhaupt kein Zentrum mehr gibt, stehen wir alle am Rand“ (Paz 1970: 130).
Bei dieser semantischen Variante ist die Einheit der Identität faktisch nicht mehr möglich; die Erfahrung der Pluralität von Sinnwelten und deren Kontingenz bleiben als der einzige Ausweg. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernahm die Literatur die Rolle der Selbstbeschreibung lateinamerikanischer Gesellschaften und gelangte dabei zu der Unterscheidung zwischen einer Semantik der Einheit und einer Semantik der Differenz. Diese Rolle wurde besonders ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts von den Sozialwissenschaften übernommen, die die Einheit vor allem im Hinblick auf die Zentralität des Staates betrachteten. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Unterscheidung Differenz/Einheit im Bereich der Sozialanalyse.
5.3 Einheit und Differenz in den Sozialwissenschaften: Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie Die Entwicklung der Gesellschaftsbeschreibung in der lateinamerikanischen Soziologie lässt sich ebenfalls durch die Leitunterscheidung von Einheit und Differenz charakterisieren. Der Unterschied zur lateinamerikanischen Literatur liegt darin, dass sich die Soziologie mit der Beschreibung der Gesellschaft an sich beschäftigt, und zwar aus der Perspektive der Wissenschaft und nicht der Kunst. Von einer soziologischen Beschreibung der Gesellschaft wird erwartet, dass sie die Transformation des Gesellschaftssystems reflektiert, d. h., dass sie die Universalität und Spezifizität der Moderne Lateinamerikas berücksichtigt, dass die Beschreibung der Gesellschaft die Beschreibung des allgemeinen Gesellschaftssystems in Lateinamerika und nicht eine gemeinschaftliche oder nationalstaatliche Beschreibung ist und dass das soziologische Wissen auf den Kriterien der Wissenschaft und nicht auf den Bedürfnissen der Politik basiert. Meiner Ansicht nach ist dies im Fall der lateinamerikanischen Soziologie besonders schwierig, weil auch sie dem Spannungsfeld zwischen Einheit und Differenz der Semantik unterworfen ist: die Einheit des Fortschritts und der europäischen oder nordamerikanischen Gesellschaftsvorstellung, die Einheit der Nation oder der ethischen Gemeinschaften und die Einheit der politischen Nützlichkeit des soziologischen Wissens. Da die Soziologie Selbstbeschreibungen der Gesellschaft produziert, ist sie auch ein Teil des allgemeinen
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semantischen Kampffeldes und unterliegt diesem umso mehr, je weniger sie als Wissenschaft ausdifferenziert ist. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die soziologische Beschreibung Lateinamerikas, die sich mit dem Begriff der Erkenntnisblockaden umschreiben lassen. In der Luhmann’schen Terminologie sind Erkenntnisblockaden „Traditionslasten, die eine adäquate wissenschaftliche Analyse verhindern und Erwartungen erzeugen, die nicht eingelöst werden können“ (Luhmann 1997: 23). Meine Hypothese in diesem Abschnitt ist, dass die Gesellschaftstheorie in Lateinamerika gewisse Erkenntnisblockaden beinhaltet, die es ihr nicht erlauben, ein komplexeres Bild der lateinamerikanischen Gesellschaft im Kontext der Entfaltung der Weltgesellschaft im 20. Jahrhundert zu entwickeln. Solche Erkenntnisblockaden werden hauptsächlich durch den Einfluss der politischen Kommunikation auf die kognitiven Orientierungen einer sich in Lateinamerika ausdifferenzierenden Sozialwissenschaft ausgelöst. Sie blockieren die autonome und kognitive Entfaltung der Gesellschaftstheorie und setzen sie permanent unter Druck, politische Ziele, Interessen und Programme zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass die Gesellschaftstheorie sich selbst permanent aus der Sicht politischer Kommunikationen beobachtet und ihre Ergebnisse an politischen Zielen ausrichtet. Im Folgenden möchte ich drei mögliche Ursachen für die Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Gesellschaftstheorie nennen und sie anschließend im Einzelnen betrachten (Chernilo/Mascareño 2005; Mascareño/Chernilo 2009): • Das Verständnis der lateinamerikanischen Moderne als eine zweitrangige oder unvollkommene Version der europäischen Moderne. • Die Auffassung, die „lateinamerikanische Gesellschaft“ müsse durch ethische Gemeinschaften repräsentiert werden (ethische Gemeinschaften sind z. B. Proletarier, Indigene, Katholiken, Liberale, Konservative, Nationen). • Die Forderung, das sozialwissenschaftliche Wissen müsse in ein konkretes politisches Programm transformiert werden. Die Erkenntnisblockaden operieren auf integrierte Weise. Wird das soziologische Wissen aus der Perspektive der ersten Blockade (Lateinamerika als unvollkommene Version Europas) betrachtet, dann stellt sich bezüglich der zweiten Blockade die Frage, inwiefern die ethische Gemeinschaft diese Beschreibung akzeptiert oder ablehnt und welche Art von soziologischem Wissen für das eine oder andere Ziel von Nutzen ist (dritte Blockade). Die Betrachtung der Soziologie aus der Sicht der zweiten Blockade (Repräsentation der Gesellschaft
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 131
durch ethische Gemeinschaften) erfordert eine politisch-ideologische Identifizierung der repräsentierten Gemeinschaften (dritte Blockade). Dies bedeutet, dass sich die Soziologie entscheiden muss, ob sie Lateinamerika entsprechend den europäischen Gesellschaftsmodellen (Liberalismus, liberale Demokratie, Entwicklungsmodelle) als Unvollkommenheit beschreibt oder ob sie das Gesellschaftssystem in Lateinamerika aus einer „lateinamerikanischen Perspektive“ (Indigenismus, Populismus, Caudillo- und Militärregimes) heraus analysiert und Lateinamerika als Fehlen von modernen Merkmalen definiert (erste Blockade). Aus der Beobachtungsposition der dritten Blockade (politische Nützlichkeit des soziologischen Wissens) wiederum, wird die Soziologie zum Instrument der Emanzipierung der gemeinschaftlichen Akteure (zweite Blockade) und zum Medium der Verwirklichung der zugrunde liegenden Gesellschaftsvorstellungen (erste Blockade). In den folgenden Abschnitten (5.3.1, 5.3.2, 5.3.3) versuche ich, die Erkenntnisblockaden einzeln zu entfalten und zu plausibilisieren sowie aufzuzeigen, wie sie von bestimmten lateinamerikanischen soziologischen Theorien überwunden werden (5.3.4).
5.3.1 Lateinamerika als unvollkommene Version der europäischen Moderne Ein Großteil der lateinamerikanischen Soziologie betrachtet Europa und Nordamerika als Vorbild für die Analyse des Gesellschaftssystems in Lateinamerika. Dies mag daran liegen, dass Lateinamerika in der Sozialanalyse seit dem 19. Jahrhundert durch das Prisma des europäischen bzw. amerikanischen Denkens gesehen wurde. Die Aufklärung, der Positivismus, die deutschen Geisteswissenschaften, der amerikanische Empirismus, die Sozialpsychologie, die Modernisierungstheorien und die gegenwärtige theoretische Soziologie waren die sozialwissenschaftlichen Traditionen, die sich in der lateinamerikanischen Soziologie widergespiegelt haben. Doch die Berücksichtigung dieser Traditionen sollte nicht dazu führen, das Gesellschaftssystem in Lateinamerika im Lichte der Beschreibung Europas zu beurteilen. In verschiedenen soziologischen Analysen Lateinamerikas ist aber genau das der Fall: Sie betrachten Nordamerika und Europa als Ziel für die gesellschaftliche Entwicklung Lateinamerikas. Die Möglichkeit, von einem lateinamerikanischen Weg der Moderne in der Weltgesellschaft zu sprechen, wird von Anfang an ausgeschlossen. Das ist insofern bedeutend, als damit prinzipiell die Möglichkeit genommen wird, das Gesellschaftssystem in Lateinamerika als solches zu verstehen und daraus seine Position in der Weltgesellschaft abzuleiten. Ausgegangen wird von einer Vorstellung von guten Gesellschaftsbeziehungen, und was diesem Bild
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nicht entspricht, wird kritisiert. Genau das wurde in der Einleitung als Fortschrittsvorurteil bezeichnet. Das Problem liegt offenbar nicht darin, die Analyse Lateinamerikas auf eine „europäische“ oder eine „amerikanische“ Soziologie zu stützen. Soziologie gibt es nur eine. Problematisch ist aber, wenn zwischen Theorie und Anwendungsfall nicht unterschieden wird. In der Berücksichtigung der „europäischen“ und „amerikanischen“ Soziologie durch die lateinamerikanische Soziologie wird nicht das abstrakte und theoretische Modell übertragen, sondern der Anwendungsfall: In Europa gibt es Zivilisation, in Lateinamerika nicht; in Europa gibt es Entwicklung, in Lateinamerika nicht. Damit kann die Diagnose der Gesellschaftsbeziehungen in Lateinamerika nur zum Urteil der Unvollkommenheit gelangen. In der Geschichte der lateinamerikanischen Sozialanalyse bzw. -wissenschaft ist dieses Problem deutlich zu erkennen. In den folgenden Abschnitten werde ich näher darauf eingehen. Zwei Leitdifferenzen charakterisieren das Sozialdenken des 19. Jahrhunderts und die Soziologie des 20. Jahrhunderts: Zivilisation/Barbarei und Entwicklung/Unterentwicklung. Nation, Fortschritt und eine lineare Vorstellung der Rationalität repräsentierten das Modernsein und wurden als Grundlage und Quelle der Einheit der Beschreibungen Lateinamerikas akzeptiert. Damit wurde eine Weltvorstellung nachgezeichnet, die die Außenseite der Zivilisation und der Entwicklung als Negativität beobachtete, d. h. als das, was durch die positive Seite aufgehoben werden sollte. Lateinamerika wurde so mit einem Mangel an Zivilisation und einer Unvollkommenheit der Entwicklung gleichgesetzt. In diesem Sinne war das Ziel des Sozialdenkens ein crossing von der Barbarei zur Zivilisation, von der Unterentwicklung zur Entwicklung. Es handelte sich um ein lineares, hierarchisches und einheitliches Denken, das allerdings nicht nur in Lateinamerika zu finden war (siehe Harris 1968). Sarmiento führte in Lateinamerika die Unterscheidung Zivilisation/Barbarei ein. Zivilisation, so Sarmiento, sei nur bei europäischen und nordamerikanischen Gesellschaftsmodellen zu finden. Lateinamerika müsse mit einem Mangel an Zivilisation gleichgesetzt werden. Die Schlussfolgerung war paradox: Das Lateinamerikanische muss von Lateinamerika ausgeschlossen werden. Die Gaucho-Kultur – die Volkskultur Argentiniens – ist als Barbarei zu bezeichnen; sie kann nichts zum Fortschritt der Nation beitragen. Sarmiento ging es um ein urbanes, zivilisatorisches Projekt, das in großem Maße den Charakter der zentralistischen territorialen Ordnung widerspiegeln sollte. Die Unterscheidung Zivilisation/Barbarei hatte ein geografisches Korrelat: die Unterscheidung zwischen Stadt und Land. Nach Sarmiento handelt es sich in Lateinamerika um eine dualistische Gesellschaft, in der die „[. . . ] inhabitants of the city wear the European dress, live in a civilized
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 133 manner and posses laws, ideas of progress, means of instruction, some municipal organisation, regular forms of government, etc. [Für die anderen] Barbarism is the normal condition“ (Sarmiento 1972: 229, 231).
Die Barbarei der Caudillos (Facundo Quiroga, Juan Manuel Rosas), so Sarmiento, absorbierte die Zivilisation durch einen despotischen Unitarismus: „Wir wollten die Einheit der Zivilisation und der Freiheit, was wir aber bekommen haben, ist die Einheit der Barbarei und der Sklaverei“ (Sarmiento 1945: 19; Übersetzung A.M.). Sarmiento will verhindern, dass Grenzen von außen (Land, Barbarei) nach innen (Stadt, Zivilisation) überschritten werden. Das Gegenteil müsse stattfinden. Er sieht den Staat als zentrale Vermittlungsinstanz in diesem zivilisatorischen Prozess: „To govern is to educate“, ist das Motto Sarmientos (Sarmiento in Davis 1972: 76). Der Zivilisationsprozess müsse durch eine vom Staat gesteuerte Erziehung vollzogen werden, die die Barbarei in Lateinamerika abschafft und durch Zivilisation ersetzt. In dieser Hinsicht vertritt Alberdi eine ähnliche Meinung. Da Lateinamerika als Barbarei – anders gesagt, als Mangel an Zivilisation – zu verstehen sei, sei die Entwicklung Lateinamerikas von der Einführung europäischer Kulturformen abhängig. Alberdi schlägt sogar vor, dass der Staat die Einwanderung europäischer Bevölkerung fördern solle, um die Unterschichten kulturell aufzuwerten (Anderle 1988: 438 f.). Die Zivilisierung der Massen solle nicht allein dem Handel überlassen werden. Es müsse eine enge Beziehung mit den Quellen der Moderne, mit den Gewohnheiten und den Traditionen der europäischen Kultur aufgebaut werden, was, so Alberdi, nur durch einen staatlich gesteuerten Einwanderungsprozess erreicht werden könne. Im Bereich der Wirtschaft sieht Alberdi, wie auch Sarmiento, im Freihandel eine wichtige Alternative für lateinamerikanische Länder. Dies bedeutet eine Umstrukturierung der zentral orientierten Kolonialordnung. Der Staat wird nun als Gesellschaftsspitze und als Zentralinstanz betrachtet, die die Verantwortung dafür trägt, den Mangel an Zivilisation in Lateinamerika zu beseitigen. Alberdi ist auch der Ansicht, dass die Erziehung „das Medium der Kultur der entwickelten Völker ist“ (Alberdi 1957: 60). Da die Wilden auf amerikanischem Boden bereits unterdrückt wurden, „sind wir, Europäer aufgrund unserer Rasse und Zivilisation, die Besitzer Amerikas“ (Alberdi 1957: 69; Übersetzung A.M.). Die Aufgabe sei nun, „[...] zu diesem Europa, das wir auf Schlachtfeldern mit Waffen bekämpft und besiegt haben, von dem wir aber im Bereich der Industrie und des Denkens immer noch weit entfernt sind, zurückzukehren, um unsere unvollkommene Kultur zu erweitern“ (Alberdi 1957: 69; Übersetzung A.M.).
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Die Kulturauffassung Alberdis kann nicht als Beobachtung zweiter Ordnung verstanden werden, d. h. als Kontingenz der Kulturen, die sich gegenseitig beobachten, wie in der europäischen Semantik des 17. Jahrhunderts (Luhmann 1998). Hier betrachtet das Kolonialzentrum seine Peripherie als Ort der Vollexklusion, d. h. des Mangels: „In Amerika ist alles, was nicht europäisch ist, barbarisch. Es gibt keine andere Unterscheidung als diese: 1. der Eingeborene, d. h. der Wilde; 2. der Europäer, d. h. wir, diejenigen, die in Amerika geboren sind und Spanisch sprechen; diejenigen, die an Christus und nicht an Pillán [Gott der Indigenen] glauben“ (Alberdi 1957: 67; Übersetzung A.M.).
Unvollkommene Kultur heißt auch hier Mangel an Zivilisation. In der lateinamerikanischen Soziologie des 20. Jahrhunderts sind die Modernisierungstheorien, das CEPAL-Denken und die Dependenztheorie die wichtigsten Beispiele für die Idee der Unvollkommenheit Lateinamerikas. Unvollkommenheit wird dabei nicht als völliger Mangel an Zivilisation in einer barbarischen Welt interpretiert, sondern als Entwicklungshindernis auf dem Weg in die Moderne. Die Entwicklung des CEPAL-Denkens basiert auf der Semantik Zentrum/Peripherie und stellt Lateinamerika als unterentwickelte Peripherie eines entwickelten Zentrums dar – Begriffe, die sich allerdings auf technologische und wirtschaftliche Grundlagen stützten. Sie stellte eine funktionale Äquivalenz zur Semantik der Zivilisation/Barbarei des 19. Jahrhunderts dar, die sowohl als protosoziologische Interpretation als auch als Basis für politische Entscheidungen diente. Auf ähnliche Weise operierte die Unterscheidung Entwicklung/Unterentwicklung, allerdings nicht als Protosoziologie, sondern als akademische und politisch basierte Sozialwissenschaft, die an Modernisierungszwecke orientiert war. Die Moderne, die im 19. Jahrhundert als Zivilisation bezeichnet wurde, heißt im 20. Jahrhundert Entwicklung. Im ersten Fall wurde Lateinamerika als etwas Mangelhaftes und im zweiten als etwas Unvollkommenes betrachtet. Mit dem Zivilisationsbegriff des 19. Jahrhunderts wurden gewisse semantische Grundlagen eingeführt (Vernunft, Einheit, Fortschritt), die zur Auflösung der Barbarei führen sollten. Der Entwicklungsbegriff brachte die erforderliche Semantik für den Aufbruch der neuen Moderne ins Spiel: Industrie, Kapital, Markt. Der Begriff implizierte aber auch, dass es eine Außenseite geben musste, von der aus die Entwicklung beobachtet wird. Die Paradoxie des CEPAL-Denkens bestand gerade darin, dass CEPAL zunächst die Differenz feststellte und sie anschließend als Einheit thematisierte. Die Beobachtungsposition, von der aus die Differenz festgestellt wurde, war die Peripherie. Differenz hieß in diesem Sinne, dass Lateinamerika eine unvoll-
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kommene Version Europas und Nordamerikas war, die zu einer untergeordneten Position in der Weltgesellschaft führte. Um das beschreiben zu können, wurden eine Reihe von Unterscheidungen entwickelt, die als Ergänzung zur Semantik Zentrum/Peripherie dienten und die Unvollkommenheit Lateinamerikas bezeichneten: u. a. Metropolis/Satellite (André Gunder Frank)1 , core, semiperiphery, periphery (Immanuel Wallerstein),2 self-centered system/peripheral system (Samir Amin),3 central economies, balanced peripheries, unbalanced peripheries (Franz Hinkelammert),4 Feudalismus/Kapitalismus (Ernesto Laclau).5 Lateinamerika wurde als ein unterentwickeltes Europa und nicht als Gesellschaft an sich betrachtet. Daraus folgte der wichtigste wirtschaftspolitische Vorschlag der CEPAL: das importsubstituierende Industrialisierungsmodell, das zum Aufbau einer europäischen bzw. nordamerikanischen Industrieordnung in Lateinamerika führen sollte. CEPAL stützte sich auf die Einheit der Entwicklung, so wie sich die Denker des 19. Jahrhunderts auf die Einheit der Zivilisation gestützt hatten. Man schloss daraus, dass die Überwindung einer unvollkommenen bzw. unvollständigen Entwicklung nur davon abhing, ob die Logik des Zentrums auf die Peripherie übertragen werden konnte. Durch staatlich gesteuerte Entwicklungsstrategien versuchte man, die Operationsprinzipien entwickelter Gesellschaften auf Lateinamerika zu übertragen. Man übersah dabei, dass Lateinamerika eine hochkomplexe gesellschaftliche Konstellation darstellte, die einfache Übertragungen nicht zuließ. Sowohl im protosoziologischen Denken des 19. Jahrhunderts als auch in der Soziologie der 20. Jahrhunderts wurde Lateinamerika als eine unvollständige 1 | Das Weltsystem ist nach Frank „a whole chain of metropolis and satellites, which runs from the world metropolis down to the hacienda or rural merchant who are satellites of the local commercial metropolitan center but who in their turn have peasants as their satellites“ (Frank 1969: 146-147). 2 | Positionen in der Zentrum/Peripherie-Schematik sind nach Wallerstein nicht fixiert. Differenzen sind aber nicht abzuschaffen, denn „all states cannot develop simultaneously by definition, since the system functions by virtue of having unequal core and peripheral regions“ (Wallerstein 1975: 23). 3 | Selbstzentrierte Systeme arbeiten durch expansive und kontraktive Wirtschaftszyklen und haben keinen wesentlichen Kontakt mit der Peripherie. Ein peripheral system wird dadurch charakterisiert, dass es auf Exporten der Industrieaktivität basiert, sodass starke ökonomische Unterschiede festgestellt werden können zwischen denjenigen, die Zugang zum Industriebereich haben, und denen, die von ihm ausgeschlossen sind (Amin 1974). 4 | Hinkelammert führt die Differenz Zentrum/Peripherie in die Peripherie wieder ein und unterscheidet zwischen balanced und unbalanced peripheries. Länder wie Australien, Neuseeland, Canada seien balanced peripheries, und Länder traditioneller Technologien werden als unbalanced peripheries bezeichnet (Hinkelammert 1972). 5 | Nach Laclau war Lateinamerika mehr durch feudale als durch kapitalistische Produktionsbeziehungen gekennzeichnet: „the pre-capitalist character of the dominant relations of production in Latin America was not only not incompatible with production for the world market, but was actually intensified by the expansion of the latter“ (Laclau 1971: 30).
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Gesellschaft begriffen. Europa und Nordamerika fungierten als Modelle der Gesellschaftsdifferenzierung, die die lateinamerikanische Reflexion ständig beobachteten und als Endziel betrachtet wurden. Das Modell „Lateinamerika“ war die negative Seite Europas.6 Im 19. Jahrhundert war das Endziel die europäische Zivilisation; in diesem Sinne wurde Lateinamerika als mangelhaft interpretiert. Das Ziel im 20. Jahrhundert war eine europäische oder nordamerikanische Entwicklung; in diesem Falle interpretierte die lateinamerikanische Soziologie (besonders im CEPAL-Denken) Lateinamerika als etwas Unvollkommenes. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich die Soziologie von dieser Vorstellung distanziert. Im Abschnitt 5.3.4 komme ich darauf zurück.
5.3.2 Lateinamerika als ethische Gemeinschaft In der lateinamerikanischen Soziologie wurde die Frage der Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft überwiegend als eine Frage der Einheit des Nationalstaates oder der Einheit ethischer Gemeinschaften betrachtet. Dies kann zunächst als ein rein methodologisches Problem interpretiert werden, das unter dem Stichwort des methodologischen Nationalismus als Problem der gesamten Soziologie aufgefasst werden kann (Chernilo 2007). Die dritte Erkenntnisblockade nach Luhmann thematisiert dieses Problem als geografische Auffassung des Gesellschaftsbegriffes (Luhmann 1997). Im Unterschied dazu geht es bei der lateinamerikanischen Soziologie nicht nur um eine territoriale Vorstellung der Gesellschaft, sondern auch um die Gesellschaft als partikularistische normative Idee, die von bestimmten Gesellschaftsgruppen verkörpert wird. Die lateinamerikanische Soziologie hat sich in vielen Fällen mit diesen gesellschaftlichen Gruppen identifiziert und daraus Analysen abgeleitet, die davon ausgingen, dass die Gesamtgesellschaft eine Erweiterung der partikulären normativen Vorstellungen spezifischer Gemeinschaften sei. Dies galt für partikuläre Gemeinschaften wie die Liberalen im 19. Jahrhundert (Bilbao) und die Indigenen (Mariátegui, Haya de la Torre), die „populäre Nation“ (Rama, Puiggrós, Hernández), die Katholiken (Morandé), das Populäre (Parker) und die Angloamerikaner (Véliz) im 20. Jahrhundert. In all diesen Fällen führt die soziologische Analyse primär zu einer Repräsentation der Weltvorstellungen solcher Gemeinschaften, auch wenn sich die Soziologie selbst als Gesellschaftstheorie darstellt. In den vorherigen Kapiteln wurde bereits festgestellt, dass das 19. Jahrhundert einen Wendepunkt im lateinamerikanischen Denken darstellt. Wie gesagt, 6 | M. Neves hat in jüngerer Zeit den Begriff der negativen Moderne in Bezug auf Lateinamerika wiedereingeführt (siehe Neves 2006).
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 137
hatten die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution einen starken Einfluss auf alternative Modelle der politischen Organisation der lateinamerikanischen Gesellschaft. Dies wurde als Liberalismus bezeichnet, um den Unterschied zum monarchischen Regime hervorzuheben. Viele Politiker und Intellektuelle waren von den neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten, die das Ende des monarchischen Regimes eröffnete, so beeindruckt, dass oftmals persönliche Projekte mit nationalstaatlichen Programmen verwechselt wurden. Dies galt insbesondere für den chilenischen Sozialdenker Francisco Bilbao. Der Liberalismus Bilbaos befreite sich – sowohl im politischen als auch im religiösen Sinne – mehr als andere Ansätze von der Tendenz, den Staat in das Zentrum der Gesellschaftsrepräsentation zu rücken. Für Bilbao stellte z. B. das zentralistische Regime Portales einen Hochverrat am revolutionären Geist der Unabhängigkeitsbewegung dar. Es sei eine Diktatur, die sich hinter den Verfassungsstrukturen verberge. Die Lösung sah er im Aufbau einer Bundesrepublik, in der sich die Besonderheiten jeder Region unabhängig voneinander entwickeln könnten (Burucua/Campagne 1994). Doch damit waren auch einige Befürchtungen verbunden, die mit der Ideologie der Katholischen Kirche zu tun hatten. Bilbao unterscheidet die politischen Prinzipien der Republik vom religiösen Dogma des Katholizismus. Während die Idee der Republik (allerdings nicht eine Republik im Sinne Portales, sondern eine föderative Republik) freie Kritik mit einschließe, fordere der Katholizismus strikten Gehorsam gegenüber dem Klerus, was nach Ansicht Bilbaos nur zum Zusammenbruch der Republik führen könne. Man müsse eine rationale Kritik an der Religion üben dürfen, damit sie einem egalitären, brüderlichen und vor allem liberalen Gesellschaftssystem dienen könne. In diesem Sinne versteht Bilbao die Gesellschaft als ein einheitliches, normatives Projekt der Liberalen, von dem die Konservativen ausgeschlossen werden müssen. Dies setzt die Paradoxie voraus, dass eine liberale Gesellschaft durch Unterdrückung der Gegner erreicht wird. Die Prinzipien der katholischen Kirche, die für Bilbao die zentrale Autorität im Alltag waren, sollten seiner Meinung nach abgeschafft werden: „[Der Katholizismus ist eine] autoritäre Religion, die an die unfehlbare Autorität der Kirche, also an die Hierarchie der Menschen und an die Autorität über das individuelle Bewusstsein mittels der Konfession glaubt. Autorität des Priesters, Autorität des Klerus, Autorität des Papstes, Autorität des Konzils“ (Bilbao 1940: 53; Übersetzung A.M.).
Bilbaos rationale Kritik an der Religion zielte auf die Abschaffung dieser Autorität und nicht auf ihre Integration in der liberalen Gesellschaftsvorstellung. Bilbao vertrat damit die Auffassung des Positivismus als praktische Philosophie, die bei den lateinamerikanischen Regierungen in der zweiten Hälfte des 19.
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Jahrhunderts verbreitet war. Es handelt sich dabei um keine Sozialanalyse, sondern es ging darum, die Gesellschaft als Objekt einer partikulären normativen Vorstellung zu verstehen, um „die Gesellschaft“ der liberalen Gemeinschaft als einzig mögliche Gesellschaftsvorstellung darzustellen. Ähnliches galt für die lateinamerikanische Version des Marxismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dem zugrunde liegt natürlich nicht der normative Partikularismus der liberalen Gemeinschaft, sondern die ethische Gemeinschaft der Indigenen. Durch die Synthese von Mythos und Revolution versuchte José Carlos Mariátegui die Gesellschaft („Lateinamerika“) als Gesellschaft der indigenen Weltvorstellungen zu repräsentieren. Mariátegui betrachtete Lateinamerika und besonders Peru mit einer Kombination aus marxistischen Prämissen italienischer Prägung (Croce, Labriola) und Reflexionen über die komplexe Integration der Indigenen in die nationale Gesellschaft. Mehr als die Arbeiterklasse oder die begrifflich abstrakte Konstruktion des Proletariats sind, nach Mariategui, die Indianer die unterdrückte Klasse. Allerdings entsprächen sie kulturell nicht dem klassischen revolutionären Modell: „‚The soul of the Indian‘ can only be raised up ‚by the myth, the idea of socialist revolution‘“ (Mariátegui in Hale 1996: 197). Besonders durch Sorel gelangte Mariátegui zur Erkenntnis des „[...] religiösen, mythischen und metaphysischen Charakters des Sozialismus und wie der Mensch [vielmehr] vom Mythos als von der Religion oder der Revolution zu steuern ist“ (Mariátegui 1979: 201-202; Übersetzung A.M.).
Insofern versuchte Mariátegui die Wirklichkeit des Mythos der revolutionären Praxis so zu verstehen, dass der mythische Gehalt des Sozialismus der Weltvorstellung der Indianer entsprach. Die Einheit der Revolution, nämlich die Gleichheit aller Menschen, ließe sich in diesem Sinne durch das Ausnutzen der kulturellen Differenz vollziehen. Radikaler als Mariátegui in Bezug auf das Indigene als normative Repräsentation der Gesamtgesellschaft war Raúl Haya de la Torre. Haya de la Torre lehnte sogar die Bezeichnungen Hispanoamerika und Lateinamerika ab, weil sie semantisch mit dem Imperialismus verbunden seien. Seine Bezeichnung für die verschiedenen ethischen Gemeinschaften ist Indoamerika (Werz 1995). Indoamerika bestehe aus der „politischen und wirtschaftlichen Einheit der 20 Republiken, in die die große indoamerikanische Nation geteilt ist“ (Haya de la Torre in Werz 1995: 82; Übersetzung A.M.). Haya de la Torre begreift die Einheit der Gesellschaft in Lateinamerika aus der Perspektive der Einheit dieses Indigen-Seins, die zugleich als Substrat und Grenze aller anderen Erwartungen zu verstehen sei. Denn dieses Substrat setzte voraus, dass die indoamerikani-
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 139
schen Völker eine andere Zeitvorstellung haben, als die der Industrienationen. Daraus folgt nach Haya de la Torre, dass in Indoamerika moderne politische Projekte und Entwicklungsziele nur teilweise umgesetzt werden können. Man müsse sie den Weltvorstellungen des Indoamerikanischen anpassen, um relative Erfolg zu erzielen. Dies wurde in der Sprache der Entwicklungstheorien als Entwicklungshindernis bezeichnet (siehe Véliz 1969; Jaguaribe 1976; Fajnzylber 1983). Die Vorstellung von Indoamerika steht in enger Verbindung mit dem lateinamerikanischen Populismus. Haya de la Torre gründete 1926 die APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), die im 20. Jahrhundert als Modell des Populismus in Peru, Argentinien und Brasilien galt. Im Hintergrund des lateinamerikanischen Populismus steht der Gedanke einer „Massengemeinschaft“, die durch die Einheit des Staates und einer führenden politischen Figur konstituiert und repräsentiert wird. Die Gesellschaftsvorstellung, die daraus resultiert, wird von der Identifizierung des Gesellschaftsbegriffes mit den partikulären normativen Zielen des Populismus abgeleitet: Antiimperialismus, kulturelle Integration, Beteiligung der Massen an der Regierung (Touraine 1987: 142 f.). Hierzu liefert Weffort eine interessante Interpretation: „Die Besonderheit des Populismus besteht darin, dass er eine Herrschaftsform [...] ist, in der keine Sozialklasse eine Vormachtstellung hat, gerade weil keine Klasse in der Lage ist, sie zu übernehmen. Es sei daran erinnert, dass Populismus entsteht, wenn die Oligarchie und die liberalen Institutionen eine Krise durchmachen, die zu einem weitgehenden und instabilen Kompromiss zwischen den dominanten Gruppen zwingt [...] Unter den Bedingungen einer Hegemoniekrise muss sich der Leader oder die Partei der Funktion widmen, Vermittlungen zwischen den dominanten Gruppen und der Masse zu etablieren. Auf diese Weise lässt sich in gewissem Maße die Anerkennung der Legitimität populistischer Herrschaft seitens der unteren Klassen als eine Vermittlung des Status quo begreifen – eine substitutive Form der vorhandenen Hegemonie. Mit einem Wort wird bei der Beteiligung der Massen am Populismus die wirkliche Spaltung der Gesellschaft in konfliktive Klassen unterschätzt und damit zeigt sich eine Neigung zum Volk (oder zur Nation), die als eine solidarische Interessengemeinschaft verstanden wird“ (Weffort 1967: 54-55; Übersetzung A.M.).
Diese Orientierung wurde vor allem bei den argentinischen Soziologen Carlos Rama, Rodolfo Puiggrós und J.J. Hernández Aguirre deutlich (Werz 1995). Rama vertrat eine populistische Denkweise, die die Gesellschaft mit der nationalen Gemeinschaft identifiziert: Gesellschaft bedeutet Nation, nationale Geschichte und Repräsentation eines politischen Leaders, der die Gemeinschaft symbolisiert. Dies setzt zugleich voraus, dass „fremde Ideologien“ und intellektuelle
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universalistische Neigungen ausgeschlossen werden müssen. Seinerseits versucht Puiggrós, die Differenz Volk/Oligarchie zu skizzieren. Die Oligarchie wird als Symbol des Imperialismus betrachtet, und die von Sarmiento im 19. Jahrhundert kritisierten Caudillos werden nun als die wahren Träger der nationalen Gemeinschaft angesehen. Das Volk der Caudillos wird so zum Subjekt der soziologischen Analyse, aus dessen Verfassung ein ethisches Kriterium abgeleitet wird – so z. B. J.J. Hernández Aguirre: „Das ‚nationale Dasein‘ wird von den im abstrakten Universum der Wirtschaftsund Kulturformen des Imperialismus eingeschlossenen Oberschichten verdorben. Und im Gegenteil: Das ‚nationale Dasein‘ wird von denjenigen, die unterdrückt sind, unterstützt [...] Das ‚nationale Dasein‘ heißt zugleich anti-imperialistisches Selbstbewusstsein und Wille zum Aufbau der Nation“ (Hernández in Werz 1995: 85; Übersetzung A.M.).
In all diesen Fällen wurde die „Gesellschaft Lateinamerikas“ als die Einheit einer partikulären national-populären Gemeinschaft betrachtet, die jede Form des Universalismus ablehnte. Dieses Problem führte zur Identitätsfrage des Lateinamerikanischen: Kann die „Gesellschaft Lateinamerikas“ die Moderne annehmen, oder muss sie diese ablehnen, weil sie „Imperialismus“ voraussetzt und eine Gesellschaftspraxis erfordert, die in Lateinamerika unmöglich ist? Im Kontext der Kulturanalyse sind Pedro Morandé und Christian Parker dieser Frage nachgegangen. Morandé ist der Ansicht, dass sich die Identität lateinamerikanischer Gesellschaften während des Aufeinandertreffens von indigenen Traditionen und dem spanischen Katholizismus herausgebildet hat. In diesem Prozess, der Beziehungen von Beteiligung und Zugehörigkeit anstelle von Differenz und Opposition betone, habe sich die Identität Lateinamerikas entwickelt. Dank der kultischen Struktur des indianischen Denksystems habe sich die Indianerkultur den Barockritualen des spanischen Katholizismus des 16. Jahrhunderts angepasst, sodass die Identität Lateinamerikas von einem katholischen Substrat geprägt sei: „Die lateinamerikanische Kultur verfügt über ein reales katholisches Substrat. Ein solches Substrat wurde zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert konstituiert, das heißt im Zeitalter der ersten Evangelisierung“ (Morandé 1987: 162; Übersetzung A.M.).
Da dieser barocke Katholizismus aus vorreflexiven Strukturen bestehe, lehne die Semantik Lateinamerikas jede Form reflexiven Denkens ab. In Bezug auf den Säkularisierungsprozess schreibt Morandé: „Säkularisierung wird als eine universalisierende Tendenz identifiziert, die das partikuläre kulturelle Ethos zu ersetzen versucht [...] Aus diesem
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 141 Grund kann sie sich nur als Herrschaft der Kräfte, die das technische und wissenschaftliche Wissen kontrollieren, durchsetzen. Säkularisierung ist eines der wichtigsten Kennzeichen der Herrschaft über Lateinamerika, denn durch die Zerstörung seiner kulturellen Identität lässt sie es in einer peripheren und abhängigen Position zurück. Ein vom Ethos entleerter Strukturalismus kann weder zum Aufbau eines historischen Subjekts noch zur Befreiung von der transnationalen Herrschaft führen“ (Morandé 1987: 164; Übersetzung A.M.).
Dieses Ethos sei, nach Morandé, in der Kultur zu finden. Nur sie könne dem Einfluss des Positivismus, des Marxismus, der Entwicklungstheorien und des Neoliberalismus Widerstand leisten. In jüngeren Texten und vor der Evidenz der Strukturdifferenzierung bezeichnet Morandé die Kultur als Raum der semantischen Einheit des Lateinamerikanischen. Kultur versteht er allerdings als „persönliche Identität des Subjekts und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethischen gemeinsamen Erfahrung“ (Morandé 1995: 151; Übersetzung A.M.). Die lateinamerikanische Kultur sei in diesem Sinne eine Synthese zweier ethischer Gemeinschaften: die der Indianer und die des Katholizismus. Moderne Gesellschaftsprozesse werden zwar vom Gesellschaftsbegriff nicht ausgeschlossen, doch die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft wird vom ethischen Synkretismus der Kultur übernommen. Radikaler ist in diesem Sinne die Auffassung Cristián Parkers. Er behauptet, dass es in Lateinamerika eine „andere Logik“ gebe und dass deshalb die „Gesellschaft Lateinamerikas“ als alternatives Modell zur Moderne zu verstehen sei (Parker 1996). Das Ethos lateinamerikanischer Gesellschaften ist nach Parker in der populären Religion zu finden. Es geht dabei nicht um den Synkretismus zwischen Indianern und Katholiken, sondern zwischen den religiösen Ritualen, unterschiedlichen Glauben, Denkweisen und Meinungen „über die Welt, die Gesellschaft, die Politik, die Kultur, die Familie, das Leben und den Kosmos“ (Parker 1996: 367; Übersetzung A.M.) von populären Gemeinschaften. Die populäre Gesellschaft ist in diesem Sinne nicht als Nation zu verstehen – wie bei der Soziologie des Nationalpopulismus –, sondern als subjektives Kulturfeld, das die Identität der „Gesellschaft Lateinamerikas“ prägt und sie von der Moderne unterscheidet: „[Lateinamerikanische Ritualen, Glauben und Denkweisen] sind hermeneutische Anstrengungen, um sich eine amerikanische, halbmoderne, nicht westliche Welt zu denken, die semantisch von westlichen Kategorien und Kultureinflüssen durchdrungen ist, die die vorkolumbischen Traditionen annimmt, die für sich selbst eigene Kategorien verlangt, sucht und entwickelt, die aber bei ihrer ‚lebenswichtigen Synthese‘, beim religiösen und kulturellen Synkretismus, eigentlich nie westlich war und seit der
142 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika Eroberung nicht mehr rein indigen ist“ (Parker 1996: 371; Übersetzung A.M.).
Die Soziologie Parkers erhebt den Anspruch, eine nicht rationale bzw. populäre Gesellschaftsvorstellung zu repräsentieren, die auf einer „anderen Logik“ basiert, welche symbolisch statt empirisch, intuitiv statt positivistisch ist. Die Grundlage dieser Logik ist das Religiöse: „Das lateinamerikanische Volk findet den Sinn des Lebens, des Leidens, der Arbeit, der Heirat, des Todes, im Glauben“ (Parker 1996: 379). Die ethische Gemeinschaft der Soziologie Parkers ist eine christlich-populäre Gemeinschaft. Dieses Substrat ist bei Claudio Véliz nicht zu finden. Er plädiert dafür, die lateinamerikanische Identität durch die angloamerikanische Kultur zu ersetzen. Véliz meint, dass Lateinamerika nie besser dafür vorbereitet war, sich von dem Gedanken der Einheit einer lateinamerikanischen Gemeinschaft zu verabschieden und die Differenz zu akzeptieren. Die Differenz, von der er spricht, bezieht sich allerdings – wie im 18. und 19. Jahrhundert – auf eine andere imaginierte Gemeinschaft: auf die englischsprachige Welt. Im Anschluss an die von Isaiah Berlin (1990) verwendete Metapher „Archilochus“ spricht Véliz von der Welt des Fuchses und des Igels. Der Fuchs, schreibt Berlin, „relate[s] everything to a single central vision“, und der Igel „pursue[s] many ends, often unrelated and even contradictory“ (1990: 436). Véliz überträgt die Metapher auf das gesellschaftliche Feld: „[...] it seems fair to propose that the south of the New World is the realm of the hedgehog, while the foxes roam at will in the north“ (Véliz 1994: 15). Abgesehen davon, dass es in Lateinamerika keine Igel gibt, stellt Véliz die These auf, dass sich die lateinamerikanische Geschichte wie ein Igel, also zentralistisch entwickelt hat. In The Centralist Tradition of Latin America (1980) hatte er diese Meinung bereits inkonsequent vertreten, weshalb er auch in Kapitel 4 dieses Buches kritisiert wird. Wie Morandé weist Véliz darauf hin, dass sich in Lateinamerika seit der Kolonialordnung eine Barockkultur entwickelt hat, die nicht nur eine Kunstströmung zwischen dem Manierismus und dem Neoklassizismus darstellt. Der Barock präsentiert sich als Einheit der Identität und Kontrolle einer differenzierten Moderne: „The Baroque is a metaphor for Spain and her Indies at their triumphant best. It is a reminder of imperial greatness, an obstacle to dissolution, a technique for the preservation of unity, an alibi for the central control of diversity [...] the Baroque is the mode of the hedgehog“ (Véliz 1994: 71).
Der Barockkultur Lateinamerikas stellt Véliz die gotische, dezentrale und vielfältige angloamerikanische Fuchskultur gegenüber. Diese gemeinschaftliche Kultur, die sich in den letzten Jahrzehnten über die ganze Welt ausgebreitet
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 143
hat, ist nach Véliz dazu berufen, die barocke lateinamerikanische Identität zu ersetzen: „After four centuries of steadfast resistance to dangerous doctrinal innovations [...] the lofty dome of the Spanish cultural revolution has in the end proved defenceless against blue jeans, computer graphics, jogging shoes, and electric toasters. It is now crumbling, not because it has been bested by rival doctrines or pulled asunder and brought down by ideological deviations but because it has been overwhelmed by the tidal heaving and pulling of an immense multitude of inexpensive, pedestrian, readily accessible, and unpretentious products of industrial capitalism“ (Véliz 1994: 219).
Véliz versucht, einen Abbauprozess der lateinamerikanischen Kultur in Gang zu setzen. Es geht ihm darum, die zentralistische Einheit des barocken Igels durch die Einheit des gotischen Fuchses zu ersetzen. Aus der Perspektive der zweiten Erkenntnisblockade betrachtet, bedeutet dies die Abschaffung der „Gemeinschaft Lateinamerika“ zugunsten einer angloamerikanischen Gesellschaftsvorstellung. Véliz Argumente für die Transformation basieren jedoch auch auf eurozentrischen und sogar rassistischen Reflexionen: „In Australia, Malaysia, and Brazil, automobile components of extraordinary electronics are produced by workers otherwise incapable of explaining why an internal combustion engine functions at all“ (Véliz 1994: 157).
Oder: „The Japanese have manufactured more pianos in the last two or three decades than the whole Europe since Beethoven [...] but the average music critic would be hard-pressed to think of half a dozen Japanese compositions incorporated into the repertoire“ (Véliz 1994: 157-158).
Abgesehen davon, dass seine Art der Argumentation an das späte 18. Jahrhundert erinnert, macht Véliz damit deutlich, dass seine soziologischen Überlegungen von den ethischen Grundlagen einer angloamerikanischen Gemeinschaft geleitet sind. Er vertritt eine Haltung, die von der Überlegenheit des Angloamerikanischen ausgeht, und zeigt zugleich, dass er den Globalisierungsprozess und die Entstehung einer Weltgesellschaft völlig missverstanden hat, denn Globalisierung und Weltgesellschaft bedeuten zugleich Regionalisierung – also eine lokale bzw. regionale Neuinterpretation des Globalen – und nicht einfach die Ausbreitung der europäisch-amerikanischen Lebensführung und Abschaffung der vielfältigen auf der Welt existierenden Differenzen. Gegen Ende seines Buches behauptet Véliz:
144 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika „Today the consensus of opinion overwhelmingly regards the constraints of the centralist order as a chief impediment to the creative processes that are the heart of industrial modernity“ (1994: 229).
Damit hat Véliz zwar recht, aber um die aus dem Zentralismus entstehenden gesellschaftlichen Probleme zu überwinden, ist eine soziologische Theorie erforderlich, deren Betrachtungen über die zugrunde liegenden ethischen Gemeinschaften hinausgehen und die nicht direkt zur Annullierung regionaler Institutionalisierungen und deren semantischer Korrelate führt, sondern zu ihrer Analyse im Rahmen der Gesellschaftstheorie.
5.3.3 Soziologisches Wissen als politisches Programm Versteht man die Aufgabe der Soziologie als Repräsentation unterschiedlicher ethischer Gemeinschaften auf gesellschaftstheoretischer Ebene, dann läuft man Gefahr, das soziologische Wissen als Instrument zur politischen Handlungsorientierung gesellschaftlicher Akteure zu begreifen. Bei dieser Erkenntnisblockade geht es um die Forderung an die Soziologie, das gesellschaftstheoretische Wissen müsse den gesellschaftlichen Akteuren dienen. Dies führt zu einem direkten und nicht reflexiven Übergang zwischen den wissenschaftlichen Operationen der Gesellschaftstheorie und den politischen Interessen der Akteure. Damit verliert die Soziologie an kognitiver Autonomie. In diesem Fall würde das von der Soziologie erzeugte Wissen allein den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Akteure und nicht den theoretischen und methodologischen Vorbedingungen der Disziplin entsprechen. Ist diese praktische Anwendbarkeit des soziologischen Wissens in der soziologischen Arbeit nicht erkennbar, wird sie als irrelevant betrachtet (Chernilo/Mascareño 2005; Mascareño/Chernilo 2009). Gesellschaftstheoretisches Wissen musste im 19. Jahrhundert den Zivilisationszwecken dienen; im 20. Jahrhundert sollte es helfen, Entwicklungshindernisse zu überwinden und die Armut zu bekämpfen, dem Nationalpopulismus eine Ideologie zu geben, den religiösen populären Akteuren die Grundlagen für eine Identität zu schaffen, und in den letzten Jahrzehnten, den Unter- und Mittelschichten Hoffnungen auf den Zugang zu Funktionssystemen zu machen. Tut die Soziologie das nicht, dann stellt sich die Frage, wozu sie eigentlich da ist. Sie soll nur das erforschen, was zur politischen Positionierung unterschiedlicher Akteure beiträgt. Im 19. Jahrhundert wird diese Haltung bei Andrés Bello deutlich. Im Eröffnungsdiskurs der Universidad de Chile 1843 sagte er: „Für die Rechts- und Politikwissenschaftsfakultät wird ein breites Feld brauchbarer Anwendungen eröffnet. Sie haben es gehört: Die brauchbare Anwendung, die positiven Ergebnisse, die Gesellschaftsverbesse-
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 145 rungen sind das, was die Regierung hauptsächlich von der Universität erwartet – was hauptsächlich ihre Arbeit für das Land leisten soll“ (Bello 2009[1843]: 1; Übersetzung A.M.).
Bello vertritt diese Meinung nicht nur in Bezug auf die Rechts- und Politikwissenschaft, sondern auch auf die Wirtschafts-, Medizin- und insbesondere die Literaturwissenschaft, die „die Sprache entfalten, verbessern und den Anforderungen der Gesellschaft und sogar der Mode anpassen kann“ (Bello 2009[1843]: 3; Übersetzung A.M.). Zwar weist Bello darauf hin, dass die Universität praktische Anwendung nicht mit „blindem Empirismus“ verwechseln soll, da die Praxisorientierung die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens voraussetzt. Aber das Ziel der Wissenschaft bleibt außerhalb der Wissenschaft, d. h. im Feld der politischen Entscheidungen. Denn für Bello liegt das Wissen im Kern des Aufbaus der neuen republikanischen Institutionen: „Gewiss bin ich einer derjenigen, die die Volksausbildung als das wichtigste Ziel betrachten, dem die Regierung ihre Aufmerksamkeit widmen kann, als ein ursprüngliches und dringendes Bedürfnis, als die Basis aller Fortschritte, als die Grundlage der republikanischen Institutionen“ (Bello 1981[1843]: 34; Übersetzung A.M.).
Aufgabe der Zentralregierung ist die totale Einbeziehung der Bevölkerung in den Ausbildungsprozess (Bello 1981[1833]: 36-37) – ein Ziel, das auf die Demokratisierung und auf die Konsolidierung republikanischer Ideen gerichtet ist und die Zustimmung mit dem von oben durchgesetzten hierarchischen Konsens fördern soll (Botana 1994: 488). Eine Ähnliche Auffassung vertritt der Mexikaner Justo Sierra. Bei der Eröffnung der Universidad Nacional de Mexiko im Jahr 1910 behauptet Sierra, dass „[...] die Universität die Fähigkeit haben muss, das Leitmotiv des nationalen Charakters zu koordinieren. Gegenüber dem sich entwickelnden Selbstbewusstsein des mexikanischen Volkes wird sie stets einer Wertvorstellung der Gesundheit, der Wahrheit, der Freundlichkeit und der Schönheit das Licht halten, damit sie mit ihrem Licht die Finsternis ausstrahlen kann“ (Sierra 2009[1910]: 1; Übersetzung A.M.).
Im Rahmen des Aufbaus des Nationalstaates wird die wissenschaftliche Wahrheit den Zwecken der Nation untergeordnet: „Wir wollen nicht, dass im heute errichteten Tempel eine Atenea ohne Augen für die Menschheit und ohne Herz für das Volk bewundert wird [...] Wir wollen, dass hierein die auserwählten Mexikaner kommen, um Atenea promakos zu bewundern – d. h. die Wissenschaft, die das Land verteidigt“ (Sierra 2009[1910]: 1).
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Valentin Letelier im 19. Jahrhundert in Chile vertritt die gleiche Meinung: „[Die Universitäten] sind aufgerufen, die intellektuelle Aktivität der Völker zu fördern. Sie sind es, die mit der Vielfalt und Fruchtbarkeit ihrer Forschung den Grad an Kultur festsetzen, den jedes Volk erreicht“ (Letelier 1957: 184; Übersetzung A.M.).
Im Hintergrund des Denkens von Bello, Sierra und Letelier steht die Idee, dass die (nationale) Gesellschaft „aufgebaut“ werden soll, d. h., dass sie nicht von selbst als Resultat der Evolution entsteht, sondern dass sie von der Spitze der Gesellschaft aus – nämlich vom Staat bzw. von der Elite – geplant und modelliert werden kann. Das von der Wissenschaft erzeugte Wissen – und nicht nur das Wissen, sondern auch die Kunst, die Medien, das Recht, die Wirtschaft – muss dem Hauptziel des Aufbaus der nationalen Gesellschaft untergeordnet werden. Die operative Autonomie der Wissenschaft wird damit zumindest infrage gestellt; meist wird sie direkt angegriffen und entdifferenziert. Dies war auch unter den sozialistischen Regierungen Lateinamerikas ein Jahrhundert später noch spürbar. Ein Beispiel aus Chile: Als Resultat des Ersten Nationalen Wissenschaftlerkongresses im Jahr 1972 berichtete der Ausschuss aus Concepción: „1. Die Wissenschaft und die Technologie sollen dem Ziel des Aufbaus des Sozialismus dienen [...] 3. Die Grundlagen des Aufbaus des Sozialismus fordern im heutigen Alltag unserer Gesellschaft eine völlig politisierte und im Sinne der Transformation der Gesellschaft engagierte Wissenschaft und Technologie. Einen gewissen Neutralismus in der heutigen Lage zu bewahren, wäre irreführend; dies würde die Erhaltung des Kapitalismus bedeuten“ (Conicyt in Salinas 1995: 47; Übersetzung A.M.).
In diesem Sinne ist unter marxistischen Prämissen nicht nur das soziologische Wissen als politisches Programm zu verstehen, sondern auch die gesamte Wissenschaft. Was die Soziologie und die Gesellschaftsanalyse betrifft, war dies seit dem 19. Jahrhundert die Regel. Wie bereits erwähnt, war die unmittelbare Beziehung zwischen Wissenschaft und politischen Zielen bei der lateinamerikanischen Aufklärung deutlich zu beobachten. Dies galt auch für den überwiegenden Teil der wissenschaftlichen Doktrin des späten 19. Jahrhunderts: den Positivismus. Besonders in Brasilien war der Positivismus (das positivistische Apostolat – Lemos) von großer Bedeutung. Der Positivismus stellte sich als die wissenschaftliche Ideologie gegen das lateinamerikanische Anciénne Regime dar. Er demonstrierte par excellence, wie die Wissenschaft zum Teil des Regierens wurde:
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 147 „Zehn Jahre eines beharrlichen und mutigen Apostolats konnten in unserem geeigneten Medium nicht fruchtlos bleiben [...] Dank unserer Lehre strebten die Jugendlichen immer mehr nach einer völligen Selbsterneuerung mittels einer Kombination von positiver Wissenschaft und sozialem Gefühl. Durch das Zurückweisen alter revolutionärer und demokratischer Formulierungen machten diese Jugendlichen die Republik zum Ausgangspunkt des sozialen Umbaus, und zwar – dem von August Comte etablierten Prinzipien entsprechend – ohne Gott und König“ (Lemos 1980: 280; Übersetzung A.M.).
Analoges galt für den Positivismus Bilbaos in Chile: „Die Regierungen müssen das, was die Wissenschaft eindeutig festgestellt hat, verallgemeinern, und zwar ohne Symbole, es reicht mit den Lügen! Das ist die Logik der Zeit und der Revolution“ (Bilbao 1940: 90; Übersetzung A.M.).
Eine ähnliche Auffassung wurde u. a. auch von Gabino Barreda in Mexiko, Alcides Arguedas in Bolivien, Belisario Quevedo in Ecuador und José Ingenieros in Argentinien vertreten (siehe Villegas 1964). Die positivistische Euphorie verflog erst bei der Wende zum 20. Jahrhundert mit der Stellung der sozialen Frage. Das Problem war damals nicht der Aufbau des Nationalstaates im spezifischen institutionellen Sinne – wie im 19. Jahrhundert –, sondern das moralische Entsetzen aufgrund der gewaltigen Unterschiede zwischen den Inklusions- und Exklusionsbedingungen, die sich mit den ersten Modernisierungsphasen etabliert hatten. Es war eine Moralkrise (Viviani 1926), die die Idee einer Institutionalisierung der universitären Ausbildung aufbrachte; so der chilenische Sozialkritiker Julio Valdés Cange: „Mit der Ausbildungsreform würde sich im Laufe eines Jahrzehnts das Gesicht unseres Volkes verändern [...] Das wichtigste Ergebnis wäre die Transformation der Moralorientierung künftiger Generationen in allen sozialen Schichten. Von den sublimen Menschenwerten inspiriert, wären unsere Kinder nicht mehr Opfer kleiner Ambitionen; sie würden nicht nach Reichtum streben, als ob das Gold der Schlüssel zum Glück wäre“ (Valdés Canje 1998: 353).
Während Bello Mitte des 19. Jahrhunderts die praktische Anwendung des Wissens im positivistischen Sinne vorschlägt, wird das Wissen Anfang des 20. Jahrhunderts zum Instrument der Moralisierung der Gesellschaft. Vor dem Faktum der Exklusion übernimmt die universitäre Ausbildung die Aufgabe, Hoffnung auf eine egalitäre Zukunft zu machen, in der „bessere Menschen“ die Ungleichheit überwinden würden. Neben einer revolutionären Rhetorik und dem Dependenzbegriff war im 20. Jahrhundert das Thema Ungleichheit das Leitmotiv des Marxismus in Lateinamerika.
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Die Nennung des Marxismus als Beispiel für die dritte Erkenntnisblockade dürfte nicht überraschen. Mit dem immanenten Ziel, Theorie und Praxis zu verbinden, bot sich der Marxismus von vornherein zur Repräsentation dieser Blockade an. Man könnte sogar behaupten, dass die gesamte kritische Soziologie seit Marx das soziologische Wissen als politisches Programm verstanden hat. In diesem Sinne liegt die Besonderheit des lateinamerikanischen Marxismus nicht in einem solchen unmittelbaren Übergang, sondern in der Semantik der Dependenz, mit der er den Kapitalismus in Lateinamerika bewertet. Die Semantik der Dependenz lässt sich nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, sondern auch im geopolitischen und kulturellen Sinne verstehen. Lateinamerika wurde als territoriale Einheit verstanden, und zwar als externe Einheit der europäischen und nordamerikanischen Entwicklung. Es wurde als unterentwickelt betrachtet, weil es wirtschaftlich, politisch und kulturell eine abhängige Position im Weltkapitalismus hatte. In den 1950er Jahren hatte die CEPAL diese Abhängigkeit rein wirtschaftlich interpretiert. Das Problem wurde in den terms of trade zwischen der industrialisierten Welt und Lateinamerika sowie in seinen Produktionsstrukturen im Bereich der primären Güter gesehen. Der Lösungsansatz der CEPAL war die Strategie der Entwicklung nach innen, d. h. die Industrialisierung lateinamerikanischer Länder unter starker Kontrolle des Staates (Prebisch 1962, 1981). In den 1960er Jahren analysierte Gino Germani diese Problematik unter dem Stichwort der institutionellen Asynchronie (Germani 1962). Beide Ansätze (von CEPAL und Germani) wurden im lateinamerikanischen Marxismus als ungeeignet betrachtet, um die Abhängigkeitslage zu überwinden. Ersterer verschärfe die Ausbeutung in Lateinamerika und Letzterer sei „reine Wissenschaft“ ohne jeglichen Bezug zur Praxis. Die Entwicklungstheorien wurden als desarrollismo bezeichnet, was nicht nur eine theoretische, sondern auch eine politische Bedeutung hatte: Desarrollistas (die Befürworter einer raschen wirtschaftlichen Entwicklung) wurden praktisch als Spione des Imperialismus angesehen. Und der Funktionalismus Germanis wurde als rein konservative Soziologie betrachtet – er teilte damit das Schicksal Parsons in der europäischen Soziologie der Nachkriegszeit. Aus diesen Betrachtungen leitet die Soziologie für den Marxismus und die Dependenztheorien die Notwendigkeit eines lateinamerikanischen Verständnisses der Wissenschaft ab (Sonntag 1988). Nikolaus Werz fasst diese marxistische Haltung folgendermaßen zusammen: a) Man müsse neue, authentische Begriffe entwickeln, denn die herkömmlichen seien für europäische und nordamerikanische Gesellschaften gedacht. b) Die neue Begrifflichkeit müsse den wahren Gesellschaftsbedingungen Lateinamerikas entsprechen, nämlich der Abhängigkeitslage. c) Aus den neuen Begriffen entstünde eine Sozialwissenschaft der Dritten Welt, die anders als die Sozialwissenschaft der kapitalistischen und der
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sozialistischen Welt sei. d) Die Idee einer Sozialwissenschaft mit universaler Geltung wird abgelehnt. Eine solche Sozialwissenschaft wäre zwangsläufig eine konservative Soziologie, doch unter den politischen Bedingungen dieser Zeit sei eine engagierte Soziologie erforderlich. e) Der Sozialwissenschaftler müsse in Lateinamerika ein kampfbereiter Beobachter werden (Werz 1995: 130-132). Dies war der Kontext, in dem in Chile der Ausschuss aus Concepción 1972 eine im Sinne des Aufbaus des Sozialismus engagierte Wissenschaft und Technologie forderte (siehe oben). Vertreter dieses Marxismus in der lateinamerikanischen Soziologie waren Pablo González Casanova, André Gunder Frank, Orlando Fals Borda, Luis Vitale, Rui Mauro Marini. Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto gehören nicht dazu, auch wenn sie sich mit dem Dependenzbegriff auseinandersetzen. In ihrer detaillierten Analyse der Abhängigkeitslage in Lateinamerika wird die oben erwähnte Auffassung des lateinamerikanischen Marxismus jedoch nicht geteilt. Im nächsten Abschnitt werde ich darauf zurückkommen. Nichtsdestotrotz ist der kritische Einfluss des Marxismus – und damit die Idee einer für den politischen Kampf der Akteure engagierten Soziologie – noch bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der lateinamerikanischen Soziologie existent. Der Soziologe Tomás Moulian ist ein klarer Vertreter dieser Haltung. Seiner Philosophie der Geschichte liegt eine marxistisch inspirierte Verbindung zwischen Theorie und Praxis zugrunde: „Man kann sagen, dass die praktische Vorgehensweise der geschichtlichen Aneignung, d. h. der Eingriff in das Gegebene [...], ein historiographisches Selbstbewusstsein verlangt, das wie ein Mythos zum Handeln mehr als Theorie zu verstehen ist“ (Moulian 1997: 380; Übersetzung A.M.).
Moulian lehnt die Theoretisierung nicht ab. Da aber das Ziel der Soziologie die geschichtliche Aneignung durch das Subjekt ist, hat die Theorie seiner Ansicht nach einen untergeordneten Stellenwert gegenüber der politischen Anwendbarkeit soziologischen Wissens. Ähnliches gilt für Alain Touraine und Manuel Antonio Garretón. Hinter dem Zentralbegriff Touraines des Systems historischer Handlung verbirgt sich das Ziel, das Selbstbewusstsein des Akteurs zu stärken. Im Falle Garretons heißt dieses Ziel, zu Demokratisierungsprozessen beizutragen. Dies wird mit dem Begriff der sozialpolitischen Matrix umschrieben – eine Idee, die auf die Lösung der Bürgerrechtsprobleme und der Regierungs- und Klassenkonflikte ausgerichtet ist (Mascareño 2010). Die Orientierung der soziologischen Arbeit an politischen Interessen führt offenbar zu einer Art Notsoziologie: Man entdeckt, imaginiert oder konstruiert einen gewissen Notstand in der Gesellschaft, und dann organisiert man die theoretischen Mittel, um Strategien zu entwickeln, die den Akteuren dabei
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helfen, aus dieser Notlage herauszukommen. Die Soziologie wird zu einer Art Feuerwehr der Gesellschaft, die sich viel zu nah an den Gesellschaftsproblemen befindet und daher selbst in Brand gerät. Sie ist so nah dran, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung nicht möglich ist. Die Notsoziologie, die sich aus der dritten Erkenntnisblockade ableitet, ist in vielerlei Hinsicht eine Soziologie erster Ordnung – oder in der Semantik des Marxismus formuliert: eine Soziologie der kampfbereiten Beobachter, die eher handeln als beobachten.
5.3.4 Die soziologische Selbstbeschreibung Lateinamerikas jenseits der Erkenntnisblockaden Die Analyse der drei Erkenntnisblockaden führt zu einem Ansatz, den man als partikuläre normative Idee Lateinamerikas bezeichnen kann. Es wird ein ideales Gesellschaftsmodell (erste Blockade), eine ethische Referenz (zweite Blockade) oder ein politisches Ziel (dritte Blockade) ausgewählt und daraus eine Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse abgeleitet, die der ausgewählten partikulären normativen Idee entspricht. In der Geschichte der Soziologie Lateinamerikas (und in der heutigen Theorieentwicklung) sind aber auch Ansätze zu finden, die nicht unter den Nebenwirkungen der Erkenntnisblockaden gelitten haben und die die Gesellschaftsprozesse in Lateinamerika aus einer vor allem disziplinärtheoretischen Perspektive beobachtet und beschrieben haben. Bei ihnen wird zwischen Theorie und Anwendung unterschieden. Das theoretische Modell ist das, was angewendet wird, nicht das Resultat der soziologischen Analyse des Falles selbst, wie z. B. bei Germani in Bezug auf das Parsons’sche Modell deutlich erkennbar. Doch auch die Soziologie, die die Erkenntnisblockaden überwindet, hat eine normative Vorstellung von der Gesellschaft. Der Unterschied besteht offenbar darin, dass diese normative Vorstellung nicht partikulär, sondern universal agiert (Chernilo/Mascareño 2005; Mascareño/Chernilo 2009). Es handelt sich dabei um eine kosmopolitische Soziologie, die das Partikuläre beobachten und beschreiben kann, ohne dessen Repräsentation zu übernehmen. Der Begriff der Weltgesellschaft scheint für diese Art lateinamerikanischer Soziologie gut geeignet. Denn sie beschreibt zwar das Gesellschaftssystem in Lateinamerika, doch die abstrakte Idee, dass es nur eine Gesellschaft in der Welt gibt, steht latent im Hintergrund. Daher kann diese Soziologie – z. B. bei Gino Germani – die institutionellen Probleme Lateinamerikas beschreiben, ohne sie durch eine dubiose Inkompatibilität zwischen der abendländischen Rationalität und einem imaginierten lateinamerikanischen Dasein zu erklären. Oder sie kann die Abhängigkeitslage Lateinamerikas im Weltkapitalismus erläutern – wie z. B. bei Cardoso und Faletto –, ohne sie mit der Notwendigkeit einer Weltrevolution zu verbinden. Und sie kann auch Lateinamerika als Weg der Moderne verste-
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 151
hen – wie bei Larraín – und damit die Universalität moderner Strukturen und Semantiken mit ihrer regionalen Umsetzung verbinden. Wie in Kapitel 3 erläutert, gilt Gino Germani als Vertreter der Modernisierungstheorie in Lateinamerika. Diese Bezeichnung scheint für ihn aber zu eng gefasst. Modernisierungstheorien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine lineare Vorstellung von der Gesellschaftsentwicklung haben, in der das westliche Modell als Endziel betrachtet wird. Solche Theorien sind der ersten Erkenntnisblockade zuzuordnen. Sie gehen davon aus, dass die Anziehungskraft der europäischen bzw. nordamerikanischen Moderne die Welt zu einer Industriegesellschaft führt, in der die gesellschaftlichen Eigenschaften dieser Modelle repliziert werden (Rostow 1959). Germani entwirft einen gegenteiligen Ansatz. Nach seiner Auffassung folgt die Modernisierung unterschiedlichen paths, die von den wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen verschiedener Regionen der Welt abhängen (Germani 1962: 130 ff.), sodass das westliche Modell nicht repliziert, sondern immer wieder neu gestaltet wird. Damit distanziert sich Germani von den theoretischen Problemen der ersten Blockade. Germani unterscheidet sehr deutlich zwischen Theorie und Anwendung. Er spricht zwar von Modernisierung in Lateinamerika. Er tut dies aber im Rahmen eines Theoriemodells, das er auf der Basis der klassischen, europäischen Soziologie der 1950er und 1960er Jahre selbst entwickelt. Im Hintergrund steht vor allem Parsons. Die Verbindungen zur Parsons’schen Theorie werden in Germanis Buch Política y sociedad en una época de transición (Politik und Gesellschaft im Zeitalter des Übergangs; 1962) sehr deutlich: (a) Die Triade culture, social system, personality aus The Social System (Parsons 1970[1951]) versteht Germani als Kultur, Gesellschaft und Motivation. (b) Die pattern variables, die Parsons als Spezifizierung kultureller Orientierungen begreift, werden bei Germani als Modell zur Analyse des Übergangs von der Tradition zur Moderne verstanden. Darauf beruht der Begriff der Asynchronie. (c) Die Handlungstheorie in The Structure of Social Action (Parsons 1937) – actor, situation, normativ conditions – wird bei Germani bei der Analyse der Handlungsorientierungen im Zeitalter des Übergangs angewendet. (d) Parsons AGIL-Schema auf der Ebene des sozialen Systems (Wirtschaft, Politik, Gemeinschaft, Kultur) wird bei Germani in The Sociology of Modernization (1981) als Schema zur Erklärung des lateinamerikanischen Weges der Modernisierung verwendet. In diesem Kontext tauschte Germani den Gemeinschaftsbegriff, der ihm für seine theoretischen Zwecke als zu traditionell erschien, gegen den Gesellschaftsbegriff aus. (e) Der analytical realism Parsons wird bei Germani methodologisch übernommen; er warnt aber vor möglichen Problemen:
152 | Kapitel 5. Semantik der Moderne in Lateinamerika „Die Gefahr, der Irreführung durch misplaced concreteness zu unterliegen, d. h. Begriffe zu versachlichen, liegt auf der Hand. Vielleicht ist dies beim heutigen Stand des Wissens, der Forschung und der Sprache der Sozialwissenschaften unvermeidlich. Man muss auf diese Gefahr achten. Man muss die Künstlichkeit der Trennung von Faktoren in Betracht ziehen. Diese Haltung wird selbstverständlich bei anderen analytischen Distinktionen angewendet, besonders bei der Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen, politischen ‚Institutionen‘ usw. [...] Solche Dimensionen sind aber erforderlich, um den Übergangsprozess zu analysieren“ (Germani 1962: 16; Übersetzung A.M.).
Germani übernimmt wesentliche Teile der Theoriearchitektur Parsons, führt wichtige Modifizierungen ein und interpretiert sie in Bezug auf die gesellschaftlichen Transformationen des lateinamerikanischen Gesellschaftssystems. Das theoretische Modell und bestimmte methodologische Prämissen sind das angewendete Instrumentarium, nicht das Resultat des von Parsons analysierten Falles. Vor diesem Hintergrund muss man die institutionelle Forschung Germanis verstehen. Wenn er von einer dualen Gesellschaft in Lateinamerika spricht, dann geht es nicht um zwei getrennte Gesellschaftsformen (Tradition und Moderne), die parallel nebeneinander existieren. Im Bereich der Kultur, der Gesellschaft und der Motivation interagieren die traditionellen und modernen Erwartungsstrukturen miteinander, sodass ein Gesellschaftssystem entsteht, das durch Asynchronie charakterisiert ist. Der Begriff der dualen Gesellschaft gilt als eine analytische Unterscheidung, weil „die Übergangsformen vielfältig werden, wie es die historische und gegenwärtige Erfahrung andeutet“ (Germani 1962: 71). In diesem Sinne ist bei Germani keine Verteidigung einer ethischen oder nationalen Gemeinschaft erkennbar (zweite Blockade). Er agiert universalistisch und versucht nicht, Tradition durch den Partikularismus der Entwicklung oder durch irgendeine Form des Fortschrittsvorurteils zu ersetzen. Germani beschreibt Lateinamerika durch das Prisma einer Weltsoziologie (Germani), die „die nationale Orientierung, die ihre Entwicklung früher kennzeichnete, überwindet“ (Germani 1959: 448; Hervorhebung im Original). Er lehnt auch den rein methodologischen Nationalismus in der soziologischen Theorie ab. Beim Kommentieren C. Wright Mills schreibt Germani: „C. Wright Mills besteht darauf, dass die einzig mögliche Einheit zur Analyse wichtiger Probleme [der Nationalstaat] ist. Auch wenn man seine methodologische Bedeutung in der Erforschung der gegenwärtigen Gesellschaften nicht übersehen darf, ist es inakzeptabel, größere und kleinere Einheiten zu ignorieren. In Bezug auf die Letzteren, die das bevorzugte Objekt der Kritik Mills sind, müsste eigentlich die fehlende Berücksichtigung des globalen Kontextes kritisiert werden, die diese Art Arbeit charakterisiert,
5.3. Erkenntnisblockaden der lateinamerikanischen Soziologie | 153 und nicht die Größenordnung an sich, d. h. die Reduktion der empirischen Arbeit auf einen bestimmten Bereich [...] Die Untersuchung einer kleinen Stadt oder einer Studentengruppe kann außergewöhnlich produktiv oder völlig steril sein: Nicht die Größenordnung ist das Entscheidende, sondern die Bedeutung innerhalb eines globalen Kontextes“ (Germani 1962: 25; Übersetzung A.M.).
Wenn Germani das vorsoziologische Denken in Lateinamerika charakterisiert, äußert er sich explizit gegen die dritte Blockade: „Die gesellschaftspolitischen Sorgen tauchen immer wieder im intellektuellen Werk lateinamerikanischer Autoren auf: Schwerpunkt ist die konkrete historische Gesellschaft, in der sie leben, und ihre Verpflichtung, sie umzuwandeln. [Das Leitmotiv dieser Autoren heißt,] die wahre Emanzipation der Länder dieses Kontinents zu erreichen, d. h. ihre Transformation in Nationen mit eigener ‚Wirklichkeit‘ bzw. eigenem ‚Dasein‘ – um eine lateinamerikanische Terminologie zu verwenden“ (Germani 1959: 436; Anführungszeichen im Original, Übersetzung A.M.).
Germani grenzt diese Art Soziologie von der wissenschaftlichen Soziologie ab, die dazu tendiert, sich dem internationalen Niveau der Gesellschaftstheorie anzupassen. Dabei kann zwischen soziologischer Grundlagenforschung und empirischer Forschung unterschieden werden (Germani 1959: 452) – eine Unterscheidung, die man bei der anwendungsorientierten Sozialphilosophie des vorsoziologischen Denkens nicht findet. Dies bedeutet aber nicht, dass die Soziologie Germanis keinen Beitrag zu normativen Diskussionen leistet. Hier lässt sich wieder ein Vergleich zu Parsons ziehen. Nach Jutta Gerhardt (2002) lassen sich die verschiedenen Phasen der Theoriekonstruktion Parsons mit konkreten Weltereignissen in Verbindung bringen. Die Theorie in The Structure of Social Action, in der Parsons die These aufstellt, dass individuelle Zwecke im Rahmen universalistischer Normen zu verstehen sind, reagiere einerseits auf den Utilitarismus und Individualismus, die zur Finanzkrise von 1929 führten, und andererseits auf den Partikularismus des Naziregimes. Die pattern variables in The Social System seien ein Schema zur Analyse demokratischer und totalitärer Gesellschaften. Und das AGIL-Schema sei das theoretische Korrelat einer demokratischen, self-sufficient, differenzierten Gesellschaft. Nach dieser Interpretation hatte Parsons immer eine demokratische Vorstellung von Gesellschaftsbeziehungen, die im Rahmen seiner theoretischen Beschreibungen als Ausgleich zwischen individuellen Zwecken und universalistischen Normen (The Structure of Social Action), zwischen Kultur, sozialem System und personality (The Social System) und zwischen den vier Funktionsbereichen des AGIL-Schemas auf der Handlungsebene (Working Papers), auf der Systemebene (Economy and Society) und auf der Ebene der human condition (Action
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Theory and the Human Condition) zu verstehen war. Damit lieferte er eine hoch abstrakte Erklärung dafür, wie demokratische und totalitäre Ordnungen im Rahmen einer universellen und komplexen Gesellschaftstheorie verstanden werden können. Ähnliches gilt für Germani. Die Analyse von Política y sociedad en una época de transición im Sinne Gerhardts zeigt, dass Populismus/Demokratie das Korrelat der theoretischen Leitdifferenz Tradition/Moderne ist. Germani ist von der Erfahrung des italienischen Faschismus tief geprägt. Er emigriert nach Argentinien, um der politischen Unterdrückung zu entgehen (Germani 2004). Was er in Lateinamerika vorfindet, ist keine formell institutionalisierte Ordnung, sondern eine Gesellschaft voller Asynchronien. Politisch betrachtet, lässt sich Folgendes feststellen: Wenn die Integrationsmechanismen institutionalisiert sind und den Inklusionserwartungen der Massen entsprechen, gibt es Demokratie; wenn solche Mechanismen nicht – oder nur teilweise – vorhanden sind und es hohe Inklusionserwartungen gibt, dann besteht die Alternative des Nationalpopulismus. Nationalpopulismus ist dann eine funktionale Äquivalenz zur Revolution, wenn es keine selbstbewussten Unterschichten gibt. Er basiert auf der Vortäuschung einer Massenbeteiligung. Es handelt sich um eine manipulierte Freiheit, denn die demokratischen Institutionen reichen nicht aus, um die mobilisierten Massen zu integrieren. Wenn Germani theoretisch von Asynchronien spricht, lässt sich dies auch so interpretieren, dass er vor der Gefahr des Populismus warnt und zugleich darauf hinweist, dass in Lateinamerika einerseits kein Faschismus entstehen kann, weil es keine ausdifferenzierten Integrationsmechanismen gibt, und dass man andererseits Integrationsmechanismen und Inklusionserwartungen in Einklang bringen muss, um die Demokratie zu fördern. Deswegen sind die pattern variables für ihn so wichtig: Germani kann dadurch die grundlegenden Motivationsorientierungen der Demokratie und des Populismus unterscheiden, genau wie bei der Parsons’schen Analyse der demokratischen und totalitären Ordnungen. Der Unterschied liegt bei Germani darin, dass er eine Region der Weltgesellschaft analysiert, in der die formelle Institutionalisierung und die informellen Vorgänge sich interpenetrieren. Vor diesem Hintergrund versucht Germani, ein abstraktes theoretisches Modell zu entwickeln, um diese neue Gesellschaftslage zu begreifen. Die Leitdifferenz Tradition/Moderne, die Theorie der Asynchronie und die theoretischen Grundlagen der Weltsoziologie erscheinen ihm universell genug, um die integrierte Dualität der Institutionen in Lateinamerika und das Zusammenspiel zwischen Demokratie und Populismus zu analysieren. Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto werden oft als Vertreter der Dependenztheorie angesehen und in diesem Sinne mit der marxistisch orientierten Dependenztheorie in Verbindung gebracht. Zwar haben die beiden
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Autoren in ihrem bedeutenden Buch Dependencia y desarrollo en América Latina (1990[1969]) den Begriff der Dependenz systematisch verwendet, doch die Unterschiede zum lateinamerikanischen Marxismus mit seinem CEPALDenken und den Modernisierungstheorien sind groß. Nach Cardoso und Faletto übersieht der Marxismus die Bedeutung der Herrschaftsbeziehungen auf lokaler Ebene. Dependenz sei nicht nur externe, sondern auch interne Dependenz. Die Gründe für die Unterentwicklung lägen sowohl außerhalb als auch innerhalb Lateinamerikas. Daraus folgern sie, dass die Unterscheidung Zentrum/Peripherie nicht geeignet sei, um die Beziehungen zwischen Nordamerika, Europa und Lateinamerika zu charakterisieren und die Komplexität der Abhängigkeitslage zu begreifen. Denn damit würden die politischen Allianzen zwischen der nationalen und internationalen Ebene nicht berücksichtigt. Entgegen dem CEPAL-Denken behaupten Cardoso und Faletto, dass sich die Abhängigkeitslage Lateinamerikas nicht nur strukturell-wirtschaftlich erklären lasse. Die soziologische Frage sei, wie sich diese Abhängigkeitslage historisch entwickelt habe. Denn erst eine historische Perspektive könne die Vorbedingungen für die wirtschaftspolitische Dependenz aufzeigen. In Bezug auf die Modernisierungstheorien wird der Unterschied Tradition/Modernität infrage gestellt, denn sie führe zum strukturellen Dualismus – zum zweiseitigen Gesellschaftsbegriff, der die Beziehungen zwischen den beiden Differenzierungsformen unterschätze – ein Problem, das bei Germani zu erkennen war.7 Um den Dependenzbegriff nicht zu ontologisieren, sprechen Cardoso und Faletto von Abhängigkeitslage oder Unterentwicklungslage. Der Ansatz umfasst vier Schritte: die Strukturanalyse wirtschaftlicher und politischer Beziehungen, die historische Analyse politischer und wirtschaftlicher Akteure und Prozesse, die Analyse der value orientations der Akteure und die Beobachtung dieser Themen aus der Kombination einer internen und einer externen Perspektive. Cardoso und Faletto folgen dem Ansatz Germanis im Hinblick auf das Zusammentreffen unterschiedlicher Differenzierungsformen in Lateinamerika. Zugleich betonen aber die beiden Autoren, dass dieses Zusammenspiel auf globaler Ebene analysiert werden müsse, und zwar nicht nur im Verhältnis zu den weltgesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Strukturen, sondern auch in Bezug auf die Interaktionsmodi sozialer Klassen und Herrschaftsgruppierungen in der Weltgesellschaft. In diesem Sinne lässt sich die Abhängigkeitslage parallel durch Abhängigkeit und Unabhängigkeit definieren. In der soziologischen Analyse Lateinamerikas sind diese beiden Kategorien untrennbar miteinander verbunden. Daraus leiten Cardoso und Faletto ab, dass erstens die Peripherie 7 | Nach Cardoso und Faletto (1990: 12) ist allerdings bei Gino Germani „die beste Formulierung dieser Perspektive“ zu finden, denn Germani beschreibt das Zusammenspiel beider Gesellschaftsformen.
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die Evolution des Zentrums nicht wiederholen kann, „denn die Entwicklung wird erst dann gezielt, wenn es schon Marktbeziehungen kapitalistischer Art gibt“ (Cardoso/Falleto 1990: 33; Übersetzung A.M.), und dass es zweitens nicht ausreicht, die Unterschiede als Abweichung zu bezeichnen: „[...] denn die Gründe, Handlungsmuster und Sozial- und Wirtschaftsprozesse, die auf den ersten Blick abweichende oder unvollkommene Umsetzungsformen des klassischen Entwicklungsmusters darstellen, sollten eher als analytische Anhaltspunkte betrachtet werden, die zur Erläuterung des sozialwirtschaftlichen Systems dienen“ (Cardoso/Falleto 1990: 33; Übersetzung A.M.).
Damit lehnen Cardoso und Faletto explizit die Perspektive der ersten Erkenntnisblockade ab: Lateinamerika sei keine unvollkommene Moderne, sondern eine komplexe Zusammensetzung unterschiedlicher Vektoren, die anhand der Idee der Abhängigkeitslage analysiert werden könne. Sie lehnen auch die Perspektive der dritten Blockade ab, indem sie sich von der marxistischen revolutionären Lösung distanzieren. Wenn man begreife, dass Herrschaftsbeziehungen strukturell und historisch verankert sind, sei die Revolution reiner Voluntarismus oder Populismus. Die methodologische Schlussfolgerung ist eine ähnliche wie bei Germani: Ohne Lateinamerika als wesentlich anders zu betrachten (und dies wird bei der zweiten Blockade abgelehnt), wird es soziologisch als dynamisches Resultat historischer Prozesse interpretiert, die die lateinamerikanische Region mit der Evolution der Weltgesellschaft verbinden. Damit beginnt sich in der soziologischen Semantik die Idee Lateinamerikas als ein Weg der Moderne zu konsolidieren, der zwar funktional differenziert ist, aber institutionell und historisch zu neuen Sichtweisen der Weltgesellschaft beitragen kann. Wie in Kapitel 3 erklärt, ist Lateinamerika als Weg der Moderne vor allem von Jorge Larraín thematisiert worden. Wie Germani, Cardoso und Faletto ist auch Larraín der Meinung, dass die lateinamerikanische Form der Moderne nicht etwas Unvollkommenes bezüglich des europäischen oder nordamerikanischen Modells darstellt. Es gibt fünf Formen, in die Moderne einzusteigen: die nordamerikanische, die japanische, die afrikanische, die europäische und die lateinamerikanische Form (Larraín 2000). Historisch und institutionell unterscheidet sich die Moderne Lateinamerikas von der in Europa und Nordamerika, und zwar deswegen, weil die Moderne eine immanente Globalisierungstendenz hat (Überwindung der ersten Blockade). Entgegen den Vorstellungen der Soziologie der zweiten Blockade ist Larraín der Meinung, dass die historischen Eigenschaften des lateinamerikanischen Weges nicht auf einer festen Identität Lateinamerikas basieren, die als eine Ab-
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art der Moderne zu begreifen sei. Die Transformation der Identität sei ebenfalls ein historischer Prozess der immanenten Globalisierungstendenz der Moderne. In seiner Identitätstheorie unterscheidet Larraín zwischen einem von oben entwickelten, selektiven, institutionellen Diskurs der Öffentlichkeit und einer gemeinschaftlichen und subjektiv diskursiven Konstruktion von unten. Der öffentliche Diskurs ist – so Larraín – meistens ein kohärentes Modell, das zugleich Anspruch auf eine unitäre Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft erhebt. Basale Konstruktionen beschränken sich ihrerseits auf das Lokale, nehmen variierte Formen ein und verweisen auf zeitlich und räumlich konkrete Referenzen (Larraín 1996: 208). Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine ontologische Trennung zweier voneinander unabhängiger Welten: „Die öffentlichen Versionen der Identität entwickeln sich aus den alltäglichen Lebensweisen, aber gleichzeitig haben sie Einfluss auf die Art und Weise, wie die Menschen sich selbst sehen und wie sie handeln“ (Larraín 1996: 211; Übersetzung A.M.).
Die Zirkularität des Konstruktionsprozesses verweist auf die Verflechtung zwischen öffentlichen Versionen und alltäglichen Lebensweisen. Zwar sind nach Larraín die Ersteren darauf ausgerichtet, eine einheitliche Beobachtung der Gesellschaft zu fördern, doch die Differenz dürfe nicht unterbewertet werden, solange sie als Teil des zirkulären Prozesses bestehen bleibe. Da die Konstruktion der Identität ein historischer Prozess sei, würde andernfalls eine auf dem Wesen des Lateinamerikanischen beruhende Annäherung an die Semantik der Identität ausgeschlossen (Larraín 1996: 210 ff.). Mit seiner Identitätstheorie distanziert sich Larraín von den in den zweiten und dritten Erkenntnisblockaden implizierten methodologischen Problemen. Da die Identitätskonstruktion auf einer hohen Abstraktionsebene analysiert wird, wird jeder mögliche Identitätsdiskurs in die theoretische Formulierung eingeschlossen. Gemeinschaften und Akteure werden in der soziologischen Theorie nicht repräsentiert, sondern mit theoretischen Mitteln beschrieben. Zwei weitere Theorien sind von großer Bedeutung für die Analyse der Erkenntnisblockaden in der lateinamerikanischen Soziologie. Carlos Cousiño und Eduardo Valenzuela unterscheiden drei Integrationsebenen: System, Institutionen und Kultur. Den Autoren zufolge operiert die Systemebene nach der von Luhmann beschriebenen Systemautopoiesis. Institutionen richten sich nach der Logik des rationalen Diskurses Habermas. Auf Kulturebene operiert die Präsenz. Sie basiert auf dem „ontologischen Primat der Person und versteht das Zusammentreffen von Personen als Ursprung einer vorreflexiven Bindung“ (Cousiño/Valenzuela 1994: 179; Übersetzung A.M.). Wie bei Morandé ist bei
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Cousiño und Valenzuela die Kultur der Ort, an dem sich die Differenzierung anderer Integrationsebenen in der Einheit der Vorreflexivität auflöst: „Die Integrationsebenen, die die gegenwärtigen Sozialwissenschaften anerkennen, sind unfähig, die ursprünglichen, grundlegenden (vorreflexiven) Soziabilitätsformen zu begreifen, auf die sich eine wichtige, oder wichtiger als die von der systemischen Logik oder von der rationalen Argumentation geschaffene originäre Bindung stützt [...] Der Begriff [Präsenz] verweist auf eine gesellschaftliche Beziehungsform, die auf der Ko-Präsenz basiert, auf dem Zusammensein“ (Cousiño/Valenzuela 1994: 13; Übersetzung A.M.).
Interessant bei Cousiño und Valenzuela ist, dass sie einen allgemeinen Gesellschaftsbegriff (System und Institutionen) entwickeln, der abstrakt genug ist, um unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen einzuschließen (erste Blockade). Dasselbe geschieht mit dem Kulturbegriff. Indem er als Medium der Individuen begriffen wird, können ethische Vorstellungen (zweite Blockade) und politische Projekte (dritte Blockade) in die Theorie als individuelle bzw. gesellschaftliche Präferenzen eingeschlossen und aus einer Perspektive zweiter Ordnung analysiert werden. Ähnliches gilt schließlich für die Theorie Norbert Lechners und des UNDP (Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo). Lechner und das UNDP unterscheiden im Habermas’schen Sinne zwischen System und Lebenswelt. Damit erzielt man ein hohes Abstraktionsniveau, um unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen zu thematisieren (erste Blockade). Wird nach den subjektiven Vorstellungen im Umgang mit Funktionssystemen gefragt, ist die Beschreibung der Spannungen zwischen Systemlogik und Individuen zwar von besonderem soziologischem Interesse (UNDP 1998). Das Problem liegt jedoch darin, dass, gerade weil Unsicherheit bei den Individuen diagnostiziert wird, die Theorie die Repräsentation der individuellen, ethischen Ansprüche übernehmen soll (zweite Blockade). Dafür wird der Kulturbegriff gewählt, und zwar ein politischer Kulturbegriff (dritte Blockade): „Die Herausforderung der Kultur [...] würde darin bestehen, ein nationales Projekt zu entwerfen und zu etablieren. Dies bedeutet eine doppelte Aufgabe. Einerseits muss man eine nationale Vorstellung entwickeln, in der sich jeder als Vollmitglied einer Bürgergemeinschaft und als effizienter Akteur deren Entwicklung erkennen kann. Andererseits ist es notwendig, dass die Personen ihre individuelle Freiheit erhöhen können und dass ihnen ein konkretes Zusammenleben ermöglicht wird“ (UNDP 2002: 18; Übersetzung A.M.).
Mit dem Kulturbegriff wurden in der Soziologie Lateinamerikas die zweite und dritte Blockade in den letzten Jahren wieder eingeführt.
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Nikolaus Werz (1995) schlug die Unterscheidung zwischen sozialwissenschaftlichen und philosophisch-kulturellen Interpretationen vor, um das Feld der soziologischen Selbstbeschreibungen Lateinamerikas zu analysieren. In der Analyse der Positionierung der lateinamerikanischen Soziologie bezüglich der Erkenntnisblockaden sollten dabei zwei Aspekte berücksichtigt werden: (1) Philosophisch-kulturelle Interpretationen sind in vielen Fällen auch militant-politische Interpretationen Lateinamerikas, die sich der Abschaffung der Ungleichheit in Lateinamerika verpflichtet fühlen, und (2) die meisten philosophischen, kulturellen und politischen Interpretationen – besonders im 20. Jahrhundert – bezeichnen sich selbst als Soziologie und sind es auch in dem Sinne, dass sie soziologische Argumentationen, Theorien und Methoden verwenden. Der Unterschied besteht wieder darin, wie sich die normative Einstellung selbst darstellt. Wenn die Soziologie einen Kompromiss zugunsten eines idealen Gesellschaftsmodells, einer ethischen Referenz oder eines politischen Ziels eingeht, kann der implizierte Partikularismus zu einem Hindernis für ein breiteres Verständnis des Analysierten werden. Ist der normative Status universell und einbeziehend, dann ist die soziologische Analyse enger mit den theoretischen Operationen und Argumentationsstrukturen des Wissenschaftssystems als mit der Betrachtungsweise von Akteuren oder ethischen Gemeinschaften verbunden. Am Ende seiner Rede über die Entwicklungsetappen der lateinamerikanischen Soziologie auf dem 4. Weltkongress für Soziologie 1959 in Mailand stellt Germani fest: „Der Zustand der Soziologie in der Region kann – ohne zu viel wishful thinking – als vielversprechend für die Entwicklung der wissenschaftlichen Soziologie beschrieben werden“ (Germani 1959: 453; Übersetzung A.M.). Hierzu ist zu ergänzen: Die wissenschaftliche Soziologie lässt sich daran erkennen, dass sie Erkenntnisblockaden überwindet. Ob der gegenwärtige Zustand der lateinamerikanischen Soziologie in Bezug auf die Überwindung der Blockaden als vielversprechend bezeichnet werden kann, ist fünfzig Jahre nach Germani immer noch zumindest fraglich.
6 Steuerungsprobleme in Lateinamerika Dieses Kapitel befasst sich mit Problemen der konzentrischen Institutionalisierung bei einer Betrachtung Lateinamerikas als Region der Weltgesellschaft. Die Diskussion dieses Themas war schon immer geprägt von der Leitdifferenz Zentrum/Peripherie: Im 19. Jahrhundert wurde Lateinamerika als barbarische Peripherie eines zivilisierten Zentrums betrachtet. Im 20. Jahrhundert wurde es als unterentwickelte, traditionelle Peripherie eines hoch entwickelten industriellen Zentrums verstanden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird diese Differenz semantisch über den Unterschied global/lokal interpretiert: Das Lokale der Peripherie sei die Antwort auf die Globalisierung des Zentrums (siehe Torre 1998; Neves 2006). Diese aktuelle Interpretation gewann in Lateinamerika vor allem durch die Gegner der Marktwirtschaft an Bedeutung, die den neuen demokratischen Arrangements misstrauten: Der globalisierte Markt sei eine neue Form der asymmetrischen Beziehungen zwischen Nord und Süd, und die Universalisierung der Demokratie bedeute die Machtübernahme durch internationale Finanzinstitutionen und solle dazu dienen, das Funktionieren des Marktes sicherzustellen (Cademartori 1998; Frank 1969; Marini 1985). Jenseits solcher konspirationstheoretischen Überlegungen lässt sich die Unterscheidung global/lokal aus der Perspektive der Entstehung der Weltgesellschaft auch auf andere Weise betrachten. Wie in Kapitel 3 dargestellt, bedeutet Weltgesellschaft vor allem eine Entnationalisierung der systemischen Operationen durch funktionale Differenzierung, was zugleich zur Entwicklung unterschiedlicher semantischer Inhalte führt. Die Konkretisierung weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen auf regionaler Ebene macht aber deutlich, dass Globalisierung keineswegs Homogenisierung der Weltgesellschaft bedeutet. Die strenge Kopplung zwischen den formellen Prozeduren und semantischen Korrelaten funktional differenzierter Institutionen und den informellen Operationen (und semantischen Korrelaten) von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken in Lateinamerika führt zu großen Spannungen zwischen globalen Tendenzen und lokalen bzw. regionalen Variationen. Die zunehmende Verbreitung weltgesellschaftlicher Strukturen lässt sich nicht problemlos mit regionalen Erwartungsstrukturen in Einklang bringen. In allen Bereichen kommt es zu Komplexitätsasynchronien, die Tendenzen
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sowohl zur Veränderung als auch zur Bewahrung aufweisen. Sie lassen sich besonders deutlich an den Schnittstellen von Wirtschaft, Politik und Recht beobachten: Demokratisierung vs. große soziale Ungleichheit (Salvat 2002; Mascareño/Mereminskaya 2005); Akteure von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken treten in Konflikt mit spezialisierten, technokratischen Gruppen, die sich der Kontrolle der Wirtschaftspolitik widmen (Torre 1998); Entstehung transnationaler bzw. regionaler Wirtschafts- und Finanzakteure, deren wirtschaftliche Operationen neue nationalrechtliche Interpretationen, Gesetze und Regulierungsinstanzen erfordern (Mereminskaya 2003, 2006, 2007); Entstehung neopopulistischer politischer Akteure (wie etwa H. Chávez in Venezuela, F. Correa in Ecuador, E. Morales in Bolivien), die mit den universalistischen Erwartungsstrukturen der Demokratie kollidieren (Domingues 2008); Konsolidierung ethnischer Unabhängigkeitsbewegungen und sozialer Protestbewegungen (vor allem in Mexiko, Zentralamerika, Kolumbien, Venezuela, Bolivien und Chile), die mit unzureichenden formellen Inklusionsmechanismen und Exklusionssemantiken konfrontiert sind (Domingues 2008). Um auf diese Problematik einzugehen, möchte ich im Folgenden eine neue Interpretation des Asynchroniebegriffs Germanis vorschlagen (6.1), die steigende Asynchronie zwischen Funktionssystemen und den formellen und informellen Inklusions- und Exklusionsvorgängen untersuchen (6.2, 6.3, 6.4), um schließlich ein Steuerungsmodell für die Risikokonstellationen einer konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung zu entwerfen (6.5).
6.1 Komplexitätsasynchronien und Steuerungsbedarf Die Überlegungen zu Differenz und Einheit bzw. Kontingenz und Notwendigkeit in der semantischen Analyse in Kapitel 5 reflektieren die strukturelle Spannung zwischen den dezentralen Erwartungsstrukturen funktional differenzierter Systeme und den zentralisierenden Erwartungsstrukturen der Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke, die in verschiedenen Fällen über informelle Mechanismen den Zugang zu den Leistungen der Funktionssysteme kontrollieren. In diesem Zusammenhang war die Einheit der zentralisierenden Erwartungsstrukturen dominierend und führte so zu einer konzentrischen Institutionalisierung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Differenz und Kontingenz nicht mehr existieren und dass es nur noch einheitliche Vorstellungen der Gesellschaftsordnung gibt. Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der neuen Gesellschaftssituation in Lateinamerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Kontingenz und die zunehmenden Komplexitätsbedingungen der Funktionssysteme. Dies lässt sich in unterschiedlichen Bereichen feststellen: bei der Demokratisierung politischer Systeme und der Monetarisierung des Wirtschaftssystems
6.1. Komplexitätsasynchronien und Steuerungsbedarf | 163
in den 1990er Jahren (Cousiño/Valenzuela 1994), bei den Justiz-, Erziehungsund Finanzreformen, bei der Pluralisierung der Kunst, der Konsummuster, der religiösen Praktiken (Berryman 1995) und bei der Entstehung von regional agierenden Protestbewegungen. Die Frage ist nun, wie sich die steigende Komplexität und Kontingenz mit einer konzentrischen Institutionalisierung formeller und informeller Prozeduren vereinbaren lassen. Es handelt sich im Grunde um kollidierende Erwartungsstrukturen (die der Funktionssysteme und die der informellen Netzwerke), die aber miteinander interagieren und sich interpenetrieren. In Anlehnung an Germani möchte ich im Folgenden von Komplexitätsasynchronien sprechen. Aus den bisherigen Schlussfolgerungen zum lateinamerikanischen Weg der Moderne lassen sich zumindest drei gesellschaftliche Probleme anführen, die durch solche Komplexitätsasynchronien gekennzeichnet sind: (1) die Asynchronie in der Steigerung der Kontingenz und Selbstreferenz unterschiedlicher Teilsysteme, (2) die Asynchronie der Entscheidungsdurchsetzung formeller Institutionen im Umgang mit informell institutionalisierten Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken, (3) die Asynchronie formeller und informeller Inklusions- und Exklusionsvorgänge. Die Asynchronien werden in diesem Sinne nicht mehr im Rahmen des Leitunterschiedes Tradition/Moderne – wie bei Germani – verstanden, sondern im Rahmen der steigenden gesellschaftlichen Komplexität und Kontingenz einer Region der Weltgesellschaft. Es handelt sich um die unterschiedliche Zeitlichkeit der Operationen von Funktionssystemen und Netzwerken, um die Sachlichkeit der Entscheidungsdurchsetzung in beiden Feldern und um die Sozialität der Inklusions-/Exklusionsbeziehungen in Systemen und Netzwerken. Komplexitätsasynchronien in einer konzentrischen Institutionalisierung haben zur Folge, dass die zentralisierten Entscheidungsinstanzen die operative Kontrolle verlieren – einerseits, weil die Kontingenz und Komplexität, d. h. die gesellschaftliche Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit, deutlich ansteigt, und andererseits, weil viele dieser Kommunikationszusammenhänge hohe Zyklen der Selbstreferenz erreichen und Selbstständigkeit fordern. Es gibt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, diesem Kontrollverlust durch Komplexitätsasynchronien zu begegnen: entweder durch die Verstärkung der Kontrollausübung der zentralisierten Entscheidungsinstanzen oder durch die Suche nach neuen Formen gesellschaftlicher Koordination. Während der Legitimationskrise des Wohlfahrtsstaates in den 1960er Jahren verfolgten Lateinamerika und Europa beispielsweise unterschiedliche Strategien. Der lateinamerikanische Kompromissstaat wurde durch Populismus und Militärdiktaturen abgebaut, die die Unregierbarkeit des gesellschaftlichen Lebens durch eine Verstärkung staatlicher Überwachungsmechanismen unter Kontrolle bringen wollten. In
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einigen lateinamerikanischen Gesellschaften ist die Möglichkeit einer Rückkehr autoritärer bzw. populistischer Regierungen auch heute nicht ausgeschlossen, wie z. B. in Kolumbien, Ecuador, Bolivien und Venezuela. Die Idee eines stark zentralisierenden Staates in Form eines Interventionsstaates kann jedoch weder für diese Länder noch für solche wie Brasilien und Chile, deren politische Demokratisierungsprozesse sich in der Konsolidierungsphase befinden, eine sinnvolle Alternative sein. Dies würde das Problem der Komplexitätsasynchronien nicht lösen, sondern drastisch verschärfen. Historisch betrachtet hat Lateinamerika unterschiedliche Komplexitätsasynchronien durchlebt. Bereits mit den bourbonischen Reformen im 18. Jahrhundert wurde versucht, die steigende Komplexität der Kolonien durch Machtzentralisierung zu bewältigen. Dies war der Auslöser für die Unabhängigkeitskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die politische Instabilität Lateinamerikas in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lässt sich mit der beginnenden Industrialisierung und den damit entstehenden Arbeitsbedingungen erklären. In den 1960er Jahren führte die Verschmelzung von Staat und informellen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken zu einer weiteren Komplexitätsasynchronie. Der zunehmenden gesellschaftlichen Kontingenz und Komplexität, die sich daraus ergab, wurde mit einer autoritären Neuorganisierung der sozialen Ordnung begegnet. Auch die Militärregierungen in den 1980er Jahren waren mit Komplexitätsasynchronien konfrontiert, die den Weg zu Demokratisierungsprozessen und zur Autonomie der Wirtschaftsoperationen ebneten. Bei den gegenwärtigen Komplexitätsasynchronien in Lateinamerika stellt sich die Frage, ob die institutionelle Konstellation es zulässt, den strukturellen und semantischen Anforderungen nach Autonomie nachzukommen. Steuerungstheoretisch könnte man die Frage wie folgt spezifizieren: Was für Probleme ergeben sich für Entscheider und Betroffene, (a) wenn Funktionssysteme ihre Selbstreferenz steigern und Kontingenz erzeugen, die von informellen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken nicht reduzierbar ist, (b) wenn aus der Perspektive der formell institutionalisierten Prozeduren unklar ist, ob die Entscheidung umgesetzt wird, weil es noch ein informelles Netzwerk gibt, das die Entscheidung ändern kann, oder (c) wenn Inklusions- und Exklusionsvorgänge sowohl von formellen als auch von informellen Prozeduren abhängen (dies wird in Abschnitt 3 analysiert). Im Folgenden geht es um die Frage nach der Emergenz der Komplexitätsasynchronien in Lateinamerika im Kontext der heutigen Weltgesellschaft.
6.2. Komplexitätsasynchronien im politischen System | 165
6.2 Komplexitätsasynchronien im politischen System Der Governance-Begriff ist für die Analyse der politischen Komplexitätsasynchronien in der Region Lateinamerika von großer Bedeutung. Governance setzt nach Hewitt (1998) vier Bedingungen voraus, die sich auch als zentrale Ziele der politischen Agenda bezeichnen lassen: (a) Förderung autonomer Wirtschaftsoperationen durch den institutionellen Rahmen, (b) Dezentralisierung politischer Macht, (c) Reform des öffentlichen Sektors zum Abbau übergreifender staatlicher Regulierungen und (d) Demokratisierung des Sozialen und Förderung der Menschenrechte. Harpman (1997) reduzierte die Voraussetzungen auf zwei Funktionen: die Performance-Funktion und die repräsentative Funktion. Die erste schließt Folgendes ein: (a) Management des öffentlichen Sektors, (b) gesetzliche Rahmenbedingungen für Wirtschaftstransaktionen, (c) Konkurrenz zur Förderung von Policies und Dienstleistungen, (d) Wirtschaftsautonomie. Die zweite umfasst: (a) Transparenz und Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungen, (b) soziale Gerechtigkeit, (c) Förderung der Menschenrechte und der Demokratie. 1997 wurde das Konzept von der World Bank übernommen und als Orientierungsdirektive für die Demokratien der Dritten Welt und die instabil gewordene Zweite Welt bestimmt (World Bank 1997). Nun stellt sich die Frage, ob die politische und wirtschaftliche Globalisierung durch Governance-Regimes zu Komplexitätsasynchronien führen kann. Das Regierbarkeitsproblem ist allerdings nicht neu, weder in Lateinamerika noch in Europa. Ende der 1960er Jahre wurde es von Kritikern thematisiert und als Argument gegen das pluralistische Modell (Beyme 1991) oder den lateinamerikanischen Populismus (Torre 1998) angeführt. Neu ist aber, dass die Regierbarkeitskriterien global gelten sollen, und zwar auf der Ebene zweier ausdifferenzierter gesellschaftlicher Funktionssysteme: Politik und Wirtschaft. Governance setzt Institutionalisierung der Demokratie voraus. Zur Umsetzung von Governance musste man folglich die autoritären Blockaden der lateinamerikanischen Demokratisierungsprozesse abbauen (Garretón 2000a, 2000b). Dies würde aber zu gesellschaftlicher Instabilität führen, denn der Abbau der Blockaden hat eine Destabilisierung der von den Militärdiktaturen geerbten politischen und rechtlichen Ordnung – also die Destabilisierung der konzentrischen Institutionalisierung – zur Folge. Bei einem Eingriff in diese Strukturen (vor allem Gesetze) besteht die Gefahr, eine Reaktion konservativer und militärischer Kräfte zu bewirken, was zu Regierbarkeitsproblemen führen kann – wie dies in Peru, Chile und Argentinien der Fall war (Mascareño 2005). Daraus ergab sich vor allem in den 1990er Jahren die Paradoxie, dass politische Akteure davon ausgehen mussten, dass in Lateinamerika Regierbarkeit nur dann erreicht werden könnte, wenn die politischen Bedingungen, die das Regieren
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destabilisierten, als Voraussetzung für die Demokratisierung akzeptiert würden. Demokratieaufbrüche, die auf solche Weise entstehen, sind durch eine Komplexitätsasynchronie gekennzeichnet: Sie erzeugen komplexe demokratische Erwartungen, sind aber nicht komplex genug, um diese zu erfüllen. Ein Beispiel hierfür sind die Militärdiktaturen. Dass die lateinamerikanischen Militärregimes in den 1990er Jahren von der Regierungsbühne abtraten, bedeutet nicht, dass sie machtlos gegenüber der Zivilherrschaft waren. Durch Gesetzesänderungen und die Verabschiedung politischer Verfassungen konnten sie sich eine privilegierte Position während der Demokratisierung sichern und Einfluss auf Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ausüben. In diesem Sinne war Straflosigkeit ein wesentliches Kennzeichen des Übergangs. Huhle (1998) spricht von unterschiedlichen Techniken der Straflosigkeit: • Entkriminalisierung der Menschenverletzungen durch das Argument des Krieges gegen einen inneren Feind. • Militärgerichtsbarkeit. Das Militärgericht entscheidet nicht nur über innere Angelegenheiten, sondern auch über Menschenrechtsverletzungen, was zur Folge hat, dass Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung straflos bleiben. • Amnestien. Insofern Amnestien sich auf die Tatbestände und nicht auf bestimmte Personen beziehen, übertragen sie Legitimität auf die Amnestierten und auf ihre Verbrechen. • Begnadigung. Auch wenn sie demokratisch legitimierten Instanzen nicht schadet, kann die Begnadigung zum Werkzeug der Straflosigkeit werden, wenn sie als Reaktion auf militärischen Druck eingesetzt wird. Das Handeln erfolgt innerhalb formeller demokratischer Strukturen und Semantiken, aber zugleich kommt es zur Unrealisierbarkeit der Demokratie durch Straflosigkeit. Ähnliches gilt für die politischen Parteien und das Wahlsystem. Zu Beginn der Militärherrschaft in Lateinamerika in den 1960er und 1970er Jahren war das Parteiensystem vor allem in Brasilien und Chile durch Klassenrepräsentation gekennzeichnet. Dies änderte sich während der Diktaturzeit. In Brasilien wurde 1965 ein Zweiparteiensystem eingeführt (ARENA als Regierungspartei und MDB als Oppositionspartei), das erst 1982 abgeschafft wurde (Sangmeister 1995). In Chile verlangt das von der Diktatur eingeführte binominale Wahlsystem die Bildung großer politischer Koalitionen, die wie in Brasilien zu einer Regierungs- und einer Oppositionspartei geführt haben (Hecht-Oppenheim 1993). Solche Koalitionen sind deshalb erforderlich, weil für jeden Wahlkreis nur
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zwei Repräsentanten gewählt werden können. Gelingt es keiner der Parteien bzw. Koalitionen, 2/3 der Stimmen eines Wahlkreises zu erzielen, dann wird aus jeder Koalition ein Abgeordneter gewählt. Das heißt: „with one-third of the vote the Right could gain half of the legislative seats“ (Hecht-Oppenheim 1993: 215). Wichtig ist dies insofern, als die Komplexität dieser Wahlsysteme nicht der Komplexität einer politisch differenzierten Gesellschaft entspricht. Die Komplexität der politischen Repräsentation wird drastisch reduziert – was zu einer weiteren Komplexitätsasynchronie zwischen Erwartungen und sachlichen Operationen der Demokratie führt. In den Demokratien Lateinamerikas im 21. Jahrhundert gibt es weitere Komplexitätsasynchronien, z. B. zwischen citizenship und Rechten, und zwischen citizenship und politischer Beteiligung (Domingues 2008). Universalistische policies können die Ungleichheitsbedingungen nicht abbauen. Armut und Exklusion von den formellen Institutionen der funktionalen Differenzierung bleiben bestehen, da Wohlstand auf assistance und nicht auf Rechten basiert. Dasselbe gilt im Bereich der politischen Beteiligung. Wirtschaftsreformen haben die Bedingungen sozialer Bewegungen völlig verändert. Sie sind pluralistischer, internationaler und fragmentierter geworden, ebenso wie ihre Inklusionserwartungen. Wenn aber die formellen Integrationsmechanismen einer demokratischen Ordnung fehlen, wird das Problem der Komplexitätsasynchronie durch informelle Inklusion gelöst, was zu weiteren Komplexitätsasynchronien führt – nun zwischen den formellen Prozeduren funktional differenzierter Institutionen und den informellen Operationen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken. Das Problem der Menschenrechtsverletzungen ist nach wie vor ein blinder Fleck demokratischer Systeme – dies gilt nicht für das Rechtssystem der Weltgesellschaft. Dies zeigte sich nach der Festnahme Pinochets im Oktober 1998 in London. Bis zu diesem Zeitpunkt galt der chilenische Übergang zur Demokratie allgemein als abgeschlossen. Doch die Festnahme Pinochets hatte Folgen: „Chile becomes an arena of deeply divided public discourse, shot through with contending and mutually exclusive collective representations of the past“ (Wilde 1999: 475).
Solche irruptions of memory beziehen sich auf das ungelöste Problem der Menschenrechtsverletzungen. Man sprach über die Wiedereinberufung der Versöhnungskommissionen, eine Reinterpretation des Amnestiegesetzes und über einen Rundtisch, an dem das Militär und Menschenrechtsgruppen beteiligt werden sollten. Der Fall wurde zum Symbol für die Komplexitätsasynchronie zwischen einem Weltrechtssystem und seiner regionalen Konkretisierung. Es ließen sich weitere Beispiele im Bereich der Politik anführen, die bele-
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gen, dass die zunehmenden Komplexitätsasynchronien mit den traditionellen Steuerungsstrategien lateinamerikanischer Regierungssysteme nicht mehr kontrollierbar sind: die zunehmende Gewalt durch Drogenkartelle in Kolumbien (Jimeno 2001; Gutiérrez/Stoller 2001) und durch organisierte Kriminalität in Großstädten Lateinamerikas wie Buenos Aires und São Paulo (Chevigny 2003), die Wiederbelebung des Populismus in Venezuela, Bolivien und Ecuador durch Chávez, Morales und Correa (Pizzolo 2007) und die Autonomieansprüche von Volksgruppen und die Transnationalisierung von Sozialbewegungen in Mexiko, Peru, Ecuador und Chile (Milani/Laniado 2006; Speed 2002). Es ist wichtig zu erkennen, dass die politischen Komplexitätsasynchronien steigen und dass eine neue Auffassung von Governance erforderlich ist, um Komplexitätserwartungen und Komplexitätsoperationen zu versöhnen.
6.3 Komplexitätsasynchronien im Wirtschaftssystem Nicht nur im politischen Bereich ist der Einfluss weltgesellschaftlicher Ereignisse auf Lateinamerika spürbar. Governance-Formen spielen auch beim Wirtschaftswachstum eine wichtige Rolle. Man könnte sogar sagen, dass das eigentliche Ziel des Governance-Ansatzes nicht darin besteht, die Demokratisierung politischer Systeme zu fördern, sondern darin, adäquate Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich ein autonomes Wirtschaftssystem entwickeln kann, das sich von politischen Entscheidungen steuern lässt. Der Governance-Ansatz reagiert auf die starke Trennung und Asynchronie zwischen Staat und Markt, oder anders gesagt, zwischen Demokratisierung und wirtschaftlicher Entwicklung, die besonders in den 1980er und 1990er Jahren in Lateinamerika mit den marktorientierten Wirtschaftsreformen zu beobachten war (Philip 1998, 1999). Auf der einen Seite hatten die asiatischen Länder durch eine enge Zusammenarbeit zwischen wirtschaftlichen und politischen Akteuren hohe Entwicklungsraten aufzuweisen; auf der anderen Seite befanden sich lateinamerikanische Wirtschaftssysteme inmitten einer starken Wachstumskrise, in der der Staat nicht über die Mittel verfügte, um entscheidend zur Konjunkturbelebung beizutragen. Der Governance-Ansatz versucht, diese Komplexitätsasynchronie durch eine neue Art der Steuerung durch den Staat zu überwinden. Unabhängig davon, ob die Marktkonversion erfolgreich war oder nicht, ob sie zu dauerhaftem Wachstum führte oder politischen Einflüssen unterworfen war, bleibt festzustellen, dass die Marktdirektiven in Lateinamerika allgemeine Geltung haben. Am Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es keine realistische Alternative der Wirtschaftsordnung. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob Marktkräfte völlig allein operieren müssen oder ob sie von staatlichen Steue-
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rungsinstanzen reguliert werden sollten. Dass es aber eine Marktwirtschaft geben muss, wird kaum infrage gestellt. Hojman (1994) führt dies sowohl auf lokale als auch auf globale Ursachen zurück: die Erziehung des Volkes durch Massenmedien (Chile), Widerstand der Bevölkerung gegen die Inflationseffekte (Argentinien, Bolivien), Enttäuschung gegenüber der traditionellen Politik (Peru) und Prestigeverlust des Militärs (Argentinien) (Hojman 1994; Weitz-Schapiro 2007). Gewiss bringt die Globalisierung der Marktbeziehungen in Lateinamerika Probleme mit sich, solange die Entwicklung des Marktes nicht parallel zu Demokratisierungsprozessen läuft. Die Probleme der demokratischen Konsolidierung wurden bereits erwähnt. Unter den Bedingungen einer asynchronen demokratischen Entwicklung sind die Möglichkeiten, Machtbalance und Machtkontrolle auszuüben, stark begrenzt, da die Strukturen, die es erlauben, Überwachungsmechanismen zu entwickeln, unter dem Einfluss der zu kontrollierenden Instanz stehen und keine Autonomie besitzen. Der World Bank Report 1997 sprach damals von „[...] checks and balances that need to be built into the structure of government, including judicial independence and the separation of powers. These promote credibility and accountability“ (World Bank 1997: 99).
Die Frage ist also: Wie können checks und balances erfolgen, wenn die Legitimität der demokratischen Institutionen in Zweifel gezogen wird (Domingues 2008)? Die Militarisierung Kolumbiens, die organisierte Korruption Argentiniens, der Separatismus in Bolivien, der Populismus in Venezuela und Ecuador, die hohe Ungleichheit und limitierte Konkretisierung von Bürgerrechten in Chile und Brasilien sind Belege für solche Legitimationsprobleme lateinamerikanischer Demokratien. Man schließt daraus, dass „[in] Latin America in the 1990s at any rate, the evidence suggests that one can have either a technocratic, reforming state or a genuinely effective system of democratic accountability but that it is very difficult to have both“ (World Bank 1997: 237).
Die Hauptursache für dieses Dilemma liegt in einer zunehmenden Komplexitätsasynchronie: Agiert wird zunehmend in einem supranationalen Wirtschaftssystem, während die Korruption auf lokaler Ebene zunimmt. Korruption und rent-seeking sind auch eine Art der Umwandlung von Geld in politischen Einfluss, die auf Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken basiert. Pritzl (1997) nennt vier Formen öffentlicher Korruption in Lateinamerika: (a) Erpressung, (b) Bestechung, (c) Unterschlagung bzw. Veruntreuung öffentlicher Mittel und (d) Patronage (d. h. Bevorzugung von Verwandten und Freunden
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bei der Regelung des Zugangs zu öffentlichen Ämtern). Nach Pritzl sind sie auf folgende Gründe zurückzuführen: (a) eine wenig ausgeprägte demokratische Kultur, die zum Klientelismus und zu paternalistischen Beziehungen führt, (b) eine fehlende Gewaltenteilung, die eine personalistische Regierung zur Folge hat und (c) eine Instrumentalisierung des Rechtssystems zugunsten der eigenen Klientel oder der ideologisch am nächsten stehenden Interessengruppen. Systemtheoretisch lässt sich Korruption als eine Art Entdifferenzierung verstehen, die durch das Einwirken der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke auf den politischen bzw. öffentlichen Sektor entsteht. Dabei wird die Infrastruktur des politischen Systems missbraucht, um bestimmte Ziele zu erreichen, die nicht der Systemlogik, sondern den Interessen der in den Netzwerken agierenden Menschen entsprechen. Deshalb gibt es im Allgemeinen kein korruptes politisches System, sondern informelle Einflüsse von Akteuren auf formelle Prozeduren. Wenn allerdings die Korruption eskaliert, wird informeller Einfluss zum Kommunikationsmedium des Politischen oder der Verwaltung, sodass man von einem entdifferenzierenden Eingriff in die operative Logik des betroffenen Systems sprechen kann, was in der Perspektive einer Beobachtung erster Ordnung als systemische Korruption interpretiert wird. Das Ausmaß dieses Problems in Lateinamerika wird aus Tabelle 6.1 ersichtlich. Anhand der Parameter des Corruption Perception Index (CPI) wird ein Vergleich mit verschiedenen Staaten Europas durchgeführt. Der Koeffizient entspricht der Korruptionswahrnehmung inländischer Wirtschaftsakteure. 10.00 bedeutet absolute Korruptionsfreiheit. Eine weitere Komplexitätsasynchronie der Beziehungen zwischen Markt und Demokratie ist Armut. In diesem Fall kann man von sozialer Exklusion sprechen, wobei Armut als Folge einer zunehmenden und systemisch hoch integrierten Exklusion aus den gesellschaftlichen Leistungen der Funktionssysteme zu verstehen ist. In einer funktional differenzierten Gesellschaft müssen Individuen an allen Funktionssystemen teilnehmen können. Den Funktionssystemen liegt das universalistische Prinzip der Vollinklusion zugrunde (Stichweh 2005). Kein Mensch ist im Prinzip von den Leistungen der Funktionssysteme ausgeschlossen. Wenn aber strukturelle Armut existiert, kommt es zu Komplexitätsasynchronien zwischen den Inklusionserwartungen der funktional differenzierten Institutionen und den konkreten Absorptionsleistungen der Sozialpolitik. Die Armut ist das effektivste Mittel, die Beteiligung an den universalistischen Leistungen der Funktionssysteme zu verhindern. Es handelt sich um eine Enteignung von Kommunikationsmöglichkeiten – in diesem Sinne um eine grundlegende Ausschließung aus der Gesellschaft. Sozialpolitische Maßnahmen werden eingesetzt, um soziale Inklusion zu ermöglichen. Die staatlichen Leistungen sind jedoch nicht in der Lage, dieses
6.3. Komplexitätsasynchronien im Wirtschaftssystem | 171 Country Rank 1 1 5 5 7 11 12 14 23 23 23 28 32 55 70 72 72 80 102 109 138
Country/ Territory Denmark Sweden Finland Switzerland Netherlands Luxembourg Austria Germany France Chile Uruguay Spain Portugal Italy Colombia Peru Mexico Brazil Bolivia Argentina Paraguay
CPI Score 2008 9.3 9.3 9.0 9.0 8.9 8.3 8.1 7.9 6.9 6.9 6.9 6.5 6.1 4.8 3.9 3.6 3.6 3.5 3.0 2.9 2.4
Standard Deviation 0.2 0.1 0.8 0.4 0.5 0.8 0.8 0.6 0.7 0.5 0.5 1.0 0.9 1.2 1.0 0.6 0.4 0.6 0.3 0.7 0.5
Confidence Intervals 9.1-9.4 9.2-9.4 8.4-9.4 8.7-9.2 8.5-9.1 7.8-8.8 7.6-8.6 7.5-8.2 6.5-7.3 6.5-7.2 6.5-7.2 5.7-6.9 5.6-6.7 4.0-5.5 3.3-4.5 3.4-4.1 3.4-3.9 3.2-4.0 2.8-3.2 2.5-3.3 2.0-2.7
Surveys Used 6 6 6 6 6 6 6 6 6 7 5 6 6 6 7 6 7 7 6 7 5
Tabelle 6.1: Corruption Perception Index (CPI), Quelle: Transparency International (2008)
komplexe Problem zu lösen, vor allem deshalb, weil die Armut in Lateinamerika eine Konsequenz der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke ist, die kurzfristige und prekäre Inklusion über informelle Mechanismen anbieten. Inklusion über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke ist hoch instabil, da sie auf Gegenleistungen und informellen partikularistischen Prämissen basiert. Erwartungen sind hoch kontingent im Sinne Parsons: Die Gratifikation Egos hängt von der Handlung Alters ab (Parsons 1970). Es mag zwar zur Kumulation von Anschlussmöglichkeiten über Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke kommen; diese ist aber gesetzlich nicht gesichert und kann rechtlich nicht eingeklagt werden, wenn die Erwartung enttäuscht wird. Die Grundlage der Ungleichheit bleibt in diesem Sinne bestehen. Die möglichen kumulativen Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen werden durch Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke neutralisiert. Komplexitätsasynchronien finden sich auch im Finanzsystem Lateinamerikas. Zwischen 1975 und 1990 wurden in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern Finanzreformen durchgeführt, die eine Öffnung gegenüber den globalen Kapitalmärkten zum Ziel hatten (Agosin/Ffrench-Davis 1993). Die wichtigsten Maßnahmen zur Liberalisierung des Finanzmarktes waren die Abschaffung
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spezieller Kreditprogramme, die Liberalisierung der Zinssätze und der Aufbau moderner Systeme zur Bankenregulierung (Lora 1998). Die Abschaffung spezieller Kreditprogramme bedeutete eine drastische Reduzierung der Möglichkeiten der Kreditaufnahme von Kleinunternehmen und schloss die Abschaffung der Hypothekenkredite ein, die vor allem für die Wohnungsfinanzierung der Mittel- und Unterschichten wichtig waren. Die Folgen dieser Maßnahmen für den Markt selbst und für andere Teilbereiche sind nicht zu unterschätzen: Begrenzung des Wettbewerbs, Monopolisierung von unterschiedlichen Märkten, soziale Ungleichheit und infolgedessen politische Instabilität (Blejer/Sagari 1987). Die Liberalisierung der Zinssätze, die als Katalysator des Kapitalzuflusses galt, wurde allerdings nicht von neuen Überwachungsmechanismen für Bankinstitutionen begleitet. Man förderte die Komplexität der Kapitaldynamik, aber nicht die des gesamten Finanzsystems. Dies führte zu Komplexitätsasynchronien zwischen den Erwartungen der Mobilität des Geldes und den Mechanismen zur Sicherung der Erwartungen. Mangelnde Kontrolle führte zu einer faktischen Verschmelzung von Bankinstitutionen und Wirtschaftsgruppen, sodass die Banken keine Autonomie mehr besaßen, sondern der Logik der in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken organisierten Wirtschaftsgruppen dienten. Kommt es in einer solchen Situation zu globalen oder regionalen Wirtschaftskrisen – wie Anfang der 1980er Jahre, Mitte der 1990er Jahre oder die Weltfinanzkrise 2008 –, dann brechen nicht nur die Wirtschaftsgruppen zusammen, sondern auch das Bankensystem. Gelöst werden diese Krisen immer durch staatliche Intervention, d. h. durch den Einsatz staatlicher Mittel, der mittelfristig zur Verschuldung führt. Andererseits ist es der Versuch, durch eine externe Instanz – den Staat – die Komplexitätsasynchronien des Wirtschaftssystems oszillierend zu koordinieren. Auch die Flucht von ausländischem Kapital ist dem Mangel an Kontrollmechanismen für das Finanzsystem zuzurechnen. Da Kapitalzufluss auf Vertrauen basiert, ist die strukturelle Instabilität der Finanzmärkte ein wesentlicher Grund für Kapitalflucht. Die Wirtschaftskrise 1994 in Mexiko ist ein Beispiel dafür. Sie ist gekennzeichnet durch eine „[...] inadequate basis of confidence, which, in globalized financial markets, may lead to an abrupt outflow of outside savings on the part of international investors and plunge the economy concerned into profound crisis“ (Engel 1996: 153).
Kapitalflucht führt zur Abwertung des Geldes und zum Verlust an internationalen Geldreserven, die wiederum eine Wechselkurskrise auslösen. Wie die Weltfinanzkrise im Jahr 2008 gezeigt hat, setzen die Märkte interne Maßnahmen
6.4. Komplexitätsasynchronien im Rechtssystem | 173
in Gang, um diesen Finanzproblemen entgegenzuwirken: Es gab gravieremde Finanzierungsprobleme, die zur Senkung der Wirtschaftsaktivitäten und zu steigender Arbeitslosigkeit führten. Dem versuchten viele Staaten durch eine Erhöhung der verfügbaren Geldmenge entgegenzuwirken. In der Summe ergab sich eine Senkung der Realeinkommen, die eine wachsende Armut zur Folge hatte. Die Konsequenzen sind also nicht nur im Bereich des Marktes zu beobachten, sie betreffen unterschiedliche Felder, an die der Markt strukturell gekoppelt ist. In diesem Sinne ist die Steuerung der wirtschaftlichen Komplexitätsasynchronien für das lateinamerikanische Gesellschaftssystem eine Herausforderung, die über die Wirtschaft hinausgeht.
6.4 Komplexitätsasynchronien im Rechtssystem Im Rechtssystem sind Komplexitätsasynchronien eng mit den Entdifferenzierungsepisoden von Politik und Recht verknüpft. Wie in Kapitel 4 erläutert, bedeutet Entdifferenzierung von Politik und Recht, dass bestimmte spezifische Konstellationen rechtsbasierter Komplexität (Elemente und Relationen) durch politische Kommunikationen ersetzt werden. Der Ausnahmezustand zur Lösung innenpolitischer Probleme ist ein Indikator dafür: „[Society’s] actual existence or fundamental values and institutions are declared at risk. Those who speak for it claim the historical right of necessity, of social-defense, the right to protect the established order against its adversaries and their collaborators. This right may mean defending the government against its opponents, or it may mean overturning the incumbent government, which has supposedly exceeded or failed to exert its authority and thereby undermined the legitimate institutional order“ (Loveman 1993: 15).
Auf diese Weise wird die Gesellschaftskrise unterdrückt, nicht aber bewältigt. Loveman fasst die Maßnahmen des Ausnahmezustands wie folgt zuammen: 1. Suspension of specified civil liberties, for example, freedom of speech, assembly, or association [...]; 2. Declaration of a constitutionally stipulated regime of exception (for example, a state of siege, state of internal commotion, state of internal war, or state of danger) with (or without) delineation of the extent and duration of emergency powers [...]; 3. Blanket suspension of the rule (imperio) of the constitution with virtually unlimited dictatorial powers exercised by legislative, executive, or perhaps military authorities;
174 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika 4. Delegation of extraordinary powers to government authorities (for example, assignment by the legislature of authority to the executive to rule by decree, suspend civil liberties and rights, impose special taxes or forced loans, or even exercise the full sovereign power) for either a specified period or for their duration; 5. Declaration of military rule (Loveman 1993: 18).
Ausnahmezustände heben die Verfassungsnormen auf und überlassen der Politik die Gestaltung der gesetzlichen Ordnung. Die Komplexitätsasynchronie besteht darin, dass eine normative Ordnung (Recht) über Faktizität (Macht, Zwang) operiert. Da es bei Ausnahmezuständen nicht um die Frage der Legitimation der getroffenen Entscheidungen geht, sondern um die Effektivität des Machtinstruments, nutzt die Politik besonders unter autoritären Bedingungen das Verhängen des Ausnahmezustands als Mittel zur Durchsetzung politischer Entscheidungen. Dies bedeutet, dass es im Staat keine politisch neutralen Zonen gibt, in denen deliberative Prozesse und Verhandlungen durchgeführt werden können. Damit erhält der Zwang den Status eines gesellschaftlichen Steuerungsmediums, das teilweise die Integrationsfunktion der Planung während des Kompromissstaates ersetzt. Ausnahmezustände sind das eine Problem, das andere ist die Verfassung. In Brasilien wurden ab 1964 unterschiedliche Verfassungsentwürfe ausgearbeitet, die 1969 in eine autoritäre Verfassung und in eine Entdifferenzierung von Regierung und Staat mündeten: „Mittels solcher konstitutioneller Konstruktionen wurde der Staat in zunehmendem Maße durch die exekutive Gewalt verkörpert, und mit der Doktrin der segurança nacional, der ‚nationalen Sicherheit‘, die jegliche Einschränkungen verfassungsmäßiger Garantien rechtfertige, verfügte die Exekutive über eine willkürlich zu handhabende Ideologie“ (Sangmeister 1995: 234).
In Paraguay beschloss die Verfassungsgebende Versammlung 1967, die Permanenz der Ausnahmezustände als Hauptmechanismus der Steuerung durch Zwang beizubehalten (Bareiro 1995: 426). In Chile trat 1981 die autoritäre Verfassung in Kraft, die zur Gründung des Nationalen Sicherheitsrates führte (in dem das Militär über die Mehrheit der Stimmen verfügte). In Peru brachte die Militärregierung von Morales Bermúdez 1978 eine neue Verfassung auf den Weg, die 1992 von Fujimori abgeschafft und 1994 durch ein neues Grundgesetz ersetzt wurde: „Beiden Verfassungen ist gemeinsam, daß sie stark auf den Staatspräsidenten zugeschnitten sind, der als in direkter Wahl gewähltes Staatsoberhaupt
6.4. Komplexitätsasynchronien im Rechtssystem | 175 nicht nur den Ministerrat ernennt und das Oberkommando über Streitkräfte und Polizei innehat, sondern auch über Präsidialverordnungen direkt und richtungweisend in Verwaltung und politischen Prozeß eingreifen kann“ (Fuhr/Hörmann 1995: 470).
In Uruguay wurde 1980 der Versuch unternommen, der Steuerung durch Zwang einen konstitutionellen Rang zu geben; dies wurde jedoch in einem Referendum im November desselben Jahres abgelehnt (Bossung 1991: 59). Anders sieht dies seit 1999 in Venezuela und seit 2008 in Ecuador aus, wo der Präsident das Parlament auflösen darf, wenn es die Interessen des Landes nicht vertritt (Márquez 2004; Castro 2008). Die Verfassungen wurden – so Neves – instrumentalisiert: „Dabei dienen die Verfassungsgesetze nicht der Beschränkung der politischen Macht, sondern sie fungieren als Werkzeug der faktischen Herrscher, so daß diese personalistisch oder als unpersönliche ‚Bürokratie‘ auftreten. Die Machthaber benutzen die Verfassungstexte bzw. Ausnahmegesetze als reine Mittel der Herrschaftsdurchsetzung, ohne an sie konsequenterweise gebunden zu sein. Die Herrscher verfügen über die ‚Werkzeuge‘ und können sie ohne jede ernstzunehmende rechtliche Beschränkung umbauen oder ersetzen“ (Neves 1997: 507).
Der Verlust der Legalität durch Macht und Zwang ist nicht nur ein Problem des Rechtssystems, sondern auch ein Problem der asynchronen Realisierbarkeit der normativen Erwartung, in unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern inkludiert zu sein. In einem allgemeinen Verständnis fällt dies unter den Begriff citizenship (Domingues 2008). Aus einer asynchronen Realisierbarkeit normativer Erwartungen auf Inklusion entstehen Ungleichheitsvorstellungen bei den Betroffenen. Wenn das Recht die normative Grundlage für die Inklusionserwartungen bildet und gleichzeitig durch Macht und Zwang entwertet wird, gibt es für die Betroffenen keine Rechtfertigung dafür, warum nicht jeder von den Leistungen der Funktionssysteme profitieren darf. Die Schuld wird dem Staat zugeschrieben und es wird nach indirekten bzw. informellen Wegen gesucht, um an die Staatsleistungen zu gelangen. Domingues nennt dies bureaucratic clientelism: „It represents a cunning modernization of old formulas, while at the same time it may embody promises of citizenship further development“ (Domingues 2008: 19).
Wir haben dies als Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke bezeichnet, und die citizenship, die sie versprechen, basiert, wie bereits erwähnt, auf kurzfristigen, hoch instabilen, normativ partikularistischen Inklusionsvorgängen, die
176 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika
den langfristigen Inklusionserwartungen der Betroffenen nicht entsprechen. Es kommt nicht nur zu einer Komplexitätsasynchronie zwischen den ungenügenden und durch Macht und Zwang entwerteten formellen Prozeduren der funktional differenzierten Institutionen und den Inklusionserwartungen der Betroffenen, sondern auch zwischen den kurzfristigen und instabilen informellen Inklusionsmechanismen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke und den normativ stabilen, unverzichtbaren Inklusionserwartungen der Betroffenen. Im Bereich des Rechtssystems ist eine weitere Komplexitätsasynchronie zu nennen. Sie entsteht durch die Intensivierung des internationalen Handelsverkehrs Lateinamerikas aufgrund von Freihandelsabkommen mit den USA und Europa. Auf weltgesellschaftlicher Ebene haben sich an der Schnittstelle von Recht und Wirtschaft Schiedsgerichtsbarkeitsregimes entwickelt, die zur Regulierung der Rechtsstreitigkeiten in Handelsverträgen dienen (Teubner 1996, 1997, 2000, 2002; Fischer-Lescano/Teubner 2006). Solche Regimes operieren auf supranationaler Ebene, werden von den Betroffenen selbst konstituiert und entscheiden über den Rechtsstreit ohne Bezug auf die Nationalebene. Es handelt sich um Operationen eines Rechtssystems der Weltgesellschaft (Mereminskaya/Mascareño 2005), welches auf derivativen Legitimationsmechanismen wie Wissen, Expertise und Effizienz basiert (Willke 2007; Mascareño 2007c, 2009, 2010). Rechtsnormen und Rechtsentsprechung in Peru, Brasilien und Chile – wo Schiedsgerichtsbarkeitsregimes zunehmend an Bedeutung gewinnen (FrutosPeterson 1999; Muniz 1999; Mereminskaya 2007) – sind nicht bereit, supranationale Rechtsentscheidungen doktrinär anzuerkennen, und können so einen politisch geförderten internationalen Handelsverkehr rechtlich blockieren. Chile ist ein paradigmatisches Beispiel dafür. Wenn die Vertragsparteien eines internationalen Privatvertrags Rechtsstreitigkeiten gegenüberstehen, können sich die Vertragsparteien auf die supranationalen Prinzipien des Unidroits (Institut International Pour L’Unification Du Droit Privé) berufen, um die Rechtsstreitigkeit beizulegen (Mereminskaya 2007; Mereminskaya/Mascareño 2010). Im chilenischen Privatrecht gibt es keine Rechtsnorm, die die Jurisdiktion eines supranationalen Gerichtshofes ausschließt. Dennoch hat das Oberste Gericht Chiles 1999 aufgrund seiner territorialen Vorstellung von Rechtsgeltung beschlossen, die Jurisdiktion eines ausländischen Gerichts für unrechtmäßig zu erklären (Mereminskaya 2006). Im Zeitraum zwischen 1997 und 2008 hat Chile acht Freihandelsabkommen unterzeichnet (mit Kanada, Mexiko, Mittelamerika, Europäische Gemeinschaft, European Free Trade Association, USA, Korea und China). Die Wirtschaftskomplexität scheint also eine massive Internationalisierung des Handelsverkehrs zu ermöglichen; wenn aber die Rechtskomplexität nicht den Operationsbedingungen eines weltgesellschaftlichen supranationa-
6.5. Steuerungsstrategien | 177
len Rechtssystems entspricht, dann ist diese Komplexitätsasynchronie nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein politisches und wirtschaftliches Problem, das zur Einschränkung des Wirtschaftswachstums und zu politischer Instabilität führen kann. Die Frage ist nun: Wie können die genannten Komplexitätsasynchronien im Bereich der Wirtschaft, Politik und des Rechts bewältigt, koordiniert und gesteuert werden?
6.5 Steuerungsstrategien zur Bewältigung der Komplexitätsasynchronien in Lateinamerika Die auf Lateinamerika anwendbaren Steuerungsstrategien müssen sich mit den widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzen, die bisher beschrieben wurden. Der paradoxe Charakter der lateinamerikanischen Gesellschaftsevolution im 19., 20. und 21. Jahrhundert spiegelt sich vor allem wider in den Beziehungen zwischen Institutionen einer zunehmenden weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung und der Entwicklung von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken, die informelle Inklusions- und Exklusionsvorgänge durchsetzen. Die durch diese gegeneinander wirkenden Tendenzen erzeugte Spannung kann zur Entstehung von Komplexitätsasynchronien beitragen. Dies kann entweder zur Unterdrückung der Differenz durch die partikularistischen Operationen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke führen oder eine Chaotisierung von Differenzen und anschließende Destabilisierung des lateinamerikanischen Weges der Moderne bedeuten. Der Einsatz von Steuerungsstrategien in Lateinamerika sollte darauf ausgerichtet sein, beide Extreme zu vermeiden. Weder Fragmentierung noch Hierarchie kann die Antwort der Steuerungsstrategien sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es für jeden gesellschaftlichen Bereich eine spezielle Steuerungsstrategie geben muss. Steuerungsbedürftige Bereiche sind vor allem die Grenzgebiete zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen – insbesondere zwischen Wirtschaft, Politik und Recht. Die Komplexitätsasynchronien, die sich in diesen Kontaktzonen entwickelt haben, sind besonders stark von den widersprüchlichen Einheit-Differenz-Beziehungen geprägt. Und die Akteure, die unter diesen Bedingungen interagieren, müssen sich direkt mit solchen Beziehungen auseinandersetzen und einen Weg finden, sie zu überwinden. Dies ist die neue Gesellschaftssituation in Lateinamerika. Sie erfordert den Einsatz von Steuerungsmechanismen, da die Akteure und Interaktionsfelder, die sich aufgrund derselben Demokratisierungsprozesse, der Globalisierung der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen und der entsprechenden semantischen
178 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika
Vielfalt einer Weltgesellschaft herausbilden, nicht mehr von einem Zentrum aus kontrolliert werden können, ohne problematische Komplexitätsasynchronien auszulösen. Die problematische Selbstreferenz dieser Akteure, Interaktionsfelder und Funktionssysteme ist höher denn je, und deshalb kann sie von außen beeinflusst aber nicht kontrolliert werden. Die Einzelheiten dieser Steuerungsstrategien sollen im Folgenden thematisiert werden.
6.5.1 Zentrifugale Steuerung Eine Steuerung der konzentrischen Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung durch die Mechanismen polyzentrischer Ordnungen ist nur dann möglich, wenn man davon ausgeht, dass zunächst jede Steuerungsstrategie die zentralisierende Kraft von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken überwinden muss. Wie in Kapitel 4 historisch belegt, übernahm in Lateinamerika der Staat die Autonomieansprüche ausdifferenzierender Systeme und sich in Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken organisierender Akteure, die eine dezentrale Steuerung verhinderten. In gewissem Maße erklärt dies auch, warum es in der soziologischen Diskussion in Lateinamerika zu den Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Recht kein entsprechendes Wort für Steuerung gibt. Laut Mayntz wurde als Übersetzung des englischen control der Begriff Steuerung in die deutsche Soziologie eingeführt (Mayntz 1997). Die lateinamerikanische Soziologie spricht meist von Kontrolle und Intervention des Staates. Erst in den 1990er Jahren begann man, über Regulierung zu sprechen, während das Schlagwort der 1970er und 1980er Jahre Deregulierung war. Allerdings beschränkte sich die Verwendung dieses Begriffs auf die gesetzlichen Beziehungen zwischen Staat und Markt (Guzmán 1993). Nicht nur aus diesem Grund lässt sich die Steuerungserfahrung Europas und Lateinamerikas nicht vergleichen. Eine Ursache liegt in der Beziehung zwischen Staat und gesellschaftlichen Akteuren. Die Entstehung von Komplexitätsasynchronien, die damit verbundene Instabilität des Zentrums und die Orientierung der Transformation sind vor allem historische Fragen. In westeuropäischen Gesellschaften kam es zur Instabilität des Zentrums, als der Ausbau des Wohlfahrtsstaates die Verantwortung der Politik für alle Lebensbereiche intensivierte. Finanzielle und juristische Probleme belasteten den Staat und lösten eine Komplexitätskrise aus, die zum Rückzug des Staates von der Gesellschaftsspitze führte. Doch die vom Staat errichtete hierarchische Struktur wurde nicht durch eine andere substituiert. Unter dem wachsenden Einfluss von Interessengruppen, Verbänden, Korporationen, also von konzertierten Akteuren, und der zunehmenden Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Rolle ver-
6.5. Steuerungsstrategien | 179
wandelte sich die hierarchische Kontrolle in eine zentrifugale Koordinierung dezentraler Instanzen (Willke 1996a). Daraus entstanden hoch entwickelte autonome und operativ voneinander unabhängige und dennoch koordinierte soziale Systeme und Netzwerke, die als Beweis und Substrat dieser gesellschaftlichen polyzentrischen Ordnung gelten. Lateinamerika folgte einem anderen Weg. Mit Beginn des Industrialisierungsprozesses übernahm der Staat im Zeitalter der frühen Globalisierung – die Wallerstein (1974) in der Theorie des Weltsystems beschreibt – die Hauptverantwortung für Gesellschaftsentwicklung und Wirtschaftswachstum. Der Staat trug auch die finanzielle Verantwortung für die Folgen der Industrialisierung. In den 1960er und 1970er Jahren konnte er diese Verantwortung nicht mehr tragen. Er kapitulierte vor der zunehmenden Komplexität der Umwelt und wurde als Zentrum der Gesellschaft instabil. Dies bot den Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerken die Chance, tiefer in die Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Recht einzudringen. Die Existenz ausdifferenzierter Teilsysteme ist in Lateinamerika unübersehbar, und genau darin liegt die Besonderheit einer konzentrischen Institutionalisierung, nämlich in der Paradoxie einer entdifferenzierten Differenzierung, die die formalen Prozeduren funktional differenzierter Institutionen durch die Überwachung informeller Strukturen steuert, was zur Folge hat, dass die Entfaltung der Selbstreferenz unterschiedlicher Teilsysteme blockiert wird. Darin liegt auch die Herausforderung für eine Strategie, die die Koordinierung von Differenzierungsansprüchen und Bindungen ermöglicht, ohne zur Auflösung informeller Netzwerke zu führen. Es muss deutlich betont werden: Es geht um die Strategie einer nicht autoritären, dezentralen Koordination unterschiedlicher Kommunikationsmedien von formellen Prozeduren und informellen Operationen. Dies erfordert eine bestimmte Art der Steuerung, die den entdifferenzierenden Tendenzen entgegenwirken kann. Sie wird hier als zentrifugale Steuerung zur pragmatischen Koordinierung zunehmend undurchschaubarer gesellschaftlicher Episoden bezeichnet. Damit ist Folgendes gemeint: Es handelt sich um eine zentrifugale Steuerung in dem Sinne, dass die Steuerungsstrategien darauf gerichtet sind, die rekursiven Kommunikationsnetze ausdifferenzierender Systeme vor externer Kontrolle zu bewahren. Es geht um pragmatische Koordinierung in dem Sinne, dass die Steuerung lokal und episodisch wirkt, mit dem Ziel, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entstandenen Kommunikationen zu synchronisieren. Unter zunehmend undurchschaubaren gesellschaftlichen Episoden versteht man die steigenden Komplexitätsbedingungen lateinamerikanischer Gesellschaften. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass es sich um füreinander undurch-
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schaubare Episoden handelt, das heißt, um zunehmend autonome, selbstreferenzielle, operativ geschlossene gesellschaftliche Operationen und Prozesse. Unter den Bedingungen einer konzentrischen Institutionalisierung muss jedoch diese zentrifugale Steuerung zur pragmatischen Koordinierung zunehmend undurchschaubarer gesellschaftlicher Episoden nicht nur formelle Prozeduren steuern, sondern auch die informellen Operationen berücksichtigen. So betrachtet können die Aufgaben von Steuerungsstrategien in der Region Lateinamerika wie folgt beschrieben werden: Sie müssen in erster Linie darauf gerichtet sein, den Prozess der Entdifferenzierung formeller Prozeduren durch den Partikularismus des Informellen zu verhindern (Japp 2007). Um dies zu erreichen, müssen sich Steuerungsstrategien mit der Identitätsbildung ausdifferenzierter und sich ausdifferenzierender Teilsysteme beschäftigen – mit ausdifferenzierten Systemen, weil die gesellschaftliche Transformation zu einer Abschwächung der bereits konstituierten Identitätsmuster führen kann, und mit ausdifferenzierenden Systemen, weil die Identität dieser Instanzen infolge der Transformation nicht durch die dominierende Identität ausdifferenzierter Systeme bzw. partikularistische Interessen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken blockiert oder ersetzt werden darf. Sind die Identitäten verschiedener Systeme und Akteure von ihnen selbst und ihrer Umwelt erkennbar und voneinander abgrenzbar, dann ist die Steuerung eine Art von Verhandlungsstrategie, die sich mit den unterschiedlichen Ansprüchen der einzelnen Teilbereiche auseinandersetzen muss, um unterschiedliche Formen der Koordinierung bzw. Synchronisierung zu erreichen. Anders als in der europäischen Region erfordern die Komplexitätsasynchronien Lateinamerikas, dass sich ein Steuerungsmodell nicht nur mit dem Verhandlungsproblem befasst, sondern auch mit der Schaffung von Kontingenzsituationen und der Bewahrung von Identitäten. In dem hier gemeinten Sinne bedeutet Steuerung eine Steigerung der Kontingenz. Polyzentrische Ordnungen verarbeiten Kontingenz auf dezentrale Weise insofern, als jedes System in höheren Zyklen der Selbstreferenz operiert. Identitäre Selbstbeschreibungen werden stabiler und durch Selbstbeobachtung tiefer im System verankert. Bei systemischen Entdifferenzierungsproblemen in intervenierten Systemen kann eine Steigerung der Selbstreferenz zur Entwicklung einer eigenen Identität beitragen; nur so sind die von diesen Instanzen erzeugten Selbstbeschreibungen in der Lage, die Ungewissheit und Risiken der Komplexitätsasynchronien auf ihre Art und Weise zu verarbeiten. Ist das nicht der Fall, besteht keine Aussicht auf eine evolutive Konsolidierung ihrer Identität: „Bei selbstreferentiellen Systemen ist es indessen unumgänglich, die Vor-
6.5. Steuerungsstrategien | 181 stellung einer von ‚oben‘, von einer hierarchischen Spitze dem Gesamten übergestülpten Identität aufzugeben und zu ersetzen durch die Vorstellung einer nur noch dezentral und diskursiv zu konstituierenden Identität von Gesellschaft“ (Willke 1993: 76).
Erst dann werden Verhandlungen möglich, denn diese setzen voraus, dass sich System- und Akteurskonstellationen als voneinander unabhängige Instanzen anerkennen, deren Interessen mit den Grundlagen ihrer Identität verbunden sind. Ohne diese Verbindung treten nicht nur die üblichen Verhandlungsprobleme auf (Machtunterschiede, Verteilungskonflikte, Kompatibilisierung unterschiedlicher Logiken, Interessenausgleich), sondern auch innere Gruppenkonflikte bei der Definition gemeinsamer Verhandlungsziele, die zur Fragmentierung des Kollektivs und zum Scheitern der Verhandlung führen können. In Lateinamerika lässt sich dies besonders in den Gesprächen zwischen Regierung und indianischen Gruppen beobachten. Indianische Forderungen bewegen sich zwischen kultureller Selbstbestimmung und Verwaltungsautonomie einerseits und finanzieller, staatlicher Unterstützung andererseits, sodass eine gemeinsame Verhandlungsstrategie seitens der Indianer, die zu einem für alle erkennbaren und akzeptablen Ziel führen könnte, kaum feststellbar ist, was letztendlich eine Fragmentierung der Bewegung zur Folge hat. Anders entwickelt sich beispielsweise das Verhältnis zwischen Regierungen und Unternehmen. Vor allem in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, in denen die Entfaltung der Marktbeziehungen die Unternehmen zu wichtigen und unitären Wirtschaftsakteuren erhoben hat, agieren sie als Einheit mit gleichartigen Interessen und einer homogenen Identität. In diesem Sinne basieren Verhandlungen – und insbesondere ihr Erfolg – auf einer deutlichen Interessenunterscheidung und Interessenausgleich bei den verschiedenen beteiligten Akteuren. Wenn sich Verhandlungen und der gesamte Steuerungsprozess als erfolgreich erweisen, kommt es zu einem bedeutungsvollen gesellschaftlichen Wandel: Die konzentrische Institutionalisierung löst sich auf, indem die formellen Prozeduren sich ausdifferenzierender Teilsysteme an Bedeutung gewinnen. Erwartungen werden stabilisiert. In diesem Sinne kann der gegenwärtige gesellschaftliche Zustand Lateinamerikas als eine Übergangsperiode verstanden werden, in der sich Teilsysteme an eine dezentralisierte Kommunikationsform gewöhnen, die vielmehr durch horizontale als durch vertikale Beziehungen, durch steigende Selbstreferenzialität von Akteuren und Systemen und durch Verhandlungen unterschiedlicher Natur zwischen gesellschaftlichen Instanzen abweichender Interessen gekennzeichnet ist. Ob sich aus diesem Arrangement eine polyzentrische Gesellschaftsstruktur wie in westeuropäischen Ländern entwickelt, ist ein historisch-evolutives Problem, mit dem sich diese Untersu-
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chung nicht befasst. Eine solche Entwicklung ist aber nur möglich, wenn mit der zunehmenden Komplexität der Einfluss von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken infrage gestellt wird und die Steuerungsinstanzen in der Lage sind, die daraus entstehenden gesellschaftlichen Spannungen in den Griff zu bekommen und die Komplexitätsasynchronien zu steuern.
6.5.2 Konzentrische Institutionalisierung Da sich Steuerungsstrategien unter den oben genannten Bedingungen mit der Erhaltung der Kontingenz, d. h. mit der Bewahrung von Differenzen und Identitäten und Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Instanzen befassen müssen, operieren lateinamerikanische Steuerungsformen nach anderen Parametern als in der europäischen Region. In Bezug auf die Bewahrung von Differenzen und Identitäten wird hier von generativer Steuerung gesprochen, in Bezug auf die Verhandlungsrolle von deliberativer Steuerung. In diesem Sinne ist der Kontextsteuerungsbegriff im Sinne Willkes von Bedeutung: „Im Kern bedeutet Kontextsteuerung die reflexive, dezentrale Steuerung der Kontextbedingungen aller Teilsysteme und selbstreferentielle Selbststeuerung jedes einzelnen Teilsystems. Dezentrale Steuerung der Kontextbedingungen soll heißen, daß ein Mindestmaß an gemeinsamer Orientierung oder ‚Weltsicht‘ zwar unumgänglich ist; daß aber dieser gemeinsame Kontext nicht mehr von einer zentralen Einheit oder von einer Spitze der Gesellschaft vorgegeben werden kann. Vielmehr müssen die Kontextbedingungen aus dem Diskurs der autonomen Teile konstituiert werden, in welchem Konsens auf der Grundlage eines basalen Dissens möglich aber unwahrscheinlich ist“ (Willke 1993: 58).
Durch die Kombination von Selbststeuerung und Steuerung der Kontextbedingungen kann die Kontextsteuerung sowohl als generative wie auch als deliberative Strategie dienen. Generative Methoden widmen sich den internen selbstreferenziellen systemischen Prozessen und deliberative Strategien befassen sich mit der Steuerung des Verhandlungskontexts. Wenn Systeme und Akteure über eine hoch entwickelte Selbstreferenz verfügen, ist Kontextsteuerung die beste Strategie, um mit gesellschaftlichen Konflikten umzugehen. Wenn aber große Macht- und Einflussunterschiede zwischen kollidierenden Akteuren bestehen, muss nach alternativen Steuerungsformen gesucht werden.
Differenz, Identität und generative Steuerung In Lateinamerika sollte die generative Steuerung darauf ausgerichtet sein, die eigene Identität, steigende Selbstreferenzialität und die operative Autonomie
6.5. Steuerungsstrategien | 183
von Teilsystemen und Akteuren zu fördern. Da es Unterschiede in der Konsolidierung der Selbstreferenz zwischen Systemen bzw. Akteuren gibt, sollte eine generative Steuerung gewährleisten, dass die emergierenden dezentralen Kommunikationen weder von einer hierarchischen Spitze noch von informellen Operationen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken absorbiert werden – jedoch nicht um den Preis einer operativen Intervention der Gesellschaftsstruktur, weil dies zu ihrer Destabilisierung führen würde. Eine alternative Strategie setzt bei den sich ausdifferenzierenden Teilbereichen an und zielt auf die Konsolidierung von Rückkopplungsprozessen, die in diesen Instanzen autonom stattfinden, um die Prozesse der Identitätsbildung der neuen Akteure und der sich spezialisierenden Systeme zu unterstützen. Da diese Rückkopplungsprozesse im Kontext systemischer Ausdifferenzierung stattfinden, also „in einem Prozeß der Systembildung, bei dem sich analytisch mehrere Stufen unterscheiden lassen“ (Mayntz 1988: 20), ist die generative Steuerung nicht frei von Risiken. Formelle Prozeduren und informelle Operationen funktionieren in Lateinamerika auf hoch integrierte Weise, sodass die Gesellschaftsordnung durch unterschiedliche Entdifferenzierungsepisoden gekennzeichnet ist. Die zunehmende Autonomie von Systemen und Akteuren destabilisiert diese Ordnung, sodass sich die generative Steuerung mit der Frage beschäftigen muss, wie die Autonomie solcher Systeme und Akteure gefördert werden kann, ohne eine gesellschaftliche Integrationskrise auszulösen. Um ein Übermaß an zentraler Stimulation zu vermeiden, die die Zunahme an Autonomie der sich bildenden Systeme und Akteure begrenzen würde, sollten generative Steuerungsstrategien die zur operativen Geschlossenheit führenden systemischen Kontextbedingungen verstärken. Soziale Systeme können – so Willke – „als operativ geschlossen angesehen werden, wenn sie semantische Strukturen (insbesondere: Codes und Programme) ausbilden, die die in ihnen ablaufenden kommunikativen Operationen auf selbstreferenzielle, rekursive Umlaufbahnen zwingen“ (Willke 1987b: 338). In diesem Sinne sind operative Geschlossenheit und Selbstreferenz die zwei wichtigsten Ziele einer generativen Steuerungsstrategie: Die operative Geschlossenheit soll vor externen Eingriffen geschützt werden, damit sich die Selbstreferenz im Inneren weiterentwickeln kann. Nur auf diese Weise lässt sich eine Spezialsemantik herstellen, die die Identität des Systems festlegt und es ihm so ermöglicht, sich gegen externe Interventionen und Entdifferenzierungsprobleme zu wehren und dezentral zu operieren. Als generative Steuerungsstrategien, die sich mit den zur operativen Geschlossenheit führenden systemischen Kontextbedingungen befassen, gelten die unterschiedlichen Formen der Selbststeuerung zwischen Subsidiarität und Delegation. Subsidiarität bezeichnet
184 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika „[...] das Postulat, daß jedwede gesellschaftlichen Probleme nach Möglichkeit von denjenigen gesellschaftlichen Einheiten zu bearbeiten seien, die von den Problemen unmittelbar selbst betroffen sind“ (Schimank/Glagow 1984: 14).
Steuerungsformen dieser Art können flexibler als zentralisierte Instanzen operieren und schneller auf die situativ gelagerten Probleme der Selbstreferenzentwicklung reagieren. Gretschmann spricht sogar von einem neuen Subsidiaritätsprinzip, das „[...] für kleine selbstbestimmte Kollektive die Handlungsspielräume der Selbstverwirklichung und Eigenbetätigung möglichst weiträumig und flexibel gestaltet“ (Gretschmann 1984: 199).
Besonders in diesem Sinne lässt sich Subsidiarität als generative Steuerung begreifen – als eine Strategie zum Erlangen eines gesellschaftlichen Raums frei von zentraler Unterdrückung. Delegation bezieht sich wiederum auf eine Art Selbstverwaltung, um eine staatliche Aufgabenstellung zu erfüllen. Die Betroffenen werden „gesamtgesellschaftlich verantwortlich für die Folgen der von ihnen formulierten und implementierten Entscheidungen“ (Schimank/Glagow 1984: 19). Dies basiert auf dem Prinzip, dass die Adressanten zugleich die Problemerzeuger und somit besser in der Lage sind, Lösungen für die von ihnen erzeugten Probleme zu finden, als andere. Maßnahmen zur Selbsthilfe und Befähigung (habilitación) zählen auch zu diesen Selbststeuerungsstrategien, die als generative Instanzen dienen können. Beide sind im Rahmen der Subsidiarität und der Delegation zu verstehen. Selbsthilfe bezeichnet eine Art Selbstorganisation der Betroffenen, die darauf gerichtet ist, eigene Probleme zu lösen oder sich auf Probleme mit externen Instanzen vorzubereiten. Die Tätigkeit professioneller Helfer kann ebenfalls im Rahmen der Selbsthilfe verstanden werden (Klawitter 1992: 210). Als Selbsthilfeinitiative gilt auch die vom Staat geförderte Entwicklung von Kleinunternehmen und Familienbetrieben in bedürftigen Regionen (Moßmann 1997). Befähigung bedeutet wiederum die Lieferung der notwendigen Instrumente für die Auseinandersetzung des Systems mit seiner sich ständig verändernden Umwelt: „Befähigung ist ein Instrument zur Konsolidierung eigener Projekte, mit dem man wissen kann, wie sie sich unterscheiden und wie sie miteinander verbunden werden können“ (Mascareño 1996: 55).
Es geht um eine Strategie, die einerseits an der Entwicklung der inneren systemischen Identität und andererseits an der Steigerung der Systemfähigkeit, mit anderen ähnlich bedeutenden Instanzen zu kommunizieren, orientiert ist.
6.5. Steuerungsstrategien | 185
Genau wie bei Subsidiarität und Delegation ist das Ziel von Selbsthilfe und Befähigung, generative Prozesse bei den zunehmend selbstreferenziellen Systemen und Akteuren in Gang zu bringen, die es ihnen ermöglichen, sich mit Entdifferenzierungsproblemen und mit den destabilisierenden Konsequenzen ihrer Auflösung auseinanderzusetzen. Diese generativen Prozesse beziehen sich auf folgende Punkte: Unterstützung beim Aufbau rekursiver, kommunikativer Abläufe, die die Unterscheidung innen/außen betonen. Dies ist besonders wichtig bei den neuen Akteurskonstellationen, die sich in Lateinamerika entwickeln. Vor allem die Politik hat durch Kooptierbarkeit versucht, neue gesellschaftliche Akteure für sich zu gewinnen: Ökologische Bewegungen werden zu politischen Parteien, populäre und indianische Bewegungen fallen in die Hände von populistischen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken und familienfreundliche Bürgerinitiativen werden von rechtsorientierten bzw. linksorientierten politischen Organisationen kooptiert. Da die Öffentlichkeit unter mediatisierten Umständen als Spiegel der Politik wirkt (Luhmann 1992), gilt für neue Akteure, dass jedes von ihnen produzierte öffentliche Ereignis als politisch bedeutend wirkt und von der Politik als innersystemische Informationsübermittlung integriert wird. Auch wenn die Transformation der Kommunikationen unterschiedlicher Felder in die Sprache der Politik unvermeidbar ist und für eine autonome Operation des politischen Systems gehalten werden muss, kann dies die Erhöhung der Selbstreferenzialität und Kontingenz der neuen Felder begrenzen. Eine generative Steuerung sollte für die operative Geschlossenheit dieser neuen Felder sorgen. Ein zweiter Operationsbereich der generativen Steuerung sind die konstituierten Akteure bzw. Systeme. Bei ihnen besteht die Aufgabe darin, eine Innendarstellung der externen gesellschaftlichen Differenz als Reflexionswert zu entwerfen. Mit dem Versuch, in das System eine fremde Rationalität als Strategie zur Selbstbeschränkung einzuführen (z. B. eine ökologische Rationalität in die Wirtschaft), darf dies allerdings nicht verwechselt werden. Es lässt sich vielmehr als eine Art deliberativer Steuerung bezeichnen (siehe unten). Die Innendarstellung der differenzierten Umwelt dient hingegen dazu, dass konstituierte Akteure und Systeme Zugang zu den Selbstbeschreibungen anderer Instanzen haben und eine mäßige Anpassung an die neuen Komplexitätsbedingungen bereits vor dem Direktkontakt vornehmen können. In Lateinamerika haben vor allem die Verhandlungsprozesse im Bereich der Menschenrechte durch diese Art generativer Strategien ermöglicht, ein vorläufiges Bild der Gesprächspartner zu skizzieren, um den Weg zu späteren Verhandlungen (also der deliberativen Steuerung) zu ebnen. Analoges gilt im politischen Bereich für die früheren Phasen der Demokratieübergänge, in denen eine innere Darstel-
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lung der Selbstbeschreibungen des politischen Gegners wichtig war, um eine Annäherung zwischen Regierung (dem Militär) und Opposition (politischen Parteien) zu ermöglichen, die zur Entwicklung von Verhandlungsstrategien führte. Eine dritte Aufgabe der generativen Steuerung besteht darin, ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit der systemischen Kontextbedingungen, in denen sich die neue Differenz entwickelt, zu gewährleisten. Dies lässt sich auch als Unsicherheitsabsorption bezeichnen (Luhmann 1992: 85 ff.). Gesellschaftliche Übergangszusammenhänge erwachsen immer aus widersprüchlichen sozialen Dynamiken, die eine instabile Umwelt für steigende Differenzen darstellen. Die Unvorhersehbarkeit dieser Bedingungen löst systeminterne Unsicherheiten aus, die zu einer Beschränkung der inneren Konditionierung der Selbstreferenzialität führt. Eine generative Steuerung sollte diese Unsicherheiten absorbieren oder mindern. Dabei können beispielsweise zeitlich begrenzte spezifische Abmachungen helfen, die den Verlauf externer Ereignisse unter Kontrolle bringen, sodass das interne Unsicherheitsgefühl reduziert wird. Insbesondere ist die Regelung von Kompromissen, die die konstituierten Akteure und Teilsysteme schließen, von besonderer Bedeutung; dies betrifft z. B. die Anzahl der Beteiligten, Festlegung von Terminen, zu behandelnde Themen, organisatorische Struktur des Verhandlungssystems wie auch Wege der materiellen oder finanziellen Unterstützung, Sicherstellung der operativen Unabhängigkeit und Förderung der öffentlichen Anerkennung. Das Hauptziel dieser Strategie besteht darin, die Erwartungsenttäuschung zu minimieren und die Vorhersehbarkeit der Umweltbedingungen zu maximieren. Ergänzend zu den Strategien zur Erhaltung und Bewahrung selbstreferenzieller gesellschaftlicher Prozesse richtet sich die deliberative Steuerung auf die Koordinierung der unterschiedlichen operativen Logiken der neuen Komplexitätsbedingungen bzw. -asynchronien Lateinamerikas. Diese Thematik soll im Folgenden beleuchtet werden.
Verhandlungssysteme, formalisierte Netzwerke und deliberative Steuerung Deliberative Steuerung in gegenwärtigen lateinamerikanischen Gesellschaften soll sich – im Gegensatz zur generativen Steuerung – mit der Auseinandersetzung zwischen konstituierten und neuen Akteuren befassen. Es geht mehr um eine Beobachtung des Ganzen als von Teilen, mehr um die Koordination komplexer Beziehungen als um die Entfaltung des internen Selbstreferenzprozesses. Diese Steuerungsart sollte deliberieren, also überlegen, entscheiden und mit der gesamtgesellschaftlichen Koordination als Endziel agieren.
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Verhandlungssysteme und formalisierte Netzwerke sind die wichtigsten Formen der deliberativen Steuerung in polyzentrischen Ordnungen. „Im Fall moderner Gesellschaften, deren Funktionssysteme hohe Autonomie und Eigendynamik ausgebildet haben, tritt neben die Notwendigkeit vertikaler (föderaler) Koordination zunehmend ein Bedarf an horizontaler Koordination zwischen prinzipiell gleichrangigen und gleichgeordneten Systemen“ (Willke 1995a: 112).
Diese horizontale Koordination wird durch den Aufbau von Verhandlungssystemen und formalisierten Netzwerken erreicht. Verhandlungssysteme dienen dazu, Konflikte systemisch zu verarbeiten. Sie sind prozeduralisiert und in diesem Sinne formell organisiert (Willke 1995a, 1997). Insofern unterscheiden sich formalisierte Netzwerke von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken, weil sie auf Kooperation unter hoch spezialisierten, komplementären und horizontal liegenden Einheiten der weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung basieren. Es handelt sich dabei mehr um Formen der strukturellen Kopplung als um derivative Strukturen segmentärer oder stratifizierter Gesellschaftsformationen. Voraussetzung für die Ausbildung von Verhandlungssystemen und formalisierten Netzwerken ist allerdings ein gewisser Grad an gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, welche „Selbstregelungskompetenzen nach innen und Interessenvertretungsbefugnisse nach außen“ beansprucht (Mayntz 1988: 22 f.). Wenn Entdifferenzierungsepisoden die Gesellschaftssituation Lateinamerikas kennzeichnen, wird es schwierig – wenn nicht unmöglich – die Vorbedingungen für den Einsatz von Verhandlungssystemen und formalisierten Netzwerken zu entwickeln. Entdifferenzierungsepisoden blockieren die Ausbildung von Selbstregelungskompetenzen und Interessenvertretungsbefugnissen ausdifferenzierender Instanzen, sodass es keine deutliche systemische Differenzierung gibt, die durch diese Steuerungsformen organisiert werden kann. Nimmt die Komplexität zu, dann ändert sich die Situation vollständig. Spannungen entstehen unter zunehmend selbstreferenziellen Einheiten. Ein Mangel an horizontaler Koordination wird insofern zu einer Ursache der neuen gesellschaftlichen Komplexitätsasynchronien. Lateinamerikanische politische Systeme haben allerdings im Laufe ihrer Geschichte nicht viel Vertrauen in dezentrale Steuerungsformen gesetzt. Gerade der Aufbau einer konzentrischen Institutionalisierung basiert auf diesem Misstrauen. Das Prinzip der Hierarchie hatte stets Vorrang, um Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen zu lösen. Sogar die Vertretung korporativer Arrangements im Bereich der Gewerkschaftspolitik – vor allem in Brasilien und Argentinien – wurden vom Staat übernommen (Wiarda 1981). Die gegenwärtigen weltgesell-
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schaftlichen Komplexitätsasynchronien lassen sich dagegen nur unter großen Schwierigkeiten durch hierarchische Lösungen kontrollieren. Doch die parallele Entwicklung horizontaler Koordination ist immer noch labil. Vor allem neoliberal orientierte Theorien haben ihre Aufmerksamkeit auf den Markt als dezentrale Koordinationsform und als Alternative zur staatlichen Hierarchie gerichtet. In der Diskussion zur Steuerung polyzentrischer Ordnungen werden Markt und Demokratie dennoch als Instanzen betrachtet, die unter den heutigen Bedingungen entscheidenden Herausforderungen gegenüberstehen. So äußert sich Willke bezüglich der Marktproblematik: „Je stärker Marktbeziehungen [...] dem Moloch Komplexität wieder anheimfallen, je komplexer die Produkte, Produktionsformen, Austauschbeziehungen, Zeithorizonte und Kosten-Nutzen-Kalküle von Anbietern und Nachfragern werden, desto problematischer wird die Annahme, daß der Markt kostengünstig ist, weil er praktisch ohne Transaktionskosten (ohne Verzögerung und ohne besondere Koordinationsanstrengung) funktioniere“ (Willke 1995b: 289).
Für Lateinamerika trifft nicht nur das zu, sondern es kommt noch das bereits behandelte Thema der Entdifferenzierung wirtschaftlicher und politischer Medien und das Problem der gesellschaftlichen Hierarchisierung durch den Markt hinzu. Dies ist eine Folge des Rückzugs des Staates, der auch die Entstehung einer marktgesteuerten Version der konzentrischen Institutionalisierung ermöglichte, die sich überwiegend in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay herauskristallisiert hat (Messner 1998). Komplexe Gesellschaften stellen aber nicht nur Herausforderungen für den Markt, sondern auch für die Demokratie dar. Durch die Zunahme an Komplexität individueller und gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse werden Formen und Verfahren der Demokratie überrollt: „Die Klüfte zwischen Politikern und Experten, Repräsentanten und Betroffenen, nationalen Belangen und transnationalen Zwängen, Risikogebern und Risikonehmern, kurzfristigen und mittelfristigen Kalkülen, individuellen und kollektiven Rationalitäten etc. wachsen sich zu potentiellen Sprengsätzen eines Systems aus, von dem nicht mehr so klar ist, was es im Innersten noch zusammenhält. Die Demokratie als Steuerungsform gerät zwischen die Mühlsteine einer ‚postmodernen‘ Individualisierung einerseits und einer technologie-getriebenen Globalisierung andererseits – allerdings ohne daß dies den politischen Akteuren bislang besonders aufgefallen wäre“ (Willke 1995a: 51-52).
Es wurde bereits festgestellt, dass die Schwierigkeiten der Demokratie in Lateinamerika nicht nur mit den Problemen einer technologisch-wirtschaftlichen
6.5. Steuerungsstrategien | 189
Globalisierung zusammenhängen. Langjährige Militärdiktaturen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Demokratieentwicklung in Lateinamerika. Andererseits hat sich in der Geschichte Lateinamerikas der Anspruch der Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke auf Kontrolle immer hinter der Fassade der Demokratie verborgen, sodass die gegenwärtig zunehmende gesellschaftliche Differenzierung eine neue Herausforderung für die politischen Strukturen darstellt. Gerade diese Steigerung der Differenz hat in der europäischen Steuerungsdebatte dazu geführt, die Demokratie, den Markt und die Hierarchie infrage zu stellen und einen Mittelweg zwischen den Extremen zu finden. Verhandlungssysteme und formalisierte Netzwerke lauten die Antworten, denn sie verbinden die Autonomie eines dezentralisierten Steuerungsmusters mit der Kohärenz der Hierarchie. Autonomie setzt freien Spielraum und Kohärenz eine zielgerichtete Gesamtorientierung voraus: „Demokratische oder marktförmige Koordination läßt den Akteuren maximale, eine (idealtypische) monokratische Hierarchie minimale Autonomie. Kohärenz [...] ist dagegen in Hierarchien maximal, bei marktförmiger oder demokratischer Koordination dagegen minimal ausgeprägt“ (Willke 1995b: 298).
Verhandlungssysteme und formalisierte Netzwerke lassen sich als die dritte eigenständige Steuerungsalternative verstehen, wobei die traditionellen Instrumente der gesellschaftlichen Steuerung in einigen Fällen ersetzt und in anderen ergänzt werden müssen, durch: Setzung von Rechtsnormen, Infrastrukturentwicklung, finanzielle Transferleistungen, Solidarität, Überredung, Kontrolle, wirtschaftliche Planung u. a. Die Frage ist, ob die lateinamerikanischen Gesellschaftsbedingungen eine Steuerung durch formalisierte Netzwerke und Verhandlungssysteme zulassen. Laut Mayntz entstehen formalisierte Netzwerke im modernen Sinne – d. h. als intermediäre Steuerungsformen zwischen Hierarchie einerseits und Markt und Demokratie andererseits – sowohl im politischen Bereich zur Koordinierung unterschiedlicher Interessenverbände, Behörden und Parlamentsausschüsse (Mayntz 1997) als auch im unternehmerischen Bereich, um „eine schlecht kalkulierbare und potentiell bedrohliche Umwelt für sich unter Kontrolle zu bringen“ (Mayntz 1997: 239). Die wachsende Bedeutung formaler Organisationen und die damit verbundene Fragmentierung der politischen Macht dienen also als Hintergrund für die Netzwerkentwicklung; allein ihre Existenz ist ein Indikator für eine eingeschränkte Rolle des Staates im sozialen Umfeld. Als Kennzeichen formalisierter Netzwerke und Verhandlungssysteme sind folgende Merkmale zu nennen:
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Formalisierte Netzwerke kombinieren die Autonomie des Marktes und die Verfolgung bewusster Ziele der Hierarchie. Sie sind außerdem imstande, ihre negativen Externalitäten zu kontrollieren. Dafür brauchen sie keine autoritativen Programme, sondern sie nutzen die Logik der Komplementarität und Kooperation (Mayntz 1997: 247 ff.). Dies kann nach Weick unter dem Stichwort lose Kopplung verstanden werden: „By loose coupling, the author intends to convey the image that coupled events are responsive, but that each event also preserves its own identity and some evidence of its physical or logical separateness“ (Weick 1976: 3).
Die Verhandlungslogik schließt Effektivität und Responsivität ein – jedoch nicht um den Preis einer Entdifferenzierung oder Hierarchisierung der Beteiligten. Geschähe dies, dann würden die lose gekoppelten Systeme an Autonomie verlieren und ihre Ziele würden suboptimal verfolgt. Verhandlungen können in formalisierten Netzwerken und Verhandlungssystemen zwei Richtungen folgen, nämlich Interessenausgleich und Problemlösung. Im ersten Fall steht eine negative Koordination durch Interessenvertretung der Beteiligten im Vordergrund; im zweiten wird die Richtung durch ein kooperatives, zielgerichtetes Zusammenwirken bestimmt (Mayntz 1997: 250 ff.). Die Logik von formalisierten Netzwerken und Verhandlungssystemen braucht eine staatliche Innendifferenzierung. Dies kann durch ein Interdependenzmanagement der unterschiedlichen externen Instanzen erfolgen und gleichzeitig eine mögliche Fragmentierung und Übernahme (capture) des formalisierten Netzwerks durch Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke verhindern (Mayntz 1997: 275 ff.). Dies kann allerdings die Entscheidungskraft staatlicher Akteure aufgrund der internen Harmonisierung verschiedener Einheiten beeinträchtigen, was anschließend zu Konflikten mit dem formalisierten Netzwerk führen kann (Mayntz 1997: 223 ff.). In Bezug auf die Verbindung von formalisierten Netzwerken, Verhandlungssystemen und Staat spricht man von Neokorporatismus. Unter neokorporatistischen Umständen versucht der Staat nicht, einen normativen Konsens zu erreichen, sondern die „Transzendierung partikulärer Interessen in Richtung auf eine Integration der dahinter stehenden gesellschaftlichen Funktionserfordernisse“ (Schimank/Glagow 1984: 21). Dafür braucht er eine hohe Steuerungsfähigkeit. Die externen Wünsche nach Supervision müssen für ihn sichtbar sein und seine Steuerungsleistung ermöglichen. Insofern „ist Supervision kein Ersatz für Kontrolle oder Aufsicht, sondern eine eigenständige Form
6.5. Steuerungsstrategien | 191
der kooperativen, kongenialen Suche nach Lösungen für Probleme, die das zu supervidierende System in erster Instanz definiert“ (Willke 1997: 70). Es kann niemanden überraschen, dass in Lateinamerika das Problem der neuen gesellschaftlichen Komplexitätsasynchronien nur als eine Überlegung über die Modernisierung des Staates interpretiert worden ist. Dies ist kennzeichnend für das, was Véliz (1980) als zentralistische Tradition Lateinamerikas bezeichnet, oder was Messner (1999) einen zentrierten Staat nennt. Laut dieser Tradition sollte der Staat die alleinige Verantwortung für die soziale Unsicherheit immer dann übernehmen, wenn die gesellschaftliche Differenzierung steigt. Selbststeuerungsalternativen, Verhandlungen und formalisierte Netzwerke werden im besten Fall zu komplementären Initiativen, die sich an die staatliche Handlung anschließen sollen. Allerdings gibt es jenseits dieser Tradition einige Gründe, die die Logik von formalisierten Netzwerken für die Gesellschaftskoordinierung in Lateinamerika in Zweifel ziehen können: „Eine bemerkenswerte Schwäche der Netzwerkkoordinierung liegt in ihrem ‚Mangel an Demokratie‘ [...] Die nicht-organisierte Bevölkerung hat keinen Zugang zu den Netzwerken, und selbst wenn die in ihnen anwesenden Staatsrepräsentanten das Allgemeininteresse vertreten sollten, mag in Bezug auf dieses Gemeinwohl keine demokratische Deliberation stattgefunden haben“ (Lechner 1997: 15).
Die Existenz einer bedeutenden antiliberalen, nicht demokratischen und autoritären Tendenz im Bereich der politischen Semantik Lateinamerikas, die gesetzliche Einschränkung individueller Freiheiten in der Verfassungsordnung, der Machtunterschied zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen und die damit verbundenen Konsequenzen für die Gesellschaftsorganisation sprechen dafür, dass bei der Ausbildung von Netzwerken in Lateinamerika demokratische Regeln gerade deswegen schwer einzuhalten sind, weil es Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke gibt. Die Frage ist, ob formalisierte Netzwerke und Verhandlungssysteme unbedingt demokratisch organisiert werden müssen, um erfolgreich zu sein. Als Steuerungsmodell verfügt Demokratie über feste Regeln und sorgfältig begründete Prinzipien moralischer und normativer Prägung, an die sich die Beteiligten, sofern sie daran teilnehmen, halten müssen. Der Erfolg der demokratischen Steuerung hängt untrennbar mit dem Erfolg dieser universellen Prinzipien zusammen. Formalisierte Netzwerke und Verhandlungssysteme sind vielmehr pragmatisch orientiert, sodass sich ihre Regeln dem Lauf der Dinge ständig anpassen und sich am Effizienzkriterium messen. Sie bauen genau das auf, was oben als eine zentrifugale Steuerung zur pragmatischen Koordinierung zunehmend undurchschaubarer gesellschaftlicher Episoden bezeichnet
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wurde: eine Strategie, deren Erfolg darin besteht, Interessen adäquat zu vertreten und Probleme angemessen zu lösen, statt Versöhnung, Moralkonsens oder brüderliche Einigung zu erreichen. Ob es dazu kommen kann, hängt von Akteursgruppen oder sogar Individuen ab, nicht aber von dem formalisierten Netzwerk oder dem Verhandlungssystem. Was adäquat und angemessen heißt, muss wiederum von den Beteiligten definiert werden, und zwar nach ihrer eigenen zeitlich und räumlich begrenzten Einschätzung der gesellschaftlichen Ereignisse. Formalisierte Netzwerke und Verhandlungssysteme können wohl demokratisch organisiert sein, dies ist aber keine Voraussetzung ihres Erfolges. Es kann sogar ein Hindernis in dem Sinne sein, dass es bei Verhandlungen nicht viel Zeit gibt, Entscheidungen zu treffen. Verhandelnde Akteure müssen schnell auf den Gesprächspartner reagieren und können nicht jedes Mal beim Netzwerk anfragen, ob die daran Beteiligten mit einem eventuellen Angebot oder mit einer bestimmten Konzession einverstanden sind. Die verhandelnden Akteure und nicht das gesamte Netzwerk müssen vor Ort entscheiden, was adäquat und angemessen ist. Läuft dies anders, dann gewinnt das Netzwerk an Kohärenz, doch gleichzeitig verliert es an Autonomie und löst sich damit als intermediäre Steuerungsform auf. Ein Aspekt ist jedoch nicht zu unterschätzen: Formale Organisationen in Lateinamerika sind gegenwärtig nicht überall verbreitet, sodass es Interessen gibt, die schlecht oder überhaupt nicht repräsentiert sind (Rodríguez 2004). Dies ergibt sich geschichtlich daraus, dass sich Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke als funktionale Äquivalenz zu Organisationen etabliert haben. Doch mit steigender Komplexität nimmt die Diffusivität der Interessen ab und plurifunktionale Strukturen wie Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke können diese Komplexität schlechter bewältigen. Mit der in Kapitel 2 eingeführten Terminologie bedeutet Steigerung der Komplexität eine Transformation von Fuzzy-Continence-Interessen in Perfect-Continence-Interessen: Die Interessen werden deutlicher, schärfer und differenzierter. Dennoch besteht immer die Gefahr einer Rückkehr zum Fuzzy-Zustand. Um das zu vermeiden, wurde die Idee einer generativen Steuerung eingebracht, die sich der Erhaltung (und parallel der Förderung) der operativen Geschlossenheit widmen sollte. Mehr als das ist für eine pragmatische Steuerungsalternative nicht möglich. Die Logik von Verhandlungssystemen und formalisierten Netzwerken setzt ebenfalls voraus, dass der Staat der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung unterschiedlicher Teilbereiche (Systeme und Akteure) durch interne Spezialisierung unterstützend gegenübersteht. Weniger von der Entwicklung von Akteursverflechtungen als von der Steigerung der Effizienz der Dienstleistungen vorangetrieben, ist dieses Problem in den 1990er Jahren in Lateinamerika unter dem
6.5. Steuerungsstrategien | 193
Stichwort Modernisierung oder Reform des Staates thematisiert worden. Nach Bresser (1998: 525 ff.) handelt es sich um vier Reformbereiche: (a) Abgrenzung von Staatsfunktionen und Externalisierung unterschiedlicher Dienstleistungen, (b) wirtschaftliche Deregulierung und Orientierung des Staates an der Förderung nationaler wirtschaftlicher Akteure im internationalen Kontext, (c) Steigerung der Regierbarkeit durch eine Verwaltungsreform und (d) Neukonzeption des Staates als Interessenvermittlungsinstanz. Nach den oben ausgeführten Beschreibungen sind der Reformversuch und die interne Spezialisierung des Staates sowohl im negativen als auch im positiven Sinne zu verstehen. Die Punkte a und b bezeichnen eine negative Theorie der Staatsreform. Dies kommt zum Ausdruck im Abbau des von Weffort (1967) so genannten Kompromissstaates, der seit Mitte der 1970er Jahre in Lateinamerika durch einen Minimalstaat ersetzt wurde: „Diesem Befund [dem Neoliberalismus] entspricht das Rezept, mittels Privatisierung der staatlichen Unternehmen und Dienstleistungen, Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung und einer drastischen Öffnung aller Märkte der Privatinitiative die führende Rolle in der sozialen Entwicklung zu überlassen“ (Lechner 1996: 380).
Die Punkte c und d verweisen auf die positive Seite der Staatsreform in Lateinamerika: den Aufbau und die Ausübung einer Steuerungsfunktion, die sich vor allem mit den neuen Komplexitätsasynchronien befasst. Dieser zweite Teil der Staatsreformen ist allerdings bis heute kaum entwickelt. Das Gelingen einer sinnvollen Kopplung des Staates mit formalisierten Netzwerken und Verhandlungssystemen hängt davon ab, inwieweit der zweite Teil der Reformen weiterentwickelt wird. Dies ist umso wichtiger, als die Beziehungen zwischen Staat und anderen Teilbereichen eine vertikale bzw. hierarchische Strukturierungsform angenommen haben: „Corporate structures, reinforced by a political culture grounded on hierarchy, status, and patronage, enable the traditional sociopolitical forms in the Iberic-Latin tradition to hang on so tenaciously“ (Wiarda 1981: 63).
Tradition bedeutet in diesem Sinne Zentralität des Staates. Es handelt sich dabei um einen Staatskorporatismus, wie es Ortega in Bezug auf Mexiko erklärt: „Der Staat ist die letzte Instanz zur Anerkennung der Organisationen und ist in der Lage, seine Führung durchzusetzen. In einem Staatskorporatismus kommen die Entscheidungen ‚von oben nach unten‘ [...] [er] basiert auf einem patrimonialen und zentralisierten Autoritarismus, in dem die Verhandlungsfähigkeiten der gesellschaftlichen Akteure von demselben Staat hoch eingeschränkt sind“ (Ortega 1997: 42; Übersetzung A.M.).
194 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika Steuerungsebene
Generative Steuerung
Deliberative Steuerung
Steuerungsebene 1
Unterstützung rekursiver Kommunikationsprozesse von Akteuren und Systemen
Erleichterung des kommunikativen Austauschprozesses zwischen Akteuren und Systemen
Steuerungsebene 2
Innendarstellung als Anerkennungsstrategie der Selbstbeschreibungen anderer Akteure und Systeme
Innendarstellung als Strategie der Selbstkontrolle interner Leistungen; positive Koordination durch Policy-Netzwerke
Tabelle 6.2: Generative und deliberative Steuerung
Ohne eine Umsetzung der positiven Staatsreformen, ist es zumindest fraglich, ob in Lateinamerika der Staat zu einer Steuerungsinstanz werden kann, die in der Lage ist, die externen Wünsche nach Supervision zu erkennen und zu übernehmen. Die Idee einer staatlichen Leitrolle, die sich hinter der Entfaltung einer konzentrischen Institutionalisierung verbirgt, bleibt in der lateinamerikanischen Staatstradition ein ungelöstes Problem. Lechner (1999: 51 ff.) scheint eine Antwort auf diese Frage zu geben. Nach Meinung Lechners ist die Aufgabe des Staates in Lateinamerika: (a) die kollektiven Identitäten der Gesellschaftsmitglieder durch die Förderung des Sozialkapitals zu konsolidieren und die auf Vertrauen basierten Beziehungen zu unterstützen; (b) dafür zu sorgen, dass die Enttraditionalisierungsprozesse, die mit der Modernisierung verbunden sind, keinen entfremdenden Bruch mit der Vergangenheit darstellen. Historische Kontinuität muss erhalten werden; (c) als Vermittlungs- und Koordinationsinstanz zwischen Funktionssystemen und Akteurskonstellationen zu dienen; (d) eine Neugestaltung der Öffentlichkeit in Gang zu setzen. Je mehr die gesellschaftliche Komplexität steigt, desto mehr werden ursprüngliche kommunikative Strukturen wichtig, die ein Verständnis der neuen Umstände ermöglichen. Der Staat muss bei der Entwicklung dieser Strukturen helfen. Entsprechend der in diesem Kapitel entwickelten Terminologie werden die Punkte a und b als Strategien einer generativen Steuerung konzipiert, das heißt, zur Erhaltung von Identitäten und Bewahrung von Differenzen. Die Punkte c und d entsprechen den Koordinaten einer deliberativen Steuerung, das heißt, dem Zusammenspiel der Triade Staat - Netzwerk - Verhandlungssystem. Wie postuliert wurde, ist eine generative Steuerung vor allem darauf gerichtet, die Bedingungen selbstreferenzieller Prozesse zu begünstigen und zu fördern. Deliberative Steuerungsaufgaben befassen sich dagegen mit den Beziehungen und Koordinationen zwischen unterschiedlichen Instanzen. In Tabelle 6.2 sind die Beziehungen zwischen generativer und deliberativer Steuerung schematisch zusammengefasst dargestellt.
6.5. Steuerungsstrategien | 195
Generative und deliberative Steuerung kombinieren die Erhaltung und Förderung der Selbstreferenz mit der Koordination von verhandelnden Akteuren und Systemen. In lateinamerikanischen Gesellschaften, besonders im Bereich der Wirtschaft und der Politik, sind die beiden Steuerungsformen nicht voneinander trennbar. Während die erste Aufgabe einer generativen Steuerung darin besteht, die Rekursivität der systemischen Kommunikation zu unterstützen, liegt sie bei einer deliberativen Steuerung in der Erleichterung des kommunikativen Austauschprozesses. Zunehmende Komplexität bedeutet Steigerung von Differenzen sowohl im strukturellen als auch im semantischen Sinne, sodass die von verschiedenen Akteuren bzw. Systemen verwendeten Kommunikationsformen wahren Sprachspielen entsprechen, die ihre eigenen Regeln besitzen und ihnen folgen (müssen). Eine Aufgabe der deliberativen Steuerung besteht darin, eine „[...] Grammatik von Transformationsregeln [zu entwickeln], nach welcher externe Bedingungen oder Vorselektionen in die intern determinierten Operationszyklen des zu steuernden Teilsystems eingeschleust werden können“ (Willke 1993: 79).
Dies ist in Lateinamerika besonders wichtig, da die informellen Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke ständig versuchen, ihre Ansprüche in der Dynamik des Systems durchzusetzen und die Ausbildung anderer Kommunikationen zu beschränken. Mit der Grammatik von Transformationsregeln wird die nicht gewünschte Kooptierbarkeit begrenzt, indem die Sprachspiele der einzelnen Instanzen koordiniert werden. Vor allem die Logik von Verhandlungssystemen begünstigt den Aufbau dieser Grammatik, die beispielsweise in Brasilien im Bereich der Automobilindustrie erfolgreich angewendet worden ist. Die Grammatik von Transformationsregeln nimmt in diesem Fall drei Formen an: (a) Etablierung einer Verhandlungsagenda als gemeinsame Verständigungssprache der Beteiligten, (b) Entwicklung spezifischer Indikatoren zur Bewertung der von den verhandelnden Akteuren vorgeschlagenen Initiativen und (c) Aufbau eines Informationsnetzwerks als eigene Semantik des Verhandlungssystems (Diniz 1995: 77 ff.). Eine generative Steuerung nutzt die interne systemische Darstellung der externen gesellschaftlichen Differenz als Strategie zur gegenseitigen Anerkennung unterschiedlicher Akteure und Systeme; eine deliberative Steuerung begreift diese Innendarstellung als eine Strategie der Selbstkontrolle interner Leistungen, die dazu dient, Abmachungen zu treffen und dem Verhandlungssystem eine eigene Dynamik zu geben, es also selbstständig zu machen, was sein Funktionieren betrifft. Dies kann zudem beim Abbau der Zentralität der politischen Kommunikation helfen:
196 | Kapitel 6. Steuerungsprobleme in Lateinamerika „In dem Maße, wie eine interne Kontrolle und Steuerung gelingt, ist eine externe Steuerung überflüssig und die traditionelle Instanz der sozietalen Kontrolle, die Politik, kann sich von dieser Aufgabe entlasten – die sie sowieso faktisch nicht leisten könnte“ (Willke 1995a: 99).
Weil andererseits die Selbstkontrolle besonders im Falle der Politik für unwahrscheinlich gehalten werden muss, da für sie die operative Logik der externen gesellschaftlichen Differenzen unbeobachtbar bleibt, ist es notwendig, die negative Koordination durch Selbstbeschränkung mit einer positiven Koordination durch Policy-Netzwerke zu ergänzen: „Damit ist gemeint, daß über die bloße Selbstbeschränkung auf wechselseitig verträgliche Optionen des Handelns der Akteure hinaus in abgestimmten Strategien gemeinsame Mehrwerte im Sinne eines PositivSummen-Spiels ermöglicht werden“ (Willke 1995a: 114).
In der lateinamerikanischen Region sind die Übergänge zur Demokratie ein deutliches Beispiel dafür. Nuzzi und Dodson erklären dies in Bezug auf El Salvador und Nicaragua: „Nicaragua has been less successful for two reasons. First, throughout the bargaining process important sectors consistently declined to underutilise their power. Second, vital external actors did not consistently bring pressure to bear on behalf of that goal, as was done in El Salvador“ (Nuzzi/Dodson 1999: 101).
Daraus lässt sich ableiten, dass die Probleme des Übergangs zur Demokratie in Nicaragua dem Mangel an Selbstbeschränkung (Unterausnutzung von Macht) und positiver Koordination (Zielverfolgung) politischer Akteure, also dem Mangel an deliberativer Steuerung zugeschrieben werden können. Als dritte Aufgabe einer generativen Steuerung gilt die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Vorhersehbarkeit der systemischen Kontextbedingungen. Parallel dazu soll eine deliberative Steuerung ihrerseits dazu beitragen, die Vorhersehbarkeit des Verhaltens der am Verhandlungssystem beteiligten Akteure zu fördern. Dies kann vor allem dadurch erreicht werden, dass die getroffenen Kompromisse vollzogen werden und dass sie sich auf gewisse Regeln beschränken, die die Horizontalität der Verhandlung favorisieren, nämlich auf einen fairen Austausch und eine gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen (Mayntz 1997: 252 ff.). Wenn der Prozess fortbesteht, dann führt das kontinuierliche Zusammenspiel der Beteiligten zur Konsolidierung eines Policy-Netzwerks. Bei zunehmender Komplexität sind die Vorhersehbarkeit des Verhaltens und die Regeln zur Horizontalität der Verhandlung aufgrund der Instabilität der Gesellschaftsordnung und des Machtunterschiedes zwischen sozialen Akteuren von
6.5. Steuerungsstrategien | 197
großer Bedeutung. Dennoch sind in Lateinamerika Prozesse dieser Art, die den Status eines Policy-Netzwerks erreicht haben, nicht leicht zu finden. Sie werden im letzten Kapitel erforscht. Der große Aufstieg von Policy-Netzwerken in Lateinamerika muss in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts stattfinden, d. h. in einer Zeit, in der sich die gesellschaftlichen Komplexitätsbedingungen, die sich in den letzten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts herausbildeten, konsolidiert haben werden und es deutlicher als heute nur zwei Alternativen geben wird: Entweder steuert man die Komplexitätsasynchronien des lateinamerikanischen Weges der Moderne oder man gerät in eine (neue) Komplexitätskrise.
7 Koordination und dezentrale Steuerungspraxis in Lateinamerika Die hier entwickelte Steuerungskonzeption geht nicht davon aus, dass der Staat die Kontrolle über den Steuerungsprozess übernehmen soll, sondern dass er gewisse Rahmenbedingungen liefern kann, die eine gesellschaftliche Selbststeuerung ermöglichen. Dies war in der lateinamerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht der Fall. Analytisch lassen sich zwei Staatsformen in Lateinamerika identifizieren, die nebeneinander existieren und in bestimmten Episoden integriert operieren: der Kompromissstaat des Populismus (Weffort 1967), der über Planung und Klientelismus die Gesellschaft als Ganze zu steuern versucht, und der bürokratisch-autoritäre Staat der Militärregierungen (O’Donnell 1988), der dasselbe über Zwang und Kontrolle erreichen will. Beide Staatsformen haben zur Konsolidierung der konzentrischen Institutionalisierung des Gesellschaftssystems und zur Entdifferenzierung informeller Prozeduren durch informelle Operationen in der Region Lateinamerika beigetragen. Die Frage ist nun, ob und wie eine demokratische Staatsform in der Lage wäre, mit den in Kapitel 6 beschriebenen Komplexitätsasynchronien in Lateinamerika umzugehen. Andererseits sind seit einigen Jahrzehnten dezentrale Forderungen zur Autonomie von Systemen und Akteuren, die auf weltgesellschaftlicher Ebene operieren, mehr als eine Randerscheinung der lateinamerikanischen Gesellschaftsordnung. Die Kopplung des Wirtschafts-, Rechts- und politischen Systems an weltgesellschaftliche Ereignisse hat entscheidend dazu beigetragen. Allerdings steht noch nicht fest, ob sich diese Tendenzen konsolidieren können. Unverkennbar aber ist, dass systemische Entdifferenzierungsprobleme und die Entwertung formeller Prozeduren durch die informellen Operationen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken nach wie vor besondere Kennzeichen der Region Lateinamerika sind. Im letzten Teil der Untersuchung versuche ich, die Suboptimalität der Planung (7.1) und der Kontrolle (7.2) und ihrer jeweiligen Staatsformen im Umgang mit den Komplexitätsbedingungen Lateinamerikas aufzuzeigen. Anschließend werde ich die Idee eines Supervisionsstaates von Willke (1997) aufgreifen, um dezentrale Koordinations- und Steuerungsmuster in Lateinamerika zu analysieren (7.3), die in unterschiedlichen Bereichen des Gesellschaftssystems in Lateinamerika empirisch feststellbar sind (7.4).
200 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis
7.1 Kompromissstaat: Integration durch Planung Der Kompromissstaat versuchte, durch die Konsolidierung seiner Rolle als Zentrum der Gesellschaft die Probleme von Armut, Gesellschaftsexklusion und wirtschaftlicher Stagnation zu bewältigen. Der Oberbegriff Integration entspricht der Hauptfunktion dieser Staatsform, nämlich zu einem einheitlichen Bild der Gesellschaft zu gelangen, das durch den Kompromiss zwischen Sozialgruppen definiert werden kann: „The existence of a compromise solution to the conflict between the dominant groups, as well as the pressure of the masses upon the institutional structure, became increasingly evident. There then arises a peculiar situation. All contending groups, including the popular masses, directly or indirectly participate in power. Yet since none has hegemony, they all see the state as a higher entity from which they expected a solution to all problems“ (Weffort 1970: 401).
Die nationalpopulistische Phase lässt sich durch eine Orientierung am Kompromiss zwischen verschiedenen sozialen Interessen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen definieren. Wenn man die gesellschaftlichen Ereignisse dieser Phase unter dem Gesichtspunkt des Kompromissstaates betrachtet, sind Regierungen wie die von E. Frei Montalva in Chile (1964-1970), J.M. Bordaberry in Uruguay (1968-1973), Paz Estenssoro und Siles Suazo in Bolivien (1952-1964) – die sich von den klassisch populistischen Regimes von Perón in Argentinien, Vargas in Brasilien und Velasco Alvarado in Peru deutlich unterscheiden – derselben Kategorie zuzuordnen. Sie alle versuchten, einen Kompromissstaat zu errichten, der zur Integration der Gesellschaft durch Wirtschaftsplanung hätte führen sollen. Marxistisch orientierte Regierungen, vor allem der 1960er und 1970er Jahre (Allende in Chile von 1970 bis 1973, Goulart in Brasilien vom 1963 bis 1964), zeichnen sich ebenfalls durch eine Form von Kompromissbildung aus, die als eine Asymmetrisierung der Kompromisse bezeichnet werden kann, oder mit anderen Worten: als ein Versuch, zwischen Staat und bestimmten sozialen Klassen eine repräsentative Beziehung herzustellen, die die Eliten ausschließt. Sie beschränken in diesem Sinne den Kompromiss auf bestimmte Gruppen, bleiben aber – genau wie populistische Regierungen – bei der Logik der Umverteilung als Marktdirektive. Ein Kompromissstaat richtet sich auf die Entfaltung sozialer Integrationsmechanismen durch Planung. „Through a comprehensive program of nationalization and planning, a self-reliant and self-sustaining development process would be achieved, and underdevelopment and foreign exploitation would finally be overcome“ (Kay 1989: 207).
7.1. Kompromissstaat: Integration durch Planung | 201
Die Integration durch Planung beschränkt sich aber nicht nur auf die Wirtschaftsaktivität. In verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden Reformen in Gang gesetzt: Agrar-, Erziehungs- und Gesundheitsreformen sind auch Produkte eines Kompromissstaates, der Planung als Steuerungsinstrument verwendet. Darin zeigt sich nach den Worten Luhmanns eine „Überforderung des Staates durch die Politik“ (Luhmann 2005f: 95). In Kaplans Beschreibung lateinamerikanischer Staaten kommt dies deutlich zum Ausdruck: „Der Staat institutionalisiert sich selbst und er tut das gleiche mit den wichtigsten Kräften, Beziehungen und Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Er produziert Legitimation und Konsens zugunsten seiner eigenen Macht und des Systems. Er setzt die Rechtsordnung ein und paßt sie an. Er übernimmt Funktionen kollektiver Organisationen und sozioökonomischer Politik und führt sie aus. Weiterhin übernimmt er Funktionen der Unterdrückung, der Kontrolle, der Ideologie- und Erziehungsprägung sowie der internationalen Beziehungen“ (Kaplan 1995: 13 f.).
Bei einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise erwies sich das Konzept der Integration durch Planung zur Zeit des Kompromissstaates als erfolglos beim Abbau der Abhängigkeitsverhältnisse des lateinamerikanischen Wirtschaftswachstums. Soziologisch betrachtet setzte dieser Prozess dennoch verschiedene politische und wirtschaftliche Dynamiken in Gang, die zu einer Vertiefung der Ausdifferenzierungsprozesse in gesellschaftlichen Teilbereichen führten. Systemtheoretisch gesehen kam es zu einer Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität, das heißt zu einer Steigerung der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit sozialer Ereignisse. Der Staat hatte Wirtschaftswachstum und eine zunehmende interne Verflechtung des Wirtschaftssystems durch Industrialisierung gefördert, doch er war nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Konsequenzen einer solchen wirtschaftlichen Komplexität zu tragen. Daraus ergab sich eine widersprüchliche gesellschaftliche Situation: Je mehr es der Wirtschaft gelang, die Merkmale eines selbstorganisatorischen und selbstregulierenden Systems zu erfüllen, desto abhängiger wurde sie von der Politik, denn die Politik konnte unter der Form des Kompromissstaates keine entsprechende Komplexität aufbauen, um die innere Verflechtung der Wirtschaft intern zu verarbeiten. Der Staat antwortete in diesen Fällen mit einer Intensivierung der Wirtschaftskontrolle (z. B. durch Preisbindungen, Protektionismus und Erhöhung der verfügbaren Geldmenge). Vereinfacht gesprochen bedeutet dies, dass das law of requisite variety Ashbys nicht umgesetzt werden konnte und dass der Kompromissstaat die Wirtschaft als Trivialmaschine behandelte, nämlich als ein System, das auf die staatliche Intervention durch Planung immer auf gleiche Weise reagieren sollte. Der Aufbruch der Militärdiktaturen und die Transformation des Kompromissstaates in einen bürokratisch-autoritären bzw.
202 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis
Minimalstaat haben gezeigt, dass diese Erwartungen weit von der Wirklichkeit entfernt waren. Bei der Betrachtung des Industrialisierungsprozesses lässt sich feststellen, dass die wesentliche Aufgabe des Kompromissstaates darin bestand, eine gesellschaftliche Infrastruktur zu entfalten, die normativ vor allem dem Schutz der Nicht-Wohlhabenden dienen sollte. Um dies zu erreichen, wurden in verschiedenen Sozialbereichen institutionelle Reformen geplant. In den 1960er Jahren leiteten Mexiko, Kuba, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile eine Agrarreform ein (Barraclough 1970); zur selben Zeit verfügten die Industrie- und Agrararbeiter über eine starke Gewerkschaftsorganisation, die durch Reformen der Arbeitergesetzgebung gefördert worden war (Touraine 1987). Im Bereich der Dienstleistungen (Erziehung, Gesundheit, soziale Sicherheit) gelang es dem lateinamerikanischen Kompromissstaat außerdem, durch seine hohen gesetzlich festgelegten Ausgaben eine Infrastruktur zur Bekämpfung der Armut aufzubauen (Nohlen/Thibaut 1995). Das Problem war also nicht das Fehlen von Protektionsnetzwerken, wie später beim autoritären Minimalstaat, sondern die Abhängigkeit dieser Netzwerke von der partikularistischen Logik der informellen, klientelistischen Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke. Die Entwicklung einer Infrastruktur, die als effektives Protektionsnetzwerk dienen soll, kann erst dann erfolgen, wenn die Voraussetzungen zur Selbstorganisation und Selbstregulierung vorhanden sind, also wenn es eine Koordination zwischen dem Protektionsnetzwerk und den systemischen Themen und Programmen gibt. Im Kompromissstaat, der vor allem seinen Kompromiss mit den Interessen der politischen Klientel verfolgte, war dies nicht der Fall. Durch die unterschiedlichen Gesellschaftsreformen, die im Zeitalter des Kompromissstaates durchgeführt wurden, kam es zu einer Steigerung der Komplexitätsbedingungen. Dies hatte zur Folge, dass die Artikulation von Interessen nicht mehr problemlos durch die zentralen Staatsstrukturen erfolgen konnte. Auf der anderen Seite war das Rechtssystem mit den Planungsversuchen total überfordert. Mehr und mehr wurde die Erhöhung der Geldmenge als wesentliches Mittel betrachtet, um die Hauptfunktion des Kompromissstaates, nämlich die gesellschaftliche Integration, zu verwirklichen (d. h. Inflation aus wirtschaftlicher Sicht) (Cousiño/Valenzuela 1994). Es kam zur schwersten Komplexitätskrise des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika, und damit begann die Umwandlung des Kompromissstaates in einen autoritären Minimalstaat. Das zentrale Problem war nicht die Polarisierung des politischen Parteiensystems, wie häufig angenommen (Valenzuela 1989; Garretón/Moulian 1983), sondern die Tatsache, dass das politische System aufgrund der durch den Industrialisierungsprozess ausgelösten Komplexitäts-
7.2. Autoritärer Staat: Zwang und Kontrolle | 203
steigerung nicht mehr für die Erhaltung der Einheit der Gesellschaft zuständig sein konnte. Das Wirtschaftssystem bezahlte einen hohen Preis dafür: politische Intervention durch Planung, Entwertung seines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums durch Inflation und Instrumentalisierung des Rechts durch politische Ziele, was zu einer Verrechtlichung gesellschaftlicher Bereiche führte.
7.2 Autoritärer Staat: Zwang und Kontrolle Das Ende der politischen Kontrolle wurde paradoxerweise durch eine verstärkte Rolle des Staates und die Aufhebung der Verfassungsordnung herbeigeführt. Nach dem Zusammenbruch des Kompromissstaates übernahm der Zwang die Kontrolle über die politischen Angelegenheiten. Steuerung durch Planung und Integration als politisches Ziel verloren an Bedeutung. Im Rahmen des Kompromissstaates wurde die Politik zu einem selbstreferenziellen System. Als Grundlage ihres Operierens hatte sich eine machtbasierte Infrastruktur konsolidiert. Dies hatte zur Folge, dass der Staat den Ausdifferenzierungsprozess anderer Teilsysteme kontrollierte und so eine Komplexitätskrise innerhalb der verschiedenen evolutiven Zyklen der Selbstreferenz der einzelnen Teilsysteme auslöste. Durch Zwang kam es zu einer Umstrukturierung dieser Kontrolle. Ebenso wie der Kompromissstaat verstand sich der autoritäre Staat als Zentrum der Gesellschaft, aber nicht mit dem Ziel der Integration, wie beim Kompromissstaat, sondern mit dem Ziel der gesellschaftlichen Kontrolle und Ordnung. Der autoritäre Staat zeichnete sich dadurch aus, dass die Rechtsordnung aufgehoben oder besser gesagt zum Werkzeug der Herrschaft autoritärer Regierungen wurde, was zur Hypertrophie der Staatsherrschaft führte: „Dies [die Hypertrophie der Staatsherrschaft] läßt sich als direkte Überordnung der Politik über das Recht interpretieren. Sie ist ‚direkt‘ in dem Sinne, daß die Grundrechte, die Gewaltenteilung und die freie, gleiche und allgemeine Wahl als wichtigste Institutionen des demokratischen Rechtsstaates unmittelbar im Rahmen der Rechtssetzung betroffen werden“ (Neves 1997: 506).
Der Entdifferenzierung von Politik und Recht folgt die Durchsetzung des politischen Willens durch Ausnahmezustände, das heißt durch die Außerkraftsetzung der Rechtsordnung, um eine direkte politische Kontrolle über die Gesellschaft ausüben zu können. In diesem Sinne kann man von einer Herrschaftsstruktur sprechen, die durch ein Kontrollprogramm umgesetzt wird und deren operative Vorschriften durch Zwang verwirklicht werden. Paradoxerweise dient unter solchen Umständen die Subversion der Rechtsordnung als Rechtfertigung für ihre
204 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis
Außerkraftsetzung und damit als Rechtfertigung für den auf Zwang basierten autoritären Staat (Mascareño 2005). Die politischen Maßnahmen der Kontrolle und Ordnung sind bekannt und wurden in dieser Untersuchung bereits thematisiert: Ausnahmezustände, Auflösung des Parlaments und Abschaffung der demokratischen Prozeduren, Ermordung politischer Gegner, autoritäre Verfassungen, Menschenrechtsverletzungen. Zwang und Kontrolle dienten aber auch dazu, die charakteristischen Organisationen und Vermittlungsinstanzen des Kompromissstaates abzuschaffen: „The suppression of the institutional roles and channels of access to the government characteristic of political democracy is in large measure oriented toward eliminating roles and organizations (political parties among them) that have served as a channel for appeals for substantive justice that are considered incompatible with the restoration of order and with the normalization of the economy [...] Under these conditions, the best that can be hoped for is a ‚tacit consensus‘, i.e. depolitization, apathy, and a retreat into a completely privatized daily existence“ (O’Donnell 1986: 281, 283).
Systemisch betrachtet handelt es sich dabei um eine Entdifferenzierung durch Macht. Die Macht als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Politik intervenierte und kontrollierte die basalen Operationen anderer Teilsysteme zur Durchsetzung ihrer eigenen Präferenzcodes. Dieser Vorgang wurde unter dem Begriff der Ideologisierung diskutiert (Touraine 1987; Larraín 1994). In der vorliegenden Untersuchung wird sie als eine Inflation des politischen Mediums betrachtet, die in Verbindung mit den Mechanismen der Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke die formellen Prozeduren funktional differenzierter Institutionen durch informelle Operationen intervenieren. In Bezug auf die Akteure bedeutet dies, dass man informellen Netzwerken angehören muss, um formelle Inklusion zu erzielen. Unter diesen Umständen operieren die Teilbereiche episodisch allopoietisch in Bezug auf die Politik, ohne höhere Zyklen der Selbstreferenz erreichen zu können, das heißt, ohne eine vollständige Selbstregulation durch den Markt, durch ästhetische Betrachtung in der Kunst, durch pädagogische Reflexion in der Erziehung und durch Meinungsfreiheit in den Medien zu entwickeln. Dass aber die ausdifferenzierenden Teilsysteme nicht passiv auf diese Kontrolle reagiert haben, wurde in Kapitel 6 anhand der steigenden Komplexitätsasynchronien des lateinamerikanischen Gesellschaftssystems aufgezeigt. Dennoch war in Zeiten des bürokratisch-autoritären Staates die symbolische Macht der Macht gesamtgesellschaftlich so relevant, dass ein Entdifferenzierungsprozess unvermeidbar war. Politik war deshalb nicht nur Politik, sondern
7.2. Autoritärer Staat: Zwang und Kontrolle | 205
auch Gesellschaft im Sinne einer forcierten Repräsentation der sozialen Einheit. Die intensivierte Kontrolle der Politik über die Wirtschaft und andere Teilsysteme mündete in eine Komplexitätskrise, die dadurch gekennzeichnet war, dass die Forderungen nach Autonomie der Teilsysteme mit der heteronomen politischen Regulation nicht vereinbar waren. Dies führte zum endgültigen Zusammenbruch des Kompromissstaates und ebnete den Weg für die neue Staatsform. Die Entwicklung der neuen gesellschaftlichen Ordnung basierte auf einer Kopplung von Markt und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Chile ist das beste Beispiel dafür. Monetarisierte Arbeitsbeziehungen, Privatisierung des Gesundheits-, Renten- und Erziehungssystems, Reform der Verwaltung und Regionalisierung, die in Chile eingeführt wurden, sind ergänzende Strukturen der Marktwirtschaft. Uruguay folgte diesem Weg, wie Bossung (1991) anhand einer Zusammenfassung der Reformetappen zeigt: 1974-1978 Preisfreigabe, 1978-1982 Liberalisierung des Finanzsektors, 1982-1984 Destabilisierung und Wirtschaftskrise und ab 1984 Wiederbelebung des Wirtschaftssystems. In Argentinien wurde versucht, die Kopplung zwischen Staat und Markt vor allem durch die Liberalisierung des Außenhandels ab 1976 herbeizuführen (Salvatore 1994). In Peru nahm Morales Bermúdez gegen Ende der 1970er Jahre ebenfalls verschiedene Reformmaßnahmen in Angriff: Einsparungen im öffentlichen Haushalt, Verbesserung der Bedingungen für in- und ausländische Investitionen sowie „Preisfreigabe und Entlassungswellen im öffentlichen Sektor“ (Fuhr/Hörmann 1995: 450). Und in Bolivien wurde einerseits an Staatsunternehmen festgehalten und andererseits eine Liberalisierung der wirtschaftlichen Operationen gefördert (Nohlen/Mayorga 1995). In diesem Kontext spielten Zwang und Kontrolle eine wichtige Rolle: Sie dienten dazu, den Markt vor externen Interventionen zu schützen, das heißt, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft frei von politischen, moralischen oder ethischen Störungen funktionieren konnte. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Arbeitsbeziehungen in Chile: „Not unlike the East Asian states [...] the Chilean state also involved itself in labor control and repression, which helped to keep wages down and profits high“ (Schurman 1996: 88).
Dies wurde vor allem durch die Unterdrückung von Gewerkschaften und die Fragmentierung der kollektiven Interessen erreicht: „In the arena of labour law, the state ceased to be the arbiter of class conflict. Whereas earlier law and practice had involved appeals to political leaders and complex labour courts, the 1979 labour reform reduced the
206 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis level of bargaining to the individual enterprise and removed the state from any explicit role in the process of negotiations“ (Kurtz 1999: 416 f.).
Die Konsequenzen des vom autoritären Staat ausgeübten Zwangs wurden in Demokratisierungsprozessen durch eine an Marktbeziehungen orientierte Gesetzgebung verstärkt. Das Ergebnis aber war: Die Wirtschaftssphäre, die seit der Entstehung der Casa de la Contratación im 16. Jahrhundert als Teil des Politischen betrachtet worden war, befreite sich von externen Interventionen und begann, die Bedingungen für ihre Autopoiesis zu entwickeln.
7.3 Supervision des Staates und Recht Der Kompromissstaat scheiterte an der Unterkomplexität der Planung im Rahmen des Wachstumsprozesses und der autoritäre Staat scheiterte an der Unterkomplexität des Zwangs hinsichtlich der Verteilungsfrage. Die Steuerung der Komplexitätsasynchronien der gegenwärtigen lateinamerikanischen Gesellschaft unter demokratischen politischen Bedingungen erfordert eine neue Staatsform, die hier in Anlehnung an Willke als Supervisionsstaat bezeichnet wird: „Supervision läuft in diesem Verständnis hinaus auf eine Kontrastierung unterschiedlicher Konstruktionen von Realität, unterschiedlicher Visionen der Identität des Systems und unterschiedlicher Perspektiven für ein Verstehen der Dynamik des Systems. Dies geschieht mit dem Ziel, die Ressourcen des supervidierten Systems zu aktivieren, blinde Flecken zu bezeichnen und die unvermeidlichen Verengungen kommunikativer Prozesse wieder aufzubrechen“ (Willke 1997: 64).
Beim Supervisionsstaat geht es um die Förderung der systemischen Selbstreferenz, die zu Selbstveränderungen im System führen kann, und um die Wahrung der Identität der Teilsysteme und Akteure vor dem Entdifferenzierungsdruck zentralisierender Kommunikationen. Um dies zu verwirklichen, muss der Supervisionsstaat jedoch über eine hohe Beobachtungsfähigkeit verfügen, die sich weder unter der Planung im Kompromissstaat noch unter dem Zwang im autoritären Staat entwickeln konnte. Es handelt sich dabei um einen „Reflexionsprozess, in welchem die notwendigen Paradoxien und blinden Flecken des Grundprozesses, etwa der Beratung, kenntlich gemacht und probeweise als kontingent behandelt werden“ (Willke 1997: 42). Auf empirischer Ebene wird dies durch dezentrale generative und deliberative Steuerungsmechanismen erreicht. Dezentrale Steuerung setzt jedoch eine Macht voraus, die über ein autonomes und reflexives Rechtssystem reguliert wird und die die politischen Entscheidungen in die Tat umsetzt, ohne autoritativ zu wirken. Tabelle 7.1 fasst
7.3. Supervision des Staates und Recht | 207 Staatsform
Recht
Hauptressourcen
Kompromissstaat
Zweckprogramm
Einfluss
Minimalstaat
Konditionalprogramm
Zwang/KostenNutzen-Kalküle
Relationierungsprogramm
Koordination
Supervisionsstaat
Rechtssteuerung Zentralisiertes engagiertes Recht Zentralisiertes instrumentales Recht Dezentrales reflexives Recht
Tabelle 7.1: Staats- und Rechtsform
die Beziehungen zwischen Staat und Rechtssystem für die drei Hauptstaatsformen zusammen. Das Zweckprogramm des Kompromissstaates „[...] als elaborierte Rechtsform entspricht erfolgsgesteuertem, instrumentellem Handeln. Ein legislativ vorgegebenes Ziel (oder Zielbündel) wird mit Hilfe variabel einsetzbarer Mittel verfolgt, wobei die Erfolgskontrolle rudimentäre Lernfähigkeiten in Form einfacher Rückkopplungsschleifen voraussetzt“ (Willke 1996b: 179).
Da die Hauptfunktion des Kompromissstaates in der Integration der Gesellschaft liegt, ist die Form des Rechts zweckorientiert. Dies wird deutlich am Beispiel des venezolanischen Landreformgesetzes von 1960: „The purpose of this Act is to transform the agrarian structure of the country and to incorporate its rural population into the economic, social and political development of the Nation“ (Artikel 1 des venezolanischen Landreformgesetzes in Karst/Rosenn 1975: 271).
Ein weiteres Beispiel ist die sogenannte Restitutionstheorie in Mexiko: „A land reform based entirely on a theory of restitution [...] (a) identifies the land to be taken in the reform, (b) avoids any payments to the ‚owner‘ who is dispossessed in favor of those who are held to be the true owners, and (c) identifies the beneficiaries of the reform“ (Karst/Rosenn 1975: 287).
Das Integrationsziel wird hier radikal verfolgt. In diesen Fällen wird das Recht als Zweckprogramm verstanden und nach Anwendungsphasen strukturiert, nämlich: Enteignung, Konfiszierung, Entschädigung (falls dem Programm keine Restitutionstheorie zugrunde liegt) und Umverteilung. Der Versuch, weitere Reformen in Gang zu setzen, dient ebenfalls dem Integrationsziel des Kompromissstaates und wird deshalb durch das Zweckprogramm organisiert: Erziehungs- und Gesundheitsreformen sowie eine umfassende staatliche Subventionspolitik im Bereich der Wirtschaft werden eingeführt und münden in
208 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis
eine erhebliche Anzahl von Gesetzen. In diesem Sinne erweist sich die Zweckorientierung des Rechtsprogramms im Kompromissstaat als eine umfassende Bemühung, die Gesellschaftsordnung zu gestalten. Empirisch betrachtet wird dies vor allem über das Medium Einfluss in den korporativen Strukturen des Kompromissstaates, die mit Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken integriert sind, umgesetzt. Da es sich um korporative Strukturen handelt, versucht jede Instanz, auf die Umsetzung des Zweckprogramms Einfluss zu nehmen, während der Staat durch seine Repräsentanten Einfluss auf die korporativistischen Strukturen ausübt (O’Donnell 1977). Die Konzipierung und Implementierung des Zweckprogramms werden daher im Staat zentralisiert und in Form von Planung in sozialpolitische Maßnahmen umgesetzt. Daraus resultiert eine Verknüpfung des Rechts mit dem Integrationsziel des Kompromissstaates und mit den partikularistischen Interessen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke. Im autoritären Staat wird die Rechtssetzung von einem Konditionalprogramm dominiert. Konditionalprogramm wird von Luhmann folgendermaßen definiert: „Das Recht ist seiner Struktur nach nicht mehr einfache Verhaltenserwartungen und nicht mehr Vorformulierungen eines guten Zieles, durch dessen Aktualisierung das Handeln sein Wesen verwirklicht, sondern es wird als konditionales Entscheidungsprogramm gesetzt, das die Bedingungen angibt, unter denen bestimmte Entscheidungen zu treffen sind. Es bringt damit ‚Tatbestand‘ und ‚Rechtsfolge‘ in einen Wenn-DannZusammenhang, dessen Vollzug Prüfung und Selektion, also Entscheidung, voraussetzt. Ein solches Programm hat je nach Adressat ein verschiedenes Gesicht. Für den Handelnden lautet es: Wenn die Bedingungen X gegeben sind, darfst du (bzw. darfst du nicht bzw. darfst du nicht nicht) x handeln. Für den Richter lautet es: Wenn der Tatbestand X und x nachgewiesen wird, entscheide y; wenn der Tatbestand X und nicht-x nachgewiesen wird, entscheide z“ (Luhmann 1999b: 140).
Das Recht in Form eines Konditionalprogramms erweist sich in diesem Sinne nicht mehr als zielorientiertes Programm (Zweckprogramm), sondern vielmehr als Konditionierungsstruktur der intersystemischen Beziehungen und zugleich „als Prototyp des rationalen, berechenbaren und voraussehbaren formalen Rechts“ (Willke 1996b: 177). Ob ein autoritärer Staat auf diese Weise eine Rechtsordnung konsolidieren kann, ist allerdings fraglich angesichts der hohen Korruption, die die lateinamerikanischen Demokratien auszeichnet, der Instrumentalisierung der Justiz durch politischen Einfluss, der diffusen Verfassungskontrolle, die Richterentscheidungen unberechenbar macht, und der mangelnden Ausstattung von Gerichten, die die Erfüllung der Rechtsfunk-
7.3. Supervision des Staates und Recht | 209
tion erschwert (Pritzl 1997: 136 ff.; Neves 1992, 1996, 1997; Mascareño 2005). Dennoch wurde vor allem im Bereich der Wirtschaft ein minimales Konditionalprogramm umgesetzt. Dieses ermöglichte in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko den Aufbau eines autonomen Wirtschaftsraums und schuf die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Förderung von Investitionen und Wachstum. Da sich die Konditionierung des Rechts der ebenfalls konditionalen Struktur der Kosten-Nutzen-Kalküle eines frei funktionierenden Marktes anpasst, sind die lateinamerikanischen Wirtschaftsreformen der beste Indikator für dieses Konditionalprogramm, das zu einer Deregulierung der vom Zweckprogramm kolonisierten Gesellschaftsbereiche geführt und durch eine voraussehbare Regelstruktur die Teilnahme am Markt ermöglicht hat. An verschiedenen Stellen dieser Untersuchung wurde deutlich, dass die Steuerung zunehmend komplexer Systeme dezentral erfolgen muss, um nicht die erworbene Autonomie der Teilbereiche zu gefährden und somit Entdifferenzierungsprobleme und letztendlich riskante Komplexitätsasynchronien auszulösen. Das Konditionalprogramm bietet zwar die Möglichkeit zur Regulierung gesellschaftlicher Ereignisse, vor allem aufgrund seiner „Variabilität, Entlastung von Anforderungen an individuelle Aufmerksamkeit und Entlastung der strategischen Punkte des Kommunikationsnetzes“ (Luhmann 1999b: 143). Um erfolgreich und berechenbar operieren zu können, erfordert es jedoch eine hoch formalisierte Umgebung, die durch die informellen bzw. klientelistischen Strukturen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke blockiert wird. Bestechung ist hierfür der beste Indikator – ein Vorgang, „bei dem der Bestechende Geld oder eine andere Leistung an den Bestochenen gibt und von diesem illegalerweise eine Gegenleistung erhält“ (Pritzl 1997: 57). In diesem Fall ist die Gegenleistung eine rechtliche Entscheidung, die der Bestechende andernfalls „nicht sicher, nicht zu diesem Zeitpunkt, nicht in dieser Form oder aber gar nicht erhalten hätte“ (Pritzl 1997: 94). Vor allem unter den autoritären Bedingungen in Ländern wie Kolumbien und Peru ist diese Vergegenständlichung der Rechtsentscheidungen durch Geld zu beobachten, doch auch Länder wie Chile und Argentinien sind von dieser Problematik betroffen. Das Konditionalprogramm entspricht, wie gesagt, einer rationalen, formalen Rechtsordnung. Es kann jedoch zur Irrationalität führen, wenn aufgrund der steigenden Komplexität jeder neue Teilbereich als Rechtsgegenstand integriert werden soll. Dies lässt sich als Materialisierung des Rechts bezeichnen: „[...] ‚materialization‘ of law increases with, and is indeed caused by, the increase in formalization. The more the legal system specializes in its function of creating expectations by conflict regulation, the more it develops and refines norms and procedures which can be used for future oriented behavior control. This can only be formulated in the following paradoxical
210 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis terms: law, by being posited as autonomous in its function – formality – becomes increasingly dependent on the demands for performance from its social environment – materiality“ (Teubner 1987: 20).
In Lateinamerika ist dies immer eine latente Gefahr, denn trotz der Kluft zwischen Rechtsnormen und sozialer Wirklichkeit entspricht es der zentralistischen politischen Tradition, das Problem der gesellschaftlichen Komplexität über das Recht zu lösen. Da sie aufgrund der Kluft meist wenig erfolgreich dabei war, übte sie direkte politische Macht aus, was zu den in dieser Untersuchung beschriebenen Entdifferenzierungsproblemen führte. Problematisch ist der Einsatz eines Konditionalprogramms auch deshalb, weil die Integration lokaler Ereignisse mit weltgesellschaftlichen Prozessen das Auftreten neuer kollektiver Akteure bedingt und das Konditionalprogramm ebenso wie das Zweckprogramm „[...] auf die Individualisierbarkeit des zu regelnden Problems angewiesen [sind]. Sie müssen deshalb spezifizierte Regeln zur Verfügung stellen und schließlich auf spezifisch definierte individuelle Verhaltensweise abzielen“ (Willke 1996b: 181).
Diese Individualorientierung des Konditionalprogramms definiert in besonderem Maße den Charakter eines Minimalstaates: „Der Minimalstaat [...] bietet keine Handhabe für die Kontrolle der großen Organisationen, die moderne Gesellschaften prägen: mächtige Wirtschaftsunternehmen, einflußreiche Pressekonzerne, meinungsbestimmende Fernsehanstalten, monopolistische Energieproduzenten etc.“ (Willke 1996b: 108).
Er ist minimal und unterkomplex in dem Sinne, dass er aufgrund der Individualisierbarkeit des Konditionalprogramms die kollektiven Rechte und Pflichten einer zunehmend komplexen Gesellschaft nicht beobachten kann und sie daher nicht in das Entscheidungsverfahren einbezieht. Diese Beobachtungsfähigkeit kann nur durch die Umsetzung eines Relationierungsprogramms erlangt werden, „[...] welches die unterschiedlichen Logiken und Teilrationalitäten der beteiligten Systeme nicht auf die Perspektive eines einzelnen Systems reduziert (etwa auf autoritativ gesetzte politische Steuerungsziele), sondern das die ausdifferenzierten Eigenlogiken und operativen Autonomien der zu koordinierenden Akteure erhält und diese in ihren Bedingungen und Konsequenzen aufeinander bezieht und abstimmt, eben relationiert“ (Willke 1996b: 179).
Unter diesen Bedingungen agiert das Recht nicht mehr konditional in Bezug auf die betroffenen Akteure, sondern es strebt eine pragmatische (d. h. nicht
7.3. Supervision des Staates und Recht | 211
konsensbedingte) Koordination zueinander orthogonal stehender gesellschaftlicher Prozesse an. Dies führt zu einer doppelten Steuerungsstrategie, die auf einer dezentralen Kontextsteuerung des Gesamtsystems auf der einen Seite und auf einer Selbststeuerung der einzelnen Teilsysteme auf der anderen basiert. Auf diese Weise werden die betroffenen Akteure letztendlich am Prozess der Kontextsteuerung beteiligt und „[...] modulate their autonomous processes of self-guidance in accordance with the premises of the chosen contextual patterns“ (Willke 1992: 358). Es handelt sich in diesem Sinne um eine Ordnung durch Selbstbindung, in der das Recht der Koordination der selbstbeschränkenden bzw. selbstbindenden Differenzen dient. Die auf dem Relationierungsprogramm basierende Rechtspraxis ist die des reflexiven Rechts, das durch Koordination die Spannungen zwischen Rechtsfunktion (Bereitstellung von normativen Strukturen in Form von kongruenten Erwartungen) und Rechtsleistungen (Regulierung von Konflikten) auflöst. Mit der Auflösung dieser Spannungen verringert sich die Gefahr einer Materialisierung des Rechts, indem die Betonung auf prozedurale Legitimation gelegt wird, die unterschiedliche Teilrationalitäten miteinander verbinden kann (Teubner/Willke 1984: 28 ff.). „Das Rechtssystem kann Normierungen für Verfassungen, Verfahren, Organisation und Kompetenzen entwickeln, die andere Sozialsysteme als Voraussetzung demokratischer Selbst-Organisation und Selbst-Regulierung benötigen. Anstatt, wie es unter materieller Rechtsrationalität tendenziell geschieht, die Funktionen anderer Sozialsysteme autoritativ zu definieren, beziehungsweise deren Input- und Output-Leistungen rechtlich zu regulieren, müßte das Recht nun seine Aufmerksamkeit auf solche Mechanismen richten, die systematisch ihrerseits Reflexionsstrukturen innerhalb anderer Subsysteme fördern“ (Teubner/Willke 1984: 29).
Um aber die Prozeduralisierung, d. h. „Bahnung, Erleichterung, Förderung, verfahrensmäßige Fixierung“ (Willke 1996b: 206), des Abstimmungsprozesses zu erreichen und damit die Koordinationsfunktion des Relationierungsprogramms zu erfüllen, muss der Staat von jeder gesellschaftlichen Einheit eine Vorstellung entwerfen, die es ermöglicht, das Relationierungsprogramm innerhalb unterschiedlicher Teilsysteme und Akteure umzusetzen. Der Staat ist in diesem Sinne nicht mehr die Quelle der gesellschaftlich allgemein akzeptierten Selbstbeschreibungen, sondern eine Struktur, die die dezentrale Entwicklung dieser Selbstbeschreibungen absichern sollte. In diesem Sinne entfernt er sich von den hierarchischen Vorstellungen von Beziehungen zwischen Politik und anderen Teilbereichen, die die früheren Staatsformen charakterisierten (Ordnung durch Planung und Zwang), verlangt aber zugleich eine konstante Beziehung zu den Selbstbeschreibungen, die diese dezentralen Einheiten erzeugen, denn
212 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis
nur auf diese Weise ist er in der Lage, über das Rechtssystem Formen der Relationierung zu ermöglichen, die den Betroffenen selbst und nicht primär den Bedürfnissen des Staates zugute kommen. Die Selbstbeschreibungen anderer als umweltrelevante Ereignisse verarbeiten zu können, erfordert eine „Verstärkung der Beobachtungskapazität zu dem Zweck, durch zusätzliche Perspektiven und Sichtweisen blinde Flecken der Operationsform eines Funktionssystems kenntlich zu machen” (Willke 1997: 11 f.). Korruption, die Kluft zwischen Verfassungsordnung und Verfassungswirklichkeit, Autoritarismus bzw. Populismus, Repräsentationsprobleme der Demokratie, gesellschaftliche Exklusion, Intervention formeller Prozeduren durch informelle Operationen und Kopplung der nationalen Rechtssysteme an die Forderungen supranationaler Instanzen sind Komplexitätsasynchronien, die durch dezentral strukturierte, deliberative oder generative Steuerung im Rahmen eines supervidierenden, doch nicht intervenierenden Staates koordiniert werden können.
7.4 Koordination und dezentrale Steuerungspraxis Im Folgenden werden einige Beispiele präsentiert, wie eine dezentrale, generative und deliberative Steuerungspraxis implementiert werden kann. Die Liste reicht von traditionellen Interventionsbereichen wie Gewerkschaften, Demokratisierungsprozessen und Menschenrechtsverletzungen bis hin zu neuen globalen Interaktionsfeldern wie Marktnetzwerken, Finanzmärkten und Schiedsgerichtsbarkeitskonflikten im Bereich eines supranationalen Rechtssystems.
7.4.1 Tarifverhandlungen und Gewerkschaften Einer der traditionellen Interventionsbereiche des lateinamerikanischen Staates ist die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Gekennzeichnet ist diese Intervention in den meisten Fällen durch die Abhängigkeit der Gewerkschaften von staatlicher Unterstützung bei der Organisation, dem Verhandlungsprozess und der Konfliktlösung (O’Connell 1999; Rodríguez 1982). Formen staatlicher Intervention in Lateinamerika zeigen sich bei der Regelung der Tarifverhandlungen, der Normierung des Verhandlungsprozesses und der Bestimmung der Inhalte der Verhandlungen (Ermida 1993). Die Folge dieser Staatsintervention für Gewerkschaften ist eine Begrenzung der Entwicklung ihrer Selbstreferenz und die Heteronomisierung ihrer Forderungen. Diese Interventionskonzeption basiert auf der Vorstellung, dass Arbeiter nicht in der Lage sind, ihre Themen und Programme selbst zu bestimmen, sodass sie bei dieser Aufgabe Hilfe brauchen. Um diese Konstellationen zu
7.4. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis | 213
beschreiben, sprechen Köhler und Wannöffel (1993) von traditionellen korporativistischen Gewerkschaften, die über die Staats- oder Parteiabhängigkeit hinaus klientelistische Praktiken fördern. Diesem Modell entspricht vor allem die Gewerkschaftsstruktur in Ländern wie Argentinien, Brasilien und Mexiko. In Peru hingegen erfolgt die Staatsintervention über staatlich kontrollierte Gewerkschaftsregister, auch wenn die Tarifverhandlungen dezentral (also auf der Ebene von Firmen) stattfinden (O’Connell 1999). Uruguay verfügt über ein System, das ohne staatliche Kontrolle funktioniert, das aber zentralistisch nach Wirtschaftsbranchen operiert. In Chile wiederum sind die Tarifverhandlungen durch eine begrenzte Staatsintervention und hohe Dezentralität gekennzeichnet. Die Frage ist nun: Welche Rolle spielt eine dezentrale Steuerung unter den beschriebenen Umständen? Cook (1998) unterscheidet drei Arbeitsgesetzmodelle, die in Lateinamerika zur Anwendung kommen, nämlich flexibles, liberales und protektionistisches Arbeitsgesetz: „Flexible laws are those which deregulate the labor market, lower employer costs, and generally grant employers greater maneuverability in contracting and deploying their labor force in response to market pressures. Liberal reforms are those which strengthen the autonomy of unions and employer organizations from state and which encourage pluralism, as opposed to the monopoly of representation and dependence on the state often found in corporatist systems. Protective changes reinforce or establish protection for workers by stipulating these in legislation rather than leaving them subject to negotiation between workers and employers“ (Cook 1998: 317).
Im Hinblick auf die Entwicklung eines Relationierungsprogramms scheint ein liberales Arbeitsgesetz ein geeignetes Instrument zu sein, um eine Ordnung durch Selbstbindung zu erreichen, das heißt, um die unterschiedlichen Teilrationalitäten der Beteiligten, ihre Eigeninteressen und Erwartungen zu fördern und sie zugleich dezentral zu koordinieren. Cook bezeichnet dies als einen liberal change; hier wollen wir von einer dezentralen Steuerung sprechen. Als konkrete Maßnahmen sind nach Cook folgende zu nennen: „Removed state role from union authorization and determining legality of strikes [Brasilien]; extended right to organize to public sector [Brasilien, Chile, Paraguay, Peru, Guatemala]; extended right to strike to selected public enterprises [Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay]“ (Cook 1998: 318).
Die Begünstigung der Selbstreferenz ist in allen drei Fällen leicht zu erkennen; es handelt sich um dezentrale, generative Steuerungsmechanismen, die die Selbstorganisation und Autonomie der Akteure fördern.
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Ein liberales Arbeitsgesetz ist aber kein flexibles Arbeitsrecht. Man kann sogar sagen, dass das flexible Gesetz die Autonomie der Arbeitgeber erhöht, während das protektionistische Gesetz die Arbeitnehmer vor unerwarteten Konsequenzen wirtschaftlicher Operationen schützen will. Unter den gegenwärtigen Bedingungen Lateinamerikas sollten die auf die Protektion der Arbeitnehmer gerichteten Maßnahmen nicht abgeschafft werden, sonst geht man das Risiko ein, die Relationen wieder zu hierarchisieren. Aus der Perspektive dezentraler Steuerung betrachtet, muss die Protektion nicht im negativen Sinne verstanden werden, also nicht als Maßnahme gegen die operative Autonomie anderer, sondern als generative Steuerungsstrategie zur Entwicklung der Selbstreferenz von Arbeitnehmerorganisationen – wie z. B. durch professionelle und technische Ausbildung, Gesundheitsvorsorge, Modernisierung von Produktionsprozessen, Freizeitaktivitäten. Die Steigerung der Selbstreferenz der Arbeitnehmerorganisationen ist Voraussetzung für eine gelungene deliberative Steuerung, denn Themen und Programme können von kollektiven Akteuren nur dann festgesetzt werden, wenn die Selbstreferenz zur Entwicklung einer eigenen Identität geführt hat. Mit anderen Instanzen zu deliberieren heißt zunächst, Irritationen in der Umwelt auslösen zu können, mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu erhalten bzw. beobachtet zu werden. Ohne Identität, ohne Definition des Selbsts ist dies nicht möglich. Deshalb ist Konzertierung als Praxis einer deliberativen Steuerung bei lateinamerikanischen Arbeitsbeziehungen schwer zu finden, und deshalb kommt es auch häufiger zu Staatsinterventionen als in anderen Regionen der Weltgesellschaft. Beispiele einer gelungenen Konzertierung, die den Weg für eine dezentrale Selbstgestaltung der Arbeitsbeziehungen ebnen kann, gibt es aber, so Birle und Mols, in Chile: „Die [...] Voraussetzungen bzw. Erfolgskriterien für Konzertierungspolitiken sind in Chile weitgehend vorhanden: Die Akteure erkennen sich gegenseitig als legitime Verhandlungspartner an, es existiert ein grundsätzlicher entwicklungsstrategischer Konsens, alle Konzertierungspartner bewerten die bisherigen Übereinkommen überwiegend positiv und waren bislang auch dazu in der Lage, eingegangene Verpflichtungen gegenüber den von ihnen repräsentierten Mitgliedern durchzusetzen“ (Birle/Mols 1994: 36).
Konzertierte Partnerschaften müssen aber auch zur Selbstbeschränkung bereit sein, um Koordination zu erreichen. Sind sie es nicht, dann werden sie zu autarken Instanzen, die die für sie umweltrelevanten Ereignisse nicht anerkennen und als kognitiv geschlossene Systeme operieren.
7.4. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis | 215
7.4.2 Selbstbeschränkung und die Schaffung deliberativer demokratischer Räume Der Abbau hierarchischer Strukturen hängt davon ab, ob deliberative Räume durch Verhandlungssysteme geschaffen werden können. In den 1980er und 1990er Jahren haben sich vor allem politische Akteure darum bemüht, diese Räume im Rahmen der Übergänge von autoritären Militärregimes zu demokratisch gewählten Regierungen zu schaffen. Die Beispiele von El Salvador und Chile sind in diesem Sinne beachtenswert. In beiden Fällen ging es um die Selbstbeschränkung der Autonomie und Erwartungen politischer Akteure. Nuzzi und Dodson machen dies deutlich beim Vergleich der Übergangsprozesse von El Salvador und Nicaragua: „Nicaragua has been less successful for two reasons. First, throughout the bargaining process important actors consistently declined to underutilise their power. Second, vital external actors did not consistently bring pressure to bear on behalf of that goal, as was done in El Salvador“ (Nuzzi/Dodson 1999: 101).
Mit „external actors“ verweisen die Autoren auf die Rolle der Vereinten Nationen beim Demokratisierungsprozess: „In Nicaragua no single actor played the continuous, proactive role that the UN played in El Salvador“ (Nuzzi/Dodson 1999: 126). Dies deutet darauf hin, dass die Selbstbeschränkung, auch wenn sie in erster Linie ein Attribut des Systems ist, von außen gefördert werden kann. In Chile spielten ab 1983 die Massenproteste eine analoge Rolle: Sie begünstigten gewisse Änderungen sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich, die Räume für die Deliberation von politischen Akteuren öffneten (Cavallo et al. 1997; Hecht-Oppenheim 1993). Zentral für die Selbstbeschränkung in Demokratisierungsprozessen ist im systemischen Sinne nicht der Konsens über demokratische Werte, wie selbst Nuzzi und Dodson sowie andere Autoren behaupten (Remmer 1993; Cavarozzi 1992; Nohlen/Thibaut 1994). Dies würde nämlich bedeuten, dass ein demokratischer Übergang nur dann möglich ist, wenn nicht demokratische Regierungen plötzlich ihre autoritären Grundüberzeugungen ändern, als ob eine invisible hand Aufklärungsarbeit geleistet hätte, um das Militär vom Wert der Demokratie zu überzeugen. Selbstbeschränkung ist vielmehr als eine innersystemische Konsequenz der Beobachtung und Verarbeitung umweltrelevanter Ereignisse zu interpretieren, die deutlich macht, dass es für die Erhaltung der Autopoiesis viel besser ist, sich selbst zu beschränken als ein autarkes System weiterzuführen. Dies hatte z. B. das Militär in Chile erkannt, sodass es die Schritte zur Demokratierückkehr in der Verfassung festlegte und in Verhandlung mit der Opposition trat, und das wussten auch die demokratischen Akteure, als sie
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die Bedingungen der militärischen Verfassung akzeptierten und am Prozess teilnahmen. Wäre das nicht der Fall gewesen, d. h. hätte es diese Selbstbeschränkung nicht gegeben, dann wäre jede Redemokratisierung durch eine Kriegsniederlage (Argentinien 1982), eine externe Intervention (Panama 1985), eine Revolution (Nicaragua 1979) oder einen neuen Putsch (Venezuela 1992, 2002) eingeleitet worden. Selbstbeschränkung öffnet deliberative Räume, in denen sich Verhandlungssysteme etablieren können. Wesentlicher Grund für die Öffnung dieser Räume war in El Salvador die schwindende Kraft der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN); in Chile waren es Massenproteste, die das Militär zu einer politischen Öffnung veranlassten. Ersteres führte zum sogenannten Chapultepec-Abkommen, das in El Salvador über eine Entmilitarisierung der Gesellschaft und Verfassungsreformen den Weg zur Demokratie ebnete; die politische Öffnung in Chile führte zur Bildung einer politischen Allianz, die das Land von 1990 bis 2010 regierte. Ob die FMLN oder das Militär in Chile damals überzeugte demokratische Akteure waren, ist unwichtig. Wichtig ist nur, dass sich durch Selbstbeschränkung Verhandlungssysteme etablieren ließen, die deliberative Steuerungsmechanismen nutzten, um politische Probleme zu bewältigen. Dass Deliberation innerhalb der Grenzen des Politischen stattfindet, mag nicht überraschen. Immerhin wird Demokratie in der Regel durch Deliberation charakterisiert (Giddens 1997; Habermas 1992). Deliberation kann aber auch in den Beziehungen zwischen politischem System und anderen Bereichen stattfinden. Dies bedeutet, dass deliberative Steuerung auch eine gewisse Ko-ordination ermöglicht. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Câmaras Setoriais (Sektorkammern), die in den 1990er Jahren in Brasilien gebildet wurden. Diniz definiert sie wie folgt: „Die Sektorkammern sind ein dreiseitiges Verhandlungsforum, das die Regierung, die Unternehmerschaft und die Arbeiterorganisationen mit dem Ziel umfasst, eine neue auf Wettbewerbsfähigkeit basierte Industriepolitik einzuleiten. Es gibt dabei keine Vorschriften bezüglich des Inhalts oder der Chronologie der Verhandlungen, die sich bis zum Treffen des Abkommens als flexibel erweisen“ (Diniz 1995: 76; Übersetzung A.M.).
Die Sektorkammern können in diesem Sinne als ein Verhandlungssystem verstanden werden, welches durch Deliberation akzeptable Vereinbarungen für die drei Verhandlungspartner trifft. Selbstbeschränkung ergibt sich hier daraus, dass kurzfristige Forderungen von der Unternehmerschaft oder von Arbeitsorganisationen den mittel- und langfristigen Zielen einer wettbewerbsfähigen Industriepolitik untergeordnet werden. Das heißt aber nicht, dass es
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durch Selbstbeschränkung zu einer Unterdrückung der Autopoiesis der Akteure kommt. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine Strategie, die die Koevolution der Autopoiesis mit der für das System relevanten Umwelt koordiniert. Werden Vereinbarungen durch deliberative Steuerung getroffen, stabilisieren sich die Erwartungen der Beteiligten. Auf diese Weise bilden sich strukturelle Kopplungen, die die Interdependenz der unterschiedlichen autopoietischen Zyklen verstärken. Dies impliziert zugleich eine höhere Sensibilität gegenüber den für das System umweltrelevanten Ereignissen. Diniz (1995) fügt allerdings hinzu, dass die Aufteilung der Sektorkammern nach Wirtschaftsbranchen zu Inkompatibilitäten im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik und zur Destabilisierung anderer Wirtschaftsbereiche führen kann: „Aus Mangel an Koordination und Supervision können die Sektorkammern wieder in die alte Gewohnheit, sektorale Abkommen zu treffen, die mit der globalen Wirtschaftspolitik inkompatibel sind, zurückfallen. Daraus ergibt sich keine spontane und automatische Anpassung an globale Strategien“ (Diniz 1995: 86; Übersetzung A.M.).
In autopoietischen Systemen findet Selbstbeschränkung nur dann statt, wenn aus der Umwelt Informationen gewonnen werden, die für das System relevant sind, insbesondere im Hinblick auf sinnvolle Änderungen von internen Operationen, um eine bessere Anpassung an die Umwelt zu erzielen. Unternehmer verzichten auf größere Gewinne und Arbeiterorganisationen beschränken ihre Forderungen, weil sie sich davon bessere Zukunftsmöglichkeiten versprechen – nicht weil die Akteure in erster Linie konsensorientiert sind oder von Steuerungsmechanismen wie Solidarität angetrieben werden. Im Falle der brasilianischen Sektorkammern bedeutet dies: Gleichgewicht im Inneren, aber Indifferenz nach außen, also Indifferenz gegenüber anderen Wirtschaftsbranchen und deren internen Abmachungen. Deshalb ist Supervision als Reflexionsprozess unentbehrlich. Wenn es dem brasilianischen Staat durch seine Supervisionsinstanzen gelingt, die Leistungen der verschiedenen Sektorkammern zu entparadoxieren, ihre blinden Flecken beobachtbar zu machen und Koordination aus den Fluktuationen zu gewinnen, dann wäre das ein großer Schritt hin zur Konsolidierung eines Supervisionsstaates in Lateinamerika.
7.4.3 Gescheiterter Versuch einer proaktiven Lokalpolitik Der gescheiterte Versuch einer demokratischen Reform urbaner Räume in Mexiko-Stadt zwischen 1982 und 1988 gibt einen tieferen Einblick in das Problem der blinden Flecken und den Mangel an Selbstbeschränkung kollektiver Akteure:
218 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis „The proposed democratic reform under debate sought to institute a locally-elected legislative body to represent Mexico City residents and to bring direct popular election of its mayor – two rights denied to Mexico City residents but granted to all other urban residents in Mexico“ (Davis 1994: 382).
Der Kontext der Reform sind die Wirtschaftskrise Anfang der 1980er Jahre in Mexiko und die zunehmenden Massenproteste, die die Krise besonders in der Hauptstadt ausgelöst hatte (Bennet 1992). Zweck der Reformen war die Rationalisierung der Wirtschaftsplanung. Um dieses Ziel zu erreichen, hätten drei starke Akteure der Stadtpolitik Mexikos zu einer Selbstbeschränkung bereit sein müssen: die damals bereits seit Jahrzehnten auf nationaler Ebene regierende Institutionelle Revolutionspartei Mexikos (PRI), die privaten Interessengruppen der Hauptstadt und die politisch unterstützten gemeinschaftlichen Vertreter (die sogenannten delegados). Grund der PRI für die Ablehnung der Reformen war laut Davis, dass „the PRI leadership feared that direct election might produce a leader who would either shun the party line and/or challenge the power and autonomy of the President“ (Davis 1994: 391). Der Verlust an politischem Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen in Mexiko-Stadt war andererseits der Hauptgrund von Interessengruppen und delegados, sich den Demokratisierungsreformen zu widersetzen. Aus steuerungstheoretischer Sicht lässt sich feststellen, dass der Verzicht auf Selbstbeschränkung seitens der gesellschaftlichen Akteure die demokratischen lokalen Reformversuche blockierte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seit dem Sieg der Mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts Schichtungsund Reziprozitätsnetzwerke in Form von klientelistischen Beziehungen zwischen lokalen Akteuren und der PRI (früher PRM – Mexikanische Revolutionspartei) aufgebaut wurden, die sich durch den Wert der Demokratie nicht abbauen lassen. Proaktive Initiativen wie die Demokratisierung urbaner Gesellschaftsräume, die eine dezentrale Generierung systemischer Selbstreferenz fördern, müssen für die Beteiligten einen Sinn ergeben; sie müssen also deutlich machen (und die Beteiligten müssen es auch verstehen), warum eine heutige Selbstbeschränkung die zukünftige Konsolidierung der Autonomie bedeuten kann. Gelingt ihnen das nicht, sehen die Akteure keinen Grund, etwas zu ändern. Im Falle Mexikos war die Rationalisierung der urbanen Wirtschaftsplanung kein hinreichendes Argument, um die Notwendigkeit dieser Änderungen nachzuvollziehen; die bekannte Hierarchie wurde der neuen Ungewissheit vorgezogen, die eine Demokratisierung und formelle Prozeduralisierung mit sich gebracht hätte. Davis zufolge ist das Scheitern der Reform vor allem der Dominanz einer politischen Partei in Mexiko zuzuschreiben:
7.4. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis | 219 „If opposition parties had been strong enough to enter into informal political debate over democratic reform, they might have either pulled the different factions together on a forceful stand, or allied with more progressive factions within the PRI around urban democratic reform to ensure its introduction“ (Davis 1994: 403).
Geht man davon aus, dass ein demokratisches politisches System auf der Basis der Leitdifferenz Regierung/Opposition operiert (Luhmann 2005g), so ist die Annahme Davis’ richtig. Die mexikanische PRI ist jedoch schwer unter demokratischen Parametern zu verstehen. Andererseits, in Demokratien scheint die Unterscheidung Regierung/Opposition auf lokaler Ebene an Bedeutung zu verlieren, denn sie tritt in Konkurrenz mit dem, was Politiker als Sachpolitik bezeichnen, d. h. eine Politik des Faktums, die vielmehr von lateralen Unterscheidungen wie angebracht/unangebracht, notwendig/nicht notwendig, dringend/nicht dringend geprägt ist als von der Differenz Regierung/Opposition. Das, was der Lokalpolitik angebracht, notwendig und dringend erscheinen mag, kann natürlich von Regierungs- bzw. Oppositionspolitikern anders beurteilt werden. Die Folge einer solchen Komplexitätsasynchronie zwischen nationaler und lokaler Ebene ist, dass die Leitdifferenz Regierung/Opposition als Einheit erscheint, welche lokalrelevante Unterscheidungen absorbiert, was dazu führt, dass Sachfragen nicht optimal behandelt werden. Indem sie als Einheit die Unterscheidung repräsentiert, schwächt die Regierung ihre Kontingenz, da so nur sie beobachtbar und aktualisierbar ist. Unter diesen Umständen ist jeder Versuch, politisch proaktiv zu handeln, also dezentral und heterarchisch zu agieren, zum Scheitern verurteilt, einerseits, weil durch das Übergehen von Sachfragen die Entwicklung der Selbstreferenz der betroffenen lokalen Akteure beschränkt wird, und andererseits, weil Hierarchie und Kontrolle an die Stelle der Koordination treten.
7.4.4 Die Entparadoxierung der Menschenrechtsprobleme in Chile Die mangelnde Bereitschaft der Politik, Menschenrechtsprobleme anzugehen, ist kein Zeichen einer operativen politischen Schließung (vgl. Cousiño/Valenzuela 1994), sondern ein Zeichen des Unvermögens der Politik, über Fremdreferenz umweltrelevante Informationen zu verarbeiten. Der chilenische Übergang zur Demokratie war in den 1990er Jahren durch eine solche kognitive Schließung des politischen Systems gekennzeichnet: Das Menschenrechtsproblem, das während der Militärdiktatur entstanden war, wurde für die Fortsetzung der politischen Autopoiesis als irrelevant betrachtet; stattdessen wurde die
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Konsolidierung eines Modells des Übergangs angestrebt, welches Messner als Konsensdemokratie der Eliten bezeichnet und dessen Auswirkungen er folgendermaßen beschreibt: „Zum einen schaffte die Einigung zwischen der demokratischen und der Pinochet-verpflichteten Elite auf ein Konzept ‚geordneter und kontrollierter Demokratisierung‘ das nötige wechselseitige Vertrauen, um Übereinkünfte treffen und Unsicherheiten verringern zu können; zum anderen wurde der Kreis derjenigen, die die Verhandlungen über Modalitäten der Machtübergabe führten, definiert, ohne daß die Frage der Zusammensetzung dieses Kreises über demokratische Verfahren hätte geklärt werden müssen“ (Messner 1998: 37).
Fluktuationen in der Entwicklung der autopoietischen Zyklen des Systems, die die instabilen Kopplungen hätten gefährden können, sollten um jeden Preis vermieden werden. Es ging also nicht um Ordnung durch Fluktuation, sondern um Ordnung durch Kontrolle. Dies unterstreicht die Tatsache, dass in Chile auch unter demokratischen Bedingungen Kontrolle und Zwang als Steuerungsmechanismen eine wichtige Rolle spielten. Wird das Vermeiden von Fluktuationen zum zentralen Element eines Demokratieübergangs, dann wird versucht, jede Paradoxie, die die Entfaltung des Systems blockieren könnte, zu vermeiden. Ein möglicher Auslöser solcher Paradoxien war u. a. die Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen, die die instabilen demokratischen Übergangsstrukturen überfordern und zu einer Rückkehr zum Autoritarismus hätte führen können. Allerdings beschränkte sich der Begriff von Menschenrechtsverletzungen auf die Forderung nach Gerechtigkeit in Bezug auf die Vermissten während der Militärdiktatur. Andere Fragen der Menschenrechte wie z. B. Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit blieben im chilenischen Demokratisierungsprozess unberührt. Nach der Redemokratisierung bemühten sich die neuen Regierungen, durch die Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen diese Paradoxien zu bewältigen. Trotz der kognitiven Öffnung gegenüber dem Thema gelang es dem Staat jedoch nicht, die Probleme zu lösen, sodass es in den 1990er Jahren immer wieder zu irruptions of memory kam (Wilde 1999: 482 ff.). Paradox war in diesem Sinne auch, dass die Ergebnisse der ersten Versöhnungskommission (Rettig-Kommission) den Menschenrechtsverletzungen einen Realitätsstatus verliehen, was wiederum die Forderungen nach Gerechtigkeit der Menschenrechtsorganisationen intensivierte: Je mehr der Staat versuchte, das Problem zentralistisch zu steuern, desto intensiver trat es hervor, und zwar nicht in Bezug auf Menschenrechtsorganisationen, sondern auch in den Beziehungen zwischen der demokratisch gewählten Regierung und dem Militär (Cavallo
7.4. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis | 221
1998). Nur eine dezentrale Steuerung konnte zu einer Bewältigung des Problems beitragen. Während Koordination als Förderung dezentraler Steuerungsmechanismen zur Lösung gesellschaftlicher oder politisch relevanter Probleme definiert werden kann, lässt sich die von der chilenischen Regierung ab August 1999 gewählte Alternative als eine Strategie zur Entparadoxierung der Menschenrechtsprobleme bezeichnen. Durch das sogenannte Dialogforum (mesa de diálogo) wurde die Verantwortung, eine endgültige Einigung über diese Fragen zu erzielen, den betroffenen gesellschaftlichen Akteuren übertragen, d. h. dem Militär und den Menschenrechtsorganisationen. Der Staat, von der Regierung vertreten, spielte dabei eine supervidierende Rolle, die nur dann zum Tragen kam, wenn die Fluktuationen des Dialogs größer wurden als die Fähigkeit der autonomen Strukturen des runden Tisches, sie unter kontrollierbaren Parametern zu halten. Mit anderen Worten: Der Staat übte die Supervisionsrolle nur in solchen Momenten aus, wenn die Fluktuationen zum Chaos tendierten. Somit kam es zu einer Entparadoxierung des Problems in dem Sinne, dass der Staat nun nicht mehr Teil der Problemkonstellation war. Durch den runden Tisch wird die Paradoxie aufgelöst, denn beide Akteure repräsentieren nur ihre eigenen Interessen und werden nicht von einer dritten Instanz gezwungen, sich an den Verhandlungen zu beteiligen. Dies ermöglicht auch die Selbstbeschränkung der Teilrationalitäten gegenüber den Erwartungen der anderen Seite und lässt die Akteure erkennen, dass sich durch die Verhandlung neue Perspektiven für die Bewahrung der eigenen Autopoiesis eröffnen können: Das Militär erwartet, sich in der Zukunft seinen professionellen Aktivitäten widmen zu können, und Menschenrechtsorganisationen können auf Entschädigung oder Gerechtigkeit hoffen, wenn die Überreste der Opfer gefunden werden. Ob die Abkommen des runden Tisches eine Lösung für die von den Menschenrechtsverletzungen direkt Betroffenen darstellt, bleibt allerdings fraglich, denn individuelle Erfahrungen werden nicht durch Kommunikation ausgelöscht. Auch in der Öffentlichkeit ist dieses Thema nicht vergessen, wie die Einberufung der Valech-Kommission (Nationale Kommission für politische Haft und Folter) im Jahre 2003 zeigt. Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist die Suche nach den Vermissten und die Semantik der Anerkennung politischer Fehler dennoch eine Entwicklung, die einerseits zu höheren Autonomiegraden beider Instanzen geführt hat und andererseits die sozialpolitische Agenda von den Resonanzen auf das Problem befreite.
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7.4.5 Marktnetzwerke und Steuerungskonstellationen Bei der Suche nach geeigneten Steuerungsmechanismen sollte man sich zunächst mit der Frage beschäftigen, wann es empfehlenswert ist, die Wirtschaft zu steuern. Eine allgemeine Antwort auf diese Frage lautet: Wenn die Autonomie des Marktes zur Autarkie wird. Autarkie des Marktes impliziert vor allem ein internes Problem der Wirtschaft, das nur über eine nicht autoritative dezentrale Steuerung gelöst werden kann. Eine dezentrale Wirtschaftssteuerung ist in diesem Sinne kein Angriff auf ihre Autonomie, sondern eine Strategie, die sogar ihre operativen Funktionsvoraussetzungen erleichtern kann – z. B. wenn es Informationsprobleme gibt, die Asymmetrien in die Transaktionen einführen (z. B. opportunistisches Verhalten bei Verhandlungen) oder die Auswahl von Marktalternativen erschweren (z. B. unklare Bedingungen eines Vertrags) (Willke 1995a). Eine dezentrale Wirtschaftssteuerung erfolgt über strukturelle Kopplungen, in denen die wichtigsten Akteure nicht mehr die einzelnen Unternehmen sind, sondern die Marktnetzwerke, d. h. Wirtschaftskonstellationen von vernetzten Akteuren, die ihre Komplexität den anderen zur Verfügung stellen, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Unter den Bedingungen eines autarken Marktes, in dem Wirtschaftsakteure als Einzelgänger definiert werden, ist dies schwer zu erreichen. Eine dezentrale Steuerung sollte sich daher auf die Förderung von Kopplungen und die Verbesserung der Kontextbedingungen dieser Kopplungen richten. In diesem Sinne sind die Herstellung kollateraler Güter und die Konsolidierung der gesetzlichen Bezugsrahmen von wirtschaftlichen Transaktionen ebenfalls wichtige Steuerungsbereiche. In Anbetracht der Entfaltung des Privatsektors in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko ist die Herstellung einer dritten Art von Gütern zwischen privatem und öffentlichem Bereich besonders empfehlenswert: „Kollaterale Güter sind Güter, welche die Politik im öffentlichen Interesse herstellen will, aber nicht alleine herstellen kann – z. B. weil den politischen Akteuren Expertise, Geld und Unterstützung fehlen“ (Willke 1995b: 292).
Solange für die Produktion kollateraler Güter zumindest zwei Wirtschaftsakteure benötigt werden, sind diese Güter ein privilegiertes Instrument, um die Entstehung und Entwicklung von Marktnetzwerken im lateinamerikanischen Wirtschaftsraum zu stimulieren. Relevante Bereiche, in denen diese Güter in Lateinamerika hergestellt werden können, sind weltgesellschaftliche Problemfelder wie die Steuerung von Umweltschäden, die Berufsausbildung und der Aufbau von Infrastrukturen zweiter Generation oder intelligenter Infrastrukturen (Daten- und Informationsnetzwerke) (Willke 1995a). Umweltprobleme sind in Lateinamerika ein aktuelles Thema. Nicht regulier-
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te, autarke Wirtschaftsbedingungen führen dazu, dass die negativen Externalitäten der Wirtschaftsaktivität für die Umwelt nicht in der Kostenstruktur der Produktion berücksichtigt werden, was die Verantwortung für die Umweltschäden unberechenbar macht. Diese Zurechnungsprobleme können gesetzlich durch Eigentumsrechte geregelt und Umweltschäden durch Emissionszertifikate reguliert werden. In beiden Fällen bleibt aber das Problem für die Umwelt ungelöst. Dies ist umso kritischer, als lateinamerikanische Länder u. a. scheinbar ein guter Zufluchtsort sind, wenn europäische Gesellschaften ihre regulativen Strukturen verstärken: „It is still true that some multinational companies are attracted by shortterm cost advantages to be gained from producing in the squalid maquiladora zones of the world economy, like Brazil, and also true that some governments in the periphery are prepared to encourage direct investment by establishing unregulated zones for economic development“ (Axford 1995: 118).
Dies deutet darauf hin, dass neben den gesetzlichen Maßnahmen zur Regulierung der Umweltprobleme auch eine Transformation der Wirtschaftsstruktur erforderlich ist, d. h. Transformation der Produktionstechnologien (von Infrastrukturen erster zu Infrastrukturen zweiter Generation), Produktionsformen (von agrarbasierten und industriellen Produktionsmethoden zu wissensbasierter Arbeit) und Produktionsrationalitäten (von einzelnen Produktionseinheiten zu Netzwerken). Es handelt sich also um Transformationen, die aufgrund ihrer Komplexität nur dezentrale Steuerungskonstellationen zulassen. Ebenso wichtig wie diese Transformation für das Wirtschaftssystem ist die Herstellung kollateraler Güter im Bereich der Berufsausbildung und -fortbildung. Die Wirtschaftsproduktivität hängt langfristig von der Qualifikation der Arbeitskräfte ab, sodass Fort- und Ausbildung zur zentralen Komponente der wirtschaftlichen Selbststeuerung werden. Sie sind aber zugleich entscheidende Strategien, um Ungleichheiten abzubauen: „Eine selbsttragende industrielle Entwicklung ist jedoch in den meisten Ländern des Südens wegen extremer ökonomischer Ungleichheit – entwicklungspolitisch gesprochen ‚struktureller Heterogenität‘ – blockiert“ (Hey/Schleicher-Tappeser 1998: 42).
Diese Problematik wird von Londoño unter dem Begriff Humankapital beschrieben: „Educational insufficiency in the Latin American labor force is currently very high because the pattern of development before the 1980s was very scarce in human capital and because the efforts of the last 15 years have
224 | Kapitel 7. Koordination und dezentrale Steuerungspraxis not been enough to turn things around. Today, the Latin American labor force has little more than five years of education. For current levels of development, the expected level of education for the labor force is slightly above 7.0 years. This creates an average accumulated gap of two years per worker. This educational gap is much higher for Brazil and Mexico because their levels of development today require three more years of education per worker. These two countries make up 93.5 percent of the educational gap for all of Latin America today“ (Londoño 1996: 25).
Die Situation wird noch kritischer, angesichts der Tatsache, dass die globale Wirtschaft in die Phase der Wissensarbeit tritt (Willke 1998). Die Entwicklung von Daten- und Informationsnetzwerken in Form von kollateralen Gütern sollte dazu beitragen, die Kluft zwischen der teilweise agrar- und rohstoffbasierten, teilweise industriellen und dienstleistungsorientierten Produktivstruktur Lateinamerikas und der wissensbasierten Produktionsform anderer Regionen der Weltgesellschaft zu reduzieren. Das reicht aber nicht aus. Eine Wissenssteuerung sollte sich auch mit anderen wichtigen Fragen beschäftigen, nämlich wie man diese Infrastrukturen optimal nutzen kann, wie man damit Wissen erzeugt und wie man die nötigen Kopplungen und formalisierten Netzwerke entwickelt, um das Wissen zu konsolidieren und es als Instrument der Problemlösung verwenden zu können (siehe Ramos 2009). Die Entfaltung dieser Wissenssteuerung, die infrastrukturellen Transformationen der Wirtschaft, der Abbau von Ungleichheiten durch Ausbildung, die Regulierung von Umweltrisiken können aber nicht verwirklicht werden, wenn die gesetzlichen Strukturen nicht in der Lage sind, mit Komplexität umzugehen. Dieses neue Regime, so Sangmeister, „[...] erfordert die Herausbildung staatlicher Regulierungskompetenzen und -kapazitäten, die dem neuen Entwicklungsparadigma von (selektiver) Weltmarktintegration und marktwirtschaftlicher Binnensteuerung im Sinne systemischer Wettbewerbsfähigkeit angepaßt sind. Dabei sind rechtsstaatliche Institutionalisierung und gesellschaftliche Legitimierung wesentliche Bedingungen einer dauerhaften Funktionsfähigkeit staatlicher Regulierungsleistungen zur Korrektur von Marktversagen und zur Durchsetzung öffentlicher Interessen“ (Sangmeister 1996: 9).
Das Konditionalprogramm des Rechts ist zu wenig komplex, um dieses Ziel zu erreichen, weil es die Verteilungsfragen dem Markt überlässt und weil es auf individuellen Rechten basiert, die die Entstehung supranationaler Akteure nicht vorsehen. Unter Bedingungen steigender Komplexität sollte ein Relationierungsprogramm im Sinne einer Rechtsstruktur, die ausdifferenzierte Eigenlogiken koordiniert, die Leistungen des Konditionalprogramms ergänzen. Eine solche Weiterentwicklung des Rechts ist grundlegend, denn nur durch die
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Koordination von Differenzen sind der Abbau der Entdifferenzierungsprobleme und der zielbewusste Aufbau von Vermittlungsinstanzen möglich. In diesem Sinne sollte sich das Relationierungsprogramm in Lateinamerika auf folgende Ziele konzentrieren: • Der Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Recht, der das Konzipieren eines dritten Sektors zwischen Staat und Markt blockiert, sollte erneuert werden, um die Entstehung kollateraler Güter und eines nicht staatlichen öffentlichen Bereichs zu fördern. Nicht staatliche öffentliche Organisationen sind diejenigen, die finanziell vom Staat abhängig sind, aber nicht von ihm verwaltet werden. Kollaterale Güter sind dann eine mögliche Lösung, wenn sich aufgrund der marktbedingten KostenNutzen-Kalküle keine private Alternative anbietet oder wenn der Staat aus Mangel an Ressourcen oder Expertise auf Steuerung verzichtet. Um die Autonomie dieser Organisationen zu bewahren, sollen Managementverträge zwischen diesen Instanzen und dem Staat geschlossen werden, die die finanziellen Bedingungen und die Leistungen zwar vereinbaren, aber freien Spielraum für die Wege zum Erreichen der Ziele lassen. • Um ein Vertrauensumfeld vor allem im wirtschaftlichen Bereich zu schaffen, sollte ein Relationierungsprogramm die Stabilität der Rahmenbedingungen fördern: „Die Analyse einer ökonomischen Regulierung sollte sich nie auf die Evaluierung der Effizienz oder Ineffizienz aus einer wirtschaftlichen Perspektive beschränken. Es muss außerdem sichergestellt werden, dass diese Regulierung durch für alle geltende Regeln, die für einen langen Zeitraum mit der individuellen Freiheit vereinbar sind, umgesetzt werden kann“ (Valdés 1994: 213; Übersetzung A.M.). Ziel ist eine Stabilisierung der gesetzlichen Umwelt, damit die Relationierung unter den verschiedenen Teilrationalitäten mit einer möglichst geringen Beeinträchtigung der Konsolidierung von Erwartungen verbunden ist. • Eine Stabilisierung der gesetzlichen Umwelt erfordert vor allem eine Stabilisierung der prozeduralen Verfahrensstruktur. Dabei geht es um die Immunisierung des Verhandlungsprozesses gegen informelle Einflüsse, die den Entscheidungsprozess intervenieren und letztendlich die gesetzliche Autopoiesis des Rechtssystems gefährden können. Das extremste Beispiel solcher Einflüsse ist Korruption. Durch Korruption kommt es zu einer Entlegitimierung des Verfahrens, was dazu führt, dass die Erwartungen von gesellschaftlichen Akteuren bezüglich des Entscheidungsprozesses enttäuscht werden (wenn diese Akteure nicht selbst korrupt sind). Erfolgt die Korruption in Form von Einfluss gegen Leistung, kann man von einer
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politischen Entdifferenzierung sprechen; bezieht sich die Korruption auf Geld gegen Leistung, handelt es sich um eine wirtschaftliche Entdifferenzierung. In beiden Fällen finden allerdings informelle Operationen statt, die die autopoietische Entwicklung des Entscheidungsprozesses des Rechtssystems unterbrechen und übernehmen, sodass die Relationierung nur über Korruption erfolgen kann. Das heißt: Die Korruption bewirkt die Abschaffung der prozeduralen Struktur und ersetzt sie durch Geld oder Einfluss (oder durch beide Medien).
7.4.6 Reflexive Regulierung und „regulatory agencies“ Die Reflexivität eines Relationierungsprogramms, das heißt seine Fähigkeit, Konflikte durch Deliberation statt durch Konfrontation zu lösen, zeigt sich am deutlichsten in der Art und Weise, wie es auf die Ausdifferenzierung von Marktnetzwerken reagiert. Vor allem aufgrund der Privatisierungsprozesse und der steigenden Komplexität der Wirtschaft haben sich in Lateinamerika die Marktnetzwerke exponentiell entwickelt. Relationierung soll heißen, dass eine Regulierung konditionaler Art durch reflexive Mechanismen ergänzt wird. Bedingung der Möglichkeit einer reflexiven Regulierung privater Organisationen ist die Unabhängigkeit der Regulierungsinstanzen von politischer Kontrolle und Kooptation (capture) seitens der zu regulierenden Organisationen (Grzymala-Busse 2008). Das heißt, Regulierungsinstanzen sollten eine deutliche Abgrenzung von der Umwelt erzielen, auch wenn sie mit ihr durch Finanzierung strukturell gekoppelt sind. Urbitzondo et al. (1998) leiten aus der Analyse des argentinischen Regulierungssystems Empfehlungen ab, die dazu beitragen sollen, die Autonomie und Reflexivität der regulatory agencies im lateinamerikanischen Raum zu steigern: • Die Bildung der Regulierungsinstanz durch die Exekutive würde ihre Autonomie gefährden, denn sie wäre funktionell der Regierungskontrolle unterstellt. Eine durch die Legislative ermächtigte Einrichtung der Regulierungsinstanz legitimiert dagegen ihre Existenz und begünstigt ihre Autonomie. • Die Finanzierung der regulatory agencies muss über supranationale, multilaterale Organisationen stattfinden (WMF, WB, BID), sodass sie weder durch den Staat noch durch die regulierten Organisationen kooptiert werden können. • Der Vorsitzende der Regulierungsinstanz sollte für einen bestimmten Zeitraum im Amt bleiben, nicht aber wiedergewählt werden können, um
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das Risiko eines Entdifferenzierungsproblems (capture of agencies) zu vermeiden. • Die Regulierungsinstanzen sollten zugleich der Ex-post-Regulierung der Legislative unterstellt sein. Die Einrichtung von Regulierungsbehörden in der Region Lateinamerika hängt mit dem Abbau des staatlichen Dienstleistungsmonopols in den 1970er und 1980er Jahren zusammen. Ein unregulierter Privatisierungsprozess führte zur Chaotisierung der technischen (Transport, Energie, Müllabfuhr, Wasserversorgung) und sozialen (Versicherungs- und Gesundheitswesen, Finanzsystem) Dienstleistungen, die mithilfe solcher regulatory agencies kompensiert werden sollte. Die Erfahrungen in lateinamerikanischen Ländern sind in dieser Beziehung unterschiedlich und lassen sich laut Stark (2001) nach der Effizienz der Regelungen und der Organisationsentwicklung der Behörden bewerten: Unter den Ländern der ersten Privatisierungsphase (Chile, Mexiko, Brasilien, Argentinien) sei in Chile eine hohe Integration von Regelungen und Organisationsentwicklung erreicht – dies sei wahrscheinlich der Grund, warum die Finanzkrise 2008 das Land nicht besonders stark getroffen hat. Brasilien befindet sich auf dem Weg der Integration. Mexiko und vor allem Argentinien haben Regelungen entwickelt aber immer noch keine hoch technisierten Regulierungsorganisationen. Venezuela und Ecuador (zweite Privatisierungsphase) werden als Beispiele für Regulierungsbehörden niedriger Effizienz und niedriger Organisationsentwicklung genannt. Ziel der Einrichtung von Regulierungsbehörden ist eine formelle Prozeduralisierung von Operationen und eine strukturelle Kopplung von Organisationen, die technische und soziale Dienstleistungen anbieten. Nur ein hoch spezialisiertes und wissensbasiertes Regulierungsmodell im Rahmen effizienter Organisationen ist in der Lage, unterschiedliche formale Instanzen zu koordinieren, um die starken Tendenzen in Lateinamerika zur Informalisierung und zur klientelistischen Kooptation der Anbieter von Dienstleistungen durch Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke zu begrenzen. Die geringe Regulierungs- und Organisationsentwicklung der Regulierungsbehörden in Mexiko, Argentinien, Venezuela und Ecuador sind in diesem Sinne ein Indikator für die Informalitätsprobleme im Bereich der technischen und sozialen Dienstleistungen. Die Entwicklung der vergangenen Jahre in Peru ist ein gutes Beispiel für eine gelungene Regulierungspolitik, die auf der Einrichtung unabhängiger Organisationen zur Supervision des privaten Sektors basiert. Die Privatisierungen der öffentlichen Dienstleistungen in den 1980er Jahren führten zur endogenen Entwicklung der regulatory agencies, zur Technisierung der Regulierungspolitik und zur politischen und bürokratischen Kontrolle privater Organisationen. Durch
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eine formelle Prozeduralisierung der Operationen formeller Organisationen wird versucht, das informelle, klientelistische Regulierungsmuster zu überwinden. Kennzeichnend für dieses Modell ist die flache Struktur der agencies, ein reduziertes, aber hoch technisiertes staff und eine Vereinfachung administrativer Vorgänge. Osiptel (Regulierungsbehörde für Telekommunikation) und die Superintendanz für Banken, Versicherungen und AFP (Aufsichtsbehörde für Banken und Versicherungen) dienen als Vorbild für solche Regulierungsbehörden (Ramió 2007). Eine Regulierungspolitik sollte nicht nur die oben genannten Bedingungen erfüllen, sondern auch die Einrichtung weiterer Vermittlungsinstanzen umfassen, wie Konsumverbände oder eine Supervisionsstelle, die die Koordination eines zunehmend komplexen und dezentralen Dienstleistungsmodells ermöglicht. Eine solche Supervisionsstelle ist z. B. die Staatsanwaltschaft in den Föderalstaaten Brasiliens (Fonseca 2008), die durch Beobachtung diffuser sozialer Interessen und die Supervision des privaten und öffentlichen Sektors die blinden Flecken der Dienstleistungsagenturen aufzeigen und durch private oder collective actions minimieren kann. Eine ähnliche Funktion haben die in Ecuador, El Salvador und Chile eingeführten Ombudsleute, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg (siehe Mascareño/Mereminskaya 2005). Regulierungsbehörden spielen eine zentrale Rolle in den Koordinationsbemühungen demokratischer Staaten Lateinamerikas. Sie verbinden auf faktischer und pragmatischer Ebene die Frage der Koordination dezentraler, differenzierter privater, semiprivater und öffentlicher Systeme, die sowohl national als auch weltgesellschaftlich operieren, mit den formellen bzw. informellen Inklusions-/Exklusionsvorgängen, die die Region Lateinamerika kennzeichnen. Die von den Regulierungsbehörden geförderten Prozeduralisierungsoperationen dienen dazu, Inklusions- und Exklusionsvorgänge für die Betroffenen vorhersehbar zu machen. Wenn es formelle bekannte Prozeduren gibt, weiß man, wie man sich verhalten muss, um die Erwartung auf Inklusion zu erfüllen. Exklusion wird dann ebenfalls prozeduralisiert. Man weiß, warum man exkludiert wird und was zu tun ist, um wieder eingeschlossen zu werden. Man ist nicht mehr von informellen Operationen abhängig, um formelle Inklusion zu erreichen. Regulierungsbehörden und ein Relationierungsprogramm des Rechts sind in diesem Sinne wichtige Instrumente zur Steuerung der Komplexitätsasynchronien einer konzentrischen Institutionalisierung.
7.4.7 Supranationale Steuerung und Schiedsgerichtsbarkeit Eine der letzten Entwicklungen des Relationierungsprogramms des Rechtssystems auf weltgesellschaftlicher Ebene ist die Entstehung supranationaler,
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dezentraler Rechtsregimes, die sich darauf konzentrieren, Konflikte zwischen privaten, semiprivaten und öffentlichen Akteuren zu prozessieren. Sie werden als neospontane Rechtsregimes bezeichnet (Teubner 2000) und entstehen an den Schnittstellen des Rechts und der funktionalen Bereiche der Weltgesellschaft. Ihre Legitimationsmodi basieren auf Expertise, Effizienz und der Anwendung hoch spezialisierten Wissens bei den Gerichtsprozeduren und Lösungsvorschlägen (Willke 2007). Beispiele für diese Art von Rechtsregimes sind das lex digitalis, lex sportiva, lex constructionis und lex mercatoria u. a. (Fischer-Lescano/Teubner 2007; Mascareño 2006, 2009). Eine zentrale Instanz des lex mercatoria sind im internationalen Handelsrecht die Schiedsgerichte. Schiedsgerichte sind supranationale Rechtsbehörden, deren Entscheidungen deswegen verbindlich für die Parteien sind, weil sie selbst die Grenzen der Prozedur und die Zusammensetzung des Gerichtshofes etablieren, sich der Entscheidung unterwerfen und entsprechend handeln. Es überwiegt dabei das Prinzip der Willensfreiheit (Mereminskaya 2007; siehe auch Mascareño 2007c). Schiedsgerichte können von den Parteien gewählt werden. Die Rechtsnormen des Schiedsverfahrens entsprechen keinem nationalen Verfahrensrecht; sie werden vom Gericht selbst entwickelt (Uncitral 2009). Drei Gesetzesmuster liegen dem Schiedsverfahren zugrunde: 1. die Normen der International Bar Association (IBA), die sogenannten rules of proof zur Harmonisierung der die Modelle des civil und common law in Fragen der Schiedsgerichtsbarkeit (Nottage 2006), 2. die Unidroit-Prinzipien (Institut International pour l’Unification du Droit Privé), mit derselben Zielsetzung in Bezug auf Privatregimes (Unidroit 2009) und 3. das Model Law for International Commercial Arbitration von Uncitral. Die Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit in Lateinamerika ist prekär. Deregulierungsmaßnahmen der 1970er und 1980er Jahre und das Wachstum der Auslandsinvestitionen wurden nicht von dem entsprechenden Gesetzesrahmen eines Relationierungsprogramms des Rechts begleitet. Wie die Regulierungsbehörden ist die supranationale Schiedsgerichtsbarkeit eine Neuentwicklung im lateinamerikanischen Raum, an die sich nationale Rechtssysteme nur unter großen Schwierigkeiten anpassen. Unter den Bedingungen einer erfolgreichen ausländischen Investitionspolitik zählen die politische Stabilität, aber vor allem die Vorhersehbarkeit, Flexibilität, Effizienz und Universalität des Rechtssystems als zentrale Bedingung für die Unsicherheitsabsorption und die Kopplung zur Weltwirtschaft. Dies kann aber erst dann erreicht werden, wenn nationale Rechtssysteme die Supranationalität der wirtschaftlichen Transaktionen und
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Akteure deutlich erkennen und entsprechende Entscheidungen treffen. Obwohl in Ländern wie Chile nationale Schiedsgerichtsbarkeit seit Langem als Instrument lokaler Konfliktlösung gilt, ist das Konditionalprogramm des nationalen Rechtssystems ein Hindernis für die Anerkennung supranationaler Normen der IBA und der Unidroit- und Unicitral-Prinzipien. Dies führt zu Kollisionen zwischen nationalen Gesetzen bzw. Doktrinen und den supranationalen Regelungen und Prinzipien der Schiedsgerichte. Chilenische Gerichte verweigern oft die Anerkennung supranationaler Schiedsgerichte, was die Vorhersehbarkeit, Flexibilität, Effizienz und Universalität der Entscheidungen reduziert, auch wenn es im chilenischen Rechtssystem keine Norm gibt, die den nationalen Wirtschaftsakteuren verbietet, Konflikte ausländischen bzw. supranationalen Schiedsgerichten vorzulegen (Mereminskaya 2004). Im lateinamerikanischen Recht dominiert die Calvo-Klausel mit der Doktrin, dass ausländische und inländische Investoren als gleichberechtigt gelten. Dies führt zu der Paradoxie, dass sich beide dem nationalen Recht unterwerfen müssen (Shea 1955). Um dies zu ändern, wurden in den 1990er Jahren erste Verfassungsänderungen vorgenommen. Ein Beispiel hierfür ist die peruanische Verfassung von 1993, die in Artikel 63 das Recht jeder Person anerkennt, ihre Konflikte ausländischen Schiedsgerichten vorzutragen (Frutos-Peterson 1999). Die kolumbianische Verfassung von 1991 sieht wiederum die Möglichkeit vor, einem ausländischen Schiedsverfahren zu folgen (Uribe 2002). Die Reform der Schiedsgesetze gilt als eine weitere Bedingung für die Flexibilisierung der Calvo-Klausel. Reformen sind in Bolivien (1997), Brasilien (1996), Peru (2008), Venezuela (1998), Chile (2004) durchgeführt worden (Frutos-Peterson 1999; Kleinheisterkamp/Idiarte 2002). Diese Prozesse schreiten aber nur langsam voran. Die Reformen sind umso wichtiger, als die langsame, aber stetige Integration der lateinamerikanischen Region in die Weltgesellschaft – besonders im Bereich des Wirtschaftssystems – auch eine Harmonisierung der Rechtserwartungen erfordert. Neue internationale Handelsabkommen sowie die zunehmende Komplexität regionaler Märkte wie Alca und Mercosur bieten hier eine Möglichkeit, den Herausforderungen einer Weltwirtschaft durch ein Relationierungsprogramm des Rechts in Lateinamerika zu begegnen, welches zugleich die Komplexitätsasynchronien zwischen lokalen und supranationalen Rechtserwartungen koordinieren kann.
8 Epilog Der systemischen Theorie der funktionalen Differenzierung zufolge besteht die moderne Gesellschaft aus autonomen, polyzentrisch strukturierten, spezialisierten Funktionssystemen. Die vorliegende Untersuchung hat den Versuch unternommen, die Entwicklungen in Lateinamerika als einen eigenen Weg der Moderne zu beschreiben. Dieser kann als eine konzentrische Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung bezeichnet werden, d. h. als eine Ordnung, deren Funktionssysteme durch eine ständige Spannung zwischen Aus- und Entdifferenzierungstendenzen gekennzeichnet sind, die sich aus dem evolutiven Zusammenspiel von formellen Prozeduren funktional differenzierter Institutionen und informellen Operationen von Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken ergeben. Von einem lateinamerikanischen Weg der Moderne zu sprechen, setzt einerseits voraus, dass Lateinamerika als Region und Teil einer funktional differenzierten Weltgesellschaft verstanden wird, und andererseits, dass diese Region durch eine bestimmte Dynamik gesellschaftlicher Prozesse gekennzeichnet ist. In der vorliegenden Untersuchung wurde diese Dynamik evolutiv als Folge des Primats politischer Kommunikationen gegenüber Kommunikationen anderer Teilsysteme interpretiert. Unter solchen Bedingungen verfügen die symbolisch generalisierten Medien Macht und Einfluss über eine hohe Anziehungskraft, die dazu genutzt wird, die eigenen Präferenzcodes und Selektivität durchzusetzen. Dadurch wird die Entfaltung der Selbstreferenz anderer Teilsysteme interveniert. Ein solcher Prozess wurde hier als Entdifferenzierungsepisode bezeichnet. Mit diesem Begriff soll deutlich gemacht werden, dass Interventionen, auch wenn sie häufig stattfinden, weder permanent wirken noch alle Operationen des intervenierten Systems betreffen. Sie können zwar das autonome Funktionieren des Systems in bestimmten Episoden unterbrechen, sie eliminieren aber nicht seine gesamten autopoietischen Operationen. Das Primat der Präferenzcodes und Selektivität der Politik ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: die Transformation der kolonialen Stratifikation in einer politischen Hierarchie eines ausdifferenzierenden politischen Systems und deren Umsetzung in informellen Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken. Die politische Hierarchie instrumentalisiert das Rechtssystem und wird nicht dem Code der juristischen Geltung untergeordnet. Damit kann die Poli-
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tik beliebig Ausnahmezustände ausrufen, bei jedem Regierungswechsel eine neue Verfassung verabschieden, die Prozeduren eines Machtwechsels missachten, Policy-Reformen ohne demokratische Deliberation durchsetzen, das Volk über nackte Gewalt kontrollieren und Ungleichheitsbedingungen reproduzieren, indem Bürgerrechte als reine Fiktion hoch entwickelter Länder betrachtet werden. Wenn andererseits Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke die Nischen des politischen Systems über Einfluss, Korruption, Zwang und Gewalt kolonisieren, führt die Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung in Lateinamerika zu einer paradoxen Form der Stabilisierung der Inklusionsund Exklusionslage – und zwar durch eine Informalisierung der institutionellformellen Inklusions- und Exklusionsbedingungen. Gegenwärtig operieren Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke nicht nur im Bereich des Politischen, sondern nehmen auch Einfluss auf verschiedene formelle Prozeduren funktional differenzierter Institutionen. Damit werden die Konstellationen des Handelns und Erlebens hoch komplex. Da Entscheidungen nicht nur auf formellen Prozeduren basieren, sondern auch die Bedingungen der informellen Netzwerke erfüllen müssen, unterliegen sie einer doppelten Unsicherheit: die Unsicherheit bezüglich der formellen Prozedur und die faktische Unsicherheit hinsichtlich der Umsetzung der Entscheidung in informellen Netzwerken. Entscheidungen werden nur dann von informellen Netzwerken übernommen, wenn sie den partikularistischen Zielen des Netzwerks dienen, und die entscheidende Frage ist, ob man von diesem Netzwerk eingeschlossen oder ausgeschlossen ist. Die Kopplung von formellen Prozeduren und informellen Operationen führt zu paradoxen Entscheidungssituationen. Informelles Handeln operiert im Medium des Einflusses (oder der Gewalt, des Zwangs, des Geldes), um eine formelle Entscheidung in formellen Institutionen herbeizuführen, die ihre Informalität hinter der Fassade formeller Organisation verbirgt. Formelle Prozeduren funktional differenzierter Institutionen werden in diesem Sinne von den Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerken instrumentalisiert und dienen einer Art pseudodemokratischer Legitimation partikularistischer Interessen privilegierter Gesellschaftsgruppierungen. Man muss in die informellen Netzwerke inkludiert sein, um formelle Inklusion erreichen zu können. Je mächtiger die Netzwerke werden, desto schwieriger ist es, sich ihrer Anziehungskraft zu entziehen. Dies zeigt sich im gegenwärtigen Populismus, aber auch im Klientelismus auf lokaler Ebene, in der Korruption der öffentlichen Verwaltungsstrukturen, den gewalttätigen Gruppen und der organisierten Kriminalität in Großstädten und in der Konzentrierung der wirtschaftlichen Ressourcen auf wenige Wirtschaftsgruppen. Funktional differenzierte Institutionen werden durch die Macht der Netzwerke konzentriert, sodass es zu einer konzentrischen Insti-
Kapitel 8. Epilog | 233
tutionalisierung der funktionalen Differenzierung kommt. Dies wurde in der vorliegenden Arbeit als der lateinamerikanische Weg der Moderne bezeichnet, oder anders gesagt, als die Konkretisierung der universellen, weltgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung in der Region Lateinamerika. Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser gesellschaftlichen Konstellation ist die Perpetuierung der Inklusions-/Exklusionsbedingungen, d. h. die Perpetuierung sozialer Ungleichheit, die zugleich zu Demokratisierungs- und gesellschaftlichen Steuerungsproblemen führt. Systemtheoretisch betrachtet heißt Ungleichheit, dass für bestimmte Gruppen (Unterschichten, Minderheiten, indigene Bevölkerungsgruppen u. a.) Kontingenz und Selektivität hoch begrenzt sind – dass beide ungleich verteilt sind. Will man diese Situation aufgrund systemtheoretischer Überlegungen ändern, ist eine Erhöhung der Kontingenz erforderlich. Dies lässt sich mithilfe spezieller Steuerungsstrategien erreichen – sie wurden hier als generative und deliberative Steuerung bezeichnet. Generative Steuerung zielt auf die Förderung gesellschaftlicher Bedingungen, die die Entfaltung der Selbstreferenz gesellschaftlicher Systeme ermöglichen. Es geht dabei um eine Stärkung der Autonomie selbstreferenziell werdender Systeme. Eine deliberative Steuerung soll wiederum dazu beitragen, Konflikte zwischen autonomen und semi-autonomen Teilsystemen zu lösen, damit die wechselseitigen Beziehungen nicht zu einem Nullsummenspiel führen, das die Etablierung struktureller Kopplungen verhindert. Generative und deliberative Steuerungsstrategien sind als Elemente einer neuen Staatsform zu verstehen. Eine solche Staatsform fällt unter den Begriff des Supervisionsstaates und konzentriert sich auf die Koordination der informell strukturierten partikularistischen Interessen der Schichtungs- und Reziprozitätsnetzwerke mit den formellen Prozeduren funktional differenzierter Institutionen. Systemisch betrachtet besteht die Hauptfunktion dieser Staatsform darin, die Koordination einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft sowie die Supervision und Lösung der daraus resultierenden Konflikte und blinden Flecken divergierender Beobachtungen autopoietischer Systeme zu ermöglichen. Das Recht spielt dabei eine zentrale Rolle. Es sollte auf dezentrale Weise die Voraussetzungen für die Interrelationierung gesellschaftlicher Sphären durch die Erhöhung der Kontingenz und der Fremdbeobachtungsfähigkeit partikulärer Gruppen schaffen. Nur unter solchen Bedingungen wird es möglich sein, die Perpetuierung der Inklusions-/Exklusionsbedingungen im Rahmen der funktionalen Differenzierung in der Region Lateinamerika zu verhindern und somit die in der sozialen Ungleichheit scheinbare Notwendigkeit dieser Welt und Unmöglichkeit einer anderen Welt in Kontingenz und freie Selektionsmöglichkeit zu verwandeln.
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