Die Mitte des Christentums: Einführung in die Theologie Eugen Bisers 3534235258, 9783534235254

Eugen Biser ist ohne Zweifel einer der wichtigsten Theologen der Gegenwart; seine Werke gehören jetzt schon zu den Klass

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German Pages 158 [160] Year 2011

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ursprung und Ziel
Gestalterische Kraft aus der Mitte. Gedanken zu Eugen Bisers theologischer Vision
Gotteskindschaft. Das unerreichte Ziel des Mensch-Seins in der Theologie Eugen Bisers
Stationen
Idee und Ethos der Weisheit im Frühwerk Eugen Bisers
Die Opferkritik in der Theologie Eugen Bisers
„Das Leben als Akt der Selbstverschwendung“
Rückbesinnung
Der Lebensweg Jesu in der Theologie Eugen Bisers
Die Bedeutung des Apostels Paulus für die Theologie Eugen Bisers
Die Mystik des Apostels. Zur Paulusdeutung von Albert Schweitzer und Eugen Biser
Diagnose der Gegenwart
Eugen Bisers Theologie als Ansatz für eine christliche Sozialethik
Antizipation eines Unbehagens. Eugen Bisers Medientheorie
Appendix: Das instrumentierte Wort. Skizzen einer theologischen Medientheorie
Theologie der Zukunft
Die mystische Dimension in der Theologie Eugen Bisers
Eugen Biser und die Zukunft der Theologie
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Die Mitte des Christentums: Einführung in die Theologie Eugen Bisers
 3534235258, 9783534235254

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Richard Heinzmann · Martin Thurner Die Mitte des Christentums

Richard Heinzmann · Martin Thurner

Die Mitte des Christentums Einführung in die Theologie Eugen Bisers

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandbild: 90. Geburtstag Eugen Bisers © dpa

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werks wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23525-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71875-7 eBook (epub): 978-534-71876-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort.............................................................................................................................7

Ursprung und Ziel Joachim Reger Gestalterische Kraft aus der Mitte. Gedanken zu Eugen Bisers theologischer Vision .............................................................9 Martin Thurner Gotteskindschaft. Das unerreichte Ziel des Mensch-Seins in der Theologie Eugen Bisers.........................19

Stationen Peter Jentzmik Idee und Ethos der Weisheit im Frühwerk Eugen Bisers................................................29 Klaus-Peter Jörns Die Opferkritik in der Theologie Eugen Bisers ..............................................................41 Norbert Brieskorn „Das Leben als Akt der Selbstverschwendung“..............................................................53

Rückbesinnung Martin Thurner Der Lebensweg Jesu in der Theologie Eugen Bisers ......................................................61 Ferdinand Hahn Die Bedeutung des Apostels Paulus für die Theologie Eugen Bisers.............................71 Gunther Wenz Die Mystik des Apostels. Zur Paulusdeutung von Albert Schweitzer und Eugen Biser ..........................................79

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Inhaltsverzeichnis

Diagnose der Gegenwart Markus Krienke Eugen Bisers Theologie als Ansatz für eine christliche Sozialethik ............................ 103 Martin Balle Antizipation eines Unbehagens. Eugen Bisers Medientheorie ........................................................................................ 125 Appendix: Eugen Biser Das instrumentierte Wort. Skizzen einer theologischen Medientheorie................................................................. 132

Theologie der Zukunft Martin Thurner Die mystische Dimension in der Theologie Eugen Bisers ........................................... 135 Richard Heinzmann Eugen Biser und die Zukunft der Theologie ................................................................ 147

Vorwort

In der Religions- und Kulturgeschichte ist die rasche und weltweite Verbreitung des Christentums ein bis heute einzigartig gebliebenes Phänomen. Im Gegenzug sah sich das Christentum, spätestens seit dem Aufkommen der Religionskritik in der Aufklärung, aber auch einem argumentativ wie emotional beispiellos heftigen Widerspruch ausgesetzt. Diese Ambivalenz in der Geschichte scheint sich im Verhältnis des Menschen der Gegenwart zum christlichen Glauben zu spiegeln. Obwohl das Christentum die Kultur, in der wir leben, maßgeblich mit geprägt hat, stehen ihm heute immer mehr Menschen ablehnend, verständnislos oder gleichgültig gegenüber. Dazu mag wesentlich beitragen, dass sich der christliche Glaube häufig in traditionellen Denk- und Sprachkategorien artikuliert, die der Vergangenheit angehören und nicht mehr unmittelbar zugänglich sind. Um dem Menschen auch in Zukunft eine freie Glaubensentscheidung zu ermöglichen, kommt daher alles darauf an, dass das Christentum seine Botschaft im Bezug auf die gegenwärtige Lebenswelt konzentriert und in verständlicher Weise mitteilt. Unter den vielen theologischen und religionsphilosophischen Neuansätzen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt das Denken von Eugen Biser (geb. 1918) eine Sonderstellung ein. Es ist vom Grundanliegen getragen, die religionskritischen Argumente (besonders von Friedrich Nietzsche) für eine Selbstkorrektur des Christentums fruchtbar zu machen, um so den Kern des Glaubens von verstellenden Überlagerungen freizulegen und damit die ursprüngliche Botschaft Jesu den Menschen heute als zukunftseröffnende Kraft nahezubringen. Biser kommt zur überraschenden Einsicht, dass das Christentum, trotz zweitausendjähriger Geschichte, seine Mitte eigentlich noch nicht gefunden, geschweige denn im Leben verwirklicht habe. Aufgrund einer dogmatisch und moralisch dominierten Selbstinterpretation sei die therapeutisch-befreiende Zielsetzung des Glaubens noch nicht zur vollen Wirksamkeit gelangt. Um das Bewusstsein und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, entfaltet Eugen Biser seine ,Theologie der Zukunft‘. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird versucht, Eugen Bisers denkende Suche nach der Mitte des Christentums aus verschiedenen Perspektiven nachzuvollziehen und zu beleuchten. Entstanden sind die Studien ursprünglich als Vorträge im Rahmen der ,Eugen Biser-Lectures‘, die das von Eugen Biser 1987 begründete und über zwanzig Jahre geleitete Seniorenstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2008/09 in Zusammenarbeit mit der ,Eugen-Biser-Stiftung‘ veranstaltete. In der Arbeit der Autoren spiegelt sich auch der Dank an Eugen Biser für jahrelange geistige und persönliche Inspiration und menschlich bereichernde Begegnung. Ein Zeichen besonderer Wertschätzung ist es, dass die ,Wissenschaftliche Buchgesellschaft‘ den Band in ihr renommiertes Programm aufnimmt. Dafür und für die Unter-

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Vorwort

stützung im Verlauf der Drucklegung sei den theologischen Lektoren Dr. Bernd Villhauer und Stephanie von Liebenstein der Dank der Herausgeber ausgesprochen. München, im Juli 2010

Richard Heinzmann

Martin Thurner

JOACHIM REGER

Gestalterische Kraft aus der Mitte Gedanken zu Eugen Bisers theologischer Vision

Die folgenden Ausführungen wollen keine zumindest direkte Darstellung der einzelnen Themen der Theologie Eugen Bisers geben. Dies wäre im Rahmen eines solch kurzen Beitrages ohnehin nicht möglich. Es soll vielmehr zum Ausdruck gebracht werden, worin die entscheidenden Grundprinzipien des visionären Denkens Eugen Bisers bestehen, aus denen dann sowohl die Auswahl seiner Themen als auch ihre Gestaltung erwachsen. Es soll somit den energetischen Kernpunkten seines Denkens und Handelns auf den Grund gegangen werden. Dies soll nicht mittels eines diachronen, also geschichtlichen Nachweises von Wurzeln, Einflüssen und Entwicklungen seines Werkes geschehen. Ausgangspunkt der Reflexion soll die in der Begegnung mit Eugen Biser und seinem Werk immer wieder zu beobachtende Anrührung durch Jesus Christus sein. Diese legt eine die Zeitebene transzendierende und damit synchrone Interpretation seiner Theologie nahe. Aus den sich daraus ergebenden Konturen soll dann die innovative Kraft seiner Theologie dargestellt, sowie Imperative für Kirche, Theologie und Glauben abgeleitet werden.

1. Die Suche nach der Mitte Eugen Bisers theologisches Schaffen ist vor allem seit der Zeit seiner Übernahme des Guardini-Lehrstuhls wesentlich von der Suche nach der Mitte des Christentums geprägt. Leitendes Motiv dieser Auseinandersetzung ist zunächst eine von Eugen Biser immer wieder konstatierte Krise von Theologie, Kirche und Christentum. Er schreibt in seinem Buch „Glaubenserweckung“: Nur ein Blinder oder hoffnungslos Antiquierter kann sich darüber hinwegtäuschen, dass zu einem derartigen Aufruf (sich mit der Mitte des Christentums zu beschäftigen, d. Verf.) aller Anlass gegeben ist. Denn nach dem zu Ende gegangenen zweiten Jahrtausend seiner Geschichte droht dem Christentum, vor allem in seinem traditionellen Stammland, sein eigenes Ende.1

Zentraler Grund für diese Krise ist nach Biser der Verlust der Mitte des Christentums. Er bemerkt daher gleich zu Beginn der „Einweisung ins Christentum“, eines seiner wohl 1

Eugen BISER, Glaubenserweckung. Das Christentum an der Jahrtausendwende, Düsseldorf 2000, 18.

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Joachim Reger

zentralsten Werke: „Der krisenhafte Zustand, dem das Christentum nach vielen Anzeichen verfallen ist, hat seine auffälligste Ursache darin, dass die Peripherie zur vermeintlichen Mitte erhoben wurde, während die tatsächliche Mitte aus dem Blickfeld geriet.“2 Die Suche nach der Mitte des Christentums angesichts einer konkreten Krisensituation ist nun eigentlich nichts Außergewöhnliches. Denn die Geschichte der Kirche lässt sich in ihren Dogmen und Konzilien durchaus als stets neue Auslotung der Mitte angesichts konkreter Krisensituationen deuten. Darüber hinaus entspricht es der inkarnatorischen Grundverfasstheit des Christentums, dass es sein Zentrum immer wieder neu in die jeweilige Zeitsituation übersetzen muss. Die ständige Neuformulierung der Mitte ist somit kein Mangel oder Ausdruck von Schwäche. Sie ist vielmehr ein Zeichen der Stärke und der Vitalität des Christentums, das sich die innovative Kraft zur Vergegenwärtigung bewahrt hat. Die Suche nach der Mitte wird, so gesehen, zur Wesensbestimmung des Christentums selbst. Eugen Bisers Bemühen, eine Neubestimmung der Mitte des Christentums zu wagen, ist aber insofern bemerkenswert, als die Notwendigkeit zu dieser Anstrengung vielfach nicht erkannt und gewürdigt wird. Dies liegt unter anderem daran, dass die gegenwärtige Krisensituation des Christentums in Europa immer wieder unterschätzt wird. Kritische Stimmen, welche diese Krise offen ansprechen, werden nicht selten als Bedenkenträger diffamiert, denen man die aus dem Glauben erwachsende Haltung der Hoffnung abspricht. Eugen Bisers Suche nach der Mitte des Christentums ist angesichts solcher Verdrängungen keineswegs selbstverständlich. Sie ist vielmehr in höchstem Maße notwendig, da sie die Schwere der Krise ernst nimmt und nach Auswegen sucht. Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die Suche nach der Mitte des Christentums nicht ohne Gefahren ist. Sie darf auf keinen Fall auf die Formulierung einer Essenz von Fundamentalartikeln hinauslaufen. Denn dann würde das Christentum zu einer statischen Weltanschauung erstarren. Es reicht nicht, sich angesichts der Krise des Christentums apologetisch abzugrenzen. Der Versuch, das Bleibende aus dem Christentum herauszudestillieren, beispielsweise durch dessen Reduktion auf das kirchliche Kerngeschäft, verfehlt insofern die Mitte des Christentums, als dieses, aufgrund seiner angesprochenen Kontextualität, den Wandel selbst zur Mitte hat. Die Offenbarung ist in Christus zwar unüberbietbar ergangen, muss aber stets neu vergegenwärtigt werden. Sie darf niemals zur Ruhe kommen. Einfache Lösungen des Relevanzproblems des Christentums verbieten sich daher. Eugen Biser entgeht nun genau dieser Gefahr, da das entscheidende Motiv seiner Neubestimmung der Mitte des Christentums nicht in apologetischer Abgrenzung, sondern vielmehr in einer tiefen Sorge, ja Liebe zu den Menschen besteht. Es ist daher kontextuell, dialogisch und deshalb dynamisch. Die Liebe duldet keine statische Abgrenzung, da sie sich ganz einlässt auf die Vielschichtigkeit des Menschen. Bisers Bestimmung der Mitte des Christentums trägt diese Dynamik der Liebe in sich und ist in der konkreten Begegnung mit ihm zu erfahren. Sie manifestiert sich in der Lebendigkeit seines gesprochenen Wortes und bestimmt zentral die Themen seines denkerischen Schaffens. 2

Ders., Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 1997, 9.

Gestalterische Kraft aus der Mitte

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Bisers Sprachphilosophie beispielsweise ist streng genommen keine Theorie der Sprache. Seine sprachtheoretischen Reflexionen dienen vielmehr, mittels des Aufweises der Barrieren der Kommunikation, der besseren Verständigung der Menschen. Die daraus erwachsende Durchlichtung des Sprachgeschehens soll den Menschen helfen, das Wort zu vernehmen, das ihnen fehlt. Die Angst, die Biser als zentrale Verfinsterung des menschlichen Horizonts der Gegenwart erkennt, soll durch die Bestimmung der Mitte des Christentums gemindert werden. Denn durch die Klarheit über die eigene Identität tritt jener Standpunkt hervor, der die zersetzende Kraft der Angst nachhaltig bannt. Bisers Anthropologie erschöpft sich nicht in einer theoretischen Beschreibung des Wesens des Menschen. Sie strebt vielmehr danach, den Menschen zu seinen Möglichkeiten zu führen. Bisers fundamentaltheologische Bemühungen um eine Begründung der Glaubensgewissheit sind keine erkenntnistheoretischen Versuche im Sinne der klassischen Gottesbeweise. Sie verstehen sich vielmehr als therapeutische Hilfestellungen für den nach Bergung suchenden Menschen. Und schließlich erwächst Bisers Meisterschaft in der Konturierung bedeutender Persönlichkeiten, allen voran Friedrich Nietzsches und Gertrud von Le Forts, primär nicht aus der Sorgfalt der Darstellung ihrer literarischen Gehalte, sondern ist Ausdruck der Liebe, die zu verstehen sucht. Eugen Biser sucht nach der Mitte des Christentums, weil er in dieser Mitte die heilende Quelle für den Menschen geschaut hat. Dieses leitende therapeutische Interesse ist weit mehr als eine bloß anthropologische Wende. Es ist die Umsetzung dessen, was Kierkegaard einst so prägnant formuliert hat: „Liebe den Nächsten als dich selbst.“ Diese Liebe zum Menschen bestimmt nicht nur die Auswahl der Themen des Biserschen Werkes. Sie stellt nicht nur das eigentliche Motiv seiner Suche nach der Mitte des Christentums dar, sondern verhindert auch, dass diese Mitte zu einer statischen Analyse degeneriert. Eugen Bisers Bestimmung der Mitte des Christentums entgeht aber nicht nur der Gefahr einer statischen Zementierung, sondern auch der einer apologetischen Abgrenzung. Denn die Konzentration auf die Mitte gibt die Kraft zu wahrer Entgrenzung, ist wie ein Standpunkt, der befähigt, in die Weite der menschlichen Vollzüge vorzudringen. Von daher bekommt das Werk Eugen Bisers jene kontextuelle Weite, die ihn befähigt, die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit zu durchdringen. Dies erklärt seine breite Palette an Themen, die sich nicht nur in der Behandlung philosophischer und theologischer Probleme erschöpfen, sondern die bis hinein in die Musik und die bildende Kunst reichen. Denn die Wahrnehmung der Welt aus der Mitte vernetzt alles mit allem, kann die gesamte Wirklichkeit von dieser Mitte und auf diese Mitte hin verstehen. Biser wird daher zum Brückenbauer nicht nur zwischen Kirche und Welt, sondern auch zwischen den Religionen, da die Weite seines Horizonts die Kraft in sich trägt, jede konfessionalistische Enge zu überwinden. Diese Weite ist die Mitte wahrer Katholizität, die aus der Klarheit über die Mitte des Christentums erwächst. Eugen Bisers dynamische Bestimmung der Mitte des Christentums trägt nun ein nachhaltiges Vermächtnis in sich, das zunächst einmal so einfach wie grundlegend ist. Die Mitte des theologischen wie des pastoralen Tuns muss die Liebe sein. Sie bildet den Kernpunkt der theologischen Forschung sowie des pastoralen Tuns. Jede Pädagogik, Methodik und Didaktik versagt, wenn sie nicht zentral von der Liebe geleitet wird, da

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Joachim Reger

nur die Liebe in der Lage ist, zur Mitte eines Sachverhalts wie einer Person vorzustoßen. Nur die Liebe trägt die Dynamik in sich, wirklich herauszurufen. Denn sie bewegt nicht nur den Liebenden, sich wirklich einzulassen, sondern gibt auch dem Geliebten das Vertrauen, sich herausrufen zu lassen. Wahre Liebe hat deshalb mit Sentimentalität nichts zu tun. Darüber hinaus lassen sich aus Bisers theologischem Vermächtnis Konsequenzen für das theologische Forschen und Arbeiten, sowie, ganz grundsätzlich, für das Leben der Kirche ableiten. Das pastorale Tun der Kirche erschöpft sich vielfach immer noch, vielleicht als Reaktion auf die gegenwärtige Krisensituation, auf die binnenkirchlichen Handlungsfelder. Diese Sichtweise verfehlt aber zunehmend die Wirklichkeit, da sich das Leben der Menschen, selbst das der Katholiken, in ganz anderen Bereichen vollzieht. Erneut erweist sich der Rückzug des kirchlichen Tuns auf das sogenannte Kerngeschäft als problematisch, wenn nicht gar als resignativ, da es die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nicht mehr erreicht. Die Gründe für diese Krise sind vielfältig und können an dieser Stelle nicht erörtert werden. Als Folge der angesprochenen Reduktion des kirchlichen Tuns ermangelt es der Kirche in Deutschland aber zunehmend an Kraft, die Welt inkarnatorisch zu durchdringen. Eugen Bisers Weite, die aus der Klarheit über die Mitte erwächst, kann ermutigen, die Enge der binnenkirchlichen Probleme und Perspektiven zu überschreiten und sich auf die wahren und wirklich wichtigen Handlungsfelder der Kirche zu konzentrieren. Eugen Biser gibt aber nicht nur wichtige Anregungen für das pastorale Tun der Kirche, sondern gleichfalls auch für die Theologie. Ihre gegenwärtige Krise resultiert nicht nur aus dem Rückgang an Theologiestudenten. Die Krise wird wesentlich auch dadurch bewirkt, dass die Relevanz der Theologie für das pastorale Leben der Kirche wie für die Problemfelder der Gemeinschaft nicht mehr deutlich genug wahrgenommen wird. Vielleicht erscheint sie gegenwärtig gerade deshalb im Kanon der universitären Disziplinen zunehmend als angefochten. Eugen Bisers theologische Konzeption trägt durch ihre universale Perspektive das Potential in sich, die Relevanz der Theologie für die Kirche, die Gesellschaft und den Kanon der universitären Disziplinen wieder neu ins Bewusstsein zu rufen. Mit den bisherigen Gedanken wurde versucht, das Leben und Werk Eugen Bisers als Kraft aus der Mitte formal zu charakterisieren. Eine solch formale Konturierung reicht aber gerade im Zusammenhang mit der Darlegung der Biser’schen Theologie nicht aus. Ihr Kernpunkt tritt erst dann hervor, wenn die inhaltliche Bestimmung der Mitte seiner Theologie erfolgt. Sie ist in einer tiefen Ergriffenheit durch Jesus Christus zu suchen.

2. Eugen Bisers mystische Christuserfahrung Die christozentrische Bestimmung der Mitte in Eugen Bisers theologischem Werk erscheint für einen christlichen Denker zunächst eine Selbstverständlichkeit, ja geradezu

Gestalterische Kraft aus der Mitte

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eine Trivialität zu sein. Christliches Denken hat Jesus Christus als seinen Anfangs- wie seinen Zielpunkt zu nehmen! Eugen Biser belegt dies in seinen zahlreichen christologischen Werken mit Nachdruck. Die Besonderheit seines Denkens kommt aber erst dann in den Blick, wenn wahrgenommen wird, dass Biser nicht nur Wissenswertes über Jesus Christus berichtet, sondern in eine mystische Gottesbegegnung einführen will, die ihn selbst ergriffen hat. Christus ist ihm nicht nur inhaltliche Mitte des Christentums. Er ist ihm als innerer Lehrer Kraftquelle, energetischer Ursprung seines Denkens und Tuns. Eugen Biser erinnert insofern an einen Menschen in einer Passage aus dem Hohenlied. Dort ist von einer Person die Rede, die getrieben wird von einer Liebe, die sie nicht mehr loslässt und die sie geradezu zwingt, aufzustehen und sich auf die Suche nach dem Geliebten zu machen. Dieser Geliebte ist nach Ansicht des Alten Testaments Gott selbst. Es heißt dort: Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich packte ihn (und, d. Verf.) ließ ihn nicht mehr los [...]. (Hld 3,1–4a, Einheitsübersetzung)

Analog zur Passage des Hohenliedes wurzelt Eugen Bisers theologisches Schaffen in einer tiefen Verbindung mit Christus, die ihn bewegt, die christliche Botschaft in alle Bereiche des menschlichen Lebens hineinzutragen. Die Erfahrung der Liebe Christi hat Biser geformt und zwingt ihn geradezu, ähnlich wie schon den Apostel Paulus, Christus zu bekennen, sei es gelegen oder ungelegen. Die Bemerkung des Apostels Paulus in 1 Kor 9,16 trifft daher unmittelbar den Kernpunkt des Biser’schen Denkens, wie seines Tuns: „Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ Die Mitte des Biser’schen Denkens kommt daher nicht wirklich in den Blick, wenn bestimmte Inhalte seiner Werke dargelegt werden. Sie leuchtet vielmehr erst dann auf, wenn sein Denken als durch die mystische Einung mit Christus inspiriert gesehen und von daher ausgelegt wird. Deshalb greift eine vorwiegend diachrone Erklärung seines Denkens zu kurz. Man kann sein Werk beispielsweise als von Nietzsche, Kierkegaard, Schleiermacher oder Pascal beeinflusst deuten. Man kann einen philosophie- wie theologiegeschichtlichen Bogen von der Gegenwart über die franziskanische Tradition des Mittelalters bis zu Augustinus spannen. Alles dies mag interessant sein, trifft aber den Kernpunkt seines Denkens nicht. Dieser erschließt sich vorwiegend synchron, also aus der unmittelbaren, inneren Schau der Liebe Christi. Die Faszination und Innovationskraft der Biser’schen Theologie liegt somit in ihrer radikalen Christozentrik begründet, im Sinne einer mystischen Einwohnung, die dann alle Themen evoziert und durchformt. Diese Ergriffenheit durch Christus kommt zentral in seiner Christologie von innen zum Ausdruck. Diese stellt, aus den genannten Gründen, aber primär keine theologische

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Joachim Reger

Konzeption dar, sondern ist die Manifestation einer unmittelbaren Gotteserfahrung. Wenn Eugen Biser daher, entgegen der weit verbreiteten Tradition, den Apostel Paulus nicht aus der ihn quälenden Frage der Rechtfertigung des Menschen vor Gott heraus versteht, sondern die Mitte des paulinischen Denkens und Tuns in der mystischen Einwohnung Christi im Damaskuserlebnis verortet, dann kommt darin die Mitte seiner eigenen theologischen Vision zum Ausdruck. Dies darf aber nicht als verfälschende Projektion verstanden werden, sondern ist Ausdruck eines gemeinsamen Ursprungs mit Paulus, der erst den Weg zu wirklicher Verständigung bahnt. Deshalb gewinnt, um noch ein weiteres zentrales Themenfeld des Biser’schen Werkes zu nennen, die performative und nur synchron zu erhellende Qualität der Sprache eine so große Bedeutung in seinem Werk. Sprache ist, ganz in Anlehnung an de Saussure und Wittgenstein, für Biser keine bloße Informationsmitteilung im Sinne des Sprachpositivismus, sondern erschließt ganze Lebenswelten. Denn die Dynamik der mystischen Einwohnung in Christus kann durch eine Sprache, verstanden als formalisiertes Zeichensystem, nicht mitgeteilt werden. Sie ruft nach dem gesprochenen, da zu Herzen gehenden Wort, das dem Menschen gegenwärtig so fehlt. Die Konsequenzen dieser mystischen Verwurzelung der Biser’schen Theologie für den Glauben, die Theologie wie für die Kirche sind eminent und können hier nur angedeutet werden. Im Bereich des Glaubens führt der mystische Ursprung der Biser’schen Theologie zu einer Personalisierung der Christusbeziehung. Dem Glaubenden begegnet in Christus eine Person, die ihn zuinnerst betreffen will. Sie ruft ihn heraus, die Nachfolge nicht nur, eher unbeteiligt, im Sinne eines bloßen Für-wahr-Haltens zu verstehen, sondern diese als verantwortliche und freiheitliche Person zutiefst existentiell zu vollziehen. Hier liegt der tiefere Grund der immer wiederkehrenden Grundthese Eugen Bisers, dass man „[…] vom Satz- zum Erfahrungsglauben, vom Gehorsams- zum Verstehensglauben und vom Leistungs- zum Verantwortungsglauben […]“, also letztlich „[…] vom Autoritäts- zum Identitätsglauben […]“ gelangen müsse.3 Die innovative Kraft dieser These entfaltet sich nicht mittels einer theologiegeschichtlichen Betrachtungsweise, indem man sie beispielsweise als eine Überwindung des eher monolithischen Offenbarungsverständnisses des Ersten Vatikanischen Konzils versteht. Die These wird auch missverstanden, wenn sie als antiautoritärer Affekt interpretiert und für eine Kritik an bestimmten Strukturen innerhalb der Kirche nutzbar gemacht wird. Der Kernpunkt der Biser’schen Grundthese tritt erst dann hervor, wenn diese als Essenz einer unmittelbaren Gotteserfahrung gedeutet wird. In ihr offenbart sich Gott als Person. Der personale Gott ruft den Menschen unbedingt an und zeigt ihm gerade durch diesen Anspruch, dass er aufgerufen ist, mittels der Bindung an Christus, zu seinen je eigenen Möglichkeiten zu finden. Durch diese von Eugen Biser vollzogene Einwurzelung des Glaubens in die mystische Innerlichkeit der Person wird die Offenbarungswirklichkeit eminent dynamisiert. Sie vollzieht sich in Analogie zur Begegnung zweier Menschen. Die Mitte des christlichen Glaubens wird daher immer dann verfehlt, wenn von einem Gott ausgegangen 3

Ders., Das Antlitz. Eine Christologie von innen, Düsseldorf 1999, 21.

Gestalterische Kraft aus der Mitte

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wird, mit dem man meint, fertig werden zu können. Dem ins Bild Setzenden verschließt sich das Geheimnis Gottes, da dieses in dem Maße wächst, wie es ergründet wird. Eugen Bisers Denken ist deshalb grundsätzlich skeptisch gegenüber einer objektivierenden Systemik, da diese die Offenheit der personalen Gottesbeziehung niemals einfangen kann. Aus diesem Grund entgeht Eugen Bisers Betonung der Liebe Gottes mittels der Qualifizierung Jesu als Freund jener sentimentalen Konnotation, welche diesen Begriffen nicht selten anhängt. Denn diese Liebe, diese Freundschaft wurzelt in jenem unbedingten Anruf Gottes, der den Menschen befähigt, seine Ängste und engen Grenzen zu überschreiten und sich auf das Abenteuer der Nachfolge einzulassen. Dies ist keineswegs immer angenehm, da der gegenwärtig so in Angst gefangene Mensch dazu neigt, in der Enge seines eigenen Horizonts zu verbleiben. Eugen Bisers mystische Bestimmung der Mitte des Christentums hat nun nicht nur unmittelbare Konsequenzen für den Glauben, sondern gleichfalls für die christliche Theologie. Wenn das Zentrum des Christentums die personale Beziehung zu Jesus Christus ist, dann kann dieses letztlich nicht distanziert, objektivierend verhandelt werden. Selbstverständlich soll damit nicht gesagt werden, dass Theologie nicht mit Sachverstand und gedanklicher Schärfe betrieben werden muss. Der Glaube beginnt nicht dort, wo die Vernunft aufhört, sondern der Glaube wächst in dem Maß, wie er vernünftig ist. Aus Eugen Bisers mystischer Bestimmung des Christentums folgt aber zwangsläufig, dass die Mitte des Christentums nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich verfehlt wird, wenn diese Ergriffenheit nicht wesentlicher Bestandteil der theologischen Reflexion selbst ist. Würde sie eingeklammert, dann ginge es einem Theologen wie einem Musiker, der zwar Vieles über die Musik weiß, aber ihre Seele nicht geschaut hat. Selbst wenn er sein Instrument virtuos beherrschte, würde er nur Töne hervorbringen, aber keine Musik machen. Eugen Bisers Theologie ist daher insofern exemplarisch, als in ihr deutlich wird, dass diese ihrer Erkenntniswirklichkeit nur dann gerecht wird, wenn sie glaubend zu verstehen sucht. Sie hat ihren Ausgangs- und Zielpunkt in der Ergriffenheit durch Jesus Christus zu nehmen. Theologie ist, so verstanden, grundsätzlich Verkündigung, denkerisches Ergründen einer stets gegenwärtigen Ergriffenheit durch Christus. Eugen Bisers Theologie überwindet daher die gegenwärtig wachsende Diastase zwischen theologischer Wissenschaft und pastoraler Praxis. Sie tut dies primär nicht mittels wissenschaftstheoretischer Hinweise oder methodischer Bemühungen, sondern einfach aufgrund ihres Verweises auf Jesus Christus, der als innerer Lehrer Theorie und Praxis als komplementäre Seiten der einen Glaubenswirklichkeit sichtbar macht. Die Diskreditierung einer solchen Theologie als „Spiritualität“ offenbart eine Entfernung der theologischen Reflexion von der Mitte, die zu Besorgnis Anlass gibt. Schließlich hat Eugen Bisers mystische Charakterisierung der Mitte des Christentums nicht nur Auswirkungen auf die Bestimmung des christlichen Glaubens und der Theologie, sondern unmittelbare Folgen für die Konturierung des Wesens der Kirche. Eugen Biser hat keine Ekklesiologie vorgelegt. Seine theologische Vision ist aber ekklesiologisch insofern relevant, als sie die Kirche unmittelbar aus der Mitte des Christentums versteht und von dort eine kritische Bestandsaufnahme zum Zwecke der Reform erfolgt.

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Joachim Reger

Diese erschließt sich zunächst in Eugen Bisers knapper wie eingehender Formulierung: „Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion […].“4 Mit dieser Bemerkung ist nicht nur der Hinweis verbunden, dass die Kirche ihre Mitte, also die innere, eben mystische Verwurzelung in Christus, nicht aus den Augen verlieren dürfe. Der Hinweis Eugen Bisers deutet gleichfalls an, worin sich gegenwärtig der Verlust der Mitte der Kirche manifestiert. Die Kirche verliert ihre Mitte, wenn sie sich selbst als Hüterin der Moral versteht, beziehungsweise sich von der Gesellschaft als solche instrumentalisieren lässt. Gleiches gilt im Übrigen für ihr Wirken im Bereich der Kultur beziehungsweise der Caritas. Die Kirche hat sicherlich einen wichtigen Auftrag in diesen Bereichen. Ihr diesbezügliches Engagement steht aber nur dann in Übereinstimmung mit der Mitte des Christentums, wenn dieses als Ausdruck einer tiefen Bindung an Jesus Christus vollzogen wird und nicht zu dessen Ersatz wird. Eugen Biser sieht den Verlust der Mitte des Christentums im Bereich der Moral als besonders verhängnisvoll an. Denn die Abkoppelung des Christentums von seiner Mitte pervertiert das christliche Ethos, da es nicht mehr Ausdruck der göttlichen Liebe ist, sondern zu einer versklavenden Kontrollinstanz wird. Die Kirche mutiert dann, wie lange Zeit geschehen, zu einer kasuistischen, den moralischen Zeigefinger erhebenden Institution. Sie verschärft dann gerade jene Grundverfasstheit des Menschen, der sie heilend begegnen sollte: die Angst. Die Angstverkündigung der Kirche, der Eugen Biser so vehement entgegentritt, kann somit als Verlust ihrer Mitte gedeutet werden. Sie drängt Eugen Biser, eine weitere Präzisierung des Christentums vorzunehmen: „Das Christentum ist keine asketische, sondern eine therapeutische Religion […].“5 Mit der Gegenüberstellung von Therapie und Askese soll nun der herausfordernde und nicht selten mühselige Weg der christlichen Nachfolge nicht verharmlosend umgangen werden. Es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, dass die dem Christentum innewohnende Askese nicht aus Leibverachtung oder Jenseiterei erwächst, sondern in der Liebe Jesu Christi gründet. Sie bewegt aufzustehen und sich auf die Suche nach Jesus Christus zu machen, was stets eine Überschreitung der eigenen Bedürfnisse fordert. Die Überwindung der Angst kann somit nur dann geschehen, wenn die Askese nicht als lieblose Forderung der Kirche an die Menschen herangetragen wird, sondern diese als aus der Liebe Christi selbst erwachsende Entgrenzung verstanden wird. In den zurückliegenden Überlegungen wurde der Versuch unternommen, das breite geistige Spektrum, den Tiefgang und die Innovationskraft der Biser’schen Theologie zu würdigen. Dies konnte aufgrund der gebotenen Kürze nur fragmentarisch geschehen. Das Zentrum des Biser’schen Denkens wurde formal in seiner Suche nach der Mitte des Christentums gesehen, die, bewegt von der Sorge um den Menschen, der Versuchung einer statischen und abgrenzenden Bestimmung entgeht. Jesus Christus selbst ist die inhaltliche Wurzel dieser Mitte, die von Eugen Biser nicht objektivierend verhandelt wird, da er zutiefst von der Erfahrung der Liebe Christi erfüllt und geformt wurde. Das zentrale Vermächtnis seiner Theologie besteht somit in der heilenden wie dynamisie4 5

Ders.: Einweisung, a.a.O. (Anm. 2), 92. Ebd.

Gestalterische Kraft aus der Mitte

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renden Erkenntnis, dass der christliche Glaube, die Theologie, aber auch die Kirche an dieser Verwurzelung in Christus ihr Maß zu nehmen hat. Der Imperativ der Biser’schen Theologie beinhaltet damit die grundlegende Frage, ob der Mensch angeben kann, was ihn wirklich ergriffen hat und was ihn befähigt, zum Instrument für eine höhere Wirklichkeit zu werden. Eugen Biser hat diese Antwort durch sein Denken und Tun gegeben. Er ist von Christus ergriffen worden, so dass auf ihn das Wort des Apostels Paulus in Gal 2,20 zutrifft: „[…] nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

MARTIN THURNER

Gotteskindschaft Das unerreichte Ziel des Mensch-Seins in der Theologie Eugen Bisers

Wer in den Genuss kam, Eugen Biser als Universitätslehrer oder Prediger zu hören, der wird einen unvergesslichen Eindruck von diesem einzigartigen Theologen erhalten haben. Obwohl er in seinem geradezu biblisch langen Leben zahlreiche Schwierigkeiten und herbe Enttäuschungen hinnehmen musste und seit jungen Jahren an einer Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg leidet, waren und sind all seine Äußerungen und Taten stets von einem ungebrochenen Optimismus getragen. Während in den jüngeren Generationen (innerhalb und außerhalb der Kirche) sich zunehmend rückwärtsgewandter Fundamentalismus, Stagnation, Resignation oder auch nur Gleichgültigkeit breit machen, richtet sich die Hoffnung des Neunzigjährigen gerade und ausdrücklich auf die Zukunft. Seine Gedanken sind stets von einer visionären Kraft beseelt. Wenn man sich nun fragt, woher dieser Mann von eher kleiner Körperstatur seine schier unerschöpflich anmutenden Energien und Hoffnungen nimmt, würde man von ihm selbst wohl unmittelbar eine ganz eindeutige Antwort bekommen: Eugen Biser schöpft die Kraft seiner Lebendigkeit aus dem christlichen Glauben. Für uns ist aber das Geheimnis dieses Mannes damit noch nicht ganz gelöst, denn wir alle kennen bekennende Christen, denen wir nicht jenes Maß an uneingeschränkter Bewunderung entgegenbringen können wie Eugen Biser. Es muss daher wohl an seinem besonderen Verständnis des Christentums liegen und an der Weise, wie er dieses zu vermitteln und vorzuleben weiß. Von daher stellt sich die Frage, wie Eugen Biser als Theologe das Christentum theoretisch und existenziell einlöst. Wer Eugen Bisers Faszination verstehen will, ist daher auf sein theologisches Werk zurückverwiesen. Jedoch ist das leichter gesagt als getan. Denn von ihm gibt es Hunderte von theologischen Büchern und Beiträgen, von den vielen spontan gehaltenen mündlichen Vorträgen und Predigten ganz abgesehen. Er ist damit einer der produktivsten Autoren unserer Zeit. Trotz der schier unüberschaubaren Fülle seiner Schriften ist sein Denken dennoch nicht unübersichtlich. Von seinen frühesten Arbeiten an, seiner Heidelberger Doktorarbeit über die Religionskritik Friedrich Nietzsches, bis heute zieht sich ein tragendes Grundanliegen gleichsam wie ein roter Faden. Als ob er sein Gesamtwerk wie eine Symphonie mit verschiedenen Themen und Motiven komponiert hätte, die sich am Schluss in einer Coda zu einem überwältigenden Höhepunkt steigern, stellen seine Bücher aus den letzten Jahren eine Art konzentrierte Synthese von theolo-

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Martin Thurner

gischen Bausteinen aus fast einem Jahrhundert intensivem und engagiertem Nachdenken dar. Seit längerer verfolgt Eugen Biser ein Projekt, mit dem er sein theologisches Werk abschließend zusammenfassen und krönen möchte. Er arbeitet an einer theologischen Trilogie, also einem Werk aus drei Teilbänden, in denen seine Deutung des Christentums im Zusammenhang dargestellt werden soll. In der Theologie weckt der Gedanke an eine Trilogie natürlich sofort die Assoziation zum zentralen christlichen Glaubensgeheimnis der Trinität, dem Glauben daran, dass der christliche Gott eine lebendige Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist. Dementsprechend verhält es sich auch im Falle von Eugen Bisers Trilogie: Der erste Band ist Gott als Vater gewidmet und trägt den Titel „Gotteskindschaft“, der zweite Band soll Jesus Christus als den inwendigen Lehrer des Menschen zum Inhalt haben und soll dementsprechend den Titel „Christomathie“ haben, der abschließende Band wird „Geistesgegenwart“ heißen und die Bedeutung des Heiligen Geistes für Gegenwart und Zukunft des Christentums zum Thema haben. Es entspricht der inneren Logik einer Trilogie, dass der erste Baustein gleichsam das Fundament darstellt, auf dem alles Weitere aufgebaut wird. Von daher ist es naheliegend und gerechtfertigt, im Thema „Gotteskindschaft“ den inneren Kern von Eugen Bisers Theologie des Christentums zu sehen. In seinem 2007 erschienenen Buch „Gotteskindschaft. Die Erhebung des Menschen zu Gott“ stellt Eugen Biser dies auch ausdrücklich so dar.1 Jeder Bibel-Leser und Kenner der Geschichte der christlichen Spiritualität kennt natürlich den Gedanken der Gotteskindschaft: „Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt, dass wir Gottes Kinder nicht nur heißen, sondern es sind“ (1 Joh 3,1) – so heißt es an der klassischen Stelle im Ersten Johannesbrief. Mit Ausnahme einiger mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Mystiker (Meister Eckhart, Jacob Böhme) hat aber kaum ein Theologe den Gedanken der Gotteskindschaft so sehr ins Zentrum der Theologie gestellt und von daher den Sinn des Christentums erschlossen, wie Eugen Biser es macht. Wie kommt er nun dazu, diesen alten und in der Theologiegeschichte nur mehr oder weniger verfolgten Gedanken so sehr zu aktualisieren und in die Mitte zu rücken? Um das nachvollziehen zu können, muss man zu den Anfängen des theologischen Denkens von Eugen Biser selbst zurückgehen. In einer Zeit vor dem Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, wo dies alles andere als selbstverständlich war, hat sich Eugen Biser als junger Priester und Religionslehrer ebenso ausgiebig wie fundiert mit den scharfen Kritikern des Christentums auseinandergesetzt, allen voran mit jenem Philosophen, der sich selbst unumwunden als den Antichristen bezeichnet hat, mit Friedrich Nietzsche. Dabei ist es für Eugen Biser und sein Selbstverständnis als Christ charakteristisch, dass er die bisweilen polemisch zugespitzte Kritik Nietzsches am Christentum nicht seinerseits aus der Warte des Christentums apologetisch-polemisch zurückwies, wie das zu jener Zeit im katholischen Milieu üblich war, sondern, ganz dem christlichen Gedanken „Liebe deine Feinde“ gemäß, offen und sachlich auf die Kritik eingegangen ist und vorurteilslos frei nach ihren Ursachen und Wurzeln gefragt hat. Dabei konnte er die Entdeckung machen, dass vieles was Nietzsche am Christen1

Eugen BISER, Gotteskindschaft. Die Erhebung des Menschen zu Gott, Darmstadt 2007.

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tum kritisiert, auch aus einer genuin christlichen Sicht selbst zu kritisieren wäre. Die Auseinandersetzung mit dem Christentumskritiker Nietzsche schärft beim christlichen Theologen Eugen Biser den Blick dafür, dass im Laufe der Christentumsgeschichte vieles als christlich verkauft worden ist, was eigentlich das ursprünglich helle christliche Gottesbild verdunkelt und geradezu in sein Gegenteil pervertiert hat. In einer selbstkritisch auf die Christentumsgeschichte bezogene Leseweise kann Biser entdecken, dass der Zerstörer des Christentums Friedrich Nietzsche auch als ein Erneuerer des Christentums gelesen werden kann, wie dies aus einem berühmten Buchtitel Eugen Bisers hervorgeht („Friedrich Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?“). Gerade weil Nietzsche die lebensverneinenden Elemente in der Geschichte des Christentums so radikal zur Sprache bringt, kann er den Blick auf den ursprünglichen Sinn des Christentums frei machen. Eugen Biser als theologischer Interpret Nietzsches kann diesen überraschenden Untergrundeffekt von Nietzsches Generalangriff auf das Christentum freilich seinerseits viel deutlicher sehen, als dies dem Autor Nietzsche selbst möglich war, da dieser seinen ausdrücklichen Intentionen nach gerade nicht an einer Freilegung des ursprünglichen Christentums arbeitete, sondern im Gegenteil dessen endgültige Destruktion im Sinn hatte. So begegnen uns im Werk Nietzsches zahlreiche Elemente, die er oberflächlich gesehen aus christentumsfeindlicher Intention ins Feld führt, die sich aber überraschenderweise bei genauerer theologischer Betrachtung eigentlich als genuin und ursprünglich christliche Phänomene erweisen. Auf frappierende Weise ist dies bei einem Thema der Fall, das eigentlich zu den Grundphänomenen des Christentums gehört, im Laufe der Christentumsgeschichte aber verdrängt worden ist und erst bei Nietzsche wieder in sein volles altes Recht eingesetzt wird. Ich meine das Phänomen des „Kind-Seins“, das eigentlich, da der christliche Gott sich zuerst als das neugeborene Kind in Bethlehem geoffenbart hat, für jede christliche Theologie das A und O sein müsste, aber fatalerweise erst beim Christentumszerstörer Nietzsche eine zentrale Stelle in einem philosophischen System einnimmt. Normalerweise denkt man bei Nietzsche an den „Übermenschen“ und assoziiert diesen mit dem Monster der „blonden Bestie“. Wer aber bei Nietzsche in jener Schrift „Also sprach Zarathustra“ genauer nachliest, wie der Übermensch seinem Erfinder nach bestimmt sein soll, der erlebt eine Überraschung: Jene Seinsweise, die dem Übermenschen nach Nietzsche am meisten und allein entspricht, ist das Sein des Kindes. Der Zarathustra-Autor macht dies in der berühmten Gleichniserzählung „Von den drei Verwandlungen“ deutlich. Drei Verwandlungen habe der Mensch individuell und die Menschheit als Gattung durchzumachen: vom Kamel über den Löwen bis hin zum – Kind! Das Kind-Sein erscheint bei Nietzsche als die Spitze der menschlichen Möglichkeiten, die selbst noch die Stärke und den Machtwillen des Löwen hinter sich lässt. Wie Nietzsche das meint, ist leicht aus den von ihm verwendeten Bildern zu entschlüsseln. Das die schweren Lasten durch die Wüste tragende Kamel ist ein Sinnbild für den unter dem äußeren Diktat einer lebensfeindlichen und erdrückenden Moral stehenden und zerbrechenden Menschen in einer ethischen Heteronomie. Daraus befreit sich der Mensch in einem ersten und wichtigen Schritt, durch den er seine moralische Autonomie gewinnt. Im Schrei des Löwen manifestiert sich der Mensch, dem nicht mehr gesagt wird „du musst“, sondern der aus eigener Kraft heraus sagt „ich will“. Doch offenbar ist

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für Nietzsche mit dem autonomen Machtwillen noch nicht die höchste Freiheitsstufe für den Menschen erreicht. Dazu bedarf es der dritten und abschließenden Verwandlung des Löwen zum Kind. Das Kind-Sein ist deshalb für Nietzsche der Inbegriff menschlicher Freiheit, weil das Kind ohne Grund frei spielt, ohne damit eine Funktion in den gesellschaftlichen Strukturen einzunehmen, ohne damit wirtschaftliche Gewinn-Zwecke zu verfolgen, rein aus einer im Grunde ästhetisch motivierten Freude am Sein und Leben heraus. Das spielende Kind bejaht das Leben, so wie es ist, und freut sich daran. Es ist frei von allen gesellschaftlichen Zwängen und selbst auferlegten Erfolgsmaximen. Es bedurfte mehr als ein Jahrhundert, bis entdeckt wurde, dass Nietzsche mit seiner Deutung des Kind-Seins als Erfüllung menschlicher Freiheitsmöglichkeiten im Grunde genommen einen Gedanken artikuliert hat, der für den christlichen Glauben ganz zentral ist. Von Nietzsches Aussagen über die philosophische Bedeutung des Kind-Seins ausgehend erscheint auch die Tatsache in ganz neuem Licht, dass es zuerst der christliche Gott war, der sich durch seine Geburt aus Maria als Kind geoffenbart hat. In dieses von Nietzsche mit ermöglichte neue Licht wird diese zentrale christliche Glaubensbotschaft von Gott als Kind erst in der Theologie Eugen Bisers gerückt. Nach Eugen Biser ist die Gotteskindschaft der Spitzenbegriff der christlichen Anthropologie, ja der Anthropologie überhaupt. Kind-Sein ist nach Eugen Biser der Inbegriff einer höchstmöglichen Freiheit, denn das Kind ist gesellschaftlich noch nicht auf eine bestimmte Rolle fixiert und festgelegt, wie dies beim Erwachsenen der Fall ist. Beim Kind sind noch alle Möglichkeiten offen. Von daher gleichen die Kinder jenen Menschen, die von der Gesellschaft diskriminiert und ausgestoßen werden, denn auch diesen Menschen wird eine bestimmte Funktion und Rolle in der Gesellschaft verweigert. Eugen Biser entdeckt einen tieferen inneren Zusammenhang darin, dass sich der biblische Jesus in seiner Umwelt den Ausgestoßenen, Kranken, Armen und den Kindern gleichermaßen zugewandt und ihnen das Evangelium vom Reich Gottes verkündet hat. Denn all diesen Menschen ist es gemeinsam, dass sie außerhalb einer gesellschaftlichen Prägung leben und in diesem Sinne mehr an Freiheit verwirklichen, als die etablierten Erwachsenen. Im Hinblick auf diese Zusammenhänge kann Biser auch gleich ein mögliches Missverständnis seiner Theologie der Gotteskindschaft eliminieren: Es geht dabei keineswegs um eine Verniedlichung oder Infantilisierung des Menschen, sondern um eine Erhebung des Menschen in seine höchsten Freiheitsmöglichkeiten, nämlich in seine Möglichkeiten, alles werden zu können. Wenn Eugen Biser in seinem Buch über die Gotteskindschaft im Untertitel von der „Erhebung des Menschen zu Gott“ spricht, so markiert er damit auch eine wesentliche Differenz zwischen seiner Theologie der Gotteskindschaft und der Philosophie des Kind-Seins bei Friedrich Nietzsche. Während es bei Nietzsche mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt wird, dass der Mensch sich selbst auf die Höhe des freien Kind-Seins verwandelt, es aber dabei nicht reflektiert wird, ob der Mensch aus eigener Kraft dazu überhaupt in der Lage ist, sagt Eugen Biser ganz eindeutig, dass die Verwandlung des Menschen zum Kind Gottes nicht des Menschen eigenes Werk sein kann. Da die Freiheit des Gotteskindes das Ziel des Mensch-Seins ist, als solches aber noch keineswegs verwirklicht wurde, wie die vielen politischen, moralischen und religiösen

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Knechtsverhältnisse hinlänglich bezeugen, in denen sich der Mensch auch heute noch befindet, kann der Mensch diese höchste Freiheitsstufe nicht selbst hervorbringen. Er muss vielmehr dahin „erhoben“ werden, was nur von jener Freiheit selbst bewirkt werden kann, auf die hin der Mensch ausgerichtet ist. Die absolute Freiheit des Kind-Seins aber ist identisch mit jener absoluten Freiheit, die Gott selbst ist. Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft kann daher nur durch Gott selbst in seiner Freiheit vollzogen werden. Das christliche Heilswerk, wie es im Leben Jesu und im Neuen Testament bezeugt ist, stellt sich für Eugen Biser fundamental als dieser Prozess der Erhebung des Menschen in die Freiheit der Gotteskindschaft dar. Der Gottessohn Jesus Christus gewinnt dabei die Bedeutung, dass Gott in ihm den Menschen jene Freiheit des Gotteskindseins als Zielbestimmung menschlichen Seins nicht nur ansichtig gemacht hat, sondern auch vermittelt und geschenkt hat. Das erste vollkommene Gotteskind Jesus Christus ist daher nicht nur ein beliebiges Modell für die Gotteskindschaft als das in der Zukunft zu erreichende Ziel des Mensch-Seins, sondern deren ebenso einziges wie notwendiges Prinzip. Diese Bedeutung Jesu als prinzipieller Vermittler der Gotteskindschaft ergibt sich dabei nach Eugen Biser primär aus dem zentralen Inhalt der Gottesverkündigung Jesu. Jesus hat Gott in radikaler Eindeutigkeit als die Liebe verkündigt und als den Vater beim Namen genannt. Dadurch wurde Jesus nach Eugen Biser zum „größten Revolutionär der Religionsgeschichte“. Denn während alle anderen Offenbarer und religiösen Traditionen Gott als Wesen zeigten, das für den Menschen Gegenstand von Liebe und Furcht zugleich war, hat Jesus diese Ambivalenz im Gottesbild irreversibel durch die Absolutheit der Liebe Gottes überwunden. Nach Jesus braucht und darf Gott nicht mehr Anlass für Furcht und Angst des Menschen sein, sondern im Gegenteil die Zusage dessen, dass der Mensch radikal und unwiderruflich in seinem Sein gewollt und angenommen ist. Erst in dieser Gewissheit der liebenden Annahme durch Gott kann der Mensch sein eigenes geschöpfliches Sein voll und ganz selbst annehmen und damit frei er selbst sein. Das freie Selbstsein des Menschen setzt daher die Entdeckung Gottes als des liebenden Vaters unbedingt voraus, wie sie von Jesus Christus geleistet worden ist. Nur durch die Offenbarungsleistung Jesu Christi kann der Mensch daher das werden, was er sein soll, nämlich Kind Gottes. Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft setzt den Glauben an Jesus Christus voraus, oder – anders gesagt: Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft ist der tiefere und letztliche Sinn des Glaubens an Jesus Christus. Der christliche Glaube ist dann verdunkelt und pervertiert, wenn er dieser hohen Zielsetzung nicht mehr dienen kann und den Menschen zurück in jene alte Knechtschaft führt, aus der er ihn eigentlich befreien soll. Mit diesem Gedanken ist der tiefere Grund dafür erreicht, warum nach Eugen Biser Zukunft der Menschheit und christlicher Glaube unzertrennbar miteinander verbunden sind. Auf dem geschichtlichen Weg zur Höhe der Gotteskindschaft war und ist der Mensch ebenso gefährdet wie der christliche Glaube und von den düsteren Abgründen des Versagens bedroht. Ebenso, wie der Mensch häufig seine Zielbestimmung der Gotteskindschaft verfehlt hat und in tierisch brutale Barbarei zurückverfallen ist, hat auch der Glaube in seiner Geschichte seine Bestimmung allzu oft verraten, den Menschen in die Freiheit der Gotteskindschaft zu führen. Die prinzipielle Bedeutung, die Eugen Biser

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dem christlichen Glauben für eine Freiheitszukunft der Menschheit zuspricht, darf also keineswegs als Grund zu Selbstüberschätzung oder Hochmut missverstanden werden. Geradezu das Gegenteil ist der Fall. Im Blick auf seine eigentliche Sendung als Prinzip der Gotteskindschaft muss das Christentum ein hohes Potential an Selbstkritik entfalten. Nur wenn das Christentum sich ausdrücklich und radikal von seinen vergangenen und gegenwärtigen Fehlern distanziert, kann es sich so weit reinigen, dass es in der ebenso schwierigen wie gefährlichen Gratwanderung des Menschen auf dem Weg zum Gipfel der Gotteskindschaft diesen so sachte, behutsam und liebevoll führt, dass der Mensch in dieser für ihn so ungewohnten und unsicheren Höhe nicht verletzt wird oder gar abstürzt. Gerade aus seiner Urbestimmung als Weg zur Gotteskindschaft heraus muss der christliche Glaube erkennen, dass er umso sensibler und geradezu zart mit dem Menschen umgehen muss, je höher er ihn Gott entgegenführen will. Das Christentum der Zukunft muss, wie Eugen Biser im Anschluss an Kant sagt, seine unter Moral und Dogmatik verschüttete „Liebenswürdigkeit“ wieder entdecken und den Menschen neu bekannt machen. Um diese Position der Führung in der Erhebung des Menschen zur freien Höhe der Gotteskindschaft überhaupt legitimieren zu können ist nach Eugen Biser vom Christentum eine „glaubensgeschichtliche Wende“ zu leisten, wie sie katholischerseits mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwar eingeleitet, aber noch lange nicht endgültig durchgesetzt wurde. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ muss zum Prinzip von Theologie und kirchlicher Wirklichkeit werden: Konkret erforderlich auf dem Weg zur Gotteskindschaft ist daher eine Wende vom Gehorsams- zum Verstehensglauben, vom Bekenntnis- zum Erfahrungsglauben, vom Leistungs- zum Verantwortungsglauben, vom Gegenstands- zum Innerlichkeits- und Identitätsglauben. Eugen Bisers zukunftsgerichtete Vision der Gotteskindschaft wird daher zu einem Korrektiv gegenwärtiger Theologie, gegenwärtigen Glaubens und gegenwärtiger kirchlicher Wirklichkeit. Im Zusammenhang mit der prinzipiellen Bedeutung der Gestalt Jesu Christi für die Erhebung zur Gotteskindschaft ergibt sich freilich ein schwerwiegendes Problem, mit dem sich schon Gotthold Ephraim Lessing unter dem Titel „der garstige Graben“ ausgiebig beschäftigt hat: Wie können Menschen, die Jesus von Nazareth nicht wie die Jünger persönlich begegnet sind, überhaupt seiner Offenbarungsleistung teilhaftig werden, erst recht zweitausend Jahre nach seinem Tod? In seiner Antwort auf diese Frage erweist Eugen Biser den tieferen Sinn eines ebenso zentralen wie häufig missverstandenen Datums des christlichen Glaubens, nämlich des Glaubens an die Auferweckung Jesu von den Toten. Nach Eugen Biser hat diese für das Christentum identitätsstiftende Glaubensannahme keine im physikalischen Sinn zu verstehende Bedeutung, sondern einen tieferen spirituell-mystischen Sinn. Jesus Christus ist – so Eugen Biser – in die Herzen der Gläubigen hinein auferstanden. Er lebt fort in der Weise der Einwohnung im Inneren des Menschen, als der „inwendige Lehrer“ des Menschen, wie Eugen Biser in seiner „Christologie von Innen“ im Anschluss an die mittelalterliche Tradition sagt. In dieser mystischen Präsenzweise im Inneren des Gläubigen kann Jesus Christus den Grundbezug des Menschen zum liebenden Vatergott in noch viel höherem Maße bewirken als durch seine äußere Präsenz in der Mitwelt der Jünger. Durch diese Einwohnung des Auferstandenen verliert der Glaube an den liebenden Vatergott den Charakter einer

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rein äußerlichen Botschaft und wird zu einem lebendigen inneren Gottesverhältnis des Menschen. Wenn sich die Einwohnung des auferstandenen Christus im Menschen zur Intimität einer mystischen Einung steigert, verschwindet langsam die Differenz zwischen Jesus Christus und dem Gläubigen, ganz gemäß dem paulinischen „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“. In der von der Auferstehung bewirkten Einwohnung Jesu Christi im Herzen der Gläubigen ist der tiefere Grund dafür verborgen, dass nicht nur der Gottessohn Jesus Christus das Gotteskind ist, sondern dass in jedem Menschen die Potenzialität zur Gotteskindschaft eröffnet ist. Durch die Einwohnung Jesu als des inwendigen Lehrers, die „Christomathie“ kann der Mensch so mit Christus und seinem Bezug zum göttlichen Vater eins werden, dass er selbst „christusförmig“ wird, dass er schließlich selbst zum Sohn Gottes wird. Ähnlich wie Meister Eckharts Gedanke der Gottessohnschaft des Menschen birgt auch Eugen Bisers Theologie der Gotteskindschaft in der letzten Konsequenz die Möglichkeit, dass der Mensch im Verlauf eines sich in seinem Inneren ereignenden mystischen Prozesses so sehr von Gott auf dessen Höhe erhoben wird, dass er schließlich selbst über alles Kreatürliche hinaus mit Gott eins wird. Auch wenn ich dies bei Eugen Biser nirgends so direkt gelesen habe, so drängt es sich mir als das letzte Potenzial seiner Theologie der Gotteskindschaft doch auf: Die durch Jesus Christus innerlich ermöglichte Gotteskindschaft intendiert – so unerhört scheint es mir zu sein – letztlich die Vergöttlichung des Menschen. Höher kann vom Menschen wohl kaum gedacht werden, als es in der Theologie der Gotteskindschaft geschieht! Die Annahme der Gotteskindschaft als Spitzenbegriff der Anthropologie ist für Eugen Biser aber nicht nur eine neue und zugleich ursprünglich christliche Weise, vom Menschen zu denken und zu sprechen. Immer wieder macht Biser darauf aufmerksam, dass damit auch eine ganz neue und dem Hauptstrom der abendländischen Kultur gegenüber andersartige Weise einhergeht, nach dem Menschen zu fragen. In der klassischen Theologie und Philosophie wurde primär die Frage gestellt, „was der Mensch ist“, prominent etwa in Kants Frage „Was ist der Mensch?“. Demgegenüber erkennt Eugen Bisers „Neue Theologie“ der Gotteskindschaft, dass diese Art der Frage dem Menschen eigentlich nicht angemessen ist, weil sie auf ein gleichbleibendes Wesen zielt. Sie kann nicht nur keine angemessene Antwort finden, sondern ist von vornherein schon falsch gestellt. Da der Mensch keine fertige Wesensbestimmung besitzt, sondern vielmehr sich ständig auf dem Weg befindet, die in ihm angelegten Möglichkeiten bis hin zur Freiheit der Gotteskindschaft zu verwirklichen, kann man ihn nicht angemessen mit der Frage „Was ist der Mensch“ erkennen, weil der Mensch eben kein abgeschlossenes Wesen hat, das sich definieren und auf den Begriff bringen ließe. Dem Menschen als Wesen in ständiger Entwicklung und Seinssteigerung bis hin zur Gotteskindschaft in viel höherem Maße gerecht wird jene Frage, die schon der biblische Schöpfergott an das erste Menschenpaar im Paradies richtet: „Adam, wo bist du?“. Metaphorisch gesprochen befindet sich der Mensch in seiner individuellen und die Menschheit in ihrer kollektiven Geschichte wie auf einem Seil, das zwischen den Niederungen der dunklen Tierheit und den luftigen Höhen der Gotteskindschaft gespannt ist. Er kann, wie es die Geschichte zeigt, immer wieder in die Brutalität zurückfallen, aber ist auch zu selbstlo-

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ser Hingabe und Liebe fähig. Gerade als Wesen der Freiheit der Realisierung von unbegrenzt vielen Möglichkeiten kann dem Menschen daher nicht die Frage „Was ist der Mensch?“ gerecht werden, sondern nur die biblisch bezeugte Frage „Wo ist der Mensch?“. Von seiner Theologie der Gotteskindschaft her bestimmt Eugen Biser deswegen den Menschen – ein Wort Robert Musils aufgreifend – als „Möglichkeitsmenschen“. Die Theologie der Gotteskindschaft erzwingt so eine Erneuerung, ja geradezu eine Wende der Anthropologie, der klassischen philosophischen Lehre vom Menschen. Dem als Kind Gottes verstandenen Menschen kann man nicht gerecht werden, wenn man deduktiv oder induktiv abstrakt bestimmt, was das Wesen des Menschen sei und dann von daher moralisch deduziert, was der Mensch zu sein und zu tun habe. Der Würde der Gotteskindschaft wird nur eine Anthropologie gerecht, die den Menschen nicht als fertiges Wesen, sondern von der Freiheit seiner Werdemöglichkeiten her in den Blick nimmt. In seinem Werk hat Eugen Biser gewaltige Anstrengungen unternommen, eine solche, den Ansprüchen der Gotteskindschaft genügende, neuartige Anthropologie grundzulegen und zu entfalten. Leider sind diese seine weittragenden Entwürfe einer „Modalanthropologie“, etwa in seinem auf die spätere Theologie der Gotteskindschaft hinarbeitenden Buch „Der Mensch. Das uneingelöste Versprechen“ weder von der Theologie noch gar von der Philosophie inzwischen ihrer Bedeutung entsprechend wahrgenommen oder gar rezipiert worden. Eingangs wurde gesagt, dass Eugen Biser seine Theologie der Gotteskindschaft abschließend im ersten Teil seiner späten Trilogie zusammengefasst hat. Im Laufe der Überlegungen wurde deutlich, wie sehr seine diesbezüglichen Gedanken mit dem zweiten, Jesus Christus gewidmeten Teil der Trilogie verzahnt sind, da die universale Verwirklichung der Gotteskindschaft prinzipiell mit der Einwohnung des Auferstandenen als inwendiger Lehrer im Herzen der Gläubigen, also mit der „Christomathie“ verknüpft ist. Wie verhält es sich nun mit dem dritten Teil der Trilogie, der „Geistesgegenwart“? Den Zusammenhang zwischen Gotteskindschaft und Glauben an den Heiligen Geist stellt Eugen Biser her, indem er dafür auf die Theologie eines mittelalterlichen Autors zurückgreift, nämlich auf die Gedanken zur Trinität des Kalabreser Abtes Joachim von Fiore († 1202). Dass dieser Autor gerade für diese Gedanken kirchlich als Ketzer verurteilt wurde, scheint Eugen Biser nicht davon abzuhalten, sich seine Gedanken anzueignen. Joachim von Fiore dachte die Trinität nicht nur als der Geschichte und der Welt enthobene, zeitfreie Wirklichkeit in Gott, sondern übertrug den Gedanken der Trinität Gottes auch auf den Ablauf der Geschichte in der Welt, in der sich die Trinität gleichsam in zeitlicher Abfolge spiegelt und entfaltet. So unterschied er zwischen einem Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Diese Zeitalter sollten einander innerweltlich in geschichtlicher Sukzession ablösen. Auf ein Zeitalter des Vaters, das ein Zeitalter des Gesetzesgehorsams ist, folgt das Zeitalter des Sohnes, das im Zeichen der Liebe steht, und schließlich das Zeitalter des Heiligen Geistes, das ganz von der Freiheit geprägt ist. Joachim von Fiores Vision eines geschichtlichen Zeitalters der Freiheit des Heiligen Geistes integriert Eugen Biser nun als ein pneumatologisches, d.h. auf den Heiligen Geist bezogenes, Element in seine Theologie der Gotteskindschaft. Die

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Erhebung zur Gotteskindschaft ist nach Biser zugleich die Verwirklichung für jene Freiheit, für die trinitätstheologisch der Heilige Geist steht. Dabei ist es entscheidend, dass Eugen Biser diese Freiheitssituation nicht als eschatologischen, also jenseits von Raum und Zeit, nach dem Jüngsten Gericht eintretenden Zustand denkt, nein, sondern als Phase, die in der Geschichte Wirklichkeit werden soll. Die Gotteskindschaft soll nicht Gegenstand einer Vertröstung des Menschen auf ein Jenseits sein, sondern in Zeit und Gegenwart anbrechen, als die Freiheit des Heiligen Geistes, eine Freiheit, die nicht mehr an Gesetz und Institution gebunden ist. Dieser Glaube an das geschichtliche Wirken des Heiligen Geistes in unserer Zeit macht Eugen Biser zu einem sensiblen Zeitbeobachter und Zeitdiagnostiker. Keine Entwicklung in der Politik, Gesellschaft und Kunst der Gegenwart wird von ihm ignoriert, sondern alles Zeitgeschehen wird von ihm mit Zartheit und zugleich visionärer Kraft auf das Anbrechen der Gotteskindschaft hin durchleuchtet und orientiert. Sein Gedanke einer in der Freiheit des Heiligen Geistes gewirkten sukzessiven inneren Vergegenwärtigung der Gotteskindschaft in Zeit und Geschichte unserer Welt versetzt ihn seinerseits in die Freiheit, auch dort die Zukunft der Gotteskindschaft zu entdecken, wo sie mancher konservative Christ nicht nur nicht vermuten, sondern sogar ausschließen würde. Weil der Mensch auf die Erhebung zur Gotteskindschaft hin unterwegs ist, besteht seine Zukunft in der Weite einer Freiheit, die der geistgewirkten Gegenwart Gottes keine Grenzen mehr zu setzen braucht. Welch eine Vision!

PETER JENTZMIK

Idee und Ethos der Weisheit im Frühwerk Eugen Bisers

Im Prolog des Buches der Sprüche (Spr 1,20–22) ermahnt ein Vater seinen Sohn, schlechte Gesellschaft zu meiden und stattdessen sich der Weisheit zuzuwenden und auf ihre Stimme zu hören, denn laut ruft die Weisheit auf den Gassen, erhebt auf den Plätzen die Stimme, ruft am Anfang der lärmenden Straßen, hält am Eingang der Tore, in der Stadt ihre Reden: Wie lang noch, ihr Unreifen, liebt ihr die Unreife, gefällt den Dreisten ihr dreistes Geschwätz, ist den Toren Einsicht verhasst?

Doch wann ist die Stimme der Weisheit zu vernehmen? Es geschieht vornehmlich in Zeiten der Krise, individuell erlebter oder kollektiv erfahrbarer Katastrophen, der Fragwürdigkeiten des Daseins angesichts der Unzuverlässigkeit fest angenommener Verheißungen größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl, dass die Frage nach dem Sinn menschlicher Anstrengungen und Ausrichtungen sich geradezu mit Notwendigkeit stellt. Der Mensch beginnt, in den Überlieferungen der Geschichte Ausschau zu halten nach sinntragenden Konzepten und Wegen geglückten oder gelungenen Lebens, die mit der Zeit sich nicht verflüchtigt haben, sondern zur Wahrheit geronnen und in Sprache gegossen als Weisheiten zu erwiesenen Konstanten der Deutung menschlichen Daseins geworden sind. Jürgen Flimm, Intendant der Salzburger Festspiele, hat in einem bemerkenswerten Aufsatz zum Programm der unter dem Thema „Das Spiel der Mächtigen“ stehenden Festspiele 2009 diese Problematik im Blick auf die Erfahrungen der Gegenwart so skizziert: Als wir dieses Programm konzipierten, wussten wir freilich noch nichts von den radikalen Verwerfungen der globalen Finanzmärkte, die viele Menschen ins Elend stürzen – wir wussten nichts von diesen Katastrophen, von der Renaissance staatlichen Dirigismus. So ist es sinnvoll, einmal innezuhalten und sich auf alte Begriffe – ja sagen wir: Werte – zu besinnen. Denn solche sind uns vielleicht abhanden gekommen oder das, was Camus meinte mit: ,gelebter Moral‘! Blättern wir also einmal zurück auf der Suche nach verlorenen Zeiten, Utopien – keine Angst, wir werden sie wieder finden, die Luft der Menschenliebe.

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Peter Jentzmik

Da ist es eine Entdeckung, mit einem Frühwerk Eugen Bisers eine zur Weisheit hinführende, umfangreiche Abhandlung über den Kosmos der Tugenden zu haben, die ihresgleichen sucht.1 Wie sehr Eugen Biser die Weisheit als Fundament und grundlegendes Ziel seines Schaffens betrachtet, zeigt gleichsam programmatisch das Signet der ,Eugen-BiserStiftung für Dialog aus christlichem Ursprung‘, das in seiner graphischen Darstellung auf dem griechischen Begriff für Weisheit, der Sophia, basiert. Damit kennzeichnet Biser die Weisheit als perspektivische Grundlage eines Dialogs aus christlichem Ursprung, wie er dies schon zu Beginn seines Wirkens in der angesprochenen Arbeit über den Kosmos der Tugenden eindrucksvoll dargelegt hat. Zu seinem großen Leidwesen wurde diese in den 50er Jahren mit großer wissenschaftlicher Anstrengung neben seiner Tätigkeit als Seelsorger unternommene Arbeit als Theologische Dissertation nicht angenommen und blieb als Typoskript bis heute unveröffentlicht. In einem Beitrag über seinen Weg zur Theologie in der Festgabe der Eugen Biser-Stiftung anlässlich seines 90. Geburtstags beschreibt Biser diese „so ungemein schmerzliche“ Ablehnung seiner ersten, der Tugendlehre gewidmeten Doktorarbeit aber im Nachhinein als ausgesprochenen Glücksfall, da sie einen für seinen späteren Berufsweg „so wichtigen Fachwechsel von der Moral- zur Fundamentaltheologie nach sich zog“.2 Als mir Eugen Biser im Spätherbst 2007 das Typoskript dieser Arbeit übergab – ich vergesse nicht den ihn und mich bewegenden Augenblick der Übergabe –, ahnte ich nicht, welchen Schatz mir Eugen Biser anvertraute: ein beachtliches opus magnum, in dem die Grundlagen für seine spätere Neue Theologie und Anthropologie gelegt sind. Wie sehr das Thema der Weisheit Biser nach wie vor bewegt, wurde mir anlässlich seines Besuchs in Limburg überaus deutlich, als es sein ausdrücklicher Wunsch war, im Limburger Dom das aus dem 13. Jh. stammende Fresko der Sophia inmitten ihrer drei Töchter, der drei göttlichen Tugenden, sich anzuschauen. Der Titel von Eugen Bisers umfangreicher, 431 Seiten zählender Untersuchung über den Kosmos der Tugenden zeigt schon deren Absicht an: Es geht darin um eine Gesamtschau der Tugenden, um deren Bezugsfeld und, wie der Begriff Kosmos verdeutlicht, auch und gerade um ihre ästhetische Darstellung in Bildender Kunst und Literatur. Allein 48 Abbildungen kunstgeschichtlich bedeutsamer Bildwerke und deren ausführliche Interpretation illustrieren und erschließen diesen Tugendkosmos. Die Argumentation Bisers folgt dabei dem Bauplan einer Stufenpyramide: Der „Grundlegung“ mit dem Thema „Die Tugendsymbole im Aufbau des Geisteslebens“ schließt sich ein „ Überblick“ über „Die Tugendsymbole im Ablauf der Geistesgeschichte“ an, bevor Biser über drei Stufen aufsteigend sich mit den dort angesiedelten Tugenden befasst, um schließlich die „Gipfelhöhe“ mit dem Thema „Idee und Ethos der Weisheit“ zu erreichen, von

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In seinem Beitrag Mater pulchrae dilectionis in: Das Münster 11 (1958) 180–182 befasst sich Eugen Biser mit dem Verhältnis der Weisheit zu den drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe anhand der auch bei der Darstellung der Weisheit im Kosmos der Tugenden ausführlich behandelten Bildwerke. 2 Eugen BISER, Mein Weg zur Theologie, in: Dialog aus christlichem Ursprung. Fünf Jahre Eugen-Biser-Stiftung, Eugen Biser zum 90. Geburtstag, Limburg 2008, 47–62, hier: 50.

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wo er in einem „Rückblick“ den „Tugendkosmos als Selbstverwirklichung des Geistes“ wahrnehmen und beurteilen kann. Zur Erleichterung des Einstiegs in das Verständnis des Stufencharakters sittlicher Erhebung schickt Biser einen wegweisenden Gedanken aus der Vita des Mystikers Heinrich Seuse (II, 49) voraus: „Ein gelassener Mensch muß entbildet werden von der Kreatur, gebildet werden mit Christus und überbildet in der Gottheit“ und fährt fort: Damit ist in knapper Formel das Gefälle der drei mystischen Stufen umschrieben, auf denen sich der dem Wahren, Schönen und Guten zugewiesene Menschengeist erkennend, fühlend und handelnd zum Urquell allen Seins, zu Gott, erhebt. Dreifach ist die Möglichkeit dieses Aufstiegs, je nachdem sich das menschliche Bewusstsein theoretisch, ästhetisch oder ethisch 3 zu der ihm vorgegebenen und aufgegebenen Wirklichkeit verhält. (137)

Auf der ersten Stufe des sittlichen Strebens, der von Biser so genannten via purgativa, sind die Kardinaltugenden Klugheit, Mäßigkeit und Starkmut, ihr Zusammenhang und die Gerechtigkeit als Generaltugend die ethischen Leitbilder, die Biser als „Tugenden der Reinigung“ vorstellt. Der Eintritt in das zweite Stadium des sittlichen Aufstiegs steht im Zeichen jener Erschütterung, die den Menschen aus dem Gleichgewicht geraten lässt, indem sie ihn, wie Eugen Biser formuliert, „in die Abgrunderfahrung seiner Nichtigkeit hineinstößt. Nicht im eigenen guten Willen, sondern einzig in der Tragekraft der Gnade findet der Demütige dann noch Frieden und Halt“ (196). So zeichnen sich auf der zweiten Stufe, der via illuminativa, drei neue Richtbilder sittlichen Strebens ab: die „Tugenden der Erleuchtung“. Mit dem Mysterium der Inkarnation verdichten sich in der christlichen Schau des sittlich Guten die ontologischen Grundaspekte des Wahren, Schönen und Guten beinhaltenden sittlichen Grundforderungen zu Leitbildern einer persönlichen Nachfolge: die Klugheit wandelt sich zum Gehorsam, die Mäßigkeit zur Demut und der Starkmut zur Sanftmut. Damit wird das natürliche von einem christlichen Tugendverständnis abgelöst, für das im Sinne der Nachfolge Christi und seiner erlösenden Gottesgerechtigkeit die Tugend der Barmherzigkeit zur Leitidee christlichen Handelns wird. Auf der dritten Stufe sittlicher Erhebung sind es die „Tugenden der Vereinigung“ Glaube, Hoffnung und Liebe, mit denen das sittliche Streben „in das hohe Meer der göttlichen Huld und Gnade einmündet“, worin der Mensch die Gewissheit erfährt, „dass jetzt erst das Dasein zu seinen äußersten Seinsmöglichkeiten entschränkt und damit die innerste Kraft des Geistes und des Herzens entbunden ist“ (239), und worin der Aufgang des Göttlichen im Menschlichen sich ereignet. Auf dieser via unitiva wird, so Biser, „das Leben mit Gott […] zum Leben in Gott, die Nachfolge zur Einwohnung“ (240). Hier, in der mystischen „Symphysis“ mit Christus, kommt das Tugendstreben zur Ruhe, weil darüber hinaus nicht Höheres gedacht, empfunden und gewollt werden kann:

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Die Seitenangaben im Folgenden sind dem unveröffentlichten Typoskript Der Kosmos der Tugenden entnommen. Eine Veröffentlichung des Teils über ,Idee und Ethos der Weisheit‘ daraus ist in Vorbereitung.

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Peter Jentzmik Was die Gerechtigkeit im Entwurf von unten begründete, was die Barmherzigkeit im Blick nach oben errichtete, das vollendet sich hier in der Seinsgemeinschaft von Schöpfer und Geschöpf, in der sich der Mensch mit seinen Akten unmittelbar aus der Hand Gottes empfängt. (240)

Damit ist die „Gipfelhöhe“ der Pyramide erreicht, auf der mit der Frage nach dem Einheitsgrund der göttlichen Tugenden „Idee und Ethos der Weisheit“ zur Darstellung gebracht werden, wobei sich für Biser ein Paradigmenwechsel einstellt: Hatte bisher bei der Auslegung der sittlichen Werte das theoretische Wissen die Führung übernommen, so gibt nun die künstlerische Darstellung der Tugenden ihre bis dahin begleitende Funktion auf, um selbst die Führung zu übernehmen. Im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen stellt Biser fest, dass nach Auskunft der Kunst die Idee der Weisheit das einigende Prinzip ist, „in dem die Sinnlinien von Glaube, Hoffnung und Liebe konvergieren“. Den entscheidenden Hinweis darauf findet er vor allem in zwei Kunstwerken: Zum einen in einer russischen Kalenderikone, in der Glaube, Hoffnung und Liebe (Vera, Nadja und Ljuba) geschwisterlich in Mädchengestalt erscheinen und von einer ehrwürdigen Matrone, der hl. Weisheit (Sophia), im Stil des Schutzmantelmotivs überragt werden, die als mütterlicher Ursprung gleichzeitig den einigenden Grund ihrer Verbundenheit verkörpert und so, im Sinne der Trinitätsspekulation, als Ausdruck einer Perichorese von Glaube, Hoffnung und Liebe verstanden wird. Zum anderen sieht Biser in einer kolorierten Holzplastik aus Eschau bei Straßburg denselben Gedanken in gleicher Formsprache dargestellt, wobei aber im Unterschied zur östlichen Ikone die Gestalt der Weisheit nicht lehrend, sondern lesend ins Bild gesetzt ist, ein Unterschied, den Biser im östlichen und im westlichen Denken begründet sieht. Als Exponenten dieser unterschiedlichen Sichtweisen der Sophia nennt Biser Vladimir Solowjew und Peter Wust. Biser hält Solowjews Ausdeutung der Nowgorodska Ikone der Hl. Sophia in dessen Rede über „Die Idee der Menschheit bei A. Comte“ für die treffendste östliche Umschreibung der Sophia-Idee: […] was ist sie anders als die wahre, reine Allmenschheit, die höchste, allumfassende Urform und lebendige Seele der Natur und des Universums, die mit Gott urewig vereinigte und im zeitlichen Prozess sich selbst und alles Existierende mit IHM verbindende? (303)

Was Solowjew begrifflich damit meint, werde anhand von Aussagen eines seiner bedeutendsten Schüler verständlich; Florenski erklärt im 11.Kapitel seiner nachgelassenen Schrift „Die Säule und Grundfeste der Wahrheit“: „Sophia ist das Gedächtnis Gottes, in deren heiligem Schoß alles ist, was da ist, und ohne welche nur Tod und Wahn bestehen.“ Diese Deutung sieht Biser auch durch Sergej Bulgakow bestätigt, der über die Weisheit auf der Nowgoroder Ikone schreibt: Sie sei „der Engel der Schöpfung“, „die Welt der ewigen Ideenbilder“, „die Grenzlinie zwischen Gott und Schöpfung, die zugleich trennt und eint“ (304). Und Biser fügt hinzu: So ist sie (die Weisheit) nach oben hin (als Sophia increata) eins mit dem Schöpfer Gott, nach unten hin (als Sophia creata) eins mit allem endlichen Sein. In dieser zweiten Rolle bildet sie

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nach Bulgakows Ausdruck „die Dreieinigkeit des Guten, der Wahrheit und der Schönheit, die heiligste Dreifaltigkeit in der Welt“; sie verschmilzt mit der Seinsidee. (304)

Im Gegensatz zu dieser dem theologischen Idealismus verhafteten Konzeption sei Peter Wusts Weisheitsbegriff ganz von der konkreten Existenzerfahrung bestimmt. Wust fordere in seinem Hauptwerk „Ungewissheit und Wagnis“ das „Wagnis der Weisheit“, weil es „dem Halbdunkel der menschlichen Insekuritas-Situation als die einzige Möglichkeit für die dem Menschen gestellte Lebensaufgabe entspricht“ (305), ein sittliches Wagnis, das „auf das Minimum der menschlichen Sehfähigkeit das Maximum des Glaubens an die universale Ordnung“ und damit „ein Maximum der Ehrfurcht, ein Maximum der Demut, ein Maximum der Liebe“ (305) wagt. Und darum sei es, wie Biser weiter ausführt, ein „zum Sein und zu Gott hin entschlossenes Wagnis, dem es allein vergönnt ist, durch die Antinomien des Daseins auf jenen letzten Erhellungs- und Bewahrungsgrund hin durchzustoßen, in dem alles Widersprüchliche aufgelöst und alles Gefährdete geborgen ist“ (305). Damit zeichnen sich für Biser in der Auslegung der Weisheitsidee zwei Richtungen ab: „Ihrem östlichen Aspekt als gnadenhafte Gewährung und Gabe tritt die westliche Sicht entgegen, die die Weisheitsidee als höchste Aufgabe der geistigen Verwirklichung versteht“ (305f.). Da beide Aspekte aufeinander verweisen, müsse beim Versuch einer ethischen Darlegung des Sophia-Gedankens das Thema Weisheit in beide Richtungen reflektiert werden, als Sophia increata und als Sophia creata: „Mit ihrem Gott zugewandten Antlitz ist sie sein Bild, sein Name; der Welt zugewandt deren ewige Grundlage“ (307). An der Grenzscheide von endlichem und unendlichem Sein trenne und verbinde sie zugleich, wahre aber auch „die unverkennbare Ähnlichkeit […] zwischen Schöpfer und Schöpfung und damit die Einheit der von der Gottesidee umhegten Seinsund Denkordnung“ (306a). Als Mittlerin zwischen Sein und Gott impliziere die Weisheit „jene hochgemute Haltung, die sich vom Gewoge des Seienden zur Mitte und Höhe alles Wirklichen tragen lässt, um mit dem Sinn des Ganzen Fühlung zu gewinnen“ (312), was Platon mit dem Begriff Enthusiasmus bezeichnet. Dies setze aber ein Denken voraus, „das sich dem Einheitsprinzip als seinem letzten Grund verpflichtet weiß“ (312). Im Bewusstsein dieser mystischen Allverbundenheit habe Heinrich Seuse fragen können: „Wenn ich mich finde als das Eine, das ich sein soll, und als das All, das ich sein soll, was ist größere Lust?“ (Vita I, 49, zit. 313). Noch Leopold von Ranke habe sich in einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 25. 8. 1827 im Blick auf jenen geheimnisvollen Einheitsgrund zu der Aussage veranlasst gesehen, „wo der Born quillt, der den Geschöpfen Leben, Wesen, Gestalt, Innerlichkeit gibt, wo kein Lob und kein Tadel, wo die allgemeinen Begriffe dahinsinken vor der Idealität einer ursprünglichen und allemal gottverwandten Existenz“ (313). Biser bemerkt dazu aber auch, dass das neuzeitliche Denken dieser Grundhaltung weitgehend entfremdet ist und mit der wachsenden Spezialisierung der Sinn für das Gemeinsame im Erkennen und Handeln zugunsten einer „Emanzipation aus der Hut des bewahrenden Einheitsprinzips“ (313) verlorengegangen ist, verbunden mit dem Verlust der Weisheit, wovon es ein Zurück nur „durch das enge Tor eines radikalen Metanoeite [= bekehrt euch!]“ (313) gäbe. Für Biser zeichnet sich das Personsein des Menschen nicht nur in der Fähigkeit aus, „für

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eigene Anschauungen und Taten Rede und Antwort zu stehen, sondern zugleich auch in der Bereitschaft, sich einer höheren Sinnmacht anheimzugeben, um sich von ihr durchdringen oder, was personare wörtlich besagt, ,durchhallen‘ zu lassen“ (314). Menschliche Größe erkenne man nämlich daran, dass von ihr Wirkungen ausgehen, die den Bereich allein subjektiver Bedeutsamkeit übersteigen, „dass sich in ihr Ungeahntes und Neuartiges mit der Macht einer Naturnotwendigkeit durchsetzt“ (314). So habe die Weisheit „kein anderes Antlitz als das von ihr verklärte Antlitz des Menschen“ (315), das in seinen Zügen das Wissen um den universalen Sinn seines Daseins widerstrahlt. Als göttliche Gabe verstanden meine daher Weisheit die gewährte Antwort des unendlichen Seins auf die Erwartungen des endlichen Seins; sie erweise sich damit „als die vollendete Gestaltungskraft der menschlichen Transzendentalbeziehung, aus welcher sich das Dasein ständig neu empfängt“ (317). Biser deutet den Satz des Aristoteles, dass die Weisheit „eine Leihgabe von Gott her“ ist, in christlicher Sicht dahingehend, dass Gott in der Gabe der Weisheit als gratia increata „zuerst und zuletzt sich selbst dem Menschen ,zu Lehen‘ gibt“ (319); in der Menschwerdung neige sich Gott mit ihr zu seinem Geschöpf herab, „um dessen ontische Leere durch seine Einwohnung über alle menschliche Sehnsucht hinaus zu erfüllen“ (320). Nach den Zeugnissen des Neuen Testaments setze sich Jesus bewusst mit der Weisheit Gottes in eins (Mt 11,29; Lk 7,35; 11,49), woraus unmittelbar sein Heilsanspruch folge, dass der, der ihm begegnet, „zum lichtvollen Ziel seines Lebensweges“ (vgl. Joh 9,36–41) und „zum Erhellungsgrund des gesamten Daseins“ (vgl. Joh 14,6) findet. Das Mysterium der Kirche stellt sich für Eugen Biser als Verlängerung des Heilsereignisses der Inkarnation dar. Für ihn ist die Kirche gleichsam „der geschichtlich existierende mundus intelligibilis der göttlichen Selbsterkenntnis“ (323) und damit auch „Sophia creata im eigentlichen Sinn, Reflex der ewigen und Leib der menschgewordenen Weisheit in Raum und Zeit“ (323). Gegen jede uferlose Erlebnismystik einerseits und gegen jeden Spiritualismus andererseits stellt Biser aber kritisch fest, dass die Kirche als mystisches Allsubjekt den Ort allgemeingültiger Gotteserfahrung nur dann darzustellen vermag, „sofern die Kirche nicht in ihrem institutionellen Gefüge und ihrer äußeren Organisation aufgeht, sondern den geistigen Organismus bildet, der sich aus dem Glauben (vgl. Eph 4,5.13), der Hoffnung (vgl. Kol 1,23) und der Liebe aller (vgl. Eph 4,16) aufbaut“ (324f.) und „nicht nur ein mit absoluter Autorität ausgestatteter Lehrkörper, sondern ebenso sehr auch antwortender Glaubenskörper ist“ (325). Ausgehend von 1 Tim 3,16, wo die Kirche als „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ bezeichnet wird, bringt Biser den Wahrheitswert von Kirche als letzten Aspekt der Weisheit zur Sprache. Mit der von Irenäus von Lyon konzipierten Vorstellung eines corpus veritatis werde dem relationalen Wahrheitsbegriff (der in einer adaequatio intellectus ad rem besteht) eine ins Organische überführte Begrifflichkeit der Wahrheit gegenübergestellt. Für Eugen Biser ist diese Ausweitung des Wahrheitsbegriffs von weittragender Bedeutung, denn sie ordnet das von den Einzelwissenschaften Erarbeitete in das umfassende Sinnganze ein, in das das denkende Subjekt notwendig miteinbegriffen ist und sogar das integrierende Moment in dieser Ganzheit darstellt. Dem denkenden Subjekt falle schließlich die Aufgabe zu, „über die Integrität des Ideengefüges zu wachen und sie, wo sie unvollendet blieb, nach Kräften herzustellen“ (327). Hinsichtlich des Zugangs zur

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Wahrheit bedeute das Ereignis der Inkarnation nichts Geringeres, als dass damit der Ursprung der Wahrheit aus der Entrücktheit der Ideenwelt Eingang in die konkrete Erfahrungswelt gefunden hat; das Mysterium der Menschwerdung als Gabe zeige somit, „dass das Herz alles Wahren eine Begebenheit ist“ (330) und das Universale wahrhaft in die Realitäten einer geschichtlichen Existenz inkorporiert ist: „Das geschichtliche Leben des Logos ist als solches die eigentliche Ideenwelt, die alle Geschichte normiert, aber nicht von einem übergeschichtlichen Standort aus, sondern aus dem Schoß der Geschichte selbst“ (331). In dieser heils-geschichtlichen Sicht ist für Eugen Biser die Gestalt Christi „das Urwort aller Werte, die Lichtung allen Seins und Geschehens“ (331) und im Sinne dieses Gedankens schließt er seine Ausführungen zur Idee der Weisheit mit einem Wort des Paulus über Christus (1 Kor 1,30): „Er ist uns von Gott zur Weisheit geworden.“ Nach der Darstellung der Weisheitsidee wendet sich Biser dem Ethos der Weisheit zu. Als erhabene Gabe sei die Weisheit auch höchste Aufgabe. Und er zitiert in dieser Hinsicht das von Bonaventura in seiner Ansprache „Über die Gabe der Weisheit“ (De donis, coll. 9, n. 6) gebrauchte biblische Bild von den sieben Säulen, auf denen die Weisheit ihr Haus errichtet (Spr 9,1): Die erste ist die Reinheit im Fleische; die zweite die Lauterkeit im Geist; die dritte die Mäßigung in der Rede; die vierte die Bereitwilligkeit des Herzens; die fünfte tätige Liebe; die sechste Reife im Urteil und die siebte reine Absicht. (335)

Diese Deutung setze den ethischen Sinn der Weisheit mit der summa virtus im Tugendkosmos gleich, die alle Tugendhaltungen für sich in Anspruch nehme, zur Einheit verschmelze und von der die ganze Wertpyramide bis auf ihre Fundamente herab transparent werde. Der Wahrheitswert der Weisheit beanspruche eine ihm angemessene Haltung des sittlichen Subjekts, die als grundsätzliche Offenheit des Menschengeistes gegenüber der nicht verfügbaren Ankunft der Wahrheit zu kennzeichnen ist. Damit sei gegeben, dass der gewaltsame Versuch, sich der Wahrheit als eines Mittels zur Macht zu bedienen, untergehe „in die demütige Hingabe, die der Erhellung und Eingebung gewärtig ist. Das bedeutet, dass der Gabe der Wahrheit die Gesinnung der Dankbarkeit antworten kann“ (339). Biser verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass im Sinne des Ursprungsgedankens Heideggers die Akte des Denkens in die des Dankens eingebettet sind; dankend müsse der Menschengeist dem Ereignis begegnen, dass Seiendes ist und nicht Nichts ist. Dieses dem Ursprung Entgegendenken bilde im Jaspers’schen Sinne die Grundlage für den „philosophischen Glauben“. Damit treten für Biser zwei wichtige Momente ins Blickfeld: Zum einen die Achtsamkeit auf das individuell Einmalige und Besondere in seinem Bezug auf das Absolute als Grundvoraussetzung eines jeden Denkens, das sich der Führung der Weisheit unterstellt, und zum anderen die Selbstüberschreitung des Menschen zu Gott hin und damit die Überbrückung der transzendentalen Differenz, „mit der sich die huldvolle Entgegenkunft Gottes vom Menschlichen her erfüllt“ (341). Konsequenz dieses Bewusstseins sei eine Einstellung des Menschen seiner Mitwelt gegenüber, die ihm nicht als untergeordneter „Komplex“

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gegeben ist, sondern mit der er sich zum Corpus Christi Mysticum zusammengeschlossen weiß, woraus ihm die Verpflichtung zur Liebe erwächst. Auf die Ursachen des gegenwärtigen Sinn- und Wertverlusts weit vorausweisend, wertet Biser die religiöse Verarmung des neuzeitlichen Menschen als „Folge der Flucht, auf der sich der individualistische Mensch der Gemeinschaftsbindung seines auf KoExistenz hin angelegten Seins entzieht“ (345). Mit einem Gedanken Adam Möhlers (Die Einheit in der Kirche, Mainz 1925, 72) nennt er die Bedingung für eine das Gottesverhältnis des Menschen konstituierende Gotteserkenntnis: Denn das ist das Geheimnis unserer Erkenntnis Gottes: nur vom Ganzen her kann der, der das Ganze schuf, erkannt werden, weil er sich nur im Ganzen ganz offenbarte; wie soll ihn der Einzelne erkennen? Dadurch, dass er, obschon er das Ganze nicht sein, es doch mit großem Gemüte, mit Liebe umfassen kann. […] In der Liebe erweitern wir uns, die Einzelwesen, zum Ganzen, die Liebe erfasst Gott. (345)

Danach, so formuliert es Eugen Biser, „verpflichtet die Caritas zur tätigen, im Verzicht auf die übersteigerten Ansprüche der Individualität gründenden Auferbauung der mystischen Seinsgemeinschaft mit Christus“ (350). Mit der Eingliederung des Menschen in den universalen Glaubenskörper der Kirche erreiche der ethische Vollzug im Tugendkosmos seinen Höhepunkt: Caritas im ekklesiologischen Sinne ist weder Nachvollzug noch Nachfolge, sondern das, was Ethos ursprünglich meint: tätige Einräumung. Was damit für die christliche Lebensform ausgesagt ist, kann aber nicht mehr begrifflich entwickelt werden. Das bedeutet, dass von hier an das Verheißungswort Christi von seiner huldvollen Einwohnung inmitten seiner Gemeinde (vgl. Mt 18,20) die Führung der Überlegungen übernehmen muß. (352)

Vom Gedanken der Einwohnung Jesu Christi in den Herzen der Glaubenden her (vgl. Eph 3,17) erschließt sich für Eugen Biser eine neue Sicht der Kirche, die ihm vorab nicht mehr das verpflichtende Gegenüber ist, sondern immer mehr zum mystischen Beziehungsgrund seines Lebens wird. Gemessen daran wirke der institutionelle Kirchenbegriff „fast wie ein Schatten, der sich bei aller Richtigkeit doch erschwerend auf die Versuche legt, die mystischen Funktionen der Kirche aufzuhellen“ (355). Der nihilistische Zug im neuzeitlichen Geistesleben, der in gleicher Weise zur Verschlossenheit der Welt wie zur Vereinsamung des Lebens führte, habe bewirkt, dass an die Stelle der organischen Idee des Corpus Mysticum sich eine auf seiner Außenschau beruhende Abstraktion schob, die in der Wesensbestimmung der Kirche vor allem von den formalen und organisatorischen Momenten ausgeht (vgl. 355). Zurückkehrend zum Gedanken der Einheit des Seins und das Tugendganze im Blick stellt Biser fest, dass es im Ethos der Weisheit um die persönliche Vollkommenheit und damit verbunden um die Klärung des Seins im Ganzen geht, wobei die einzelnen Tugenden nicht mehr als in sich geschlossene Werte, sondern als sich einander ablösende und überholende Aspekte des einen Ur-Guten, das mit dem Sein in eins fällt und in der Weisheit aufscheint, zu betrachten sind (vgl. 369). In dem Maße, in dem sich der Menschengeist dem personalen Seinsgrund annähere, erlange er die volle Mündigkeit seines

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Daseins, über dessen aus eigener Kraft mittels der vita activa nicht aufhebbaren Hinfälligkeit sich der Weise aber sehr wohl bewusst sei. Allein die kontemplative Versenkung in die unendliche Seinsfülle Gottes könne ihn davon lösen und für die ersehnte Seinsinnigkeit freigeben: „In der anbetenden Erhebung zu Gott ist er, was er ist“ (372), nämlich imago Dei. Folglich ist das Gebet für Biser – mit der Formulierung aus dem ,Abschiedwort‘ Peter Wusts – „der Zauberschlüssel“, der „das letzte Tor zur Weisheit des Lebens“ erschließt. Die Unruhe des Herzens finde darin erst ihre Ruhe, denn „das Gebet, als letzte Hingabe gefasst, macht still, macht kindlich, macht objektiv“ (372). Biser vergleicht diese wiedergewonnene „Naivität“ mit einer „echten Renaissance“ (373), mit der wohl das deutlichste Kriterium für den Besitz der wahren Weisheit gefunden sei. Mit dem der Naivität inhärierenden Gedanken der Kindschaft (vgl. Röm 8,15f.) werde eine grundlegende Wandlung angesprochen, die den erlösten Menschen in die göttliche Innenwelt einbezieht, in die ewige Geburt des Sohnes aus dem Vater hineinnimmt. Mit dem Sohn empfange sich der Mensch je neu aus der Huld des Vaters. Eugen Biser zitiert in diesem Zusammenhang den 1. Johannesbrief (1 Joh 3,1): „Seht, welch große Liebe uns der Vater erwiesen hat: Wir heißen Kinder Gottes und sind es in der Tat.“ Damit werde einsichtig, „daß die mit der Weisheit wiedergewonnene Kindschaft als Abglanz des Sohnesverhältnisses zu verstehen ist, in welches sich der Weise am Ziel seines ethischen Aufstiegs hineingerufen weiß“ (378). Am Ende der Reflexionen zur Weisheit angelangt, betont Eugen Biser das den Tugendkosmos von Anfang an prägende Motiv der Einigung. Die Weisheit, an der Spitze des Tugendkosmos stehend, führe das Vollkommenheitsstreben des Menschen ins Ziel: „Was die Gerechtigkeit im Ethos des suum cuique anstrebte, was dann die Barmherzigkeit im Geist der göttlichen Erbarmung zu versöhnen suchte, das schließt sie zur unzerstörbaren Einheit zusammen“ (381). Was sie damit vollziehe, sei Koinzidenz (im Sinne des Nikolaus von Kues), Zusammenwurf der Gegensätze, als coincidentia oppositorum zugleich auch immer Sym-bolik, ins Sinn-Bild gesetzter All-Einheits-Gedanke. So gehe die Weisheit des Menschen mit ihrem letzten Schritt in das Geheimnis der göttlichen Torheit ein: Mit sanfter Gewalt zieht es den Weisen am Ende dorthin, wo Gott selbst in die Leere der Endlichkeit, in die Schwäche und Torheit der Welt, eingegangen ist. Sein Weg endet am Fuß des Kreuzes. Dort findet er den Ort, wo er die beseligende Last der All-Einheit vor dem niederlegen darf, der für uns arm wurde, damit wir durch seine Armut reich würden (vgl. 2 Kor 8,9). (384)

Im letzten, mit „Rückblick“ überschriebenen Kapitel seiner Arbeit über den Kosmos der Tugenden schaut Eugen Biser von der Gipfelhöhe der als Ziel des Tugendstrebens zu erlangenden Weisheit auf die durchlaufenen Stadien des Tugendkosmos zurück und ergänzt das zur Weisheit Gesagte durch eine großartige Interpretation des „Engelkonzerts“ auf dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald, wobei er in der dort dargestellten „Lichtgestalt“ als Verkörperung der summa virtus – die er als „die vollkommenste Darstellung der Weisheit in der deutschen Kunst“ bezeichnet – sämtliche Wesenszüge der Weisheit wiederfindet und zusammenfassend nochmals anklingen lässt:

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Peter Jentzmik Die zarte Mädchengestalt scheint von der Lichtfülle, die sich vor ihr ausbreitet und über sie ergießt, so überwältigt, dass sie unwillkürlich in die Knie sinkt. Ihr Staunen wandelt sich in dankerfülltes Erschauern und demütige Anbetung. Was ihr eben noch als Ziel einer äußersten Willensanstrengung erschien, weiß sie sich jetzt als reines Gnadengeschenk zugeeignet. Denn nur die Huld von oben, nicht die eigene Kraft vermochte sie dorthin zu führen, wo sie jetzt weilt. Sie hat ihren Wesensort erreicht.(411) Der Blick der huldigenden Lichtgestalt entstammt einer ganz andern Gesamthaltung als die kritische Schau des gefiederten „Engels“. Er geht nicht nach außen, sondern nach innen, wo ihm im Spiegel der Gottebenbildlichkeit das Seiende insgesamt gegenwärtig ist. Von dorther entschleiert sich ihm der Sinn der Dinge. Denn dort leuchtet ihm das Gottesgeheimnis auf, das im Heilswerk aus seiner unerreichbaren Höhe herabsteigt, um von nun an die menschliche Denk- und Lebenswelt mit seinem Glanz zu erhellen. So wird das Erkennen wirklich zum denkerischen Nachvollzug des schöpferischen Weltentwurfs. Im Grunde eines solchen Denkens ereignet sich ständig ein mystisches Wechselspiel: die personale Gottebenbildlichkeit weitet sich zum Gesichtskreis des gesamten Weltverständnisses, sie wird zum Inbegriff des Seienden überhaupt. Von dort flutet die ganze Bewegung jedoch unverzüglich wieder in ihren Ausgangspunkt zurück. Nun aber befrachtet mit dem zuvor noch unbekannten Gefühl für die tiefe Verschwisterung des Menschen mit dem gesamten All. (412f.) Ihr Blick ist ganz nach innen gewandt, Erkennen ist für sie nicht transeuntes Suchen und Forschen, sondern einbehaltendes Bei-sich-selber-Sein. Und Freiheit erfährt sie in dem je innigeren Selbstbesitz, nicht aber, wie man glauben sollte, im tätigen Aufbruch nach außen. So ist die Lichtung, in die uns die Weisheit durch die Gabe der Reinheit und die Entschränkung der Freiheit hineinführt, zugleich die Helle reiner Selbstinnigkeit. Doch in dieser Dialektik zeichnet sich eine noch tiefere ab, die aus dem Grund ihrer ewigen Herkunft, aus dem Göttlichen selber, aufsteigt und alle Antinomien insgeheim erregt und trägt. Es ist der Urwiderspruch in der menschlichen Erfahrung des Heiligen, der es zugleich vertraut und nah und doch wieder unnahbar fern erscheinen lässt. Ein Unausdenklich-Letztes für den reflexiven Geist, einleuchtend und vertraut dagegen dem Frommen und Ehrfürchtigen. Aus diesem Spannungsvermögen lebt auch die Weisheit, von ihm ist jede ihrer Emanationen und Haltungen gezeichnet. Darum ist sie das Ende, das alle Energien des geistigen und sittlichen Aufstiegs in sich aufhebt; als Ende aber zugleich auch der Anfang, der alles aus sich entlässt. Deshalb stellt sie an die menschliche Geistes- und Herzenskraft die letzte, die steilste Forderung und bleibt doch das je unerreichte Strebeziel, das sich gerade dem unverhofft zueignet, der es, wie der naive Mensch, am wenigsten sucht, oder sich seiner, wie Sokrates, für unwürdig hält. So bleibt sie als Idee stets docta ignorantia, Wissen, das nur in der eingestandenen Unwissenheit aufleuchtet, und als Ethos virtus infusa, Kraft, die sich nur in der erlebten Schwäche vollendet (vgl. 2 Kor 12,9f.). Zwielichtig, zugleich huldvoll entgegenkommend und doch ins Unerreichbare entrückt, hat sie auch der Blick des Dichters (Paul Celan in seiner zweiten Ode) geschaut. Immer schon steht sie auf der Schwelle deines Hauses und wartet auf Einlaß: Öffne die Tür, und die Weisheit Gottes steht vor dir wie ein Turm aus Glanz und eine gekrönte Königin. (423f.)

Es ist, als werde hier Grünewalds Lichtgestalt im dichterischen Wort beschworen und das eingangs erwähnte, im Buch der Sprüche (Spr 1,20–22) gebrauchte Bild vom Tor, an dessen Eingang die Weisheit ihre Reden hält, als Ausgangspunkt für einen ethischen Imperativ aufgegriffen. Im letzten Satz seines Nachworts – und das unterstreicht dessen Stellenwert – fordert Eugen Biser dazu auf, den gedanklich durchschrittenen und ästhetisch dargestellten

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Kosmos der Tugenden mit aller Kraft in einem „Reich“ zu verwirklichen, „in dem die Liebe die Herzen eint und die Weisheit die Seelen erhellt“ (III). Das ist eine Vision von Weisheit, wie sie nicht größer gedacht, nicht schöner empfunden und nicht besser gewollt werden kann.

KLAUS-PETER JÖRNS

Die Opferkritik in der Theologie Eugen Bisers 1. Beschreibung des im Thema steckenden Problems – und ein großer Dank Dass der Kreuzestod Jesu als Opfer, ja, als Sühne wirkendes Opfer, verstanden werden müsse, gehört zu den über zwei Jahrtausende hin selbstverständlich gewordenen und auch im Laufe der Theologiegeschichte kaum hinterfragten Glaubensaussagen des Christentums. Der jetzige Papst, Joseph Ratzinger, hat schon als Präfekt der Glaubenskongregation alles dafür getan, dass der Opfercharakter der römischen Messe nicht durch die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils verwässert werde.1 Aber auch die Reformation hatte an der Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer im Grundsatz nichts geändert, und zumindest zwei der gegenwärtigen geistlichen Leiter von evangelischen Landeskirchen haben sich mit Nachdruck dafür ausgesprochen, dass das so bleibt.2 Im Gespräch mit Richard Heinzmann hat Eugen Biser von der Opfertheologie gesagt, sie durchziehe „die ganze Geschichte des Christentums […], sie steht an fast allen Ecken und Enden des Neuen Testamentes“. In vielfacher Variation hat Biser in Vorträgen, Büchern und Predigten allerdings diese Feststellung mit einem großen Aber verknüpft und von der Opfertodtheologie gesagt, dass sie trotz der vielen Belegstellen „im stärksten Kontrast zu der von Jesus erzielten Gottesentdeckung“ stehe. Seine Begründung für diese Entgegensetzung ist einfach und einleuchtend und an Glaubwürdigkeit kaum zu übertreffen: Ein „Gott der bedingungslosen Liebe wird durch Opfer nicht versöhnt, ganz davon zu schweigen, dass er gar keine Opfer will.“3 Für diese Aussage beruft sich Biser auf den Propheten Hosea und den bei diesem zu findenden Gottesspruch „Liebe will ich, und nicht Opfer“ (Hos 6,6) und auf Jesus, der sich diesen Satz – jedenfalls nach der Überlieferung bei Matthäus (9,13; 12,7) – zu Eigen gemacht und damit die so genannte ,prophetische Kritik‘ am Opferkult in Israel aufgenommen und bestätigt hat. Die Opferkritik gehört also zum Evangelium Jesu. Und entsprechend gibt es keine einzige Überlieferung, die Jesus als Teilnehmer an einer Opferhandlung bzw. einem Opferfest im Jerusalemer Tempel zeigte. Im Gegenteil: Die unter dem Titel „Tempelreinigung“ bekannte Geschichte (Mk 11,15–19 par.) 1

Z. B. in der Enzyklika JOHANNES PAUL II, Ecclesia de Eucharistia vom 17. 4. 2003. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau durch ihr Leitendes Geistliches Amt im März 2008 und die Ev.-Luth. Kirche in Sachsen durch ihren Landesbischof Bohl. 3 Alle bisherigen Zitate Bisers finden sich in dem Buch: Theologie der Zukunft. Eugen Biser im Gespräch mit Richard Heinzmann, Darmstadt 2005, 72. Ich zitiere das Buch im Folgenden mit Theologie. 2

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berichtet, dass es im Tempelvorhof zu einer schweren Auseinandersetzung kam, weil er die Geldwechsler und Verkäufer von Opfertieren aus dem Tempel getrieben hatte. Es geht in dieser Geschichte nicht um ein paar Turteltäubchen mehr oder weniger, sondern um einen Frontalangriff Jesu auf den Tempelbetrieb, insofern dort mittelbar – nämlich über den Verkauf der von den Priestern zu opfernden Tiere – die Heilsgaben (stellvertretender) Sühne und Vergebung gegen Geld verkauft wurden. Mich erinnert diese Geschichte immer wieder an den Widerstand Martin Luthers gegen den Ablasshandel Tetzels, durch den die Reformation letztlich ausgelöst wurde. Jesus wollte, wie das überlieferte Zitat zeigt, den Tempel als „Bethaus“ und urteilte, dass der Opferbetrieb, an dem zu seinen Lebzeiten ca. 8.000 Priester in Jerusalem in mehreren Schichten beteiligt waren, mit der dazu gehörigen Massentierhaltung eher einer „Räuberhöhle“ glich. Die nur von Matthäus überlieferte Rede Jesu, er habe täglich im Tempel gesessen und dort gelehrt, unterstreicht sein eigenes Interesse: Es galt ganz offenbar der Synagoge im Tempelbezirk und der revolutionären Auslegung der jüdischen Schriften,4 nicht dem Opferkult. Die Konfrontation der trotzdem innerhalb und außerhalb des Neuen Testaments vielfach bezeugten christlichen Opfertheologie mit der Verkündigung Jesu bei Eugen Biser zeigt eine Argumentation, die näher zu betrachten sein wird, um ihre Eigenheiten und Nebenzüge, aber auch daraus ableitbare Konsequenzen benennen zu können. Ehe ich dazu komme, möchte ich aber Eugen Biser von Herzen dafür danken, dass er sich auf diese Konfrontation eingelassen und sie durchgestanden hat und durchsteht – aller kirchlichen und theologischen Frontstellung zum Trotz, die die Verteidiger der Opfertheologie bis heute gegen ihre Kritiker aufbieten. Mir ist Eugen Bisers Klarheit zu einer starken und stärkenden Begleitung meines eigenen Kampfes gegen Verzerrungen des Evangeliums Jesu durch (früh)kirchliche Rückfälle in die von Jesus überwundenen Glaubensstrukturen geworden.

2. Christliche opfertheologische Aussagen und Liturgien Um das Gewicht und die einzelnen Elemente der Biser’schen Argumentation in der Opferfrage auch im Detail würdigen zu können, ist es nötig, einige Partien aus neutestamentlichen Schriften und aus christlichen Liturgien zu erinnern. Beispielhaft für eine Deutung des Todes Jesu als einer Sühne wirkenden Opferhandlung ist, was Paulus Röm 3,25 geschrieben hat – ich übersetze frei: „Für den Glauben hat Gott ihn (Jesus) als ein Opfer hingestellt, das durch sein Blut Sühne wirkt; dadurch hat Gott die Gültigkeit seiner in der Tora verankerten Rechtsordnung erwiesen; denn die vorher geschehenen Sünden waren wegen der Langmut Gottes ungesühnt geblieben.“ Das heißt zugleich: Sie haben gesühnt werden müssen. In diesem Sinn sei „Christus für uns gestorben“ (Röm 5,6) und habe Gott in Jesu Opfertod „seine Liebe zu uns bewie4

Vgl. dazu Mk 6,1–6 und Parallelen, vor allem Lk 4,15: „Und er lehrte in ihren Synagogen, von allen gepriesen.“ Dass es dabei keinesfalls immer friedlich ausging, belegt Lukas selbst (4,28–30).

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sen“ (Röm 5,8). Der darin steckende Gedanke hebt letztlich auf das bei Jesu Sterben vergossene Blut ab. Denn Blut, das beim Opfer von makellosen („unschuldigen“) Tieren vergossen wurde, hatte nach antiker Vorstellung eine reinigende, sühnewirkende Kraft, weil das geflossene Blut Zeichen des stellvertretend erlittenen Todesurteils über Sünder und Frevler war. Zugleich hatte Blut in der Antike magische Qualitäten. Deshalb konnte der Hebräerbrief den Grundsatz jüdischer Kulttheologie so nachformulieren: „Sündenvergebung ist ohne Blutvergießen nicht möglich“ (9,22). Weil dieser Grundsatz unbestritten für ihn galt, deutete auch der Hebräerbrief den Tod Jesu als Sühnopfer für die Sünden der Menschen. Als Sünde galt der Ungehorsam gegen Gottes Rechtsordnung, gegen die Tora. Weil dieser Ungehorsam Gott und sein Recht und damit die Grundfesten der Weltordnung verletzte, war der Sünder prinzipiell des Todes würdig. Und da niemand ohne Sünde ist, hatten alle Menschen – modern gesprochen – ihr Lebensrecht verloren, also die Todesstrafe verdient. Einen Ausweg bot nach jüdischer Auffassung nur die an den Opferkult gebundene Sühne: Indem in frühgeschichtlicher Zeit ein Mensch und später ein unschuldiges Tier getötet und sein Blut vergossen wurde, konnten alle am Kult beteiligten sündigen Menschen aus der drohenden Folge ihres Ungehorsams befreit bzw. losgekauft werden. Da die Sünden durch den Opferkult aber nicht abgeschafft wurden, war für die Gläubigen eine immer neue Teilnahme am entsühnenden Opferkult notwendig, um Zugang zur Sündenvergebung und Frieden mit Gott zu haben. „Der Opferdienst“ im Jerusalemer Tempelkult „war und blieb der Garant für den Schalom zwischen Gott und dem Volk“.5 Die Logik der Opfertheologie hat auch die reformatorische Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre im Grundsatz anerkannt. Denn sie hat nachformuliert, was Paulus in Röm 5,9 als seine erlösungstheologische Summe geschrieben hatte: „Durch sein [Jesu] Blut sind wir gerecht gesprochen, durch Jesus vor dem Zorn Gottes gerettet worden.“ Denn „er ist für unsere Sünden in den Tod gegeben worden“ (Röm 4,25). Ja, weil seit Adam und Eva alle Menschen ungehorsam gewesen sind, hat Paulus einer verbreiteten Meinung zustimmen können, Gott vollstrecke seinen Zorn über die ungehorsame, sündige Menschheit zwar nicht mehr durch eine Sintflut wie jene frühgeschichtliche, in der er alle Lebewesen – bis auf einen regenerierungsfähigen Rest – ersäuft hatte. Aber sein Zorn regiere trotzdem unser Leben, dadurch dass wir nachparadiesische Menschen sterblich sind. Zitat: „Der Sünde Sold ist der Tod“ (Röm 6,23). Nur wegen des Kreuzestodes Jesu und der dadurch geschehenen Errettung vor dem Zorn Gottes können wir nach dem Tod „ewiges Leben“ als „Gottes Gnadengabe“ erhalten (Röm 6,23).6 Das sind die Grundzüge der Theologie vom stellvertretend erbrachten Sühnopfer. Die Sünder bleiben Sünder; aber durch die in Jesu Blut bzw. Tod geschehene stellvertreten5 P. WICK, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, Stuttgart 22003, 136. Durch Zeiten ohne Tempel hatte Israel allerdings Erfahrungen damit gemacht, die Segnungen des Tempelkultes durch einen erhöhten und in der Intensität vertieften Toragehorsam zu ersetzen. 6 So also, indem „er den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht“ und uns wegen des stellvertretenden Leidens und Todes Jesu gerecht gesprochen hat (2 Kor 5,21), „versöhnte Gott in Christus die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht (mehr) anrechnete“ (2 Kor 5,19).

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de Sühne ist der Sünder nun in Gottes Augen zugleich das, was jeder Jude – und seit Paulus auch jeder Christ – sein soll: ein Gerechter. Dass der gläubige Mensch Sünder und Gerechtgesprochener zugleich ist – ist zur zentralen Aussage reformatorischer Kreuzes- und Gnadentheologie und damit auch der Rechtfertigungslehre geworden. Das Größte, was es demnach von Gott zu sagen gibt, ist seine Gnade. Aber wir müssen festhalten: Diese Gnade Gottes ist ganz und gar gebunden an das Leiden und Sterben Jesu, das er als stellvertretende Vorleistung erbracht hat. Und darin unterscheidet sie sich kategorial von einer Liebe, die aus sich selbst kommt. Aufgrund neuerer Forschungen will ich diesen Überblick noch um ein weiteres Element der Sühnetheologie ergänzen, das uns dann auch zu den ersten christlichen Opfermahlliturgien für die Eucharistie, die lobpreisende Danksagung also, führt. Peter Wick7 hat herausgestellt, dass in der Fassung der Abendmahlsworte bei Matthäus die Sühne wirkenden Elemente etwas anders als bei Paulus betont und begründet werden. Denn nur bei Matthäus finden wir im Kelchwort die Aussage, Jesu Blut sei „für viele“ vergossen worden „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). Wick kann nachweisen, dass hier ein Zug jüdischer Märtyrertheologie erscheint, der seit den jüdischen Freiheitsbestrebungen unter den Makkabäern im 2. Jahrhundert vor Christus belegt ist. Danach hat der Tod von Menschen, die wegen ihres unbeugsamen Toragehorsams getötet worden waren, sühnende Wirkung für das Volk. Auch Paulus kannte diesen Gedanken, wenn er geschrieben hat, Jesus sei „von Gott erhöht worden“, weil „er gehorsam gewesen ist, ja, gehorsam bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8f.). In den Abendmahlsworten ist diese Märtyrertheologie, die dem Tod toratreuer Juden sühnende Wirkung für das (sündige) Volk zugeschrieben hatte, von Matthäus auf Jesu Tod übertragen worden. Sie wurde dabei verbunden mit der anderen Deutung seines Todes, die das Vergießen seines Blutes in Analogie zum Mosebund (Ex 24,3–8) als Besiegelung eines neuen Bundes Gottes mit den Judenchristen verstanden hat: „Dies ist das Blut des Bundes, das für viele vergossen worden ist zur Vergebung der Sünden“, lautet deshalb das ganze Kelchwort bei Matthäus. Bei Paulus und Lukas heißt es ähnlich: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut / durch mein Blut (1 Kor 11,25; Lk 22,20) – und Lukas fügt hinzu „das für euch vergossen wurde“. In dem „für euch“ wird die Sühnewirkung mittelbar ausgesprochen. Das von den Christen (bei Paulus und Lukas) mit der Mahlfeier verbundene Gedächtnis des Todes Christi ist darum letztlich die Fortführung jenes Bundesopfers und zugleich des Märtyrergedächtnisses, mit dem sich für die Feiernden Sühne und Sündenvergebung verbinden. Wieder wird, wie bei der Sühnopferdeutung, die Sühnewirkung, ja, die Gnade Gottes, ganz und gar abhängig gemacht von dem Leiden und Sterben Jesu.8

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Die urchristlichen Gottesdienste, bes. 132–136 und 248–250. Die bei Matthäus vorliegende Verbindung aus Opfertod und Sühne wirkendem Märtyrertod findet sich auch in der Johannesoffenbarung 12,11: „Und sie haben überwunden durch das Blut des Lammes und durch das Blut ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis in den Tod.“ 8

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3. Die Begründung der opferkritischen Theologie Eugen Bisers Ich habe diese Zusammenhänge so ausführlich angesprochen, weil die kritische Sicht der christlichen Opfertheologie bei Eugen Biser um so besser hervorkommt, desto deutlicher uns diese Zusammenhänge vor Augen sind – und je mehr wir begreifen, dass die Opfer- und Sühnetheologie allgegenwärtig in der Bibel und – noch jedenfalls – in den Liturgien christlicher Kirchen ist. Denn erst dann kann uns auch in der nötigen Schärfe klar werden, wie stark diese allgegenwärtige Gnaden- und Sühnetheologie die Mitte der Verkündigung Jesu verdeckt hat und bis heute verdeckt. Und dann wird auch klar, welche Arbeit und welche innerkirchlichen Auseinandersetzungen denen, die den Weg Eugen Bisers in dieser theologischen Grundentscheidung weitergehen wollen, bevorsteht. Ich knüpfe, um das auszuführen, an das eingangs gebrachte Zitat von Eugen Biser noch einmal an: Ein „Gott der bedingungslosen Liebe wird durch Opfer nicht versöhnt, ganz davon zu schweigen, dass er gar keine Opfer will.“ Das ist das erste und zentrale Argument gegen die Theorie vom Sühnopfertod Jesu, das seinerseits in Bisers Schriften allgegenwärtig zu finden ist: Das Gottesbild, das Jesus wahrgenommen und uns vermittelt hat. Denn nach Biser bildet „zweifellos die Gottesverkündigung Jesu“ die Mitte der neutestamentlichen Schriften. Durch sie verfüge Jesu Werk „über eine eigene religiöse Identität“.9 Das Verhältnis des Gottes, den Jesus im Unser-Vater mit der „Zärtlichkeitsanrufung ‚Abba – Vater‘“ angeredet hat,10 zu uns Menschen wird im Tiefsten und Äußersten nicht mehr aus einem Gemisch von Zorn und Gnade11 bestimmt, sondern allein von Liebe. Damit das ganz klar herauskommt, betont Biser immer zugleich, dass diese Liebe Gottes bedingungs-los, unbedingt, also an keine sie bedingende Ursache gebunden ist, die außerhalb ihrer selbst läge. Ich habe durch Eugen Biser sehen gelernt, was mir anfangs gar nicht leicht gefallen ist: dass die Liebe Gottes, wie sie Jesus verkündet und gelebt hat, ganz aus Gott selbst kommt. Sie ist Ausdruck der höchsten Freiheit Gottes und bedarf keiner Vorleistung. Ja, würde sich Gottes Liebe auf irgendeine Vorleistung wie ein stellvertretend gebrachtes Opfer, gar ein Menschenopfer, berufen, wäre sie keine un-bedingte Liebe, sondern wieder eine bedingte, abhängige, und das heißt in religionsgeschichtlicher Perspektive: eine gewöhnliche Liebe gewesen, die Sühnezeichen als Bedingung verlangt. Darum ist es für Biser ausgeschlossen, dass dieser Gott seinen Sohn als Opfer ans Kreuz gezwungen habe, um die Sündenlast der Menschheit zu sühnen. „Er (scil. Jesu Tod) hat nichts zu tun mit einer Ableistung der Sündenschuld der Welt“. Zwar habe Jesus die ganze „Sündenlast der Welt“ auf sich genommen und aushalten müssen – aber „nicht blutig am Kreuz, sondern in seiner gesamten Lebensleistung“.12

9 E. BISER, Die Entdeckung des Christentums. Der alte Glaube und das neue Jahrtausend, Freiburg i. Br. 2000, 260f. Zu unserer Thematik dort insgesamt 252–266. Ich zitiere das Buch im Folgenden mit Entdeckung. 10 Entdeckung, 261. 11 Vgl. u. a. Entdeckung, 11; Theologie, 72. 12 Theologie, 74.

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Dieser Gott weiß, dass niemand von uns leben kann, ohne Gott und Menschen etwas schuldig zu bleiben, was wir ihnen – um der Liebe Gottes willen – schuldig sind. Weil Gott seine Geschöpfe von sich aus liebt, muss er nicht durch Opferleistungen oder andere stellvertretende Sühne zur Gnade überredet werden. Er vergibt Menschen, die sich von seiner Liebe anstecken und zur Änderung ihres Lebens bewegen lassen, ihre Sünden. Das Gottesverhältnis bedarf keines Dritten, der zwischen Menschen und Gott tritt. Jesus hat mit seinem ganzen Leben – das ist der Akzent Bisers – und nicht erst und schon gar nicht ausschließlich mit seinem Tod, Menschen in die Gotteskindschaft und in die Nachfolge auf dem Christusweg gerufen. Sündenvergebung hat er zu Lebzeiten und ohne Berufung auf einen sühnenden Tod praktiziert, ja, er hat Vergebung im UnserVater zum Auftrag aller Christen gemacht. Gotteskindschaft und Vergebungsauftrag gehören zusammen. Haben sie die Gotteskindschaft angenommen, sind sie frei von Angst vor dem Gott, der ihnen ehemals als zürnend und rächend vorgestellt worden war.13 In seinen Reden gibt es, betont Biser, keine vorausblickende Äußerung, mit der er seinen Tod als Sühneleistung bezeichnet hätte.14 Auch deswegen „fehlt der Opfer- und Sühnetheorie jede Basis“.15 Jesus hat im Gegenteil vorgelebt, dass Sündenvergebung sehr wohl ohne Blutvergießen, Märtyrertode und kultische Sühne möglich ist. Und das bedeutete religionsgeschichtlich wahrlich einen Quantensprung. Alle weiteren Argumente hängen von diesem ersten, im strengen Sinn theologischen, ab. Ich nenne sie daher jetzt sehr viel kürzer: Zweites Argument: Diese un-bedingte Liebe Gottes umgeht nicht das Leiden in der Welt, sondern sie ist leidensfähig. So zweckfrei der Tod Jesu auch ist und so wenig er im Sinne der Sühneidee funktionalisiert werden darf,16 so sehr besteht Eugen Biser darauf, dass Jesu Tod ein Akt der liebenden Hingabe an Gott und die Seinen gewesen ist. „Deshalb verschmolz in seiner Todeshingabe das, was er war, mit dem, wofür er lebte.“17 Diesen knappen Satz Bisers kann ein anderer erläutern, der das Sterbens- und das Auferstehungsgeschehen als mystischen Akt zusammen deutet: „In seinem Tod gibt sich Jesus als Individuum auf, um als Gegenwärtiger in den Seinen auf- und fortzuleben.“ Hier meint Hingabe die „Liebe bis zum Äußersten“, von der Jesus im Johannesevangelium (13,1) spricht.18 Und noch deutlicher: „Das individuelle Dasein (scil. Jesu) in Raum und Zeit nimmt […] mit dem Tod ein Ende. Dann aber beginnt das pneumatische Dasein: Als lebendig machender Geist beseelt Christus die Welt und jeden Einzelnen von uns. Das ist die frohe Botschaft von Ostern“,19 die nach Biser aber schon auf der Rückseite des karfreitäglichen Sterbens beginnt: „Demnach ereignete sich die Auf13

Entdeckung, 27. Ebd. Ich ergänze diese Beobachtung mit einer eigenen: Es findet sich bei Jesus – außerhalb der Abendmahlsworte – auch kein einziges Mal der Begriff „Bund“ oder „neuer Bund“, für dessen Begründung sein Blut als Bundesblut hätte gebraucht werden können. 15 Theologie, 74. 16 Entdeckung, 26. 17 Entdeckung, 263. 18 Theologie, 78f.; Gotteskindschaft. Die Erhebung zu Gott, Darmstadt 2007, 272 (ich zitiere das Buch im Folgenden mit Gotteskindschaft). Im griechischen Text wörtlich: „bis zum Ziel / Ende“. Worum es geht, verstehe ich von Joh 19,30 her. 19 Theologie, 80. 14

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erstehung nicht erst, wie die symbolische Zählung der […] Ostergeschichten will, am ‚dritten Tag‘, […] sondern […] bereits am Kreuz“. In dem letzten der Worte Jesu vom Kreuz herab, „Es ist vollendet / vollbracht“ (Joh 19,30), findet Biser in seinem neuesten Jesus-Buch diese aufregende Sicht belegt.20 Drittes Argument: Die Satisfaktionstheorie Anselms von Canterbury wird durch die neue Deutung des Kreuzes Jesu zusammen mit dem Auferstehungsgeschehen widerlegt. Denn an Jesu Sterben ist nicht abzulesen, dass Gott durch das, was Menschen Gott und sich untereinander schuldig geblieben waren, beleidigt worden wäre und mit einer für menschliche Verhältnisse überdimensionalen Sühneleistung, wie sie der Tod des Gottessohnes darstellt, hätte versöhnt werden müssen. Die Satisfaktionslehre instrumentalisierte den Tod Jesu als Sühne für einen Gott, den Jesus durch seine Botschaft von Gottes unbedingter Liebe schon hinter sich gelassen hatte. Und das bedeutet – wie Biser schön formuliert hat – dass „die Deutung des Kreuzestodes als Sühnopfer (sich) über die göttliche Interpretation hinwegsetzt, die dieser Tod durch die Auferstehung Jesu erfuhr.“21 Sie gießt, um ein Wort Jesu zu zitieren, seinen „neuen Wein in alte Schläuche“ (Mk 2,22), sie stellt also seine Botschaft von der un-bedingten Liebe Gottes auf den Kopf. Denn an dem liebenden Gott muss und kann nichts versöhnt werden, und von ihm aus ist an den Menschen nach ihrem Tod nichts zu rächen. Gottes Liebe braucht keine Sühnopfer, ja, widerspricht ihnen. Mehrfach hat Biser betont, dass Jesus, als er die Heilsverheißung aus Jesaja 35 zitierte, den „Tag der Rache“ ersatzlos aus dem Verheißenen getilgt hat (Mt 11,4–6).22 Ein Heil, das mit Rache verbunden ist, kann Biser mit Gott, wie er sich für ihn in Jesus selbst offenbart hat, nicht verbinden. Viertes Argument: Die Sühnopferlehre widerspricht nicht nur dem Gottesbild, das wir von Jesus lernen, sondern auch seinem Bild vom Menschen. Da, wo heute mit Erbitterung trotz aller Gegenargumente an der Sühnopfertheologie festgehalten wird, wird mit derselben Energie an dem negativen Menschenbild festgehalten, das zur Sühnopfertheologie gehört. Dieses Menschenbild kann sich zwar auf den Satz des Paulus berufen, wonach unser Tod, besser: unsere Sterblichkeit und Endlichkeit, eine Folge der Sünde seit Adam und Eva seien (Röm 6,23), also eine Strafe. Aber auch in dieser theologischen Konzeption ist der Tod verzweckt, zum Mittel der Strafe für Sünde gemacht. Und damit ist der Tod, ist unsere Sterblichkeit, diskriminiert, zum „letzten Feind“ gemacht worden (1 Kor 15,26). Die Wohltat, dass die Sterblichkeit alles Geschaffenen uns vor Vergreisung und davor bewahrt, dass das Leben an sich selbst ersticken, sich zu Tode wachsen würde, kann deshalb nicht gesehen werden. Auch nicht, dass er ein Tor zum Leben ist, wie Jesus im Johannesevangelium mit dem Bildwort sagt, dass das Weizenkorn in die Erde fallen und sterben muss, um neue Frucht zu tragen (Joh 12,24). Im Gegenteil. Der Tod ist total negativ besetzt worden. Bis heute, betont Eugen Biser immer wieder, wird vor allem von Schwerkranken und Sterbenden deshalb die quälende Frage gestellt, womit ein Mensch dieses oder jenes Leiden oder Unglück „verdient“ habe. Und dies, obwohl Jesus einen Zusammenhang von Sünde und Leiden ausdrück20

E. BISER, Jesus. Sein Lebensweg in neuem Licht, Regensburg 2008, 73–75, hier: 77. Entdeckung, 259. 22 Entdeckung, 261. 21

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lich zurückgewiesen hat (Joh 9,1–7). Nicht die Frage, wer da gesündigt habe, sei zu stellen, wenn ein Mensch krank wird. Sondern jedes Leiden sei zu begreifen als eine Herausforderung, es zu heilen und so – durch Linderung oder Heilung – die Werke Gottes offenbar zu machen. Das ist Jesu Botschaft. Biser sieht in der Diskriminierung des Todes als „der Sünde Sold“ zu Recht den Grund dafür, „dass unsere Zivilisation eine geradezu perfekte Kunst der Todesverdrängung entwickelt hat.“23 Und er hat darauf hingewiesen, dass Paulus an anderer Stelle, im 1. Korintherbrief, eine genau gegenteilige Position vertreten und geschrieben hat: „Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes ist die Sünde“ (15,56). Da ist also die Sünde eine Folge unseres Wissens um unsere Sterblichkeit und Endlichkeit.24 Und das ist etwas ganz anderes und leuchtet denn auch ein: Weil wir nur begrenzte Zeit haben und die begehrten Güter nicht beliebig zur Verfügung stehen, sind wir ständig versucht, die Rechte der Mitmenschen und anderer Mitgeschöpfe zu unseren Gunsten einzuschränken oder ganz zu missachten. Das hat nichts damit zu tun, dass „das Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf“ (Gen 8,21; vgl. 6,5) und Menschen unfähig zur Liebe und zum Dienst aneinander wären. Dass unsere bösen Werke mit dem Wissen um unser kurzes Leben zusammenhängen, entspricht – jenseits einer „Sündekultur“ (Jan Assmann) – der Erfahrung, dass wir zur Grenzüberschreitung neigen, und der schweren Aufgabe, beständig zwischen Gut und Böse unterscheiden zu müssen.25 Weil das so ist, hat uns Gott mit seinen Geboten Lebenshilfen gegeben, wie Jesus es in den Sabbatstreitigkeiten mit den Schriftgelehrten ausdrücklich betont hat: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht worden und nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2,27) Das gilt für alle Gesetze, sofern sie nicht an Gottes Stelle treten und ohne Liebe praktiziert werden.

4. Die Leistung der Opferkritik Eugen Bisers und mit ihr verbundene Probleme und Konsequenzen für die Gestalt kirchlicher Lehre und Liturgie Fragen wir nach der Leistung der Opferkritik Eugen Bisers, so beschränke ich mich heute auf zwei Punkte. Erstens: Biser hat dadurch, dass er das Leben und die darin Gestalt annehmende Gottesbeziehung Jesu als die Mitte des Neuen Testaments herausgestellt hat, nicht nur eine Kritik an der Sühnopfertheologie vorlegen können, die sich auf Jesus berufen kann und in sich schlüssig ist. Sondern er hat dadurch auch den Zugang zu einer neuen Sicht des Todes Jesu eröffnet. Denn wenn der Gedanke des Opfertodes und damit die Verzweckung des Sterbens und Todes Jesu26 für den Glauben wegfallen,

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Theologie, 54. Theologie, 53; Mensch und Spiritualität. Eugen Biser und Richard Heinzmann im Gespräch, Darmstadt 2008, 120–124. 25 Theologie, 50–55. 26 Diese Verzweckung hat zwei Seiten: eine anthropologische, die den Tod als Strafe erscheinen lässt, und eine soteriologische Perspektive, in der er zum Heilsmittel wird. 24

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kann Jesu Tod in der Tat in dem Sinn als Hingabe und „Liebestat“27 verstanden werden, dass Jesus gestorben ist, um in den Seinen „als ihr Identitätsgrund und ihre wahre IchMitte“ aufzuleben.28 Die „Einwohnung Christi im Herzen der Seinen“29 ist der mystische Sinn des Sterbens und Auferstehens Jesu. Und das ist ein Angebot für den Glauben, das uns nicht nur von der jahrtausendelangen unseligen Verknüpfung von Gott und Gewalt befreit, sondern auch von allen Problemen mit den sich wandelnden Weltbildern der Physik.30 Aber weil der Glaube wieder glauben kann, dass Christus in uns lebt und wir in ihm leben,31 können wir uns nun auch von Menschenbildern verabschieden, die den Menschen, das Geschöpf Gottes, zu einem Wesen verunstaltet haben, der als Geschöpf – wegen seines Ungehorsams gegen Gottes Gebote – kein Lebensrecht habe. Ist Christus durch die Liebe Gottes in uns und sind wir in ihm, sind wir vor dieser negativen Sicht geschützt. Außerdem setzt Gottes Liebe einen therapeutischen Prozess in unserer Seele in Gang, den man früher „Heiligung“ nannte. Kein Theologe hat so entschieden wie Eugen Biser darauf gesetzt, dass die bedingungslose Liebe Gottes, wenn wir sie in uns einwohnen lassen, die einzige Kraft ist, auf die wir bei der erhofften und notwendigen „Erziehung des Menschengeschlechts“ zum Frieden wirklich hoffen können.32 Was nun die Konsequenzen aus der Opferkritik Bisers angeht, so muss ich mich auch hier auf wenige Gedanken beschränken. Ich nenne zuerst eine innertheologische Konsequenz: Es ist Eugen Biser ersichtlich schwer gefallen, seine sühnopferkritischen Einsichten mit seiner genau so deutlich erkennbaren Liebe zu Paulus zu verbinden. Schon ein Blick in die Bibelstellenregister in seinen großen Arbeiten zeigt, wie er etwa diejenigen Stellen im Römerbrief, die die Sühnopfertheologie entfalten, eher meidet,33 und diejenigen ausführlich behandelt, die seine Kritik mittragen. Biser hat sich bemüht zu verstehen, warum Paulus und andere in ihrer Missionsarbeit an die in der Antike allgegenwärtigen Opfer- und Sühnevorstellungen angeknüpft haben, um den Verbrechertod, den Jesus hatte sterben müssen, in einem anderen Lichte zu sehen. Was dem Sühnopfergedanken folgt, erklärt er damit, dass Paulus in seiner Missionspredigt Kompromisse eingegangen sei, „die seinen Grundgedanken verdunkelten.“ Aber Biser unterstreicht darüber hinaus, das Menschenbild des Paulus sei „düster“, weil Paulus unterstellt, der Mensch sei seit Adam und Eva „der Sünde verfallen“.34 „Als schwerster Fremdkörper der paulinischen Verkündigung“ habe deshalb seine Rechtfertigungslehre insgesamt zu gelten.35 Ich denke allerdings, dass das Menschenbild, von dem Paulus ausgeht, und die Rechtfertigungslehre nicht auf dem Weg eines Kompromisses mit seinen Adressaten in 27

Theologie, 79. Entdeckung, 27. 29 Gotteskindschaft, 281–284; Jesus (wie Anm. 20), 72. 84. 30 Entdeckung, 271f. 31 Vgl. Entdeckung, 27. 32 Vgl. dazu ausführlich in: Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 1997, 297–303. 33 So zitiert er in Entdeckung, 69f., zwar Röm 3,25, kritisiert die dort gemachten Aussagen des Paulus aber nicht. Röm 5,6–10 erscheint kaum einmal in den Registern. 34 E. BISER, Der unbekannte Paulus, Düsseldorf 2003, 64–67, hier: 67. 35 A.a.O., 64. 28

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seine Briefe hineingekommen sind, sondern dass Paulus dahinter stand. Ich vermute, dass Paulus zum Leben und zur Verkündigung Jesu – aus welchen Gründen auch immer – keine wirkliche Beziehung hat aufbauen können. Denn es bliebe für mich sonst unverständlich, warum Paulus nur an einer einzigen Stelle auf ein überliefertes Jesuswort36 eingegangen ist. Für mich ist sein Menschenbild Indiz dafür, dass er Menschenbild und Sühnopfertheologie aus seiner Tradition genommen hat. Und beide stellen im Rahmen der Verkündigung der unbedingten Liebe Gottes durch Jesus einen schweren Fremdkörper dar. Das weist für mich darauf hin, dass eine der dringlichsten Aufgaben, die vor uns liegen, sein wird, das so genannte biblische Menschenbild daraufhin zu untersuchen, wie weit es mit der Verkündigung Jesu zu verbinden ist. Denn es zeichnet sich ja auch bei Eugen Biser schon ab, dass es unlösbar – ich denke: ursächlich – mit der Sühnopfertheologie verknüpft ist. Auf eine andere Konsequenz aus der Opferkritik Eugen Bisers will ich zum Schluss noch eingehen, obwohl sie für Biser ein besonderes Problem darzustellen scheint. Das sage ich, weil es von ihm selbst nur minimale Andeutungen dazu gibt.37 Ich meine die Rolle, die die Sühnopfertheologie in der Liturgie der Römischen Messe und im evangelischen Abendmahl spielt. In Anknüpfung an frühere Gedanken hat er im Gespräch mit Richard Heinzmann zwar das Brotwort vor der Fehldeutung in Schutz genommen, das Wort „mein Leib“ sei auf den Körper des Gekreuzigten im konkretistischen Sinn zu beziehen. Und er schlägt vor zu übersetzen: „Nehmt (das Brot) hin und esst, das bin ich für euch.“38 Und seine Sympathie für das Johannesevangelium, das das Abendmahl durch die Fußwaschung ersetzt hat (Kap. 13),39 ist vielen Hörern seiner Vorlesungen bekannt. Aber er hat nicht die Konsequenz gezogen, eine Änderung des sogenannten „Einsetzungsberichtes“ in Messe und Abendmahl zu fordern – zumal das Kelchwort ja noch viel deutlicher in die Sühnopfertheologie verwickelt ist, wie ich bereits gezeigt habe. Denn nur da geht es um das Sühne wirkende Blut. Ich kann verstehen, dass Eugen Biser an diesem Punkt zögert. Nicht etwa, weil er kein Liturgiewissenschaftler ist, sondern weil er weiß, dass ein ernsthafter Eingriff in den Inhalt der Abendmahlsworte auch eine Änderung des Charakters von Messe und Abendmahl zur Folge haben muss – und einen gewaltigen Streit mit den Kirchen. Ich habe diesen Schritt inzwischen getan und mich dabei auf die außerkanonische frühchristliche Schrift der Zwölfapostellehre oder Didaché berufen können, die in meinen Augen die Urform der Eucharistie darstellt.40 In ihr gibt es keine Beziehung von Brot und Wein zum Leib und Blut Christi und keine Sühnopfertheologie. Diese Liturgie 36

Es geht um ein Wort Jesu zur Ehescheidung: 1 Kor 7,10f. vgl. Mk 10,1–12 Theologie, 75, erwähnt er zwar, dass die Satisfaktionslehre bis in die Liturgie hinein bis heute schwerwiegende Auswirkungen habe, er verfolgt dieses Problem aber – soweit ich sehe – nirgends weiter konstruktiv kritisch. 38 Theologie, 77. 39 Zum Beispiel: Entdeckung, 101; Gotteskindschaft, 272. Dabei vergleicht Biser das Brotbrechen mit der Fußwaschung als Gestus der dienenden Liebe, die sein Leben als Hingabe verständlich macht, die auf das Weiterwirken in den Seinen zielt. 40 In meinem Buch Lebensgaben Gottes feiern. Abschied vom Sühnopfermahl: eine neue Liturgie, Gütersloh 2007. 37

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steht derjenigen nahe, wie Jesus sie wahrscheinlich mit den Seinen gefeiert hat. Im Zentrum des großen Eucharistiegebetes dort steht als Grund des Dankes, dass Jesus das Leben offenbart hat. Aber genau darum geht es ja auch in der Theologie Eugen Bisers und seiner Kritik an der Sühnopfertheologie. Darum ist er mir auch bei der Arbeit an dieser neuen Liturgie eine große Hilfe gewesen.

NORBERT BRIESKORN

„Das Leben als Akt der Selbstverschwendung“

Der obige Titel findet sich wortwörtlich in Eugen Bisers Buch von 1992 Paulus, Zeuge, Mystiker, Vordenker. Dieses Wort „Das Leben als Akt der Selbstverschwendung“ umschreibt und erklärt Leben, ein Leben, das Jesu Christi, des Paulus und anderer, ja, wir können hinzufügen, es erklärt das Leben.1 Sehen wir uns diesen Satz genauer an! Leben ist demnach Akt. Es ist somit beständiges Überführen von Möglichkeiten in Wirklichkeit. Es ist Dynamik. Das Ich ist zugleich seine Tat und sein Produkt, schreibt Fichte, und er fährt fort, das Ich „ist handelnd; es ist, was es handelt, und wenn es nicht handelt, so ist es nichts“.2 Er sagt „nichts“, nicht „nicht“. Das passt hier. Und das Handeln des Menschen besteht im Sich-Verausgaben. Es geht dem Ich um das tatsächliche verschwenderische Weggeben. Nur so gewinnt es sich in neuer Form und in höchster Nachhaltigkeit. Ein zweiter Blick sagt uns, dass wir uns im Raum des Vorbildlichen und Grundsätzlichen bewegen. Trotzdem verurteilt und verunglimpft dieses Wort nicht, es wiegelt und stachelt nicht auf, es grenzt niemanden aus. Ruhig weist es uns auf das Leben des Paulus hin. Paulus erlebt sich als so reich ausgestattet, dass er zweierlei vermag: Fülle auszuteilen und diese verschwenderisch wegzugeben. Doch gehen wir zuerst einen Schritt zurück und betrachten, was Paulus zu diesem Verschwenden befähigte.

I. Jesus Christus, der Sich-Selbst-Verschwendende Paulus folgt Christus nach, ja, er bietet sein Leben Christus als Wohnstatt an. Von Jesus Christus her bezieht Paulus seinen letzten Beweggrund und die Kraft, ihm nachzufolgen und das Leben mit dem Geiste Christi zu durchtränken. Wenn es im Johannes-Prolog heißt: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11), so 1

Eugen BISER, Paulus. Zeuge, Mystiker, Vordenker, München / Zürich 1992, 68. – Der Text des vorliegenden Beitrages ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages bei der Festveranstaltung aus Anlass des 80. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. Eugen Biser in der LudwigMaximilians-Universität München im Juli 2008, dank der Initiative von Dr. Bartscherer und des Herausgebers des Landshuter Tagblattes, Prof. Dr. Martin Balle, ebendort veröffentlicht im Sommer 2008. 2 Johann Gottlieb FICHTE, Grundlage des Naturrechts [1796]. I. Erstes Hauptstück. § 1. Corrollaria. Nr. 3; Gesamt-Ausgabe, Abt. 1, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 334.

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Norbert Brieskorn

wurde Paulus ausdrücklich einer der Seinen und nahm ihn in sich auf. So konnte er in Gal 2,20 mitteilen: „Nicht mehr ich, sondern ER lebt in mir“: Indem Paulus so schrieb, verweist diese Lebenshaltung der Verschwendung nicht auf irgendeine Fülle, sondern auf eine Person. Kann man eine Person austeilen? Darf man über sie so verfügen? Wer sich in den christlichen Glauben hat einführen lassen, wird nicht allzu erstaunt sein zu erfahren, dass das höchste und vollkommenste Gut, die Person Jesu Christi, zugleich jene ist, welche sich radikal den Menschen zur Verfügung gestellt hat. Christus kam nicht zu Paulus, um sich dessen Kraft zu leihen, vielmehr stellt Christus sich zur Verfügung, um sich einzugemeinden und in unser Innerstes einzulassen wie auch sich austeilen zu lassen. Im Philipperhymnus heißt es, nichts hielt er zurück und wurde wie ein Sklave (Phil 2,7). Anders als jeder Sklave dachte Christus nicht an Flucht, nicht an mittelmäßigen Dienst an den Menschen und sah seine Erniedrigung nicht als Titel dafür an, den Menschen Streiche zu spielen oder sie zu schädigen. Nein, das Bild vom Sklaven lässt sich nur insofern auf Christus anwenden, als er sich in die Gewalt der Menschen begab, sich hilflos machte und um sein Leben bangen musste, so wie ein jeder Sklave. Das Bild des Sklaven stimmt hingegen, wenn man sich mit ihm verdeutlicht, dass Christus wie ein Sklave bis zum Umfallen, sagen wir, bis zum Tod, für die Menschen der Welt arbeitete und arbeitet, die alle seine Herren sind. Bis zum Tod: bis zuletzt. Das spanische Wort für „Uneigennützigkeit“, „Losmachen“, „Freiwerden“, für „letzte Entäußerung“ lautet „desprendimiento“, und die spanische Sprache bezeichnet genau mit diesem Wort die „Abnahme Christi vom Kreuz“: sie ist das letzte Loslassen; er hat zu verzichten auf den letzten Halt und die hohe Stellung. Die todbringenden Nägel verschafften ihm noch eine Sicherheit, nicht zu fallen, und fixierten ihn in der Höhe, in einer Höhe über den Menschen. Nun wird der Leichnam auf diesen Halt verzichten müssen und nach unten geholt werden, ins Grab. Nun ist er angekommen, dort, wo er hinwollte, auf dem letzten Platz, wo niemand mehr zu ihm hinauf-, wohl aber jeder auf ihn hinunterblickt. Als Charles de Foucauld seinem geistlichen Begleiter Abbé Huvelin offenbarte, dass er, Charles, Furcht davor habe, an den letzten Platz gestellt zu werden, beruhigte der ihn mit den Worten: „Seien Sie beruhigt, den letzten Platz in dieser Welt können Sie gar nicht einnehmen, der ist bereits von Christus besetzt.“ Und doch noch einmal schärfer: Nicht von außen her wurde Jesus Christus solcher Tod zugefügt, vielmehr lebte er von innen her auf ihn zu. Es ist diese die äußerste und echteste Art der Selbstverschwendung, die das Leben, seine heilende Kraft, seine Zeit, seinen guten Ruf und seine Zukunft für andere weggab, und dies nicht berechnend, sondern ohne Blick auf Schuld oder Gegengabe eines anderen. Es ist also in diesem Wort vom „Leben als Akt der Selbstverschwendung“ zuerst Christi Leben gemeint: Er gibt sein Leben hin für seine Freunde (Joh 15,3), und jeder sollte sein Freund sein, zumindest nach Christi Wollen. Christus sprach durchaus von der Pflicht zu Planen und vom Berechnen der Mittel. Denken wir an den Turmbau, wo er dazu mahnt, dass wer bauen will, einen Bauplatz, Bauarbeiter, Steine und Ziegel und manches mehr benötige (Lk 14,28–30); oder an den König, der in den Krieg ziehen will, und der seine Truppen zählen sollte, und falls sie nicht ausreichen, Frieden schließen sollte (Lk 14,31–33). Solche Haltungen hängen von

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den jeweiligen Zielen ab. Leben ist selbstverständlich verantwortlich zu planen und zu führen. Und doch verurteilte Jesus Christus immer dann eine zweckrationalistische Einstellung, wenn sie die oberste und alles beherrschende Haltung zu werden drohte. Allen Haltungen übergeordnet ist jene Verausgabung. So wird das Verhalten jenes Bauern gegeißelt, der sich noch gestern eine große Scheune baute und auf höheres Einkommen hoffte und der in der Nacht zu heute starb (Lk 12,18). Christus war kein berechnender Typ. Sein Weg zu den Menschen, sein Geben, sein Schenken von Kraft, Zeit, Leben hatten es auf Verschwendung angelegt. Wenn einer von dir deinen Mantel will, gib ihm zwei; wenn einer dich bittet, doch diese Meile mit ihm zu gehen, so geh zwei mit ihm (Mt 5,39–42). So war Jesus! Wir wären ja schon sehr dankbar allein für ein gutes Wort gewesen, doch er gab nicht bloß dieses, sondern viel mehr, er gab sein ganzes Leben für uns. Sehen wir auf einige Menschen, welche das Leben zum Akt der Selbstverschwendung machten.

II. Und nun zu Paulus Paulus lebte aus Christus dem Sich-Verschwendenden und bezog seine Kraft aus ihm. Eine Paulus-Aussage dient uns als Ausgangspunkt; sie findet sich im 1. Korintherbrief. Es lauten die Verse von 1 Kor 9,19–23: Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich mich selbst einem jeden Menschen zum Sklaven gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz leben, bin ich einer unter dem Gesetz geworden, obwohl ich selbst gar nicht mehr unter dem Gesetz stehen brauchte, damit ich die, welche unter dem Gesetz sind, gewinne. Den Gesetzlosen war ich Gesetzloser, nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Starken zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm ein Teilhaber zu werden.

Dazu können wir noch Kol 1,24; Gal 2,19 und Röm 1,30 nehmen. Paulus hat verstanden: Seine körperliche Kraft war nicht endlos, auch seine emotionale Begabung stieß an ihre Grenze; mit Sprachen tat er sich schwer. Aber diese Kraft im Inneren, diese „Bewohnung“ durch Christus, sparte er sich nicht für irgendeine Zukunft auf und blickte mit ihr auch nicht nostalgisch auf eine Vergangenheit, in der Jesus sichtbar-leibhaftig unter den Menschen wandelte. „Geben ist seliger denn Nehmen“ (Apg 20,35), so ermahnte Paulus sich selbst. Er wartete nicht, bis die Menschen zu ihm kamen, vielmehr ging er zu ihnen und stieg dazu beispielsweise von der Küste auf das kleinasiatische Hochplateau, fuhr übers Meer zu ihnen und nahm sein Scheitern in den Synagogen in Kauf, um allen geben zu können. Er hielt keine einzige Rolle, die er lieb hatte, fest, sondern gab sie gegen jene auf, um Menschen zu Christus zu führen. Paulus hat es den Gemeindemitgliedern vorgemacht: „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“ (1 Kor 9,22b) und „In uns ist es nicht zu eng für euch“ (2 Kor 6,12).

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Von Paulus zu den Christen Während Petrus eine solche Selbstweggabe beansprucht hatte, als er Jesus zurief: „Mein Leben will ich für dich lassen!“ (Joh 13,37), war er noch unfähig nachzufolgen, vermochte er es doch noch, den Weg der Nachfolge radikal auszuschlagen. Noch besaß Petrus kein Verständnis für Verschwendung. Er wird sie noch lernen. Anders steht es mit jenen, welche eine solche Haltung überhaupt ablehnen! Feinde der Verschwendung sind jene, die angesichts der Sünderin, welche mit kostbarem Öl Jesu Füße salbt, sagen, man hätte das Geld doch den Armen geben können (Mt 26,29; Mk 14,5; Joh 12,8). Es heißt, dass Judas es vorher für sich abgezweigt hätte. Diese Erklärung kann nachgeschoben sein, sie muss nicht stimmen. Es mag ihm ganz einfach der Sinn für Verschwendung abgegangen sein oder vielleicht bekämpfte er eine solche Haltung leidenschaftlich aus tiefer Verunsicherung. Naturgemäß mag er beständig Zwecke und Mittel verglichen haben. Es kam ihm darauf an, mit den geringsten Mitteln den größten Zweck zu erreichen. Wohingegen Jesus um eines hohen Zweckes willen auch den verrücktesten Mitteleinsatz guthieß, wie bei der Suche des einen Schafes, wo der Hirte alle neunundneunzig anderen im Stich lässt (Mt 18,12–14). Gefallen haben Judas jene erwähnten Worte vom Turmbau, der hartes Kalkulieren verlangt, um zu sehen, ob das Geld für diesen Turmbau reiche; gefallen mag ihm auch das Gleichnis von dem Heerführer haben – auch es bereits erwähnt –, der die Zahl der Feinde zählt und die Zahl der Seinen damit vergleicht. Verschwenderisches Leben verlangt nicht, ohne Verstand zu leben, sondern ihn im richtigen Moment zurücktreten zu lassen. Judas dürfte den Rang solcher Worte falsch eingeordnet haben, nämlich fälschlicherweise zuoberst, so dass ihn dieser „Wahnsinn“ der Verschwendung zutiefst abschreckte und zur Verneinung brachte. Tief beunruhigt dürften ihn vielleicht jene Worte von der radikalen Nachfolge in Seinem Dienst haben.

Eugen Bisers Sicht Als Eugen Biser diesen Satz „Leben als Akt der Selbstverschwendung“ schrieb, so setzte er ihn nicht wie einen verzichtbaren Schnörkel an den Rande eines Gedankengangs und er hielt das, was mit diesem Ausspruch gemeint war, nicht für eine ins Belieben gestellte Haltung. Nein! Für ihn stand und steht er im Mittelpunkt, dieser Satz, der eine Zusammenfassung ist! Vielmehr wuchs und wächst eine solche Zusammenfassung aus einem zentralen Anliegen Eugen Bisers heraus: für das Leben eine Charakterisierung zu finden, und nicht nur, wie heute oft, für das scheiternde, das zerrissen bleibende, das untergehende Leben, sondern auch für das glückende Leben. Außerdem ergibt sich aus Eugen Bisers Erläuterungen, dass jedes menschliche Leben in dem Akt der Selbstverschwendung seinen letzten, höchsten und erfüllenden Sinn finden würde. Damit betritt Biser nicht nur das Feld der Exegese, sondern auch der Christologie, der Literatur und der philosophischen Anthropologie. Denn Eugen Biser versucht hierbei, wie auch sonst, mit einem solchen Wort verschiedene Disziplinen zusammen zu bringen

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und zu überschauen, sodass wir sein Denken als interdisziplinäres bezeichnen dürfen. Mag auch er selbst es, allein, betreiben, und nicht eine Forschergruppe. Aber die Frage danach, „wer“ interdisziplinäre Forschung betreibt, ob einer oder mehrere, berührt ja nicht die Frage der Methode selbst; und die durchzieht in Eugen Bisers Werken und in seinem Vorgehen immer mehrere Fächer. Meist sind es Philosophie und Theologie, und in der Theologie die Exegese und die Dogmatik zwischen denen Eugen Biser hin- und herwebt. So wird die Christologie auf ihren letzten Sinn hin durchsichtig gemacht: auf den einen Gottvater, der seinen Sohn weggibt, auf einen Sohn, der sein Leben hingibt, auf einen Heiligen Geist, der in uns seufzt und rät und führt. Ein Akt rücksichtsloser Verschwendung, und eben nicht der egoistischen Berechnung, jedoch auch nicht des unverantwortlichen Leichtsinns! So führt Eugen Bisers Wort vom „Leben als Akt der Selbstverschwendung“ in das Binnenleben der Trinität hinein. Selbstverschwendung ist Tun Gottes in sich selbst und an sich selbst, der Vater verschwendet sich an den Sohn, der Sohn an den Vater, und beide verschwenden sich an den und mit dem Heiligen Geist. Jede Selbstverschwendung ist aus trinitarischem Stoff und trägt ihre Züge. Auch ist die philosophische Anthropologie bei Eugen Biser gestreift. Selbst wenn das ganze Leben nicht durchgehend von solchem Akt geprägt sein sollte, es kommt darauf an, um eine solche Haltung zu wissen, die uns Menschen zutiefst angemessen ist. Außer im Christentum kann der Blick auf andere Religionen helfen. Die Azteken waren ein Volk, wo es Brauch war, verschwenderische Feste zu geben. Unsinnige Feiern, mit einem uns unsinnig erscheinenden Aufwand an Federn und Vögeln, an Trank und an Essen. Diese Gastmähler und Trinkgelage sollten den Göttern signalisieren, dass es um ihre Verehrung ging und nicht um das Wohlsein der Menschen. Das Wohlgefallen an den Menschen machte in der aztekischen Religion die Menschen selbstverständlich ärmer und brachte sie oft an den Rand des Todes. Und wenn wir in unseren Kulturkreis sehen: Mittelalterliche Künstler verwandten immer wieder große Mühe darauf, gerade jene Wände mit viel Einsatz künstlerisch auszugestalten, auf welche nie ein menschliches Auge fallen konnte, da sie sich in beinah unzugänglichen Räumen befanden. Diese Künstler versteckten geradezu vor menschlichen Augen bestimmte Flächen und schmückten sie dann aus. Sie suchten damit Gott mitzuteilen, dass ihm ihre Kraft gelte und sie nicht auf das Lob von Menschen aus seien, dass sie nur für Gott da seien, der selbst nicht rechnete. Eugen Biser legt damit den Finger auf eine Wunde, auf diese Enge des Abendlandes, das sich durch Berechnung und nüchternes Kalkül auszeichnete und jede Art von Verschwendung verunglimpfte und zu bekämpfen suchte. Es zählte nur, was der Selbsterhaltung dienen und die Machtposition mehren und stärken konnte. Jener Zug menschlichen Lebens, die Verschwendung, wurde als fremd, ja als krank charakterisiert. Wer verschwendet, wird entmündigt, so das BGB von 1900. Und wo man über Verschwendung ernsthaft nachdenkt, wie bei Georges Bataille (1897–1962), nimmt man ein solches Denken zur Kenntnis und stempelt es als übertrieben und wunderlich ab. Doch hat Bataille einen solchen Grundzug des Menschen, wie es das Verschwendenkönnen ist, wieder in Erinnerung gerufen und zu Ehren gebracht, wenn auch einseitig übersteigert und verfälscht. Batailles Philosophie des Exzesses zielt auf das Vergnügen, die Lust im

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Sex, im Schmerz und im Tod; doch sieht Bataille den Menschen zutreffend als das Wesen an, welches sich – um sich zu gewinnen – ständig bis an die Grenzen fordern und überfordern muss, das sein Leben in Lust und Schmerz auszureizen hat, bis dahin, dass der Exzess das Leben verbraucht. Doch kennt Georges Bataille nur eine Transzendenz in der Immanenz. Von Gott, der sich verschwendet, ist ebensowenig die Rede, wie dass solcher Exzess seinen Sinn und – paradox! – sein Maß erst von einem beharrlich, ehrlich und dauerhaft gesprochenen Ja zu dem immer anderen und größeren Gott empfängt.

III. Was wird verschwendet? Während jede irdische dingliche Ware durch Austeilen schmaler und geringer wird, während jede Sache dieser Welt schwächer mit der Zeit wird und schrumpft, nehmen die geistigen Gaben durch Austeilen zu. Und noch einmal: Es geht nicht um bloßes Austeilen, sondern um ein Weggeben, das nicht an Morgen denkt. Eine solche Haltung nahm jene arme Witwe ein (Mk 12,41–44), welche mit den paar Pfennigen, die sie in den Opferkasten warf, ihre Rente, ihre Pflegeversicherung, ihr sowieso schmales Gespartes und eben alles weggab, um Gott zu ehren, der für sie der Verschwendende war. Verschwendung kann so unscheinbar sein. Man hört anderen zu und gibt damit Zeit, welche man sich für etwas anderes aufgespart hat. Gegeben wird zugunsten anderer Kraft, die dann woanders fehlt. Gegeben wird anderen auch Geld, so dass man zu Einschränkungen gezwungen ist. „Verschwendung“ hat nicht nur viele Gesichter, sondern auch einen kaum wahrnehmbaren Beginn. Alles, was gegeben wird, wird so gegeben, dass nicht nur das Haben sondern das Sein selbst ausgeteilt wird. Sich-Verschwenden darf kein einmaliger, emotional aufflackernder Akt an Großherzigkeit sein, sondern eine beständige, nüchterne Haltung. SelbstVerschwendung erzeugt nicht unbedingt Wohlgefühle.

Ein Ausflug in die Philosophie der Gabe, bzw. der Verschwendung Es würde erstens das Sich-Verschwenden seinen Charakter verlieren, wenn es auf eine Gegenleistung aus wäre, den Empfänger in die Schuld nähme oder gar mehr zurückverlangte als gegeben wurde. Nein, Selbstverschwendung rechnet nicht, erwartet nichts und will frei machen, nicht versklaven. Zweitens geht der Geber trotzdem nie in seinem Akt des Gebens auf. Unter den Bedingungen, unter denen wir leben, findet radikales Sich-Verschwenden nicht statt (außer im Tod, aber damit treten wir aus dem irdischen Leben heraus), das „Ich“ bleibt zurück und vermag immer noch einmal anzusetzen. Was zählt, ist die Absicht. Das Ich erfährt sich als „mehr“, als unabgeltbar, als Überschuss. Das Selbst lebt weiter. Wer verschwenderisch umgeht, bleibt immer noch fähig, weiterhin verschwenderisch in je anderer Gestalt umzugehen.

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Drittens geht aber auch das Geben selbst in keinem Akt auf. Das Sich-Verschwenden will immer mehr, als in den Konkretisierungen überhaupt Gestalt annehmen kann und annimmt. Die Absicht, ein liebendes Wort zu sprechen, übersteigt die Grenzen, welche das oft so kümmerliche, hölzerne Wort zieht; die Liebe lässt sich nicht in das schale Allerweltswort fassen, das uns grade zur Verfügung steht; das sich erbarmende Herz ist unendlich mehr wert als die paar Euro, welche die Bettlerin erhält. Trotzdem sind Wort und Geste nötig, gerade weil sie uns so viel abnötigen. Viertens wird die Gabe nicht restlos vom zugedachten Empfänger entgegengenommen werden können, wenn sie nicht überhaupt unbeachtet bleibt oder zurückgewiesen wird. Die Gabe ist seiner Entscheidung, seiner Lebensgeschichte, seinen Gefühlen und vielem mehr anvertraut. So handelt Gott an uns – und wie wenig gehen wir auf ihn zu. Sein Geben übersteigt unendlich, was unsere offenen Hände zu fassen vermögen. Wie in Kana (Joh 2,1–10) gehen auch uns unser Wein, unsere Weisheit und unsere Worte aus, doch er füllt nach, uns verwandelnd, uns den Wein seines Erbarmens und seiner Freundschaft spendend. Die Brotvermehrung zeigt, dass nach der Speisung immer noch etwas übrig bleibt (Mk 6,34–44). Das, was eine Mutter gibt, vermag das Kind nie völlig anzunehmen, so bleibt immer ein Mehrwert, der ohne Adressaten bleibt und dennoch nicht sinnlos ist. Es ist Wesentliches vom Menschenleben erst dann erfasst, wenn wir es nicht bloß und letztendlich als Kommunikation und unter dem Gesichtspunkt der Anschlussfähigkeit denken. Zum Geben gehört konstitutiv das „umsonst“: eine Mutter sorgt für ihre Kinder, die aber jetzt noch nicht begreifen, was die Mutter ihnen wirklich zuwendet; eine Lehrerin bildet ihre Schülerinnen aus, die jetzt noch gar nicht alles verstehen, denen aber haften bleibt, dass die Worte aus Respekt und Zuneigung kommen und ihnen helfen wollen. Fünftens fordert Selbst-Verschwendung, jeden Stolz und jeden Dünkel aus der begleitenden Reflexion zu verbannen. Da dies nie voll gelingt, wäre folgerichtig auf Reflexion zu verzichten. Zu dieser Erkenntnis gelangten die Israeliten, als sie es zwar als gute Tat anerkannten, wenn jemand sein Feld nicht radikal aberntete, sondern Ähren für die Armen stehen ließ; doch galt es als höherwertiges Tun, wenn er dies nicht absichtlich, sondern unabsichtlich tat. Oder denken wir an die Gerichtsrede: Gerade wer nicht weiß, dass er bei seinem Gefängnisbesuch nicht (bloß) den Gefangenen, sondern Christus besuchte, wird von Christus gepriesen (Mt 25,37–40).

Schluss – mit Blick auf Eugen Biser selbst Wenn Eugen Biser dieses Wort von dem „Leben als Akt der Selbstverschwendung“ in kräftigen Ausdrucksformen und bewegt beschreiben konnte, so nur deswegen, weil eine Art Verwandtschaft zwischen dem Lebensweg des Paulus und dem Eugen Bisers gegeben war. Nur wem solche Haltungen nicht fremd waren, konnte zu jenen Beziehungen vordringen, die zu Selbstverzehr und Selbstverschwendung führen.

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Auch wenn Eugen Biser ein exzellenter Beobachter und Zeitdiagnostiker ist, so ist er doch eben auch Teilnehmer, Betroffener, Mitleidender; jemand, der sich pro nobis verschenkt. Dafür unser großer Dank!

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Der Lebensweg Jesu in der Theologie Eugen Bisers

Wie es schon der Name sagt, definiert sich das Christentum ganz von seiner Beziehung zu Jesus Christus her. Etwas kann nur insoweit als christlich gelten, als sich darin die Gestalt Jesu Christi vergegenwärtigt, die nach christlichem Glauben die vollkommene und vollendete Selbstmitteilung Gottes ist. Von daher wäre es eigentlich selbstverständlich, dass die christliche Theologie ständig aus diesem Rückbezug auf ihren Ursprung leben muss. Die Orientierung an der Person Jesu ist für Leben und Lehre aller christlichen Kirchen im wahrsten Sinn des Wortes fundamental. Ein auch nur oberflächlicher Blick auf die Kirchen- und Theologiegeschichte macht aber ebenso unmissverständlich deutlich, dass im Laufe der Zeit auch innerhalb des Christentums selbst die Gestalt seines Stifters in den Hintergrund gedrängt, verdunkelt oder gar verraten wurde. Zu jeder Zeit ist daher eine Neubesinnung oder gar Neuentdeckung der Person Jesu für die Theologie die vorrangigste Aufgabe. In unserer Gegenwart hat kaum ein anderer Theologe die Dringlichkeit dieser Forderung so intensiv wahrgenommen und aufgegriffen wie Eugen Biser. In einer Reihe von schwergewichtigen Büchern versuchte er es über Jahrzehnte, sich der Gründergestalt des Christentums theologisch, philosophisch und auch spirituell so weit als möglich anzunähern, stets in einer Weise, in der die gegenwärtige Bedeutung Jesu für den Menschen heute verstehbar und erlebbar wird. Ich verweise nur auf Titel wie „Der Helfer“, „Jesus für Christen“, „Der Freund“, „Der inwendige Lehrer“, „Das Antlitz. Christologie von innen“. In all diesen Zugängen steht ein Gedanke im Mittelpunkt: Die Sonderstellung Jesu im Vergleich zu allen anderen Religionsstiftern besteht darin, dass er das, was er verkündigt, auch in Person ist. Eugen Biser entfaltet diesen Gedanken im Rückgriff auf den christologischen Grundgedanken von Søren Kierkegaard. Dieser brachte das ,Geheimnis‘ Jesu folgendermaßen auf den Punkt: „Der Helfer ist die Hilfe“. Damit ist gemeint, dass Jesus nicht nur von der Hilfe durch Gott spricht, sondern diese in seinem Wort und Leben auch leibhaftig ist. Diese Einsicht hat nun weittragende hermeneutische Konsequenzen für das richtige theologische Verständnis der Verkündigung Jesu. In seinen Worten und Taten bringt Jesus nicht nur irgendwelche von ihm verschiedene Inhalte zum Ausdruck, sondern primär und eigentlich sich selbst. Dieser bestimmende Grundzug der Offenbarung Jesu kommt in den neutestamentlichen Schriften auch ausdrücklich als solcher zur Sprache, etwa dann, wenn Jesus sich selbst zum Inhalt seiner Gleichnisse macht, oder ganz prononciert in den „Ich bin-Aussagen“ des Johannesevangeliums, z.B. im berühmten Wort „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Die Worte Jesu sind also

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ganz wesentlich seine Selbstaussage. Daraus folgt nun eine doppelte Konsequenz: Einerseits bedeutet dies, dass die Worte der Offenbarung nur dann richtig verstanden werden, wenn darin die sich mitteilende Gestalt Jesu vergegenwärtigt wird. Andererseits eröffnet der Vorzug, dass die Worte Jesu seine Selbstaussage sind, auch einen ganz einzigartigen und für den christlichen Glauben unverzichtbar konstitutiven Zugang zur Person Jesu. In seinem Offenbarungswort bleibt Jesus für die Gläubigen über die Zeiten hinweg in Person gegenwärtig. Nur damit kann jener von Lessing so genannte „garstige Graben“ überbrückt werden, der uns heute von jener Zeit vor 2000 Jahren trennt, in der Jesus leibhaftig unter den Menschen war. Da er sich in seinem Wort vollkommen selbst aussagt und mitteilt, bleibt er so lange bei und unter uns, als sein Wort gehört wird. Diese einzigartige Einheit von Wort und Person Jesu hat nun eine entscheidende Rückwirkung auf die am Beginn des Beitrages erwähnte Notwendigkeit, dass die christliche Theologie die Gestalt ihres Stifters stets neu entdecken und zur Geltung bringen muss. Da das Wort und das Leben Jesu seine Selbstdarstellung sind, braucht die christliche Religion ihren Gründer nicht von einer Außenperspektive eines fremden Horizontes her betrachten, sondern kann ihn in seinem eigenen Licht erstrahlen lassen, wie es in seinem Wort und seinem Leben ursprünglich und unmittelbar aufscheint. „Jesus in seinem eigenen Licht“ – diese Formel müsste der Grundsatz einer jeden Christologie werden. Im Laufe seines theologischen Denkweges hat Eugen Biser mit dieser Forderung immer radikaler Ernst gemacht. Während er – wie er selbst zugesteht – in seinen frühen Büchern Jesus mittels einer von außen kommenden Beleuchtung betrachtete, unternimmt er in seinen beiden letzten Jesus-Büchern den Versuch, Jesus aus dessen eigener „Selbstreflexion“ heraus zu vergegenwärtigen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit diese Selbstreflexion Jesu einem Theologen von heute überhaupt zugänglich sein kann. Eugen Biser beantwortet dies im Hinweis auf eine wesentliche Eigenschaft der Worte Jesu: Jesus bedient sich stets einer nicht nur informativen Sprache, sondern einer performativen Rede, einer Sprache der persönlichen Zuwendung, die wesentlich von ihrer Ausrichtung und Wirkung auf den Hörer geprägt ist. Diese performative Sprache der persönlichen Zuwendung verweist ihrerseits zurück auf den Grund, von dem her die ganze Verkündigung Jesu ursprünglich motiviert ist. Sie ist reiner Ausdruck jener bedingungslosen Liebe, die der tragende Grund aller Äußerungen und Lebensleistungen Jesu ist. Der im Offenbarungswort vermittelte Bezug Jesu zum Gläubigen ist daher ein Verhältnis von Liebendem und Geliebtem. In der Hochform der Liebe kommt es schließlich zur Verschmelzung der Liebenden, zur Erfahrung einer Einheit, in der die Liebenden jeweils ineinander differenzlos anwesend sind. Für diese in der grenzenlosen Liebe Jesu gegebene Anwesenheit des Gottessohnes im Glaubenden hat die theologische Tradition eine Begrifflichkeit geprägt, die Eugen Biser neu in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt hat: die „Einwohnung“ Jesu im Herzen der Gläubigen, die sich bei Paulus bis in den Aufruf steigert: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2, 20). Durch die Annahme der liebenden Gegenwart Jesu im Inneren der Glaubenden wird der Mensch in Stand gesetzt, sich geradezu mystisch in die Selbstreflexion Jesu einzufühlen und sie aus sich heraus zur Sprache zu bringen. Weil die daraus resultierende „Theo-Logie“ aus dem Grund der Erfahrung der göttlichen Liebe

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lebt, kann sie von diesem ihrem Ursprung her im Prinzip eigentlich keine nur abstraktwissenschaftliche Theorie sein. Die Weise, wie die Selbstreflexion Jesu theologischdenkend nachvollzogen wird, muss ihrerseits von der liebenden Einfühlung her durchwirkt sein. Für das hier geforderte einfühlende Nach-Denken gibt es in der philosophisch-theologischen Tradition eine Gattung, die die affektiven und reflexiven Momente treffend zu verbinden weiß, nämlich die Meditation. Die in der Meditation geübte und zur Sprache gebrachte Konzentration aller Geisteskräfte auf die im Inneren erfahrene Gottesliebe erweist sich daher als die ideale theologische Sprachform für die Artikulation der Selbstreflexion Jesu. Konsequent greift Eugen Biser in seinen neuesten JesusBüchern noch mehr als in seinen früheren, noch diskursiv argumentierenden Werken auf diese Gedankenform der Meditation zurück. Seine neuesten Jesus-Bücher sind ein ergreifendes Zeugnis einer dankbar-liebenden Zuwendung zu jenem inneren Zuspruch der Gottesliebe, die den Autor offenbar tief bewegt und beseelt. Diese Bücher sind gleichsam eine Liebeserklärung an Jesus und von daher ein Glaubenszeugnis der ganz besonderen Art. Die tiefe Einfühlung in das Liebesmysterium Jesu zeigt sich im Zugang Eugen Bisers nicht zuletzt darin, dass er sich in seiner Meditation der Selbstreflexion Jesu nicht nur und auch nicht primär auf die gesprochenen Worte Jesu bezieht. Er macht vielmehr mit der Einsicht radikal Ernst, dass es bei Jesus keine Differenz zwischen dem mehr gibt, was er sagt und was er ist. Von daher ist das konkrete Leben Jesu in genau gleichem Maße Offenbarung, wie dies seine Worte sind. Indem Eugen Biser daher das Leben Jesu in den Mittelpunkt seiner inneren Christusmeditation stellt, macht er zugleich auf ein schwerwiegendes Defizit der bisherigen Theologie und Christologie aufmerksam: Beeinflusst von der griechischen Philosophie fragte die christliche Theologie schon seit der Spätantike primär nach der allgemeinen Wesensbestimmung Jesu und fasste diese in dogmatische Begriffe. Die konkrete Wirklichkeit des Lebensweges Jesu wurde dabei oft bis zur Bedeutungslosigkeit vernachlässigt. Wenn er thematisiert wurde, dann in einer Reduktion auf einige Eckpunkte. Eugen Biser schreibt dazu selbst: „Für das christliche Glaubensbekenntnis gilt, was die Einbeziehung des Lebensweges Jesu betrifft, ähnliches wie für die sich nur auf das Leiden Jesu beziehende Betrachtung des Kreuzweges. Das Credo geht auf die Geschichte Jesu nur an zwei Punkten ein: Geburt und Tod. Die Ereignisse und die heilbringende Lebensleistung Jesu, die sich dazwischen zugetragen haben, geraten dabei nicht in den Blick. Weder ist von seiner Entdeckung des Gottes der Liebe noch von der Verkündigung des Reiches Gottes noch von seinen Wundertaten und seinem Einsatz für Benachteiligte, Kranke, Frauen und Kinder die Rede. Müsste das Glaubensbekenntnis nicht eine Erweiterung erfahren und die Aussagen der Evangelien mit aufnehmen?“ Als eine Vorarbeit zur Bewältigung dieses theologischen Defizits kann die reflexive Betrachtung der Selbstaussage Jesu gelesen werden, wie sie Eugen Biser in seinen neuesten Büchern „Der Lebensweg Jesu. Eine Meditation“ (Düsseldorf 2007) und „Jesus. Sein Lebensweg in neuem Licht“ (Regensburg 2008) entfaltet. Der meditativ betrachtende Charakter dieses neuen Zugangs zu Jesus wird im zweiten der Bücher noch dadurch intensiviert, dass Eugen Biser darin seine theologischen Überlegungen durch die kommentierende Betrachtung einer Vielzahl von Gemälden zu Stationen des Lebens-

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weges Jesu aus der gesamten Geschichte der christlichen Kunst flankiert. Darin manifestiert und beweist sich seine Auffassung, dass die Kunst häufig einen unmittelbareren Zugang zum Geheimnis Jesu hat, weil dieses dem Kern nach die Liebe ist, die eigentlich nur intuitiv im Akt der ästhetischen Einfühlung erfasst werden kann. Den Grund dafür, dass der Lebensweg Jesu im Inneren des Gläubigen und in der Weite der Kunst intuitiv betrachtet werden kann, deutet Eugen Biser selbst als Moment im Leben Jesu, und zwar als einen ganz wesentlichen. Sowohl am Anfang als auch am Ende des Lebensweges Jesu, zu dem Biser ausdrücklich auch die nachösterliche Gegenwart des Auferstandenen zählt, steht ein Moment der Inspiration – durch den Heiligen Geist. Sowohl die der Geburt Jesu vorausgehende Verkündigung an Maria der Empfängnis ihres Sohnes durch den Heiligen Geist als auch die der Himmelfahrt Jesu folgende Ausgießung des Heiligen Geistes über den Erdkreis erweisen den Lebensweg Jesu in Beginn, Mitte und Abschluss als ein pneumatisches, wesentlich vom Heiligen Geist her eröffnetes und bestimmtes Phänomen. Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes und das Leben Jesu sind deshalb ein und dasselbe, weil sie beide gleichermaßen und je auf ihre Weise die Mitteilung des Gottesgeheimnisses zum Inhalt haben. Im Ereignis der Geburt Jesu und ihren Umständen wird gleich ein wesentlicher Grundzug dieses Gottesgeheimnisses auf ebenso wunderbare wie provokante Weise geoffenbart: Der Gottessohn wird nicht wie erwartet in einem Königspalast geboren, sondern in der Futterkrippe eines Herbergenstalles. Darin manifestiert sich gleich am Anfang, dass das Leben Jesu, wie Eugen Biser im Rückgriff auf eine Wortprägung Friedrich Nietzsches sagt, eine radikale „Umwertung aller Werte“ ist: Die menschlich Deklassierten sind die von Gott Privilegierten, die Armen und Bedrückten sind die Seligen und Geretteten. Dass der Lebensweg Jesu außerhalb des von den Menschen und auch seiner Familie Erwarteten verläuft, kündigt sich bereits in den wenigen Details an, die uns von den sogenannten „verborgenen“ Lebensjahren Jesu, der Jahrzehnte umfassenden Zeitspanne zwischen seiner Geburt und seiner Taufe durch Johannes überliefert sind. Im Zusammenhang mit der Episode vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52) ist das erste Wort aus dem Munde Jesu selbst überliefert: „Weshalb habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr denn nicht, dass ich dort sein muss, wo mein Vater ist?“ Eugen Biser deutet diese distanzierende Aussage als Ausdruck einer wachsenden Entfremdung zwischen Jesus und seiner (familiären) Umwelt. Die Skepsis seiner Verwandtschaft könnte sich – rückblickend betrachtet – „an den ersten Anzeichen der charismatischen, visionären und wohl auch dichterischen Begabung Jesu entzündet haben“, die ja auch im Mittelpunkt der Bewunderung für den Zwölfjährigen steht. Schon früh kündigt sich an, dass Jesu Lebensweg nicht in den etablierten Bahnen verläuft und auf Widerstand stößt. Die Spannung zu seiner Umwelt ist vorprogrammiert und sie artikuliert sich zunächst in der Trennung von seiner Familie. Jenen zwei Ereignissen, die nach den Evangelien der öffentlichen Verkündigungswirksamkeit Jesu vorausgehen, nämlich Taufe und Aufenthalt in der Wüste, widmet Eugen Biser besondere Aufmerksamkeit. Nach der Lösung von seiner Familie suchte Jesus Anschluss an Johannes den Täufer und dessen Jüngerkreis. Die Begegnung mit dem Täufer war für seine Selbstfindung offenbar grundlegend. Die Taufe durch Johan-

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nes war für Jesus eine Art Berufungserlebnis, in dem er das von ihm dann später verkündigte Gottesverhältnis klärte. Bei der Taufe hört er innerlich die Stimme seiner Berufung zum Sohn Gottes: „Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich mein Wohlgefallen“ (Mk 1,11). Gerade in der Auseinandersetzung mit der Gerichtsverkündigung des Täufers gewinnt die Jesus eigene Art von Messianität ihre Einmaligkeit. Wie der Täufer glaubt auch Jesus an eine unmittelbar bevorstehende, apokalyptische Zukunft Gottes. Aber im Unterschied zu Johannes verkündigt Jesus diese baldige Gottesnähe ausdrücklich nicht als Gericht der Rache und des Zornes, sondern im Gegenteil als Geschenk des Erbarmens, des Trostes und der Versöhnung. Diese Differenzen im Gottesbild mussten zur Entfremdung von der Täufergemeinde führen und damit zu einer der großen Krisen auf dem Lebensweg Jesu. Die äußere Vereinsamung und innere Verunsicherung, die Jesus aufgrund der nie dagewesenen Neuartigkeit seiner Erfahrung eines bedingungslos liebenden Gottes verspürte, wird in den Evangelien bildsprachlich treffend als Gang in die Wüste und Versuchung durch den Satan dargestellt. Der vierzigtägige Wüstenaufenthalt wird für ihn eine Zeit der Meditation und Klärung seines besonderen Offenbarungsauftrages. In der Versuchung durch den Teufel zeigen sich einmal die Zweifel an dem an ihn ergangenen Auftrag. Zum anderen deutet Biser die Versuchung aber auch als Bewusstwerdung der Konsequenzen, die es für Jesus haben würde, wenn er die mit seiner Gotteserfahrung verbundene Berufung auf sich nimmt. Jesus beginnt zu ahnen, dass für ihn sein Auftrag früher oder später mit Verstoßung, Leiden und Tod zu tun haben wird, da er eine Botschaft zu verkünden hat, durch die nicht nur die etablierte Religion, sondern vor allem auch die mit dieser zusammenhängenden gesellschaftlichpolitischen Machtverhältnisse radikal infrage gestellt würden. Die letzte Versuchung des Teufels an Jesus, er möge sich von der Spitze des Tempels herabstürzen und von den Engeln seines Vaters auffangen lassen (Lk 4,9), deutet Biser tiefenpsychologisch: Es ist die Versuchung zum Selbstmord als einen sanften Tod, der den schon vorausgeahnten Leidensweg vermeiden könnte. Wenn Jesus dieser radikalsten aller Anfechtungen nicht nachgibt und das selbst um den Preis von Leiden und Tod, so setzt das nach Eugen Biser ein völlig neuartiges Verhältnis zum Tod und der Angst vor dem Sterben voraus. Nur weil Jesus aus seiner Gotteserfahrung heraus intuitiv gewiss ist, dass der Zuspruch seines Gottes auch die Kraft hat, selbst den Tod und dessen Schrecken zu überwinden, kann er den Tod frei auf sich nehmen. In der Konfrontation mit dem Todesphänomen, wie es sich in der Wüstenversuchung ereignete, klärt sich also Jesu innere Gotteserfahrung grundlegend und endgültig: Gott erweist sich in Jesus als der Geber einer liebenden Geborgenheit, die den Menschen selbst in den dunkelsten Abgründen seines Lebens inklusive der Bedrohung durch den Tod trägt und rettet. Diese neuartige Gottesbeziehung bringt Jesus in seinem Gebetsruf „Abba – Vater“ vollkommen zum Ausdruck. Nur jemand, der durch eine einzigartige Gottesnähe ausgezeichnet ist, der – wie es im Johannesprolog heißt – „am Herzen des Vaters ruht“ (Joh 1,18) kann diese intime Kenntnis des innersten Wesens Gottes haben. In der außerordentlichen Intimität seiner Gottesintuition erweist sich Jesus daher als der Sohn Gottes. Sein Lebensweg steht von nun an ganz und radikal bis zur letzten Konsequenz seines Todes im Zeichen des Anspruches, diese befreiende Erfahrung eines bedingungslos liebenden Gottes zu verkündigen und in die Lebenspraxis umzusetzen. Damit wird Jesus nach Eugen Biser

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zum größten Revolutionär der Religionsgeschichte, denn vor ihm war die Gotteserfahrung stets von einer Ambiguität von Faszination und Angst geprägt, während Jesus eindeutig sagt: „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 17,7). In der Weise, wie Jesus diese einmalige Gottesbegegnung verkündigt, zeigt sich zunehmend, dass er diese nicht nur als Botschaft mitteilt, sondern viel mehr noch selbst in Person verkörpert: Bote und Botschaft werden identisch. Jesus weiß, dass er seine intime Gottesbeziehung den Menschen nicht direkt, sondern nur mittelbar, in Bildern und Gleichnissen zugänglich machen kann. In seinem Offenbarungsauftrag gründet daher seine Berufung zu einem Sprachschöpfer von ganz einzigartigem Rang, seine Verkündigung wird ein Sprachereignis. Er greift in seinen Gleichnissen die konkrete Lebens- und Arbeitswelt seiner Hörer auf, um darin das Nahen des Liebes-Reiches Gottes anzuzeigen und die Menschen zu einer Umkehr in dessen Richtung zu bewegen. In der Konsequenz der Identität der Person Jesu mit dem von ihm verkündigten Gottesreich liegt es, dass er in den Gleichnissen schließlich unmissverständlich sich selbst ins Bild bringt, so in den Parabeln vom dienenden Herrn (Lk 12,35–38) und vom fürbittenden Weingärtner (Lk 13,6–9). Nach Eugen Biser ist Jesus selbst das eigentliche Gleichnis Gottes. Die Identität zwischen seiner Person und seiner Verkündigung kulminiert schließlich darin, dass er über das gesprochene Wort hinaus auch eine „Tatsprache“ entwickelt. Damit ist sein Wunderwirken gemeint, das Eugen Biser als „therapeutische Großtaten“ interpretiert. Die bedingungslose Liebe Gottes offenbart sich vollendet in der Zuwendung Jesu zu den von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Benachteiligten, den Armen und Sündern, den Frauen und Kindern, den Huren und Zöllnern. Sie sind die eigentlichen Adressaten der Reich-Gottes-Verkündigung, denn dadurch, dass sie außerhalb aller Strukturen stehen, verwirklichen sie jene Freiheit, die für das jesuanische Ideal der Gotteskindschaft konstitutiv ist. Die Tatsache, dass Jesus seine das Reich Gottes antizipierenden therapeutischen Großtaten vor allem an den Ausgestoßenen und Benachteiligten vollzog, erklärt ein Stück weit die konträren Reaktionen, die sein Auftreten auslöste: Zum einen fanden die Menschen darin eine Befreiung von einer durch Leid und Krankheit geschlagenen Welt. Zum anderen vermissten die von den Römern unterdrückten Zeitgenossen Jesu in seinem sich bis zur Feindesliebe steigernden Ideal der Gewaltlosigkeit das kämpferische Potenzial zur Abschüttelung der Fremdherrschaft. Die liberal-relativierende Haltung Jesu den Kultgeboten gegenüber brachte schließlich auch die religiöse Elite gegen ihn auf, weil sie um ihre Machtposition und religiöse Deutungshoheit fürchtete. Dies führte mit der Zeit dazu, dass die anfängliche Begeisterung der Massen für Jesus zunehmend in Ablehnung und blanken Hass umschlug. Eine zweite große Lebenskrise in der Biographie Jesu war die Folge. In Anbetracht der sich bis zur Todesdrohung durch den Landesherren Herodes steigernden allgemeinen Ablehnung seiner Person und Botschaft entscheidet sich Jesus zunächst mit seinem immer kleiner werdenden Jüngerkreis zur Flucht in das halbheidnische Gebiet von Tyros und Sidon. Unter diesen Umständen kann seine Verkündigung nicht mehr die große Menschenmenge, sondern nur mehr Einzelne erreichen, wie beispielsweise die Erzählung vom Besuch bei Maria und Marta zeigt (Lk 10,38–42). In dieser Vereinsamung reift in Jesus der Entschluss, dem schon bei der Wüstenversu-

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chung vorausgeahnten Weg in den Tod nicht mehr länger auszuweichen, sondern diesen vielmehr als letzte Konsequenz und radikalen Erweis seiner Offenbarung des Gottes der Liebe anzutreten. Bewusst kehrt er zurück in den Machtbereich seiner Verfolger, in das Zentrum Jerusalem. Sein Einzug in Jerusalem auf dem Rücken eines Esels (Mk 11,1– 11) war ausgerechnet in seiner Friedfertigkeit eine Provokation. Die sich in kriegerischer Agitation übertreffenden Zeloten empfanden diese Friedensdemonstration Jesu als eine Kriegserklärung. Die Reaktion war vorprogrammiert: Jesus wurde zum Tode verurteilt. Gerade in dieser ausweglosen Situation wird Jesus aber seine höchste Offenbarungsleistung gelingen, nämlich die Demonstration, dass die vom Vatergott geschenkte Liebe selbst die schändlichsten aller Tode überwindet und in das hellste Leben der Liebe verklärt. Im Geschehen des letzten Abendmahles nimmt Jesus sowohl seinen herannahenden Tod wie auch den Glauben an die Überwindung des Todes durch die Liebe vorweg. In der Geste des Brotbrechens wird sein Tod ansichtig, in der Verteilung des gebrochenen Brotes als Jesu eigener Leib an die Jünger seine immerwährende, durch den Tod eben nicht zu brechende Gegenwart im Herzen derer, die ihn liebend aufnehmen. Nach Eugen Biser geschieht im letzten Abendmahl der Übergang von der Lebensgeschichte Jesu zu seiner Wirkungsgeschichte, die dezidiert eine mystische Wirkungsgeschichte im Inneren der Glaubenden ist. In diesem Moment zeigt sich, dass Jesu Lebensweg immer schon auf eine unbegrenzte Zukunft hin ausgerichtet ist. Selbst in den abgründigsten Momenten der nun folgenden Leidensgeschichte Jesu kündigt sich im Keim diese mit der Liebe Gottes eröffnete absolute Zukunft an. In der Todesangst, die Jesus in Gethsemane erfährt und die sich bis zum Ausruf am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ (Mt 15,43 nach Ps 22,2) steigert, wendet sich Jesus bittend, resignierend, hoffend und klagend, ja sogar anklagend an seinen Vatergott. Eugen Biser interpretiert diese entscheidenden Momente im Leben Jesu nicht als Verzweiflung des Sterbenden, sondern als Ausdruck einer letzten und an Radikalität nicht mehr zu überbietenden Hingabe an Gott: „Die Rückbezüglichkeit des Ausrufs lässt aber keinen Zweifel daran, dass sein Sprecher, entgegen einer pessimistischen Einschätzung, die Not seiner Gottverlassenheit gerade dem klagt, von dem er sich verlassen fühlt, sodass er nur als Ausdruck eines bis zum Äußersten gespannten Gottesverhältnisses verstanden werden kann.“ Weil dieser Verzweiflungsschrei damit Ausdruck einer selbst im Tod fortdauernden Gottesnähe ist, wird er zugleich als ein Freuden- und Siegesschrei hörbar, als Erweis der Gottessohnschaft Jesu und der Gotteskindschaft aller Menschen – ganz im Sinne des römischen Hauptmannes, der auf diesen Schrei hin bekannte: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Das ganze Kreuzigungsgeschehen wird von Eugen Biser als Darstellung der Radikalität der in Jesus sich zeigenden Gottesliebe verstanden: „Im Anschein seiner äußersten Schwäche reißt Gott das tödliche Geschehen an sich, so dass auf Golgota nicht der Hass der Menschen, sondern die Liebe Gottes das letzte Wort behält. […] So gesehen ist sein Tod die Überwindung der auf Intoleranz, Hass und Gewalt gegründeten Verhältnisse und die Verheißung einer auf seine bis in den Tod bewiesene Liebe gegründeten Weltordnung.“ Die Liebe geht bis zum Äußersten, wenn geschieht, was Friedrich Nietzsche über den gekreuzigten Jesus schrieb: „Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in de-

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nen, die ihm Böses tun.“ In diesem absoluten Liebes-Augenblick triumphiert das Leben über den Tod, wird der Kreuzestod zugleich zum Moment der Auferstehung. Immer wieder betont Eugen Biser in den verschiedenen Kontexten seiner Theologie, dass die Auferstehung der Dreh- und Angelpunkt des Christentums ist. Dies gilt in besonderer Weise auch für die meditative Reflexion des Lebensweges Jesu. Wenn es die Auferstehung nicht gegeben hätte, wenn also Jesu Lebensweg mit seinem Tod zu Ende gewesen wäre, dann würden wir von seinem Leben aller Wahrscheinlichkeit nach so gut wie gar nichts wissen. Erst motiviert durch die Begegnungen mit dem Auferstandenen begannen die Menschen der Zeit Jesu das Besondere und Einmalige dieses Lebensweges zu begreifen und setzten damit jene Überlieferungstradition in Gang, die schließlich zur Abfassung der Evangelien führte. Nur weil Jesu Lebensweg nicht mit dem Tod endet, können wir ihn als den Lebensweg des Gottessohnes begreifen und im Glauben als solchen meditieren. Das Osterereignis ist also in all unseren Reflexionen über Jesus immer schon die Voraussetzung, die Bedingung der Möglichkeit geradezu in einem transzendentalhermeneutischen Sinn! Aus dieser Einsicht zieht Eugen Biser eine für sein Verständnis des Auferstehungsglaubens weittragende Konsequenz. Die Auferstehung ist ein Ereignis, das primär die Innerlichkeit des Glaubenden betrifft. Zu dieser Auffassung gelangt Eugen Biser, indem er die Frageperspektive, in der in der Theologie bisher die Auferstehung betrachtet wurde, geradezu umkehrt. Biser fragt nicht mehr primär, woher Jesus auferstanden sei, sondern wohin. Inspiriert vom paulinischen Gedanken der Einwohnung Christi im Herzen der Seinen (Gal 2,20; Eph 3,17) kommt Biser in dieser neuen Fragerichtung zur Erkenntnis, dass die innere Anwesenheit Christi im Glaubenden als der primäre Ort der Auferstehung zu begreifen sei. Erst in der Kategorie der mystischen Innerlichkeit ist jene Art von Anwesenheit erlebbar und denkbar, welche die Osterberichte der Evangelien vom Auferstandenen aussagen, denn diese Berichte sind davon gekennzeichnet, dass sie kein Oben und Unten, Hier und Dort, Jetzt und Danach, sondern nur die Gegenwart des Auferstandenen kennen. Im Moment der Auferstehung gibt Jesus seine empirische Existenz in Raum und Zeit auf, um in den Seinen als mystisches Lebenszentrum auf- und fortzuleben. Bestätigt wird diese Deutung des Ostergeschehens durch das Ereignis der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten. Das Pfingstgeschehen wird für Eugen Biser zunächst im Rückschluss von Massenerscheinungen als kollektives Ostererlebnis lesbar. Zwar wird der Auferstandene von der Pfingstgemeinde nicht gesehen, doch teilt er sich ihr als lebendigmachender Geist (1 Kor 15,45) mit seinen Charismen in Form einer kollektiven Ekstase mit. Aufgrund seines pneumatisch-charismatischen Ausklanges hat der Lebensweg Jesu eigentlich kein Ende. Er eröffnet im Leben der von der Geistesgegenwart zusammengehaltenen Gemeinschaft der Glaubenden vielmehr über Orte und Zeiten hinweg einen fortschreitenden Aneignungs- und Entfaltungsprozess. Das Ende des Lebensweges Jesu ist seine Offenheit auf eine Zukunft, einer – wie Eugen Biser sagt – „mystischen Expansion“ der charismatischen Innerlichkeit, die im Auferstehungsereignis grundgelegt wurde. Eugen Bisers reflexive Meditationen, auf die im Vorausgehenden nur einige kurze Schlaglichter geworfen werden konnten, fördern nicht nur ungeahnte theologische As-

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pekte im Einzelnen zutage, sondern begründen und exemplifizieren – wie ich abschließend sagen möchte – eine ganz neue Art von Theologie. Darin besteht auch ihr besonderer Wert. In der Theologie bisher wurde, beeinflusst von der Frageperspektive der griechischen Philosophie und Metaphysik, überwiegend nach einer allgemeinen Wesensbestimmung für Jesus Christus geforscht. Es wurde primär gefragt, wer oder gar was Jesus sei. In Eugen Bisers beiden letzten Jesus-Büchern wird deutlich, dass viel wichtiger als diese allgemeine dogmatische Wesensbestimmung die Frage ist, wie Jesus gelebt hat. Denn Gott offenbart sich in Jesus primär in seinem Lebensgang, in der Weise, wie Jesus geboren wurde, seinen Mitmenschen begegnete, starb, auferweckt wurde und in den Seinen mystisch fortwirkt. Die Wahrheit, für die Jesus nicht nur steht, sondern die er in Person ist, ist sein Leben, ganz gemäß der johanneischen Selbstaussage Jesu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

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Die Bedeutung des Apostels Paulus für die Theologie Eugen Bisers

Eugen Biser ist ein universaler Gelehrter, der als Fundamentaltheologe und Philosoph angefangen und sich dann in die gesamte Breite der Theologie eingearbeitet hat. Außerdem hat er sich intensiv mit Sprachtheorie und Kommunikationswissenschaft beschäftigt, wie sein umfangreiches literarisches Werk erkennen lässt. Ein besonderer Schwerpunkt war für Biser aber zeitlebens die neutestamentliche Überlieferung, vor allem die Botschaft Jesu und die Theologie des Apostels Paulus.

1. Die Paulusinterpretation Eugen Bisers Über Paulus hat Eugen Biser allein vier große Monographien verfasst, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen wollen. Es sind keine fortlaufenden Darstellungen, sondern Parallelwerke, die immer wieder andere Akzente setzen und jeweils neue Aspekte aufzeigen. In zwei Hauptteilen will ich zuerst ein Bild von Bisers Paulusinterpretation vermitteln und dann an einer neuralgischen Stelle, seiner Beurteilung der paulinischen Rechtfertigungslehre, in ein kritisches Gespräch mit ihm eintreten. 1.1 Sein erstes großes Paulusbuch legte Biser im Jahr 1981 unter dem Titel „Der Zeuge. Eine Paulus-Befragung“ vor. Es ist für den Verfasser bezeichnend, dass er dieses Buch gleichsam als Nebenprodukt eines sprachtheoretischen Forschungsvorhabens niedergeschrieben hat, wie er in einem kurzen Nachwort erwähnt (S. 322). Deutlich erkennbar ist in dieser Paulusdarstellung einerseits die enorme Faszinationskraft, die für ihn von dem Apostel ausgeht, andererseits das Bemühen, unter modernen Fragestellungen die paulinische Botschaft zu rezipieren. Eine „Paulus-Befragung“, wie der Untertitel des Buches heißt, ist für Biser eine Frage nach dessen Bedeutung heute. Er ignoriert dabei die historischen Probleme der Paulusinterpretation nicht, aber sie sind für ihn zweitrangig. Eindeutig im Vordergrund steht die aktuelle Relevanz der paulinischen Botschaft. Das heißt zugleich: Bei der Beschäftigung mit dem Apostel Paulus geht es nicht um Kenntnis einer theologischen Lehre, sondern um das Betroffensein von der christlichen Botschaft und um die darin wurzelnde Glaubenserfahrung (vgl. S. 37 und 120ff). Von der Berufung des Apostels ausgehend werden seine Lebenserfahrung, seine theologische Konzeption, sein Glaubensverständnis und seine Verkündigung eingehend erörtert. Paulus ist, wie Biser formuliert, der „Unzeitgemäß-Aktuelle“ (S. 13), er ist der

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„Unverrechenbare“, von dem durch die Jahrhunderte hindurch immer neue Anstöße ausgegangen sind und ausgehen (S. 16). Daher gilt es, nach der Aktualität gerade dieses Apostels Jesu Christi zu fragen. Was bereits für das erste Paulusbuch Bisers kennzeichnend ist und für die anderen richtungweisend bleibt, ist die zentrale Bedeutung des Damaskusereignisses. Dieses Widerfahrnis ist identisch mit einer „Neomorphose“, wie Biser sich ausdrückt, bei der alles Vorgegebene ein- und umgeschmolzen wird. Das Ereignis von Damaskus als die entscheidende Wende im Leben des Paulus ist daher nicht ein Ereignis neben anderen, sondern das alles bestimmende Fundament. In dem Offenbarungsgeschehen, das Paulus vor den Toren der Stadt Damaskus erlebt hat, ist daher implizit bereits alles enthalten, was für sein Wirken konstitutiv geworden ist. Neben dieser für Biser grundlegenden Feststellung begegnen zahlreiche Thesen, die in seinen späteren Büchern näher ausgeführt werden, so die Einheit von christologischen und soteriologischen Aussagen, die Bedeutung des existentiellen Glaubensaktes und die mystische Komponente in der Theologie des Apostels. 1.2 Bisers zweite, 1992 erschienene Paulus-Monographie trägt den Titel „Paulus. Zeuge, Mystiker, Vordenker“. Mit dem Stichwort „Zeuge“ nimmt er den Leitgedanken des ersten Buches auf, mit den beiden Begriffen „Mystiker“ und „Vordenker“ deutet er an, was jetzt im Vordergrund stehen soll. Das in der „Serie Piper“ als Taschenbuch – mit immerhin mehr als 400 Seiten Text – erschienene Werk ist als die zentrale Paulusdarstellung Bisers anzusehen. Während die drei anderen Bücher eher bestimmte Einzelaspekte in den Vordergrund rücken, geht es hier um eine ausgewogene Gesamtdarstellung. Kennzeichnend dafür ist einerseits, dass die 1981 völlig ausgeklammerte jüdische Vorgeschichte im Leben des Paulus eingehend erörtert wird; andererseits gewinnt das im ersten Buch nur am Rande berücksichtigte Thema der Mystik hier eine wichtige Rolle. Im übrigen geht Biser neben der Aktualität der paulinischen Botschaft ihrer Wirkungsgeschichte in den vergangenen Jahrhunderten nach – einer „unabgeschlossenen Wirkungsgeschichte“, wie er ausdrücklich betont (S. 345); denn Paulus ist als „Vordenker“ richtungweisend gewesen und geblieben (S. 345ff). Daher ist Paulus „auf eine schwer zu bestimmende Weise gleichzeitig historische Gestalt und Zeitgenosse“ (S. 75). 1.3 Einen sehr viel spezielleren Zugang sucht Biser in dem dritten, 2002 erschienenen Buch über „Paulus. Zeugnis – Begegnung – Wirkung“. Das wird schon an der Zweiteilung deutlich. In der ersten Hälfte geht es erneut um Paulus als „Zeuge“; in der zweiten Hälfte um einen fingierten „Dialog“ – zwischen Paulus und Lukas, Paulus und Martin Buber, Paulus und Nietzsche, schließlich um Paulus und die Welt sowie um Paulus und den Tod. Darauf einzugehen würde einen eigenen Beitrag erfordern. Interessant ist, dass Biser damit „das ins Werk setzen“ will, was Paulus selbst „nicht mehr zu leisten vermochte“ (S. 9). Was die Paulusdarstellung im ersten Teil des Buches besonders kennzeichnet, ist die Übernahme der These des Oxforder Neutestamentlers Ed Parish Sanders, bei Paulus sei „eine exoterische, für seine Missionspredigt bestimmende Außenseite von seiner esoterisch-mystischen Innensicht zu unterscheiden“ (S. 9). Damit gewinnen die Aussagen

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über die mystische Komponente bei Paulus zusätzliches Gewicht. Bereits die Berufung wird nun von Biser als „genuin mystisches Erlebnis“ verstanden (S.29). In diesem Widerfahrnis wurzelt die Erkenntnis des Geoffenbarten als „Gottessohn“, womit das Motiv der Gotteskindschaft – dem Biser 2005 eine eigene kleine Publikation gewidmet hat – eng verbunden ist. Die Gotteskindschaft ist ihrerseits ausgezeichnet durch das Wechselverhältnis von „Christus in mir“ und „Ich / Wir in Christus“, und von hier aus öffnet sich, wie er sagt, das „Tor zur Mystik“ (S. 138). 1.4 In seinem vierten Paulusbuch unter dem Titel „Der unbekannte Paulus“, das ebenfalls 2002 erschienen ist, führt Biser diesen Ansatz weiter. Er will dabei nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, auf irgendwelche apokryphen Quellen zurückgreifen, sondern Aspekte in den Paulusbriefen aufdecken, die oft unbeachtet geblieben sind. Biser geht davon aus, dass es keinem Interpreten je gelingen wird, Paulus „im ganzen zum Vorschein zu bringen“ (S. 11), weswegen immer wieder neue Züge entdeckt werden können. Mit der Rede vom „unbekannten Paulus“ will er vor allem „auf die weithin defizitäre Einschätzung seiner Lebenswende“ Bezug nehmen (S. 43). Es geht um das „Urerlebnis“, wodurch Paulus „das Geheimnis des Gottessohnes ins Herz geschrieben wurde“ (S. 66, vgl. S. 30 und 44). Die Ostererscheinung als „Offenbarung des Gottessohnes“ ist für ihn das „grundlegende mystische Erlebnis“ gewesen (ebd.). Von besonderer Bedeutung ist daher in diesem Zusammenhang das große Kapitel über Paulus als Mystiker (S. 93–137). Die Grundthese lautet: „Mystik ist für ihn (sc. Paulus) der in seiner Tiefendimension erfasste Glaube“ (S. 95). Alle Heteronomie ist von da aus definitiv überwunden (S. 96). Entscheidend ist „unser In-Sein in Christus“ und das „In-Sein Christi in uns“ (S. 98f). Dabei handelt es sich um eine Grunderfahrung, die zentral mit Eigenverantwortung verbunden ist (S. 100). Insofern besitzt die „Christomathie“ (ein von Ignatius von Antiochien, Anfang des 2. Jh.s, übernommener Begriff), eine zentrale Bedeutung. Gemeint ist die „Christuslehre“ als Unterweisung durch Christus selbst im Sinn einer Einweisung in den Glauben. Diese „Christomathie“ antwortet auf die Sinnfrage „nicht mit einer Formel oder einer Idee, sondern mit dem sich durch sie im Fragenden vergegenwärtigenden Christus“ (S. 123). Zu diesem Einwohnungsmotiv gehört aber nicht nur die individuelle Glaubenserfahrung, sondern auch die soziale, im Leib Christi sich realisierende Wirklichkeit und deren Entfaltung im konkreten Leben.

2. Das Verhältnis der Mystik zur Rechtfertigungslehre bei Paulus Die vier Paulus-Monographien Bisers konnten nur in ihren Hauptlinien nachgezeichnet werden. In einem zweiten Teil des Beitrages will ich nun etwas genauer auf das Verhältnis der als Christomathie verstandenen Mystik zur paulinischen Rechtfertigungslehre eingehen. Dass die Frage nach dem Verständnis der Rechtfertigungsthematik für mich als evangelischen Theologen besonders naheliegt, mag einleuchten. Dabei will ich keineswegs die Bedeutung der Mystik neben der Rechtfertigungslehre bestreiten, wie

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das in unserer evangelischen Tradition oft geschehen ist, – zuletzt bei Eduard Lohse in seinem in vieler Hinsicht eindrucksvollen Kommentar zum Römerbrief, worauf Biser ausdrücklich hinweist, – wohl aber will ich die Frage stellen, ob die unübersehbare Marginalisierung der Rechtfertigungslehre, wie sie bei Eugen Biser zu beobachten ist, dem Textbefund entspricht. – Zur wissenschaftlichen Klärung von Sachproblemen gehört ja stets auch das in Respekt geführte kritische Gespräch. 2.1 Eugen Biser hat zweifellos mit Recht die hohe Bedeutung der mystischen Aussagen bei Paulus herausgearbeitet. Die vier Paulus-Monographien zeigen, dass das Thema Mystik bei ihm schrittweise immer deutlicher in den Vordergrund rückt. Ob die im ersten Buch von 2002 im Anschluss an Sanders vorgenommene Trennung einer exoterischen und einer esoterisch-mystischen Auffassung bei Paulus glücklich ist, will ich offen lassen. In jedem Fall steht beides für den Apostel in einem engen Wechselverhältnis; denn wie die missionarische Verkündigung auf Glauben zielt, strebt der Glaube seinerseits nach lebendiger Erfahrung. Mit guten Gründen versteht Biser den Glauben als widerfahrene „Besitzergreifung“, weswegen bei Paulus „das mystische, aus dem Erlebnis des Ergriffenseins gesprochene Ich“ konstitutive Bedeutung besitzt (1992, S. 77f). Unter dieser Voraussetzung ist der Inbegriff der paulinischen Mystik ein „Leben aus der Inspiration und Führungsmacht des Geistes“ (ebd. S. 325). So sehr das „Nicht mehr ich, sondern er in mir“ als „Identitätsformel“ im Zentrum steht, handelt es sich nach Biser um eine „offene Mystik“ (1992, S. 323), die mit der Weltverantwortung nicht in Spannung steht und bei der „die menschliche Urteils- und Entscheidungskraft keineswegs aufgehoben ist“ (S. 330). Die vita contemplativa und die vita activa gehen daher „bruchlos zusammen“ (S. 334). In diesem Sinn wird der vielgebrauchte und in seiner Bedeutung oft unbestimmte oder verschwommene MystikBegriff von Biser in einer spezifischen Weise klar definiert: Ergriffensein, glaubendes Vertrauen und Verantwortung gehören unlösbar zusammen. Das bedeutet, dass es bei der paulinischen Mystik um eine in der Tiefe der menschlichen Existenz verankerte „Lebensgestalt“ geht, die ebenso das spirituelle wie das praktische Leben umfasst. Mystische Erfahrung ist daher in ihrem Begegnungscharakter auch kognitiv erfassbar und kein Versinken in eine konturenlose Unendlichkeit. Mit Fachbegriffen gesprochen: Es handelt sich um eine Kommunikations- und Partizipationsmystik, nicht um eine Transformations- oder Verschmelzungsmystik. Es kann auch von einer Identifikationsmystik gesprochen werden, wenn dabei das personale Gegenüber von Christus und den Glaubenden konstitutiv bleibt, wie das bei Eugen Biser der Fall ist. Wenn das aber gilt, dann ist Mystik von vornherein kein Gegensatz zu der erfahrenen und im Glauben angenommenen Rechtfertigung, sondern deren Korrelat. Dem ist in einem weiteren Abschnitt genauer nachzugehen. 2.2 Wenn wir uns jetzt den paulinischen Rechtfertigungsaussagen zuwenden, dann ist zunächst ein Blick auf Bisers Stellungnahme zu diesem Thema zu richten. In seinem Paulusbuch von 1981 spricht er von der „Einseitigkeit des Rechtfertigungsgedankens“ bei Paulus (S. 201f). In seiner Monographie von 1992 vertritt er die Auffassung, die Rechtfertigungslehre des Apostels sei lediglich eine Verarbeitung vorgegebener Tradi-

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tionen, die neben der Mystik eine untergeordnete Bedeutung haben (S. 256ff). In dem ersten Buch aus dem Jahr 2002 weist er im Anschluss an Sanders der Rechtfertigungslehre nur einen Platz in der exoterischen, also der missionarischen Verkündigung des Apostels zu; die „prozessual zu denkende Rechtfertigungslehre“ betreffe nur eine Außensicht, nicht das Zentrum der paulinischen Theologie, das durch den Gedanken der Einwohnung Christi und das Ergriffensein durch ihn gekennzeichnet ist (S. 87 u.ö.). In der zweiten Veröffentlichung des Jahres 2002 spricht er schließlich von der Rechtfertigungslehre als „schwerstem Fremdkörper“ in der Theologie des Apostels (S. 64, vgl. S. 25 und 71). Eugen Biser beruft sich dabei auf zwei evangelische Theologen aus dem Anfang und der Mitte des 20.Jh.s, einerseits auf William Wrede, der die Rechtfertigungsaussagen als bloße „Kampflehre“ ansah, und andererseits auf Albert Schweitzer, der sie als „Nebenkrater“ neben der paulinischen Mystik bezeichnet hat. Entsprechend versteht Biser sie als gleichsam unverarbeitetes Traditionsstück neben der vor allem im 1. Korintherbrief dominierenden Weisheitslehre und der Mystik. 2.3 Ohne die Bedeutung der beiden Themen der Weisheit und der Mystik zu bestreiten, stellt sich jedoch die Frage, ob die Rechtfertigungslehre einfach an den Rand der paulinischen Theologie geschoben werden kann. Immerhin nehmen die Aussagen zu diesem Thema im Römer-, im Galater-, im 2. Korinther- und im Philipperbrief einen wesentlich breiteren Raum ein als die anderen eben genannten Themen. Mag das in einigen Briefen mit der konkreten Gemeindesituation zusammenhängen, so ist zumindest im Römerbrief die Rechtfertigungsthematik unabhängig von aller Streitsituation intensiv entfaltet. Das gilt schon für die Formulierung des Leitthemas in Röm 1,16f, wo es im Zusammenhang mit den Aussagen über die Heil stiftende Gerechtigkeit Gottes heißt, dass durch die Verkündigung des Evangeliums die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird „aus Glauben in Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben“ (Hab 2,4). Das wird dann in dem umfangreichen Abschnitt Röm 3,21–5,11 argumentativ entfaltet – ein Abschnitt, auf den Biser überraschenderweise nirgendwo im einzelnen eingeht. Hinzu kommen weitere Sachverhalte, die bei Biser unberücksichtigt bleiben. In Gal 2,16–20 gehen die Rechtfertigungsaussagen unmittelbar in Aussagen über das InChristus-Sein über, sie gehören also sachlich eng mit diesen zusammen. Ebenso schließen sich in Röm 6 an den Abschnitt über die Rechtfertigung Taufaussagen an, bei denen es um das „Zusammengewachsensein mit Christus“ geht, was unverkennbar mit den InChristus-Aussagen korrespondiert. Dasselbe gilt für den Zusammenhang von Rechtfertigung und Versöhnung in 2 Kor 5,17–21. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das von Biser mit guten Gründen stark betonte Motiv der göttlichen Liebe im Zusammenhang der Rechtfertigung durch das eng verwandte Motiv der Gnade berücksichtigt wird. Die genannten Leitthemen der paulinischen Theologie ergänzen und erklären sich jedenfalls gegenseitig, sind daher als gleichrangig anzusehen. Bei den Aussagen über die Rechtfertigung muss noch ein spezielles Problem berücksichtigt werden. Es darf nicht übersehen werden, dass das moderne Verständnis von Recht und Gerechtigkeit sich von dem biblischen nicht unerheblich unterscheidet. Gerechtigkeit ist im Alten wie im Neuen Testament kein Normbegriff, sondern ein Relati-

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onsbegriff, den man zutreffend mit „Gemeinschaftstreue“ (Hermann Cremer, Gerhard von Rad) wiedergegeben hat – sowohl in Bezug auf Gott und Mensch als auch der Menschen untereinander. Zweifellos ist der Gerechtigkeitsbegriff, wie Biser hervorhebt, keine Wortschöpfung des Paulus; er zitiert ja ausdrücklich Gen 15,6: „Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet“. Entsprechend heißt es in Mt 6,33 innerhalb der Bergpredigt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner (sc. Gottes) Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“. Ferner sei an das abschließende Logion aus dem Gleichnis über den Zöllner und den Pharisäer in Lk 18,14a erinnert: „Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus, jener nicht“. Entscheidend ist bei diesem zentralen Gedanken eben nicht der regulative, sondern der heilende und rettende Charakter der Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine „iustitia salutifera“, um die Heil stiftende Gerechtigkeit Gottes, die nur im Glauben erfahren und angenommen werden kann und die die Glaubenden in die lebendige Gemeinschaft mit Christus hineinstellt. In Weiterführung der wichtigen Erkenntnisse Eugen Bisers könnte man sagen: Die aus Gnaden empfangene und im Glauben angenommene Rechtfertigung ist das Tor zur mystischen Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott, wobei es sich bei diesem Tor um die ständig neue Heilszusage handelt, ohne die der Mensch, solange er auf Erden ist, nicht existieren kann. Auf Grund dieser Zusage und deren vertrauensvoller, stets erneuerter Annahme gibt es überhaupt erst die Erfahrung des Geborgen- und Gehaltenseins. Sie ist das tragende Fundament für das Widerfahrnis des In-Christus-Seins, der Zuversicht, dass Christus in mir ist und ich in ihm sein darf. – So wichtig andere Komponenten in der paulinischen Verkündigung sind, ohne die Rechtfertigungsaussagen ist der Apostel nicht in der ganzen Breite und Tiefe seines Denkens zu verstehen.

3. Zur ökumenischen Dimension des Werks von Eugen Biser Eugen Biser ist zweifellos ein Theologe, der eine große ökumenische Bedeutung und Ausstrahlungskraft hat. Er hat für Christen aller Konfessionen Zugänge zu Paulus erschlossen, die von erheblicher Tragweite sind. Das gilt vor allem für den Gedanken der bedingungslosen Gnade und Liebe Gottes. Es gilt ebenso für die oft vernachlässigte mystische Komponente im christlichen Glauben, die entscheidend durch die Motive des Ergriffenseins und der Partizipation geprägt ist. Er hat damit Traditionselemente verlebendigt und miteinander verbunden, die in der Regel entweder nur im Katholizismus oder nur im Protestantismus eine Rolle spielten, aber von Paulus gerade in ihrem Wechselverhältnis hervorgehoben worden sind. Biser hat auf diese Weise eine Brücke geschlagen zwischen den Konfessionen, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dass er dabei die Thematik der Rechtfertigung in den Hintergrund gedrängt hat, ist wohl durch eine kirchliche Tradition entstanden, in der der genuin biblische Charakter des Gedankens der Gerechtigkeit Gottes verdeckt war und Rechtfertigung nur noch in ihrem gesetzlichen Charakter eine Rolle spielte, nicht aber im Sinn eines gerechtma-

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chenden Handelns Gottes und dessen Zusammenhang mit dem Glauben verstanden wurde. An dieser Stelle Bisers Konzeption fortzuschreiben, ist eine notwendige Aufgabe. Sein Grundanliegen der Vergewisserung der bedingungslosen Liebe und Gnade Gottes ist jedenfalls gerade auch in der im biblischen Sinn verstandenen Rechtfertigungslehre uneingeschränkt enthalten. So gilt es, diesem Thema in den von ihm gebahnten Spuren weiter nachzugehen.

GUNTHER WENZ

Die Mystik des Apostels Zur Paulusdeutung von Albert Schweitzer und Eugen Biser

1. Die Anfänge des paulinischen Christentums in Europa Nicht weit entfernt vom Schauplatz der Ilias Homers, im wenige Kilometer südlich von Troja gelegenen Troas erschien Paulus im Traum ein Makedonier mit der Bitte, nach Europa herüberzukommen und zu helfen. So berichtet es die lukanische Apostelgeschichte im 16. Kapitel (Apg 16,9). Paulus und seine Begleiter schlossen aus dem Traumgesicht, Gott habe sie berufen, in Makedonien das Evangelium zu verkünden. Darauf stachen sie in See, um über die Insel Samothrake nach Neapolis – dem heutigen Kavala –, einem bedeutenden Hafenplatz zwischen den Dardanellen und dem Athos, und von dort auf der Via Egnatia landeinwärts nach Philippi zu gelangen. Die Stadt hat ihren Namen vom Vater Alexanders des Großen. Octavian, der dort 42 v.Chr. zusammen mit Antonius in einer Schlacht gegen Brutus und Cassius die Ermordung Cäsars rächte, hatte als Augustus den Ort am Gangasfluss zur römischen Kolonie erhoben und mit italischem Recht ausgestattet.1 1

In der frühchristlichen Literatur findet Philippi neben dem an die dortige Gemeinde gerichteten Paulusbrief sowie in Einzelnotizen anderer Schreiben des Apostels in der Apostelgeschichte, dem Polykarpbrief und den apokryphen Andreasakten Erwähnung. Die Colonia Julia Augusta Philippensis (vgl. Ch. BAKIRTZIS / H. KOESTER [Ed.], Philippi at the Time of Paul and after His Death, Harrisburg 1998, 5–35, ferner: P. PILHOFER, Philippi. Band I: Die erste christliche Gemeinde Europas, Tübingen 1995; Bd. II: Katalog der Inschriften von Philippi, Tübingen 2000) war zu paulinischer Zeit „eine Stadt von ausgeprägt römischem Charakter“ (L. BORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, Leiden / New York / Köln 1995, 1), die nicht nur in geographischer, sondern auch in kultureller Hinsicht eine „Schlüsselstellung zwischen Europa und Asien“ (L. BORMANN, a.a.O., 6) einnahm. Ihrer ersten Gründung als römische Kolonie durch Antonius im Jahr 42 v.Chr. folgte die Neugründung durch Augustus nach 31 v.Chr. Kam der Stadt bereits im makedonischen Reich für einige Jahrzehnte beachtliche Bedeutung zu, so expandierte sie durch die Ansiedlung einer großen Zahl römischer Soldaten erheblich, um im Laufe der Zeit mehr und mehr zu wirtschaftlicher und politischer Blüte zu gelangen. Die archäologisch dokumentierte städtebauliche Entwicklung belegt dies. Gefördert wurde das Wachstum durch die Lage an der Via Egnatia, die Philippi zu einem Verkehrs- und Handelszentrum und einem Umschlagplatz zwischen westlicher und östlicher Reichshälfte werden ließ. Die spezifische Geschichte Philippis als Schauplatz der Schlacht, deren Ausgang die definitive Abkehr von der republikanisch-aristokratischen Verfassung Roms mit sich brachte, trug wesentlich dazu bei, den Ort zu einer Heimstatt der Prinzipatsidee werden zu lassen, an dem der römische Herrscherkult mit besonderer Intensität gepflegt wurde (vgl. aber auch J. K. HARDIN, Galatians and the Imperial Cult. A Critical Analysis of the First-Century Social Context of Paul’s Letter, Tübingen 2008). Die religiöse Verehrung der Repräsentanten der julisch-claudischen Dynas-

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Über die Gründung der ersten Christengemeinde in Europa berichtet in lukanischer Perspektive der sog. Wir-Bericht in Apg 16,11–40. Unter den ersten, die in Philippi zum Glauben kamen, wird eine gottesfürchtige Purpurhändlerin aus der kleinasiatischen Stadt Thyatira namentlich genannt. Nachdem der Herr Lydia, wie es heißt, das Herz aufgeschlossen hatte, so dass sie aufnahm, was Paulus sagte, und sich taufen ließ, wurde ihr Haus zum Zentrum der örtlichen Christengemeinde (vgl. Apg 16,15.40). Obwohl der Apostel die sicher anfangs noch sehr kleine philippische Gemeinde bald schon verlassen musste (vgl. Apg 16,12.39f.), blieb er ihr zeitlebens eng und herzlich verbunden. Das bezeugt insbesondere sein Brief an die Philipper, den er aus der Gefangenschaft schrieb, in die er im Zusammenhang seiner Missionsarbeit geraten war, ohne deshalb von der Außenwelt völlig abgeschlossen zu sein. Der erste Aufenthalt in Philippi, dem weitere folgten, dürfte für das Jahr 49 n.Chr. anzusetzen sein. Nach kurzem Verbleib und schweren Misshandlungen, die er zu erleiden hatte, zog Paulus mit seinen Begleitern westwärts, reiste über Amphipolis und Apolonia und kam nach Thessaloniki, damals Sitz der Verwaltung der römischen Provinz Makedonien und mit an die 50.000 Einwohnern eine Stadt von veritablem Format und großer wirtschaftlicher und religiös-kultureller Bedeutung.2 Seiner Gewohnheit tie war verbunden mit einem gesteigerten römischen Selbstbewusstsein, das für die herrschende Schicht der Stadtbevölkerung kennzeichnend war. Die Darstellung der Philippi-Episode in Act 16,11–40 reflektiert diese Situation. „Lukas, der sich immer um ein besonderes Maß an Lokalkolorit bemüht, greift neben seinem Wissen um den Status einer römischen Kolonie auch das Selbstverständnis der lokalen Obrigkeit als das Beharren am mos maiorum auf, das auch Augustus so am Herzen lag. So lässt er einen römischen Bürger die Anklage vortragen, dass Paulus und sein Mitarbeiter Sitten und Gebräuche verkündeten, deren Ausübung sich für römische Bürger verbiete (Act 16,21).“ (A.a.O., 84) Inwieweit neben der geographischen die religiös-ideologische Lage bei der Wahl Philippis als Ort seiner ersten Missionstätigkeit in Europa für Paulus entscheidend war, muss offen bleiben. Doch „wird auch er um die Geschichte der Stadt und ihre Bedeutung für die Legitimation des Prinzipats gewusst haben“ (BORMANN, 84). Faktum ist ebenfalls, dass sein Abschied von Philippi und eine geraume Zeit seines Aufenthalts in der Stadt im Zeichen schwerer Bedrängnisse standen (vgl. Chr. BAKIRTZIS / H. KOESTER [Ed.], a.a.O., 67–84), die weniger mit innergemeindlichen Auseinandersetzungen als vielmehr mit obrigkeitlichen Unterdrückungsmaßnahmen in Verbindung gestanden haben dürften. „Dafür spricht natürlich auch, dass Paulus, trotz der massiven Konflikte um seinen Aufenthalt, von Philippi aus für seine Mission in Thessalonike unterstützt wurde (Phil 4,16). Die Philippergemeinde steht nach dem Verlassen der Stadt weiter hinter Paulus und seinen missionarischen Plänen, die von ihr intensiv gefördert werden. Weder teilt sie die massiv ablehnende und zu drastischen Interventionen neigende Haltung ihrer städtischen Obrigkeit, noch ist sie bereit, sich anzupassen. Die dadurch entstehenden Spannungen zu ihrer Umwelt nimmt sie in Kauf.“ (L. BORMANN, a.a.O., 120f.) Von Paulus, der zur Philippergemeinde seit seinem ersten Besuch engen Kontakt hält, wird dies dankbar registriert. Ob deshalb der sog. Dankesbrief Phil 4,10–20 „als Schlüssel zum Verständnis der Beziehung zwischen Paulus und der Philippergemeinde“ (a.a.O., 136) verstanden werden kann, ist eine andere Frage, die hier ebenso wenig beantwortet werden muss wie diejenige, ob es sich bei dieser Beziehung um ein Verhältnis im Sinne des römischen Klientelwesens handelte. 2 Der Besuch des Apostels Paulus fällt in eine Zeit, in der Thessaloniki „auf dem Weg war, sich zu einer der größten Städte im ägäischen Raum zu entwickeln, bis sie schließlich Anfang des 4. Jh.s n.Chr. unter dem Tetrarchen Galerius zur Residenzstadt des östlichen Teilreiches erhoben wurde und damit diejenige Stellung einnahm, die sie als zweite Hauptstadt des byzantinischen

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gemäß suchte Paulus, wie die Apostelgeschichte ihrem Missionierungsschema gemäß berichtet, die örtliche jüdische Synagoge auf und predigte an drei Sabbaten. Dabei suchte er ihnen von den Schriften her das Verständnis dafür zu öffnen und ihnen darzulegen, dass der Messias leiden und von den Toten auferstehen musste. Und er sagte: Jesus, den ich euch verkünde, ist dieser Messias! Einige von ihnen ließen sich überzeugen und schlossen sich Paulus und Silas an; ebenso eine große Schar von gottesfürchtigen Griechen, darunter nicht wenige Frauen aus vornehmen Kreisen. (Apg 17,[2]3f.)

An der zitierten Kurzpassage der lukanischen Apostelgeschichte ist vieles bemerkenswert; um nur die drei wichtigsten Aspekte eigens zu benennen: 1. dielexato autois apo ton graphon. Der lukanische Paulus ist nicht anders als der Apostel, den wir aus seinen Briefen kennen, Schrifttheologe. Die Heiligen Schriften Israels sind seine Bibel wie für das frühe Christentum überhaupt. Auf ihrer Basis argumentiert er, um sie im Umkreis der jüdischen Synagoge zu exegesieren und den Schriftbeweis für die zentralen Wahrheiten des Christentums zu erbringen. Paulus sucht den Zusammenhang mit den religiösen Überlieferungen des Judentums und hält an ihm auch gegen den entschiedenen Widerspruch jüdischer Kreise seiner Zeit dezidiert fest. Der Gott Israels ist der Vater Jesu Christi und nicht, wie der Paulusadept Markion später meinte, eine andere, dem Christentum fremde Größe.

Reiches bis weit in das Mittelalter behalten sollte“ (Chr. vom BROCKE, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt, Tübingen 2001, 19f.). Obwohl die Römer im 1. Jhd. n.Chr. die mit Abstand einflussreichste Bevölkerungsgruppe darstellten und die Spitzen der provinzialen Verwaltung vom Stadthalter bis zum Quaestor besetzten (vgl. a.a.O., 94), bildeten Hellenen, Makedonen und Thraker die eindeutige Mehrheit, und Thessaloniki war sprachlich und kulturell eine im Wesentlichen griechische Stadt. Auch die obersten Ränge der Stadtämter nahmen traditionell Einheimische ein. „Die Politarchen z. B., das höchste städtische Amt, rekrutierten sich um die Zeitenwende mit ganz wenigen Ausnahmen ausschließlich aus diesen Reihen.“ (A.a.O., 91) Die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Thessaloniki zur Zeit des frühen Prinzipats ist wahrscheinlich, auch wenn die Zahl ihrer Glieder eher gering zu veranschlagen und die Eingangssequenz der Thessalonicherperikope der Apostelgeschichte von Lukas sicher redaktionell geformt ist. Dass die junge Christengemeinde überwiegend aus ehemaligen Heiden bestand, geht aus dem Rückblick des Paulus über den Anfang seiner Mission in Thessaloniki in 1. Thess 1,5ff. eindeutig hervor (vgl. hierzu sowie zu 1. Thess 2,3 – 6.13.14b; 5,3 a.a.O., 114). Gleichwohl ist die Thessalonicherperikope der Apostelgeschichte historisch nicht wertlos. Das gilt insbesondere für die Jasonepisode und ihren Geschehensablauf (vgl. Apg 17,5b–9): „(D)ie aufgebrachte Menge, die vor das Haus des Jason zog, hatte ursprünglich vorgehabt, Paulus und seine Begleiter vor die Versammlung des Volkes zu führen, wohl um sie dort anzuklagen und aburteilen zu lassen. […] Da sie der Missionare aber nicht habhaft werden konnten, schleppten sie den Jason und einige gerade dort anwesende Christen vor die Politarchen. Dieses Amt ist aus Inschriften der Stadt wohlbekannt. Offensichtlich waren sie mit weitreichenden Exekutivvollmachten ausgestattet, so dass die Angeklagten zur Stellung einer Kaution verurteilt werden konnten. Welche Funktion diese Kaution gehabt hat, ist nur zu vermuten. Möglicherweise wurde sie angeordnet, um eine Vorladung der Missionare sicherzustellen. Die Missionare wurden jedoch in der selben Nacht, offenkundig, um nicht gesehen und vielleicht doch noch gefasst zu werden, nach Beroia geschickt.“ (A.a.O., 267; zu den Apg 20,4 erwähnten Thessalonichern Aristarch und Secundus vgl. a.a.O., 234ff.).

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2. Die Heiligen Schriften Israels besagen gemäß der Auslegung des Apostels, dass der Messias leiden und von den Toten auferstehen musste, hoti ton Christon edei pathein kai anastenai ek nekron. Diese komprimierte Aussage geht auf älteste christliche Tradition zurück. Der Messias erweist sich in seiner Messianität durch Leiden und Auferstehen. Diese sind im Ratschluss Gottes selbst begründet und von theologischer Notwendigkeit. Dei: Es musste so sein. Denn nachgerade in seinem Leiden und Sterben ist der Messias, was er ist, der Gesalbte Gottes, der Israel verheißen ist. 3. Diese Verheißung ist in Jesus in Erfüllung gegangen: houtos estin ho Christos Jesus hon ego kataggello hymin. Jesus, den Paulus verkündet, ist der Christus. In der Kurzformel Jesus Christos, die erst später zum Eigennamen wurde, ist das urchristliche Bekenntnis bündig zusammengefasst. Der erwartete Messias ist mit Jesus von Nazareth identisch, der als der auferstandene Gekreuzigte zum Christus für Juden und Heiden geworden ist, um als derjenige, der gekommen ist, zu retten und selig zu machen, was verloren ist, wiederzukommen und zu richten nach Maß einer Gerechtigkeit, die mit versöhnender Liebe eins ist. Wer jetzt an ihn glaubt, wird im eschatologischen Gericht bestehen und eingehen in die ewige Herrlichkeit des göttlichen Reiches. Wie immer man das Verhältnis zu beurteilen hat, in welchem der lukanische Paulus zur historischen Gestalt des Apostels steht, Faktum ist, dass der Inhalt der paulinischen Predigt in der Apostelgeschichte durch den 1. Thessalonicherbrief im Wesentlichen bestätigt wird. Im Unterschied zum 2. ist der 1. Thessalonicherbrief eindeutig ein authentisches Pauluszeugnis und kein pseudepigraphischer Text. Er ist vermutlich nicht nur der älteste erhaltene, sondern der erste apostolische Paulusbrief überhaupt und damit zugleich die älteste Schrift des Neuen Testaments. Wie den paulinischen Aufenthalt in Thessaloniki, der sich wahrscheinlich nicht nur über Wochen, sondern über Monate erstreckte, wird man auch die Frist zwischen der Trennung von der Gemeinde und der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes trotz 1 Thess 2,17 zeitlich nicht zu knapp veranschlagen dürfen. „Immerhin umfasst sie einen (kaum ganz vergeblichen, vgl. Act 20,4) Missionsversuch in Beröa, einen Aufenthalt in Athen (1 Thess 3,1) und (vermutlich) den Weiterzug nach Korinth sowie die Sendung des Timotheus nach Thessalonich und seine Rückkehr.“3 Ist der 1. Thessalonicherbrief in Korinth geschrieben worden, was als wahrscheinlich gelten darf, dann fällt die Abfassungszeit in die Jahre 50/51. Die mehrheitlich wohl der nichtjüdischen Bevölkerung entstammende, also überwiegend heidenchristliche Gemeinde von Thessaloniki war anfangs sicherlich ebenso klein wie diejenige in Philippi. Ihre Zusammenkünfte haben vermutlich hier wie dort im Raum eines Privathauses stattgefunden. Dennoch war, wie es in 1 Thess 1,9f. heißt, die Kunde über die Thessalonichergemeinde schon in aller Munde: „wie ihr euch von den Götzen weg Gott zugekehrt habt, um ihm als dem lebendigen und einzig wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, den er von den Toten auferweckt hat: Jesus, der uns vor dem kommenden Zorn errettet.“ Auch die bereits verstorbenen Christen werden vom endzeitlichen Heil nicht ausgeschlossen sein, sondern an der baldigen Wiederkehr ihres Herrn teilhaben, um wie alle Gläubigen für immer und auf ewig in ihm und mit ihm bei Gott vereint zu sein. 3

T. HOLTZ, Thessalonischerbriefe, in: Theol. Realenzyklopädie Bd. 33, 412–421, hier: 415.

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Der erste Brief an die Gemeinde von Thessaloniki, der nach Philippi zweiten europäischen Christengemeinde, ist nicht nur deshalb von großer Relevanz, weil er, wie gesagt, das erste erhaltene schriftliche Zeugnis des Paulus und damit ein wesentliches Fundament für das Verständnis seiner Theologie darstellt; er ist auch aus einem anderen, traditionsgeschichtlichen Grund in hohem Maße bedeutsam: zeigt er doch, wie eng der Apostel den Überlieferungen des Judentums, namentlich der frühjüdischen Apokalyptik und ihrer Endzeiterwartung auch als Christ verbunden blieb. Sein Verständnis Jesu als des Christus ist entscheidend apokalyptisch geprägt. Auf diesen Zusammenhang wird aus Anlass der Paulusdeutung von Albert Schweitzer sogleich zurückzukommen sein. Zuvor seien nur noch einige wenige Informationen zur Biographie und Werkgeschichte des Heidenapostels angefügt. Paulus, in Tarsos geboren und im Besitz des römischen Bürgerrechts, war vor seiner Bekehrung in Damaskus nach eigenem Zeugnis ein strenger Verfechter der jüdischen Tora, der in seinem Gesetzeseifer, wie er selbst bekennt, Christen energisch verfolgte. Das Damaskuserlebnis gab seinem Leben eine grundstürzende Wendung und machte ihn zu einem der wirkungsmächtigsten Verkündiger des Evangeliums Jesu Christi. Nach seiner Berufung, die wenige Jahre nach Jesu Kreuzigung Anfang der 30er Jahre erfolgt sein wird, geht Paulus in die Arabia, dann zurück nach Damaskus, um rund zwei Jahre später für vierzehn Tage nach Jerusalem zu ziehen (vgl. Gal 1,17f.). Aufenthalte in den Gebieten Syriens und Kilikiens schließen sich an, bis er sich dreizehn Jahre später erneut nach Jerusalem zum sog. Apostelkonzil begibt, das man um das Jahr 48 anzusetzen hat. Erst danach ist Paulus zu seinem ersten großen selbständigen Missionszug aufgebrochen, der ihn auf verschlungenen Wegen nach Griechenland führte. Über Philippi, Thessaloniki, Beroia und Athen zog er nach Korinth, wo er vermutlich den erwähnten 1. Thessalonicherbrief geschrieben hat; frühere Schriftzeugnisse des Apostels sind nicht bekannt. Für seine weiteren Reisen und ihre Umstände bis zum römischen Martyrium sei auf die einschlägige Literatur verwiesen. Unter den Paulus zugeschriebenen Briefen sind neben dem 1. Thessalonicherbrief und dem Philipperbrief die Briefe an die Römer, die Korinther, die Galater und der Philemonbrief authentisch. Epheser- und Kolosserbrief stammen wahrscheinlich aus der Paulusschule, in der die Lehrtradition des Apostels in unterschiedlicher Weise gepflegt wurde. Ihr gehören in einem weiteren Sinn auch die sog. Pastoralbriefe an Timotheus und Titus und der 2. Thessalonicherbrief an, wohingegen der Hebräerbrief, der ebenfalls mit Paulus in Verbindung gebracht wurde, in einen anders gelagerten Traditionszusammenhang gehört. Über Einzelheiten informiert die neutestamentliche Einleitungswissenschaft.

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2. Albert Schweitzers Geschichte der historisch-kritischen Paulusforschung Albert Schweitzer war eine universale Begabung. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er vor allem als Urwaldarzt von Lambarene vertraut. Aber Schweitzer war zugleich ein bedeutender Organist und ein nicht weniger bedeutender Theologe. Als solcher ist er insbesondere durch seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ bekannt geworden, deren Erstauflage unter dem Titel „Von Reimarus zu Wrede“ 1906 erschien. Weniger bekannt ist, dass er auch eine Geschichte der paulinischen Forschung geschrieben hat. 4 Sie wurde erstmals im Jahr 1911 publiziert. In der Vorrede zu dem Werk bezeichnete es Schweitzer als die „große und noch immer ungelöste Aufgabe der Geschichtswissenschaft vom ältesten Christentum“, „die Entwicklung der Lehre Jesu zum altgriechischen Dogma, wie es in den Werken des Ignatius, Justin, Tertullian und Irenäus zu Tage tritt, verständlich zu machen“ (V). Eine Lösung dieser Aufgabe sei nur möglich, wenn der Ort des Paulus und des Paulinismus in der Entwicklungsgeschichte des ältesten Christentums angemessen bestimmt werde. Dies aber sei bisher nicht hinreichend gelungen.5 Schweitzers Geschichte der Paulusforschung setzt ein mit dem großen, an Hegels Philosophie orientierten Entwurf der Geschichte des Urchristentums von Ferdinand Christian Baur.6 Nach Baur entwickelten sich die urchristliche Kirche und ihre Theologie aus dem Gegensatz von Petrinismus und Paulinismus, den sie in sich aufzuheben und synthetisch zum Ausgleich zu bringen suchte. Der Petrinismus repräsentiert für Baur das Judenchristentum, das unbeschadet seines Bekenntnisses der Messianität Jesu ein religiöser Teil des Judentums bleiben wollte und daher am mosaischen Gesetz fest4

A. SCHWEITZER, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 21933. Die nachfolgenden Seitenverweise in Text und Anmerkungen beziehen sich hierauf. 5 Zwar habe die an Hegel orientierte Geschichtskonstruktion Ferdinand Christian Baurs aus historischen Gründen ein Ende gefunden. Aber der Zerfall der Baur’schen Konstruktion habe zugleich zur Folge gehabt, dass sein „großer allgemeiner Begriff der Dogmengeschichte“ (VII) zugunsten einer Beschäftigung mit dem historischen Detail verloren gegangen sei. Niemand mehr habe seither die frühchristliche Dogmengeschichte „als Wissenschaft von der Entwicklung der Lehre Jesu zu der der altgriechischen Kirche aufzufassen und zu betreiben“ (VI) gewagt. Wie auf die Lehre Jesu kaum zwei oder drei Jahrzehnte nach seinem Tod das „System des Heidenapostels“ (VII) und aus diesem das altgriechische Dogma bzw. dessen theologische Vorbereiter hervorzugehen vermochten, ist daher nach Urteil Schweitzers eine nach wie vor unbeantwortete Frage. „Die heutige Wissenschaft ist weit davon entfernt erklärt zu haben, wie aus der Lehre Jesu der Paulinismus und das griechische Dogma entstanden sind.“ (Ebd.) 6 Die historische Theologie als eine von der Dogmatik emanzipierte Disziplin lässt Schweitzer mit Johann Salomon Semler beginnen. Dieser sei als ihr Schöpfer zugleich derjenige, mit welchem die wissenschaftliche Erforschung des Paulus und des Paulinismus beginne. Zwar habe die Reformation die Lehre des Heidenapostels ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt; ein geschichtliches Verständnis sei dadurch aber nicht gefördert worden. „Die Exegese der Reformation legt ihre Ideen in Paulus hinein, um sie mit apostolischer Autorität ausgestattet zurückzuempfangen.“ (1) Eine vom geltenden Dogma unabhängige Paulusauslegung habe sich erst allmählich und forciert seit Semler etabliert, obzwar es auch danach immer wieder zu ideologischen „Vergewaltigung(en) der Ideen des Apostels“ (9) gekommen sei.

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hielt. Im Paulinismus hingegen wurde die Verbindlichkeit zumindest der kultischen Bestimmungen der Tora abgelehnt und das Christentum auch für Heiden offen. Beide Positionen verhalten sich wie These und Antithese; ihr alternatives Verhältnis wurde nach Baur durch Abmilderung der beidseitigen Opposition im Verlauf der frühchristlichen Geschichte behoben, woraus sich jene Synthese ergeben sollte, welche die christliche Kirche spätestens zu Beginn des 2. Jhd. n. Chr. darstellte. Baurs ebenso einfache wie begriffsstarke Rekonstruktion der frühchristlichen Kirchen- und Theologiegeschichte hielt der historischen Überprüfung nicht stand.7 Wichtige Einwände sind bereits von Albrecht Ritschl vorgetragen worden. Die spätere Forschung hat sie teilweise bestätigt und durch weitere kritische Gesichtspunkte ergänzt. Es zeigte sich, dass einem dem Heidenchristentum entgegengesetzten Judenchristentum im 7 Der Ansatz des Gründers der Tübinger Schule, der durch Albert Schweglers Werk über das nachapostolische Zeitalter und andere Beiträge weiter ausgearbeitet wurde, gestattet nach Schweitzer weder eine authentische Darstellung der frühchristlichen Theologiegeschichte im Allgemeinen noch des paulinischen Denkens im Besonderen. Baur benutze „die Worte Pauli, um darin eine großartige, von Hegel beeinflusste Religionsphilosophie vorzutragen“ (13). Gleichwohl habe Baur die Paulusforschung und die Erforschung der Geschichte frühchristlicher Theologie wie kein anderer gefördert, „indem er auszusprechen wagte, dass der Apostel seine Lehre in vollkommenem Widerstreit mit der der urchristlichen Gemeinde entwickelt habe. Erst auf Grund dieser Erkenntnis war an eine Erfassung der Eigenart der paulinischen Ideen zu denken.“ (10) Die Probleme, an denen sich Baur abarbeitete, wurden durch seine Kritiker Schweitzers Urteil zufolge keiner befriedigenden Antwort zugeführt, so zutreffend die Einwände im Einzelnen auch waren. Dies gelte cum grano salis auch für Albrecht Ritschl und seine Sicht der „Entstehung der altkatholischen Kirche“, wie er sie in den beiden Auflagen von 1850 und 1857 seines gleichnamigen Werkes zur Darstellung gebracht habe. Zwar hätten Ritschl und seine Schüler die Entgegensetzung von Judenchristentum und Paulinismus zu Recht als abstrakt und unhistorisch kritisiert und geltend gemacht, dass das Maß des gemeinsamen Lehrbestandes sehr viel größer gewesen sei, als Baur dies dargetan habe. Aber eine Darstellung der Entwicklungsgeschichte frühchristlicher Theologie, die in Bezug auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit die Baur’sche hätte ersetzen oder mit ihr auch nur hätte konkurrieren können, sei dem Ritschlianismus nicht hervorgegangen. Er habe zwar die Erforschung thematischer Einzelheiten und Details erheblich befördert, ohne jedoch zu einer überzeugenden Gesamtschau gelangt zu sein. Der Trend zur Spezialisierung kennzeichnet nach Schweitzer den gesamten Entwicklungsgang der Paulusforschung bis hin zu dem drei Jahre vor der Jahrhundertwende entstandenen Lehrbuch der Theologie von H. J. Holtzmann. Neben literarischen Fragen einschließlich diverser Unechtheits- und Überarbeitungshypothesen hat man Genese und Form einzelner paulinischer Begriffe diskutiert, ohne dass eine zusammenhängende Gesamtdeutung erkennbar wurde. Auch die Erwägungen zu einer möglichen inneren Entwicklung paulinischer Theologie haben daran nichts geändert. Der Haupttrend ging dahin, die Differenz zwischen Urchristentum und Paulinismus im Unterschied zu Baur zu minimieren und im Interesse diverser Kontinuitätserweise abzuschwächen. Dabei kam es zu problematischen Reduktionen historischer Komplexität. „Auch das Problem der totalen Vernachlässigung der von Jesus überlieferten Verkündigung vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit in dem Evangelium des Paulus wird von den Forschern dieser Epoche nicht in seiner ganzen Schwere empfunden.“ (33) Des Weiteren herrscht Uneinigkeit darüber, ob die paulinische Lehre primär hellenistisch oder aus frühjüdischen Prämissen heraus zu begreifen sei. Die Eschatologie wird, statt ihre Schlüsselfunktion für die Beantwortung aller weiteren Fragen zu erkennen, in der Regel nur als ein Thema neben anderen verhandelt. Insgesamt zeigt sich, dass das Problem der Stellung paulinischer Theologie sowohl zum Urchristentum als auch zum altkirchlichen Dogma ungelöst bleibt.

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ersten nachchristlichen Jahrhundert bei weitem nicht die Bedeutung zukam, die Baur ihm zugedacht hatte. Gewiss gab es in der Aramäisch sprechenden Jerusalemer Urgemeinde unter der Leitung des Herrenbruders Jakobus manche Reserven gegenüber einem beschneidungs-, ja gesetzesfreien Christentum. Auch später noch haben der Paulinismus und die heidenchristliche Theologie mit Vorbehalten zu rechnen, wie etwa der neutestamentliche Jakobusbrief – ein pseudepigraphischer, dem Jerusalemer Jakobus nachträglich zugeschriebener Text – beweist. Dennoch ist die prinzipielle Öffnung des frühen Christentums für Nichtjuden bald schon vollzogen worden. Ein Beleg hierfür sind die Ergebnisse des sog. Apostelkonzils. Trotz des antiochenischen Konflikts hat gewiss auch Petrus die christliche Heidenmission im Grundsatz akzeptiert und von der These Abstand genommen, Heiden müssten erst Juden werden, um Christen sein zu können. Albert Schweitzer teilte die Kritik an Baurs Konzeption. Doch hielt er durch sie die Aufgabe keineswegs für erledigt, sondern im Gegenteil für umso dringlicher gestellt, den Zusammenhang der Entwicklung urchristlicher Theologie und Kirche auf historisch und systematisch plausible Weise zu rekonstruieren. Nicht nur für das geschichtliche Verständnis des Neuen Testaments und der sonstigen frühchristlichen Literatur kommt einer solchen Rekonstruktion grundlegende Bedeutung zu. Um nur einen wichtigen Aspekt eigens zu benennen: Die christliche Tradition lag bekanntlich nicht von Anfang an in schriftlicher Form vor, sondern wurde mündlich überliefert. Jesus selbst hat keinerlei Schriftstücke hinterlassen, und auch seine Jünger waren keine Literaten. Erst mit den Briefen des Apostels Paulus setzt die allmähliche Literarisierung des Christentums ein. Die förmliche Kanonisierung heiliger Schriften des Neuen Testaments unter Integration des Alten als der Bibel Israels ließ hingegen noch geraume Zeit auf sich warten. Sie ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, für dessen rechte Wertung insbesondere die Kenntnis seiner Anfangsphase von erheblicher Relevanz ist. Für diese wiederum kommt der vorpaulinischen Tradition und der Überlieferung des Apostels Paulus eine Schlüsselstellung zu. Von Paulus stammen in Gestalt seiner Gemeindebriefe nicht nur die ältesten Dokumente des Neuen Testaments, er war es zugleich, der die Theologiegeschichte des Urchristentums entscheidend prägte und auf den die weitere neutestamentliche Entwicklung in Konstruktion und Kritik wesentlich bezogen blieb. War er es doch, welcher der Öffnung des frühen Christentums für Heiden, die er praktisch wie kein anderer betrieb, die nötige theologische Fundierung zuteil werden ließ. Man hat Paulus daher den eigentlichen Gründer des Christentums genannt. Während Jesus, seine Jünger und die Jerusalemer Urgemeinde die religiösen Grenzen des Judentums niemals grundsätzlich überschritten hätten, habe der spätberufene Apostel in Praxis und Theorie auf eine Emanzipation des frühen Christentums vom zeitgenössischen Judentum hingewirkt und damit die Grundlagen dafür bereitet, dass das Christentum nicht eine jüdische Sekte blieb, sondern zu einer Kirche aus Juden und Heiden und zu einer Religion von weltumspannender Bedeutung wurde. Gemäß dieser Sicht blieben, um es pointiert zu sagen, Petrus wie sein Herr religiös Juden, wohingegen als erster Christ recht eigentlich erst Paulus zu gelten hat. Auf modifizierte Weise scheint man damit wieder bei dem Baur’schen Gegensatz von Petrinismus und Paulinismus angelangt zu sein, und das

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nicht zuletzt deshalb, weil man in der nachbaurschen Forschung die paulinische Theologie häufig mit einer stark hellenistischen, aus der paganen Religion und Philosophie herrührenden Prägung versah, wohingegen man die verbleibenden jüdischen Traditionseinflüsse eher gering veranschlagte.8 Diesem Forschungsstand ist Albert Schweitzer mit starken Argumenten entgegengetreten. Nach seinem Urteil ist Paulus auch als Christ seiner jüdischen Herkunft und der religiösen Tradition des Judentums aufs engste verbunden geblieben. Den traditionsgeschichtlichen Rahmen des von Urchristenheit und Paulus geteilten Dogmas der nahen Wiederkunft Jesu Christi bildet nach Schweitzer die spätjüdische Apokalyptik, wohingegen Paulinismus und Griechentum „nur die religiöse Sprache, aber keine Gedanken miteinander gemeinsam (haben). Der Apostel hat das Christentum nicht hellenisiert. Seine Vorstellungen sind von denen der griechischen Philosophie und denen der Mysterienreligionen in gleicher Weise unterschieden.“ (186) Insgesamt zeige sich, „dass es unmöglich ist, einen hellenisierten Paulinismus und ein jüdisch-eschatologisches Urchristentum nebeneinander bestehen zu lassen. Entweder muss man, wie es die UltraTübinger taten, die Briefe und die Lehre aus der ältesten Zeit in das zweite Jahrhundert verpflanzen, oder aber, was einzelne Vertreter der religionsgeschichtlichen Ansicht durchzuführen suchten, schon das Urchristentum als ein Produkt des griechisch8 Dies trifft insbesondere für die sog. Religionsgeschichtliche Schule zu. Auch durch sie ist das Problem der Stellung des Paulinismus im Verlauf der Entwicklungsgeschichte frühchristlicher Theologie nach Schweitzer keiner wirklichen Lösung näher gebracht worden. Weder aus den hellenistischen Mysterienreligionen noch gar aus einem religiösen Pluralismus heraus sei die paulinische Theologie erklärbar. Auch die Sakramententheologie lasse eine solche Erklärung nicht zu. Gegenteiliges plausibel zu machen, sei weder W. Heitmüller, dem „Hyliker der religionsgeschichtlichen Methode“ (160), noch R. Reitzenstein gelungen, den Schweitzer zum „Pneumatiker unter den Religionsgeschichtlern“ (170) erklärt. „Die Sakramentsauffassung des Apostels entstammt ... einer ganz anderen Welt als die der Mysterienreligionen.“ (Ebd.) Abwegig sei ferner die Vorstellung, „dass der Universalismus und die Gesetzesfreiheit, für die Paulus gekämpft hat, eine Hellenisierung des Christentums bedeuten und den griechischen Bestand seines Dogmas bilden“ (65). Es ist vielmehr so, dass die Voraussetzungen, aus denen sich beide ergeben, mit griechischem Denken nichts zu tun haben. „Rein durch die Art, wie er die urchristliche Lehre systematisch zu Ende dachte, wurde Paulus zum Universalismus und zur Theorie von der Gesetzesfreiheit geführt.“ (65f.) Mit letzterem Hinweis sind der Schluss, den Schweitzer aus seiner Darstellung der Geschichte der Paulusforschung zieht, und die Position angedeutet, die er selbst in ihr einnimmt. Mit den hellenistischen Mysterienreligionen lässt sich der Paulinismus „im letzten Grunde überhaupt nicht vergleichen“ (178), wie er denn überhaupt aus griechischem Geist heraus unerklärbar sei. Hingegen stehe er mit dem Urchristentum zumindest in einer Hinsicht „in ungestörtem Zusammenhang“ (179), nämlich hinsichtlich der Eschatologie, die beiden gemeinsam sei. Gegenüber dem „gewinnbringenden Missbrauch“ (177), der mit dem Wort „Eschatologie“ in der religionswissenschaftlichen Forschung getrieben werde, plädiert Schweitzer den Begriff nur da zu verwenden, „wo es sich um das in unmittelbarer Nähe erwartete Weltende und die damit gegebenen Ereignisse, Hoffnungen und Aengste handelt“ (178). In der Bestätigung dieses Eschatologiebegriffs und in der gemeinsamen Endzeiterwartung der bevorstehenden Ankunft des auferstandenen Gekreuzigten besteht nach Schweitzer die grundlegende Übereinstimmung zwischen Urchristentum und Paulus. „Das Allgemeinste des ältesten Dogmas lässt sich ohne Schwierigkeit aus den Briefen herauslesen. Es bestand aus dem Glauben an die Messianität des gestorbenen und auferstandenen Jesus und aus der Erwartung seiner unmittelbar nahen Parusie.“ (186)

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orientalischen Synkretismus auffassen.“ (Ebd.) Nach Schweitzers Urteil stellen beide Optionen eine Unmöglichkeit dar und laufen auf eine „Vergewaltigung der geschichtlichen Ueberlieferungen“ (ebd.) hinaus. Folgt man Schweitzer, dann kann die Lösung der paulinischen Frage „nur darin liegen, dass man vom Griechischen in jeder Form und in jeder Mischung absieht und die Einseitigkeit wagt, die Lehre des Heidenapostels ausschließlich aus dem JüdischUrchristlichen begreifen zu wollen“ (187). Paulus war demnach ein Eschatologe apokalyptischer Provenienz, dessen Soteriologie und Sakramentenlehre ganz der Eschatologie angehören, aus der sie hervorgegangen sind und damit jene eschatologische Form der Mystik ausgebildet haben, wie sie für die paulinische Theologie insgesamt kennzeichnend sei.

3. Die Mystik des Apostels Paulus nach Albert Schweitzer Am Ende des im September 1911 fertiggestellten Vorworts zu seiner Geschichte der Paulusforschung kündigte Albert Schweitzer an, bald eine eigene Monographie zur Theologie des Apostels zu publizieren. Das Werk erschien allerdings erst knapp zwei Dezennien später, im Jahr 1929.9 Abgeschlossen wurde es, wie Schweitzer notiert, auf dem Ogowedampfer bei der Fahrt nach Lambarene. Inhaltlich indes schließt Schweitzers Paulusbuch unmittelbar an das programmatische Resultat seines Forschungsberichts an. Die Grundthese lautet, dass für Paulus ebenso wie für Jesus das eschatologische Denken frühjüdischer Apokalyptik bestimmend geblieben sei. Die paulinische Theologie ist Endzeittheologie. Wie Jesus erwartete auch Paulus den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes mit dem Unterschied freilich, dass für ihn das Kommen der göttlichen Basileia mit der Parusie Jesu Christi, des auferstandenen Gekreuzigten, koinzidierte. Die sehnsuchtsvolle Erwartung des kommenden Reiches Gottes, die bereits die Verkündigung der alttestamentlichen Propheten kennzeichnete, wurde nach Schweitzer im nachexilischen Judentum immer gespannter, bis sie sich zu jener radikalen und konsequenten Endzeithoffnung zusteigerte, wie sie für die Henoch, Baruch und Esra zugeschriebenen Apokalypsen oder die Psalmen Salomonis charakteristisch sei. Die frühjüdische Messianologie gehört in diesen Kontext. Der Messias ist nun eine eschatologische Gestalt, die beim Anbruch des Gottesreiches in Herrlichkeit erscheinen wird. Auch die Botschaft Johannes des Täufers ist ganz und gar apokalyptisch geprägt. Entsprechendes gilt für die jesuanische Reich-Gottes-Verkündigung. Zwar ist Jesus nach Schweitzer in hohem Maße auch Ethiker; aber seine Sittenlehre sei von eschatologischer Art und ganz und gar endzeitlich geprägt. Von einer Vergeistigung der Vorstellung des Reiches Gottes bei Jesus will Schweitzer nichts wissen. Dieser habe im Gegen-

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A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 4, München 1974, 15–510. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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teil das Gottesreich genau in jener überirdisch-realistischen Form erwartet wie die jüdische Apokalyptik vor, neben und nach ihm. Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde heraufführen, die dämonischen Mächte des alten Äons überwinden und mit den Übeln von Krankheit und Tod auch dem Bösen ein definitives Ende bereiten, damit sich seine Gerechtigkeit und Liebe vollendet verwirklichen. In der Konsequenz dieser überaus realistischen Endzeiterwartung nehme die jesuanische Ethik dezidiert eschatologische Gestalt an und sei weniger dem konkreten moralischen Weltwirken als der inneren Vorbereitung auf das unmittelbar bevorstehende Gottesreich gewidmet. Futurisch sei schließlich auch Jesu Messianitätsbewusstsein, mit dem Schweitzer durchaus rechnet. Den kommenden Menschensohn habe Jesus mit dem Messias gleichgesetzt, um sich selbst als beider Antizipation zu begreifen. Die von Jesus in Anspruch genommene Vollmacht der Sündenvergebung sei eine Folge dieses Selbstbewusstseins. Sie zeigt nach Schweitzer zugleich eindrücklich, dass Jesu Eschatologie nicht nur und auch nicht in erster Linie durch den Gedanken göttlichen Strafgerichts, sondern durch denjenigen versöhnender Liebe bestimmt war. Wie Jesus, dessen baldige Parusie er in Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten erwartete, ist auch Paulus durch und durch Eschatologe. Seine Theologie ist nach Schweitzer konsequent endzeitorientiert. „Vom ersten bis zum letzten Briefe sind die Gedanken Pauli immer in derselben Weise von der Erwartung der nahen Wiederkunft Jesu, des Gerichts und der messianischen Herrlichkeit beherrscht.“ (91) Die paulinische Theologie ist nicht mythisch auf eine gründende Urzeit, sondern kosmisch-geschichtlich auf die Endzeit ausgerichtet. Dennoch unterscheide sich die paulinische Endzeiterwartung von der futurischen Eschatologie der jüdischen Apokalyptik grundlegend dadurch, dass sie in der Auferweckung des Gekreuzigten, der dem dreizehnten Apostel seine österliche Erscheinung persönlich hat zuteil werden lassen, das kommende Reich Gottes bereits angebrochen sieht. Zur Bewältigung und Lösung des Problems des zeitlichen Auseinanderfallens von Auferstehung und Wiederkunft Christi, die doch sachlich zusammengehören, bietet sich für Paulus an, was Schweitzer die eschatologische Mystik des Apostels nennt.10 Dabei verbindet er mit dem uneindeutigen, bedeutungsschillernden Wort „Mystik“ einen eigenen Sinn, dessen spezifischen Gehalt er in paulinischen Formeln wie „Sein in Christo“ oder „Gestorben- und Auferstandensein mit ihm“ umschrieben sieht. Durch mystische Christusgemeinschaft und Teilhabe am auferstandenen Gekreuzigten partizipiert der Glaubende schon jetzt an der eschatologischen Wirklichkeit seines Herrn. Im Glauben ist er bereits der Herrlichkeit des auferstandenen Gekreuzigten inne, auch wenn dessen äußerlich erkennbare Wiederkehr als Herrscher über alle Dinge noch aussteht. Durch sein Sein in Christo wird dem Glaubenden zugleich seine Gotteskindschaft zur unum-

10 „Aus der Eschatologie begriffen, ist Paulus der gewaltige elementare Denker, der als einziger die Eigenart der sich zwischen Auferstehung und Wiederkunft Jesu auftuenden Zeit erkennt und als erster mit dem Problem der Verzögerung dieser Wiederkunft fertig zu werden sucht. Weil sein ganzes Vorstellen und Denken in der Eschatologie wurzelt, sind diejenigen, die sich abmühen, ihn aus dem Hellenismus zu erklären, solchen vergleichbar, die in lecken Gießkannen von weit her Wasser herbeischleppen, um einen am Bache liegenden Garten zu begießen.“ (199)

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stößlichen Gewissheit. Mit dem göttlichen Menschensohn eins kann er sich als Kind des himmlischen Vaters wissen, das er im Reiche Gottes in manifester Weise sein wird. Auf den ersten Blick überraschend ist nach Schweitzer der außerordentlich realistische Charakter paulinischer Christusmystik. „Das Sein in Christo wird nicht als ein ruhendes Teilhaben an dem geistigen Wesen Christi aufgefasst, sondern als ein reales Miterleben seines Sterbens und Auferstehens.“ (40) Die paulinische Sakramentenlehre bestätige dies eindrucksvoll. Sie sei nicht den paganen Mysterienreligionen verbunden, sondern ein originäres Produkt der eschatologischen Christusmystik des Paulus. Der Zusammenhang der Mystik des Apostels mit seiner eschatologischen Weltanschauung begründet nach Schweitzer eine Kontinuität, die auch noch die Annahme einer proleptischen Teilhabe an der eschatologischen Auferstehungswirklichkeit Jesu Christi als unter jüdisch-apokalpytischen Bedingungen möglich und denkbar erscheinen lässt. Zugleich habe die paulinische Christusmystik die Theologie des Apostels anschlussfähig gemacht für eine hellenismusspezifische Denkungsart, für welche eschatologische Endzeiterwartungen kaum und wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Stunde der hellenistischen Paulusrezeption war nach Schweitzer gekommen, als der Tag des Herrn ausblieb und die Parusie Jesu Christi nicht in der Kürze der Zeit eintraf, in der sie erwartet wurde. Die Parusieverzögerung ist so gesehen der eigentliche Grund der Hellenisierung des Christentums im Allgemeinen und des Paulinismus im Besonderen. Zur endgültigen Durchführung gebracht ist dieser Prozess nach Schweitzer erst in der kleinasiatischen Theologie des beginnenden zweiten Jahrhunderts n.Chr., für welche Ignatius von Antiochien und „die ihm verwandte johanneische Schule“ (73) beispielgebend sind. Durch das Zurücktreten der eschatologischen Erwartung wurden Ignatius und andere Theologen „ganz natürlich dazu gebracht […], ihren Glauben in den ihnen geläufigen hellenistischen Vorstellungen neu zu begreifen. Dies wurde ihnen dadurch möglich gemacht, dass sie mit Pauli Mystik des Seins in Christo vertraut waren. Sie übernahmen sie, indem sie die ihnen nicht mehr verständliche eschatologische Logik derselben durch eine hellenistische ersetzten. So erklärt sich die Entwicklung von Jesus über Paulus zu Ignatius auf sehr natürliche Weise. Paulus war nicht der Hellenisator des Christentums. Aber er hat ihm in seiner eschatologischen Mystik des Seins in Christo eine Fassung gegeben, in der es hellenisierbar wurde.“ (21) Durch die Anerkennung des eschatologischen Charakters sowohl der Predigt Jesu als auch der paulinischen Lehre ist das Problem der Hellenisierung des Christentums und seiner Theologie nach Schweitzer „zwar in viel schrofferer Form“ gestellt, „zugleich aber auch auf viel einfachere Weise lösbar“ (22), nämlich durch den Verweis auf das Ausbleiben der Parusie, das eine Umorientierung der Theologie förmlich erzwungen habe. Der Grundgedanke der paulinischen Mystik von der Christusgemeinschaft des Glaubens bot dafür nach Schweitzer die Basis, weil er auch ohne apokalyptische Eschatologie zu bestehen vermochte und Anschluss bot für hellenistische, vom Judentum weitgehend unbeeinflusste Weisen religiöser Theorie und Praxis. Kurzum: Paulus hat das Christentum keineswegs hellenisiert, gleichwohl seine Hellenisierung vorbereitet. Seine Christusmystik ist nicht hellenistisch, sondern jüdisch-apokalyptisch geprägt, aber doch hellenisierbar.

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Exemplarisch vollzogen wurde die Hellenisierung nach Schweitzer in den Ignatianen und in der johanneischen Schule. Die eschatologische Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu und des Kommens des messianischen Gottesreiches wird, so die These, mehr und mehr kraftlos, obwohl sie etwa von den sog. Apostolischen Vätern und den frühen Apologeten immer noch als lebendige Hoffnung gehegt wurde, und an ihre Stelle tritt allmählich ein Glaube, der die Gewissheit der künftigen Auferstehung und Weltvollendung auf die aktuelle Christuspräsenz gründet, wie sie durch Wort und Sakrament vermittelt und im Inneren der Person in der Kraft des göttlichen Geistes erfahrbar wird. Wer am Geist Christi gläubigen Anteil gewinnt, kann seiner eschatologischen Vollendung gewiss sein. Mit Schweitzer zu reden: „Die Lehre von dem Gebundensein der Auferstehung an den Geistbesitz ist […] der Vorhang, hinter dem sich die Umstellung der eschatologischen Mystik in die hellenistische vollzieht.“ (442) Auf die Christologie wirkt dieser Prozess nach Schweitzer insofern zurück, als die „Mystik des Einswerdens von Fleisch und Geist“ (449), welche die Soteriologie des hellenistischen Christentums bestimmt, auch für die Christologie paradigmatisch werden und zur Ausbildung der Logoslehre bzw. der Lehre vom logos incarnatus führen sollte. Das Johannesevangelium, das Schweitzer spät datiert, vollendet im Verein mit Justin und anderen Logostheologen das besagte Werk der Hellenisierung der Christologie, wie sie im trinitarisch fundierten Dogma vom Gottmenschen kirchlich definierte Gestalt annehmen wird. Gemäß Schweitzers Urteil verdankt sich das altkirchliche Dogma nicht Fremdeinflüssen antiker Metaphysik,11 sondern jener hellenistischen Rezeption paulinischer Christusmystik, die in Folge des Ausbleibens der Parusie deren von Paulus zwar nicht intendierte, aber unter der Hand gleichwohl ermöglichte Ent-Eschatologisierung bewirkte, wie sie insbesondere im Johannesevangelium und der johanneischen Tradition bereits unschwer erkennbar werde. Bleibt hinzuzufügen, dass die johanneische Mystik nach Schweitzers Auffassung nicht nur für die theologische Entwicklung der Alten Kirche im spätantiken Hellenismus prägend wurde, sondern in spiritualisierter Form „das religiöse Denken der Neuzeit (beherrscht)“ (480). Welche Verluste er mit dieser Entwicklung verbunden sieht, macht Schweitzer im Schlussabschnitt seiner Monographie deutlich, indem er „das Unvergängliche der Mystik Pauli“ thematisiert.12 11

„Der christliche Glaube hat es nicht nötig, von der hellenistisch-religiösen Umwelt Vorstellungen zu übernehmen, um sich durch sie zur Mystik der Gemeinschaft mit Christo zu wandeln. Diese Entwicklung macht er in genuin urchristlichen Vorstellungen in dem Denken Pauli durch. Vom Hellenismus übernimmt er nur das Vorstellungsmaterial, um die leibliche Auferstehung und ihre Erlangung durch die Gemeinschaft mit Christo und durch die Sakramente in griechischer Metaphysik begreifen zu können. So macht er sich auch die Logoslehre dienstbar. Durch sie übersetzt er die jüdische Vorstellung des Messias in die griechische des Bringers des ewigen Lebens.“ (476) 12 „Was Paulus festhielt, ist später verlorengegangen. Gleich bei der Hellenisierung des Christentums bildet sich eine Vorstellung der Erlösung durch Christum aus, die nicht mehr in dem Glauben an das Reich Gottes, sondern neben ihm steht. Die Erlösung wird nun aus der Erscheinung Jesu Christi als solcher, nicht mehr aus seinem Kommen als Bringer des Reiches Gottes begründet. So bleibt es dann durch die Jahrhunderte hindurch. Niemals mehr bilden der Glaube an die Erlösung durch Christum und der an das Reich Gottes eine lebendige Einheit miteinander. Im Katholizismus und im Protestantismus der Reformatoren, die ihrer Struktur nach ganz durch die

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4. Eugen Bisers Paulusbuch von 2003 „In Jesu Christo wird Gott als Wille der Liebe offenbar. In der Gemeinschaft mit Christo verwirklicht sich also die Gemeinschaft mit Gott, wie sie uns bestimmt ist.“ (488) Dieser Satz aus dem Schlusskapitel von Albert Schweitzers Paulusmonographie könnte als programmatisches Motto für Eugen Bisers Paulusdeutung gelten.13 Nichtsdestoweniger zeigen sich erhebliche Differenzen zwischen beiden Konzeptionen. Am auffälligsten ist, dass der von Schweitzer pointiert hervorgehobene apokalyptische Charakter der Mystik des Apostels bei Biser kaum akzentuiert wird. Zwar ist die eschatologische Orientierung paulinischen Denkens keineswegs in Abrede gestellt. Aber die endzeitlichen Vorstellungselemente treten eher in den Hintergrund. Sie stellen, wenn man so will, die äußere Gestalt jenes Gehalts dar, dessen innerer Sinn die Formeln vom Sein in Christus bzw. der Inhabitatio Christi umschreiben. Man kann diesen Sachverhalt so auffassen, dass Schweitzer Paulus genetisch von seinen jüdischen Herkunftszusammenhängen her deutet, für welche die – auch für den historischen Jesus und seine ReichGottes-Predigt prägenden – apokalyptischen Traditionen bestimmend waren, wohingegen Biser stärker wirkungsgeschichtlich vorgeht und die paulinische Theologie auf jene Konsequenzen hin interpretiert, die auf sie folgen und namentlich im Johanneismus, also im vierten Evangelium und in den Johannesbriefen neutestamentliche Form angenommen haben. Plakativ kann man dies auch so ausdrücken: Schweitzers Paulus ist jüdischer als der Biser’sche, der Biser’sche hellenistischer als derjenige Schweitzers. Mit der hermeneutischen Differenz einer stärker genetischen und einer stärker wirkungsgeschichtlichen Interpretation hängt ein weiterer Unterschied zwischen der Paulusdeutung Schweitzers und derjenigen Bisers unmittelbar zusammen. Nach Erstgenanntem ist die paulinische Mystik entschieden kosmisch dimensioniert und die mit ihr assoziierte Soteriologie mit Zügen eines massiven Realismus ausgestattet, den Schweitzer selbst mehrfach naturhaft nennt. Die Christusgemeinschaft vermittelt den Glaubenden Teilhabe an einem Sein, das Mensch und Welt umfasst und beide in einer transnaturierenden Weise verwandelt. Der Begriff der Transnaturierung soll besagen, dass die eschatologische Christusmystik, wie Schweitzer sie bei Paulus gegeben sieht, keineswegs nur eine Sache des inneren Menschen ist, weil sie den menschlichen Leib mindestens ebenso angeht wie die menschliche Seele. Wie der Gekreuzigte leiblich auferstanden ist, so ist die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen auf eine leibhafte Welt hin Form bestimmt sind, die das Christentum bei der Hellenisierung angenommen hat, wird die christliche Lehre von einer auf den Sühnetod Jesu zur Sündenvergebung gegründeten Idee der Erlösung beherrscht, neben der der Glaube an das Reich Gottes sein Dasein fristet. Wohl ringt dieser Glaube immer aufs neue darum, die verlorengegangene Geltung wiederzuerlangen. Eine Reihe der schwersten Erschütterungen, die die Kirche durchzumachen hat, gehen darauf zurück, dass erloschene Vulkane des evangelisch-urchristlichen Glaubens an das Reich Gottes wieder in Tätigkeit treten. Auch in der Reformation geht eine auf die Erneuerung des Glaubens an das Reich Gottes gerichtete Bewegung mit einher, nur dass sie sich nicht durchsetzen kann, so stark sie sich auch bei Luther geltend macht.“ (490f.) 13 E. BISER, Paulus. Zeugnis – Begegnung – Wirkung, Darmstadt 2003. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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angelegt, die mit der Wiederkehr Jesu Christi und dem Kommen des Reiches Gottes eine durchaus physisch zu nennende Gestalt annehmen wird. Im Vergleich zum Schweitzer’schen ist der Biser’sche Paulus spiritueller, vergeistigter, idealistischer, wenn man so will. Die eschatologischen Dramen spielen sich bei ihm weniger in der Außenwelt als im Binnenkosmos der Seele ab. Die Biser’sche Paulusdeutung ist humanzentriert. Sie tendiert zur Anthropologisierung der paulinischen Kosmologie, wohingegen Schweitzer eine eher gegenläufige Tendenz verfolgt. Mit dem anthropologischen verbindet sich bei Biser ein psychologisierender Zug. Dies wird bereits an seiner Interpretation des Damaskusgeschehens erkenntlich, der eine hermeneutische Schlüsselfunktion für die Gesamtdeutung zukommt. Die Leitfrage lautet, wie aus dem Aggressor Saulus der Apostel der in Jesus Christus offenbaren bedingungslosen Liebe Gottes werden konnte, der Paulus in Wort und Tat war. Das Wüten des Verfolgers, der die frühe christliche Gemeinde zu vernichten suchte, ist u. a. aus paulinischen Selbstzeugnissen bekannt (vgl. Gal 1,13). Nach Biser bezogen sich die Aggressionen des Christenverfolgers nur vordergründig auf religiöse Dissidenten, die er der Apostasie vom rechten Glauben bezichtigte; hintergründig seien sie als ein „Wüten Pauli gegen sich selbst“ (25) und als ein Indiz dafür zu deuten, „dass er sein unerfülltes Liebesverlangen nach außen abreagierte“ (ebd.). Als einen Beleg dieses Liebesverlangens wertet Biser den Hymnus in 1 Kor 13, dessen Urform er auf eine Dichtung aus der vordamaszenischen Zeit des nachmaligen Apostels zurückführt. Erst als die Sehnsucht nach Liebe und unbedingter Zuwendung unerfüllt geblieben sei, sei aus dem frustrierten Saulus jener Fanatiker geworden, „dessen Aggressivität dem Neid auf die Christengemeinde entstammte, die ihrem Selbstverständnis zufolge bereits im Vollbesitz dessen lebte, worum sich der nach Gesetzesgerechtigkeit Strebende vergeblich bemühte“ (22). Die Christusepiphanie, die ihn in Damaskus ergriff, habe ihn aus dieser fatalen Lage befreit und den in sich Verkehrten zu jener Freiheit bekehrt, deren Wesensmerkmale Glaube, Liebe und Hoffnung sind. Folgt man Biser, dann hatte das Damaskuserlebnis für Paulus „in erster Linie eine therapeutische Funktion. Es brach die ressentimenthafte Verhärtung auf und legte jenes durch unerfüllte Sehnsucht entstandene Vakuum in ihm frei, in das sich die Mitteilung des Gottessohnes ‚ergießen‘ und dem Empfänger zu der zunächst vergeblich ersehnten Erfüllung verhelfen konnte. Da Paulus dieses Widerfahrnis aber zugleich als Auftrag (Gal 1,16) und, wesentlicher noch, als Befähigung, ‚allen alles zu werden‘ (1 Kor 9,22), empfand, verstand er sich fortan auch als ‚Werkzeug‘ in der Hand dessen, der durch seinen stellvertretenden Dienst die Menschheit dazu aufrief, sich mit Gott und sich selbst zu versöhnen (2 Kor 5,20).“ (25) In der damaszenischen Lebenswende, die aus Saulus Paulus werden ließ, vollzog sich eine Befreiung von sich zu sich selbst im Modus unbedingter Liebeszuwendung, welche die Identität des Apostels begründete und ihn seiner apostolischen Aufgabe zuführte. Zu sich und zum wahren Bewusstsein seiner selbst gelangt, lebte Paulus von nun an seiner Bestimmung, die in der göttlichen Liebesoffenbarung Jesu Christi gründete und dem Geist gemäß war, der von ihr ausging. Seine apostolische Sendung, die Paulus zum Weltmissionar werden ließ, folgt der unbedingten Liebeszuwendung Gottes, die ihn der österliche Christus in seiner damaszenischen Selbsterschließung wahrnehmen ließ. Diese Wahrnehmung betraf keineswegs

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nur den Intellekt, sondern Leib, Seele und Geist, also den ganzen Menschen, seine Vernunft mit allen Sinnen. Das Damaskuserlebnis war nicht nur ein Auditionserlebnis oder eine visionäre Schau, sondern zugleich, wie Biser wiederholt betont (vgl. etwa 96), ein Ereignis von haptischer Art, das nichts unberührt ließ, was den Menschen ausmacht, sondern ihn insgesamt ergriff. Infolgedessen muss auch die Theologie des Paulus – sit venia verbo – ganzheitlich begriffen werden, wenn sie als ergreifendes Zeugnis eines Ergriffenen verstanden werden soll. Sie ist keineswegs nur und in erster Linie lehrhafte Doktrin. Ihr eignet vielmehr performative Intensität, insofern in ihr Aussage und vollmächtige Zusage nicht zu trennen sind. Alle Imperative paulinischer Theologie stehen unter dem Vorzeichen eines umfassenden Indikativs, dessen primäre Äußerungsform nicht etwa Schriftlichkeit oder gar Vorschrift, sondern personale Selbstmitteilung ist. Die viva vox evangelii bekundet sich entsprechend primär nicht in Buchstaben- oder Buchform, sondern in mündlicher Rede, die mit sichtbaren, ja spür- und schmeckbaren Zeichen elementarer Hinwendung unveräußerlich verbunden ist. Ohne diese Einsicht kann beispielsweise die paulinische Lehre von Wort und Sakrament nach Biser nicht angemessen erfasst werden. Bestand für Paulus selbst die hermeneutische Aufgabe wesentlich darin, „das verstehend nachzuvollziehen, was ihm in und mit dem ihm Zugesprochenen und zum Lebensinhalt Gewordenen mitgeteilt worden war“ (69), so gilt Analoges auch für den Interpreten, der des Sinngehalts der Theologie des Apostels innewerden will, statt ihre Inhalte lediglich äußerlich zu registrieren. Nach Biser erschließen sich die Äußerungen paulinischer Theologie, deren schriftliche Gestalt dezidiert als sekundär qualifiziert wird, allein von jenem inneren Prinzip her, das ihre Wirk- und Zweckursache ausmacht. Dieses Prinzip ist kein axiomatischer Grundsatz, aus dem sich Lehrformeln deduzieren ließen; es ist vielmehr der Inbegriff unbedingter Liebe, die Jesus Christus als Offenbarer Gottes in Person ist, um durch bedingungslose Zuwendung sich wirksam zu bezeugen und bezeugt zu werden. Sein Ziel erreicht, mit Biser zu reden, „das innovatorische Konzept des Apostels […] durch Einstiftung eines Prinzips, das zum Bösen unfähig macht, des Prinzips der Liebe“ (369). Weil aber jenes Prinzip personaler Natur ist, kann es nur personhaft erfasst werden, um im Inneren der Person und von dorther nach außen zu wirken. Im christlichen Glauben findet just dies statt. Er besteht nicht, jedenfalls nicht primär im Fürwahrhalten von Satzwahrheiten. In seine Wahrheit gelangt er vielmehr, indem er in Christus seinen Grund findet, um sich ganz auf ihn zu verlassen. In der Christusgemeinschaft des Glaubens kommt der Glaubende exzentrisch zu sich, um in Christus als seinem alter ego seine Bestimmung und deren Erfüllung zu finden. Was es mit der Christusgemeinschaft des Glaubens auf sich hat, findet Biser wie vor ihm schon Schweitzer in den paulinischen Formeln vom Sein des Glaubenden in Christus und Christi Sein im Glaubenden bündig umschrieben. In ihnen sieht er zugleich jene „Kehre vom Gegenstands- zum Identitätsglauben“ (37) vorgezeichnet, von welcher er die entscheidende Wende aktueller Glaubensnot erwartet. Auch Bisers Plädoyer für eine Renaissance christlicher Mystik, in dem er sich neben Schweitzer u. a. mit Karl Rahner einig weiß (vgl. etwa 37), gehört in diesen Zusammenhang. Christliche Mystik ist ihrer formalen Gestalt nach exzentrisches Innesein und gemäß ihrem Gehalt Differenzeinheit

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des Glaubenden mit Christus, der Identität unter den Bedingungen der Differenz verleiht und die Verschiedenen im Geist seiner Liebe als Verschiedene eins sein lässt. Die paulinische Glaubensmystik, deren „Tragpfeiler“ (77; vgl. ferner 205ff.) zusammen mit dem Motiv des „Christus in uns“ die Formel „in Christus“ bildet, ist nach Biser nicht auf ein glattes Einerlei, sondern auf ein Liebesgeschehen abgestellt, dessen Formstruktur sich als Identität von Identität und Differenz bestimmen lässt und dessen konkreter Sinn sich im Innesein dessen erschließt, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden und bis zum Tode am Kreuz unsereiner geworden ist, damit wir im Leben und im Sterben unserer Gotteskindschaft gewiss sein können. Gotteskindschaft ist Biser zufolge für Paulus nicht nur der „Schlüsselbegriff seiner Anthropologie“ (45), sondern zugleich derjenige Begriff, der den Zugang zum innersten Zentrum seines Lebenswerkes eröffnet und seine gesamte Theologie zu erschließen vermag. Durch die Gewissheit seiner Gotteskindschaft, welche ihm der Glaube an Christus vermittelt, ist der Glaubende vom Banne befreit, sich selbst einen Namen bei Gott machen zu müssen. Erlöst ist er zugleich aus dem Bann eines fatalen Schicksalsglaubens, dem die heidnische Umwelt des frühen Christentums verfallen war. Aber auch die Verhaftung in der Gesetzesreligion ist durch die in Christus gegebene Freiheit der Kinder Gottes beseitigt, sofern diese nicht länger dem äußeren und inneren Zwang ausgesetzt sind, einen zürnenden Gott durch Opfer und anderweitige Aktionen gnädig stimmen zu müssen, damit Versöhnung sei. Weil der in Jesus Christus in der Kraft seines Geistes offenbare Gott auch diejenigen liebt, die ihm Feind sind, lautet die apostolische Zentralaussage nicht: „Leistet Sühne“, sondern „Lasst Euch versöhnen mit Gott“, der in seiner unbedingten Liebe all eurem Tun und Lassen zuvorkommt, um durch sein göttliches Zuvorkommen menschliche Nächstenliebe in einer Weise zu ermöglichen, die auch die Feindesliebe umfasst (vgl. 48). Durch den Geist der Gotteskindschaft ist der Mensch nach Bisers Paulusinterpretation allem Ungeist der Heteronomie und der Furcht entrissen (vgl. 71). Die Gemeinschaft der Glaubenden, wie sie sich als mystischer Christusleib realisiert, der zu sein die Kirche bestimmt ist, transzendiert entsprechend den Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft und nimmt im Dienst der Freiheit Gestalt an gemäß der Devise Martin Luthers: „Domini sumus.“ Wir sind Herren, weil wir des Herren sind; jedermanns Diener, aber niemandem untertan außer Gott, dem offenbaren Grund jener Freiheit, deren Wesen die Liebe ist. Von der dem Bewusstsein der Gotteskindschaft eigenen Freiheit ist schließlich auch der Tod umgriffen, den Biser unter Berufung auf Paulus nicht als Folge, sondern als Ursache der Sünde verstanden wissen will, weil alle Sünde zuletzt aus dem Abgrund der Angst vor dem Nichts hervorgehe (vgl. 75, 88 etc.). Die Todesangst zu bewältigen sei die Bedingung dafür, der Sünde Herr zu werden. Dazu aber könne allein der Geist der Gotteskindschaft befähigen, der von der Gewissheit der Väterlichkeit des im Menschen- und Gottessohn offenbaren Schöpfers Himmels und der Erde getragen ist. Gotteskindschaft ist das Zentralmotiv paulinischer Christusmystik, ja christlicher Spiritualität überhaupt. Der in den Stand der Gotteskindschaft erhobene Mensch ist nach Bisers Urteil „in jenes genealogische Gottesverhältnis aufgenommen […], das den – der Todverfallenheit und damit der Kreatürlichkeit enthobenen – Auferstandenen

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auszeichnet.“ (94) Bemerkenswert ist, dass Biser den Geist der Gotteskindschaft, der in Jesu „ehrfürchtige Zärtlichkeitsanrede“ (100) Gottes als Abba einstimmen lässt, gelegentlich ins Kosmische ausweitet und auf die extrahumane Kreatur ausdehnt. Unter Berufung z. B. auf Röm 8,23f. kann betont werden, dass sich das Weltgeschehen in der Gotteskindschaft aller Dinge erfüllt. In solchen und ähnlichen Aussagen kommt Biser der eschatologischen Christusmystik, wie Schweitzer sie bei Paulus gegeben sieht, am nächsten. In der Regel aber orientiert er sich stärker am inwendigen Zeugnis des dem Glaubenden einwohnenden Christus als an jenem äußeren Kosmosgeschehen, das mit der endzeitlichen Parusie des Herrn nach Maßgabe der Tradition christlicher Apokalyptik einhergehen soll. Es bleibt dabei: Schweitzers Paulus ist als Eschatologe auch Mystiker, wohingegen bei Biser die Mystik des Apostels die Grundlage und das regulative Prinzip seiner eschatologischen Aussagen darstellt. „Ort“ der Auferstehung ist für den Biser’schen Paulus daher primär nicht die Außenwelt, sondern der „innere Mensch“, in dem der auferstandene Christus Wohnung nimmt (vgl. 234). Als bahnbrechender Protagonist der neuen Weltreligion, die Jesus „mit seiner Entdeckung des bedingungslos liebenden Gottes“ (104) stiftete, hat der Apostel Paulus nach Biser für die christliche Theologie das bis heute basale Fundament geschaffen. Er hat dies nicht im Gegenzug zu Jesus getan, so dass er als der eigentliche Stifter des Christentums zu gelten hätte, sondern im Geiste seines Herrn, der ihm als der auferstandene Gekreuzigte erschien, um sich selbst zu übereignen. Durch diese Übereignung war dem Apostel „alles mitgeteilt […], was er in seinem Aposteldienst der Welt auszurichten hatte“ (219). Als der auferstandene Gekreuzigte war und blieb Jesus für Paulus der personale Inbegriff und Erschließungsgrund einer alles überwindenden und versöhnenden Liebe Gottes. Davon zeugt das apostolische Werk, mit dem es allerdings nach Biser die paradoxe Bewandtnis hat, dass Paulus, „der Mann der Mündlichkeit, nur in seiner schriftlichen Hinterlassenschaft fortlebt und greifbar ist“ (254). Ein Hermeneut, der um angemessenes Verständnis bemüht sei, müsse diesem Sachverhalt Rechnung tragen und zwischen Buchstaben und Geist, exoterischer und esoterischer Lehrart etc. unterscheiden lernen und dabei die Möglichkeit einer inneren Fortentwicklung der Lehre beständig in Rechnung stellen. Ja, selbst dazu müsse sich ein Ausleger in der Lage sehen, einen Autor, mit Schleiermacher zu reden, gegebenenfalls besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Im Falle des Paulus sei damit die Aufgabe gestellt, „die Dissonanzen, die der Apostel in seinem Werk stehen ließ, aufzulösen und die vielfachen Widersprüche nach Möglichkeit zu überbrücken“. Dieser mehrfach benannten und im zitierten Nachwort seines Paulusbuches noch einmal pointiert hervorgehobenen Aufgabe hat sich Eugen Biser angenommen, um sie auf seine Weise zu lösen. Der Anspruch seiner Interpretation geht dahin, dasjenige, was der Apostel in seinen z. T. widersprüchlichen Äußerungen offen ließ, „fort- und zu Ende zu denken“ (16). Biser verfolgt sein Argumentationsziel mittels eines Auslegungsverfahrens, das er selbst mit der Wendung einer „mystischen Reduktion“ (79) umschreibt. Durch sie soll die paulinische Theologie buchstäblich dechiffriert und auf ihr Grundmotiv hin durchsichtig gemacht werden, damit der innere Sinn der äußeren Lehre sich einleuchtend zu aktueller Erkenntnis bringe. Geschehe dies, dann lösten sich die vermeintlichen Widersprüche in der Theologie des Apostels wie von selbst auf und ihr innerer Sinngehalt

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gebe sich unverstellt zu erkennen. So zeige sich etwa, um ein Beispiel zu geben, dass die Rechtfertigungslehre, die vor allem der protestantischen Exegese als innere Mitte des Paulinismus, ja der Heiligen Schrift überhaupt galt, nur der von juridischen Kategorien bestimmten exoterischen Schicht paulinischen Denkens angehöre, die von der durch die mystischen Vorstellungen des Apostels geprägten esoterischen Schicht sorgsam unterschieden werden müsse, welche für die paulinische Theologie die wesentliche sei. Dass auch Luther dies nicht gänzlich verborgen geblieben ist, belegt nach Biser die Doppelthese zu Beginn seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aus dem Jahr 1520, mit der er sich und die Seinen „auf den Grundton der paulinischen Botschaft und auf eine Thematik von größter Brisanz und Gegenwartsnähe eingestimmt“ (177) habe. Dass dies häufig verkannt und vom Reformator selbst nicht konsequent genug zur Geltung gebracht wurde, gereichte nach Biser nicht nur evangelischer Theologie zum Schaden. Es bedürfte einer ins 16. Jahrhundert zurückreichenden und zugleich das 20. Jahrhundert mit umfassenden Vervollständigung der Schweitzer’schen Geschichte der Paulusforschung, um das weitreichende Urteil Bisers zur Rechtfertigungstheologie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allein im Zuge einer solchen Fortschreibung könnte schließlich auch der Stellenwert genauer bestimmt werden, welcher der Biser’schen Deutung innerhalb der Geschichte der Paulusexegese zukommt. Da diese im gegebenen Zusammenhang auch nicht ansatzweise geleistet werden kann, muss es mit dem Vergleich zweier Varianten mystischer Paulusauslegung sein einstweiliges Bewenden haben.

5. Liebesmystik und Rechtfertigungslehre Nach Albert Schweitzers Werk „Die Mystik des Apostels Paulus“14 ist die paulinische Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben lediglich „ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet“ (300). Zwar habe die Forschung lange Zeit angenommen, „dass das, was in dem Galaterbrief und dem Römerbrief so im Vordergrund steht, das Hauptstück der Lehre Pauli sein müsse“ (293). Doch beruhe dieses Urteil auf einem Irrtum. Nahegelegt werde dieser durch die Fremdheit der paulinischen Vorstellung von der Erlösung, die nach Schweitzer durchaus naturhaft und als kollektiv erlebbares kosmisches Ereignis zu denken ist. Die irrtümliche Auffassung des Zentralgedankens des Apostels im Sinne der Rechtfertigungslehre beruhe mithin auf einer unterschwelligen Tendenz zur Modernisierung seiner Gedankenwelt, die sich der Historiker aus Gründen intellektueller Redlichkeit verbieten müsse. „Die naturhafte Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo auf die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben zurückzuführen, ist also in jeder Hinsicht unmöglich.“ (294) Eine Reduzierung der Erlösungslehre des Paulus auf seine Rechtfertigungslehre verkennt nach Schweitzer vor allem die Tatsache, dass sich Paulus das mystische Sein in 14

Vgl. Anm. 9. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Christus durchaus kosmisch-naturhaft vorgestellt habe. Die im Glauben an der Auferstehungswirklichkeit Christi partizipieren, werden vermöge dieser Partizipation gleichsam transnaturiert. Der mystische Leib Christi ist entsprechend im paulinischen Sinne keine symbolische, sondern „eine naturhafte Größe“ (183) mit kosmischen, einen neuen Äon erschließenden Dimensionen. Die himmlische Welt des Reiches Gottes, das mit der Äonenwende anbrechen wird, enthält zwar ein Moment des Juridischen in sich, sofern in ihr die Gerechtigkeit Gottes vollendet realisiert sein wird. Auch die Innerlichkeit persönlichen Erlebens der Vergebung individueller Sündenschuld ist ihr implizit. Aber vorrangig ist für die paulinische Eschatologie, von der seine Christusmystik nicht zu trennen sei, nach Schweitzer nicht der spirituelle Gedanke einer Versöhnung, wie sie im geistigen Inneren des Menschen statthat, sondern eine natural-supranaturale Erlösung durch Verwandlung, welche die Mächte der Finsternis und des Verderbens überwindet. Die Rechtfertigungslehre, die Schweitzer mit einer auf den Einzelnen ausgerichteten und gerade nicht kosmisch gefassten Soteriologie assoziiert, kann daher nach seinem Urteil nur ein der eschatologischen Mystik des Seins in Christo, wie Paulus sie vertritt, bei- bzw. untergeordnetes Element sein. Eugen Biser hat in seinem Paulusbuch von 200315 auf die Schweitzer’sche These, dass die Rechtfertigungslehre lediglich ein Nebenkrater der paulinischen Soteriologie mystischen Seins in Christus bilde, wiederholt Bezug genommen (vgl. etwa 15, 177, 226). Diese Bezugnahme verbindet sich einerseits mit Kritik an einer traditionellen Form lutherisch-reformatorischer Paulusauslegung, andererseits mit einer zumindest ihre Grundsätze betreffenden Affirmation der Paulusexegese Schweitzers. Wie andere Vertreter der älteren Paulusforschung – A. Deissmann, A. Wikenhauser und in bestimmter Weise auch W. Wrede – habe Schweitzer mit Recht den mystischen Charakter paulinischer Theologie herausgearbeitet und gezeigt, dass die vom Apostel inaugurierte Mystik auf zwei Pfeilern aufruhe: „der von ihm vielfach verwendeten Formel ‚in Christus‘ und der seltener eingesetzten, der ersten aber gleichwertigen Wendung ‚Christus in mir‘.“ (291) Ihre ekklesiologische Konkretisierung hätten beide Formeln „in der Vorstellung vom mystischen Leib Christi“ (37) erfahren. Im Unterschied zur Mystik gläubigen Seins in Christus bzw. des Seins Christi im Glaubenden, das Biser mit der Einwohnungsvorstellung illustriert, hat die Rechtfertigungslehre nach Deissmann, Wikenhauser, Wrede und Schweitzer „als Defensivstrategie des Apostels“ (126) zu gelten, die lediglich situativ veranlasst und anders, als Protestanten und insbesondere die pietistisch geprägten unter ihnen meinten, kein „Kernstück“ (145) paulinischer Theologie sei. Werde dies verkannt, drohe die Innenseite des Christentums verdunkelt und sein Sinngehalt auf lediglich äußerliche Weise aufgefasst zu werden. In Summa gelangt Biser unter Berufung auf Schweitzer zu der Überzeugung, dass „die Rechtfertigungslehre, zumal in ihrer lutherischen Rezeption, nicht nur auf einer überraschend schmalen Textgrundlage“ steht; sie gründet „auch auf einer Fehleinschätzung der paulinischen Zentralposition, die gerade nicht in der Rechtfertigung des Sünders, sondern in der Einwohnung Christi im Herzen der Glaubenden und

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Vgl. Anm. 13. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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in deren Erhebung zur Gotteskindschaft besteht“ (226). Der Zentraleinwand gegen die Paulusdeutung Luthers und der Wittenberger Reformation ist damit formuliert. Als ihm „nach qualvollem Ringen bei der Lektüre des Wortes ‚der Gerechte lebt aus dem Glauben‘ (Röm 1,17) die Tore des Paradieses aufzuspringen schienen und (er) unter diesem Eindruck in der paulinischen Rechtfertigungslehre die ‚Lehre aller Lehren‘ (Ebeling) und damit die Mitte der paulinischen Botschaft gefunden zu haben glaubte“ (15; vgl. 177, 240f., 244, 251), war Luther nach Biser einem veritablen exegetischen Irrtum aufgesessen. Zwar habe der Reformator auch als Paulusexeget Vieles und Wichtiges geleistet, etwa durch seine Erkenntnis, dass die viva vox evangelii, also die mündliche Verkündigung nicht nur die Form der Botschaft Jesu, sondern auch die originäre Gestalt der Verkündigung des Paulus gewesen sei, der gegenüber der Schriftlichkeit seiner Briefe nicht nur aus Originalitätsgründen der Vorzug gebühre (vgl. 119, 136 u. a.. Mit Goethes Faust zu reden: „Das Wort erstirbt schon in der Feder / die Herrschaft führen Wachs und Leder.“ [Zit. n. 119, 241]) Auch habe Luther mit seiner spezifischen Interpretation der Theologie des Apostels, von welcher der „mächtigste Schub auf die Paulusrezeption ausging“ (176), den „folgenschwersten Paradigmenwechsel“ (126) herbeigeführt und eine „welthistorische Kontroverse in Gang gebracht“ (144), deren kirchen- und universalgeschichtliche Bedeutung Biser mit eindringlichen Worten zu würdigen weiß. All dies ändert indes seiner Auffassung nach nichts an der Tatsache, dass der ursprünglichen Einsicht der Reformation, wie sie Luther im sog. Turmerlebnis aufging, ein Missverständnis paulinischer Theologie oder doch eine Fehlbestimmung ihres inneren Zentrums zugrunde lag. Diese Fehlbestimmung der paulinischen Mitte sollte nach Biser in der reformatorischen Tradition Schule machen und bis heute negativ fortwirken. Während nur einige wenige evangelische Paulusinterpreten den Primat der Mystik aufrecht erhielten, lasse die große Mehrheit „den Mystiker hinter dem Theologen der Rechtfertigung verschwinden“ (199f.). Dies ist nach Biser nicht nur exegetisch falsch, sondern auch systematisch un- bzw. kontraproduktiv. Um zwei Belege für diese Annahme anzuführen: Im Gegensatz zur protestantischen Paulusforschung, die mit Nachdruck am Primat der Rechtfertigungslehre festhalte, habe die unter dem Signum „New Perspective“ bekanntgewordene neuere angelsächsische Exegese ebenso nachdrücklich elementare Divergenzen zwischen Paulus und Luther aufgewiesen. So habe etwa Ed Parish Sanders, Bisers Hauptgewährsmann dieser Richtung, gezeigt, „dass die Rechtfertigungslehre der von rechtlichen Kategorien bestimmten exoterischen Schicht des paulinischen Denkens angehört, die von der durch die mystischen Vorstellungen des Apostels geprägten esoterischen – und für Paulus wesentlichen – Schicht unterschieden werden müsse.“ (178) Was hinwiederum die aktuelle systematische Relevanz der Rechtfertigungslehre betreffe, verliere sie, wie immer man ihr Verhältnis zur paulinischen Botschaft einschätze, „von ihren Verteidigern unbemerkt, angesichts der Tatsache zusehends an Boden, dass sich, analog zur Glaubenswende, eine Wende des moralischen Bewusstseins vollzieht“ (226). Luthers Frage nach dem gnädigen Gott bildet nicht mehr das bewegende Zentrum des Zeitgeistes. Da aber Biser zufolge „die lutherische Rechtfertigungslehre im Sündenbewusstsein ihres Schöpfers wurzelt, entzieht ihr die moralische Wende den tragenden Boden, so dass ihre Verteidiger auf verlorenem Posten agieren.“ (226, Anm. 465) Statt

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in eine Auseinandersetzung mit dieser Feststellung und den exegetischen und systematischen Prämissen einzutreten, auf denen sie basiert, sei abschließend lediglich ein theologisches Problem angesprochen, das m. E. in der Diskussion der Paulusadaptionen Schweitzers und Bisers, zu der diese Studie anregen möchte, nicht unbedacht bleiben darf: Wie verhalten sich Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe nach biblischem Zeugnis zueinander, und wie lässt sich dieses Verhältnis theologisch-eschatologisch angemessen begreifen? Besagt die christliche Botschaft von der unbedingten und bedingungslosen Liebe Gottes, dass die Differenz zwischen Gut und Böse durch sie egalisiert und vergleichgültigt wird? Diese These wird kein vernünftiger Theologe ernsthaft vertreten. Denn eine Liebe, die den Gegensatz von Gut und Böse ignoriert, verdient ihren Namen nicht und ist nichts anderes als willkürliches Belieben und damit, grundsätzlich betrachtet, böse in sich selbst. Liebe ohne Gerechtigkeit hebt sich selbst auf und geht an sich selbst zugrunde. Zwar gibt es zweifellos Formen menschlicher Liebe, die mit Belieben und arbiträrer Wahl zumindest momentan verbunden sind. Es gibt keine sittliche Pflicht, alle Menschen gleichermaßen sympathisch oder gar in gleichem Maße erotisch attraktiv und begehrenswert zu finden. Auch Freundschaftsverhältnisse sind wesentlich Wahlverwandtschaften und daher mit einem arbiträren Moment elementar verbunden. Mit der Liebe Gottes hingegen wird man arbiträres Belieben kaum assoziieren dürfen. Denn eine als arbiträres Belieben gedachte Liebe Gottes überbietet den theologischen Gerechtigkeitsgedanken nicht, sondern unterbietet, ja zersetzt ihn, um an seine Stelle die im Grunde naturreligiöse Annahme willkürlicher Allmacht bzw. allmächtiger Willkür zu setzen. Der theologische Erwählungsbegriff und insbesondere der Begriff, den Israel von seiner Erwählung hatte, widerspricht dieser Feststellung nicht, sondern bestätigt sie. Das Volk Gottes musste in einem mühsamen Prozess lernen, dass es nicht aus naturhaftethnischen Gründen, auch nicht wegen sozialer oder sonstiger Vorzüge, sondern deshalb erwählt wurde, um ein Zeichen zu geben für die Gerechtigkeit Gottes, der den Unrecht Leidenden zu ihrem Recht verhilft und denen, die sich das vermeintliche Recht nehmen, Unrecht zu tun, der gerechten Strafe zuführen wird. Nicht, dass die israelitischjüdische Theologie die Gerechtigkeit Gottes ohne weiteres im Sinne der iustitia distributiva verstanden hätte, die jedem das Seine zuteilt und proportional Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem vergilt. Die alttestamentliche Tradition, unnötig dies zu betonen, weiß nicht nur um die Probleme des sog. Tun-Ergehens-Zusammenhangs, sondern auch darum, dass alle Menschen Sünder sind und auch die Frommen der Vergebung ihrer Sünden und der versöhnenden Liebe Gottes täglich und dauerhaft bedürfen. Gleichwohl ist die Gerechtigkeit und zwar durchaus als richtende, urteilende, zwischen Gut und Böse definitiv scheidende nach Maßgabe jüdischen Glaubens der Gottheit Gottes dergestalt zugehörig, dass ohne ihre Berücksichtigung von Gottes Liebe nicht angemessen die Rede sein kann. Wie aber verhalten sich göttliche Gerechtigkeit und Liebe zueinander? Lassen sich beide theologisch unmittelbar identifizieren oder bilden sie nicht auch für den christlichen Glauben einen Zusammenhang begrifflich nicht synthetisierbarer, nur im und durch den Mittler zu versöhnender Differenz? Mit diesen und ähnlichen Fragen ist nicht nur ein traditionelles Grundproblem reformatorischer Theologie angesprochen, wie nämlich Gesetz und Evangelium zu unter-

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scheiden und in Beziehung zu setzen sind, sondern zugleich die Aufgabe gestellt, das für Paulus und seine Theologie so brisante Verhältnis von Christentum und Judentum einer theologischen Klärung zuzuführen, was ohne Würdigung der Tora und ihrer – Gerechtigkeit vor Gott und den Menschen fordernden – Gebote nicht möglich ist. Mit dem Judentum der Pharisäer und anderer frommer Zeitgenossen Jesu in erster Linie gesetzliche Selbstgerechtigkeit zu assoziieren, ist nicht nur unangemessen, sondern falsch. Ernst genommen werden die Frommen Israels, die sich gegen Jesus stellten, nur, wenn auch unter christlichen Bedingungen ernsthaft gefragt wird, ob der Sünderfreund, der in Wort und Tat die bedingungslose Liebe Gottes proklamierte, nicht aus theologischen Gründen den Konsequenzen seines Redens und Handelns zum Opfer fiel, weil diese der Gerechtigkeit Gottes widersprachen. Möge die Provokation, die diese Frage beinhaltet, für jeden von uns eine Herausforderung sein, sich selbst mit der Theologie des Apostels Paulus auseinanderzusetzen und sich ein eigenständiges Urteil zu bilden über die Auslegungen, die Albert Schweitzer und Eugen Biser ihr haben zuteil werden lassen. Nicht dass sich eine solche Urteilsbildung primär darauf zu konzentrieren hätte, Dichtung und Wahrheit in den jeweiligen Exegesen zu sondern; jeder sinnvolle Verstehensvollzug ist stets mit produktiver Einbildungskraft verbunden und niemals lediglich rezeptiv. Vorrangiges Ziel sollte es hingegen sein, zu einem vertieften Verständnis des theologischen Verhältnisses von Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe zu gelangen, wofür folgender Satz möglicherweise Hilfestellung leisten kann, auch wenn er nicht von Paulus stammt: „Nemo contra deum nisi deus ipse.“

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Eugen Bisers Theologie als Ansatz für eine christliche Sozialethik 1. Sozialethik nach „Centesimus annus“ und Eugen Bisers Analyse der Postmoderne Die Sozialethik ist für die Theologie in der Gegenwart von bleibender Aktualität und Bedeutung. Als Disziplin bildete sie sich heraus, als die Notwendigkeit einer produktiven Auseinandersetzung mit den Transformationsprozessen der Gesellschaft in der Moderne erkannt wurde. Zentrales Kriterium ist dabei der Mensch als subiectum, principium et finis omnium institutorum socialium.1 Mit dieser Formel stützte man sich methodologisch auf jene Zentralstellung des Menschen, welche diesem durch die neuzeitliche Philosophie zugeschrieben wurde: das moderne Subjekt als Protagonist seiner sozialen, politischen, wissenschaftlichen und technischen Selbstentfaltung. Diese Zentralstellung, die gleichzeitig ethisches Kriterium im Denken der Neuzeit war, findet sich in der „Würdehaftigkeit“ des Menschen zusammengefasst: Dem Menschen kommt Würde zu, insofern er unersetzbar ist, durch keinen „Preis“ ausgezeichnet werden kann, sondern sich der Logik der kalkulierenden Vernunft entzieht.2 Philosophisch durch Kant vorbereitet, und geschichtlich durch die eklatanten Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts katalysiert, entwickelte sich diese Systematik zum universalen ethischen Kriterium der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in dieser Hinsicht durch die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 ihren Anfang nahm.3 Mit diesem Standard der Würdeformel, die eine ihrer konzisesten Formulierungen im Art. 1 des Grundgesetzes fand, schien gleichzeitig eine „säkulare“ Basis gewonnen, auf 1 „Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muß auch sein die menschliche Person, die ja von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf“ (Gaudium et Spes, 25). 2 „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas Anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77). „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (ebd. 67f.). 3 Vgl. M. KRIENKE, Die Herausforderung der Menschenrechte durch den ethischen Relativismus, in: Ethica 16 (2008) 223–247.

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der man die Grundintention des neuzeitlichen Liberalismus verwirklichen konnte, nämlich die Organisation eines politischen Gemeinwesens, das religiöse und weltanschauliche Fragen in den Privatbereich des Subjekts verlegte, und damit politisches Zusammenleben bei maximaler Freiheit des Einzelnen in seinen höchstpersönlichen Fragen und Angelegenheiten ermöglichte. Dies führte letztlich bis zur grundsätzlichen Anerkennung der liberalen Demokratie und des freien Marktes durch die Jahrhundertenzyklika Centesimus annus im Jahr 1991,4 die nicht nur das Jubiläum von Rerum Novarum signalisiert, sondern auch an jener historischen Epochenwende steht, die wie kaum eine andere Zäsur in der Geschichte der Menschheit die Hoffnung auf eine weltweite menschengerechte Ordnung beförderte. In dieser Enzyklika kann mithin eine jener Fortschreibungen des II. Vatikanums entdeckt werden, die Biser im Bereich der Theologie als solche in der Regel als ungenügend ansieht und daher immer wieder neu einfordert. Wenn er so in vielen Punkten zurecht von einem „unaufgearbeiteten Konzil“ spricht,5 so kann im Bereich der Sozialethik durchaus auf eine bedeutende Rezeption und Weiterentwicklungen der konziliären Weichenstellungen in Gaudium et Spes verwiesen werden.6 Nach einem Jahrhundert der zunächst schroffen Ablehnung, dann der schrittweisen Aussöhnung mit den Grundideen der liberalen Ordnung, war deren grundsätzliche Anerkennung – eben durch Gaudium et Spes eingeleitet und durch Centesimus annus zu einer kohärenten Konzeption weitergeführt – ohne weiteres ein Meilenstein in der Sozialethik.7 Das II. Vatikanum diente dabei als Schwungrad, das die nachkonziliare Entwicklung der Soziallehre vorantrieb. Ihr Erfolg, mithin ihre Relevanz für die Gesellschaft, war durch den genannten Grundsatz ermöglicht, der in der Menschenwürde jenen säkularen Standard erkannte, den sie selbst rundum bejahen konnte, insofern er durch die biblische, der Genesis entnommenen Sichtweise des Menschen als Geschöpf Gottes integrierbar war.8 Über diese „Andockstelle“ der Personenwürde9 war damit jene Kollaboration zwischen Christentum und liberal-säkularem Staat sichergestellt, wie sie die gesellschaftliche Entwicklung der „westlichen“, also jener im Jahre 1991 siegreich scheinenden Welt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnete.10 Das Subjekt, so die ethische Grundlage dieser Ordnung, geht in seiner Würde der staatlichen Ordnung voraus, es ist in seiner Anerkennung die unabdingbare Voraussetzung aller menschlichen Ordnung. Wie keine andere moderne Institution stehen die Menschenrechte für die ethisch-säkulare Entzogenheit der Person in ihrer Würde von jeglicher Vereinnahmung seitens politischer Gewalt und mithin die Ausformulierung des Men4

Vgl. Centesimus annus, 34, 42, 46, 48. Vgl. pars pro toto E. BISER, Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit, Graz/Wien/Köln 1991, 160. 6 Zwar nicht von systematischer, aber immerhin von statistisch-exemplarischer Bedeutung ist, dass beispielsweise der Begriff „Solidarität“ in Gaudium et Spes nur neun Mal Verwendung findet, während er im Kompendium 63-mal auftaucht. 7 Vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 349, 406. 8 Vgl. A. BAUMGARTNER, Personalität, in: M. Heimbach-Steins (Hg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd.1, Regensburg 2004, 265–269; vgl. E. BISER, Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modalanthropologie, Düsseldorf 1995, 220. 9 Vgl. Kompendium, 331, 388. 10 Vgl. Centesimus annus, 22–29. 5

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schen auf staatlicher Ebene als ein Wesen der Freiheit. In dieser Freiheit, als Rechtsprinzip Grundlage der säkularen Verfasstheit des modernen Staates, drückt sich mithin auf sozialethisch-reflexiver Ebene jene Freiheitsdimension aus, welche die theologische Tradition seit ihrem Anbeginn bei den Vätern innerlich-religiös als die subjektive Gewissensfreiheit gekennzeichnet hat: die Entdeckung der Subjektivität der menschlichen Person.11 Biser arbeitet diese Dimension nicht erst bei den Kirchenvätern heraus, sondern individuiert diese in der Theologie des Paulus, der „der Jesusüberlieferung dadurch zuvorkam, daß er seine Verkündigung, anders als der Stifter des Christentums, auf die Basis der Freiheitsidee stellte und dadurch seiner Glaubensbotschaft in der hellenistischen Welt zum entscheidenden Durchbruch verhalf“.12 Vor diesem Hintergrund stellt es für Biser eine der „großen Beschämungen der Christenheit [dar], daß ihr erst durch Hegel in Erinnerung gerufen werden mußte, wie sehr dieser exklusive Freiheitsbegriff ihr ureigenes Proprium, eingeschrieben in die Urkunde ihres Glaubens, ist“.13 Diese Instanz menschlicher Würde präsentiert sich in der Form einer inneren Logik, welche derjenigen der politischen Macht und des technisch-wissenschaftlichen Kalküls entgegengesetzt ist, und sich gerade insofern in einer Rechtsform ganz eigener Art ausdrückt, wie sie die Menschenrechte ausdrücken, nämlich in einer überstaatlichen, gleichsam „ethischen“ Form, was sich nicht als politisch-rechtliche „Macht“, sondern eher in der Dimension von „Ohnmacht“ ausdrückt.14 Die totalitaristisch-utopischen Versuche, mit politisch-technischen Mitteln eine perfekte Staatsordnung herzustellen und somit das ‚Paradies‘ auf Erden zu verwirklichen, sind der historisch diametrale Widerspruch gegen diese kulturelle Errungenschaft des christlichen Okzidents. Diese hatten in die totalitaristischen Schrecken des 20. Jahrhunderts geführt, die nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989 auf historischer Ebene endgültig überwunden schienen. Für die kirchliche Soziallehre bestand der Grund des Scheiterns einer solchen Gesellschaftsorganisation, wie Centesimus annus zusammenfasst, in einem anthropologischen „Grundirrtum“, nämlich der Unterordnung des Einzelnen unter abstrakte, ihn in seinem Menschsein veräußerlichende und entfremdende Systeme.15 Die zitierte Enzyklika Centesimus annus ruft jedoch nicht nur die Konstitutivität der sich zwar auf christlicher Grundlage, aber im Kontext des modernen Säkularismus her11 Vgl. TH. KOBUSCH, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 64–89. 12 BISER, Der Mensch, 235. 13 BISER, Die glaubensgeschichtliche Wende. Eine theologische Positionsbestimmung, Graz/ Wien/Köln 1986, 22. 14 „Mit der Erfindung der Menschenrechte tritt auf die Bühne des Rechts eine neue Macht: die Ohnmacht des Individuums“. R. Marx, der diesen Satz von H.-J. Sander zitiert, kommentiert: „Genau mit dieser Spannung aus Macht und Ohnmacht verweisen die Menschenrechte auf den christlichen Glauben, für den eben dieselbe Spannung typisch ist: Die Differenz zwischen Kreuz und Auferstehung macht für jede Art von Ohnmachtserfahrung sensibel“ (R. MARX, Menschenrechte in christlich-sozialethischer Perspektive, in: K. M. Girardet / U. Nortmann [Hgg.], Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 215–224, hier 221). 15 Cfr. Centesimus annus, 13.

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ausgebildeten Idee der Menschenrechte in Erinnerung, sondern bringt auch deren Unterdrückung in den totalitaristischen Systemen, konkret in der marxistischen Ideologie, originär mit dem Phänomen des Atheismus in Verbindung: Wenn wir uns weiter fragen, woher diese irrige Sichtweise des Wesens der Person und der ‚Subjektivität‘ der Gesellschaft stammt, können wir nur antworten, daß seine Hauptursache der Atheismus ist. In der Antwort auf den Anruf Gottes, der sich in den Dingen der Welt manifestiert, wird sich der Mensch seiner übernatürlichen Würde bewußt. Jeder Mensch muß diese Antwort geben. Darin besteht die Krönung seines Menschseins, und kein gesellschaftlicher Mechanismus und kein kollektives Subjekt kann ihn dabei vertreten. Die Leugnung Gottes beraubt die Person ihres tragenden Grundes und führt damit zu einer Gesellschaftsordnung ohne Anerkennung der Würde und Verantwortung der menschlichen Person.16

Mit dieser von der Enzyklika ausgedrückten konstitutiven Bedeutung des Gottesverweises für den säkularen Staat, was nicht das Plädoyer für eine Staatsreligion bedeutet, wird, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch die Biser’sche Analyse übereinkommen, insofern er den sich in den gesellschaftlichen Strukturen ausbreitenden und dort perpetuierenden „ozeanischen Atheismus“ als das wahre soziale Grundproblem der abendländischen Gesellschaft individuiert.17 Ist dieser Atheismus in den freiheitlichen Gesellschaften auch nicht staatlich angeordnet, so breitet er sich doch dort nicht ineffektiver, in gewisser Hinsicht müsste man gar sagen: weitaus zuverlässiger, aus als im marxistischen Staatssystem. Diese Ausbreitung und die perniziösen Folgen für die gesellschaftliche Anerkennung der menschlichen Würde erörtert Biser in nahezu allen seinen Hauptwerken, insbesondere in dem zeitgleich mit der Enzyklika erschienenen Band Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit. Darin rekurriert er auf den Namensgeber seines ehemaligen Münchener Lehrstuhls, Romano Guardini, und dessen These vom „Ende der Neuzeit“18: Gerade das in der Neuzeit auf der Basis seiner „säkularisierten“ Würde behauptende Subjekt habe, im Zuge dieser Selbstbehauptung, sich des Bewusstseins der transzendenten Verankerung dieser Würde entledigt und damit jenen Tendenzen ausgeliefert, die nun, am „Ende der Neuzeit“ an deren Dekonstruktion arbeiten. Die Neuzeit, die in Kant und Hegel zur philosophischen Formulierung der menschlichen Würde und seiner ureigenen Freiheitsdimension gelangt ist, scheint sich heute in seltsamer Paradoxie „zumindest in der Hinsicht ihrem von Guardini angesagten ‚Ende‘ zuzuneigen, als ihre innerste Prämisse, das Subjekt- und Personsein des Menschen, buchstäblich ins Zwielicht geraten ist“.19 Davon geht, wie sich durch soziologische Studien belegen ließe, die spezifisch spätmoderne Wahrnehmung von Ich-Schwäche, von Nicht-Integriertheit und von Ausgeliefertheit an äußerlichsoziale Dynamiken aus: „Ein heimlicher Auflösungsprozeß hat die Integrationskraft, deren es für die Konstituierung des Personseins bedarf, untergraben. Die Tendenzen der Desintegration sind übermächtig geworden, so daß das personalistische Hochgefühl des 16

Centesimus annus, 13; vgl. Spe Salvi, 20f. Cfr. BISER, Der obdachlose Gott. Für eine Neubegegnung mit dem Unglauben, Freiburg 2005, 72f.; vgl. ders., Glaubenskonflikte. Strukturanalyse der Kirchenkrise, Freiburg 1989, 23–28. 18 Vgl. BISER, Glaubensprognose, 23. 19 BISER, Glaubensprognose, 147. 17

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Anfangs in sein Gegenteil, in Erfahrungen der Ich-Schwäche und des Identitätsverlustes umschlug.“20 Und weiterhin resümiert er: „So geht nach dieser Diagnose heute ein neues Gespenst in Europa um: nicht mehr das, mit dem das Kommunistische Manifest die bürgerliche Welt schockierte, sondern das der Postmoderne und ihres kulturzerstörenden Programms.“21 Anders als der politisch organisierte Atheismus der marxistischen Systeme suggerierte, geht es in dieser Dynamik der liberal-spätmodernen Gesellschaften nicht um einen geschichtlichen Notwendigkeitsmechanismus, um eine „Dialektik“ der Geschichte, mithin nicht um einen Prozess, welchem die Gesellschaft in ähnlicher Weise einfach ausgeliefert wäre. Insofern postmoderne Szenarien auf der Unausweichlichkeit dieser Entwicklung gründen, werden sie von Seiten der christlichen Sozialethik kritisiert: Im Gegenteil versucht letztere, jene noch verbliebenen Ressourcen im Menschen zu valorisieren und für neue Hoffnungsperspektiven zu mobilisieren. In dieser Hinsicht reflektiert Biser die Bedeutung des Christentums für die Gesellschaft von heute, dessen Verortung in dieser und auch die Notwendigkeit, dass das Christentum seine gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Wenn daher Biser nach der „Zukunftsgestalt des Glaubens“ und mithin der „Neuen Theologie“ fragt, rückt damit die Sozialethik in den Brennpunkt des Interesses: „Die Frage nach der Zukunftsgestalt des Glaubens muß zunächst im Horizont seiner soziokulturellen Bedingungen gestellt und, soweit eine Prognose möglich ist, beantwortet werden.“22

2. Bisers Interpretation der Säkularisierung als Grundlage seines sozialethischen Beitrags Zur näheren Interpretation und Bewertung der heutigen Situation des Glaubens in der Gesellschaft analysiert Biser zunächst den neuzeitlichen Säkularisierungsprozess, ihn interpretierend als die Freisetzung urchristlicher Grundideen, die das Christentum erst20

BISER, Glaubensprognose, 148. „Der Mensch steht schon längst nicht mehr auf dem ‚Grenzgebirge‘ der Wirklichkeitsbereiche, auf dem ihn Novalis ortete, sondern weit eher auf der Talsohle seiner Lebenslandschaft. Denn die Tendenzkräfte, die auf seine ‚Abschaffung‘ (Tenbruck) hinarbeiten, haben es weit gebracht. Sie drängten ihn nicht nur unter sein eigenes Niveau, sondern höhlten ihn gleichzeitig auch von innen her aus. Ging es ihm zu Beginn der Neuzeit wesentlich um wachsenden Identitätsgewinn, so steht ihr Ausklang eindeutig im Zeichen seiner Destruktion und einer um sich greifenden Identitätskrise“ (BISER, Der Mensch, 64). So bezeichnet es Biser als „einen Grundzug der ausgehenden Neuzeit, die mit der emphatischen Inthronisierung des autonomen Subjekts angetreten war, dann, beginnend mit der Romantik, dessen Verfall in Form der Identitätskrise und Entfremdung heraufbeschwor und zuletzt seine systematische Demontage betrieb. Während die Identitätsnot und Entfremdung noch weithin schicksalshaft erlebt wurde, traten mit dem Aufkommen der industriellen und politischen Imperien, vor allem aber mit dem Einzug der Diktaturen die Mächte auf den Plan, die zielbewußt auf die Zerstörung der selbstverantwortlichen Person ausgingen und den spontanen Entfremdungsprozeß dadurch in eine planvolle Strategie verwandelten“ (ebd. 72). 21 BISER, Glaubensprognose, 37. 22 BISER, Glaubensprognose, 383.

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mals in die Gesellschaft eingebracht hat und die nun breitenwirksam ausströmen. In dieser historischen Chance, die die Neuzeit dem Christentum dadurch eröffnet hat, präsentiert sie sich folglich nicht als die große ‚Gegenepoche‘ zum Christentum, sondern als Feld ungeahnter Möglichkeiten, mit dem sich das Christentum produktiv auseinandersetzen muss. Dieses Programm entwickelt Biser nach der Art einer ‚archäologischen Spurensuche‘,23 wie man fast sagen könnte, und individuiert in den neuzeitlich-liberalen Idealen die säkularen Relikte originär christlicher Intuitionen: So kommt er zu dem Schluss, dass „die für den sozialen Rechtsstaat unentbehrlichen Prinzipien der Liberalität, Solidarität und Toleranz ursächlich auf die Lebensleistung Jesu und ihr geschichtliches Fortwirken zurückgehen und daß mit und in ihnen die Konstanten für eine sich im Wandel der Geschichte durchhaltende menschliche Lebensordnung gefunden sind“.24 Es ist mithin die Neuzeit und nicht bereits das Mittelalter, die zentrale christliche Grundeinsichten als gesellschaftliche Werte und Ideale ansah. Dieser Umbruch vollzog sich jedoch nicht linear-konsequent, sondern größtenteils antagonistisch-revolutionär, weswegen dieser Zusammenhang hinter den Brüchen und Widersprüchen, die sie geschichtlich gezeitigt hat, zurückgetreten ist. Indem neuzeitlich einerseits von der innerlichreligiösen Dimension dieser Werte abstrahiert wurde, konnten diese, eben als „abstrakte“ Werte, universalisiert und als Fundament der pluralen Gesellschaft dienen: Zwar minderte sich die in den Sog des Säkularisierungsprozesses geratene Freiheit zur Liberalität und die dem gleichen Schicksal verfallene Liebe zur Toleranz; doch wurden beide in dieser Umsetzung zu Gestaltprinzipien des menschlichen Zusammenlebens, die aus dem Kontext einer demokratischen Gesellschaftsordnung nicht mehr wegzudenken sind. Hier wie dort ging mit dem unbestreitbaren Sinnverlust […] eine Universalisierung einher, die den ursprünglichen Impuls auch dort noch wirksam werden ließ, wo der Glaube auf unüberwindliche Grenzen stößt.25

Diese Universalisierung besteht m. a. W. in nichts anderem als in jener bereits genannten Fundierung des Prinzips der Subjektivität in der Moderne als unhintergehbares Prinzip der Gesellschaftsorganisation, da die Gesellschaft nur so in einem die subjektiven Verschiedenheiten des religiösen, politischen und persönlichen Bekenntnisses übersteigenden Prinzip auflösungs- und relativierungsfest verankert werden kann: „Die Säkularisierungstendenz ist die kämpferische Seite des monotheistischen Gottesglaubens. Mit ihr erwehrt er sich des nachdrängenden Polytheismus […]“,26 oder, m. a. W. der postmodern-polyformen Auflösung der Gesellschaft. Damit ist im geistesgeschichtlichen Zusammenhang herausgestellt, inwiefern die neuzeitliche Säkularisierung selbst keine atheistische Strömung darstellt, sondern auf unaufkündbaren theistischen Grundvoraussetzungen beruht, demnach sich zwar durchaus gegen bestimmte konkrete Formen der 23

Vgl. BISER, Glaubensprognose, 41. BISER, Der Mensch, 288. So spricht Biser von den „Pfeilern Liberalität, Solidarität und Toleranz, diesen genuin christlichen Prinzipien“ (ders., Gotteskindschaft. Die Erhebung zu Gott, Darmstadt 2007, 166). 25 BISER, Die Entdeckung des Christentums. Der alte Glaube und das neue Jahrtausend, Freiburg/Basel/Wien 22001, 343; vgl. ders., Der Mensch, 216f. 26 BISER, Gotteskindschaft, 184. 24

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christlichen Religionsausübung und des Gottesglaubens richten konnte, jedoch aber auch gleichzeitig keinen Zweifel an der ‚Christizität‘27 der abendländischen Gesellschaftsordnung aufkommen ließ. Aufgrund dieses Zusammenhanges wird deutlich, weswegen nicht eine Ablehnung der Moderne, sondern nur eine minuziöse Spurensuche in ihrer Entwicklungsgeschichte zu positiven Ergebnissen führen kann.28 Gleichzeitig vollzog sich jedoch auch ein charakteristischer Transformationsprozess, insofern diese Ideale in ihrer säkular-liberalen Form dekliniert und damit aus ihrem konstitutiven Transzendenzbezug herausgelöst wurden: „Auch die Freiheit verlor im Gefolge des von ihr erlittenen Strukturwandels den Namen: sie wurde zur Liberalität. Dem war ein tiefgründiger, wenngleich kaum einmal wahrgenommener Umbruch vorausgegangen, der zur Ablösung des biblischen Freiheitsverständnisses durch das modern-emanzipatorische führte.“29 Damit sind diese „Ideale“ in einer persönlich-bekenntnishaften Dimension verankert, welche die moderne Gesellschaft gerade nicht sicherstellen oder herstellen kann. Aus diesem Grund erweist sich eine spätmoderne, auf die Parameter der politisch-rechtlich-wirtschaftlichen Organisierbarkeit und Planbarkeit reduzierte und deswegen eindimensionale Vernunft als nicht dazu in der Lage, zu dieser Dimension vorzustoßen, weswegen die spätmoderne Gesellschaft jenen bereits angesprochenen charakteristischen Erosionsbegriff der Menschenwürde durchläuft und sich einem immer verheerender ausbreitenden Atheismus ausliefert. Nur wenn sich die gesellschaftlichen Strukturen dieser Dimension nicht versperren und – obgleich selbst säkular – diese offenhalten, kann das notwendige Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie es sich in der Würde des Menschen ausdrückt, wirksam geschützt werden. Dies ist gleichsam die sozialethische Bestim27

K. Müller spricht im Bereich des philosophischen Denkens von „Christifizierung“ und bemerkt, dass es ohne den Einfluss des Christentums „die spezifisch okzidentale Philosophie […] nicht so gegeben hätte, wie es sie gab und gibt“. Aus dieser Konstatierung – für welche ihm als erster Gewährsmann übrigens Habermas dient – schließt er: „Von ‚Christlichkeit‘ oder ‚Christentümlichkeit‘ zu sprechen, würde nicht stimmen […]. Ich bediene mich dieses Kunstwortes, um darauf aufmerksam zu machen, dass es dabei um einen genuin innerphilosophischen Vorgang geht, der ohne den Einfluss jüdisch-christlicher Denkfiguren nicht zustande gekommen wäre“ (K. MÜLLER, Glauben – Fragen – Denken, Bd. 2: Weisen der Weltbeziehung, Münster 2008, 730). In analoger Bedeutung, hier für den sozialethischen Bereich, wird der Begriff ‚Christizität‘ gebraucht. 28 Vgl. BISER, Glaubensprognose, 99. 29 BISER, Der Mensch, 285. Selbiges gilt für den Solidaritätsbegriff: „Zweifellos wäre es ungerecht, diese [Solidarität] als eine bloße ‚Kümmerform‘ der Liebe zu bezeichnen. Denn dem Qualitätsverlust steht eine unübersehbare Ausweitung regionaler Art entgegen. Sie zeigt sich in der Neubewertung der Behinderten, in der Sorge um die Notleidenden der Dritten Welt und im schonenden Umgang mit der von den Menschen ausgebeuteten und mißhandelten Natur, der für viele Zeitgenossen zu einer selbstverständlichen Pflicht geworden ist. Zwar ist die Solidarität kaum mehr als ein Schattenwurf der Liebe, da diese nicht nur Rücksicht, Schonung und Fürsorge, sondern selbstvergessenen Einsatz und Hingabe fordert. Trotzdem kann es als politisches Hoffnungszeichen erster Ordnung gewertet werden, daß an die Stelle der Ideologie des Klassenkampfs das Bewußtsein der solidarischen Verbundenheit aller trat und daß dieses Bewußtsein zunehmend im Begriff steht, die durch staatliche Grenzen, wirtschaftliches Gefälle und ideologische Gegensätze entstandenen Differenzen zu überbrücken“ (ders., Glaubensprognose, 79).

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mung jener Intuition, die von sozialethischer Seite immer häufiger mit dem Schlagwort formuliert wird, die Gesellschaft müsse heute eine Verantwortungsdimension für ihre Strukturen entwickeln „etsi Deus daretur“.30 Dagegen realisiert sich im Missverständnis der Säkularität der Strukturierung der abendländischen Gesellschaft als atheistisch jener Umschlag, welcher die Sozialethik in der Spätmoderne vor völlig neue Herausforderungen stellt. Hatte das II. Vatikanum in geradezu revolutionärer Weise von der „Autonomie“ der irdischen Sachbereiche gesprochen, kann in dem Moment nicht mehr von Autonomie die Rede sein, als sich in jenen Sachbereichen der von Biser analysierte „strukturelle Atheismus“, mithin eine Tendenzkraft, die letztlich menschliche Würde und Autonomie unterspült und zunichte macht, verwirklicht.31

3. Der Mensch als „utopisches Wesen“ „Ein heimlicher Auflösungsprozeß hat die Integrationskraft, deren es für die Konstituierung des Personseins bedarf, untergraben. Die Tendenzen der Desintegration sind übermächtig geworden, so daß das personalistische Hochgefühl des Anfangs in sein Gegenteil, in Erfahrungen der Ich-Schwäche und des Identitätsverlustes umschlug“. In der näheren Analyse dieser Ich-Schwäche und des Identitätsverlusts greift Biser an mehreren Stellen seines Werkes auf den spanischen Denker Ortega y Gasset zurück, der den Menschen gerade darin, dass es ihm an „Selbstgefühl und Selbstbewußtsein“ mangelt, als „utopisches Wesen“ bezeichnet. Mit dem Wegfall der gesellschaftlichen Sicherheiten, der Sicherheiten jener Strukturen, die dem Menschen in der Moderne eine neue Heimat gegeben haben, scheint das Gelingen des Menschseins in der Spätmoderne mehr als je zuvor einer „Utopie“ zu gleichen. Genau an dieser Stelle wird ein wichtiges Element in der Biser’schen Interpretation deutlich: Seine Analyse der Spätmoderne ist keine Negativanalyse, die lediglich die negativen Auswirkungen der gegenwärtigen Entwicklungen auf den Menschen und die Gesellschaft beklagt. Insbesondere bewertet Biser die aktuelle Situation immer auch als eine Situation des „kairos“, des richtigen Augenblicks, um christliche Grundeinsichten wiederentdecken und wieder ins Bewusstsein heben zu können, die in anderen Epochen verschüttet gegangen sind. In dieser Hinsicht offenbart die wachsende Selbsterfahrung des Menschen als „utopisches“ Wesen in der Spätmoderne einen grundlegenden Wesenszug des Menschen selbst, ein ‚Existential‘: Ihn kennzeichnet es, keinen festen Ort einzunehmen, in dieser Hinsicht u-topisch zu sein, während er von dieser Ortlosigkeit aus als in eine genauso unbestimmte Zukunft ausgestreckt erscheint. Biser greift daher nicht auf philosophische Systeme oder gesellschaftliche Verhältnisse zurück, um den Menschen zu thematisie-

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Vgl. hierzu, pars pro toto, J. RATZINGER [BENEDIKT XVI.], Europa in der Krise der Kulturen, in: M. Pera / J. Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005, 61–84, hier 81f.; W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 21999, 33–40. 31 Vgl. BISER, Der obdachlose Gott.

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ren, sondern sucht ihn allein mit der existentiellen „Wo“-Frage adäquat zu erfassen:32 Er ist dazu herausgefordert, seinen Ort trotz einer ortlos gewordenen Gesellschaft zu finden. Bei genauerem Hinsehen verankert Biser genau hierin die nobelste Konsequenz der Würdehaftigkeit des Menschen. In der „Wo“-Frage wird der Mensch auf seine Befindlichkeit angesprochen, die nicht als Resultat der Vergangenheit betrachtet wird (so die Wesensfrage), sondern als in seine Zukunft hineinerstreckt, in welcher Perspektive allein die angedeutete Verantwortungsdimension in seiner Eigen- und Sozialstrukturiertheit besteht. Diese ist, ihrer existentiellen Struktur nach, nicht auf eine technische oder mediale Fortschrittsperspektive in ihrem säkularen Charakter angelegt, sondern vervollkommnet sich in der christlichen Hoffnungsperspektive: „Das ‚Wo‘, nach dem er [der Mensch] befragt wird, ist die grenzenlose, raum- und zeitenthobene Geborgenheit in Gott. Auf sie hin ist er frei.“33 Gleichzeitig liegt in der Hoffnungsdimension dieser Perspektive, mithin in ihrer eschatologischen Ausrichtung auch ihr Risiko, verfehlt werden zu können und damit zu den existentiellen Folgen der Selbstverfehlung und Gebrochenheit des Menschen, oftmals vermittelt durch strukturelle Unterdrückung, zu führen.34 Die „negative Freiheit“ des Liberalismus muss also, so könnte man innerhalb dieser Systematik Bisers folgern, in die „positive Freiheit“ des Christentums verwandelt werden, existentiell verstanden als Realisierung des Utopiepotentials des Menschen.35 In dieser Erstrecktheit und mithin in seiner Wesenseigenschaft als „Utopie“ wird der Mensch erst in der Spätmoderne entdeckt, woran Biser in seiner Anthropologie positiv anknüpft.36

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So lautet für Biser die „neue“, heute relevante Frage, die der Mensch selber ist, „nicht mehr wie [für] den Philosophen der antiken Vorzeit und noch für Kant, der alle menschlichen Frageweisen in der einen Grundfrage ‚Was ist der Mensch?‘ zusammengefasst sah, sondern so, wie sie erstmals Augustin erfasste, der sich unter dem Eindruck eines Todeserlebnisses selbst ‚zu einer großen Frage‘ geworden war“ (BISER, Die Entdeckung, 123): „‚Wo bin ich?‘ Das ist die wiederentdeckte und in ihrer anthropologischen Relevanz ausgeleuchtete Paradiesfrage, die in ihrer Verkoppelung mit dem ‚Wer bin ich?‘ als die Frage nach dem […] ‚Sinn‘ des Daseins erkennbar wird. […] Sie reißt den Abgrund auf, in den der Mensch von sich selber abfallen oder, wie die Erfahrung dieses Jahrhunderts lehrte, hinabgestoßen wird, aus dem er sich aber auch erheben oder erheben lassen kann“ (ders., Der Mensch, 40). 33 BISER, Der Mensch, 58. 34 „Daß es zu Defiziten der entzogenen, verlorenen, wenn nicht gar verweigerten Freiheit kommen konnte, erklärt sich letztlich aus dem gebrochenen Selbstverhältnis des Menschen, das ihn dazu bringt, das, was ihn auszeichnet und bereichert, zu negieren und als Last, wenn nicht gar als Zumutung von sich zu weisen. Nur so ist es zu verstehen, daß geistige und politische Despotien selbst mit Menschen freiheitlicher Lebensverhältnisse noch immer leichtes Spiel hatten, sofern nur günstige Bedingungen für ihre Etablierungen gegeben waren“ (BISER, Der Mensch, 58). 35 Biser betont, dass „Freiheit in ihrem christlichen Verständnis soviel wie die Aufnahme in die Lebenssphäre Jesu und insofern nicht so sehr Befreiung als vielmehr Freisetzung und Ermächtigung durch ihn besagt. Sie ist, wie sich jetzt zeigt, nicht so sehr die Tat des Freien als vielmehr Jesu Tat in ihm“ (BISER, Der Mensch, 144f.). 36 In diesem Sinn bemerkt Biser, dass sich „die neuzeitliche Geistesgeschichte“, die sich „als eine fortschreitende Selbstexplikation des Menschen begreifen läßt“, als „die großräumige Verifikation der Modalanthropologie“ in Form der „biblische[n] Wo-Frage“ und als solche als „die dem

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4. Das Subjekt in den Gefährdungen von „Technik“ und „Massenmedien“ In dieser spätmodernen Situation und „Ortlosigkeit“ wird nun deutlicher, inwiefern sich gerade in den Realitäten der Technik und der Massenmedien die beiden spezifisch spätmodernen Risiken verwirklichen, die den Menschen sogleich von dieser Wo-Frage nicht nur wieder entfernen, sondern diese auch in veräußerlichender, und dem Menschen darin gerade nicht gerecht werdender Weise, für ihn beantworten. Technik und Medien setzen dabei zwar an der möglichkeitsfinalisierten und mithin utopischen Strukturiertheit des Menschen an, erkennen darin aber nicht den Ausdruck seiner Würde, sondern bemächtigen sich sachhaft und damit in einer den Menschen veräußerlichenden und ihn entfremdenden Weise dieser Dimension menschlicher Existenz.37 Wie kann dies näher erklärt werden? Gerade durch ihre Errungenschaften rufen die beiden Realitäten der Technik und der Medien das Utopiepotenzial des Menschen ab, sie technisieren bzw. mediatisieren dieses, womit sie es aber gleichzeitig existentiell „unschädlich“ machen und den Menschen seiner utopischen Wesensbestimmtheit berauben. Für die diesbezüglich nicht unproblematische Analyse stützt sich Biser weitgehend auf die Überlegungen Sigmund Freuds, der in seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ die Technik als jene Instanz ausmacht, die ureigenen Menschheitsaspirationen zu realisieren und damit „Möglichkeitsräume in den Bereich des Machbaren“ hereinzuholen.38 Während die Menschheit diese „Aspirationen“ stets als unerreichbare entweder den mythischen Gestalten oder – christlich – der göttlichen Instanz zugeschrieben hat – und sich dieser Dimensionen demzufolge in gewisser Weise „veräußerlichte“ – werden diese in der Technik in die menschliche Verfügungsgewalt gebracht und dort in nicht weniger veräußerlichender und damit entfremdender Weise realisiert: Die „moderne Hochtechnik“ sei ausgerichtet „auf die Realisierung uralter Utopien und Traumziele“, weswegen sie, „wie im Sinn Freuds zu sagen ist, auf die Usurpation göttlicher Attribute wie der Allgegenwart in der Raumfahrt, der Allwissenheit in der Medientechnik und des Schöpfertums in der Gentechnik ausging“.39 Dabei vollzieht sie in dem Sinn jene Funktion, welche klassisch der Metaphysik zufiel, die diese Attribute entweder der göttlichen Wirklichkeit (mittelalterliche Metaphysik) oder einem transzendental bestimmten Jenseits (neuzeitliche Metaphysik) zuschrieb. Deren Verwirklichung, bzw. der Zusammenfall von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ – bzw. die Koinzidenz von jener Möglichkeitsgestalt, die der Mensch existentiell ist, und seiner vollen Verwirklichung – wurde damit als in der Kontingenz der Zeit nicht realisierbar gefasst. An diesem Punkt wird schlagartig die ‚metaphysische Funktion‘ der modernen Technik deutlich, inwiefern diese ihren Erfolg der scheinbaren Verwirklichung dieser metaphysischen Struktur verdankt: neuzeitlichen Geschichtsgang eingeschriebene Perspektive des Menschseins“ ist (BISER, Der Mensch, 89). 37 Vgl. BISER, Der Mensch, 61. 38 Vgl. BISER, Die glaubensgeschichtliche Wende, 69f.; ders., Gotteskindschaft, 175f. 39 BISER, Die Entdeckung, 324.

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Denn dieses Grundproblem der Metaphysik [i.e. das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit] hat die moderne Hochtechnik an sich gerissen, sofern sie bisher nur als möglich, wenn nicht gar als unmöglich Geltendes Zug um Zug verwirklichte. Galt bisher als Anlaß des philosophischen Staunens, daß […] ‚etwas ist und nicht nichts‘, so tritt heute als zweiter Anlaß die Tatsache hinzu, daß das Realität wird, was bisher im Bereich des bloß Möglichen zu liegen schien, so daß sich die scheinbar unverrückbare Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit signifikant verringerte.40

Damit kann die Hochtechnik nur als eine neue Form menschlicher Veräußerlichung und Versachlichung gefasst werden. Für Biser bedeutet dies, dass diese Realisierung menschlicher Träume bzw. göttlicher Prädikate durch die Technik jenen Prozess vollzieht, der den Menschen auf implizite und subversive Weise – da nicht wie in totalitären Regimen politisch verordnet – von dem entfernt, was er im Innersten ist. Während die menschliche „Primärerfahrung“ in Mittelalter und Neuzeit ihm ein transzendentes bzw. transzendentales Fundament erschloss, das ihm die Einordnung der Wirklichkeit als Mittel zu einem diese übersteigenden Ziel ermöglichte, erwirbt die Technik in der Spätmoderne selbst „Zielstruktur“, gegenüber der sich der Mensch auf ein „Mittel“ herabbeugt, da er in ihr selbst die Verwirklichung der metaphysischen Koinzidenz von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ erfährt. Insofern diese Erfahrung jedoch im Unterschied zur realen „Primärerfahrung“ des Menschen von Biser als „Sekundärerfahrung“ gekennzeichnet wird, ist damit deutlich, dass es sich dabei um ein Anheimgeben des Menschen an Sekundärstrukturen handelt, die ihn nicht zur „primären“ Vervollkommnung seiner utopischen Verfassung führen, insofern sie ihn „sekundär“ seiner Würde entäußern.41 Die Massenmedien, nach Biser die eigentliche „Speerspitze“ dieser Entwicklung, perfektionieren in gewisser Hinsicht diese Struktur der Technik. Wie bereits die Technik den Menschen von jener fundamentalen „Primärerfahrung“ entfernte, in welcher er sich in seiner Würde als Ziel gegenüber versachlichendem Handeln wahrnimmt, und diesen strukturell-sachlichen Imperativen unterstellt, tendieren die Medien gar dahin, diese Sphäre der „Primärerfahrung“, anfangs als indispensabler Kontext der lebensweltlichen Vermittlung menschlicher Würde begriffen, gänzlich zu überwinden: Indem sie durch die von ihnen in wachsender Perfektion gebotenen Reproduktionen das Verlangen des Rezipienten nach Primärerfahrung unterdrücken und ihn gleichzeitig auf die Stufe einer prärationalen Bildlogik zurückwerfen, wirken sie effizienter als alle andern Strategien auf die Schaffung des ‚konsumgerechten‘ Menschen hin, der im selben Maß, wie er der von ihnen insinuierten Hab-Gier verfällt, den Willen zu personalem Selbst-Sein und damit die Voraussetzung von Religion und Glaube verliert.42 40

BISER, Gotteskindschaft, 170. Die Medien „entziehen dem narkotisierten Rezipienten zugleich den tragenden Boden, indem sie ihm anstelle der für seine Grundorientierung unerläßlichen Primärerfahrungen das Surrogat täuschender Reproduktionen bieten. Der Zuwachs an Entmündigung, den sie im Vergleich zu den Gewaltsystemen erreichen, springt in die Augen“ (BISER, Der Mensch, 61). 42 BISER, Glaubensprognose, 371. Und an die modalanthropologische Analyse des Risikos der existentiellen Gebrochenheit des Menschen anknüpfend, führt Biser weiterhin aus: „Daß der moderne Mensch den Suggestionen und Pressionen der Konsum- und Leistungsgesellschaft nur 41

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Medienabhängigkeit einerseits und wachsende Ausbreitung von Einsamkeits- und Angsterfahrungen der Individuen sind dabei für Biser nur die beiden Seiten derselben Medaille jener Auswirkungen, welche die angezeigte Entwicklung für jenes Grundmoment der Gesellschaft, nämlich die Menschenwürde, zeitigt.43 Nicht nur in der Technikentwicklung, sondern vor allem in der Medienwelt vollzieht sich damit jener Übergang in die Spätmoderne, in welchem sich die Gefahr des Verlusts des Sinnes für jenen unverfügbaren Realgrund des Subjekts realisiert, der an der Basis der abendländischen Gesellschaft als demokratischer Rechts- und Sozialstaat steht. Der Mensch wird von der Realität seiner Primärerfahrung getrennt und in einem Bereich der Sekundärerfahrung in jene Koinzidenz von Wirklichkeit und Möglichkeit geführt, die ihn nicht nur des Sinnes dafür enteignet, dass mit dieser Verhältnisbestimmung ein Erfahrungsbereich transsinnlicher Erfahrung eröffnet ist, der den Grund der Menschenwürde ausmacht, sondern auch die Problematik dafür verschleiert, dass seine Primärerfahrung keinesfalls durch jene Koinzidenz ausgezeichnet ist. Daher kann Biser resümieren: „Bei allen Vergünstigungen, die sie in Gestalt ihres Informations- und Unterhaltungsangebots bietet, arbeitet sie doch auf einen progressiven Abbau der Persönlichkeitskultur und, in letzter Konsequenz, auf die Liquidierung des selbstverantwortlichen Subjekts hin.“44 Aus diesen Analysen spricht in der Spätmoderne ein mediatisierter Mensch entgegen, ein Mensch, der zum Medium der diesseitigen Verwirklichung von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ in Technik und Medien gemacht wird, nicht aber in seiner Zielwürde gegenüber diesen Strukturen erkannt wird. Denn dies hieße, die Koinzidenz von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ nicht als Aufgabe menschlicher Machbarkeit, Organisierbarkeit und Planbarkeit zu sehen, sondern diese in einer Dimension zu erwarten, die das Diesseits übersteigt, auf die der Mensch aber konstitutiv ausgerichtet ist. Insofern die Offenhaltung dieser Dimensionalität die menschliche Würde ausmacht, wird einmal mehr deutlich, inwiefern auch die säkulare Gesellschaft diese Ausrichtung zu respektieren hat; und wie in den liberalen Gesellschaften von heute in Form von Technik und Medien her Tendenzkräfte am Werk sind, die eben diese anthropologisch abschneiden. In diesem Sinn bestätigt sich also nochmals die ambivalente Interpretation Bisers unserer Zeit, als Chance und Risiko zugleich:

allzu leicht erliegt, ist die Folge seiner Ich-Schwäche, einer Anfälligkeit, die letztlich auf seinen geschwächten Lebenswillen und, radikaler noch, auf sein gebrochenes Selbstverhältnis zurückzuführen ist“ (ders., Der Mensch, 60). 43 „Er [der Rezipient] ist, wie der exzessive Mediengebrauch in bereits extrem technisierten Gesellschaften zeigt, ‚medienabhängig’ geworden. Dem entspricht eine wachsende Indifferenz gegenüber dem inhaltlich Dargebotenen. Und dem entspricht nicht weniger die Entfremdung des Medienabhängigen von seiner Um- und Mitwelt. Wie in eine leichte Narkose getaucht, nimmt er die Vorgänge um sich nur noch wie durch einen Schleier wahr; und er reagiert verbittert, wenn dieser Schleier durch ein alarmierendes Vorkommnis oder auch nur durch ein ihn aus seinem Trancezustand aufrüttelndes Wort zerrissen wird. Darin zeigt sich aber nur erneut der bereits aufgewiesene Zusammenhang von Angst und Einsamkeit“ (BISER, Der Mensch, 257). 44 BISER, Glaubenserweckung, 215.

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Im Kontext der heutigen Lebenswelt gesehen, stellt sich die conditio humana nach alledem zwiespältig dar: ebenso begünstigt wie belastet. Begünstigt, sofern von ihr Impulse ausgehen, die den Menschen darin bestärken, die noch ungehobenen größeren Möglichkeiten in sich freizusetzen und den Stand seines faktischen Seins in Akten fortwährender Selbstoptimierung zu überschreiten. Vor allem aber belastet, und dies durch das Ensemble der ihn von sich abhaltenden Tendenzkräfte.45

Insofern sich eben in dieser technik- und medienbestimmten Gesellschaft jene Tendenzkräfte vollziehen, die bereits in den totalitären Systemen auf die Entfremdung des Menschen von seinen ureigenen Möglichkeiten hinwirkten,46 kann in Bisers Analysen einmal mehr der Nachhall einer Passage aus Centesimus annus herausgehört werden: Eine weitere praktische Antwort wird schließlich von der Wohlstands- oder Konsumgesellschaft verkörpert. Sie sucht den Marxismus auf der Ebene eines reinen Materialismus zu besiegen, indem gezeigt wird, daß eine Gesellschaft der freien Marktwirtschaft die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen besser gewährleisten kann als der Kommunismus, wobei geistige Werte ebenso außer acht gelassen werden. Einerseits ist es wahr, daß dieses soziale Modell den Zusammenbruch des Marxismus aufzeigt, insofern er eine neue und bessere Gesellschaft erstellen wollte. Andererseits stimmt es mit ihm aber in Wirklichkeit überein, insofern es jede Eigenständigkeit, jede Berufung zum sittlichen Handeln, zum Recht, zur Kultur und zur Religion leugnet und den Menschen völlig auf den Bereich der Wirtschaft und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduziert.47

5. Atheismus als sozialethisches Thema Wenn Technik und Medien den Menschen von dieser konstitutiven Dimensionalität seiner utopischen Wesensstruktur abbringen und damit jenen Realitätsgrund unterhöhlen, der die Basis seiner Würde ausmacht, wenn diese mithin jene für die säkulare Gesellschaft konstitutive Vermutung „etsi Deus daretur“ verschleiern, dann wird damit deutlich, dass sie in sich jene Tendenz verkörpern, die Biser mit der Spätmoderne in die sozialen Strukturen eingesickert erkennt: nämlich die „ozeanische“ Ausbreitung des „strukturellen Atheismus“.48 Gerade in seinen Atheismusanalysen wird dabei nochmals 45

BISER, Der Mensch, 267. „Über der von ihnen [i.e. den beiden Weltkriegen] hinterlassenen Schreckensspur sollte aber die neue Form von Despotie nicht übersehen werden, auf die der amerikanische Medienkritiker Neil Postman mit der Bemerkung hinwies, daß die Technik im Begriff stehe, das Erbe der Diktaturen anzutreten und mit ihren weit effizienteren Mitteln zu verwalten. Denn der Gewalt beugt sich der Unterworfene bei aller Bereitschaft, sich ihrer Außensteuerung zu überlassen, zuletzt doch nur widerstrebend. Und im Ernstfall setzt er ihr, mit Marcuse gesprochen, die ‚große Weigerung‘ entgegen. Dagegen bringen ihn die Medien mit ihrem persuasiven Instrumentarium dazu, sich den Insinuationen und Zwängen der Gesellschaft, deren bewußtseinsverändernde Spitze sie bilden, ebenso widerstandslos wie lustvoll zu unterwerfen“ (BISER, Der Mensch, 61). 47 Centesimus annus, 19. 48 Das Aufkommen dieses „ozeanischen Atheismus“ steht dabei für Biser im selben geistesgeschichtlichen Zusammenhang wie das Aufkommen der Gefährdungen durch Technik und Massenmedien, d. h. im Durchbruch der Spätmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 46

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deutlich, inwiefern Biser auf das Konzil zurückgreift, es in seinen systematisch zentralen Aspekten aufgreift und dieses gleichzeitig im Sinn einer heute angemessenen Gesellschaftsanalyse und -kritik weiterentwickelt.49 Fernab davon, auf diese überaus luziden Einzelanalysen Bisers eingehen zu können, sei an dieser Stelle nur die Bedeutung des Atheismusphänomens für die herausgestellte sozialethische Herausforderung der Spätmoderne thematisiert. Dabei entspricht dem sich flächendeckend-ozeanisch ausbreitenden Atheismus jene Entwicklung der Entwurzelung und Desintegration des spätmodernen Subjekts. Insofern Technik und Medien subversiv-stetig jenes Würdefundament des Menschen und damit das grundlegende Konstitutivum der freiheitlich-säkularen Gesellschaft aushöhlen, 50 führen sie zu einem zunehmenden hermetischen Abschluss der gesellschaftlichen Strukturen, welche nicht mehr die transzendentale Verwiesenheit des Menschen widerspiegeln. Dieser ‚Abschluss‘ äußert sich allgemein in der „Weigerung des Denkens, bis an die ihm gezogene Grenze zu gehen und in die es dort erwartende Transformation einzuwilligen“.51 Sich durch die Abschließung dieser Dimension als atheistische Strukturen offenbarend, eliminieren sie den Begriff der menschlichen Würde aus sich, der eben die liberal-säkulare Umsetzung dieser Verwiesenheit des Menschen in die sozialen Strukturen leistete. Damit „verdunkelt“ sich die Zukunft; der Mensch in seiner utopischen Strukturiertheit wird auf innerweltliche Erfüllungsmechanismen reduziert: Die Tatsache, dass sich „im Wirkraum der Hochtechnik, wie sich bereits zeigte, uralte Menschheitsträume und Utopien Zug um Zug verwirklichen […] sind Schritte in eine weithin noch unbewiesene Zukunft, die sich in blendendem Dunkel darstellt. Es ist das Dunkel eines nicht nur ideologisch bedingten, sondern eines strukturellen, aus der Tiefe des Zeitgeschehens aufsteigenden Atheismus“.52 Mit dem Begriff „struktureller Atheismus“53 bezeichnet Biser mithin die Tatsache, dass der Atheismus zur Selbstverständlichkeit der Gesellschaft geworden ist,54 wodurch sie sich in zunehmender Weise in ihren Strukturen selbst apriori – und das heißt: geradezu ‚selbstverständlich‘ – als atheistisch bestimmt. Über diese Strukturen wirkt dieser Atheismus dann im Lebensgefühl des heutigen Menschen fort und bestimmt es unhinterfragt. Auf diese Weise „strukturell“ geworden, breitet er sich dadurch, so Biser, durch die Strukturen „schleichend“ fort und perpetuiert sich „ozeanisch“. Gegen diese Tendenz setzt jedoch die Biser’sche Theologie jene „Innensicht“ des Glaubens, welche einzig als authentische „christliche Mystik“ bezeichnet werden kann; Schien sich auf politischer Ebene der Liberalismus durchzusetzen und den anthropologischen „Grundirrtum“ des Marxismus zu überwinden, so wurde in selbem Maß die in den liberalen Strukturen latente Gefahr für das humanum deutlich (vgl. BISER, Die Entdeckung, 165). 49 Vgl. BISER, Glaubensprognose, 117-130. 50 „Denn der ‚strukturelle Atheismus‘ der audiovisuellen Medien, der hauptsächlich in der durch sie bewirkten ‚Entwirklichung‘ des Daseins besteht, ist ganz dazu angetan, den Gottesglauben von seinen innersten Voraussetzungen her zu untergraben“ (BISER, Glaubensprognose, 122). 51 BISER, Glaubensprognose, 123. 52 BISER, Gotteskindschaft, 169f. 53 BISER, Gotteskindschaft, 170, 200f. 54 Der Atheismus ist, so Biser, „die zur Selbstverständlichkeit gewordene Grundhaltung des heutigen Menschen“ (E. BISER, Gott im Horizont des Menschen, Limburg 2001, 21).

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und in nämlichem Sinn macht sich Biser das Rahner’sche Axiom von der Zukunft des Christentums als mystischer Religion zu Eigen. Denn nur in dieser Dimension gelingt die Wiedereinholung jener Innerlichkeitsdimension, die in einer veräußerlichten Metaphysik unterbelichtet blieb. Insofern ist es Bisers Kritik gegen eine verdinglichende Metaphysik, gegen einen vergegenständlichenden Glauben und eine wesenhafte Existenzauffassung, die an der Grundlage seiner Analyse des „ozeanischen Atheismus“ steht. In dieser Perspektive leuchtet ein, inwiefern Technik und Medienszene des 20. Jahrhunderts zur selbstaufhebenden Konklusion dieser Veräußerlichung in der metaphysischen Koinzidenz von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ geführt haben, und dabei Hand in Hand mit der flächendeckenden Ausbreitung des „ozeanischen Atheismus“ gehen, der nichts anderes als die sich in den sozialen Strukturen verfestigte Verfehlung der Existenz des Menschen als Möglichkeitswesen ist.55 Dagegen ist es das Bestreben des therapeutischen Christentums, diesen Menschen in seiner Möglichkeits- und d. h. Hoffnungsdimension wiederherzustellen und damit durch die Überwindung seiner Lebensangst56 und die Restituierung seines existentiellen Elementarvertrauens57 jene Innerlichkeitsdimension wiedereinzuholen, die Biser als die authentisch christliche Dimension des Religiösen bezeichnet und deren Veräußerlichung es gewesen sei, die erst das Ausbreiten des strukturellen Atheismus ermöglicht habe.58 Dem stellt Biser gegenüber: 55

Vgl. BISER, Der Mensch, 250-272. In seinem Werk Der Mensch, 130, äußert Biser diesbezüglich in klaren Worten, worin er die eigentliche moderne Herausforderung für den Glauben erkennt, und zwar nicht in argumentativen Widerlegungen der Beweise der Existenz Gottes, sondern in der sich strukturell ausbreitenden Angst, die damit den „ozeanischen Atheismus“ zeitigt: „Es [das Abgleiten in den Atheismus] ist dies nicht, wie man vermuten könnte, der Protest gegen Gott, der sich bei Nietzsche in die Alternative des ‚Er oder ich‘ zuspitzte, sondern – die Angst, die sich damit als der eigentliche Gegensatz des Gottesglaubens erweist“. 57 Vgl. BISER, Der Mensch, 267–272. Die Analysten der spätmodernen Gesellschaft weisen darauf hin, dass dem Menschen heute gerade jenes fundamentale Vertrauen abhanden gekommen ist, welches ihm seine gesellschaftliche „Einbettung“ in der Moderne vermittelte: „Das Vertrauen ist […] in fundamentaler Weise mit den Institutionen der Moderne verbunden“ (A. GIDDENS, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, 39, vgl. 107). Dagegen sei die heutige Situation gekennzeichnet „von dem unspezifischen Gefühl, in einer Zeit zu leben, die sich deutlich von der Vergangenheit abhebt“, und zwar in der Weise, „daß wir entdeckt haben, daß gar nichts mit Sicherheit gewußt werden kann, weil sich die Unzuverlässigkeit aller früher gegebenen ‚Grundlagen‘ der Erkenntnistheorie erwiesen hat; daß es in der Geschichte keine Teleologie gibt und folglich keine Lesart des Fortschrittsgedankens einleuchtend verteidigt werden kann; daß in sozialer wie in politischer Hinsicht neue Dinge auf der Tagesordnung stehen, wobei ökologische Belange und vielleicht neue soziale Bewegungen generell eine immer stärker herausragende Stellung einnehmen“ (ebd. 64). 58 Für diese Analyse rekurriert Biser auf Paul VI., womit er eine zentrale Inspirationsquelle für seine Atheismusanalysen benennt: „Wir sehen Atheisten befallen von unruhiger Angst, getrieben von Leidenschaft und utopischen, oft aber großmütigen Wünschen, erfüllt von einem Traum nach Gerechtigkeit und Fortschritt, der zu einer vergöttlichten idealen Gesellschaft führen soll, die aber doch nur Ersatz für das Absolute und das eine Notwendige ist […]. So treffen wir bisweilen Menschen an, die aus reinem Idealismus Atheisten sind, aus Empörung gegen Mittelmäßigkeit und Egoismus, die in so weiten Kreisen der heutigen Gesellschaft anzutreffen sind; sie verstehen es, Solidarität und menschliches Mitgefühl in einer Form und Sprache auszudrücken, die sie unserem Evangelium entwenden. Werden wir nicht imstande sein, sie zu den Quellen dieser 56

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„Wer an Gott glaubt, wird dadurch erst ganz zu sich selbst geführt, bis hinaus zu jener ungeahnten Höhe des Selbstseins, die das leuchtende Wort von der Gotteskindschaft der Glaubenden bezeichnet.“59

6. Christentum, Moraltheologie, Sozialethik Die Frage nach der Relevanz der Biser’schen Theologie für die Sozialethik kann nicht anders als vom Biser’schen Axiom über das Verhältnis von Christentum und Moral seinen Ausgang zu nehmen: „Das Christentum hat […] eine Moral, aber es ist im Unterschied zu anderen Religionen und insbesondere zum Judentum keine Moral.“60 Insofern er für diese Kritik an einem moralisierenden Christentum pars pro toto die Sexualethik und die Sozialethik nennt, legt sich zunächst die Vermutung nahe, dass Biser keinen sozialethischen Grundansatz präsentiert. Das Christentum ist kein moralisches Lehrsystem, mithin auch keine ideale Gesellschaftstheorie. Eine solche Erwartung wäre, so Biser, nichts anderes als eine unzulässige kantische Erwartung an das Christentum. Es ist aber auch keine praktisch-gewaltsame Gesellschaftsrevolution, wie Biser ebenso an mehreren Stellen seines Werkes deutlich herausstellt. Diesbezüglich weiß er auch die jüngste Enzyklika Spe salvi hinter sich, in welcher Benedikt XVI. betont: „Das Christentum hatte keine sozialrevolutionäre Botschaft gebracht, etwa wie die, mit der Spartakus in blutigen Kämpfen gescheitert war. Jesus war nicht Spartakus, er war kein Befreiungskämpfer wie Barabbas oder Bar-Kochba.“61 Aber auch hier gibt die spätmoderne Situation dem Christentum kairos-artig einen Hinweis zu einer Neuinterpretation seiner selbst von seinem eigenen Wesen her. Denn der spätmoderne Mensch erwarte sich von der Religion keinesfalls mehr, so Biser, wie noch vor Jahrzehnten ein praktisch-revolutionäres Programm – im Gegenteil macht Biser eine neue Innerlichkeit in der Religionsauffassung der Zeitgenossen ausfindig. So erkennt er heute eine „gewandelte religiöse Situation, die durch die Abkehr von der Gesellschaftskritik und das Verlangen nach Innerlichkeit gekennzeichnet ist“.62 Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Christentum auf seine Innerlichkeitsdimension zurückgeführt werden und seine sozialkritische Funktion einbüßen solle. Denn gerade aus der Innerlichkeitsdimension geht für Biser eine neue Perspektive auf die sozialen Struksittlichen Werte, von denen sie reden, zurückzuführen – zu den Quellen, die ja die christlichen sind?“ (PAUL VI., Ecclesiam suam, 96; zit. in: E. BISER, Das Profil des Glaubens angesichts seiner Herausforderung durch Säkularismus und Atheismus, in: G. Baadte / A. Rauscher (Hgg.), Glaube und Weltverantwortung, Graz/Wien/Köln 1988, 107-125, hier 109f.). Da Biser im Jahr 1988 noch keine Antwort seitens der Theologie auf diese luzide Bemerkung des Papstes konstatieren konnte, machte er sich selbst, von dem zitierten Artikel an in vielen weiteren Werken, an die Beantwortung und theologische Ergründung. Und wenn bis heute immer noch keine theologische Reaktion vorliegt, bedeutet dies die Aktualität und bleibende Relevanz der Biser’schen Analysen. 59 BISER, Die Entdeckung, 188. 60 BISER, Die Entdeckung, 26; vgl. ders., Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 21998, 91f. 61 Spe salvi, 4. 62 BISER, Die glaubensgeschichtliche Wende, 275.

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turen selbst aus: „Unmißverständlich ist auch das von Jesus verfolgte Sozialkonzept, das auf eine revolutionäre, an die elfte These von Karl Marx über Feuerbach erinnernde Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeht.“63 Mit dieser Differenzierung des Ethikbegriffs in der Verkündigung Jesu betont Biser, Jesus ziele nicht auf die subjektive, sondern auf die strukturelle Sünde ab. Auch in diesem Aspekt findet Biser in der gegenwärtigen Zeit einen Wink: Inwiefern der spätmoderne Mensch durch einen charakteristischen Verlust seines „Sündenbewusstseins“ ausgezeichnet ist, gehe es für das Christentum darum, die Chance zu einer Neujustierung seiner moralischen Implikationen zu nutzen. Insofern die heutige Lage durch einen Umschlag von der Schuld- zur Schamkultur gekennzeichnet ist,64 müsse sich das Christentum seine ursprünglichsten Einsichten vergegenwärtigen und seine Aufmerksamkeit stärker auf die Einwirkung auf die gesellschaftlichen Strukturen mit dem fundamental sich eingenistet habenden Atheismus richten. Denn eines ist ohne weiteres einsichtig: Selbst bei größter Aufmerksamkeit auf die individualmoralische Botschaft des Christentums bleibt diese doch gerade heute einer fundamentalen Gleichgültigkeit und Ablehnung ausgesetzt, da die gesellschaftlichen Strukturen, konträr zu dieser, eine atheistische Grundhaltung perpetuieren. Insofern kann es als eine authentische sozialethische Fortbildung Bisers gelten, den Begriff der „strukturellen Sünde“, auf den er durchaus häufig rekurriert, durch denjenigen der „atheistischen Strukturen“ integriert und weitergeführt zu haben. Gleichzeitig ist sich Biser jedoch der entgegengesetzten Verständnisfalle bewusst, insofern er sofort betont, dass es auch nicht genüge, lediglich die strukturelle Frage zu betonen, dabei aber den individualmoralischen Bereich außen vor zu lassen: „Wo etwa der ganze Komplex des Unheils in den Bereich der ‚strukturellen Sünde‘ abgeschoben und damit ausschließlich den gesellschaftlichen Mißverhältnissen angelastet wird, entfällt der personale Bezugspunkt, auf dessen Konstituierung die christliche Botschaft mit ihrem Zentralinteresse ausgeht.“65 Aufgabe der Sozialethik ist es an diesem Punkt, positiv formuliert, Kritik an den Strukturen zu üben, worin diese „als anonyme Mächte Wünsche, Neigungen und Entscheidungen mitbestimmen“,66 wie dies in persuasiver, nicht-offensichtlicher und vom Einvernehmen des Subjekts gedeckter Weise geschieht. Zutreffend spricht Biser von der 63

BISER, Gotteskindschaft, 164. „Unterschwellig arbeitet die ethische Situation jedoch auf eine Revision der Wende von der Scham- zur Schuldkultur hin, die im ‚tragischen Zeitalter der Griechen‘ der These Eric Robertson Dodds zufolge in nachhomerischer Zeit eintrat. Danach führten die Tragiker die Wende von dem vornehmlich an der Reaktion der Öffentlichkeit orientierten Schambewußtsein der homerischen Helden zu dem die ganze Folgezeit beherrschenden Schuld- und Sündenbewußtsein herbei. Nach unübersehbaren [!] Anzeichen schlägt diese Wende gegenwärtig jedoch in ihr Gegenteil um, so daß ein neues Schambewußtsein an die Stelle der von den Kirchen immer noch vorausgesetzten und forcierten [!] Schuld- und Sündengefühle tritt. Daß diese entgegen naheliegenden Befürchtungen gleichfalls religiös verankert ist, zeigt die biblische Erzählung vom Sündenfall der Stammeltern, die sich nach Martin Buber, wegen ihrer Nacktheit ‚nicht bloß voreinander, sondern auch miteinander vor Gott‘ schämten (Gen 3,10)“ (BISER, Gotteskindschaft, 167; vgl. ders., Einweisung, 133f.). 65 BISER, Die glaubensgeschichtliche Wende, 163. 66 BISER, Glaubensprognose, 153. 64

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„Fehlorientierung des heutigen Menschen durch die Suggestion der Konsumgesellschaft und durch seine eskalierende Medienabhängigkeit“. Hierin liegt für Biser die ganze Bedeutung des Terminus „strukturelle Sünde“: Diese geschieht dort, wo sie durch den von ihnen transportierten Atheismus – bzw. die von ihnen transportierte Lebensangst – den Menschen von sich abbringen und ihm obendrein die Rechtfertigung dafür bereitstellen, sich – durchaus auf bequemem Weg! – in die anonymen Mächte zu entäußern. Mit dieser Veräußerung ist es für Biser verbunden, dass heute das allgemeine Sündenbewusstsein abnimmt. Fragt Biser nach der Mitte des Christentums, so gilt einmal mehr für die Mitte der Sozialethik, dass sie in Jesus Christus in seiner Identifikation von „Helfer“ und „Hilfe“ individuiert werden muss.67 In dieser therapeutischen Christologie verwirklicht sich mithin nichts anderes als die von einer äußerlichen Dingmetaphysik oder von der spätmodernen Technik und den Medien usurpierte „Koinzidenz von Möglichkeit und Wirklichkeit“. Insofern die Entdeckung dieser Koinzidenz das „Hilfsprogramm“ für das Individuum in seiner spätmodernen Lage ist, das unter der „‘Verstimmung’ seines Lebensgefühls“, unter „Niedergeschlagenheit“, „Verstörung seines Selbstverhältnisses“ und „Vitalitätsverlust“ leidet,68 wird unmittelbar deutlich, wie die Wiederauffindung des Zentrums des Christentums notwendig ist, um überhaupt dessen Relevanz für den Menschen und die Gesellschaft in der Spätmoderne aufzuzeigen. Gerade in dieser Hinsicht unterstreicht Biser die Hilfsfunktion Jesu, in erster Linie „Helfer zur Selbsthilfe“ zu sein, d. h. den Menschen zu seinen ureigensten Möglichkeiten zu führen: So aber drängt sich der Eindruck auf, dass organische und psychische Krankheiten in seiner Sicht nicht so sehr Primärphänomene als vielmehr Folgen einer Erkrankung des gesellschaftlichen Organismus sind. Die von ihm gebotene Therapie besteht demgemäß erst in sekundärer Hinsicht in der Handauflegung, mit der er Blinden das Augenlicht, Tauben das Gehör und Gelähmten die Wiederherstellung schenkt, primär jedoch in der Proklamation des Gottesreichs, mit der er sich in letzter Hinsicht selbst als Heilmittel verordnete und in die pathologische Daseinsstrukturen einstiftete.69

In dieser christologisch-therapeutischen Dimension dekliniert, kann die Sozialethik gleichzeitig ihren authentischen Beitrag zur „Überwindung der Glaubenskrise“ leisten, die Überwindung von jener „Existenzkrise des heutigen Menschen, insbesondere von seiner Lebensangst und Identitätsnot“, indem sie die strukturellen Bedingungen dafür bereitstellt, dass er sein „Urvertrauen“ zurückgewinnen kann, mit anderen Worten, jene „Annahme seiner selbst“ ermöglichen, die ihm in der Neuzeit strukturell abhandengekommen ist. Denn der ‚außengeleitete‘ Mensch, der nach Riesman für die heutige Massengesellschaft symptomatisch ist, leidet an einem signifikanten Defizit an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit, weil ihm seine Denk- und Verhaltensweisen durch das gesellschaftliche Über-

67

Vgl. BISER, Einweisung, 362f.; ders., Glaubenserweckung, 174f. BISER, Glaubensprognose, 175f. 69 BISER, Die Entdeckung, 291. 68

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Ich, insbesondere mit Hilfe der von der Werbe- und Massenpublizistik gesetzten Signale, aufoktroyiert werden.70

An dieser Stelle wird deutlich, inwiefern der Biser’sche Neuansatz einen gesellschaftsrelevanten Beitrag zur Neugewinnung des Fundaments der abendländischen Gesellschaft, der Unverfügbarkeit der menschlichen Würde, leisten kann. Seine sozialethische Forderung besteht darin, den Menschen vor der Entäußerung in die entpersonalisierenden und subversiv wirkenden sozialen Realitäten der Technik und der Massenmedien zu schützen, um in ihm als in jenem „Möglichkeitswesen“ diejenige Würde zu achten, mit der er unveräußerlich ausgestattet ist. Der Mensch hat in diesem Sinn nicht nur, ja er ist das Recht auf Nicht-Manipuliertsein; und es ist die ethische Aufgabe der Gesellschaft, ihm zumindest jene freie Wahl zu ermöglichen. Insofern die spätmodernen sozialen Realitäten der Technik und der Medien dazu tendieren, dieses Recht, und damit den Menschen selbst, zu unterdrücken, kommt in ihnen, nicht durch totalitaristische politische Systeme, aber durch deren Identifikation von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“, ein Machtpotenzial zum Ausdruck, welches nicht weniger violent als politische Systeme das Individuum gefährdet. Schleichend wird der Mensch seiner Möglichkeiten beraubt und der spätmodernen Lebensangst ausgeliefert. Dies ist für Biser das eigentliche Wesen des „ozeanischen Atheismus“. Dagegen muss die christliche Sozialethik dahin streben, die Dimension „etsi Deus daretur“ wieder der Öffentlichkeit und ihren Diskussionen zu vermitteln. Nicht, um die Strukturen zu „taufen“, sondern um wieder aktiv jene gesellschaftliche Leerstelle zu schaffen, derer es bedarf, dass menschliche Würde geachtet werden kann. Die „Revolution Jesu“ im Gottesbild setzt sich dann direkt in ein sozialrevolutionäres Programm um, was Biser darin zum Ausdruck bringt, dass er die zentrale Einsicht seines fundamentaltheologischen Neuansatzes, Jesus als den größten Revolutionär der Religionsgeschichte zu betiteln, insofern er die entscheidende „Revolution“ im Gottesbild den Menschen vermittelt hat, auf keine andere theologische Disziplin denn auf die Sozialethik ausdehnt: So erwähnt Biser als erste Konsequenz dieser „Revolution“ auf sozialer Ebene die durchaus ebenso als „Revolution“ anzusehende Folge, den Sabbat als im Dienst an den Menschen zu betrachten und damit die Mittel-Ziel-Struktur der sozialen Wirklichkeit neu zu justieren und den Menschen einzuschärfen.71

7. Christentum, „Struktur“ und mystische Dimension Es wurde bereits betont, inwiefern sich die Sozialdimension der christlichen Verkündigung von sozialtheoretischen Ansätzen anderer Herkünftigkeit charakteristisch unterscheidet. Auch wenn sie nicht lediglich als ein sekundäres Derivat am Rande steht, bezieht sie ihr Wesen doch nicht bereits aus der menschlichen Geselligkeit als solcher, sondern in differenzbildender Weise aus der Botschaft Jesu. Insofern bezeichnet Biser 70 71

BISER, Glaubensprognose, 356. Vgl. BISER, Die Entdeckung, 261.

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das „Reich Gottes“ als die „Sozialgestalt“ von Jesu Botschaft.72 Dies gibt als solches keinen konkreten Handlungsplan vor, wohl aber verpflichtet es zu kulturellem und gesellschaftlichem Engagement, insofern das Christentum von seiner Sozialgestalt nicht absehen kann. In diesem Sinn formuliert Biser: Das kulturelle Engagement war dem Christentum somit keineswegs in die Wiege gelegt; vielmehr war es die Folge einer nur gegen beträchtliche Hemmungen durchgesetzten Umorientierung. Am Anfang stand eher ein ‚Unbehagen an der Kultur‘ (Freud), das sich unmittelbar aus den weltkritischen Äußerungen der neutestamentlichen Schriften, den johanneischen ebenso wie den paulinischen, ergab.73

Dem Christentum kommt sein kulturelles Engagement also erst aus seiner ureigenen Mitte her zu. Mit dieser Einsicht sucht Biser eine Missinterpretation der Sozialethik abzuwehren, die sie auf das reine Interesse an Mechanismen sozialer Regelungen und Regelbarkeiten reduziert. Biser betont daher für die Sozialethik die Einheit aus „actio“ und „contemplatio“. In dieser Hinsicht hatte bereits Metz die „mystisch-politische Doppelstruktur des Glaubens“ in Erinnerung gerufen. Die Ebene der sozialen Regelung muss immer von der Dimension der inneren Kontemplation begleitet bleiben, damit eine Dimension wie die Menschenwürde einsichtig bleibt. Auf diesem Weg wird es dagegen möglich, die Vernunft in ihrer Ausrichtung und Verwiesenheit auf jenes „Andere“ ihrer selbst wachsam zu halten, da gerade in dieser Wachsamkeit der „Sinn“ für das Fundament der Gesellschaft in der Menschenwürde liegt. Aus dieser Einsicht entwickelt Biser dann auch eine fundamentale Kritik an der „Gegenwartstheologie“: Bei aller Bereitschaft, sich neuen Problemfeldern zu öffnen, entwickelt die Gegenwartstheologie nicht die Energie und Entschlossenheit, die angesichts des ‚personalen Defizits‘ im Erscheinungsbild und Selbstverständnis des heutigen Menschen von ihr zu erwarten wäre. Wenn irgendwo, steht sie somit hier in einem anachronistischen Mißverhältnis zur zeitgeschichtlichen Situation, dem nur durch Gegensteuerung in Gestalt einer Wende begegnet werden kann. Und wenn irgendwo, muß diese Wende ihre ‚Achse‘ in einer Wiedergeburt der Innerlichkeit haben.74

Diese Dimension wird von niemand Geringerem als von Franz von Baader in Form der Umkehrung des kartesianischen Grundsatzes der selbstbehaupteten Subjektivität formuliert: „cogitor ergo sum“, die erste Basis des Menschen ist rezeptiv, dringt in eine spirituelle Dimension vor, die nicht durch dinghaft-substantielles bzw. begriffliches Denken erfasst werden kann. In dieser Hinsicht stellt Biser, wie Ratzinger dieses Franz-vonBaader-Axiom zitierend, heraus,75 dass der Mensch begrifflich durch die Perspektive der christlichen Sozialethik „keineswegs die Aussicht verbindet, daß der Mensch zu etwas anderem werden könne als dem, was er faktisch ist, wohl aber darauf, daß er sein 72

BISER, Der Mensch, 239. BISER, Die Entdeckung, 337. 74 BISER, Die glaubensgeschichtliche Wende, 31. 75 Vgl. BISER, Gotteskindschaft, 152f.; J. RATZINGER [BENEDIKT XVI.], Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das apostolische Glaubensbekenntnis, München 1998, 286f. 73

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faktisches Sein ‚anders‘ und wesentlicher als vorher ergreifen und verwirklichen lerne“.76 Und Biser betont weiterhin, dass „der Mensch nicht danach strebe, ein anderer seiner selbst zu werden, sondern das, was er ist, zur Vollendung zu bringen. Das aber ist zugleich der Schlüsselsatz seiner Deutung der Gotteskindschaft und damit das Herzstück seiner Daseinsmystik“.77 Diese Dimension ist nicht beweisbar und nicht verrechenbar, ist aber unabdingbare Voraussetzung für eine Gesellschaftskonstitution auf der Basis der menschlichen Würde. Insofern vertritt Biser keine Mystik, die von der Welt wegführt, sondern die in neuer Weise mit ihr verbindet und sie erschließen lehrt.78 Inwiefern der christlich-mystische Weg einen direkten Zugang zur Wirklichkeit eröffnet, hat Wilhelm Korff in die Formel gebracht, dass die Liebe immer schon dort ist, wo die Solidarität erst ankommen muss.79 Eugen Biser könnte in diesem Satz eine Zusammenfassung der sozialethischen Dimension seines Denkens erkennen; umgekehrt kann die Sozialethik im Denken Bisers wertvolle Grundlagenreflexionen über ihr Wesen, ihre Aufgabe und ihre Relevanz in der spätmodernen Gesellschaft finden. 76

BISER, Glaubensprognose, 337. BISER, Der Mensch, 68. 78 „Das ist alles andere als der Rückzug in eine quietistische Abgeschiedenheit. Wie der missionarische Aktivist Paulus selbst beweist, geht von der Mystik vielmehr der stärkste Antrieb zu tätigem Engagement aus. Sein Beispiel zeigt, dass dieser Einsatz bisweilen sogar kämpferische Formen annehmen kann. Vor allem aber zeigt es, dass es dabei hauptsächlich darum geht, den inneren Gewinn nach außen zu tragen. […] Wie diese Aktivitäten Ausdruck des inneren Zusammenspiels sind, wirken sie vertiefend auf dieses zurück. Sein Werk bestätigt dem Mystiker, dass er von Christus, dem Haupt, verstanden und geliebt wird, aber nicht weniger auch, dass Christus sich in ihm versteht und liebt. Deshalb wendet er sich betend an ihn und dienend nach außen“ (BISER, Die Neuentdeckung des Glaubens, Stuttgart 2004, 131). 79 „Zur Begründung dessen, was dem Menschen zusteht und was ihm als das Seine zu gewähren ist, setzt die Liebe nicht erst bei dem an, was der Mensch auf Grund ihm strukturell zugesprochener Rechte für sich geltend macht, was er auf Grund erbrachter Leistungen als verdient für sich beanspruchen kann oder angesichts besonderer ihn auszeichnender Eigenschaften erwarten darf. Vielmehr setzt die Grundhaltung der Liebe, ohne deshalb ihrerseits derlei Gerechtigkeitsgründe, soweit sie einsichtig sind, in Frage stellen oder gar desavouieren zu wollen, bei dem an, was dem Menschen als das Seine zukommt, insofern er Mensch ist, und dies gerade angesichts der realen Herausforderungen des Defizitären seiner Situation: bei seiner Würde, bei seiner Bestimmung zur Freiheit, bei seiner Berufung zum Leben […]: Erst die Liebe entdeckt den Menschen als Person. Von daher bleibt nun in der Tat zu fragen, ob die Idee der personalen Würde des Menschen und damit natürlich auch die Vorstellung von unverfügbaren Menschenrechten ohne diese Entdeckungsgeschichte der Liebe überhaupt eine generell handlungsleitende und am Ende sogar in die gesellschaftlichen Strukturen durchschlagende Bedeutung hätte gewinnen können. Es muss sich das Denken der Menschen erst einmal mit dem Bewusstsein der ihnen eignenden Würde und den daraus resultierenden Herausforderungen gleichsam aufladen, ehe sich die Gerechtigkeit gehalten sieht, diese Spur aufzunehmen und dann ihrerseits das Recht folgen zu lassen. Insofern aber erwiese sich dann die sozialethische Wende, die die neuzeitliche Entwicklung gebracht hat, indem sie den Menschen als Person ins Zentrum auch der gesellschaftlichen Ordnungsgestaltungen rückt, eben doch in einem letzten Sinne, und zwar ungeachtet aller voraufgehenden und nachfolgenden strukturellen Verzögerungen, als ein Resultat genuin christlicher Wirkungsgeschichte: Das Recht kommt endlich dort an, wo die Liebe schon ist, beim Menschen als Person“ (W. KORFF, Sozialethik als Strukturenethik, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, I, 207-225, hier 216). 77

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Antizipation eines Unbehagens Eugen Bisers Medientheorie

Der bekannte Schriftsteller Bodo Kirchhoff bringt die weltweite Finanzkrise in einem Essay, der in der Osterausgabe dieses Jahres des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ abgedruckt war, mit einer veränderten Medienwelt zusammen: „Aus der alten analogen Welt der Bedeutungen ist die digitale der Zeichen geworden, und wer darin aus nichts Geld machen kann, nennt sich, ohne jede Ironie, Master of the Universe. Jeder große TV-Sender zeigt schnellen Ruhm als Königsway of Life. Auf allen Produkten, auf allen Kanälen: große egozentrische Kinder, denen die Welt als Erweiterung ihrer selbst erscheint.“ Kirchhoff beschreibt also den Verlust des Realitätsgefühls, ein aufgeblähtes Selbst, das seine Grenzen nicht mehr kennen will, Allmachtsgefühle, die nicht mehr als unwirklich erlebt werden. Bodo Kirchhoff setzt solche Auswüchse einer normalen Erwachsenengeschichte entgegen und fragt: „Ist doch jedes Erwachsenwerden nur schmerzliche Bewältigung von Verlusten. Und wozu das anstreben inmitten eines Überflusses an brillanten Selbstbildern?“ Nicht nur Gefühle von Allmacht, sondern auch Gefühle von Unsterblichkeit produziere eine solche Welt der aufgeblähten Finanzmärkte: „Zehn Prozent Zinsen hätten, auf Dauer gesehen, die Unsterblichkeit bedeutet … Die Pleite oder der Tod schienen überwunden gewesen zu sein, und die jetzige Panik rührt wohl auch aus dem Begreifen unseres tatsächlichen menschlichen Maßes.“ Was aber ist das menschliche Maß, gerade mit Blick auf die Welt der Medien, die doch heute einer der ganz bestimmenden Parameter unserer Alltagswelt geworden sind? Wir schreiben das Jahr 1995. Gerade einmal gute fünf Jahre gibt es in Deutschland nicht mehr nur öffentlich-rechtliches Fernsehen, sondern mit RTL und SAT 1 die ersten beiden Privatfernsehstationen. Noch ist das Internet nicht wirklich ein Thema in Deutschland, seine entscheidenden Anfänge fallen erst in die zweite Hälfte der 90erJahre. Da bringt der Religionsphilosoph Eugen Biser ein Buch heraus, das den Titel trägt: „Der Mensch – das uneingelöste Versprechen“. Im Untertitel heißt es: „Entwurf einer Modalanthropologie“, und es stellt die eingangs von Bodo Kirchhoff aufgeworfene Frage: Was ist das Maß des Menschen? Um es vorwegzunehmen: Eugen Biser wird am Ende auf diese Frage gerade keine Antwort geben. Denn Modalanthropologie bedeutet für ihn, dass der Mensch je selbst je neu entscheiden muss, wer er denn sein will und sein kann. Aber Eugen Biser untersucht die Bedingungen des Mensch-Seins, die für dessen Identitäts-Entscheidung am Ende maßgeblich sind. Und weil diese Bedingungen für den Theologen und Priester Eugen Biser eben nicht nur religiös oder religionsgeschichtlich sein können, sondern

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auch politisch, philosophisch, philosophiegeschichtlich und darüber hinaus ästhetische und auch mediale Voraussetzungen haben, ist dieses Buch von Eugen Biser vielleicht sein vollständigstes Buch und es ist deshalb so unendlich fruchtbar. Während das damalige Zeitbudget, das wir Menschen vor 15 Jahren auf den Konsum von Medien verwandten, in den Vorzeiten einer digitalisierten Medienwelt, die dann am Ende des letzten Jahrtausends auch das Internet entdeckt, noch weit unter den heute zu veranschlagenden Stundenmengen liegt, spürt der Religionsphilosoph Eugen Biser bereits an der Zeitenwende zur Mediengesellschaft den radikalen Umbruch der Alltagswelt, die von jetzt an noch viel stärker durch die Medien bestimmt sein wird. Er erkennt, dass diese veränderte Medienwelt der entscheidende Parameter für die Lebensbedingungen der Menschen im neuen dritten Jahrtausend sein wird. Fügt man die Fragmente, die sich in Eugen Bisers Anthropologie zu einer Medientheorie finden lassen, ein wenig zusammen, so bergen sie in sich nicht nur einen stimmigen Entwurf einer kohärenten Deutung, welche Funktionen, aber vor allem auch welche Gefahren eine vordringliche Welt der Medien bietet, sondern darüber hinaus lassen sich Eugen Bisers Medien-Theoreme zudem auch in schlüssiger Weise auf seine entscheidenden philosophisch-theologischen Positionen in dieser Phase seines Denkens rückbeziehen. Entscheidend für die Fragestellung Bisers nach der Situation des Menschen in der Welt ist dabei, dass er die philosophische Ausgangsfrage „Was ist der Mensch?“ verwandelt in die tiefgründige Anfrage Gottes an den Menschen, die Eugen Biser der Schöpfungsgeschichte entnimmt und die da lautet: „Mensch, wo bist du?“ Dem Menschen, der sein Paradies verloren hat, ruft Gott (Genesis 3,9) nach: „Wo bist du?“, oder vollständig: „Und Gott, der Herr, rief den Menschen und sprach: Wo bist du?“ Eugen Biser stellt diese Frage neu und entwirft so eine Anthropologie, die dem Menschen am Ende – in Übereinstimmung mit dem Gebot: „Du sollst dir kein Bildnis machen“ – auch am Ende gerade kein festes Bild vorgeben will, was er denn sei oder zu sein habe. Der Mensch ist für Biser das nicht festgelegte, ja mehr noch das nicht festgestellte Wesen, dessen Lebensbedingungen es für ihn allerdings herauszuarbeiten gilt; und dazu gehört für Eugen Biser entscheidend und zentral am Ende des letzten Jahrtausends auch die Welt der Medien. Eugen Biser schreibt wörtlich: „Niemand weiß um die volle Erstreckung des den Menschen umschließenden Möglichkeitsraumes. Eine Begegnung, ein Schicksalsschlag, schon ein Gedanke kann neue Dimensionen aufstoßen. Was der Mensch sein kann, resultiert immer auch aus seiner Wechselbeziehung mit seinem geschichtlich-sozialen Umfeld.“ Eugen Bisers Denken kreist am Ende des letzten Jahrtausends sehr stark um einen Begriff, den er bei Sigmund Freud findet und den er dessen glänzendem Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ entlehnt. Es ist der „Prothesengott“, zu dem sich der Mensch aufschwingt. Der Mensch als der Prometheus, der Gott das Feuer aus der Hand schlägt und ihm mit Goethe zurief: Hier sitz’ ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen,

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Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich.

Biser schreibt: „Für Freud zeigt sich der utopische Zug im Menschen darin, dass er sich seit alters eine in seinen Gottheiten verkörperte Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet hat, der er sich insgeheim anzunähern suchte“ – und er zitiert dann Freud wörtlich: Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen ein Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.

Eugen Biser spricht von einer „progressiven Selbstvergrößerung“, die er philosophiegeschichtlich von Friedrich Nietzsche ableitet, die er aber genauso im technischen Innovationsdrang des Menschen bestätigt sieht. Mikroskop und Teleskop, Telefon und Schallplatte, Raketen- und Nukleartechnik, nicht zuletzt die Gentechnik, das sind die Fermente eines technischen Innovationsprozesses, der immer weiter vorangetrieben wird. In solchem Innovationsdrang des Menschen sieht Eugen Biser die zwei Vorzugsziele, die Sigmund Freud dem Menschen bescheinigt – und die der Schriftsteller Bodo Kirchhoff in hoher Sensibilität gerade in der Finanzkrise, die ja nur in einer digitalisierten Welt technisch überhaupt möglich war, grundgelegt sieht – und diese zwei Vorzugsziele also, die sich hier auffinden lassen, sind: die Sehnsucht des Menschen nach Allmacht und seine Sehnsucht nach Allwissenheit. Eugen Biser stellt so den „Anläufen zu einem übermenschlichen Machtgewinn“ den „in den Medien angezielten Wissensgewinn gegenüber“, um am Ende diese beiden grundlegenden Wesensmerkmale des postmodernen Menschen für gleich bedeutsam zu erklären. „Allgegenwart, Schöpfertum und Richtergewalt“, so Eugen Biser wörtlich, das sind die Attribute, die der Mensch Gott aus der Hand geschlagen hat, um sie für sich selbst in Anspruch zu nehmen. In einer der ersten umfassenderen Analysen zur neuen Welt des Internet beschreibt die amerikanische Autorin Margaret Wertheim in ihrem Buch „Die Himmelstür zum Cyberspace“ im Jahr 1999, dass für manchen Internetfreak das Internet als weltumspannendes Mediensystem, wo sich tendenziell jeder mit jedem in einer virtuellen Welt treffen kann, die Einlösung einer utopischen Menschheitssehnsucht nach Allgegenwart bedeutet. Das Internet sei für so manchen ein neuer mystischer Raum, der den mystischen Glaubensraum ersetze. Das Internet sieht sie bei vielen als „Überwindung der Beschränkungen des Leibes. Unter den Verfechtern des Cyberspace finden wir eine Sehnsucht nach Transzendenz der Beschränkungen des Leibes … ein Verlangen nach der Aufhebung von Schmerzen, Einschränkung und sogar Tod.“ Eine solche Deutung steht in unmittelbarer Konsequenz von Eugen Bisers Sicht auf die Medien. Wenn eine von Wertheim zitierte amerikanische Wissenschaftlerin von dem Tag träumt, an dem sie

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in der Lage sein wird, sich selbst auf einen Computer zu laden und als virtueller Doppelgänger ihrer selbst für ewig jung und großartig zu bleiben, dann ist bereits eine Karikatur der von Freud und Biser beschriebenen Prometheussehnsucht erreicht, die amerikanische Wissenschaftlerin, die sich auf einen Computer laden will, mag das wissen oder auch nicht. Entscheidend ist am Ende die Diagnose von Wertheim, die Bisers Sicht exakt entspricht, wenn sie zusammenfasst: „Ungewöhnlich ist, dass das Konzept der Überwindung der körperlichen Beschränkung einst für theologisch möglich gehalten wurde; jetzt wird es zunehmend wahrgenommen als technologisch machbar.“ Sie gibt zu bedenken, dass bei den Internetfreaks ein nicht aufhebbares Paradoxon besteht: „Auch wenn viele Cyberspace-Enthusiasten sich danach sehnen, den Beschränkungen des Körpers zu entfliehen, klammern sich die meisten doch auch an die Herrlichkeit der physischen Inkarnation. Sie mögen die körperliche Endlichkeit nicht lieben, vor allem die Sache mit dem Tod nicht, aber gleichzeitig wünschen sie sich die Empfindungen und Erregungen des Fleisches. Eine ideale Maschine würde sich an die Sinne wenden und gleichzeitig vom Körper befreien.“ Weil das gerade nicht geht, eine so billige Lösung des über Jahrhunderte diskutierten Geist-Materie-Themas, könnte man hier mit Eugen Biser deuten, dass jeder Versuch, einen solchen paradoxen Daseinszustand über die Welt der Medien künstlich zu erreichen, grundsätzlich in einen Entfremdungszustand führen muss. Für Eugen Biser ist es von jeher zweifelhaft, ob solche usurpierte Schöpfer- oder Schöpfungskraft in und über die Medien dem Menschen tatsächlich mehr Mensch-Sein verbürgt oder ob sie nicht eher in Entfremdungs- und Selbstentfremdungsszenarien führt. Vor allem die aufgeblähte Medienwelt ist Eugen Biser dahingehend verdächtig, dass sie nicht nur ein Mehr an Auswahl bringt, sondern im Gegenteil in der Überfülle von scheinbar Wichtigem dem Menschen den Blick auf sich selbst gerade verstellt und ihn in seiner Freiheit lähmt. Da der Mensch nach Biser sich sowieso schon vor der eigenen Freiheit fürchtet und sich nur allzu gern instrumentalisieren lässt, sieht er im beständigen Besprochen-Werden durch die Medien totalitäre Züge. Er spricht von der „persuasiven Diktatur der Medien“. Wo Eugen Biser mit Dostojewski dem Menschen bescheinigt, die Freiheit als „drückende Überforderung zu erfahren“, sind die Medien für ihn der dem Menschen willkommene Fluchtraum in eine Welt, wo sich die Frage der eigenen Freiheit nicht mehr stellt. Biser nennt es „eine Schwäche im Seinswillen“, die den Menschen in Ersatzparadiese flüchten lässt. Interessant ist, dass einer solchen negativen Prognose eine philosophische Prämisse vorausliegt. Der Mensch, nach Biser zur Freiheit erschaffen, fühlt sich allzu leicht zu ihrem Gegenteil geneigt. Er unterwirft sich, hier zitiert Biser Heidegger, nur allzu gerne und allzu leicht der Regie des „man“, veranstaltet eine Welt des bloßen Geredes, verliert am Ende seine Zentrierung in sich. Sprachgewaltig schreibt Eugen Biser: „Der Mensch, getarnt vor sich selbst durch ständig wechselnde Masken, abgesunken zu einer Kümmerform des Lebens ohne Liebe, Glaube und Lehre, verstoßen in eine Welt der Fragmente, einer atemlosen Sprache, stummer Zeichen und blinder Bilder, einer sich entziehenden Wirklichkeit und der wachsenden Angst“ stürzt durch die Medien in die „Suggestionen und Pressionen der Konsum- und Leistungsgesellschaft“, die ihre Stärke der Ich-Schwäche, dem geschwächten Lebenswillen des postmodernen Menschen verdanke.

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Der „homo ludens“, also der Mensch, der nach Friedrich Schiller spielend sich selbst finden soll, wird so in der Medienwelt für Biser am Ende der, dem jetzt aufs „Bitterste mitgespielt wird“. So sieht Eugen Biser in den Medien die bewusstseinsverändernde Speerspitze einer ideologisierten Gesellschaft, die den Menschen gerade über die Medien ihre Zwänge und Insinuationen überstülpt. Fast 20 Jahre vor Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder den geistlosen Blödeleien eines Oliver Pocher auf einem immerhin öffentlich-rechtlichen Kanal beschreibt Eugen Biser die Tendenz der Medien, zur Ideologie zu entarten, „wo ein Eingriff ins Denken gelingt, der die gewohnten Formen der Vergewisserung, Rückfrage und kritischen Interpretation“ unterbindet. D. h. Eugen Biser weist darauf hin, dass die über Jahrhunderte überlieferte Form unseres Sprechens miteinander, das im Dialog, in der Nachfrage, ja in der Nachdenklichkeit besteht, tendenziell von den modernen Medien unterlaufen wird. Medien arbeiten für ihn deshalb mit an einer Entwirklichung von Welt, indem sie zum Beispiel durch Szenerien von Traum und Show die Wirklichkeit wiederverzaubern, um sie damit dem Menschen gerade zu entziehen. Medien dienen aber damit nicht mehr der Aufklärung, sondern unterlaufen sie geradewegs. Biser wörtlich: „Sie entziehen dem narkotisierten Rezipienten zugleich den tragenden Boden, indem sie ihm anstelle der für seine Grundorientierung unerlässlichen Primärerfahrungen das Surrogat täuschender Reproduktionen bieten. Der Zuwachs an Entmündigung, den sie im Vergleich zu den Gewaltsystemen erreichen, springt in die Augen. Während jene den Unterworfenen auf die Stufe eines fragmentierten und ruinösen Menschentums versetzen, wird der Dauerkonsument ihrer Suggestionen am Ende zu einer Metapher seiner selbst. Zwar liegt dieses Ende in einer noch kaum absehbaren Ferne; doch ist an seiner Erreichung angesichts der jetzt schon, am Morgen des Medienzeitalters, zu beobachtenden Schäden nicht zu zweifeln.“ Ein solcher Mensch aber wird nach Biser zur „Metapher seiner selbst“, indem ihm solchermaßen nicht nur der Weg zu sich selbst, sondern auch der Weg zur Welt und zu Gott verschlossen bleibt. Eine solche Medienwelt freilich sieht Biser im Verbund mit einer Welt, die immer stärker gekennzeichnet ist von sozialer Unterkühlung, da ja das Miteinander der Menschen auf solche Weise defizitär wird, und einer Welt, die so von einer „resignativen Grundstimmung“ eben nicht mehr getragen wird. An diesem Punkt kommt ein hochinteressanter Aspekt von Bisers Philosophie in den Blick. Denn ein solchermaßen von sich selbst und von der Welt abgeschnittener Mensch kann für Biser nur mehr ein geängsteter Mensch sein. Der Angst liegt nach Biser eine Welt voraus, wo der andere nicht mehr da ist, nicht mehr fühlbar und erfahrbar ist, wo der Geängstete den Eindruck hat, von allen Verbindungen abgeschnitten zu sein, damit in völlige Einsamkeit zurückgeworfen und allein auf sich selbst verwiesen zu sein. Angst ist für Biser also in seiner Anthropologie nicht zuerst eine intrinsische Grundveranlagung des Menschen aus sich selbst heraus, sondern sie ist als die Innenseite der Einsamkeit zuerst ein soziales Phänomen. Und wo die Medien in ihrer Pseudosprache einer selbst geschaffenen Sekundärwelt Weltbegegnung gerade verhindern, werden sie deshalb zu den großen Angstmachern der Gegenwart. Noch vor den angstmachenden

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Nachrichten selbst also, von der Vogelgrippe bis zum Genschwein, liegt in den Medien nach Biser strukturell ein angsterzeugendes Ferment. Biser leitet den Begriff Angst aus dem lateinischen „Angustae“, also übersetzt Enge, ab, beschreibt diese Enge als Strangulationsangst, wo am Ende der Geängstete, der sich um seine wirkliche Teilnahme am Leben, um seine Lebensrechte betrogen fühlt, um sich schlägt, im Gefühl zurückzuschlagen, wo er Welt nicht mehr spüren darf. Nach den Amokläufen von Schülern in Deutschland, deren Vorleben deutlich sowohl soziale Entfremdungsprozesse als auch einen pathologischen Medienkonsum aufweisen, ein deutlicher Hinweis, wo in unserer Gesellschaft Fehlsteuerungen begründet liegen, die am Ende in massive Gewalt münden können. Wenn vor wenigen Tagen ein Junge zusammen mit einem Freund seine eigene Familie mit rund 40 Schüssen tötet und für die Staatsanwaltschaft ein Motiv dafür gerade nicht – und zwar in keiner Weise – auffindbar ist – und das ist das Entscheidende – so scheinen sich die von Eugen Biser vor 15 Jahren prognostizierten Entfremdungstendenzen einer sozial unterkühlten Medienwelt, die am Ende individuell, aber auch gesellschaftlich zu einem regelrecht schizoiden Bewusstsein führen kann, bereits heute teilweise zu bestätigen. Die Medienwelt bringt dem Menschen die Dinge nur scheinbar nahe, so Eugen Biser, in Wirklichkeit wird das im Menschen sowieso schon seit jeher grundgelegte Gefühl von der „Zudringlichkeit des Seienden“ nochmals potenziert und so fühlt sich der Mensch zu guter Letzt von der Fülle der Dinge überfordert, wie Biser mit Blick auf den französischen Existenzialisten Sartre mit dessen Formel des „de trop“, des Zuviel, bestätigt. Die Überfülle der in den Medien dargebotenen Dinge vermag dem Menschen gerade die Welt, die konkrete Welt, die echte Welt, die reale Welt und das WählenKönnen in dieser seiner Welt zu nehmen, so dass sich ihm der Ausweg in eine Welt der postmodernen Beliebigkeit, wo alles immer gleichzeitig da ist und gleichgültig ist, bei solcher Überfülle der Dinge wie von selbst nahe legt. Biser prägt das Bild vom „Griff nach der Seele“, wo Medien am Ende statt der Frage nach Wahrheit ein Gefüge von Bildern und Sätzen anbieten, die bloß mehr „leicht eingängige Entlastungseffekte bieten“, wo die Frage nach Wahrheit gerade suspendiert ist. Eine solche Kritik Bisers zielt vor allem auch auf die funktionalisierte Sprache der Nachrichten, wo sich für ihn Medien und Politiker längst gemein gemacht haben in einer Sprache, „die der Fähigkeit der Vermittlung beraubt ist, weil in ihrer verkürzten und zusammengedrängten Syntax kein Raum bleibt, in dem sich Sinn entwickeln könnte; eine Sprache, die ihre Begriffe bewusst im politischen Sinn funktionalisiert und sich deshalb vorzugsweise in Synonymen und Tautologien ergeht, eine Sprache also, die tendenziell auf das Orwell’sche Modell mit seiner manipulatorischen Vertauschung der Leitbegriffe – Friede als Krieg (wir denken dabei heute automatisch an George Bush), Liebe als Hass – hinausläuft und die deshalb verharmlosend von der ‚sauberen Bombe‘ und dem ‚atomaren Niederschlag‘ reden kann“. Zur Verdrängung der Lebenswirklichkeit, in die die Medien ihre Rezipienten hineindrängt, gehört für Eugen Biser auch die Suggestion einer „eingeredeten Todlosigkeit“. Die Verdrängung des Todes aber ist für den Religionsphilosophen Eugen Biser die „Urtat der menschlichen Torheit … Wer den Tod verdrängt, geht am Leben vorbei. Wer den Menschen zu funktionalisieren sucht, wird das deshalb am wirksamsten dann errei-

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chen, wenn er ihm den Tod verheimlicht. Doch gerade darauf besteht die heutige Konsum- und Leistungsgesellschaft“, zu der Biser die Medienwelt rechnet. „Sie macht sich den Menschen gefügig, indem sie den Tod aus seiner Erfahrungs- und Lebenswelt ausblendet.“ Am Ende kritisiert Biser auch den ökonomischen Gedanken, der den Medien in übermäßiger Weise inhärent sei. Medien sind für ihn auch Teil einer „ökonomischen“ Schwundstufe des Menschen, wo sich alles der Verwertbarkeit der Dinge unterwerfen muss und es kein zweckfreies Wissen mehr geben darf. Biser wählt den Begriff eines „geistlosen Hedonismus“ und spricht radikal von einer „verlorenen Urteilsfähigkeit“ des Menschen und einer „Suspendierung seines logischen Denkens“, ja seines „Denkens überhaupt. Anstatt den Rezipienten in seiner Intellektualität anzusprechen, teilen die Medien ihm ihre ‚Botschaft‘ in Form von Bild- und Tonsequenzen mit, die an das noch in ihm fortbestehende archaische Bilddenken anknüpfen. Das aber wirft ihn, kulturgeschichtlich gesehen, auf den Status eines vorgeschichtlichen Bewusstseins mit prälogischen Denkformen zurück. Auf die Dauer kommt das der Suspendierung seiner rationalen Denk- und Urteilsfähigkeit gleich, auch wenn sich das nur diffus, in Form einer leichten Narkotisierung, verbunden mit der Unlust zu geistiger Tätigkeit, bemerkbar macht.“ Zum Amoklauf von Winnenden schreibt Bodo Kirchhoff in dem oben zitierten Essay: „Es gab keine 24 Stunden des Sprachlosseins, des erlebbaren Verlusts.“ Stattdessen gab es „auf allen Kanälen in den ersten Sendungen über das Geschehen plappernde Kids, dazu im Internet die Plattformen für Wichtigtuerei jeder Art samt Handy-Videos rund um das Grauen“. 15 Jahre nach Eugen Bisers „Antizipation eines Unbehagens“ ist dieses Unbehagen im Sinne Bisers gravierender geworden, wenn Kirchhoff genau in diese Richtung schreibt: „Menschlicher Gewinn, ob aus einer globalen Krise oder einem Amoklauf in der deutschen Provinz, droht auf der Strecke zu bleiben. Wer will schon wissen, wie infantil er war, wenn er an ein Leben ohne Verlust geglaubt hat. Das Ideal der Beschleunigung steht jedem vertieften, durch Innehalten erreichten Wissen im Weg. Unsere digitale Zeit hat die epische Zeit verdrängt.“ Ganz im Sinne Bisers spricht Kirchhoff von einer „Sozialisationskrise, angefacht durch die elektronische Revolution: einer Verwahrlosung auf hohem Niveau. Nicht etwa Spatzenhirne, wie so gern unterstellt wird, sind unser Problem, es sind die vielen Spatzenherzen.“ Es klingt wie die Einlösung von Bisers Weitsicht, wenn der Schriftsteller Kirchhoff heute zum Ende schreibt: „Wir haben unser Vorstellungsvermögen delegiert und überlassen es anderen, sich die Liebe oder die Krise auszumalen; wir haben uns daran gewöhnt, Subjektivität preiszugeben und auf dem Flachbildschirm an der Wohnzimmerwand gestochen scharf wiederzufinden. Den meisten reichen solche Trostobjekte für ein Gefühl der Versöhnung mit einer Gesellschaft, die sich nicht für sie interessiert.“ Eugen Bisers Philosophie mit Blick auf die Medien ist dagegen gerade aus heutiger Sicht ein Appell, sich mit einer Welt, die dem Einzelnen noch die Zerstörung seiner eigenen Persönlichkeit und seiner Individualität nahe legt, nicht länger abzufinden.

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Literatur -Eugen BISER, Der Mensch im Medienzeitalter, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 138 (1990) 313–329 -Eugen BISER, Die Bibel als Medium. Zur medienanalytischen Schlüsselfunktion der Theologie, in: Lebendiges Zeugnis 45 (1990) 95–106 -Eugen BISER, Die Bibel als Medium. Zur medienkritischen Schlüsselposition der Theologie (vorgetragen am 27. Jan. 1990, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1990, Bericht 1), Heidelberg 1990 -Eugen BISER, Verändern die Medien die Botschaft? Überlegungen zu einer strukturgerechten Medienverwendung, in: Studienzentrum Weikersheim e.V. (Hg.), Die Medien – das letzte Tabu der offenen Gesellschaft. Die Wirkung der Medien auf Politik und Kultur, Mainz 1986, 173–184 -Eugen BISER, Verändern Medien die Botschaft?, in: Lebendige Seelsorge 38 (1987) 242–251 -Eugen BISER, Das Wort im Stadium seiner technischen Reproduktion. Religiöse Kommunikation in der modernen Medienlandschaft, in: Günther Pöltner, Helmuth Vetter (Hg.), Theologie und Ästhetik, Wien/Freiburg/Basel 1985, 90–107. -Eugen BISER, Verändern Medien die Sprachqualität?, in: Communicatio Socialis 16 (1983) 201–271

Appendix

Eugen Biser Das instrumentierte Wort Skizzen einer theologischen Medientheorie∗

Wer die Medien hat, hat die Zukunft: diese Einsicht müsste insbesondere die Kirchen dazu bewegen, ihren uneingestandenen Horror vor der modernen Medienszene zu überwinden. Zwar liegt dem ein gesundes Misstrauen zugrunde, da mit den Medien, metaphysisch gesehen, die Vermittlungsstrukturen ein bedenkliches Übergewicht gegenüber den Primärgegebenheiten des Lebens gewinnen. Indessen sind gerade die Kirchen für eine Bewältigung des Medienproblems gerüstet; denn das Christentum stützt sich in seinem Glauben wie in seiner Verkündigung we-



Bisher unveröffentlicht; als Eingangs-Statement gehalten beim Kongress Die Medien – das letzte Tabu der offenen Gesellschaft. Die Wirkung der Medien auf Politik und Kultur am 7./8. Juni 1986 im Rittersaal des Schlosses Weikersheim.

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sentliche auf ein ‚Printmedium‘, das „Buch der Bücher“, das freilich in seinem Mediencharakter noch nicht einmal ansatzweise begriffen worden ist. Mit dem Titel ‚Das instrumentierte Wort‘ ist ein Zweifaches angedeutet: 1. Die Rückwirkung auf die Botschaft. Ihre Vermittlung ist mit einem immer deutlicher fühlbaren Subtraktionseffekt verbunden; denn die Medien verstärken den Informationswert der von ihnen übermittelten Botschaft, während sie gleichzeitig die empirieund evidenzvermittelnden Sprachqualitäten unterdrücken. Daran müsste sich insbesondere die religiöse Medienverwendung bemessen: einmal dadurch, dass sie informativen, auf Glaubensunterweisung abzielenden Sendungen den Vorzug gibt; sodann aber dadurch, dass sie auf Mittel und Wege sinnt, den angesprochenen Subtraktionseffekt zu überspielen. 2. Die Rückwirkung auf den Rezipienten, der auf zweifache Weise durch die Medien ,überlistet‘ wird: während er sich der Illusion maximaler Beteiligung hingibt, ist er tatsächlich in einen Zustand extremer Passivität versetzt; und was er in diesem Zustand in sich aufnimmt, sind durch die Bank Sekundärerfahrungen, die ihm freilich unter dem täuschenden Anschein von Primärerfahrungen geboten werden, so dass er sich in die Rolle eines Augen- und Ohrenzeugen weltweiter Geschehnisse versetzt glaubt. Nicht zuletzt dürfte in dieser ,strukturellen Irritation‘ der Grund für die narkotisierende Wirkung der Medien zu suchen sein, die ihre Verwender in einen Zustand wachsender ,Medienabhängigkeit‘ versetzt. Die Bewältigung des Medienproblems müsste mit der Realisierung des Mediencharakters der Bibel beginnen, der schon von dem ersten Medienverwender der Christenheit, vom Apostel Paulus mit aller Klarheit herausgestellt, dann aber über den Problemen der Textanalyse und Interpretation bis auf wenige Ausnahmen, zu denen vor allem Luther und Lessing zu rechnen sind, vergessen, wenn nicht gar verdrängt wurde. Doch ist nur von einem Verständnis der Transformation, die mit der Verschriftung der ursprünglich mündlichen Botschaft verbunden ist, Auskunft über die Gesetze medialer Umgestaltung zu erwarten. In der Erkundung dieser Gesetzlichkeiten besteht sodann der zweite – und entscheidende – Schritt zu einer theologischen Medientheorie. Dabei muss sie ebenso die transformierende Wirkung der Medien auf die vermittelte Botschaft wie ihre ,denaturierende‘ Rückwirkung auf den Rezipienten ins Auge fassen. Der dritte und letzte Schritt kann nur in einer ,Medienpädagogik‘ bestehen. Doch dürfte sich diese keinesfalls auf Anleitungen zu einer ,Medienabstinenz‘ beschränken; vielmehr müsste es ihr vor allem darum zu tun sein, den Medienverwender in jenen Schichten seiner Persönlichkeit zu mobilisieren, die ihm nicht nur einen gefahrlosen, sondern konstruktiven Mediengebrauch erlauben. Denn die modernen Medien sind ebenso dazu angetan, den Menschen über seine natürlichen Wissens- und Aktionsradius hinauszuführen, wie sie die Gefahr mit sich bringen, ihn unter sein personales Niveau zu drücken. Eine Medienpädagogik, die sich das erste angelegen sein lässt, wird Mittel und Wege finden, das zweite einzudämmen.

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Die mystische Dimension in der Theologie Eugen Bisers 1. Die Mystik und ihr Verhältnis zu Religion und Christentum Wenn vom Verhältnis von Christentum und Mystik die Rede ist, so wird häufig ein berühmtes Wort des katholischen Theologen Karl Rahner zitiert: „Der Fromme, der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht sein“, so schreibt Rahner in seiner im Jahr 1966 entstandenen Schrift ,Frömmigkeit früher und heute‘. Ähnlich äußert sich auch einer der bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Paul Tillich, der Mystik noch universaler nicht nur als ein Kennzeichen des Christentums der Zukunft sieht, sondern als Wesensmerkmal von Religion überhaupt. In seinen ,Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens‘ schreibt Tillich: „Ein Element der Mystik […] ist in jeder Religion und in jedem Gebiet vorhanden. Wo diese Erfahrung fehlt, bleibt nichts anderes als ein Lehrsystem oder eine moralische Schule übrig, aber keine Religion.“ In den beiden Aussagen dieser bedeutenden Theologen wird der Mystik also eine entscheidende und unverzichtbare Bedeutung für den Bestand und die Zukunftsfähigkeit von Christentum und Religion überhaupt zugeschrieben. Zugleich geben Rahner und Tillich in diesen kurzen Aussagen auch andeutungsweise zu verstehen, was sie mit Mystik meinen. Nach Rahner ist der Mystiker „einer, der etwas erfahren hat“, und nach Tillich geht diese für Mystik konstitutive Erfahrung weit über alle Lehrsysteme und moralischen Schulen hinaus. Mit diesem Verständnis von Mystik als Art von Erfahrung, die alle theoretischen Doktrinen und moralischen Kodierungen übersteigt oder hinter sich zurücklässt, stehen Rahner und Tillich in einer langen Tradition. Der erste, der die Mystik in diesem Sinne definierte, war der spätantike christliche Theologe und Philosoph Dionysius Areopagita, der im 6. Jahrhundert in Syrien als Mönch lebte und auf Griechisch schrieb. Er verfasste ein Werk mit dem Titel ,Die mystische Theologie‘ und gilt daher als der Begründer einer theoretischen Reflexion über die Mystik. In diesem Zusammenhang sprach er davon, dass es in der Mystik darum gehe, „die göttlichen Dinge nicht nur zu erlernen, sondern zu erfahren“. Für das Wort „erfahren“ steht dabei im Griechischen „pathein“, also jener Wortstamm, den wir heute noch im Wort ,Pathos‘ verwenden und der ursprünglich ,erleiden‘ meint. ,Erleiden‘ ist dabei nicht primär in einem negativen Sinne als Erfahrung von Schmerzen gemeint, sondern als ein passives Betroffensein, als ein unmittelbares Überwältigtsein von etwas. Und darin besteht auch die Differenz zwischen mystischer Erfahrung und theoretischem „Erlernen“. Die Theorie ist immer reflexiv vermittelt. Der Mensch

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als denkendes Subjekt setzt aktiv und willentlich einen Prozess in Gang, in dem er etwas begrifflich erfasst, dadurch als ein Objekt identifiziert und so von allem anderen und auch von sich selbst unterscheidet. Anders in jener Erfahrung, die für die Mystik konstitutiv ist. Sie überwältigt den Menschen ohne dessen aktives Zutun unmittelbar in einem unerwarteten, plötzlichen Augenblick. Die mystische Erfahrung erfasst den von ihr betroffenen Menschen derart intensiv, dass dessen Ich schließlich mit der Erfahrung eins wird. Es ereignet sich die sogenannte mystische Einung (unio mystica), die ekstatischen Charakter hat. Das mystisch erfahrende Subjekt hat kein objektives Gegenüber mehr, sondern befindet sich in einem differenzfreien Zustand der All-Einheit. Damit werden die Grenzen der Endlichkeit gebrochen. Eine uneingeschränkte Freiheit steht am Ende des mystischen Prozesses. Deshalb nennt Dionysius Areopagita das, was in dieser plötzlich überwältigenden All-Einheitserfahrung erlebt wird, in der zitierten Aussage „die göttlichen Dinge“, griechisch ta theia. Inhalt der Mystik ist demnach eine befreiende Erfahrung des Absoluten, das nicht näher bestimmt werden kann, eines Absoluten, das für den Menschen gerade in dem Moment, wo es ihn ergreift, total unverfügbar und unbenennbar bleibt. Mystik – so könnte man zusammenfassend sagen – ist die befreiend wirkende, unmittelbare Erfahrung einer absoluten Einheit. Da eine positive Unbestimmbarkeit dessen, was umfassend erfahren wird, ein wesentliches Kennzeichen der Mystik ist, kann Mystik weder auf eine bestimmte Religion, noch auf Religion überhaupt beschränkt werden. Deshalb bedarf es einer besonderen Erklärung und Begründung der eingangs im Zitat von Rahner und Tillich geforderten Verbindung von Mystik und Religion, ja von Mystik und Christentum der Zukunft umso mehr. Und hierin scheint mir nun die Bedeutung der Theologie Eugen Bisers zu liegen. Eugen Biser ist kaum als einer der Autoren bekannt, der in Fragen der Mystik häufig zitiert wird. Das mag daran liegen, dass von den Dutzenden theologischer Bücher, die Biser geschrieben hat, kein einziges ausdrücklich und einzig dem Thema ,Mystik‘ gewidmet ist. Doch der oberflächliche Eindruck, den man davon ableiten könnte, täuscht: Wenn Biser kein Buch über Mystik geschrieben hat, so bedeutet das keineswegs, dass das Thema für ihn irrelevant wäre. Im Gegenteil: Es ist in all seinen Überlegungen ständig und derart intensiv präsent, dass es in seiner Theologie sozusagen allgegenwärtig ist und daher nicht eigens thematisiert zu werden brauchte. Mehr noch: In seinen Überlegungen zur Mystik geht Biser im Grunde genommen auch weit über Rahner und Tillich, die beiden Kronzeugen für die Bedeutung der Mystik in der Theologie des 20. Jahrhunderts, hinaus. Anders als Rahner behauptet Biser nicht nur, dass eine Verbindung von Mystik und Christentum für die Zukunft des christlichen Glaubens entscheidend ist. Biser geht davon aus, dass nicht nur das Christentum der Zukunft mystisch sein wird und soll, sondern er vertritt die Auffassung, dass der christliche Glaube schon von seinen ersten Ursprüngen her mystisch war und es seinem Wesen nach immer sein muss. Im Unterschied zum Judentum und zum Islam, die nach Eugen Biser eine Mystik haben, träfe auf das Christentum zu, dass es nicht nur im Laufe seiner Geschichte mystische Strömungen als Begleiterscheinungen hervorgebracht hat, sondern dass es seinem Wesen nach eine Mystik ist. Es geht nach Biser also nicht nur um eine zukünftige Verbindung oder Grundierung des Christentums mit der Mystik. Es kommt vielmehr alles darauf an, die immer schon gegebene, wesenhafte Identität des

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Christentums als Mystik zu erkennen und in Leben und Praxis des Glaubens zu verwirklichen.

2. Die Auferstehung als mystisches Grundereignis Doch wie kann Eugen Biser eine so weitgehende Behauptung einlösen, dass das Christentum nicht nur eine Mystik habe, sondern wesenhaft eine Mystik sei? Dies gelingt Biser dadurch, dass er theologisch am Ursprungsdatum des Christentums ansetzt und dessen mystischen Sinn freilegt. In der Suche nach dem Ursprung des Christentums stellt Eugen Biser ein Ereignis in den Mittelpunkt, das seiner Auffassung nach bisher kaum dessen Bedeutung entsprechend gewürdigt worden ist, nämlich die Auferstehung Jesu. Gerade infolge der in der Aufklärung geäußerten berechtigten Kritik an einer naturalistischen Sicht der Auferstehung als ein im physikalischen Sinn zu verstehendes Ereignis wurde die Auferstehung in der Theologie aus dem Zentrum verdrängt. Damit, so Eugen Biser, habe die Theologie aber ihre eigenen Ursprünge vergessen, denn wenn Jesus nicht auferstanden wäre, wären die Evangelien nicht geschrieben worden und wir würden von Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nichts mehr wissen, geschweige denn an ihn als den Erlöser und Gottessohn glauben. Dass die Auferstehung trotz dieser überragenden Bedeutung für den Ursprung des christlichen Glaubens in der Theologie nicht zum bestimmenden Prinzip geworden ist, liegt nach Biser an einer unzureichenden Fragestellung, mit der über die Auferstehung nachgedacht worden ist. Man hat sich in den Jahrtausenden der Theologiegeschichte überwiegend mit der Frage befasst, woher Jesus auferstanden ist, nämlich „von den Toten“, wie es auch im christlichen Glaubensbekenntnis heißt. Die entscheidende Frage habe man aber nicht gestellt, nämlich wohin Jesus auferstanden sei. Die Frage nach dem Wohin der Auferstehung Jesu ist nach Biser aber nicht nur die entscheidende, sondern auch die ursprüngliche Perspektive, unter der von der Auferstehung die Rede war. Kronzeuge ist für Biser dabei der erste und älteste Autor im Neuen Testament, nämlich der Apostel Paulus. Auf die Frage, wo der Auferstandene lebt, gibt Paulus eine eindeutige Antwort: „Ich lebe, doch nicht ich – Christus lebt in mir. Sofern ich aber noch in diesem Fleische wohne, lebe ich im Glauben an den Gottessohn, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Die Suche nach dem Wohin der Auferstehung wird in der Schule des Apostels Paulus also in die Innerlichkeit des Menschen verlegt: „Christus möge durch den Glauben in euren Herzen wohnen“ (Eph 3, 17). Wohin ist Jesus also auferstanden? In die Herzen der Glaubenden. Im Hinblick auf ihr Ziel, wie es der Apostel Paulus als erster beschreibt, erweist sich die Auferstehung Jesu also eindeutig als ein Ereignis mit mystischen Wesenszügen. Das Herz des Menschen als Ort der Auferstehung ist in der biblischen Sprache der Sitz der Emotionen. Die Auferstehung ist demnach also primär nicht ein äußeres, physikalisches und naturalistisches Ereignis, sondern eine innere Erfahrung. In der Art und Weise, wie Paulus seine erste Auferstehungserfahrung im sogenannten Damaskuserlebnis beschreibt, wird deutlich, dass dieses innere Ereignis den Charakter des plötzlichen Über-

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wältigtseins besitzt und daher eindeutig durch die Signatur der mystischen Erfahrung gekennzeichnet ist. In den Berichten über seine Damaskusvision expliziert Paulus das österliche Widerfahrnis in drei Kategorien, deren Intensität und Simultaneität es als mystisches Ereignis ausweisen: akustisch als die an ihn ergangene Offenbarung des göttlichen Lebensgeheimnisses (Gal 1,16), optisch als die Schau des im Glanz der Gottherrlichkeit erstrahlenden Angesichts Christi (2 Kor 4,5) und haptisch, d.h. im Modus der inneren Berührtheit, als ein überwältigendes Ergriffensein durch den Auferstandenen (Phil 3,12). Dieses Betroffensein von der inneren Erfahrung des Auferstandenen hat für Paulus zugleich eine ekstatisch-befreiende Wirkung. Biser beschreibt diese existenzverändernde Dimension der Mystik als die „mystische Inversion“. Dieser Prozess der mystischen Inversion verläuft in drei Phasen: Zuerst erfolgt der Umschlag von der aktiven Spontaneität zur passiven Rezeptivität, so dass sich das Denken auf ein vorgängiges Gedachtsein und die Liebe auf ein zuvorkommendes Geliebtsein zurückbeziehen. In diesem Sinne wird Paulus bei seinem Damaskuserlebnis durch die Vision des Auferstandenen in seinen Aktivitäten unterbrochen und zur passiven Aufnahme der göttlichen Liebe geführt. Diese ergreifende Rezeptivität, die den Menschen zunächst aus seinen endlichalltäglichen Bezügen geradezu herauswirft, führt aber im zweiten Schritt der mystischen Inversion zu einer gesteigerten Identitätsfindung. Paulus erfährt im Damaskuserlebnis, dass er eigentlich in seinem innersten Wesen ein anderer ist als derjenige, für den er sich bisher gehalten hat und als der er bisher gelebt hat. Bis zu seinem mystischen Ostererlebnis suchte er seine Identität in der polarisierenden und sogar gewaltsamen Abgrenzung zu Fremden und Anderen, konkret in der Bekämpfung und Verfolgung der Christen durch ihn als Juden. Die mystische Inversion erreicht ihre Spitze in der Erfahrung, dass der Mensch seine Identität nicht gewinnt, wenn er sich in die Differenz zum Anderen setzt, sondern wenn er sich im Gegenteil mit dem Fremden in Hingabe und Selbstübereignung vereinigt. Indem Paulus in der Folge seines Damaskuserlebnisses sich selbst erst in dem Moment gewinnt, wenn er sich in Christus findet, „allen alles geworden“ ist (1 Kor 9,20), erlebt er das Ostergeschehen innerlich als ekstatische AllEinheitserfahrung und insofern als Mystik im wesentlichen Sinne. Dass die im Auferstehungsglauben gegebene innere Gegenwart Christi als mystisches Ereignis nicht eine Isolation auf die eigene Innenwelt, sondern im Gegenteil eine befreiende Öffnung zu einer All-Einheitserfahrung hin bedeutet, macht Paulus nach Eugen Biser in seinem Bild der Christenheit als ,mystischer Leib‘ mit dem Auferstandenen als Haupt deutlich. Da die individualmystische Erfahrung „Christus in mir“ den davon betroffenen Menschen dazu treibt, sich selbst an Christus und alle Christgläubigen zu übereignen, folgt daraus die sozialmystische Erfahrung des „alle in Christus“. Somit ist es nicht mehr allein Christus, den Paulus in seinem Herzen trägt, sondern mit und in ihm auch die Mitglieder der christlichen Gemeinden, etwa von Korinth und Philippi (Phil 1,7). Die mystische Auferstehungserfahrung ereignet sich zwar in der Innerlichkeit, hat aber eine ekstatische, die Innerlichkeit zugleich transzendierende Dimension, die sich im Falle von Paulus primär in seiner universalen, potenziell weltweiten Missionstätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes äußert, d.h. nach außen, in die Welt hinein geht. Die befreiende Selbstfindung im Moment der mystischen Selbstübereignung an

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den Anderen drängt den davon Überwältigten unaufhaltsam dazu, alle anderen Menschen in das Glück seiner mystischen Selbstfindung hineinzuziehen. Die mystische Inversion des rezeptiven Betroffenseins von der göttlichen Liebe in der eigenen Innerlichkeit versetzt den Menschen schließlich in die Möglichkeit einer aktiven, alles umspannenden und verändernden Selbstmitteilung in die ganze äußere Welt. Doch nicht nur die Tatsache, dass Paulus zum Heidenmissionar wurde, lässt sich aus dem mystischen Charakter seiner Ostererfahrung ableiten, sondern auch die Art und Weise, wie er in der Mission die Menschen in die zugleich innere wie universale Christusmystik hineinnimmt. Ebenso wie Paulus selbst seine eigene Bekehrung nicht fremder Belehrung, sondern dem Inspirationserlebnis seiner intimen Begegnung mit dem Auferstandenen in der Damaskusvision verdankt, vollzieht er seine missionarische Verkündigung auch nicht primär in der Weise einer theoretischen Information über Glaubensinhalte, sondern, wie Eugen Biser formuliert, als „antwortender Osterzeuge“. Ebenso, wie er selbst das Wort Gottes empfangen hat, indem er von der Offenbarung des Auferstandenen innerlich berührt worden ist, verwendet Paulus seinen Gemeinden gegenüber keine dozierend informative, sondern eine persönlich bewegende, performative Sprache. Durch diesen performativen Sprachgebrauch im Verkündigungswort soll der Mensch in einer Weise individuell angesprochen werden, die ihn innerlich erschüttert und so zur Entdeckung der rettenden Gegenwart des Auferstandenen in seinem Herzen führt. Von ihrem Ziel her muss die Sprache der Verkündigung selbst also stets eine mystisch inspirierte sein.

3. Die therapeutische Dimension der Mystik Eingangs wurde die Mystik als eine unmittelbar überwältigende Erfahrung des Absoluten bestimmt. Auf den Spuren der Osterbezeugung des Apostels Paulus entdeckte Eugen Biser, dass das Ursprungsereignis des Christentums, nämlich die Auferstehung Jesu, von ihrem Wesen her selbst Züge eines mystischen Ereignisses trägt. Die Identifikation des Ostergeschehens als Phänomen der Mystik führt in der Theologie Eugen Bisers aber nicht nur zu einem tieferen Verständnis des Christentums als wesenhaft mystische Religion. Auch das allgemeine Verständnis der Mystik wird durch die von Biser vollzogene Integration des christlichen Auferstehungsglaubens in den Bereich der Mystik erweitert und verändert. Am Ende von Eugen Bisers ,mystischer Theologie‘ steht daher nicht nur ein gewandeltes Verständnis des Christentums, sondern auch ein neues Verständnis der Mystik. Dieser zweite Aspekt soll nun beleuchtet werden. Die allgemeine Definition der Mystik als unmittelbare Erfahrung des Absoluten wird von Biser in dem Sinne präzisiert, dass diese Absolutheitserfahrung erst durch die Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus im Inneren, in den Herzen der Gläubigen, eröffnet und ermöglicht wird. Die mystische Erfahrung wird somit von Eugen Biser an ein christliches Grundereignis zurückgebunden, das von seiner Bestimmung her wesentlich mit der Überwindung des Todes verknüpft ist. Die Auferstehung Jesu hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen ermöglicht sie eine unmittelbare und damit mystische Got-

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teserfahrung, zum anderen ist sie das Ereignis der Überwindung des Todes. Die herausragende Stärke der Überlegungen Eugen Bisers zum Christentum als Mystik besteht wohl darin, dass es ihm gelingt, diese beiden Aspekte theologisch notwendig aufeinander zu beziehen. Doch inwiefern hat die unmittelbare Erfahrung des Absoluten etwas mit der Todüberwindung zu tun und was ergibt sich daraus Neues für ein (christliches) Verständnis der Mystik? In der Suche nach einer Antwort auf diese Frage lässt sich Biser wieder von Paulus inspirieren, um dann aber bald auf die Gründerfigur des Christentums, auf Jesus selbst zurückzukommen. Paulus selbst hat den Tod offenbar als radikale Bedrohung seiner Existenz erlebt: „Ich unglücklicher Mensch; wer wird mich von diesem todverfallenen Leib befreien?“ – klagt er diesbezüglich in Röm 7,24. Die theologische Antwort auf diese abgründige Infragestellung der menschlichen Existenz durch den Tod findet Paulus in seiner Deutung von Kreuzestod und Auferstehung Jesu, wie er sie vor allem im Römerbrief vornimmt. Nach Paulus wird der Kreuzestod deshalb durch die Auferstehung überwunden, weil Gott selbst Jesus Christus im Moment der Auferstehung zum „Gottessohn mit Macht“ einsetzt (Röm 1,4), das heißt in seine göttliche Lebensfülle mit aufnimmt. Damit hat Gott in Jesus Christus das Gesetz der universalen Todverfallenheit durchbrochen und den zum Gottessohn erhöhten Menschen Jesus Christus in ein transkreatürliches Gottesverhältnis aufgenommen. Diese Jesus zur todüberwindenden Gottessohnschaft führende Dimension der Auferstehung wirkt nun in analoger Weise im Herzen der Gläubigen als dem ,Wohin‘ der Auferstehung Jesu. Wenn Jesus im Inneren, im Herzen der Gläubigen in mystischer Weise aufersteht, dann können alle Gläubigen, die sich in einem Akt der inneren Selbstübereignung diesem Widerfahrnis anvertrauen, an der durch die Auferstehung gewirkten Todüberwindung teilhaben. Der im Inneren der Gläubigen gegenwärtige Auferstandene nimmt diejenigen, die sich ihm im Glauben hingeben, in sein todüberwindendes Gottesverhältnis mit hinein. Dadurch geschieht im Glauben an die Auferstehung zugleich die göttliche Erlösung von der Todverfallenheit der Kreatur. Die am Anfang erwähnte Bestimmung der Mystik als Befreiungs-Erlebnis gewinnt nach Eugen Biser also in der christlich-paulinischen Auferstehungsmystik eine spezifische Bedeutung. Das, wovon die mystische Auferstehungserfahrung den Menschen befreit, wird inhaltlich ausdrücklich als das Ausgeliefertsein der Kreatur an den Tod bestimmt. Weil sie am Auferstehungsglauben hängt, ist christliche Mystik nach Biser wesenhaft als Befreiung vom Tod zu verstehen. Welche Konsequenzen daraus für ein erweitertes Verständnis der Mystik selbst folgen, macht Biser im Rückgriff auf zentrale Einsichten eines Denkers deutlich, der wie kaum ein anderer den Zusammenhang zwischen Todeserfahrung und christlichem Erlösungsglauben reflektiert hat, nämlich Søren Kierkegaard (1813–1855). Kierkegaard entdeckte, dass die Erwartung des Todes den Menschen in eine selbstwidersprüchliche Zerrissenheit führt, weil der Mensch in Anbetracht des Todes zugleich verzweifelt er selbst und nicht minder verzweifelt nicht er selbst sein will. Als Ursache für diese mit der menschlichen Existenz gegebene Schizophrenie wird der Tod von Kierkegaard schließlich als eine Krankheit diagnostiziert, ausdrücklich in seiner 1854 erschienenen Schrift ,Die Krankheit zum Tode‘. Im Anschluss an diese existenzphilosophische Ana-

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lyse des Todesphänomens kann die Todüberwindung demnach als Therapie einer Krankheit, als Heilung gedeutet werden. Das von Kierkegaard inspirierte Verständnis der Erlösung vom Tod als therapeutische Heilung wird von Eugen Biser nun suggestiv in sein Konzept der Auferstehung als eines mystischen Ursprungsereignisses integriert. Weil die Auferstehung unmittelbar im Inneren der Gläubigen geschieht, ist sie ein mystisches Ereignis; weil damit der Tod überwunden wird, ist sie ein therapeutisch heilendes Geschehen. Durch die Identifikation von Auferstehung und Mystik entdeckt Eugen Biser damit eine bisher weitgehend unbemerkt gebliebene Dimension der mystischen Erfahrung, nämlich die therapeutische Wirkung der Mystik, den wesenhaften Zusammenhang zwischen Mystik und Therapie. Eugen Bisers Überlegungen zur Mystik sind ganz wesentlich von der paulinischen Auferstehungstheologie geprägt. In der Deutung des Apostels Paulus war Eugen Biser bereits kein Geringerer als Albert Schweitzer vorausgegangen, der im Jahre 1930 sein bahnbrechendes Werk ,Die Mystik des Apostels Paulus‘ veröffentlichte, auf das Eugen Biser auch ausdrücklich und dankbar zurückgreift. Jedoch ließ es Albert Schweitzer offen, ob es sich bei der paulinischen Auferstehungsmystik um eine nachträgliche Interpretation der von Jesus verkündigten Gotteskindschaft oder um das genuine Ausgangsdatum des Christentums handelt. Es bleibt also die Frage, ob der paulinisch artikulierte Zusammenhang von Mystik und Therapie sich auch auf Jesus selbst zurückführen lässt. Eugen Biser beantwortet diese Frage mit einem ausdrücklichen Ja. Als die entscheidende religionsgeschichtliche Leistung Jesu bewertet Biser, dass Jesus nicht mehr wie alle anderen Propheten und Religionskünder vor ihm von einem ambivalenten Gottesbild ausgeht, in dem Gott immer als faszinierend und erschreckend, als liebend und strafend zugleich gesehen wird. In einer ausdrücklichen Abkehr von dieser Ambivalenz verkündete Jesus einen Gott der uneingeschränkten und bedingungslosen Liebe. Wie bei Paulus beruhte auch bei Jesus diese neue eindeutig in der Liebe fokussierte Gottesverkündigung auf einer unmittelbaren inneren Erfahrung, nämlich der Entdeckung Gottes als liebender Vater, wie es in der spezifisch jesuanischen Anrede Gottes als „Abba“ zum Ausdruck kommt. Insofern ist auch die prägende Gotteserfahrung Jesu mystischer Natur. Und sogar in einem noch intensiveren Ausmaß als bei Paulus führt diese mystische Erfahrung Gottes als des liebenden Vaters zu einer radikalen mystischen Inversion, die in der Selbstübereignung Jesu an seine Mitmenschen und schließlich an Gott in seinem Todesschrei am Kreuz unüberbietbare Wirklichkeit wird. Während Paulus seine Verkündigung an die potenziellen und aktuellen Mitglieder seiner Gemeinden richtet, sucht Jesus ohne Rücksicht und Intention auf ein religiöses Bekenntnis die Armen, Bedrängten, Notleidenden und Ausgestoßenen auf, um ihnen die frohe Botschaft zu bringen. Jesus selbst versteht diese selbstübereignende Entäußerung seiner mystischinnerlichen Gotteserfahrung ausdrücklich als heilende Tätigkeit, denn er sagt von sich: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17). In der als ,Wunder‘ überlieferten, therapeutischen Wirksamkeit Jesu zeigt sich also ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen (christlicher) Mystik und Therapie, ein Zusammenhang, der erst von Eugen Biser nach zweitausend Jahren Theologiegeschichte wiederentdeckt worden ist.

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In ihrer letzten Konsequenz ist gerade auch die therapeutische Mystik Jesu auf die Todüberwindung hin ausgerichtet. Die Verkündigung des bedingungslos liebenden Gottes zielt bei Jesus auf die Überwindung der Lebensangst des Menschen. Ihre letzte Bewährungsprobe findet diese Angsttherapie des Glaubens in der größten, weil abgründigsten aller menschlichen Ängste, nämlich der Todesangst. Nach Eugen Biser ist Jesu Kreuzestod die mystisch-therapeutische Antwort auf diese Urangst des Menschen. Das Vertrauen auf die innerlich erfahrene Liebeszusage seines Vatergottes ermöglicht es Jesus, diese abgründigste aller Ängste durchzustehen. In dieser extremen Situation des Vertrauens auf die mystische Erfahrung des Gottes der Liebe ereignet sich zugleich jene Therapie der Todesangst, die in der Auferstehung Wirklichkeit wird. In diesem Gedanken gelingt es Eugen Biser, die von ihm entdeckte therapeutische Dimension der Mystik mit der jeden Menschen existenziell betreffenden Todeserfahrung in einen Zusammenhang zu bringen. Somit erweist er die therapeutische Mystik trotz ihrer religionsgeschichtlichen Herkunft aus der christlichen Offenbarung schließlich als ein gesamtanthropologisches Phänomen. Dadurch kann seine Mystikkonzeption eine universale, religions- und kulturübergreifende Bedeutung gewinnen.

4. Kritische Würdigung Um Bedeutung, Eigenart und Wert von Eugen Bisers Konzeption der Mystik zu erschließen kann es aufschlussreich sein, seine Gedanken mit anderen Entwürfen einer christlichen und nicht-christlichen Mystik zu vergleichen. Auffällig ist dabei die starke Orientierung Bisers an der Theologie des Apostels Paulus, was sonst in kaum einem anderen mystischen Entwurf in dieser Intensität zu finden ist. Das bringt gewiss viele Vorzüge. Das paulinische Verständnis der Auferstehung als unmittelbare innere Erfahrung erlaubt es Biser, das Christentum insgesamt als mystische Religion zu denken. Im Hinblick auf die Einsicht, dass der primäre Ort des christlichen Glaubens die pneumatische Innerlichkeit des Menschen ist, werden die äußeren Vermittlungsformen des Christentums, seien es die geschriebenen Worte seiner Lehre oder die institutionellhierarchische Vermittlungsgestalt der Kirche, wohltuend relativiert. Insofern enthält die theologische Mystik Eugen Bisers ein beträchtliches, als solches aber noch nicht ausdrücklich entfaltetes theorie- und institutionskritisches Potential. Andererseits führt die starke Orientierung an Paulus dazu, dass bestimmte Phänomenbereiche, die bei Paulus weniger berücksichtigt oder zum Teil sogar abgewertet werden, auch in der Biser’schen Mystik nicht vorkommen. Zu denken wäre hier vor allem an die Natur und an die sexuell-erotische Dimension, die bei anderen christlichen und nicht-christlichen Mystikern ein ganz wesentlicher Ursprungsbereich mystischer Erfahrung sind, so beispielsweise die Natur bei Hildegard von Bingen und Jacob Böhme, die Erotik in Anschluss an das alttestamentliche Hohelied etwa bei Mechthild von Magdeburg und Johannes vom Kreuz. Die starke Fokussierung auf die Auferstehung gibt der Mystik Eugen Bisers einen strahlend hellen Glanz und unterscheidet sie dadurch fundamental von jenen Ansätzen auch der christlichen Mystik, die dem Leiden, der Gottferne, der Nacht, im Ex-

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trem sogar dem Tod und dem Nichts die positive Qualität einer mystischen Erfahrung abgewinnen können. Eugen Biser präsentiert eine dezidierte Lichtmystik, in der die Dunkelheit keinen konstitutiven Raum einnehmen kann, wie dies beispielsweise bei Mystiker(inne)n wie der gewiss extrem leidzentrierten Elsbeth von Oye der Fall ist, aber auch bei Romantikern wie Novalis oder phänomenologischen Mystikern wie Edith Stein in ihrer ,Kreuzeswissenschaft‘. Eine der Stärken von Eugen Bisers mystischer Theorie liegt gewiss darin, dass er ihr mit der Auferstehung ein heilsgeschichtliches Ereignis und nicht eine abstrakttheoretische Wahrheit zugrundelegt. Dadurch konzipiert er eine Mystik, die der wesenhaft geschichtlichen Verfasstheit des Menschen gerecht werden kann. Andererseits wird damit die Mystik fundamental mit dem Christusereignis verbunden, was dazu führt, dass die Mystik nicht mehr als ein die verschiedenen Religionen transzendierendes und damit in einer höheren Dimension vereinigendes Erfahrungsphänomen gedeutet werden kann. Anders ist dies etwa bei Meister Eckhart, der die Mystik als Weg des (Ab-) Lassens aller Vorstellungen konzipiert, an dessen Ende sogar Gott losgelassen werden muss. Damit kann Eckhart eine gewiss völlig unbestimmte Einheit erreichen, in der im Grunde genommen nicht nur alle Religionen, sondern auch alle Bilder, Vorstellungen und Gedanken in einem positiv negierenden Sinn aufgehoben sind. Auf dieser radikal vorstellungslosen Ebene nähert sich die christlich motivierte Mystik Meister Eckharts etwa der buddhistischen an, wofür es in der die Vorstellungswelt des Christentums nicht verlassenden Mystik Eugen Bisers keinen unmittelbaren Anknüpfungspunkt gibt. Mit der Akzentuierung der therapeutischen, auf die existenzielle Todesüberwindung bezogenen Dimension der Mystik gelingt es Biser zwar, einen übergreifend gesamtanthropologischen Ansatzpunkt für seine christliche Mystik zu finden. Dies hat aber zur Konsequenz, dass Biser in seiner mystischen Theorie die existierende Subjektivität des Menschen nicht verlässt, aufgrund der christlichen Hochschätzung der Individualität und Personalität des Menschen wohl auch nicht verlassen will. Damit steht Bisers therapeutische Mystik im Kontrast zu jenen Formen mystischer Theorie und Praxis, die eine Entindividualisierung oder Entpersonalisierung anstreben, wie wir das nicht nur aus der fernöstlichen und islamisch-sufistischen Mystik kennen, sondern auch in Meister Eckharts Gedanken eines Lassens des eigenen Selbst oder in Goethes berühmten Zeilen aus dem naturmystisch-pantheistischen Gedicht ,Eins und Alles‘: Im Grenzenlosen sich zu finden, Wird gern der Einzelne verschwinden, Da löst sich aller Überdruss; Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen, Sich aufzugeben ist Genuss.

Diese Vergleiche zeigen: Obwohl Eugen Bisers mystische Theologie in sich ebenso stringent wie überzeugend originell aus der christlichen, im engeren Sinn paulinischen Offenbarung heraus konzipiert ist, erweist sie sich, selbst innerhalb des Spektrums der christlichen Mystik, als eine von vielen möglichen (christlichen) Mystiken. Das ist kein

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Nachteil, sondern vielmehr eine Stärke dieser Theorie. Denn von ihrem Wesen her bleibt die mystische Dimension unbegreifbar und unausschöpfbar. Alle Versuche ihrer Artikulation können nur eine Annäherung bleiben. Die Kategorien von ,wahr‘ und ,falsch‘ greifen auf dieser Ebene nicht mehr. Es gilt hier wohl eher und noch mehr das, was Fichte über die verschiedenen Philosophien aussagte: Sag mir, welche Philosophie du wählst, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist. Die Entscheidung für die eine oder andere Form von Mystik ergibt sich aus den jeweiligen existenziellen Bedürfnissen, aus der jeweils tiefsten Sehnsucht des nach Erfüllung suchenden Menschen. Die Theologie Eugen Bisers bleibt eine von den anderen mystischen Wegen innerhalb und außerhalb des Christentums als eigenständig zu unterscheidende Form der Mystik. Damit ist sie eines unter den potenziell unendlich vielen Angeboten mystischer Theorien. Gerade darin scheint mir ihr besonderer Wert zu bestehen!

Literatur zur Thematik ,Mystik‘ im Werk Eugen Bisers (Auswahl): -Begriff und Ekstase. Vom mystischen Grund der Erkenntnis, in: Münchener Theologische Zeitschrift 35 (1984) 182–200. -Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 1987, vor allem S. 118–124. -Der inwendige Lehrer. Spiritualität am Morgen des mystischen Zeitalters, als Manuskript hg. von der Katholischen Akademie Augsburg (= Akademie-Publikation Nr. 86), Augsburg 1989. -Mystik und Kritik. Joseph Bernhart im Spannungsfeld von Augustin und Nietzsche, in: Glaubenszeugnis. Kunst – Kritik – Mystik, als Manuskript hg. von der Katholischen Akademie Augsburg (= Akademie-Publikation Nr. 89), Augsburg 1991, 57–77. -Paulus. Zeuge, Mystiker, Vordenker, München 1992. -Der inwendige Lehrer. Der Weg zur Selbstfindung und Heilung, München 1993. -Vorwärtsgewandte Mystik. Hinweise auf das Werk Gertrud von Le Forts, in: Münchener Theologische Zeitschrift 45 (1994) 179–184. -Gehört und Gesehen. Zur mystischen Herkunft der künstlerischen Inspiration, in: Polyaisthesis 3 (1995) 17–22. -Die Geburt der Weisheit aus dem Schweigen, in: Emanuele Curzel (Hg.), In factis mysterium legere. Miscellanea di studi in onore di Iginio Rogger in occasione del suo ottantesimo compleanno, Bologna 1999, S. 414–413. -Aufriß einer integrativen Mystik, in: Johannes Schaber (Hg.), Eugen Biser. Leben – Werk – Wirkung, Leutesdorf 2000, S. 73–85. -Kapitel Die Frage der Esoterik, in: Die Entdeckung des Christentums. Der alte Glaube und das neue Jahrtausend, Freiburg / Basel / Wien 2000, S. 351–362. -Kapitel Esoterik, in: Glaubenserweckung. Das Christentum an der Jahrtausendwende, Düsseldorf 2000, S. 191–229. -Kapitel Der Mystiker, in: Der unbekannte Paulus, Düsseldorf 2003, S. 93–137. -Kapitel Ich bin es – Von der Christologie zur Christomathie, Der gegenwärtige Paulus und War Paulus ein Mystiker?, in: Michael Albus (Hg.), Keine Angst, glaube nur. Das Eugen-Biser-Lesebuch, Gütersloh 2007, S. 57–204.

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-Das Mysterium der Einwohnung. Eine spirituelle Einübung, in: Christian Schaller, Michael Schulz, Rudolf Voderholzer (Hg.), Mittler und Befreier. Die christologische Dimension der Theologie (= FS Gerhard Ludwig Müller), Freiburg / Basel / Wien 2008, S. 345–358. -Mystik und Therapie, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik 7 (2010). Unveröffentlichte Manuskripte: -Mystik und Therapie. Eine Gleichung mit zwei Unbekannten, 4 S. -System und Mystik. Karl Rahner fortdenken, 7 S. Vgl. auch die Auswahl von Biser-Texten zur Mystik in: Erwin Möde (Hg.), Das Eugen Biser Lesebuch, Graz1996, 187–246 (= IV. Kapitel: Die mystische Dimension). Für die bibliographischen Hinweise danke ich Monika Schmid von der Eugen-Biser-Stiftung (München).

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Eugen Biser und die Zukunft der Theologie

Wenn man einen Denker in den Blick bekommen und dem Rang seines Werkes gerecht werden will, muss man zunächst nach dem Gegenstand seines Denkens und der diesem Gegenstand angemessenen Methode fragen. Davon ausgehend lassen sich dann die Kriterien gewinnen, nach denen ein sachlich begründetes Urteil über Qualität und historische Bedeutung eines Lebenswerkes möglich wird. Unter diesem Anspruch sollen die Grundzüge (2.) der Theologie Eugen Bisers erarbeitet werden. Ein Rückblick auf den Gang der abendländischen Theologie (1.) soll die angemessene Perspektive auf das Spezifische der Biser’schen Theologie eröffnen. Einige Gedanken zur Bedeutung dieser theologischen Konzeption für die Zukunft des Christentums (3.) und eine Würdigung der Person und des Werkes von Eugen Biser (4.) beschließen diese Überlegungen.

1. Der theologiegeschichtliche Hintergrund Christliche Theologie denkt über Gott nach, insofern er sich in Jesus Christus dem Menschen zu dessen Heil mitgeteilt und erschlossen hat. Voraussetzung ist also der Glaube daran, dass sich Gott in der Geschichte geoffenbart hat, und dass dieser Prozess der Selbstmitteilung und Selbsterschließung des absolut transzendenten Gottes in einer geschichtlichen Gestalt kulminiert: in Jesus Christus. Diese Geschichte Gottes mit dem Menschen hat im Alten und Neuen Testament ihren verbindlichen Niederschlag gefunden. Es geht dabei also um eine Gotteserfahrung in der Geschichte. Das Wesen des Christentums ist deshalb nicht eine Wahrheit, sondern eine Person. Als geschichtliches Faktum ist diese Selbsterschließung Gottes nur mit den geschichtlichen Kategorien der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zu beschreiben. Dieses Ereignis lässt sich weder begründen noch kann man seine innere Notwendigkeit aufdecken. Es hat seinen alleinigen Grund in der Freiheit Gottes. Was immer mit dieser Selbsterschließung zu tun hat, ist dem Menschen nur geschichtlich vermittelt und deshalb nie in seiner Absolutheit zugänglich. Das Christentum ist in seiner Daseinsweise von seinem Ursprung her grundsätzlich geschichtlicher Natur und kann deshalb nie in eine übergeschichtliche Wahrheit hinein aufgehoben werden. Die Rückbindung an das historische Fundament ist in den Schriften des Neuen Testaments durchgehend präsent. In dieser Rückbindung hat die Zukunftsoffenheit des Christentums ihren unverzichtbaren Grund.

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Was ist nun näherhin unter Offenbarung Gottes in Jesus zu verstehen, was bedeutet es, dass der logos, das Wort Gottes, durch seine Menschwerdung in unsere Geschichte eingetreten ist? Zunächst soll ein Missverständnis ausgeschlossen werden, das mehr oder weniger unreflektiert mit dem Wort Offenbarung verbunden wird und gerade deshalb für das allgemeine Glaubensbewusstsein nicht ohne negative Auswirkung geblieben ist. Das Bild, das mit dem lateinischen Wort „revelatio“ verbunden ist, legt eine Fehldeutung nahe: Der Vorhang vor dem Geheimnis „Gott“ wird zurückgezogen. Was dem Menschen bisher verborgen war, ist offenbar geworden im Sinne von Information und Belehrung über Gott und Welt. Derartige Vorstellungen führen in die Irre und sind deshalb mit Entschiedenheit zu verwerfen. Menschwerdung des Wortes ist Gott, insofern er sich selbst dem Menschen mitteilt. Dieses göttliche Handeln, seine Selbstmitteilung, impliziert seine Selbsterschließung. Gott, das absolute, vom Menschen nie begreifbare Geheimnis, erschließt sich in der Inkarnation als der Gott, der will, dass alle Menschen gerettet werden, und der diese Zusage nie mehr zurücknehmen wird. Er hört deshalb nicht auf, für den Menschen das unbegreifliche Geheimnis zu sein, aber er eröffnet dem Menschen seinen Heilsplan und Heilswillen (Eph 1,3–14) und offenbart sich darin als die Liebe (1 Joh 4,16). Dadurch kommen Sinn und Ziel von Schöpfung und Geschichte in den Blick. In Christus ist Gott selbst der Weg, der in die alles einbeziehende Vollendung führt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Im Menschen ist die Schöpfung darauf angelegt, durch die Selbstmitteilung Gottes vollendet zu werden. Aus dem Gesagten wird einsichtig, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zwei Dimensionen umgreift: die Selbstmitteilung und die Selbsterschließung, das Handeln Gottes am Menschen und die Deutung des Heilsereignisses im Lichte des Auferstandenen, wie sie in der Schrift ihren Niederschlag gefunden hat. Grundlegend und allein entscheidend ist das Handeln Gottes. Mit unterschiedlichen Bildern und Worten bringt das Neue Testament das Christusmysterium als lebendige Gegenwart Gottes zur Sprache. Gott nennt uns „seine Kinder“, und durch sein wirkmächtiges Wort sind wir es (1 Joh 3,1). Durch den Geist sind wir in Christus, und Christus ist in uns (Gal 2,20). Er wohnt durch den Glauben in den Herzen der Menschen und ist durch die Seinen in der Welt gegenwärtig. Durch den Glauben an Gott haben wir schon in dieser Welt den Tod überwunden (1 Joh 3,14). Jesus ist kein Religionsstifter, der – wie andere – nur in der Erinnerung seiner Anhänger eine ständig schwächer werdende Wirkungsgeschichte hat. Als der Auferstandene ist er lebende und lebendigmachende Gegenwart. Die spätere Theologie wird dieses ursprüngliche, unverfügbare Handeln Gottes als „infusio gratiae“ bezeichnen. Die Selbstmitteilung Gottes ist damit abgeschlossen. Über das Christusmysterium hinaus kann es kein Mehr an Offenbarung, kann es keine weitere Offenbarung geben. Um der Identität der Sache willen war, bedingt durch das Ausbleiben der Parusie, die schriftliche Fixierung erforderlich geworden. Aus diesem Grund ist das Christentum keine primäre Schriftreligion. Dass diese schriftliche Fassung nur unter den Bedingungen der wesenhaften Geschichtlichkeit der Offenbarung selbst und des die Selbsterschließung Gottes vernehmenden Menschen geschehen konnte, ist unmittelbar einsichtig.

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Damit ist ein Problem angesprochen, das in der Begegnung des frühen Christentums mit der spätantiken Welt höchste Aktualität erlangen sollte und in der Geschichte des Christentums eine bisher singuläre Zäsur darstellt. Es beginnt damit eine neue Phase der Auslegung und des Verständnisses christlicher Wirklichkeit und christlichen Glaubens. Wegen der wesenhaften Geschichtlichkeit müssen die theologische Reflexion und Begriffsbildung mit großer Sorgfalt darauf bedacht sein, dass sie der heilsgeschichtlichen Dynamik und dem existentiellen Anspruch ihres Gegenstandes gerecht werden. Gelingt das nicht, verliert die christliche Botschaft ihre Offenheit für die Zukunft und ihre eschatologische Grundausrichtung. Bald nach der biblischen Zeit begann die methodische Durchdringung und Entfaltung der verschiedenen zentralen Inhalte des Evangeliums. Das Vorverständnis, von dem her Probleme aufgeworfen und Antworten gesucht wurden, war nun das der griechischen Metaphysik, das sich grundsätzlich von dem Denkhorizont der jüdisch-christlichen Tradition unterscheidet. Bei der Begegnung von Spätantike und Christentum ging es deshalb nicht nur um die Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische, die Schwierigkeiten ergaben sich auch nicht primär aus der unterschiedlichen Beantwortung von Einzelfragen, die Problematik hatte vielmehr ihren tiefsten Grund in den allem vorausliegenden Denkformen. Metaphysik als in sich geschlossene, statische Weltdeutung auf der einen Seite und Heilsgeschichte als offener Prozess auf der anderen Seite sind von ihrem Ursprung her unvereinbar. Diese Inkompatibilität im Vorfeld aller Inhalte konnte nicht in den Blick kommen, denn der Horizont wird als Horizont nie erfasst. Aber alles, was wir begreifen, begreifen wir nur in einem bestimmten Horizont. Erst wenn das erkennende Subjekt in eine andere geschichtliche Epoche eingetreten ist, eröffnet sich eine Perspektive, die es ermöglicht, ein vergangenes Verstehensapriori als solches zu erkennen. Der epochale Umbruch am Ausgang der Patristik und die daraus erwachsenden Probleme deuten sich schon in der Sprache an. Die theologische Diskussion wird mit Begriffen geführt, für die es in den Schriften des Neuen Testaments noch nicht einmal ein Äquivalent gibt, und deren genaues Verständnis auch damals erst noch erarbeitet werden musste, was an den Begriffen „substantia“, „natura“, „essentia“, „persona“ und deren griechischer Entsprechung leicht gezeigt werden kann. Die Fragen werden im Horizont der Metaphysik gestellt und in diesem Horizont beantwortet. Insofern sind Frage und Antwort in sich schlüssig, aber eben nur unter Voraussetzung dieser systematischen Art zu denken. Schon wegen der terminologischen Unsicherheit erhebt sich früh die Frage nach der Identität des Glaubens. Aus dieser Sorge heraus sah sich die Kirche veranlasst, Entscheidungen zu treffen und damit Orientierung zu bieten. Die dogmatischen Formulierungen der frühen Konzilien von Nizäa (325) oder Konstantinopel (381) bringen den Wandel der Denkform mit Nachdruck zu Bewusstsein: Die Heils-Ereignisse, von denen das Neue Testament berichtet, werden ihres Geschehens-Charakters entkleidet und auf den lehrenden Begriff gebracht. Der – zumindest formale – Bruch mit dem Ursprung der christlichen Botschaft liegt unmittelbar vor Augen. Man braucht nur das Neue Testament aufzuschlagen und damit einen Text einer späteren Epoche, sei es eine theologische Summe des Mittelalters oder ein dogmatisches Lehrbuch des 20. Jahrhunderts oder

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gar eine Sammlung kirchlicher Lehrentscheidungen, zu vergleichen, dann wird verständlich, dass die Frage nach der Identität um der Sache des Christentums willen damals unausweichlich geworden war und auch heute wieder gestellt werden muss. Repräsentativ für diese Wegstrecke christlicher Theologie und christlichen Lebens ist das Spätwerk des lateinischen Kirchenvaters Augustinus. Folgenschwere Entwicklungen negativer Art nahmen von ihm ihren Ausgang. In vielfältigen Brechungen wirken sie bis in unsere Tage nach. Bei der hier gebotenen Kürze können auch die wichtigsten Problemfelder nur stichwortartig angesprochen werden, jedes Urteil ist jedoch durch die Quellen belegt. Der ontologische und anthropologische Dualismus neuplatonischer Prägung wurde zum subjektiven und objektiven Apriori augustinischen Denkens. Er steht damit in direktem Widerspruch zum spezifisch christlichen Welt- und Menschenverständnis mit dessen grundsätzlicher Positivität. Bei Augustinus geraten Materie, Welt und Leiblichkeit in die Negativität dessen, was eigentlich nicht sein sollte und deshalb überwunden werden muss. Ehe- und Sexualmoral sind von dieser unchristlichen und die Menschen traumatisierenden Vorentscheidung bis in unsere Tage geprägt. Von vergleichbar negativer Tragweite für Theologie, Kirche und Welt wurde die Frage nach dem Glauben. Nach christlicher Auffassung muss Glauben in qualifiziertem Verständnis ein Akt personaler Freiheit sein. Auch Augustinus war ursprünglich der Überzeugung, niemand dürfe zum Glauben gezwungen werden. In seiner späten Phase gab er jedoch diese fundamentale christliche Überzeugung auf und vertrat die für die Theologie ebenso wie für die Kirche und Profangeschichte verhängnisvolle These, man dürfe und man solle den Menschen zwingen, in die Kirche einzutreten: „compellite intrare“. Hinter diesem Wandel von der Glaubensfreiheit zum Glaubenszwang steht ein Prozess, in dem das Christentum zunehmend mit der Kirche und deren Glaubenslehre identifiziert wurde. Die subjektive Dimension des Glaubens trat immer mehr in den Hintergrund. Glauben wurde als ein Fürwahrhalten von Sätzen verstanden. Dadurch wurde das Heil der Menschen ausschließlich von der Zugehörigkeit zur Kirche abhängig gemacht: „extra ecclesiam nulla salus“. Aus dieser Überlegung heraus hat Augustinus Zwang höher eingestuft als Toleranz. Ohne dass man sich dessen bewusst gewesen wäre, geschah in dieser Entwicklung Ungeheuerliches: Die absolute Unverfügbarkeit Gottes und seines Heils, die Freiheit seiner Selbstmitteilung und seines Handelns in der Geschichte werden – das ist die nicht reflektierte innere Konsequenz dieses Ansatzes – in Frage gestellt, wenn nicht gar der Kirche untergeordnet. Durch das „extra ecclesiam nulla salus“ werden die Dienstfunktion und der vermittelnde Charakter der Kirche verfehlt, denn die Kirche selbst ist nicht das Heil und kann deshalb auch nicht darüber verfügen. Darin kündigt sich eine Gefahr an, die dazu führt, dass sich die Kirche unbemerkt von ihrem Ursprung löst und sich selbst an die Stelle jener Wirklichkeit setzt, auf die hin sie vermitteln und verweisen soll. Solche Tendenzen lagen in der Zeit. Es war aber Augustinus, der das Axiom „extra ecclesiam nulla salus“ theoretisch untermauert hat. Ein weiteres Problemfeld muss angesprochen werden: Augustins Erbsündentheorie. Nach diesem Theologumenon haben alle Menschen in Adam gesündigt und deshalb den

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ewigen Tod verdient. Gott handelte gerecht, wenn er alle verdammen würde. Nach einem unerforschlichen Ratschluss hat er aus der „Sündenmasse“ Menschheit die Mehrzahl zum Untergang und nur wenige zur Seligkeit bestimmt. An den Geretteten zeigt Gott, dass er nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig ist. Mit dieser Lehre von einer doppelten „Prädestination“ hat Augustinus das Gottesbild des Neuen Testaments und damit die zentrale Botschaft Jesu in ihr Gegenteil verkehrt: Aus dem Gott der vorbehaltlosen Liebe hat er einen Willkürgott gemacht, der nur Schrecken und Angst verbreitet. Für die Folgezeit war Augustinus die unangefochtene Autorität in Theologie und Kirche. Die verheerende Wirkung dieses Gottesbildes lässt sich durch die Jahrhunderte verfolgen. Im Mittelalter wurde die Botschaft des Neuen Testaments unter dem Anspruch des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs endgültig auf den Begriff gebracht. Theologie wurde zur Wissenschaft. In genialen theologischen Summen wurde die Lehre des Christentums zusammengefasst und in ein in sich kohärentes und schlüssiges System gebracht. Der Bezug zur Wirklichkeit ging immer mehr verloren. Man betrieb Theologie als „Konklusionstheologie“. Die Glaubensartikel wurden als Erkenntnisprinzipien verstanden, von denen man auf dem Wege der Schlussfolgerung, der „conclusio“, neues Wissen in Gestalt von in sich richtigen Sätzen ableiten konnte. Diese Methode führt in die Breite, aber nicht unbedingt in die Tiefe. Die Fragwürdigkeit der auf diesem Wege gewonnenen „neuen Wahrheiten“ liegt insbesondere darin, dass auf diese Weise die Anzahl richtiger Sätze vermehrt wird, dass diese sich aber immer weiter vom Ursprung und vom Fundament des Christentums entfernen und Gefahr laufen, die Wirklichkeit, von der eigentlich gesprochen werden sollte, aus den Augen zu verlieren. Solcherart Theologie zu betreiben, führt zu einer pseudotheologischen Vielwisserei. Blicken wir zurück: Am Anfang des Christentums steht die geschichtliche Wirklichkeit der Person Jesu, das Christusmysterium, das jeder Verfügung durch Menschen entzogen ist. Dessen authentische Bezeugung und normative Auslegung in der Schrift ist der Ursprung von christlicher Theologie und zugleich die Basis für alle künftige Theologie. Durch die Begegnung mit dem metaphysischen Denken der Spätantike – ein Vorgang, der damals unvermeidlich war und sein Recht hatte – wurde die unverzichtbare Rückbindung an das Christus-Ereignis in dem Versuch, die christliche Botschaft zu einer in sich kohärenten Lehre zu machen, gelockert. Dadurch kam in zentralen Fragen die Identität des Christentums für lange Zeit nicht mehr angemessen zur Geltung. Diese bedenkliche Entwicklung hat in der sogenannten Neuscholastik ihren Höhepunkt erreicht und wurde durch die Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils (1869– 1870) verbindlich festgeschrieben. Man hatte vergessen, was Thomas von Aquin noch wusste und nachdrücklich ins Bewusstsein rief: Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Worte und Sätze handeln – „Actus autem credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem“ (Summa theologiae II/II quaestio 1 art. 2 ad 2).

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2. Der theologische Ansatz von Eugen Biser. Einsichten und Konsequenzen Was die zentralen Probleme angeht, hat Eugen Biser schon früh den doppelten Bruch in der christlichen Tradition scharfsichtig erkannt und überzeugend diagnostiziert. In formaler Hinsicht bestand dieser Bruch im Umschlag von der Lebenswirklichkeit zum System, vom geschichtlichen Ereignis zu einer Lehrgestalt, die die konkrete Wirklichkeit auf den allgemeinen Begriff brachte und dadurch in sich abschloss. An die Stelle der in Christus präsenten Wahrheit der Person trat der Wahrheitsanspruch absoluter Sätze und nach den Prinzipien griechischer Metaphysik entworfener Systeme – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der andere, vielleicht noch gravierendere Bruch mit der Grundbotschaft des Neuen Testaments war die Pervertierung des Gottesbildes: Aus dem Gott der vorbehaltlosen Liebe wurde ein Angst und Schrecken verbreitender Willkür-Gott. Beide Fehlentwicklungen wirken bis in unsere Gegenwart nach. In dieser fragwürdigen, ambivalenten Situation setzt die Theologie von Eugen Biser an – und darin unterscheidet sie sich von der traditionellen Theologie. Bisers ganzes Bemühen konzentriert sich darauf, das Christentum von einem abstrakten und in sich geschlossenen Lehrsystem zur konkreten Wirklichkeit und so zu seiner ursprünglichen Identität zurückzuführen. Es ist deshalb unmittelbar einsichtig, dass Biser nicht im Horizont der griechischen Philosophie denkt, die nur nach dem bleibenden Wesen, nach dem Allgemeinen und den unveränderlichen Strukturen fragt, dem Veränderlichen jedoch, dem, was sich in der Geschichte ereignet, keinerlei Bedeutsamkeit beimisst und deshalb zum Innersten des Christentums keinen Zugang hat. Der Horizont, in dem Biser Christsein reflektiert, ist die Heilsgeschichte. Die genuin christlichen Grundkategorien der Einmaligkeit, der Personalität, Subjektivität und Freiheit treten damit ins Zentrum der Theologie. Sie allein sind geeignet, das Spezifische der christlichen Offenbarung und des Menschen in den Blick zu bekommen. Als Existentialphilosoph und „konkreter Theologe“, wie er sich selbst versteht, fragt Biser nicht nach dem Allgemeinen, sondern nach der konkreten Wirklichkeit. Mit dieser Fragestellung vollzieht er eine den Gang seiner Theologie vorentscheidende Wende hin zur Mitte und zum Ursprung des Christentums: von der isoliert gesehenen Botschaft und Lehre zum Botschafter selbst, zu Jesus Christus, in dem sich Gott den Menschen erschlossen und mitgeteilt hat. Da der Mensch der Adressat der Offenbarung ist, führt der Weg zum rechten Verstehen der Offenbarung über ein angemessenes Verständnis des Menschen. Die Existenzanalyse ist deshalb ein konstitutives Element der Theologie von Eugen Biser. Der Einzelne in seiner konkreten geschichtlichen Situation, mit der ihn ständig bedrängenden Frage nach dem Sinn des Lebens, ist der Gegenstand seiner mit großem Einfühlungsvermögen durchgeführten Daseinsanalyse. Nicht zuletzt dank seines universalen Wissens und einer hohen Kompetenz auf allen Gebieten der Kunst ist es Biser gegeben, das Innere des Menschen auszuleuchten, seine Nöte und Ängste aufzuspüren und nach dem „Wo“, nach dem möglichen Ort menschlicher Geborgenheit, zu fragen. Aus dieser Ex-

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plikation des Menschen ergibt sich die Frage, auf die die Offenbarung antworten muss, wenn sie vom Menschen vernommen und verstanden werden soll. Die Mitte und die Norm des Evangeliums ist Jesus Christus selbst. Von diesem Zentrum aus entwirft Eugen Biser mit unbeirrbarer Konsequenz seine Theologie. Er eröffnet damit Perspektiven und Kriterien, die manche vertrauten theologischen Vorstellungen und Denkmodelle in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen und Anderes als mit dem Christentum unvereinbar eliminieren. Das Grunddatum seiner Theologie, der „Protokollsatz“, wie Eugen Biser zu sagen pflegt, ist die Auferstehung Jesu von den Toten. Ohne sie gäbe es kein Neues Testament, kein Christentum und keine Kirche. So steht bei Biser die Christushermeneutik am Anfang, das interpretierende Verstehen der Gestalt und der Lebensleistung Jesu – Eugen Biser spricht von einer „Christologie von innen“ –, mit der Frage, wie Jesus zu seinem Gottes- und Selbstverständnis kommt, und wie sich beides den Glaubenden, und damit der Glaubensgeschichte, vermittelt. Die grundlegende Botschaft, die sich darin manifestiert, ist das besondere Verständnis Gottes, den Jesus als den bedingungslos liebenden Vater erfahren und verkündet hat. Dadurch, dass er das Angst- und Schreckenerregende aus dem Gottesbild der Menschheit tilgte, „erwies er sich“, so Eugen Biser, „als der größte Revolutionär der Religionsgeschichte“. Die Beseitigung der Gottesangst – und das impliziert die Überwindung der Todesangst – ist Erlösung und Befreiung in einem. Die den Menschen ständig bedrängende Sinnfrage ist damit grundsätzlich positiv beantwortet. Der häufig geäußerte, aber deshalb nicht weniger törichte Einwand, Biser würde mit seiner Grundüberzeugung vom vorbehaltlos liebenden Gott der Beliebigkeit das Wort reden, verkennt, dass höchste Liebe zugleich in höchstem Maße in die Pflicht nimmt. Die in Christus bleibend präsente Botschaft von der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes ist das authentische Interpretament, das allein verbindliche Auslegungsprinzip aller normativen Texte des Christentums, auch des Neuen Testaments. Diese Texte müssen immer wieder neu auf jene Mitte und Wirklichkeit hin gelesen und ausgelegt werden, von der sie Zeugnis geben. Das Christentum ist keine primäre Schriftreligion. Weil die Schriften des Neuen Testaments unter der Aporie der „verlorenen Gleichzeitigkeit“ und der geographischen Ausbreitung des Urchristentums entstanden sind, besteht die Freiheit des interpretierenden Umgangs mit ihnen, „wenn nicht sogar zu ihrer Umgestaltung und Neufassung“, so Eugen Biser. Im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu formuliert Eugen Biser eine Frage von besonderer Tragweite, die gewöhnlich nicht mit dieser Direktheit gestellt und schon gar nicht beantwortet wird: Wohin ist Jesus auferstanden? Spontan antwortet man: in den Himmel, was immer darunter verstanden werden soll. Nach dem Zeugnis der Schrift – so Eugen Biser – kann die Antwort aber nur lauten: in die Mitte der in seinem Namen Versammelten (Mt 18,20) und damit in die Herzen der Seinen. Mit diesem Gedanken setzt Biser die Wende zum Zentrum des Christentums fort in der Wende von der Vergegenständlichung zur Innerlichkeit. Dabei werden alle Objektivierungen, wie sie uns in der Lehre, in den Dogmen, im Kult und in der Institution begegnen, auf das in ihnen anwesende Mysterium hin durchbrochen und überstiegen – ein Gedanke von außerordentlicher Tragweite.

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Biser macht dadurch mit zwei fundamentalen Grundsätzen authentischer Theologie radikal ernst. Zum einen: Gott wird von keinem Wort begriffen; Gottes Unbegreiflichkeit zu begreifen, ist das Höchste menschlicher Gotteserkenntnis. Und zum anderen: Gott wird mit keiner Sache identisch – diese Einsicht ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil dadurch jede Art von magischer Fehldeutung der Sakramente von vorneherein ausgeschlossen wird. Diese Rückführung nach innen mündet mit zwingender Folgerichtigkeit in „die glaubensgeschichtliche Wende“, ein Thema, dem die Aufmerksamkeit von Eugen Biser in besonderem Maße gilt. Nicht zuletzt sieht er darin entscheidende Ansätze zur Überwindung der gegenwärtigen Glaubens- und Kirchenkrise. Wenn sich das Christentum als Lehre versteht, dann ist die adäquate Form zu glauben das Fürwahrhalten von Sätzen, und zwar im Gehorsam gegenüber der Autorität Gottes bzw. der von ihm beauftragten Institution. Glauben hieße aber dann für den Menschen, sich fremdbestimmen zu lassen, was mit seiner Würde als moralischem Subjekt in Widerspruch stünde. Demgegenüber verlangt Eugen Biser den „Verstehensglauben“, einen Glauben, der zu der von den Sätzen angezielten Wirklichkeit vordringt und sich diese Wirklichkeit, im präzisen Sinne des Wortes, aneignet. Offenbarung, auf die sich Glaube immer beziehen muss, kann deshalb nur als Sinnmitteilung Gottes, der sich selbst zu verstehen gibt, interpretiert werden. Ein in solcher Weise helfender Zuspruch kann aber nicht als ein System von Wahrheiten – wie eine Nachricht – überbracht werden, er ereignet sich allein in der unmittelbaren Erfahrung der Glaubwürdigkeit des Boten. Deshalb ist das Christentum eine „mystische Religion“, d.h. eine Religion der Erfahrung. Schließlich darf Glaube nicht als eine zu erbringende Leistung verstanden werden, für die der Mensch belohnt wird. Glaube muss vielmehr vom Menschen verantwortet werden. Diese verschiedenen Aspekte des Glaubens münden, in Abhebung von möglichen Fehlformen des Glaubens, in die Wende vom „Gegenstands-“ zum „Innerlichkeits-“ und „Identitätsglauben“. Der zur Botschaft und zur Lehre Gewordene muss aus der Vergegenständlichung befreit und als „inwendiger Lehrer“ in den Vollzug des Glaubens hineingenommen werden. Aus dieser zweifachen Wende geht das Christentum verwandelt hervor, es erhält einen völlig neuen Charakter: „Aus der Religion der distanzierten Verehrung wird die des Sich-Wiederfindens in den Mysterien, aus dem Christentum der dogmatischen und moralischen Normierung wird das, das sich an die Wahrheit hält und so in den hineinwächst, der das Haupt ist: Christus“, so Eugen Biser. Diese personale, dialogische Wirklichkeit, die Einwohnung des Geistes, der den Menschen zur Gotteskindschaft erhebt und ihn dadurch zu seiner eigenen Identität führt, das ist die Wahrheit Christi. Christsein ist ein Existenzmodus, keine Theorie. Demgegenüber ist die Wahrheit des Christentums zweitrangig. Sie hat nur in dem Maße eine gewisse Berechtigung, als ihre Vertreter – erfolgreich – versuchen, in ständigem Rückbezug auf die Wahrheit Christi bzw. die Wirklichkeit des Christseins über diese Wirklichkeit nachzudenken. Dabei muss man sich allerdings bewusst bleiben, dass solches Nachdenken nie begreifend ist und nie mit der Sache verwechselt werden darf. Deshalb kann keine Gestalt der Wahrheit des Christentums, auch wenn sie zu einer bestimmten Zeit einmal ihr Recht hatte, Anspruch auf Endgültigkeit erheben.

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Die Wende zur Innerlichkeit ist jedoch nicht das Ende dieses Weges, er verliert sich nicht in sprachlosem Subjektivismus. Aus den Erfahrungen christlicher Existenz und den dabei gewonnenen Erkenntnissen heraus gilt es vielmehr, der Wahrheit Christi in der Welt und für die Welt eine neue Ausdrucksgestalt zu verleihen. In einem „Dialog aus christlichem Ursprung“ soll den Menschen der Daseinssinn vermittelt werden, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Menschen aus ihrer Existenznot. Dabei geht es nicht darum, die Welt zu belehren, sondern die Welt „in das Christentum einzuweisen“ – so der Titel eines der Hauptwerke Eugen Bisers – unter der Leitung der biblischen Weisheit, die, frei von Zwang, in die Offenheit führt. Aus dieser neuen, in der Mitte des Christentums verankerten Theologie ergeben sich naturgemäß Konsequenzen, die in vielfachen Brechungen alle Bereiche des Christentums betreffen, angefangen von der Lehrgestalt bis hin zur Struktur der Kirche. Notwendige Selbstkorrekturen der christlichen Lehre sind dabei unausweichlich. Das im strengen Sinne des Wortes Maßgebende und deshalb das Wichtigste dieser von Biser konsequent vollzogenen Wende vom System zur Lebenswirklichkeit ist die erneute, weitgehend verlorengegangene Zentrierung auf die Mitte des Evangeliums. Das bedeutet Relativierung in einem positiven und notwendigen Sinne und hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, weder auf dogmatischem noch auf moralischem Gebiet. Von dieser Wende ist in erster Linie die Struktur des Lehrgebäudes betroffen. Das unter dem Anspruch des Wissenschaftsbegriffs griechischer Philosophie konzipierte idealistische Lehrsystem mit den ihm immanenten absoluten Geltungsansprüchen und Zwangsmechanismen gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit kann nicht weiter aufrechterhalten werden. Der wissenschaftstheoretische Bruch mit einer langen und ehrwürdigen Tradition wird in seiner Auswirkung nicht auf den Bereich der Fachtheologen beschränkt bleiben. Das muss fast unumgänglich in weiteren Kreisen zu Irritationen führen. Wer gewohnt ist, die Glaubenssätze für den Gegenstand des Glaubens zu halten, wird sich zumindest anfänglich schwertun, die Differenz zwischen der Wirklichkeit und der Rede von der Wirklichkeit zu realisieren. Es ist der Schritt, so formuliert es Biser, von der Fassade am Dom des Glaubens in das Innere dieses Doms selbst. Es geht dabei nichts verloren, aber es erscheint alles in einem völlig neuen Licht, weil das Ganze auf Gott zentriert ist. In diesem Licht wird vieles, was im Laufe der Geschichte der Vergegenständlichung in den Vordergrund drängte, seinen angemessenen Platz an der Peripherie erhalten und dadurch an Gewicht verlieren und die Mitte für das Eigentliche freimachen. Manches hochgespielte Problem, an dem man heute vielleicht meint, die Identität des Christentums festmachen zu müssen, wird gar als gegenstandslos verschwinden und dadurch die allein angemessene Lösung erfahren. Wenn das theologisch verantwortet geschieht, dann bedeutet das nicht Traditionskritik in einem negativen Sinne, sondern Abwerfen von im Laufe der Geschichte zugewachsenem, heterogenem Ballast. Aber auch ernsthafte theologische Probleme werden sich durch diese Innensicht neu und anders darstellen. Insbesondere wird sich zeigen, dass manche theologische Kontroverse mehr ein Streit um vorausgesetzte philosophische Konzeptionen und dadurch bedingte sprachliche Formulierungen war als ein Ringen um den Gegenstand selbst. Nicht zuletzt wird für das ökumenische Gespräch diese Innensicht der Mysterien des

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Glaubens über Formulierungen hinaus zur Sache selbst und dadurch leichter zu einem Konsens führen, denn Biser denkt nicht von der Differenz dogmatischer Formulierungen, sondern von dem Einheitsgrund christlicher Wirklichkeit her. In diesem Zusammenhang notwendiger Selbstkorrektur christlicher Lehre nennt Biser an erster Stelle die sogenannte „Satisfaktionstheorie“, da sie geradezu sadistische Züge in das christliche Gottesbild einzeichne. Der Gedanke, dass Gott als Sühne den grausamen Tod des eigenen Sohnes fordere, damit ihm selbst Genugtuung für die Sünde und Schuld der Menschen geschehe, steht in diametralem Gegensatz zu dem Gott der Liebe, den Jesus verkündet hat, und verstärkt die Meinung, das Christentum sei eine auf dem Opfergedanken gegründete „asketische Religion“. Dieses Theologumenon, das in popularisierter Form eine Überlegung des Mittelalters aufnahm, war einmal ein soziokulturell bedingter, schon lange aber überholter Versuch, Erlösung zu deuten, und hat entscheidend dazu beigetragen, die eigentliche Botschaft des Christentums zu verdunkeln. Auch das traditionelle Verständnis der Strukturen der Kirche muss hinterfragt und einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Die Erhebung des Menschen zur „Gotteskindschaft“ – eine der zentralen Aussagen im Neuen Testament und folgerichtig ein Grundgedanke der Theologie Eugen Bisers – impliziert eine tiefgreifende Korrektur des traditionellen, zentralistischen Kirchenverständnisses. Der Gedanke, dass durch Jesus Christus alle Menschen Kinder Gottes werden, verlangt die fundamentale Gleichheit und grundlegende Ebenbürtigkeit aller Kirchenangehörigen. Schon das Zweite Vatikanum (1962–1965) hat diesen Sachverhalt nachdrücklich herausgestellt. Durch die heute offenkundigen Tendenzen, das Konzil zu unterlaufen, werden diese Einsichten aus dem Bewusstsein mancher kirchlichen Amtsträger verdrängt. Die schwerwiegenden Fehlentwicklungen innerhalb der Kirche, die mit den Schlagworten Papalismus, Klerikalismus, Laizismus gekennzeichnet werden und der Kirche und dem Christentum großen Schaden zugefügt haben, sollten endlich überwunden werden. Im Blick auf die grundlegende Gemeinsamkeit aller Kirchenglieder steht die Differenzierung innerhalb der Kirche durch Bischofs- und Priesterweihe an zweiter Stelle. Die durch Taufe und Firmung begründete Gemeinsamkeit wird durch den Ordo nicht aufgehoben, sondern aus- und umgestaltet. Die Sendungsaufgabe – Priesteramt, Lehramt, Hirtenamt – ist der Kirche eingestiftet, und alle ihre Glieder nehmen daran teil, die Laien natürlich auf andere Weise als die Kleriker. So ist die Kirche also weder Papstkirche noch Laienkirche – als eine und ganze ist sie die christliche Kirche. Damit ist gesagt, dass die ganze Kirche – auch die Hierarchie – grundsätzlich auch hörende Kirche ist. Ebenso steht das Lehramt unter der Norm der Offenbarung und unterliegt in dieser Hinsicht den gleichen Voraussetzungen wie die Theologie. Von der Sache her ist deshalb vom Lehramt gefordert, gesicherte Ergebnisse der wissenschaftlichen Theologie in lehramtliche Entscheidungen einzubeziehen. Wenn die Erkenntnisquelle der Theologie der Glaube der Gesamtkirche ist, und wenn die Lehrgewalt beim Papst in Verbindung mit dem Gesamtepiskopat liegt, dann sollte es solche theologischen Kontroversen, wie wir sie immer wieder erfahren müssen, nicht mehr geben.

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3. Zukunftsperspektiven Das formalmethodische Prinzip der Theologie von Eugen Biser ist der Dialog. Voraussetzung dafür ist der Durchbruch von der Wahrheit des Christentums zur Wahrheit Christi. Über absolute Wahrheitsansprüche kann man in kein Gespräch eintreten. Gerade mit ihrer Berufung auf Gott grenzen sie ab und errichten Mauern. Lehren und Definitionen stehen am Ende dieses Prozesses. Christus, der mit der Botschaft identische Bote, entschwindet im Hintergrund. Wenn also Dialog möglich sein soll, dann muss Wahrheit personal, als Wahrheit Christi, konzipiert werden. Nur dadurch wird die Kirche prinzipiell dialogfähig und damit offen für alle Menschen – eine unverzichtbare Forderung der christlichen Botschaft. In vier konzentrischen Kreisen muss dieser Dialog nach der theologischen Grundintention von Eugen Biser angesetzt und durchgeführt werden: zunächst, und das ist der erste Kreis, im innerkatholischen Raum. Eugen Biser versteht die Selbsterschließung des trinitarischen Gottes als ein den Menschen einbeziehendes, dialogisches Geschehen. Theologie und christliche Praxis müssen deshalb grundsätzlich dialogischen Gesetzen folgen. Auch die theologische Wahrheitsfindung muss in kommunikativer Auseinandersetzung geschehen. Der Weg der Verordnung von oben nach unten wird der richtig verstandenen Struktur der Kirche als Volk Gottes in keiner Weise gerecht. Ein zweiter Kreis – und damit die nächste Ebene des Dialogs – ist das Gespräch zwischen den christlichen Konfessionen. Theologische Streitereien über Formulierungen der vergegenständlichten Wahrheit des Christentums dürfen in keinem Fall die christliche Ökumene beherrschen. Im Vordergrund muss vielmehr das Ringen um die Einheit aus der Wahrheit Christi stehen. Einen dritten, noch umfassenderen Kreis bildet der Dialog mit den abrahamitischen Religionen, dem Judentum und dem Islam. Der vierte konzentrische Kreis umgreift schließlich alle Religionen und Weltanschauungen, die unterschiedlichen Ausprägungen des Agnostizismus und Atheismus eingeschlossen.

4. Würdigung Wer die äußere Lehrgestalt der Kirche mit der Sache des Christentums identifiziert, dem mag das Lebenswerk von Eugen Biser wie ein Beitrag zur Destruktion des Christentums erscheinen; erste Stimmen in diesem Sinne sind bereits zu vernehmen. Solches braucht nicht weiter zu beunruhigen, es ist das Kennzeichen von Umbruchzeiten, wie ein Blick in die Theologiegeschichte lehrt. Beginnend bei den Kirchenvätern, steht Eugen Biser selbstverständlich in der großen Tradition der abendländischen Theologie. Er kennt ihre Wege und Umwege ebenso wie ihre gelegentlichen Abwege. Stark beeinflusst von Sören Kierkegaard und in ständiger Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, hat er Impulse der Theologie des 20. Jahrhunderts, vor allem des Zweiten Vatikanischen Konzils, aufgenommen; er hat

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sie in seinem Werk mit der ihm eigenen theologischen Kompetenz koordiniert und mit allen Konsequenzen in eigener Verantwortung weitergedacht. Bei der Würdigung der Theologie von Eugen Biser ist ein Doppeltes zu beachten. Zunächst einmal liegt die Bedeutung seiner Theologie in der Plausibilität ihres Ansatzes und in der Stringenz und Konsequenz ihrer Durchführung. Darüber hinaus tritt aber – davon war wiederholt die Rede – der Rang seines theologischen Gesamtentwurfs erst dann ins Bewusstsein, wenn man dessen Stellung in der Entwicklung der abendländischen Theologiegeschichte berücksichtigt. Das war der Grund, weshalb ich in einem ersten Schritt etwas weiter ausgegriffen habe. Bisers Lebensleistung korrespondiert jenem Prozess im 3. und 4. Jahrhundert, in dem das Christentum zu einer Lehre wurde – mit allen negativen Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Mit ausdrücklichem Bezug darauf geht Eugen Biser den umgekehrten Weg und führt dadurch das Christentum zu seiner ursprünglichen Identität zurück. Man kann sich fragen, ob Eugen Biser ein konservativer oder ein progressiver Theologe ist: Einer solchen äußerlichen Etikettierung entziehen sich seine Person und sein Werk. Eugen Biser war nie konservativ in dem Sinne, dass er die Absicht verfolgte, innerhalb der kirchlichen Hierarchie Karriere zu machen. Er war nie progressiv, um in die Schlagzeilen der Tagespresse zu kommen. Ohne inneren Bruch – man kann das in seiner Theologie nachvollziehen – ging es ihm immer und allein um das Zentrum, um die Sache des Christentums, ohne Rücksicht auf Beifall oder Missbilligung. Der Wahrheit Christi galt und gilt seine ganze Schaffenskraft. Gerade deshalb impliziert seine Theologie eine revolutionäre und zugleich evolutionäre Dynamik. So kann er von sich selbst sagen: „Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, dass die Kirche im besten Sinn des Wortes unterwandert werden muss, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und dass das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muss, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen. Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“∗



Erstveröffentlichung des Textes in: Mensch und Spiritualität. Eugen Biser und Richard Heinzmann im Gespräch, Darmstadt 2008, 132–141.