Die Macht des Seelischen: Eine organische Psychologie als Lebensorientierung des Einzelnen und der Gesamtheit [Reprint 2019 ed.] 9783486755688, 9783486755671

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German Pages 188 [192] Year 1927

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
A. Krisis und Aufbau
B. Organische Psychologie
C. Psychologie und Lebenspraxis
Schluss
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Die Macht des Seelischen: Eine organische Psychologie als Lebensorientierung des Einzelnen und der Gesamtheit [Reprint 2019 ed.]
 9783486755688, 9783486755671

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Die Macht de« Seelischen Eine organische Psychologie als Lebensorientierung -es Einzelnen und der Gesamtheit Von

Wans Braun

München und Berlin 1927

Druck und Verlag von R.Oldenbourg

Inhaltsübersicht. A. Krisis und Aufbau

Seite

Einleitung...................................................................................................... Don den Lebensbindungen....................................................................... Das Wesen der Gegenwart....................................................................... Unsere seelische Lage...................................................................................

1 3 10 32

k. Organische Psychologie I. Grundbegriffe....................................................................................... Der Willen............................................................................................ Die psychischen Dispositionen.......................................................... Die formalen Funktionsgruppen...................................................... Die Erscheinungsformenim Bewußtsein.......................................... Gefühl............................................................................................... Denken..............................................................................................

44 45 46 49 61 65 69

II. Funktlonsbegrifse.................................................................................

73

Der Psychische Prozeß....................................................................... 73 Wahrnehmung................................................................................. 74 Reflexbewegung............................................................................... 75 Assoziation......................................................................................... 76 Gedächtnis......................................................................................... 79 Phantasie........................................................................................... 82 Illusion............................................................................................. 83 Denken i. eng. Sinn....................................................................... 84 Handeln.............................................................................................. 91 Sprache.............................................................................................. 95 Kunst................................................................................................... 101

Beziehungen der Prozesse................................................................

105

III. Die Gestaltung des Seelischen in der Gegenwart.....................

113

Grunderschelnungen............................................................................. 114 Auswirkungen........................................................................................ 118

Psychologie und Lebenspraxis

Psychologie und Privatleben..................................................................... 152 Psychologie und Staatsleben..................................................................... 165 Psychologie und Erziehung....................................................................... 172

Schluß................................................................................................................... 187

A. Krisis und Aufbau. Unsere Seelenkunde steht heute vor einer Ausgabe, die nicht geringer ist als jene, welche die Naturwissenschaft, oder jene andere, welche die ärztliche Runft im 19. Jahrhundert löste. Naturwissenschaft und Technik befreiten den Menschen aus der engen Gebundenheit der primitiven Weltstellung und ordneten ihm Material und Kräfte der Natur in einem unerhörten Maße unter. Hygiene, Bakterienbekämpfung und Chirurgie nahmen die Geißeln schwerer Erkrankungen von den Völkern und be­ fähigten den einzelnen Menschen, körperliche Krisen in weit glücklicherem Grade, als es je der Fall war, zu überwinden. Heute befinden wir uns in einer schweren seelischen Krisis, die sich in allem Zeitgeschehen zerrüttend auswirkt; sie kann allein durch die Psychologie überwunden werden, wenn und insoweit die Psychologie diese Berufung absieht und, aus der stillen Studierstude des Theoretikers in das reale Weltleben heraus­ tretend, praktisch den Dienst an der Menschheit aufzunehmen vermag.

So vieles uns Naturwissenschaft, Technik und ärztliche Kunst in Zukunft noch bringen werden, die große Anbahnung des hygienischen und des naturwissenschaftlichen Denkens der Allgemeinheit liegt hinter uns; es ist Gemeingut geworden. Die Anbahnung des psychischen Bewußtseins der Massen, auch der führenden Kreise, steht uns noch bevor. In seelischen Dingen denken und handeln wir noch naiv, wie unsere Alt­ vorderen einst über die Natur und die physiologischen Vorgänge naiv dachten und nach solcher primitiven Einsicht handelten. Wir stehen in der Psychologie, so eigenartig das klingen mag, ® taun, Die Macht de» Seelischen.

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erst am Anfang einer Entwicklung; es bedurfte der schweren Rot unserer Zett, um sie anzubahnen. Der Mensch lernt in der Rot. Freilich mutet uns fürs erste der Gedanke abseitig an, Psy­ chologie könne helfen, wo wir Zersetzungskeime des Charakters, der Moral, der geistigen Haltung am Werke wähnen. Don irgendwelchen persönlichen Zeitersahrungen gefesselt, glauben wir der Lehre, die uns bis heute nur als Fachtheorie bekannt ist, nicht die Stärke zutrauen zu können, die uns erforderlich scheint, um in die Belastung unseres Tages hineinzuwirken. Allzuoft hat uns die Blässe oon Theorien enttäuscht, allzu eindringlich sehen wir rings um uns rohe Faktoren siegen. So mag die Psychologie dem Schicksal aller Neulingsideen ausgesetzt sein, zunächst nur skeptisch angehört zu werden. Aber alle wissen wir, daß wir leiden und daß alle die Einzelmatznahmen, die hier und dort ergriffen werden, zu keinem Endersolg führten, oft das Kampffeld nur vergrößerten und die Rot vertieften. Don den furchtbaren Erscheinungen unserer Zeit wird überall ge­ sprochen und wo man schweigt, ist das Leid von den verschlosse­ nen Lippen abzulesen. Unser Lachen ist nicht mehr ftei, unsere Zeitanschauung ist tief pessimistisch, unser Vergnügen ein ge­ waltsames, weil es einen lastenden Druck beseitigen soll. Wäh­ rend wir vergebens eine Vielzahl politischer, sozialer, beruflicher Probleme größten Umfanges zu lösen versuchen, tauchen immer neue, große Zeitftagen auf und verlangen gebieterisch Beachtung; für den Einzelnen ist es, wo immer wir ein Schicksal betrachten, fast immer der Tod, der die Fragen verstummen läßt. Mit den Krisenerscheinungen unserer Zeit beschäftigen wir uns täglich, aber über den Kern unserer Rot wissen wir nichts, wenngleich wir viele Erklärungen zu besitzen glauben. Denn unsere Erklärungen sind fast ausnahmslos rein subjektive Anklagen, keine sachlichen Erkenntnisse. Angeklagt wird die Beschränktheit und die Charakterlosigkeit der Mitmenschen; be­ schuldigt wird der oberflächliche, aber auch der zu sehr im Alten verharrende Lebenssinn von Zeitgenossen; als Ursache werden bezeichnet die politischen Parteiungen, die wirtschaftliche Ein­ stellung, die Auslösung alter Grundsätze, der Mangel an Führer-

naturen, der Einfluß fremder Nationen u. v. a. „Ich klage an t“ ist ein großes Zeitmotto geworden. Aber so lell>enschastlich alle die Anklagen ausgerusen werden, keine kann uns er­ lösen, weil sie alle irgend eine Folgeerscheinung aus der Gesamt­ heit des Zeitgeschehens subjektiv herausnehmen, ohne bis zur gemeinsamen Wurzel vorzudrlngen. Niemals läßt sich eine Zeit verstehen, wenn man nur ihr Äußeres wahrnimmt, nicht die Untergründe kennen lernt, aus denen diese Erscheinungen orga­ nisch hervorgehen. Die Organische Psychologie vermag bis zu dem Kern­ geschehen, zur gemeinsamen Wurzel aller Zeitereignisse vor­ zudringen und so die Zusammenhänge in ihrer natürlichen Gegebenheit aufzudecken. Darin liegt ihre große, gegenwärtige Bedeutung und ihre Ausgabe. Denn das Verstehen bahnt auch der Überwindung den Weg. Sobald man sich einmal der Mühe unterzieht, das eigene Erleben des Alltages genauer, objektiver zu untersuchen, als es gewöhnlich geschieht, wird man gewahr werden, daß dieses Tageserleben sich zusammensetzt aus einer Kette von Klein­ ereignissen, in denen man sich aus seine Weise mit andringenden Erscheinungen, Aufgaben, Konflikten auseinandersetzte. Das Ganze stellt eine Art von Zellendasein vor, in dessen lleinerem Umfang man sich bewegt, während ringsum die weite Welt jener Ereignisse liegt, die uns nicht erreichen, nicht interessieren und beschäftigen. Daß diese Welt viel, viel größer ist als die eigene, in der wir aktiv sind, kommt uns gewöhnlich nicht zum Bewußtsein, weil wir mit den eigenen Angelegenheiten viel zu sehr beschäftigt sind als daß wir Zeit zu solchen uns auch nutz­ los erscheinenden Betrachtungen hätten, und weil das Nahe immer viel größer aussieht als das Entfernte. Wer sehr naiv dentt, glaubt, in all seinen kleinen Hand­ lungen das einzig Richtige getan zu haben; er hält seine An­ schauung für die wahre und steht nicht an, das Denken und Handeln aller anderen Menschen, soweit es nicht mit dem eige­ nen übereinstimmt, als irrtümlich und verwerflich zu bezeichnen. Wer diesen allerengsten Ring gesprengt hat, wird sehen, daß

die anderen Menschen in derselben Lage und denselben Er­ scheinungen gegenüber nicht bloß anders denken und handeln, sondern mit psychischem Sinn, vielleicht mit seelischer Notwen­ digkeit so verfahren, dah man sie also nicht anklagen oder ver­ urteilen, sondern zu verstehen trachten muh, wenn man nicht plump egoistische Ziele verfolgt. Die Welt und ihre Ereignisse sehen sich offenbar in einem fremden Leben sehr oft anders an als im eigenen; in einer ftemden Zelle fließt zwar dasselbe Gegenwartsgeschehen, aber in anderer Form. Sind unsere Erinnerungen treu (was sehr selten ist!), so werden wir diese eigenartige Tatsache sogar in einem Vergleich der eigenen Handlungen, im Abstand der Jahre, gewahr; offen­ bar bleiben wir seelisch nicht durch ein ganzes Leben dieselben, sondern wandeln uns, namentlich dann, wenn durch Beruf, soziale Stellung, Heirat oder Veränderung des Wohnsitzes eine große Umstellung unserer Position eintritt. Gäbe es Lichtbilder unserer seelischen Struktur, so würden wir wahrscheinlich er­ staunt sein, unser seelisches Profil ftüherer Zeiten wesentlich anders als unser gegenwärtiges zu sehen. Denken wir aber weiterhin noch über den gegenwärtigen Alltag persönlicher Prägung hinaus, was bei den meisten Men­ schen selten geschieht, so enthüllt sich uns eine solche Fülle ftem­ den Geschehens, daß wir entweder in lauter unzulängliche Phan­ tasievorstellungen verfallen, deren Unhaltbarkeit jede sachliche Lektüre oder Unterhaltung offenbart, oder wir sehen uns zu sachlichen Forschungen veranlaßt, von denen wir nie hoffen dürfen, daß wir sie vollenden können. Wir befinden uns offensichtlich in einem Riesengeschehen, in dem wir eine Zelle bewohnen und mit unseren Gedanken und Taten füllen, von dem aus einzelne Ereignislinien bis zu uns vordringen, andere uns nur mittelbar, viele gar nicht er­ reichen, und wir bewegen uns in solchem Geschehen organisch nach unseren Fähigkeiten. Unser Leben ist ein organisches im Riesengeschehen des Weltendaseins, es empfängt von dort her seine Antriebe und Impulse, es erfährt in dem subjektiven Zellengeschehen seine persönliche Gestaltung. Anderseits ar­ beitet das kleine Zellengeschehen in seiner Art am Wesen der

Zeit mit; Weltleben und gchleben stellen einen gemeinsamen Organismus dar. Will man die Gestaltung beider verstehen, so muß man zu­ nächst die organischen Bindungen an sich zu erkennen trachten; später kann dann die besondere Formung dieser Zusammenhänge ausgesucht werden, wie sie einer bestimmten Zeit eigen ist. Denn dadurch, daß jede Zeit chre besondere Formung der ele­ mentaren Lebensbindungen besitzt, bekommt ihr Wesen einen einmaligen, zeitpersönlichen Charakter, woraus sich wieder die durch Spengler zum erstenmal dargestellte Tatsache der Existenz wesensfremder Kulturen ergibt. Jede Zeit, auch die unsere, hat ihre organische Grundstruktur. Soweit die Organische Psychologie bis jetzt absieht, schei­ nen drei große Gruppen von derartigen Bindungen zu bestehen: physiologische, soziale und geistige Bindungen. Wir charakte­ risieren sie in Kürzel Der menschliche Körper bedarf zu seiner Existenz der fort­ währenden Stosszufuhr und Ermöglichung einer Reihe von Prozessen. Die Natur bietet ihm hiezu ihre Gaben, aber in unterschiedlicher Fülle, Zusammensetzung, Eigenart und Ge­ stalt; denn sie legt diese Gaben nicht eigentlich für ihn aus, sie haben alle ihr eigengesetzliches Dasein und werden nur von ihm als dem Mächtigeren genützt. Wie wir sie in der Art, in der wir sie finden, nützen müssen, so können wir sie auch nicht anders als in physiologisch-orga­ nischen Prozessen verwerten, die ihrerseits wiederum eine be­ sondere Anpassung und Entwicklung unserer einzelnen Organe und unserer Konstitution bedingen. Es gibt Ernährungsvor­ gänge, die uns fördern, andere, die uns schädigen; alle ziehen gewisse Folgen nach sich. Unsere wichtigsten Organe, Herz, Lunge, Nervensystem, Verdauungsapparat, ja eigentlich jede Zelle, sind von diesen Vorgängen mitbedingt, müssen sich in ihnen erneuern und den jeweiligen Anforderungen anpassen. Es ist unnötig, näher auszuführen, wie sehr diese Vorgänge gleichzeitig aber auch unsere geistige Existenz beeinflussen; die Tatsache, daß unser Bewußtsein diese Zusammenhänge nicht

unmittelbar meldet und vorstellt, kann uns heute über die großen Verbindungen nicht mehr hinwegtäuschen. Der Mensch steht aber der nährenden Erde nicht allein ge­ genüber. Fast immer — und heute int extremsten Maße — lebt er als soziales Wesen. Zwischen ihn und die gebende Natur drängt sich als unentbehrliches Zwischenglied der Mitmensch ein. Don ihm empfängt er, wessen er zu seiner Existenz bedarf; mit chm muß er teilen; für ihn muß er sorgen und arbeiten; ihm muß er Hilfe angedeihen lassen oder sie von ihm erhalten; seinen Einflüssen ist er weitgehend ausgesetzt. Durch ihn ist er sozial gebunden. Der Mitmensch liefert Kleidung, Wohnung, Nahrung, die vielen Gegenstände täglichen Bedarfs, er gibt Beruf, Stellung, Unterhaltung, Anregung, Geselligkeit, er tritt auf als Macht und als Untertane, als Mutter und Vater, als Gatte und Gattin, als Sohn und Enkel. Diele entscheidende und viele seine Fäden verbinden die Menschen untereinander und bedingen jene weitverzweigten Erscheinungen, die wir die sozialen Ver­ hältnisse zu nennen gewöhnt sind. Äne Unsumme von Ansprüchen, Aufgaben, Annehmlich­

keiten und Widerwärttgkeiten fließt aus dieser Richtung in das Leben des einzelnen Menschen ein, vom ersten Tage seines Da­ seins über die Kindheit und das reife Alter hin bis in die letzten Tage hinein; unaufhörlich arbeiten diese Lebenslinien am Wesen eines jeden Menschen, niemand kann sich ihnen entziehen, man kann die Einflüsse nur üdersehen, nicht negieren. Gerade hier läßt sich vielleicht die Kleinarbeit des Lebens am ehesten er­ kennen, sobald man sich der Mühe unterzieht, die tausend sog. Nichttgkeiten des Alltags auf ihre seelische Wirkung hin zu be­ achten oder einen nahestehenden Menschen in seiner heuttgen Eigenart mit seiner früheren Lebensform zu vergleichen. Nur ein relatives Gedächtnis ist die Ursache, wenn wir selbst glauben, immer dieselben geblieben zu sein. Dem Menschen ist aber weiterhin auch die Gabe verliehen, sich ein Bild des ihn umgebenden, für ihn unendlichen Geschehens zu gestalten und sich geistig und seelisch unmittelbar mit der Riesenerscheinung des Weltlebens auseinanderzusetzen. Hier

ruht sein Adel, so deutlich auch vor allem in dieser Beziehung sein Gebundensein in Erscheinung tritt. Er kann versuchen, die Welt denkend zu begreifen, nicht nur zu sehen, was um chn vorgeht, sondem auch den Sinn dieses Geschehens zu erfassen. Dann wird er zum Wissenschaftler. Als solcher sucht er von jeder einzelnen Erscheinung zuerst eine klare Wahrnehmung zu gewinnen; dann erstrebt er ein Urteil und schließlich wagt er auch das Nichtwahrnehmbare an den Erscheinungen durch sein geistiges Kombinationsvermögen zu entdecken. Freilich wird sich sein kleiner Geist sehr bald an der unendlichen Fülle des Geschehens müdelaufen und der Tod wird ihm das Werkzeug aus der Hand nehmen, ehe er einen Bruchteil durchackert hat. Auch wird es nie gelingen, alle die Schranken, die dem menschlichen Geist gesetzt sind, zu über­ winden. Immerhin können die Generationen von Jahrhunder­ ten und Jahrtausenden allmählich bis zu Erkenntnissen vor­ dringen, die das ursprüngliche Maß weit übersteigen und wohl ein Ruhmestitel menschlicher Arbeit genannt werden dürfen. Der Mensch kann sich selbst und sein Wesen den Gewalten des Lebens weiter und tiefer erschliehen, als es zunächst das sub­ jektive Interesse erfordert und sich als empfindende Seele in die Weltweite der großen Impulse stellen. Dann ist sein Innen­ leben ein Kampffeld dieses Lebens und er erlebt leidenschaft­ licher und tiefer alle die Auseinandersetzungen und Konflikte des Menschentums. Er wird -um Künstler, der versucht, die ungeheure Bewegung seines Inneren in irgendwelchen Werten ausschwingen zu lassen und sich in Farbe, Ton oder Sprache von dem lastenden Druck wieder zu befteien. Wie weit er von wirt­ lichem Leben erfüllt war und wie sehr es ihm gelang, wirkliches Erleben in eine tragfähige Form zu gießen, das entscheidet über den Grad seiner Künstlerschaft; aber auch dort, wo die Aus­ sprache aus irgendwelchen Gründen keine vollkommene wurde (was ja übrigens nur selten gelingt), ist seine Welteinstellung eine künstlerische. Nur der Egoist, dessen Ziel subjektive Vorteile sind und der die äußere Erscheinung des Künstlerischen nachahmt, ohne innerlich von den gestaltenden Mächten bewegt zu sein, hat nichts mit künstlerischer Weltbildung zu tun und wird daher auch

nur von denen Gefolgschaft erleben, die selbst ihrer ermangeln und darum seine seelische Leere nicht erfühlen. Alle großen Künstler sehen wir unbeirrt ihren Weg gehen, auch, wenn es äußerlich ein Weg in die Entbehrung und Ver­ einsamung war; sie leben chre besondere psychische Konstitution, die sie vorwiegend zu dieser seelischen Aktivität prädestinierte und darum strahlt auch späteren Geschlechtern aus ihren Werken immer noch die unerhörte Intensität ihres künstlerischen Schaf­ fens entgegen. Schließlich kann der Mensch aber auch vor der Unendlich­ keit demütig in den Staub sinken und anbeten und dann ist er erfüllt von dem Gehalt des Religiösen. Hier steht er wohl seinem natürlichen Verhältnis — dem Verhältnis eines kleinen mensch­ lichen Willens zur Unendlichkeit des Lebens — am nächsten. Weder kann sich in der Wissenschaft sein Verstand jemals so weiten, daß er auch nur alle Grundlinien des Lebens, geschweige alle seine Gestaltungen abschauen könnte, noch vermag sich in der Kunst sein Erlebnisoermögen so zu vertiefen, daß er alles Weltgeschehen in sich aufzunehmen vermöchte. Die Verehrung des Unendlichen entspricht daher am meisten seinem natürlichen Lebensverhältnis, weshalb denn auch die rellgiöse Einstel­ lung immer die populärste, weitestverbreitete und in vieler Hinsicht tiefste bleibt. Wissenschaft, Rimft und Religion sind die drei großen Wege, die dem Menschen offen stehen, wenn er unmittelbar als geistige und seelische Kraft an die Unendlichkeit seiner Umwelt herantritt; sie werden, in subjektiv beschränkter Form, von jedem normalen Menschen begangen, wenn fteilich auch nur der be­ sonders Begnadete die größten Strecken zurücklegen kann. Wir haben uns gewöhnt, unter Wissenschaft, Runft und Religion wesentlich nur Spitzenleistungen zu verstehen. Diese Fassung der Begriffe müssen wir ablegen, wenn wir von den geistigen Bindungen in solchem Zusammenhänge reden. Denn für die Massen der Menschen kann es sich nie um solche Spitzenleistun­ gen handeln, während aber nicht übersehen werden kann, daß jeder Mensch in den drei Richtungen Erlebnisse hat. Auch in dieser beengten, persönlichen Form sind sie für ihn und die Geö

staltung seines Seelenlebens von Bedeutung, nur für die Mensch­ heit als Ganzes, für ihren Fortschritt wachsen sie nicht über den Charakter des kleinen Zellengeschehens hinaus. Ein Weltbild trägt auch der geistig Beschränkte noch in sich; eine Art von Shinft besteht auch in den einfachsten Kreisen und auch das reli­ giöse Lebensmoment wird wenigen fehlen. In solcher Weise spielt es auch im Zeitbild seine besondere Rolle. Es sind also, wenn wir kurz die allgemeine Form mensch­ licher Bindungen überblicken, drei Gruppen von Erlebnissen, die am Menschen ständig arbeiten: physiologische, soziale und geistige Prozesse. Aber keine dieser Bindungen verläuft immer in derselben Bahn; alle sind sie überaus variabel und aus diesem Umstand ergibt sich die Erscheinung, dah sich bei verschiedenen Lebensgrundlagen verschiedene Lebensformen des Einzelnen und der Gesamtkulturen ergeben. Physiologisch, sozial und geistig divergierende Verhältnisse erzeugen auch divergierende Menschheitssormen, wie wir sie rückschauend in einer Kette von Zeitaltern schauen. Auch wir selbst leben in einer solchen Menschheitsform und unsere Zeitnot liegt in dieser Konstellation begründet. Während sich aber dieses große Geschehen in den drei großen Richtungen rings um uns abspielt, werden wir nur einen kleinen Bruchteil und den nur in seiner äußeren Erscheinung gewahr. Daß sich lange vor uns gewaltige Lebenspro-esse allergrößten Formates angebahnt und vollendet haben, wir wissen es nicht; wir sehen nur mehr klägliche Spuren äußerer Gestaltungen und bemühen uns, vielleicht vergeblich, aus ihnen die Seele gestorbener Kulturen zu erschauen. Daß in unserer gegenwärtigen Welt sich große Volksschicksale aus solch inneren Bindungen außerhalb unserer Grenzpfähle entwickeln, wir be­ achten es nicht; zu uns kommen nur verzerrte Einzelmeldungen äußerer Geschehnisse. Daß sich in unseren eigenen Reihen das Leben organisch entfaltet, bricht, zerstört und neuformt, wir können es nicht unmittelbar sehen; denn wir sind sinnlich den äußeren Erscheinungen und in der Enge unseres Bewußtseins auch seelisch dem Detail verpflichtet. Unser Denken, Schauen und Hoffen umkreist fortwährend das Allernächste und erfaßt

auch dies in subjektiver Haltung. An unsere psychische Konstitu­ tion gebunden, müssen wir immer unsere eigene Art von Er­ leben durchkosten und werden in der Auseinandersetzung mit den Dingen und Ereignissen alles in unserer Weise schauen und begreifen. Die menschliche Einstellung befindet sich immer dem Augenblick und der äußeren Form gegenüber; nirgends sehen wir den organischen Zusammenhang als solchen. Wir können organische Ereignisse im Naturleben durch Vergleich zweier Stadien feststellen, den eigenllichen Vorgang wahrnehmen kön­ nen wir nicht. Wir haben in den Naturwissenschaften Erfolge errungen, weil wir ein bestimmtes Verhalten als gesetzmäßig erkannt haben; aber das Wesen dieser gesetzmäßig ablaufenden Ereignisse konnte nicht ergründet werden. Hätte man über der Frage nach dem Wesen verharrt, man hätte keinen der Erfolge verzeichnen dürfen; Naturwischenssast und Technik verdanken ihre Fortschritte der Resignation und Umstellung auf die Frage nach dem Wie. Das hat seinen Grund in der besonderen Kon­ stitutton des menschlichen Anschauung»- und Bewußtseinsver­ mögens, die uns aus demselben Grunde auch verwehrt, die großen psychisch-organischen Bindungen, in denen unser Leben feine Gestaltung erfährt, unmittelbar anzuschauen und in ihrer Wirksamkeit zu beobachten. Da» gewaltige Geschehen wickelt sich außerhalb unserer naiven Beobachtung ab; das Bewußt­ sein saht nur einen Teil. Mittelbar fteilich können wir die Vorgänge sehr wohl erkennen, wenn wir nur erst begonnen haben, ihre Existenz und Wirkung zu ahnen. Die Entwicklungsstufe, aus der wir uns befinden, ist dadurch zu charatterisieren, daß wir eben erst beginnen geistig die Naivi­ tät zu sprengen, mit der bisher die äußere Erscheinung des Le­ bens für da» Wesentliche gehalten wurde, und in klarer For­ schungsarbeit die wahren, gestaltenden Mächte ersassen. Wie im Naturwissenschaftlichen längst, so sehen wir im Geistigen erst jetzt den Weg ab, auf dem sich ttagsähige Einsichten gewinnen lassen. Die Erforschung der Lebensbedingungen steht in vieler Hinsicht erst als Aufgabe vor uns. Aber auch auf diesem frühen Standpuntt läßt sich schon

vieles derS truktur erkennen, die unserer Zeit auf Grund ihrer besonderen Form jener Bindungen eigen ist. Wenn wir die organische Weltstellung des Menschen auch erst ahnen, ver­ mögen wir doch schon einigen Einblick in das Wesen unserer Zeit zu tun. Der große Kulturprozeh, in dessen Ablauf wir uns be­ finden, begann im 16. Jahrhundert mit den astronomischen Entdeckungen, verlief bis gegen Ende des 18. als rein geistige Bewegung, griff im 19. Jahrhundert stark und umfassend ins reale Leben ein und befindet sich jetzt im Krisenstadium der Umformung aller Lebensformen. Während er in seinem frühen Stadium fernab des Tages verlief und durch fast drei Jahr­ hunderte immer nur von einigen Schichten beachtet wurde, erregte er, in die Arena des Alltags niedersteigend, im 19. Jahr­ hundert allgemeines Auffehen, und wirst seit der letzten Jahr­ hundertwende die Zeitgenossenschaft in chaotische Zustände. Seit 50 Jahren ist im Grunde nichts mehr gewiß, als daß alles ungewiß geworden ist. Alles wird anders. „Warum muß denn nun alles anders werdend sagen sich die Menschen immer wieder vor. Sie erweisen sich mit dieser Frage als Ohnmächtige in der Hand des großen Werdevorgangs. Die Natur des Menschen bringt es mit sich, daß er nur die Erscheinungen des Lebens unmittelbar sinnlich wahrnehmen kann, aber keine Anschauung des gestaltenden Lebens selbst zu gewinnen vermag. An seine fünf Sinne gebunden, muh er zunächst alles immer so sehen und für wahr halten, was und wie es diese Sinne zeigen und nur hochgeistige Potenzen ge­ statten ihm, relativ diese Grenzen zu überschreiten. Wie die Dinge der Welt auf uns wirken, können wir sagen; was sie sind, können wir nicht angeben; es ist viel, wenn wir wissen, daß sich ihre Erscheinung in unserem Bewußtsein und ihr eigentliches Wesen nicht decken. So konnte es sein, daß durch alle Jahrtausende herauf un­ endlich viel Naturgeschehen den Menschen umgab, von dessen Dasein er nicht das geringste ahnte, und daß er das, was er von der Welt mit seinen naiven Kräften wahrnahm, für das Gesamte und Wesentliche dieser Welt hielt, und das alles,

obwohl er selbst mit seinem Denken und Tun den großen Le­ bensfaktoren untertan war. Darin liegt formal — also abgesehen von den sachlichen Erkenntnissen — die gewaltige Bedeutung der astronomischen Großtaten des 16. Jahrhunderts, daß sie dieses Gefängnis der sinnlich-gebundenen Naivität ausbrachen. Wenn Copernikus erkannte, daß die tägliche Beobachtung der aufgehenden, den Taghimmel durchwandernden und am Abend sinkenden Sonne zu einem Trugschluß verführte, wenn sie die Sonne zum Tra­ banten der Erde erniedrigte, wenn er vielmehr feststellte, was keine sinnliche Wahrnehmung den Menschen lehrt, daß sich näm­ lich die Erde um die „kleine" Sonne bewege, so hatte er damit zugleich dokumentiert, daß die sinnliche Erfahrung kein ver­ läßliches Instrument sei; und damit wieder wurde die Welt voller Geheimnisse. Ebensogut wie in dem einen Falle konnte sich in jedem anderen hinter der gewohnten Wahrnehmung ein völlig anderer Sachverhalt verbergen. Und tatsächlich war das in außerordentlich vielen Hinsichten der Fall. Die Männer der damaligen Zeit ahnten es zwar kaum, jedenfalls nicht in dem wirklichen Umfang. Aber der erste Schritt über die Grenze war getan und jenseits der Grenze lag jenes Wunderreich, das sich erst im naturwissenschaftlichen 19. Jahrhundert enthüllte. Es währte lange Zeit, von Eopernikus über Kepler, Galilei, Newton bis zu Kant, von der astronomischen Zeit und der Renaissance des 16. Jahrhunderts zur Aufklärungsidee des 18., bis der Prozeß aus dem Keimstadium des geistigen Schauens in den zweitenEntwicklungekreis,den der naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen, treten konnte. Aber die Natur läßt alles Bedeutsame langsam keimen. Schließlich kam doch die Zeit. In denselben Jahren, als Kant seine grundlegenden Schriften schuf (und damit den geistigen Prozeß zu einem ge­ wissen, relativen Abschluß brachte), erhob sich in Frankreich Montgolfier zum erstenmal in einem Ballon über den Erd­ boden. Mochte die Tat praktisch damals wenig bedeuten, so steht sie doch wie ein eigenartiges Symbol am Beginn des zweiten großen Stadiums des Gesamtprozesses: ein Empor-

heben über die Erdenschwere des Menschlichen; ein Sieg des Geistes über die Gebundenheit des Körpers; ein Ausschau­ halten in Neuland, das von der alten Scholle aus niemand hatte sehen können. Don diesen Jahren ab — Montgolfiers Flug fiel in das Jahr 1783 — begannen die aufsehenerregenden Entdeckungen und Erfindungen sich in immer kürzeren Zeitabständen zu folgen. Eigenartigerweise steht gerade an der Jahrhundert­ wende die Entdeckung der Berührungselektrizität durch Galvani und Dolta. Sie eröffnete neue, ungeahnte Perspektiven; ihr folgte jene grandiose Zeit der naturwissenschaftlichen Erfolge, auf die wir auch heute immer wieder mit Staunen Hinschauen, jenes Einander-Iagen naturwissenschaftlicher und technischer Großtaten, das ja heute durchaus noch nicht abgeschlossen ist. In dem verhältnismäßig doch kurzen Zeitraum von hundert Jahren wurde eine unabsehbare Leistung vollbracht, vor der wir, hätten wir uns nicht an vieles gewöhnt, noch mehr er­ staunen würden. Das konnte nur darum geschehen, weil es sich im Grunde um einen einzigen Schritt des Menschen handelte, um den Schritt in ein bis dahin unbetretenes Naturland. Alles, was sich jetzt an Naturkräften und organischen und mechanischen Verbindun­ gen offenbarte, hatte seit jeher bestanden. Es war nur vom Menschen nicht gesehen worden, weil er in engen, sinnlichen Grenzen gebannt gewesen war. Jetzt, als er das Tor ge­ öffnet hatte und das Neuland betrat, enthüllte sich ihm vieles und während noch ein Teil der Menschen sich um den letzten Entdecker scharte, rief schon ein nächster Neuseher, was er gefunden hatte. Und das steigerte sich, verfeinerte sich in die unzähligen Details der Wissenschaft und Forschung, warf seine Reflexe auf alle anderen geistigen Disziplinen und mußte, weil es das ganze Weltbild umgestaltete, zu einer Zentralerscheinung werden. So außerordentlich war der Vorgang, so zentral und allgemein, daß sich das Jahrhundert vollkommen in ihm be­ sangen sehen mußte und sich alles dem neuen Denken einord­ nete, auch das, was ihm an sich sachlich fernstand. Naturwissen­ schaft und Technik wurden zu Beherrschern der Zeit schlechthin.

Das allein gab ihnen auch Macht und Mittel, immer noch Größeres und Erstaunlicheres zu leisten bis heraus zu den Er­ findungen der letzten Zeit, die uns, bei radiotelegraphischer Verbindung, in vier Stunden im Flugzeug den Weg von Mün­ chen nach Berlin zurücklegen lassen, der noch vor hundert Jahren zehn Tage strenge Kutschenfahrt und Isolierung beanspruchte. Aber während der Mensch staunend und stolz auf die Macht seines Geistes die neuen Gebiete abging, ahnte er doch wieder nicht, dah es sich bei all dem um viel mehr handelte, als um einen Sieg und ein freudiges Rehmen, nämlich um den Beginn einer Evolutton seines ganzen Lebens, um das Rahen vielerProbleme, Röte und Katastrophen. Er glaubte, Herr geworden zu sein, well er nicht ahnte, dah er unwissend in neue Abhängigkeiten, schwerere Konflikte hlneintrieb. Erst die -weite Hälfte des Jahr­ hunderts lieh ihn solche Neuerscheinungen lebensorganischer Natur erkennen, die er aber durchaus nicht in ihrem Wesen erschaute. Ja selbst die Verschärfung aller Probleme und Situa­ tionen, die um die Jahrhundertwende einttat und die sich schließlich zum Europäischen Krieg verdichtete, brachte er nur höchst unvollkommen in Zusammenhang mit der großen Entwicklungs­ linie und glaubte immer wieder verwerfliche Motive am Werk, wo im Grunde ein lebensorganischer Zusammenhang sich auswirtte. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als das zweite Stadium des grohen Kulturprozesses ausreifte, bahnte sich langsam schon das dritte an: die Auswirkung all der Erfindungen und Entdeckungen auf den vielen Einzelgebieten des Lebens, auf den großen und weithin sichtbaren, aus den kleinen, im Persönlichen verborgenen. Wir stehen heute mitten in diesem dritten Stadium. Wir finden uns in seinen tiefftgreifenden Verwicklungen. Alle Lebensformen befinden sich in Umformung, alle alten Formen gehen chrer Auflösung entgegen, nirgends haben sich neue, endgültige Formen gefestigt. Wäre es uns möglich, die früheren Formen der natürlichen Lebensbindungen praktisch, nicht nur rein gedanklich-farblos vorzustellen, dann würden wir erst den vollen Dergleichsmaß-

stab besitzen, um die Umformung aller realen Lebensformen zu würdigen. Wir würden dann absehen, wie weit jede der drei großen Bindungsgruppen von diesem Prozeß erfaßt wurde. Leider müssen wir uns, ganz lebensnah nur unseren eigenen Verhält­ nissen, mit einem weniger anschaulichen Aufzählen begnügen:

In physiologischer Hinsicht stand früher der Mensch seiner Heimaterde viel näher. Die Landschaft, in der er lebte, ernährte ihn; mit ihr war er reich oder arm, auf chr darbte er oder genoß, was sie reichlich bescherte. Er muhte selbst unmittelbar dieses Land bebauen oder empfing doch wenigstens aus erster Hand, was das Jahr trug. Die überwiegendste Zahl der Menschen stand mindestens in naher Beziehung zur Bodenbearbeitung (in Kleinstädten war der Handwerker gleichzeitig auch Land­ wirt), fast alle Zeitgenossen lebten nach heimatlichen Ernährungs­ formen. So stand für sie fest die ost geringe Zahl der Ernährungs­ mittel, ihre allgemeine und besondere Qualität, ihre Zubereitung, ihr Genuß. Diele Menschen ernährten sich Jahr und Tag in einer sehr gleichmäßigen, nur wenig wechselnden Weise und dieselbe Heimatbindung treffen wir auch in Kleidung und Wohnung, im Verhältnis zu Klima, Gesundheitswesen usw. Es zeigten sich denn auch alle Folgen dieser heimatgebundenen, physischen Lebensweise, der Einfluß einseitiger Ernährung, des Alkohols, des Klimas, der Dodenbeschaffenheit (man denke an den Gebirgler!), der Wohnungsfrage, des Gesundheits­ standes, der Vererbung und Inzucht u. v. a. Diese ganze Welt alter Ernährungsweisen ist unterge­ gangen. Uns ernährt nicht mehr so sehr die enge Heimat, als die Fruchtbarkeit der ganzen Erde. Die gewaltigen Leistungen der Verkehrstechnik gestatten uns, von dem zu leben, was die Erde in ihren fruchtbarsten Gebieten hervorbringt, und weil die Erde unendlich mannigfaltig ist in ihren Produkten, so wurde es auch unser Tisch. Der Mensch von heute verfügt über eine sehr große Auswahl von Lebensmitteln der Zahl sowohl, wie der Qualität und Eigenart nach. Kam doch zu der Dielsältig-

leit der natürlichen Produktion auch noch jene der chemischen, der industriellen sowie der technischen Zubereitung von Nah­ rungsmitteln, die es früher überhaupt nicht gab. Die Natur­ wissenschaften gestatteten nun, alle Nahrungsmittel, die ftüher infolge der Produktionsverhältnisse nur zu gewissen Zeiten zur Verfügung standen, haltbar zu machen, so daß sie nun immer angeboten werden können, und die Konkurrenz steigerte Fabri­ kation, Feingeschmack und — Billigkeit. Die Reklame erzieht durch ihre raffinierten Methoden jeden Menschen zu einem luxuriösen Esser, soweit es nur die Mittel erlauben; ost wird die gesündere, regelmäßige und gleichmäßige Ernährung durch Luxusansprüche unterbrochen. Aus dem Gebiete der Kleidung und des Wohnens haben sich nicht weniger umstürzende Bewegungen abgespielt, ja, werden sich auch in Zukunft noch maßgebend abspielen. Die Beweglichkeit der Massen hat andere Blutmischungen mit sich gebracht — heute ist kaum noch ein Drittel der Großstadtbevölkerung ortsgebürtig! — die Arbeit als physischer Faktor wirkt sich in einer ganz neuen Weise aus, weil Maschine, Handel und Derwaltungstätigkeit andere Leistungen verlangen, als die alte Handarbeit, der fast alle Menschen verpflichtet waren. Der Luxus hat uns eine auch physisch völlig abweichende Lebens­ haltung gebracht, wir brauchen weder stundenweit zu gehen, noch wird sonst an unserer Muskulatur eine nur annähernd gleiche Anforderung gestellt, wie es einst allgemein nötig war. Anderseits wird aber wieder unser Nervensystem viel mehr belastet, so daß sich große Abweichungen allein in der unmittel­ bar geformten, körperlichen Konstitution ergeben. Dazu kommt die Auswirkung der modernen Hygiene und Körperpflege, der Chirurgie, der Kinderbehandlung, der Epide­ mienbekämpfung. In Deutschland starben 1872 3,06% der Bevölkerung, i. g. 1882 2,72%, i. g. 1892 2,53%, 1902 2,06% und 1912 1,64%. Das sind nackte Zahlen. Sie bedeuten aber nicht weniger, als daß sich in 40 Jahren die prozentuale Toten­ ziffer auf die Hälfte senkte, oder, in absoluten Zahlen gesprochen, bei einer sich gleichbleibenden Bevölkerung von 60 Millionen (die in Wirklichkeit natürlich nicht bestand) von 1836000 Toten

aus 984000 -urückgegangen wäre. Pro Jahr wäre damit nahezu 900000 Menschen das Leben erhalten geblieben. Die Säuglingssterblichkeit senkte sich dabei bekanntlich noch in einem viel höheren Mähe, nämlich von 40% aller Geburten auf 10%. Krankheiten, die ehedem katastrophal verliefen, sanken zu kurzen Episoden herab, halbgeheilte und langsam zugrunde gehende Menschen finden sich seltener. Die Wundbehandlung allein enthält einen Riesenkomplex solcher Umstellungserschei­ nungen. Anderseits hat die neue Lebensform aber auch un­ glückliche Erscheinungen gebracht, die früher nicht bekannt waren: Nervosität, Her-störungen, Folgen schlechtester sozialer Lebens­ verhältnisse usw. Diele Menschen haben heute irgend einen bedeutsames Krankheitsprozeß durchlebt, wenige finden sich, die durch eün ganzes Leben so gesund hindurchgingen, als es Angehörige älterer Generationen konnten. Nur die außer­ ordentliche Hilfeleistung der heutigen Gesundheitspflege in allen ihren Teilen — man denke an die Wirksamkeit vieler Institutionen, an das Bestehen von Erholungsstätten u. a. — erlauben uns die gegenwärtige, in vielem unnatürliche Lebens­ weise. Die Gruppe der sozialen Bindungen hat, das zeigen schon die Auswirkungen der Ernährungsverhältnisse, eine mindestens ebenso weitgehende Umformung erfahren. Gerade wenn der Mensch in seinen elementarsten An­ sprüchen nicht mehr selbst der gebenden Erde gegenübersteht, sondern die Fruchtbarkeit der ganzen Erde nützen soll, müssen sich zwischen ihn und die gebende Natur viele Menschen als Zwischenglieder eindrängen, und dieser Prozeß hat sich heute schon sehr weit entwickelt. Der Abendländer von heute, nament­ lich der Großstädter, kann ohne die vermittelnde Arbeit der Zeitgenossen nicht mehr bestehen; er bekommt aus ihren Händen alles, wessen er zu seiner Existenz bedarf. Wir stehen vor der Tatsache, in der sich eine der aller be­ zeichnendsten Formungen unserer Zeit enthüllt, daß der Mensch von seiner Heimaterde losgelöst und mit seinem ganzen Leben den Mitmenschen überantwortet ist. Verwoben in die unge­ heure Lebensgemeinschaft, ist er sogleich zum Untergang ver*

urteilt, sobald die Mitwelt ihn nicht mehr trägt, und die Basis, auf der die meisten in dieser Gemeinschaft stehen, ist überaus schmal. Damit wird der Mensch jener gesunden Lebenssicher­ heit beraubt, die ihn auszeichnet, wenn er fest auf eigenem Boden lebt; es kommt in sein Dasein etwas Nervöses, eine Angst, eine Unsicherheit, die Erkenntnis, daß er morgen schon vor dem Nichts stehen kann, selbst wenn er heute noch zu den Bevorzugten zählen würde. Wir sind heute alles, was wir sind, durch die Gnade der Mitmenschen und sind so in vielen Hinsichten abhängig. Selbst der Dienstbote in einem alten Hause konnte sich sicherer fühlen als jetzt der Herr in einem neuen. Die sozialen Bindungen haben sich ungeheuer vermehrt und gesteigert.

Unser Besitz ist wesentlich relativer Geldbesitz; einst war es ein Reichtum an unmittelbarem Lebensgut. Wenn wir arbeiten, so arbeiten wir für andere und vielfach müssen wir sehr einseitig tätig sein. Wir schaffen nicht an unserem persönlichen Besitz, sondern wollen nur Geld verdienen, um Persönliches erwerben zu können. Die Industrie hat die Austeilung der Arbeit mit einer Unsumme von Einzeltätigkeiten gebracht, und so den alten Handwerker durch den Fabrikarbeiter ersetzt. Sie hat viele alte Berufe untergehen und neue an ihrer Stelle erstehen lassen, sie vollzieht auch jetzt, vor unseren Augen, diese fortwährende Umstellung aller Berufe, die zuweilen ganz außerordentliche Ausmaße annimmt. Handel, Verkehr, Geldwesen sind Groß­ mächte geworden, das Handwerk ist abseits gedrängt worden. Der Abnehmer, ehemals als Kunde menschlich genommen, ist heute nur Objekt; er wird an den großen, entscheidenden Plätzen als Faktor behandelt. Dabei haben sich die alten, kleinen Lebensgemeinschaften, jene stillen, unter sich gefühlsmäßig verbundenen Kreise aus­ gelöst und das Gefühl des Sich-Kennens und -Achtens ist verloren gegangen. Wir stehen einer Masse gegenüber und sind an sie gekettet, aber wir fühlen uns selten einem Menschen innerlich verbunden; in der Mehrzahl der Fälle ist die innere Zuneigung durch die äußerliche Höflichkeit ersetzt.

Die alte Familie, ein Verband von vielen Menschen, hat sich aufgelöst. FamUie ist heute nur mehr Vater, Mutter und Kind. Der Dienstbote ist dabei völlig entwurzelt worden, das Atter vereinsamt. Das Kind bekommt eine völlig andere Ein­ stufung. Das eheliche Band selbst ist von dem Prozeß ergriffen worden. Die Ehe basiert heute entweder auf einer wahren, seelischen Verbundenheit und kann dann reicher sein als es die Ehen primitiver Altvorderen unter der Decke Süßerer Harmonie waren, oder sie ermangelt dieses entscheidenden Faktors und ist dann eine Katastrophe. Die alten Gemeinden mit ihren ost naiv anmutenden All­ tagsaufgaben sind ebenfalls von dem Auflösungsprozeß er­ griffen; wir denken heute in Staaten, Völkern, in Gemein­ schaften ganzer Erdteile. Fünfzig und-hundert Millionen Men­ schen sind uns gerade viel genug, um sie als Einheit anzusprechen, während die Einheit noch vor hundert Jahren im Falle der Städte etliche zehntausend, in dem der Vielzahl der Gemeinden nur einige hundert umfaßte. Überall ist die große Zahl, die

Masse, die Organisation der irgendwie Gleichinteressietten zum Siege gelangt. Diese Dielen sind aber nur durch Interessen vereint, nicht durch jene intimeren Beziehungen der alten Ge­ meindeverbundenheit. Mitten in diesen Riesenorganisationen steht der einzelne Mensch vereinsamt und selbst wenn er schüch­ tern Beziehungen anzuknüpfen versucht, muh er fürchten, daß irgend eine gnteressenkonstellation sie sogleich wieder zerstört. So sind die alten Städtetypen — Wien, Rom, Paris, Frankfutt, München, Venedig — verschwunden, vergebens sucht sie der Reisende, von einer romantisch verfälschten Reklame angelockt. Rom ist nicht mehr Rom, München nicht mehr Mün­ chen. Die starken sozialen Zeitsaktoren haben die Städtebilder nivelliert und sie werden das bisher abseits liegende flache Land noch viel mehr einbeziehen und dem Stadtleben angleichen. Auf dem Lande hat sich noch hie und da ein Rest alter Formen erhalten, aber wie lange wird es währen, bis auch er der Ge­ schichte angehört? Hier kommen wir bei der allgemeinen Betrachtung des großen europäischen Entwicklungsprozesses bereits auf jenen

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Faktor, der die Zeitkrise am wesentlichsten bedingt: wir sind heute seelisch den Zeitansorderungen nicht gewachsen, die see­ lische Entwicklung hat mit der Umformung der Lebensunter­ lagen nicht Schritt gehalten. Alle die alten sozialen Formen der Familie, des Berufslebens, der Gesellschaft, der Gemeindezugehbrigkeit, des Vergnügens sind zerfallen und durch neue der Ehe, der Wirtschaft, des Staatslebens erseht; aber auf see­ lischem Gebiet finden wir nur Reste, keine Angleichung, keinen Aufbau. Die Formung des Reuen, organisch ebenso notwendig auf seelischem wie auf äußerem Gebiete, wird kommen, weil sie nicht weniger naturbedingt ist als das Leben, das heute schon neu geformt ist. Sie ist aber heute noch nicht erreicht und so finden wir uns mit alten Anschauungen, Gewohnheiten und Gepflogenheiten, in einer Form, die früheren Verhältnissen organisch entsprach, einer neuen Sachlage gegenüber. Zwischen unserem Lebensuntergrund und unserer bewußten, seelischen Haltung hat sich ein unheilvoller Zwiespalt aufgetan, weil sich zwar jener Untergrund, aber nicht diese Haltung verändert hat. Wir glauben an ein konstantes Fortbestehen der menschlichen Lebensform, können aber mit überholten Anschauungen unserem tatsächlich wirksamen Lebensboden nicht mehr gerecht werden. Unsere geistigen Bindungen befinden sich daher in einem nahezu chaotischen Zustand, eine Tatsache, die heute jedermann aus vielen täglichen Älebnissen geläufig ist, nur nicht in ihrem

Wesen erkannt wird. Der soziale Umsormungsprozeh, das Verschmelzen riesiger Menschenmassen zu Lebenseinheiten, hat sich weitgehend ent­ wickelt. Das bedeutet auf geistigem Gebiete, daß sich das ein­ zelne, menschliche Bewußtsein, das Dorstellungs- und Durchdenkungsvermögen des einzelnen Menschen, ungeheuren Lebensgebllden gegenüberbefindet, denen es weder dem Umfang, noch dem Inhalt nach gerecht werden kann. Den alten Lebens­ kreis einer Gemeinde mit ihren verhältnismäßig wenigen An­ sprüchen konnte die menschliche Auffassungstrast, auch jene von Durchschnittsnaturen, gerecht werden. Das Ernährungs-, das Handwerks-, Handels- und Familienleben eines homogenen Kreises konnte sie absehen. Aber die heute ins Ungemessene

gestiegene Lebensfalle im Verband der 500 Millionen Euro­ päer und Amerikaner selbst nur in ihren allerwesentlichsten prak­ tischen Beziehungen zu verarbeiten, übersteigt weit das Dermögen des genialsten Menschen. Die überwiegende Zahl ahnt sie nicht einmal; sie weih nichts von dem gewaltigen Leben, in das sie eingeflochten ist. Das Verhältnis des menschlichen WMens zur Macht des tragenden Lebens der Gesamtheit hat sich so zu ungunsten des WMens verschoben, daß er in keiner Form mehr fähig ist, es zu überblicken. Dies bedingt, daß jedes menschliche Blld des Lebens der Gegenwart allzu subjektiv, daß es unzulänglich ist. Wohl glaubt jedermann, eine Vorstellung des Gegenwartsgeschehens zu besitzen. Aber diese Vorstellung beruht nicht auf wahren, ge­ prüften und richtig verarbeiteten Einsichten, wie es bei dem DUde der Fall war, das der alte Gemeindebürger vom Leben seiner Gemeinde in sich trug, es entstammt zum gröhten Teil der willkürlichen Phantasie. Die vorhandenen Tatsachenele­ mente sind kritiklos und in falschen Beziehungen eingefügt, ohne daß der Betrachtende das weiß, weil chm jeder Maßstab fehlt. Alle jene Handlungen aber, die auf einem Weltgefühl, auf einer Lebensanschauung, einem lebendigen Verhältnis zur Zeit fußen müssen — und das sind die bedeutsamsten — entspringen daher einem untauglichen Untergrund. Selbst der größte Laie sieht schon chre subjektive Befangenheit, allerdings in dem Wahne, sein eigenes Handeln wäre besser begründet. Sodann bringt die Fülle des Lebens, die nicht etwa nur äußerlich als interessantes Geschehen am Auge vorbeizieht, sondern innerlich als verbindlich empfunden wird, die andere Tatsache mit sich, daß unser WUle von einem Geschehen zum andern eilt, daß er flüchtig und damit oberflächlich werden muh. In so unterschiedlichen und zahlreichen Vorgängen dringt das moderne Leben auf den Menschen ein, daß er diese Fülle lediglich bewältigen kann, wenn er lernt, darüber hinwegzueilen. So mußte der moderne Mensch lernen, sehr vieles in kurzer Zeit zu „erledigen", was kaum anders als auf Kosten der Tiefe und Ruhe, der Besinnlichkeit und des Ausklarens geschehen konnte. Der Mensch von heute erledigt in der gleichen Zeit, die früher

von einem einzigen Inhalt ausgefüllt war, vielleicht dreihig und fünfzig und noch mehr Angelegenheiten. Die modernen tech­ nischen Einrichtungen gestatten ihm manches, was ehemals nicht möglich gewesen wäre. Ader diese Leistung des Umfanges wird fast immer bestritten auf Kosten der Tiefe, was wir vielleicht daran am meisten ermessen können, das in dem kaleidoskop­ artigen Dorbeisluten der Tagesereignisse sich die bedeutsamsten Vorkommnisse befinden und doch, trotz ihrer Gröhe, ebenso schnell von nachfolgenden Dingen verdeckt sind. Was heute alle Gemüter bewegt, haben die meisten in kurzer Zeit schon wieder vergessen. Es gibt schlechthin keine Frage, die uns sachlich durch lange Zeiträume durch beschäftigt. Man muh zu Allgemeinbe­ griffen Zuflucht nehmen — Politik, Rechtswesen, Kunst, Tech­ nik o. dgl. — wollte man gewaltsam solche Dauerftagen finden. Und man braucht nur die vielen Zeitungen und Zeitschriften durchzublättern, um diesen rasenden Wechsel und gleichzeitig die damit verbundene Untiefe, die alles streift und nichts er­ gründet, anschaulichst wahrzunehmen. Während die Größe des Gegenwartsprozesses dem Men­ schen alle Übersicht verwehrt, stürmt sie gleichzeitig mit überge­ waltigen Kräften auf sein kleines, beengtes Wollen ein. Und da er lebensorganlsch an irgend einer Stelle der Gesamtheit wurzelt, wirkt sich das dahin aus, dah überall Typen entstehen. Ehemals ähnelten sich die Menschen derselben Heimat, nun glei­ chen sich Menschen, die vielleicht weit voneinander entfernt wohnen, aber sonst einen ähnlichen Platz einnehmen. Ein Beispiel solcher Menschenformung durch die Übermacht des Lebens bietet uns das industrielle Leben. Der industrielle Betrieb erfordert in den Spitzenstellungen eine geistige Leistungsfähigkeit von charakteristischer Eigenart, ein überschauendes, nüchternes, gewandtes und organisierendes Denken. Lebenskreise von Nationen wollen überschaut, indu­ strielle Entwicklungen aller Länder beobachtet, wirtschaftliche Auswirkungen einer Vielzahl von Strömungen bedacht werden. Eine Unsumme kleiner Forderungen, die doch alle in ihrer Art von Bedeutung sind, sammeln sich an der Zentrale und müssen ost im Augenblick und nur durch einen sicheren Instinkt gelöst

werden. Diele Produttions- und Konsumtionslinien kreuzen sich am Arbeitstisch und all das seht einen eigenartigen, geistigen Werdegang voraus, wie es selbst in seiner unerhörten Intensi­ tät an der psychischen Konstitution der Beteiligten arbeitet. Der industrielle Betrieb bringt das Massenaufgebot der Angestellten und Arbeiter. Er bietet Posten an, die, in sachlichen Grenzen, besondere Begabung und Leistungsfähigkeit erfor­ dern; er gliedert eineArbeitsstala an bis herab zum letzten Fabrik­ arbeiter, die jeden Menschen nur in einer bestimmten Fähig­ keit erfaßt und ihn hier außerordentlich schult. Man müßte eine sehr lange Reihe von Menschenformen auszählen, wollte man allein jene Typen nennen, die in dem industriellen Betrieb unserer Zeit wurzeln, Techniker, Kaufleute, Angestellte, Ar­ beiter der verschiedenen Sparten, Chauffeure usw. Sie nehmen alle freilich in subjektiven Varianten, ein bestimmtes Profil an, das der Lebenserfahrene schon erkennt, ehe er um die Lebensverhältnisse eines Menschen weih. Der industrielle Betrieb fordert und formt das moderne Abnehmertum und schafft hier start am Gesamtprofit der Zeit. Durch seine Angebote, seine Spekulation auf menschliche Neigungen, durch die Gewalt seiner Zwischenstellung, die den einzelnen völlig abhängig macht von dem, was produziert wird, sowie durch die Erfolge einer raffinierten Rettame er­ zieht sich die Industrie ein Publikum, das frei zu sein wähnt und doch gebunden ist. Und weil Industrie immer Massenabsatz bedeutet, so werden auch Massenbedürfnisse anerzogen, per­ sönliche Momente weitgehend ausgeschaltet und Durchschnitts­ bedürfnisse realisiert. Der Mensch von heute kauft und ver­ wertet nicht, was er will, sondern was die Industrie will, daß er verwerte, und während wir überall dieselben Gebrauchsgegen­ stände, dieselben Möbel, Tapeten, Zigaretten, Kleidungsstücke, Grammophone und Unterhaltungslokale finden, sehen wir eine Erscheinung am Werk, die das Geistige überaus stark nivellieren mutz. Wie an dem Einzelbeispiel der Industrie liehe sich die For­ mungsarbeit des modernen Lebens auch auf anderen Gebieten zeigen. Überall ist die Verschmelzung zu großen Einheiten zu

einem ausschlaggegebenden Faktor geworden. Ls hat sich ein einziger, riesiger Lebensprozeß herausgebUdet, der notwendig Zentralen und Außenposten, lebhaft bewegte Kernpunkte und stillere Seitenwege, elementare Geschehnistnoten und letzte, feinste Adern kennt. Wie jedem Organimus, ist auch ihm Wesentliches und Nebensächliches, Stärkeres und Schwächeres eigen und solch divergierende Lebensgründe bestimmen Eigen­ art des einzelnen Zeitgenossen in physischer und seelischer Hin­ sicht. Macht, Elnfluh und Reichtum erntet man nur an den zentral gelegenen Stellen, an denen wir alle Menschen, die den Glanz des Lebens im Äußeren suchen, zusammenströmen sehen. Hier herrscht ein rücksichtsloser Kampf um den Griff am Steuer, hier werden die Menschen schnell verbraucht, wird der Schwache -erdrückt und auch der Starke schließlich zermürbt. Starke, herrschende Naturen, Arbeitsmenschen von unerhörter Intensi­ tät, hinterlistige, chren Vorteil klug berechnende Subjekte, Skep­ tiker, die mit. dem Leben spielen, finden sich dort zusammen; am heißen Atem der Möglichkeiten entbrennen alle Leiden­ schaften, wächst eine eigenartige Sehnsucht nach Dingen, die mehr sind als das Gold, und kann doch nicht beftiedigt werden, gm Gegensatz zu diesen Zentralstellungen kennt die lebens­ verbundene Gemeinschaft Außenbezirke, ein schlechter Boden für den, der Reichtum im Besitz suchen wollte, ein armer Boden, auf dem die Kümmerformen des heutigen Menschentums wach­ sen, ein abseitiges Land, das die geruhigen Erscheinungen des Spießbürgertums und des Sonderlings, ein weltftemdes Ge­ biet, das Persönlichkeiten einer zeitftemden, seelischen Kultur trägt. Raturträumer leben dort ein stilles, inneres Glück, Idealisten formen ein unwirkliches Weltbild, Wissenschaftler spüren Einzelheiten, die niemand sonst interessieren, uner­ müdlich nach, Massen von Kleinmenschen durchwandern ein bescheidenes Dasein. Zwischen Zentralen und Auhenposten aber fließt in über­ reichen Spielarten das Leben der bürgerlichen Massen und wer­ den in mannigfachsten Varianten Gegenwartstypen und Indi­ vidualitäten gestaltet. Weder arm noch reich, überall tastend und nirgends wurzelfest verankert, füllen diese Massen heute

die langen Häuserzeilen der Grohstädte und bevölkern immer mehr auch das weite Land.

Sie alle aber, die Menschen der extremen Lebensstellungen wie jene der Zwischenstufen, gehören dem einen Lebensprozeh an, der an ihnen arbeitet und in den sie auch wieder in ihrer persönlichen Art, vielfach ohne es zu wissen, hlneinwirken. Und diese Verbundenheit, Abhängigkeit und subjektive Auswirkung ist es, was das seelische Antlitz der Gegenwartsmenschen in der Form meißelt, in der wir es sehen. Solcher Zeitgebundenheit sehen wir auch die geistigen Hochleistungen überantwortet: Wissenschaft, Runft und Reli­ gion unserer Zeit. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt uns im 19. Jahr­ hundert die Groherscheinungen des kritisch-exakten Denkens und Forschens, die Erfolge der Naturwissenschaften und der Chirurgie; in der philosophischen Weltanschauung spiegelte sich das als Positivismus und Materialismus, die beide fteilich auch in eklektisch-spiritualistischen gdeen eine Art Gegenpol auslösten. Aus der alten Naivität plötzlich in das Wunderreich der Natur hinaustretend, verschrieb sich das 19. Jahrhundert überwiegend der materialistischen Denkart und nichts kann verständlicher er­ scheinen.

Comte, einer der bedeutendsten Vertreter des Positivismus, nennt seine neue Weltanschauung die dritte (letzte) Stufe der grohen Entwicklung des allgemein-menschlichen Geisteslebens. Die religiöse Anschauung, die eigene Zustände ins All hinein versetze und die Ereignisse personifiziere, gilt ihm als erste Stufe; die metaphysische, in der gdeen und abstrakte Prinzipien an die Stelle der Vielgötterei träten, als zweite; die positive Weltanschauung, die den Menschen eine klare Erkenntnis der Sachlage lehre, als dritte Stufe. (Hauptwerk: „Cours de Philosophie positive", 1830—1842). Der nachfolgende Mate­ rialismus, dessen Sieg ungefähr mit der Mitte des Iahrhundetts zusammenfällt, ging noch über diese Lehre hinaus, insoferne er auch das, was jenseits der Erfahrung liegt, leugnen zu können

glaubte und alles Weltgeschehen in das Zusammenwirken von Stoff und Kraft auflöste. (Büchner „Kraft und Stoff'.) Man braucht sich nur solche Kerngedanken vor Augen zu halten, um zu sehen, wie sehr sie psychisch durch das neue, natur­ wissenschaftliche Schauen bedingt waren. Man sah, geblendet durch neue, ungeheure Fernsichten, die Grenzen nicht mehr ab; man starrte fasziniert auf die Wunder des Lebens, nicht ahnend, daß von solchen neuen Einsichten nicht auf allen Gebieten ent­ scheidende Antworten kommen tonnten. Die Bindung des Menschen zeigt sich in der Notwendigkeit, mit der dieses Stadium durchschritten werden mußte, auf eine sehr eindringliche Art. Freilich darf man nicht übersehen, daß das 19. Jahrhundert sehr wohl Zeitgenossen hervorbrachte, die sich dem neuen Denken nicht überantworteten. Die religiös-kirchliche Weltanschauung wachte in den beiden Richtungen eines streng dogmatischen Denkens und eines wissenschaftlichen Forschens innerhalb kirch­ licher Grenzen; die spiritualistische Schule, ein zeitgemäßer Protest gegen die Enffeelung der Welt, wirkte aus breite Kreise, und auf den philosophischen Lehrstühlen saßen Neukantianer wie Riehl und Natorp, Idealisten wie Hartmann und Wundt. Aber sie waren zunächst alle mehr oder weniger in die Opposi­ tion gedrängt; das wissenschaftliche Feld behauptete bis an die Jahrhundertwende der Materialismus. Und auch dann, als nach Haeckels Buch „Die Welträtsel" diese Vormachtstellung start ins Schwanken kam, weil inzwischen die Grenzen des Neulandes viel sichtbarer geworden waren und eine neue Generation auch nicht mehr von dem Gefühl des Finderrausches so sehr beherrscht wurde, kam es nicht zu einer Überwindung, sondern lediglich zu dem eigenartigen Zustand, daß alle philosophischen Weltanschauungen nebeneinander weiter bestanden und also gleichzeitig alle Extreme gelehrt, be­ wiesen, bekämpft, verlacht und verehrt wurden').

Das war dieselbe Dielgestalt, den wissenschaftlichen Gei­ stern ein hartes Kampffeld, vielen im Lande zuletzt eine lächerx) In Einzelfragen wurde immer wieder Erstaunlichstes geleistet; ein Gesamtbild zu gestalten, gelang nicht, tonnte nicht gelingen. Hier standen ich viele unvereinbare Anschauungen gegenüber.

liche, verachtenswerte Erscheinung, der man keinen Ernst beimaß, dieses selbe Nebeneinander aller möglichen Richtungen, die bezeichnenderweise auch in der Rimft zu finden war, wo alle Richtungen, Gruppen und Grüppchen glaubten, die „wahre" Kunst zu vertreten und doch nirgends allgemeine Anerkennung sanden. Auch in der Kunst war Umwälzendes vor sich gegangen, waren die großen Einheiten realistischer und impressionistischer Grundeinstellung erwachsen und eben begann der Aufstieg der expressionistischen Malerei. Einzelerscheinungen von bedeutend­ stem Format waren abseits aller Richtungen ihren einsamen Weg gegangen, es gab mehr Kunst als jemals und doch keine, die man als schien künstlerischen Gesamtausdruck dieser Zeit­ genossenschaft hätte angesprochen. Beethoven, Schubert, Bruckner, Brahms, Schumann, Berlioz, Wagner, Weber, Verdi, Psihner, Strauß; Delacroix, Decamps, Bernet, Schwind, Rethel, Mittet, Feuerbach, Böcklin, Tourbet, Leibl, Trübner, Thoma, Meunier, Uhde, Eanova, MarLes, van Gogh; Hebbel, Grillparzer, Kleist, Heine, Eichendorfs und Petöfi, G. Keller, Mörike, Tennyson, Büchner, Balzac, Zola, Tolstoi, Dostojewski, Strindberg, Hauptmann, Dehmel, Stefan George — man muß sich diese, gewiß persönlich zusammengestellte Reihe von Künstlernamen vor Augen halten, um zu sehen, wie wenig jene Recht haben, die dem 19. Jahrhundert Kunstgröße absprechen wollten. Es werden sich im Gegenteil wenige Jahrhunderte früherer Zeiten finden, die eine annähernd gleiche Kunstleistung auszuweisen haben. Aber zugleich zeigt die Reihe auch die außerordentliche Divergenz und Extremität, die diesem Gesamt­ schaffen der Zeit innewohnt; kaum zwei Namen stshen neben­ einander, bei denen man nicht unwillkürlich frägt, ob sie denn eigentlich nebeneinander genannt werden dürfen. Dabei sind bedeutsamste Namen, die zugleich dieses Auseinandereilen kennzeichnen, nicht genannt: Makart und Lenbach, Tschaikowsky und Reger, E. F. Meyer und Maeterlink. Was Wunder, wenn sich um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten unseres 20. Jahrhunderts der allge­ meine Eindruck befestigte, wir hätten zwar Wissenschaften, aber

keine Antwort auf die wichtigsten Lebensfragen, zwar Künstler, aber keine Runft Man sah zurück auf Jahrhunderte, die, aus unserer Entfernung gesehen, ein einheitliches Antlitz -eigen, und glaubte, sagen zu dürfen, diese Zeitalter hätten allein Wissenschaft und Runft im höchsten Sinne besessen, während wir im Grunde verarmt seien. Deutlich klang und klingt heute noch diese Ernüchterung und Resignation an. Die Naturwissen­ schaften und die Technik haben nicht gehalten, was sich viele versprochen, freilich die Einsichtigen sich nie erwartet hatten, und stärker als je tauchte das Verlangen nach Antworten auf, die tiefer schürfen, die andere Gebiete umfassen. Selbst die Religion war im 19. Jahrhundert in den Zeit­ geist hineingewoben worden. Es kann uns nicht verwundern, denn schliehlich gehörten auch ihre Mitglieder menschlich der Zeit an. Einerseits beherrschten lange Zeit hindurch die neuen reli­ giösen Kampfschriften das Feld, das „Leben Jesu" von D. Strauß, worin Jesus als höchste sittliche Idee der Mensch­ heit dargestellt wird; das „Wesen des Christentums" von Feuer­ bach, ein Buch, das die religiösen Lehren als den altvererbten Besitz der Menschheit an höchsten Idealen ansieht; die „Kriti­ schen Untersuchungen" von Baur, der die Evangelien als ver­ dichtete Sammelwerke einer ganzen Zeit, nicht als Werke einzelner Männer ansprach. Hier zeigt sich deutlich der Einfluß des neuen, kritisch forschenden Geistes der Naturwissenschaften. Anderseits wurde aber das religiöseLeben am stärksten von dem ebenfalls neuen Organisationsgedanken durchdrungen. D. Wessenberg wollte eine deutsche Rationalkirche organisieren, Oberlin im Elsaß, v. Kottwitz in Berlin, Hinrich Wichen in Hamburg, Th. Fliedner in Kaiserswerch und G. Werner in Reullingen organisierten im Dienste der Inneren Mission. Kolbing gründete den Kach. Gesellenverein und ihm schlossen sich, der Idee nach die vielen Gründer von Pius-, Vinzenz-, Donisatiusvereinen an, nicht zu vergessen auch das Aufkommen des libe­ ralen Protestantenvereins. Was sonst noch an Namen auf reli­ giösem Gebiet auftritt, sind aber vollends ausgesprochene Kampfnaturen, wie etwa Ritschl oder Döllinger oder der Main-

zer Bischof v. Ketteler. Die Still-Tiefreligiöfen, die Helligennaturen wie Franziskus oder Johannes, findet man kaum oder doch höchst verborgen. Die Kirchen sehen sich in einer Zeit, in der alles anders wird, genötigt, vor allem zu kämpfen und die neuen Mittel der Menschenführung sich dienstbar zu machen. Erst dem 20. Jahrhundert ist auch hier vorbehalten, wieder mehr das Geistige, verinnerlichte Moment zu betonen. So sehen wir aus keinem geistigen Hochgebiete, obwohl alle sehr start begangen werden, eine Zentralleistung, ausge­ nommen die für letzte Fragen unzulängliche der Naturwissen­ schaften und so konnte auch von dorther keine allgemein fesselnde und zeitbestimmende Antwort auf letzte Lebensftagen erfolgen. Fn den Naturwissenschaften arbeitete der menschliche Geist am Wesen der Zeit; aber es geschah auch hier nicht in dem Sinne einer bewußten Zeitschöpfung, die Wirkungen, die von all den Geistestaten ausgingen, waren in Wahrheit vollkommen andere, als man gedacht hatte. Was an neuen großen Zeiterscheinungen eintrat, war vielfach organisch veranlaßt durch die neue Er­ kenntnis und Technik, man denke nur an die Auswirkungen des modernen Verkehrs, die Wurzel des großen Verschmelzungs­ prozesses der Massen und Völker. Aber niemand hatte diese Wirkung voraus abgesehen oder gar zielbewußt herbeigeführt. Die Wissenschaft selbst sah sich, sehr zu ihrem Erstaunen, in völlig neue Verhältnisse hineingestellt; auch sie, obwohl in relativem Sinne Urheberin der Entwicklung, untersteht starken Diktaten der Zeit. Es ist eine unrichtige Meinung, wenn man, aus Achtung vor der geistigen Qualität von Wissenschaft, Runft und Religion (gegenüber den Banalitäten des einfachen Lebens) glaubt, diese Hochleistungen würden die maßgebenden Faktoren der Zeit­ gestaltung sein. Für das Antlitz der Zeit sind ausschlaggebend die besonderen Formen der organischen Bindungen, denen diese Menschheit untersteht. Das Hochgeistige kann als einer der Faktoren in das Gesamtgeschehen hineinwirken, aber es kann nicht das Handeln und Leben der Menschen unmittelbar be­ stimmen. So wenig als der einzelne Mensch seine Daseinslage frei wählen und damit sein Leben in absolutem Sinne bestim-

men kann, was die relative Freiheit und Schrcksalsgestaltung nicht ausschließt, so wenig kann sich eine Zeitgenossenschaft ihre Weltlage selbst schaffen; ihre höchste seelische Potenz kann nur mittelbar formen. Stärker als menschliches Wollen ist immer die Gewalt der tragenden Lebenslinien. Wenn aber, in einer Zeit der Umformung aller Lebensfor­ men, vollends auch in der Geistigkeit sich der chaotische Zustand der Grundelemente widerspiegeln muß, dann kann um so weniger diese Geistigkeit die Zeitherrschast innehaben, und alle die, welche nur dem oberflächlichen Eindruck verpflichtet sind, müssen sogar sehr weit von einer Hinneigung zu hochseelischen Impulsen entfernt sein. Deutlich fühlt auch der einfachste Mann den Mangel einer einheitlichen großen Linie; was er aber sieht, das Vielerlei, das Konträre, das Unvollendete, das vermag er nicht als hohen Wert zu empfinden. Daß unsere Kunst die ganze Zerrissenheit, Qual und Gebundenheit unserer Zeit wiederzu­ geben weiß, das achtet er nicht; denn er will in Kunstwerken nicht Fragen, sondern Antworten, nicht Konflikte, sondern Lösungen seines eigenen, unbeftiedigenden Daseins schauen. Deutlich wird heute die Sehnsucht, das Chaotische zu über­ winden, eine immer allgemeinere: ein Anzeichen, daß wir uns innerhalb des großen europäischen Lebensprozesses, der nun schon Jahrhunderte währt, in der Peripetie befinden, im eigentlichsten, zentralen Übergang. Wir suchen die Überwin­ dung unserer Zeit, und so ist uns alles, was nur unseren eigenen Zustand vorzeigt, unvollendet, nur relativ genügend. Es kann für uns einen anderen Weg als den in die Vollendung des ge­ waltigen Prozesses nicht geben. Es ist unser Schicksal, das Neue zu formen und wir sind doch zu sehr mit Erinnerungen und Formen früheren Lebens belastet. Das ist vielleicht die kürzeste Formel, auf die unsere Lage gebracht werden kann. Sie wäre, (auch das muß not­ wendig hinzugefügt werden) falsch verstanden, wenn man da­ bei nicht zwischen Lebensformen und Lebensinhalten zu unter­ scheiden verstände. Es ist unser Schicksal, daß sich unsere Lebensbindungen (im Ablauf des Gesamtprozesses) neu formen und wir uns auch

bewußt dieser neuen natürlichen Lebenslage anpassen müssen. Unsere Zeitkrisis wurzelt zu tiefst in dem Wesen unserer Gegen­ wart und insoweit kann sie weder negiert noch durch irgend­ welche Bestrebungen vorschnell überwunden werden. Der Prozeß muß sich selbst langsam vollenden und er wird es tun. Aber unsere Zeitnot wurzelt auch in der Spannung zwischen den heute wirksamen Lebensmächten und unserer bewußten Geistig­ keit, die sich in Formen bewegt, die einmal naturgemäß waren und es heute nicht mehr sind. Und diese Zeitnot kann über­ wunden werden, sobald wir den Zwiespalt aufheben und die Form für unsere Lebenslage gefunden haben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß alle die großen Entwicklungslinnen, die im bisher abgelaufenen Teil des Gegen­ wartsprozesses sichtbar geworden sind, weiter wirken: Die Technik wird ihr Werk bis an die Grenze des Möglichen fordern. Der Verkehr wird sich ausbreiten, verbessern und verdichten und auch Strecken, die uns heute noch außerordentlich erscheinen, zu erreichbaren verkürzen. Städte, die noch weitab von einander liegen, werden zu Nachbarstädten werden und Länder, die sich jetzt noch halb fremd sind, müssen nachbarlich zufammenrücken. Die Ernährungsformel „Alle Fruchtbarkeit der Erde allen Men­ schen dienstbar!" muh sich bei steigender Überwindung der Transportschwierigkeiten noch viel mehr realisieren. Die Indu­ strie wird unser Dasein mit immer noch steigendem Komfort ausstatten, unser Leben noch mehr von ursprünglicher Mühe­ waltung befreien und uns neue Bedürftigkeiten angewöhnen. Die Völker werden sich nähern und mischen, kontinentale Ein­ heiten, innerlich fteilich voller Spannungen, treten an die Stelle der jetzigen nationalen Verbände. Alte Berufe werden sterben und neue auskommen, das gesellschaftliche, politische und geistige Leben wird neue Grundlagen und Formen annehmen — mit einem Wort, der große Dereinigungsprozeh, durch die Natur­ wissenschaften und die Technik angebahnt, wird sich mit allen seinen Ausläufern vollenden. Diesen Vorgang kann niemand aufhalten, wie ihn niemand erdacht und bewußt verursacht hat. Die Entwicklungslinie berechtigt uns vielmehr zu der unserem heutigen Erfahren und Denken fast unmöglich erscheinenden

Schlich, daß sich damit eine neue, kommende große Shiltut vor­ bereitet, die dann eingetreten sein wird, wenn wieder eine natür­ liche Stabilität der Lebensunterlagen Tatsache geworden ist, eine Kultur mit einer großen Lebensanschauung und einer reichen Kunst, eine Shiltut mit tiefreligiösem Gehalt, die dann gleich uralten Kulturen gewaltigsten Formates ihrerseits wieder in späte Jahrtausende hinausleuchten mag. Hier kann sich sehr wohl die pessimistische Anschauung vom Untergang des Abend­ landes als leidenschaftliche, aber -eitgebundene Idee eines chaotischen Äbergangszeltalters erweisen. Diesen allgemeinen welthistorischen Charakter unserer Jahrzehnte, vielleicht unseres Jahrhunderts können wir nur als gegebenes Schicksal hinnehmen. Dessenungeachtet aber läßt sich die psychische Rot, in die wir innerhalb dieses Vorgangs

geraten sind, überwinden, weil sie nur darin begründet ist, daß wir unsere Lage noch nicht erkannt haben und mit alten, naiven Anschauungen und Gepflogenheiten in einer neuen Zeit leben wollen. Unsere Lage ist heute schon wesentlich dadurch zu kennzeich­ nen, -aß sich der einzelne, schwache und subjektiv beengte,Mensch innerhalb des Millionenverbandes von Nationen und Kontinental-Gemeinschasten befindet. Aus dieser Konstellation der Kräfte erwachsen ihm, dem Kleinen und Schwachen, bedeutende Gefahren. So umgibt ihn zunächst eine Unsumme von Ereignissen, viel zu groß, als daß er sie alle auch nur annähemd erfassen könnte. Aus einer älteren Zeit stammend, glaubt aber der Mensch von heute immer noch, alles wissen zu müssen. Die Presse, als Geschästsunternehmen, kommt diesem naiven Drang, alles zu erfahren, möglichst weit entgegen und so nimmt der Gegenwartsmensch viel zu viel auf. Er ist geistig über­ ernährt, wenn man so sagen darf. Er liest in seiner Presse und hört aus dem Munde seiner Bekannten eine endlose Kette von Nachrichten, die zwar alle für ihn an sich belanglos sind (viele entsprechen nicht einmal der Wirklichkeit), die ihn aber alle Nervenkraft kosten. Bedenkt er den Familienmord, das Eisen-

bahnunglück, die Demarche eines Botschafters, das Fallen eines Börsenkurses, den kühnen Flug eines Ausländers oder die Auf­ nahme eines heimischen Projektes auch nur einen Augenblick, so hat doch ein psychischer Prozeh stattgefunden mit seiner for­ malen Verausgabung des Willens. Und alle diese Ausgaben sind vollkommen vergeblich gewesen. Dazu kommt das Verhängnisvolle, dah sich in diesen Nach­ richten, aus Geschäftsrücksichten, technischen Mängeln, Sensa­ tionslust, Egoismus und Einseitigkeit der Iwischenstellen un­ endlich viel Falsches befindet und dieses Falsche immer auf­ regend, aufpeitschend wirkt. Wer etwas Gutes von den Men­ schen berichten würde, könnte nur einen kleinen Prozentsatz an Blättern von dem verkaufen, was er an den Mann bringt, sobald er die Menschen in einem erregenden Lichte zeigt. Aus einem Iugunsall mit einigen Schwerverletzten wird ein llnglück mit vielen Toten, aus einer kühlen Rede eine einseitige Hetze, aus der erregten Sitzung einiger Politiker eine Kriegs­ gefahr. Alles das muh einen grohen Teil unserer Kraft ab­ sorbieren und uns unfähig machen, Wertvolleres, Tieferes zu erleben. Die sympathischen Farben verschwinden aus dem Bild der täglichen Erfahrung; sie werden durch grelle, hähliche, erschütternde erseht. Aus dem ungleichen Verhältnis zwischen Welt und Einzel­ bewußtsein ergibt sich fernerhin, dah der Einzelne die Gesamt­ heit nicht überblicken und sich also selbst kein klares Bild gestalten kann. Nicht einmal die einfachsten, nächstliegenden Zusammen­ hänge vermögen wir mehr gut sachlich abzuschauen. Daraus hat man aber nun nicht Zurückhaltung und Skepsis gegen das Subjektive gelernt, weil ein Vergleich zwischen Wahrheit und Eigenanschauung nur selten möglich wird; man vertraut sich vielmehr dem Iufallsbild des eigenen Denkens an und ersetzt durch Phantasie, was an Erfahrung mangelt. So ergeben sich auf allen Gebieten in unserer Vorstellung ungeheure Ver­ zeichnungen, über die wir erschrecken würden, wenn wir sie faßbar vor Augen sähen. Von Verkehr und Handel, Börse und Industrie, Schule und Kirche, Staat und Politik, von der Tätig­ keit aller Berufe (ausgenommen den eigenen) und vom Wollen Braun, DI« Macht de» S«ettsch«n.

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und Handeln unserer Mitmenschen tragen Vir eine Unsumme falscher Meinungen mit uns, ziehen aber alle Folgerungen aus diesen Meinungen und reden und handeln, als wäre alles lauterste Wahrheit. Daß wir unwissend sind, kann uns moralisch entschuldigen, es kann aber, und das ist entscheidend, die Folgen eines solchen Denkens und Handelns auf ungenügender Grund­ lage nicht von uns nehmen. Weil die Voraussetzungen voll­ kommen oder mindestens relativ falsch sind, darum ergibt sich auch ein vollkommen falsches Ergebnis und wir geraten ost in sehr betrübliche Situationen, well wir selbst oder andere sich rein persönlichen irrigen Meinungen anvertraut haben. Wir haben keine Zeit, uns über unsere einzelnen Anschauungen Rechenschaft zu geben; wir müssen aber Zeit haben, die un­ glücklichen Folgen durch Monate und Jahre hinzuschleppen. Das erzeugt erneute Verbitterung und Zeitskepsis. Man kann heute in jeder Untersuchung von Konfliktsfällen eine große Zahl solcher subjektiver Irrtümer feststellen, die sich zumeist tragisch auswirken. Der Nachbar vermutet hinter der Handlungsweise seines Nächstwohnenden, weil sich schon Diffe­ renzen ergeben haben, bei irgendeinem Vorkommnis schlechten, boshaften Willen. Der Untergebene sieht in der Anordnung seines Vorgesetzten Schikanen, der Vorgesetzte liest im Antlitz des Untergebenen Resistenz. Der Bürger nimmt Ereignisse, die sich aus Verhältnissen herausentwickeln, als bewußt herbei­ geführte Situationen herrschender Kreise; die Inhaber der politischen Macht haben nicht selten von den seelischen Zu­ ständen derer, über die sie richten, ein unhaltbares Dorstellungs­ bild. Immer wieder werden Verknotungen des Zeitgeschehens, die aus unendlichen vielen Ursachen entstehen, in eine unmög­ liche Formel zusammengepreßt, als Willensakt eines einzigen Menschen disqualifiziert, und es ist ein gewöhnliches Schauspiel geworden, daß man sogar den, der eine Siüiation am meisten zu verhindern strebte, schließlich für ihren Urheber anspricht. Die Angst vor dem Schicksal, eine aus vielen Enttäuschungen erwachsene Skepsis, die Leidenschaft der Selbstsucht und die Nervosität unserer Zeit gcnildn uns sehr ost Bilder und Deutungen eines Geschehens vor, die durchaus nicht der

Wirklichkeit entsprechen, von uns aber als Wirklichkeiten ge­ nommen und mit allen Konsequenzen durchgefochten werden. Für all die unglücklichen Lebenslinien, die sich daraus ergeben, Nagen wir aber nicht unsere ungenügende Beherrschung des Seelischen an, sondern Menschen, von denen wir uns mindestens in die große Einsamkeit der Menschenverachtung zurückziehen. Weil wir die organische Natur des Gesamtgeschehens, dem wir verpflichtet sind, verkennen, darum verkennen wir auch die verschiedene Struktur der einzelnen Mitmenschen und handeln so, als müßten sie uns gleich sein. Obschon wir täglich erfahren, wie unterschiedlich die Menschen geartet sind, übertragen wir doch gleichzeitig alle unsere Urteile auf die Verhältnisse anderer Menschen und messen fremdes Leben an eigenen, persönlichen Maßstäben. Niemand von uns ist gewohnt, das Denken und Handeln von Mitmenschen nach den Zusammenhängen, denen es in Wahrheit entspringt, zu betrachten und zu werten, sondern immer wieder übertragen wir naiv unsere Inhalte in ein frem­ des Geschehen. Die größte Anzahl -er Menschen denkt und handelt so, als müßten alle anderen genau so denken und han­ deln wie sie selbst. Eine andere Meinung wird abgelehnt, eine artfremde Tat bekämpft; jedes Gesicht mit ftemden Zügen löst schon Antipathie aus. Der Diktator, der mit allen Gewalt­ mitteln die Menschen seelisch zu uniformieren sucht, ist der typische, extreme Vertreter dieser weitverbreiteten seelischen Haltung. Während die Natur niemals gleiche Menschen her­ vorbringt und nichts übler sein könnte, als wenn sie es einmal vermöchte; während eine so große Gemeinschaft wie die unsere unmittelbar dadurch bedingt lebt, daß sich in ihr reichste Men­ schenvariationen finden — denn nur so können die höchst unter­ schiedlichen Ausgaben alle bewältigt werden —, ja während wir nicht einmal selbst werden könnten, was wir sind, wenn nicht die verschiedenartigsten Kräfte alle unsere seelischen Fähigkeiten zur Entwicklung brächten: suchen die vielen Ge­ walthaber vom politischen Diktator bis zum kleinbürgerlichen Spießbürger herab immer die ganze Welt nach chrem Bewußt­ sein zu formen. Gelingt es auch nicht, so strömt dadurch doch fortwährend eine Flut von Zurückweisungen, Auftegungen, 3*

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Kampfansagen und phantastischen Gerüchten in die Zeitge­ meinschaft herein, verbraucht Kräfte und Zeit und erhöht unsere Müdigkeit und Skepsis. Wir hemmen, in großen und kleinen Dingen, andere und sehen uns selbst fortwährend gehemmt. Überblicken wir unsere Tätigkeit, so finden sich viele Vorkomm­ nisse völlig unproduktiver Art. Dabei zeigt sich die eigenartige Erscheinung, daß selbst geistig orientierte Menschen diesem Fehler verfallen. Zwar sagen sie selbst oft genug, die Menschen seien sehr vielgestaltig und es sei gut so. Nichts könnte unerwünschter sein, als wenn alle Menschen sich gleich wären. Aber sobald es sich um ent­ scheidende Fragen handelt, vergessen auch sie plötzlich diese Einsicht und verfechten doktrinär ihre eigene Anschauung, un­ bekümmert darum, ob eine reale Möglichkeit vorliegt, daß dies auch die Anschauung anderer Menschen sein könnte. Auch sie stehen den Dingen nicht seelisch-sachlich gegenüber, obwohl sie es entrüstet ablehnen würden, wollte man ihnen den Wert sachlichen Urteils erklären. Ein weiterer Schaden, der sich aus der seelischen Nichtbe­ herrschung des Lebens ergibt, liegt darin vor, daß wir den orga­ nischen Charakter aller unserer Beziehungen zu Mitmenschen außer acht lassen und unsere Verbindungen daher nicht pflegen. Wir überlassen hier so gut wie alles dem Zufall, selbst unsere wenigen Freundschaften und unsere Ehe. Wir beginnen nur zu klagen, wenn sich die Verfallerscheinungen schon deutlich zeigen. Das ist doppelt eigenartig in einer Zeit, die sonst für kau­ sale Zusammenhänge sehr hellsichtig ist und dem Worte Zufall eine geringe Bedeutung beimißt. Aus allen anderen Gebieten, heißen sie Geschäft oder Produktion oder Politik oder Erziehung oder Wissenschaft, hätten wir kein Verständnis für den, der alles dem Zufall anheimgäbe. Der Riesenerfolg der Naturwissen­ schaften beruht einzig auf der Ausschaltung des Zufallsprinzips und auf der strengen Arbeit des logischen Experimentes. Aber im Gebiete unseres Seelenlebens überlassen wir uns noch voll­ kommen dem sonst so verachteten Sichgehenlassen. Wenn je­ mand die einfachen hygienischen Lebensregeln nicht beachtet und

uns verklagen würde, weil er früh altere oder „plötzlich" er­ krankt sei, so würden wir diese Klage ablehnen und klar auf die Ursache dieses Alterns, dieser Erkrankung Hinweisen. Wenn aber jemand klagt, dah er einen letzten Freund verloren habe oder seine Ehe innerlich zerstört sei, dann wissen wir nichts von den wahren Ursachen und stehen vor diesen Erscheinungen in derselben Art, in der unsere Vorfahren vor den Opfern der Unreinlichkeit oder der ansteckenden Krankheiten standen. Beziehungen von Menschen untereinander, erreichen sie nun nur den Grad von Bekanntschaften oder den bedeutsameren der Freundschaft oder der Ehe, müssen aber zerfallen, wenn sie nicht gepflegt werden, weil bei der unterschiedlichen, geistigen Konstitution und augenblicklichen, psychischen Struktur jedes einzelnen auch hemmende, gegenteilige Faktoren in Wirk­ samkeit sind. Dazu kommt die Macht der augenblicklichen Situa­ tion, die uns, sobald wir nur überhaupt zu zweifeln begonnen haben, sogleich Abstohendes vorgaukelt, umsomehr, als wir ja allgemein zur Skepsis neigen. Wir fürchten gleich, auch dieses Verhältnis, so sehr es uns entsprach, könnte wieder zerfallen und damit haben wir dem Zweifel alle Tore geöffnet. Statt die ersten eindringenden Zerstörungskeime durch eine Beherr­ schung des Seelischen zu vernichten, überantworten wir uns ihnen im weitesten Matze und geben ihnen das Feld frei, aus dem sie zu wuchern beginnen. Es ist psychisch in höchstem Matze naiv, Beziehungen zu Mitmenschen in der Art zu idealisieren, dah sie an sich unlösbar wären. Spricht man in solcher Weise von Freundschaften oder von einer Ehe, so verkennt man vollständig die zerstörende Tendenz, die allem Leben innewohnt, man übersieht, dah das Leben immer in Bewegung und daher auch auslösender Arbeit begriffen ist. Don der Ehe zu erwarten, sie sei an sich innerlich unzerreihbar, sobald sie nur einmal geschlossen wäre, bedeutet soviel, als zu wähnen, ein Garten, der einmal im Frühjahr be­ stellt wurde, könne nun sich selbst überlassen werden. Gerade im Eheleben muh sich der Mangel einer zielklaren, bewußten Pflege heute besonders bemerkbar machen, nachdem einerseits die früheren, sozialen Verhältnisse, die eine Auflösung der Ehe

fast unmöglich machten, nicht mehr bestehen und anderseits auch das Eheleben, aus dem alten Familienverband herausgenom­ men, nur mehr auf die rein seelische Basis gestellt ist. Die Ehe kann heute mehr sein als sie je war, weil sie immer mehr zu einer seelischen Angelegenheit wird, während früher gesell­ schaftliche, finanzielle, gemeindliche und verwandtschaftliche Beziehungen stark mitsprachen. Gerade deshalb aber wird eine naive Haltung die Ehen gefährden und in der Tat sehen wir heute eine grohe Zahl wenigstens innerlich erstorbener, wenn nicht auch äußerlich getrennter Eheverhältnisse bestehen. Über die engeren persönlichen Verbindungen hinaus fehlt uns vollends eine Pflege der Beziehungen zu unseren Mit­ menschen schlechthin. Zwar sind wir gewöhnt, eine gewisse, kühle Höflichkeit walten zu lassen; aber niemand täuscht sich darüber, daß diese Höflichkeit rein äußerer Natur ist. Innerlich sind wir fast alle einsam und fühlen uns niemand verbunden. Es fehlt uns jene Zuneigung, jenes Sichnahewissen, aus dem die Anter- und Einordnung abfließt. Wir ermangeln der see­ lischen Kanäle zu den Menschen, unter den wir uns bewegen, jener eigenartigen Bindungen, durch die dem Menschen Sym­ pathie, Freude, Geborgenheit, Aneiferung und Lust zur Pro­ duktivität zuströmt. Der Mensch des 18. Jahrhunderts lebte noch in solcher inneren Gemeinschaft; wir haben sie völlig ver­ loren. Wir sind nur mehr kühl-höflich. Diese Tatsache bedeutet seelisch außerordentlich viel, denn sie enthält uns die besten, fördernden und belebenden Einflüsse vor und überantwortet uns einer Verlassenheit, die selbst große Menschen nicht ohne Schaden erleiden. Sie stellt uns der Welt in Unlust gegenüber, während wir int besten Sinne produktiv und lebendig nur wären, wenn wir in ihr stünden. Sie belastet uns, die wir ohnedies genug gehemmt sind durch die allgemeine Zeitsituation. Die Tatsache liegt aber durchaus nicht im Wesen der Zeit. Sie ergibt sich zum größten Teil nur daraus, weil wir die Beziehungen zu unseren Mitmenschen nicht bewußt be­ achten und pflegen. Kommen wir, wie es heute unvermeidlich ist, mit lauter Menschen zusammen, die irgendwie anderer Natur sind als wir selbst, so ergeben sich Differenzen, die sich

sehr wohl überbrücken liehen, wenn wir uns dessen versehen wollten, die wir aber praktisch nicht überbrücken. Wir opfern sofort die Beziehung, geben uns einem schrankenlosen Heraus­ stellen unseres subjektiven Standpunktes hin (bezeichnender­ weise am allereifrigsten dann, wenn wir uns selber im Unrecht wissen) und müssen dann natürlich erleben, dah es um uns ein­ sam wird. Man gibt sich keine Mühe, Zerstörungsvorgänge solcher Art auszuhalten, vielmehr reißt man alle Gegensätze noch mehr auf und zerstört mit einer wahren Wollust alle Brücken zu -en Zeitgenossen. Wie soll aber, wenn diese Zer­ störungskeime Tag für Tag an der Zeitgemeinschast fressen, ein Gefühl der Verbundenheit und ein Wille zur Einordnung aufkommen? Darüber klagt man wohl, aber die Wurzel sieht man nicht. Laienhaft ruft man die Menschen von außen her zum nationalen Zusammenhalt auf, während gleichzeitig alle täglichen Erfahrungen das Gegenteil predigen. Wenn alle die, die noch für die Gesamtheit in reinem Sinne handeln, einen sicheren Schaden zu erwarten haben» wie soll es dann eine grö­ ßere Zahl solcher gutgläubiger, für das Gemeinwohl an sich wertvoller Menschen geben? Wo keine Beziehungen bewußt gepflegt werden, da kann äußere Höflichkeit den inneren Schaden nicht verbergen, allzu deutlich sind unter der dünnen Oberschicht die wahren, leidenschaftlich-egoistischen Motive sichtbar. Alle stehen gegen alle. Dies kann vor allem auch deshalb geschehen, weil wir, den prozessualen, organischen Charakter alles Geschehens verkennend, niemals die seelischen Folgen unseres Handelns beachten. Wir denken nicht daran, daß die Ereignisse alle seelisch chre große Auswirkung nach sich ziehen, und schädigen uns als Einzelne und als Volk. Verbringt man seinen ganzen Tag mit auftegenden Din­ gen, die vermeidbar wären, so wird man dadurch nicht allein seine Kraft nutzlos verausgabt haben, man hat zweifellos auch an seiner seelischen Konstitution denkbar ungünstig gearbeitet. Das Gift ist auf seelischem Gebiete nicht weniger schädlich als auf physischem. Zerstört man Verhältnisse, durch die man eine Bereicherung hätte erfahren können, so verarmt man nicht nur

selbst, man verletzt auch den anderen Teil und trägt so zur all­ gemeinen Zeitverstimmung bei. Verletzt man durch arrogantes Benehmen oder erschüttert man durch ein ungerechtes Vorgehen, so hat man nicht weniger, vielleicht viel mehr Schaden ange­ richtet, als hätte man geschlagen oder getötet. Nur weil see­ lische Schäden nicht so sinnensällig vor Augen stehen, hält man sie für belanglos. Über den Verlust eines Freundes tröstet man sich heute leicht (soferne es überhaupt noch Freundschaften gibt) während man den kleinsten Geldverlust sehr hoch anschlägt; man weiß nicht, daß der Verlust eines Menschen uns viel ärmer macht. Wir haben für unsere seelische Armut kein Gefühl mehr, ähnlich, wie der chinesische Shilt nicht weiß, wie arm er ist.

Dabei könnte man jede große, den Besitz des Geldes auf heutige Weise genießende Gesellschaft als Beweis dieser Armut anführen; denn schließlich kann eine Nacht, die hunderttausend Mark kostet, dem verwöhnten Genießer nicht einmal soviel Freude einbringen als sie ein Matrose sich für ein paar Groschen in der Schnapsschenke kauft. Das ganze moderne Genußleben ist in all seiner gemachten Herrlichkeit doch, das wissen die Teil­ nehmer in nüchternen Stunden am besten, nur ein Beweis der Armut, kaum tauglich, die drohende Langeweile zu vertreiben.

Wir sind seelisch sehr arm. Das ist die grausame Folge davon, daß wir die seelischen Derbindungsfäden alle abschneiden und keine organisch notwendigen Folgen unseres Verhaltens kennen. War es nicht in anderer Hinsicht eine solche Verkennung notwendiger Folgen, wenn im 19. Jahrhundert die rücksichts­ lose Polizeiherrschaft Empörung um Empörung, Revolution um Revolution aufzüchtete, in dem psychologisch unmöglichen Gedanken, seelische Mächte mit äußerer Gewalt erledigen zu können? Wieviel wäre Europa erspart geblieben, wenn man verstanden hätte psychische Groherscheinungen auch psychisch zu lenken? Welch bittere Lehre für die, welche sich selbst schlugen und welch tragisches Geschehen für die vielen Unschuldigen in allen Lagern, die dann von dem Wirbelwind mitgerissen und zerstört wurden!

Und damit kommen wir zum eigentlichsten, zum tiefsten Schaden, der durch den Mangel einer sachlichen Beherrschung des Seelischen in unserer heutigen Weltlage entstehen muß: zu der beispiellosen Vergeudung aller Kraft, zu der Tatsache, daß sich aller Wille und alles Können im Bruderkampfe neutra­ lisiert, statt daß es positiv angeseht würde. In einem sinnlosen Innenkrieg reiben sich die Kräfte derselben Nationen aus und niemand denkt daran, daß man mit ihnen außerordentlich viel Positives schaffen könnte. Das Europa, das mit PS wuchert, verschleudert seine Menschenkräfte in tragischer Weise, weil es von der gewaltigen Bedeutung des Seelischen noch nichts weiß. Gleichzeitig aber leidet es an allen Folgen dieser nutzlosen Ver­ ausgabung : an Nervosität und Verarmung, an Anproduktivität und Haltlosigkeit, an täglichen politischen Krisen und dem Gefühl, dauernd auf einem Vulkan zu leben. Gewiß liegen in der Natur des menschlichen Lebens an sich solche Spannungen, Gegensätze und Hemmungen. Es wäre die naive Anschauung eines Laien, zu denken, diese Gegensätze ließen sich ausschalten. Man würde damit das Leben selbst negieren. So lassen sich ja auch die physikalischen Stoffe, die wir Gifte nennen, weil sie unter bestimmten Verhältnissen unseren Tod bedeuten, nicht aus dem Weltbild wegdenken und wir sehen sie heute vielfach in unserem eigenen Leben als not­ wendigste Bestandteile an. Aber die Existenz dieser Gifte und ihre Notwendigkeit bringt uns doch immer die Gebundenheit, sie zu beachten und in jenen Verhältnissen, in denen sie tötlich wirken, zu vermeiden. Dieser Prozeß, den wir auf physischem Gebiet heute weithin beherrschen, beachten wir in psychologischer Hinsicht noch gar nicht. Wir setzen uns blindlings der unglücklichen Wirksamkeit seelischer Vergiftung aus und lassen in solcher Ankenntnis unsere besten, jedenfalls ein Hochmaß von Kräften unnütz zerstören. Wir beherrschen das Seelische in keiner Weise und erliegen daher den Gefahren, die die allgemeine Evolution des Lebens in unserer Zeit mit sich brachte. Wenn wir heute alle unserer Zeit mit Skepsis begegnen, alle irgendwie seelisch gelähmt sind, alle freudige Produktionsform eingebüht haben und nur mehr

arbeiten, um das Geld für das Notwendige und einen raschen Genuß zu erhaschen; wenn fast alle Drücken zwischen den Men­ schen abgebrochen sind und wir mehr durch den Staatsanwalt miteinander verkehren als durch Freunde; wenn überall der nackte Egoismus am Werke ist und auch der allerletzte Idealist kapituliert; wenn die Welt trotz aller Erfindungen und technischen Fortschritte im Grunde bettelarm geworden ist, der Unver­ mögende grollt und der Vermögende sich langweilt; wenn wir nirgends mehr innerlich zusammengeschmolzene Freundes­ kreise, dafür aber überall Advokaten treffen; wenn man weit gehen muß, bis man ein frohes Menschenantlitz trifft, aber nur die nächste Tageszeitung aufzuschlagen nötig hat, um den Zu­ sammenbruch vieler Menschen in Verbrechen oder Selbstmord vorzufinden: so ist das alles im Grunde eine Veranschaulichung des einen großen Zeitereignisses, der psychologischen Epidemie unserer Gegenwart. Vergebens sehen wir vielerlei Organi­ sationen mit der Lösung der einen oder anderen Krisis beschäf­ tigen. Hier hilft nicht Teilarbeit; hier ersteht die Aufgabe, das Ganze in seinem Wesen zu begreifen und in seinen Wurzeln zu überwinden. Und das ist die Aufgabe der Psychologie und der aus ihr hervorgehenden, seelischen Hygiene. Wir sind in hundert Jahren tief in das Reich der physi­ kalischen und chemischen Raturzusammenhänge eingedrungen. Tausendfältige, vorher niegeahnte Erkenntnis ist uns daraus erstanden und ein neues Schicksal, das wir heute noch nicht ab­ sehen, ist ungewollt erwachsen. Das hat unseren Blick gefesselt und hat die Menschen immer mehr diesen Gebieten des Mate­ riellen, der Umweltkräste verpflichtet. Der Blick ruht auf diesen Dingen, und das umsomehr, als die Stellung jedes Einzelnen davon berührt wird, neue Wege auch neue Schicksale bringen, gute und böse. Es gilt aber, diese Einseitigkeit zu überwinden; den Blick mit Gewalt auch wieder herüberzuziehen zum Seelischen, zum Innenleben, nicht aus negativen oder romantischen Gefühlen, sondern um der bitteren Notwendigkeit halber. Über der Be­ achtung des einen großen Lebensfaktoren, der Umwelt und der

in ihr lebendigen Gestaltungskräfte, ist die nicht minder not­ wendige Beachtung des Innerlichen, des Seelischen vergessen worden und so hat das Seelische mit dem Materiellen nicht Schritt gehalten. Auf äußeren Gebieten hat sich die Lebens­ stellung des Menschen verbessert; seelisch ist er ärmer geworden und heute treibt diese Entwicklung zur Katastrophe. Die Mensch­ heit wird seelisch erliegen, während sie materiell siegte. Europa erträgt die Wirtschaft nicht mehr ohne den Aufbau der einer solchen Zeit sinngemäßen Geistigkeit. Diese Gefahr kann nur überwunden werden, wenn jetzt die seelischen Momente den wirtschaftlichen, d. h. dem ganzen Wesen der Zeit entsprechend angeformt werden und Europa lernt, zu leben, was es geworden ist. Es ist ein Unding, in einer seelischen Haltung untergehender Lebensformen neue Verhältnisse leben zu wollen; es muß die neue Geistigkeit geformt werden, wie die neuen Lebensver­ hältnisse geformt wurden, ein Vorgang, der freilich durch die Zeit selbst hervorgerufen und bedingt ist, sich aber ebenso wenig als das Materielle ohne unser Zutun, unser bewußtes Kennen und Können vollenden kann. Drei große Ziele scheinen heute dieser gewaltigen Wendung gesteckt zu sein: Die Erforschung des Wesens der Gegenwart; die Grundlegung und der Ausbau einer tragfähigen Psy­ chologie; die praktische Auswirkung der neuen Einsichten auf allen Gebieten unseres Lebens. Dieses Buch will davon in Angriff nehmen die Darstellung der wesentlichen Konzeption unserer Zeit (int bisherigen l.Teil), die Grundlegung der Organischen Psychologie (im 2. Teil) und einige praktische Auswirkungen (im 3. Teil). Es kann immer nur ein Anfang sein; das meiste muß der Arbeit einer ganzen Zeitgenossenschaft überlassen bleiben.

B. Organische Psychologie. I. Grundbegriffe.

1. Die Struktur unseres Innenlebens kann keine artfremde sein gegenüber der organischen Struktur des Weltgeschehens außerhalb unserer persönlichen Existenz. Beide Welten, Innenund Außenwelt, sind in Wahrheit ein Organismus. Wenn wir sie so scharf trennen und unterscheiden, so ist das eine Folge unserer Stellung; weil es unsere Lebenszelle ist, glauben wir vor etwas Außerordentlichem, Weltsreien zu stehen. Unser Verhältnis zu beiden Gewalten läßt uns scheiden, was in Wahr­ heit vielfach verbunden ist zu jenem wunderbaren Strom des Lebens, den wir in seinem Wesen nie begreifen, immer nur in seinen Erscheinungen wahrnehmen können. Die Grenzen des menschlichen Bewußtseins, von denen wir noch zu reden haben, bestimmen diese Grenzen; sie sind es auch, die uns viele ent­ scheidende Lebenslinien unseres eigenen Daseins verbergen. Wie das Geschehen in der Umwelt einen vielverschlungen­ unabsehbaren Prozeß darstellt, einen Gesamtorganismue, dessen einzelne Lebensformen immer durch Bewegtheit exi­ stieren, vielfach bedingt und vielfach bedingend, so stellt auch das seelische Geschehen in uns einen Teil dieses organischen Gesamtseins dar und ist lebendig gleich allen anderen Wesen durch Nehmen und Geben, Bedingtsein und Bedingen, Ein­ fluß, Verarbeitung und Ausgabe. Das Seelische im Menschen, das feinste Instrument, worauf das Leben spielt, kann am aller­ wenigsten etwas Seiendes, Festes, Unveränderliches sein; es

reagiert am feinsten auf die Wellen des Lebens. Dieses ständige Angesprochenwerden, Verarbeiten und Ausgeben, dieses Sein durch fortwährende Neugeburt, das ist der wesentliche Gehalt des Seelischen, den wir zu erforschen uns anschicken. Dabei müssen wir von Anfang an die Frage aus­ schalten, was das Seelische eigentlich sei. Hier versagt das menschliche Vorstellungs- und Begriffsvermögen vollkommen, so dah es unnütz wäre daran Kraft zu verschwenden. Wie wir im Reiche der Naturwissenschaften diese Frage nirgends beantworten können und selbst bei Vorkommnissen, deren Eigentümlichkeit und Ablauf wir sehr genau kennen, verstummen müssen, sobald man uns frägt, was Wachstum, Ernährung, Blüte, was Kraft, Elektrizität, Wärme eigentlich sei, so werden wir auch nie wissen, was Seele sei. Wir kommen immer wieder zu einer Vorstellung, die unserem Bewuhtseinsvermögen an­ gepatzt ist. Wir müssen uns dieser Tatsache beugen und nennen die unstoffliche Kraft in uns Seele, ihre Bewegung, ihren Trieb zur Aktivität den Willen. Wille ist somit in der Terminologie dieses Buches schlecht­ hin jene elementare Kraft im Menschen, jene unstoffliche, strebende Gewalt in ihm, die sein persönliches Leben denkt, führt, verteidigt und zu erhöhen trachtet. Der Wille ist die subjektive Kleinkraft in dem Meer von Strömungen, die in ihrer Gesamtheit das Weltleben ausmachen. Der Wille tritt als seiendes Wesen für uns auch nicht in Erscheinung. Wir werden ihn erst in seinen Funktionen gewahr. Wir können — und darauf baut sich die ganze Organische Psy­ chologie auf — den Willen beobachten, wie er sich fortwährend mit dem anströmenden Leben auseinanderseht; er tritt für uns in seinen Prozessen und Umbildungen organisch in Erscheinung und so liegt in seiner Aktivität für uns die Möglichkeit vor, Ein­ blicke in seine Welt, eben das Psychische, zu gewinnen. Wie uns auf dem gesamten Gebiet des Naturlebens sehr oft die Wesens­ erkenntnis von Vorgängen unmöglich ist, dagegen die Betrach­ tung der Erscheinungen weit zu fördern vermochte, so wenden wir uns auch auf dem psychischen Gebiet den Erscheinungen

zu und nicht einer zur Erfolglosigkeit verurteilten Wesenstritik, in -er berechtigten Erwartung, hier, wo uns Erkenntnisse mög­ lich sind, unsere Einsichten zu vertiefen und damit theoretische Erkenntnis und praktische Lebensführung gleichermaßen zu bereichern. Wir setzen also dem großen Weltgeschehen als Kleinkraft im einzelnen Menschen den Wlllen entgegen und suchen seine Funktionen und die Entwicklungen seiner Konstitution unter dem Einfluß dieser Aktivität zu ergründen.

2. Eine der offensichtlichsten Tatsachen im Gewebe dieser Lebensprozesse liegt in der unterschiedlichen Art und Weise vor, in der sich der einzelne Wille betätigt und entwickelt, die man allgemein als subjektive Begabung bezeichnet und für die wir den Begriff „Psychische Dispositionen" wählen wollen. Unter einer psychischen Disposition versteht man die einzelne, subjektiv abgestuste Fähigkeit des Willens, auf einen andrängenden Impuls der Außenwelt zu reagieren, ihn aufzu­ nehmen, umzuformen und in neuer Form weiterzugeben. Psychische Dispositionen sind Linien, in denen sich der subjek­ tive Wille in seiner Eigenart bewegt. Sie stellen die Wege dar, auf denen es dem Willen möglich ist, aktiv zu sein. Die psychischen Dispositionen sind angeboren und ent­ wickeln sich nach Maßgabe ihrer Eigenart und der Eigenart der Umstände, an denen sie reisen. Das kritische Denken hat zwar wiederum versucht, wie einst schon eine englische Philosophie (John Locke u. a.), das Vorhandensein besonderer Begabungen bei der Geburt zu leugnen. Allein für eine einfache, unvor­ eingenommene Betrachtung der Tatsachen, wie sie etwa in Beobachtungen der Lehrerschaft aller Arten vorliegen, dürfte diese Frage doch entschieden sein. Auch spricht das biologische Moment sehr dafür, wenn man schon jede einfache Erfahrung als unbrauchbar bezeichnen will. Der Wille des Neugeborenen kommt nicht aus dem Unge­ fähr. Er stellt einen neuen Ausleger der Energie eines Geschlech­ tes, eines Volkes, einer Zeitgenossenschaft dar. Der Wille dieser

natürlichen Gemeinschaften und Verbände hat sich, als ebenfalls bedingte Rraft, unter besonderen Verhältnissen in seiner Art entfaltet und hat unter Lebensgeboten eine bestimmte Gestalt angenommen. Der Wille des sich in der Zeugung loslösenden neuen Wesens ist mit Dispositionen aus diesem Besitz begabt. Im Kinde finden sich Dispositionen der Eltern, der Familie, des Stammes, des Volkes. Es ist von Natur aus disponiert für die besondere Lebensform seiner Zeit- und Dolksgenossenschast, indem es altes Kapital in sich trägt. Jedenfalls besitzt es keiner­ lei Dispositionen, die den Mitgliedern längst untergegangener Kulturen zu eigen waren oder sich heute im psychischen Besitz der Völker fremder Kontinente finden. Erst neuerdings be­ ginnen wir diese psychische Ursache in den uns unverständlichen alten und ferwen Rultuten zu ahnen. Die Dispositionen als solche bedeuten zunächst nur Mög­ lichkeiten. Ob sie zu Realitäten im Leben des Menschen werden und in welchem Umfange, ist bedingt durch die Entwicklung, die jede einzelne Disposition im täglichen Geschehnisstrom nehmen darf. Die Disposition wird aktiv, indem sie von dem umgebenden Leben angesprochen wird und in dieser Aktivität erfährt sie ihre Entfaltung. Das Kindesalter ist die erste, be­ deutsame Entwicklungszeit unserer psychischen Dispositionen, aber nicht auf das Gebot der Menschen hin, sondern unter dem Eindruck des Lebens, das bezeichnenderweise nicht in der Bewuhtseinsform Erwachsener, sondern in kindlicher Weise ver­ standen wird. Die Disposition, die bereits ein gewisses Entwicklungs­ stadium zurückgelegt hat, verlangt sodann selbst wieder nach den ihr entsprechenden Lebensaufgaben, ist aber in dieser Anforde­ rung auf das Angebot des äußeren Lebens angewiesen. Der große Weltenorganismus und das enger begrenzte soziale Leben der Umwelt bietet dem Menschen von der Wiege bis zum Grabe jene Ereignisse, an denen sich der menschliche Wille in seinen Dispositionen entwickelt. Das Leben kann dabei im einzelnen Menschen starke und schwache Dispositionen antreffen; es kann auch einen weitgehenden Mangel vorfinden. Andererseits können vorhandene Dispositionen einen starten oder schwachen

Anruf erfahren oder auch unangerufen bleiben und damit zur Verkümmerung verurteilt sein. Freilich ist das Leben so reich, daß es in der Regel kaum eine Disposition vollkommen ohne Anruf läht. Desto weitverbreiteter ist aber das Gebiet der nur halb entwickelten Dispositionen von ausgesprochenen Ver­ kümmerungen bis zu jener Grenze zwischen Dilettantismus und Beherrschung, die überaus schwer zu ziehen ist in Fragen des Lebens. (Wir gebrauchen diese Begriffe meist nur in Runftangelegenheiten, während sie im Tagesleben keine geringere Rolle spielen.) In einem bunten Gewebe der verschiedensten Prozesse arbeitet das Leben an jedem Menschen in seiner eige­ nen Weise, wobei auch der Mensch wiederum durch seine, wenn auch nur beschränkte Freiheit mitentscheidet, und bringt so jenen Reichtum von Menschengestalten hervor, den wir, als Zuschauer, bewundern, unter dem wir, als Schicksalsgenossen, dauernd leiden. Jeder ist in seine Grenzen gebannt; für jeden ist sein Werden auch sein Wirken. Dabei ist für die Entwicklung der einzelnen Dispositionen auch noch der Faktor von Bedeutung, dah sie organisch in die Gesamtkonstitution eingefügt ist, also durch die übrigen Disposi­ tionen mitbedingt wird und selbst auf die anderen Fähigkeiten sich auswirken mutz. Es kann nie dazu kommen, dah die ein­ zelnen Dispositionen für sich und unabhängig ihren Weg nimmt, sondern ihre Entfaltung ist an das Gesamtwesen des Willens gebunden. Die Übermacht einer Disposition entzieht also anderen Dispositionen die Triebkraft; anderseits bedeutet eine Erhöhung in einer Hinsicht auch eine Bereicherung auf anderen psychischen Gebieten. Wer sich aus einem Wissensgebiet besonders fördert, sieht sich auch in anderer Weise in seiner geistigen Potenz gehoben; wer in einer Richtung besonderes leisten will, muh die Erfahrung machen, datz er diesen Fortschritt mit Entsagun­ gen aus anderen Gebieten bezahlen muh. Dem Genie müssen negative Seelenerscheinungen anhasten, die der Laie ungerne wahrhaben will; der überragende Geist ist aber zugleich auch vielseitig. Bei dem Charakter des Lebens als einer ununterbrochenen Aktivität des Willens unter dem Gebote des umflutenden Ge-

schehens kann es auch schließlich nie einen Stillstand in der Ent­ wicklung unserer Dispositionen geben. Vielmehr befinden sich unsere Disposittonen immerfort und bis ans Ende in einer Um­ formung und das psychische Bild unseres Willens wechselt bis zum Tode. Eingewoben in das Geschehen und nur durch Be­ wegtheit lebend, spinnt sich die organische Gliederung unserer Konstitution immer weiter, so daß wir uns geistig immerfort erneuern und verändern. Es ist psychisch unrichtig, von einer bleibenden Reife zu reden; die Entwicklung schreitet im 4. und 5. Jahrzehnt, ja selbst im 6. und 7. ebenso weiter wie im Jüng­ lingsalter; nur tritt sie dann nicht so offensichtlich in Erscheinung. Bei genauerem Zusehen entdecken wir, daß sich die psychische Eigenart eines Menschen im fünfzigsten und im siebzigsten Lebensjahr weit von der seiner Dreihigerjahre unterscheidet; der Vergleich ist allerdings schwer, weil die lange Zeitspanne dazwischen liegt, die viele Einzelheiten verwischt. Wir sehen aber ein bedeuffames Stück dieser Erscheinung in dem Unterschied der Generationen, der freilich auch noch von anderen Ursachen getragen ist, aber auch hierin eine starke Wurzel hat. Oft waren die Väter mit dreißig Jahren das, was jetzt ihre Söhne sind, und wollen es nun, da sie selbst sechzig geworden sind, nicht mehr wahr haben; können es nicht mehr wahrhaben. Die Zeit hat sie umgeformt. 3. Reben der Erscheinung der psychischen Dispositionen müssen wir sodann noch von Anfang an eine andere Tatsache festhalten, die sich aus dem Verhältnis Welt—Wille organisch ergibt. Beide können sich, vom Standpunkt der psychischen Er­ fahrung aus gesehen, in einer vierfachen Weise begegnen, so daß wir vier allgemeine, formale Funktionsgruppen zu unterscheiden haben: a) b) c) d)

die die die die

Reihe Reihe Reihe Reihe

der der der der

unbewußten Funktionen, Willensförderung, Willensbelastung, indifferenten Haltung.

a) Bei der Reihe der unbewußten Funktionen handelt es sich um Prozesse, die in unserem Bewußtsein keinen Reflex auslösen. Damit ist schon ein weiterer, wesentlicher Grundbegriff gestreift, den wir noch näher zu charakterisieren haben (f. Seite 45, Abs. 5): der Ablauf der Prozesse ist nicht in absolutem Sinne an unser Bewußtsein gekettet. Unser Be­ wußtsein ist nicht der primäre Schöpfer der psychischen Prozesse, wie uns die naive Erfahrung vortäuscht. Die Prozesse ent­ stehen vielmehr unmittelbar durch das Zusammentreffen von Lebenslinien unserer Umgebung und Dispositionen unseres Willens. Dabei muß der psychische Vorgang nicht unbedingt in unserem Bewußtsein erscheinen; er kann unbeachtet bleiben. Woraus läßt sich eine derartige, der naiven Erfahrung widersprechende Anschauung stützen? Zunächst hält der gegenteilige Satz, all unser psychisches Erleben gehe aus dem Bewußtsein, aus Überlegungen hervor, keiner ernsten Kritik stand. Wenn wir in vielen Fällen auch auf Grund unserer bewußten Beurteilung einer Lage handeln und, im allgemeinen mit Recht, die Forderung erheben, der Mensch müsse danach trachten, sein Handeln aus erarbeitete Urteile aufzubauen, so werden wir doch immer auch erfahren müssen, daß sich unter unseren Handlungen und seelischen Erlebnissen sehr viele finden, die nicht dieser Überlegung entspringen. Ja eine genaue Beobachtung kann uns zu der Überzeugung führen, daß offenbar die meisten psychischen Erlebnisse anderen Ur­ sprungs seien. Unser Verhalten entbehrt in vielen Fällen der vorhergehenden Fixierung und wenn wir etwas bedacht haben, entspricht die Ausführung nicht selten keineswegs dieser Über­ legung. Wir wissen, daß Menschen, die starr ihr einmal ge­ faßtes Urteil beibehalten, sich am Leben versündigen, ihm nicht gerecht werden und viel Unheil anstiften. Auch ist bekannt, daß mitunter große, entscheidende Taten der Geschichte intuitiv aus dem Augenblick heraus geschahen und erst später sich durch Unter­ suchungen gerechtfertigt erwiesen. Wir können auch unschwer erkennen, daß unser Bewußt­ sein gar nicht fähig wäre die Fülle der für unser Dasein not­ wendigen Vorgänge zu überschauen, zu beherrschen und zu

lenken. Notwendig muh eine grohe Zahl von ihnen durch die Natur erledigt werden und tatsächlich geschieht das. Nur ein beschränkter Kreis untersteht unserem Denken und erfährt auch von dort her eine Beeinflussung. Am nur ein Teilgebiet näher zu bezeichnen: die Aus­ wirkung fremder Personen auf unsere Bewegtheit und die Ein­ flüsse, die wir aus Personen unserer Umgebung ausüben, unter­ stehen zum größten Teil nicht unserem Bewußtsein. In dem Verhältnis von Eheleuten zueinander, zwischen Lehrern und Schülern, Vorgesetzten und Untergebenen, Führern und Ge­ führten gibt es außerordentlich viele Momente unbewußter Art, die zuweilen sogar mehr Ausschlag geben als die bewußten. Es wäre unrichtig, zu glauben, ein Mensch wirke nur so, als er wirken wolle; alle echte und nachhaltige Wirkung ist im Gegen­ teil meist eine unbeabsichtigte. Wir können schwer definieren, warum uns der oder jener Mensch unsympathisch und ein anderer sympathisch sei; ebenso wird man die Erfahrung eine allgemeine nennen dürfen, daß jeder Mensch von verschiedenen Menschen auch verschieden angefühlt wird. Es handelt sich hier um unbewußt bleibende Prozesse, die unsere Einstellung sehr start mitbedingen. Wenn uns in der Jugend einzelneLehrer fremd und abstoßend erschienen, so war es gewiß nie die Ab­ sicht dieser Lehrer, aus uns in solcher Weise zu wirken; und wenn große Persönlichkeiten einen tiefen Eindruck auf uns er­ zielen, so lag das vielfach nicht in der Absicht dieser Naturen, die sich nur ihrer Idee, nicht der Beziehung zu späteren Ge­ schlechtern verpflichtet fühlten. Man unterscheidet deutlich den eitlen Menschen von dem seelisch Gefesselten. Die experimentelle Psychologie hat zahlreiche Zwischen­ stufen in unseren Funktionen entdeckt, die ebenfalls unserem Bewußtsein fernbleiben. Da sich die meisten Untersuchungen auf das Gebiet des Vorstellungslebens erstrecken (weil dieses Gebiet dem Zugriff des Experimentes am meisten offen steht), ist hier die Zahl der bekannten Zwischenstufen am größten. Es darf hier hingewiesen werden auf die Nichtbeachtung unserer Projektion der Sinneswahrnehmungen in die Umwelt hinaus, auf die Ausschaltung schwächerer Eindrücke durch stärkere, auf

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die gesamte Frage der Bewußtseinsschwelle, auf die Sprünge in unseren Assoziationen, Komplikationen und Reproduktionen und vor allem auf die Vorgänge in unserem eigentlichen Denken und Schließen. Die Mehrzahl unserer Schlüsse überspringt Zwischenglieder, d. h. läßt sie nicht bewußt werden; denn vor­ handen müssen sie sein, weil ohne sie das Ergebnis nicht ent­ stehen könnte. Wenn der Dorortzug, mit dem ich nach Hause fahren will, um 12 Ahr fährt, mein Weg zur Bahn mindestens 8 Minuten erfordert und die genaue Zeit im Augenblick 11.55 Ahr beträgt, dann überlege ich genau alle diese Amstände; der Blick auf die Ahr löst scheinbar direkt die Überzeugung aus, daß ich 12.20 Uhr fahren muh. In Wirtlichkeit müssen die Zwischen­ glieder dieses Schlusses vorhanden sein; sie werden aber nicht mehr bewußt. Wären sie, wie beim Kinde, überhaupt nicht da, dann würde sich auch die Folgerung nicht einstellen. Das Be­ wußtsein hat bedeutsame Zwischenglieder nicht erfaßt. Zu den unbewußten Funktionen des Willens darf man wohl auch große Gebiete des physiologischen Geschehens rech­ nen, also Leistungen des Herzens, der Lunge, des Verdauungs­ apparates, der Drüsen usw. Wir verstehen ja unter Wille nicht das bewußte Wollen allein, sondern allgemein das Treibende, Bewegende, Egoistische im Menschen; dieses Moment ist aber zweifellos an den physischen Vorgängen mitbeteiligt. Die These, als würde es sich im Physischen absolut um ein Mecha­ nisches, ein mit der strengen Kausalität des Physikalischen ein­ tretendes Geschehen handeln, läßt sich heute kaum mehr auf­ recht erhalten. Die Tatsache, daß mechanische Verbindungen und Konsequenzen bestehen, kann nicht mehr zu dem Trug­ schluß verführen, als unterstünde alles Physiologische solcher Gesetzmäßigkeit. Die Medizin beobachtet vielmehr in vielen Fällen der Behandlung eine auffallende Inkonsequenz, einen unberechenbaren Verlauf von Funktionsstörungen und ihrer Heilung, die sich nicht allein aus der Relativität aller medizi­ nischen Einsicht erklären lassen. Ein- und dieselbe Augenblicks­ konstellation führt in verschiedenen Fällen zu unterschiedlichen Entwicklungen; es gibt Katastrophen, die sich nur als ein Willenszusammenbruch verstehen lassen und es gibt unerwartete

Wendungen zur Besserung, die nur aus seelischen Vorgängen heraus verstanden werden können. Das ganze Gebiet der Suggestionsbehandlung gehört z.D. hierher. Die experimentelle Physiologie hat selbst Auswirkungen seelischer Einflüsse aus die Atmung, die Herztätigkeit, die Muskelkontraktion, die Tätig­ keit der Drüsen festgestellt und schon die einfache tägliche Er­ fahrung zeigt uns etwa den Einfluh angestrengter geistiger Arbeit aus unser körperliches Wohlbefinden und Rückschläge des Anwohlseins auf unsere geistige Kapazität. Die Medizin wendet sich denn auch immer mehr der Frage zu, wie weit das Seelische in den Heilungsprozeh eingebaut werden kann; auf den Kongressen kehrt dieses Thema immer wieder. Freilich ist sie sehr schwer zu beantworten, weil es sich dabei vielfach um unbewuhte Zusammenhänge handelt, um Ver­ bindungen, die unser Bewuhtsein nicht unmittelbar erfassen kann. Dabei ist offenbar diese organische Verbindung eine so mannigfaltige und von so vielen Faktoren mitbedingt, dah sich einfache Gesetze kaum ableiten lassen und in jedem Falle die besondere Konstellation der Verhältnisse gesucht werden mühte. Schliehlich ersieht man die Existenz unbewußter Prozesse — und hier vielleicht am deutlichsten, jedenfalls am eindring­ lichsten — an der Tatsache, dah unser Dasein etwas Irrationales, Inkonsequentes, Unübersichtliches und Zufälliges besitzt. Wenn sich auch manche Menschen nach auhen den Anschein zu geben suchen, als würden sie ihr Leben bewußt und klar erkennen und beherrschen, so kann das im Grunde doch niemand darüber täuschen, dah dieses Zur-Schau-Tragen nur Absicht, das ZurSchau-Getragene nicht Tatsache ist. Immer wieder kommen für jeden Menschen die Stunden, in denen er, wenn auch verborgen, Zusammenbrüche erlebt, an sich und der Welt in seiner Form zu zweifeln beginnt und jedenfalls das Geschehen nicht mehr begreift. Wenn ein so scharfer Denker wie Schopenhauer inner­ halb seines praktischen Alltags voller Aberglauben steckte, so ist das hiezu eine eigenartige, aber wohl treffende Illustration. Man lebt nicht wie ein Herrscher, dem alles klar und untertan ist; man lebt „menschlich". Das Bewuhtsein erhellt aus dem Riesengeschehen und seinem Spiel in unserem eigenen Dasein

nur Ausschnitte und so sehen wir nur Bruchstücke und leiden unter einer Irrationalität, die durch die menschliche Konstitu­ tion bedingt ist. Darin liegt denn auch die große Bedeutung der unbe­ wußten Funktionen. Sie sind es in erster Linie, was unser Dasein so tragisch gestaltet. Wir wissen nicht, welchen Umfang sie einnehmen und in welchem Verhältnis ihre Macht zur Macht der bewußten Prozesse steht. Aber wir erleben die vielen Un­ erklärlichkeiten, plötzlichen Wendungen und subjektiven Schick­ sale, die aus dieser Quelle in unseren Alltag fließen, von den kleinen Schwankungen unserer Arbeitskraft, Auffassungsgabe und Hingabefreudigkeit bis zu den großen Momenten, in denen sich die Grundlinien unseres Weltweges entscheiden. Bedeutende Menschen versagen zuweilen im enffcheidenden Augenblick; kleine Geister kommen mitunter durch günstige Konstellationen ihrer an sich engen Fähigkeiten in kurzen Augenblicken zu Reich­ tum und Ansehen. Überall, wo sich ein Mensch oder eine Zeit­ genossenschaft vollkommen in das Rationale verkrampft, er­ steht mit unerbittlicher Logik das Verderben aus solcher Unzu­ länglichkeit; aber auch wo das Irrationale des Lebens aner­ kannt wird, ist viel Irrtum und Tragik, weil damit die Be­ schränkung nur erkannt, nicht überwunden ist. Das Menschliche besitzt immer etwas Tragisches.

4. In einem begrifflichen, nicht in einem sachlichen Gegensatz zu den unbewußten Funktionen stehen die bewußten der Willens­ förderung, Willenshemmung und Indifferenz. Sie sind gleich jenen wahre, psychische Vorgänge, hervorgehend aus dem Zusammentreffen von Welt und Wille; sie erscheinen aber in unserem Bewußtsein, wenigstens teilweise, und erhalten daher für uns einen besonderen Charakter. Eine naive Beurteilung würde sie überhaupt für die einzigen psychischen Prozesse an­ sprechen.

b) Die Prozesse der Willenssörderung. Damnter sind jene Prozesse zu verstehen, in denen eine vorhandene psychische Disposition die von ihr gesuchte Defriedigungs-

Möglichkeit findet. Die (moralische, ethische, ästhetische) Wer­ tung bleibt dabei vollkommen unberücksichtigt. Wesentlich ist nur die Tatsache der günstigen Prozeßermöglichung. Eine Reihe der Willensförderung heißen wir diese Prozesse, weil durch die Befriedigung der an sich schon entwickelten Dis­ position ihre neuerliche Stärkung verursacht wird und über den Rahmen der einzelnen Dispositionen hinaus der Wille selbst eine Erhöhung erfährt. Bedingt das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Welt an sich eine starke Hemmung seiner Impulse, so muß die Willensaktivität, wo sie von Natur aus gefördert wird, um so mehr ein Aufflammen, eine Kräftigung des Willens bedeuten. Die wenn auch nur vorübergehende Befteiung vom Druck läßt den Menschen aktiver, fteudiger, lebendiger, ftoher werden. Wahrhafte Produktion ist daher oft das besondere Merkmal dieser Gruppe von Funktionen. Dem entsprechen die Merkmale dieser Prozesse. Schon in der Erwartung von hoher Intensität, voller Suchen, Kombi­ nieren, Erregung und Ungeduld, ift der Wille während der Dauer des Prozesses von hoher, zuweilen höchster Spann­ kraft. Lr lodert auf und verarbeitet lebhaft, in anderer Sachlage ruhig und freundlich bewegt. Jedenfalls aber ist er fteudig aktiv. Das Leben drängt ihn zu starker Auswirkung, zu gestaltender, bejahender, ftuchtbarer Tätigkeit. Wollte man Beispiele nennen, so könnte man in der intensiven Form aus den Schaffensprozeß des Künstlers, auf die Tat des Fanatikers, den glücklichen Ent­ schluß des großen Führers, in der leichter bewegten Form auf das frohe Schaffen des kleinen Mannes oder das Spiel des Kindes Hinweisen. Die Wirkung des anerkennenden Wortes, die Einsicht in den Fortschritt der eigenen Leistung, die Voll­ endung einer sympathischen Aufgabe, die Überwindung einer Gefahr, der Genuß eines Kunstwerkes wären Beispiele aus dem alltäglichen Leben. Die Erscheinung im Gefühl ist durchgehend eine sympathi­ sche. Ahnen und Hoffen begleiten den Beginn, Überraschung und Staunen den Eintritt des Prozesses. Der ruhige Fortgang verseht uns in die Stimmung des Behaglichen, Gemütlichen, des Zartgefühls, der Zuneigung und Fröhlichkeit, bei lebhafter

Strömung in jene der Freude, Begeisterung unt> Ekstase. Auch die Auswirkung ist noch von solchen Gefühlen begleitet, von der Freude an Arbeit und Schöpfung, von der Lust an einer Unter­ haltung, von Eifer und Leidenschaft im Dienst einer großen Aufgabe. Diese Empfindungen kennen wir darum als Garanten einer wertvollen Arbeit, die sich mit Zwangsmitteln nie er­ reichen läßt. Nur derjenige, so sagt uns die tägliche Erfahrung, leistet gute Arbeit, der mit „innerer Anteilnahme" am Werke steht. Nur ein Verkennen psychischer Gesetze will den mangeln­ den Naturvorgang durch Befehle und Strafandrohung er­ setzen. Wahre Produktivität wächst aber unmittelbar aus dem seelischen Stieben heraus und die Gefühle können nur als Er­ scheinungsformen gewertet werden. Die künstlerische Inspi­ ration ist vielleicht das anschaulichste Beispiel hiezu. Der Nachklang solcher Prozesse wird sichtbar in einem fteundlichen Weltbild, besonders wenn im Gesamterleben der­ artige Prozesse vorwiegen. Der Mensch sieht dann das Leben optimistisch an; er sinbet allerdings mit solchen Empfindungen in der Regel nicht sehr viel Anklang unter seinen Zeitgenossen, da die größere Zahl von ihnen mit chm weder Ursache noch Wirkung teilen kann. Optimisten reißen uns, wenn sie uns nahe sind, in ihre Strudel mit; aus der Entfernung können sie in trüben Zeiten sogar peinlich wirken. Die (kurze) Darstellung der Reche psychischer Förderung würde aber doch an einem empfindlichen Mangel leiden, wenn wir nicht auch bedächten, daß sich im Menschen aus eben dieselbe Art wie sympathische Dispositionen auch anfechtbare ent­ wickeln. Der Dieb, der sexuelle Genühling, der gewissenlose Egoist und der Verschwender streben in der ihnen eigenen Ent­ faltung chrer besonderen Disposition ebenfalls immer wieder nach Befriedigung und sie erleben ähnliche Erscheinungen in der Förderung ihrer verwerflichen Neigung. Auch sie glühen in der Erwartung, flammen auf im Genuß, erleben eine Stär­ kung ihrer unglücklichen Leidenschaft. Sie suchen mit verstärkten Dispositionen die neuerliche Beerdigung und alles andere

erscheint ihnen schal, unwert und feindlich. Sie fügen sich einer Gewalt, solange sie eine absolute ist, aber sie sind nur darauf

bedacht, sie abzuschütteln und entwickeln eine Produktivität raffinierten Verbrechertums, die in ihrer Art das Normale weit überragt, ähnlich der Produktivität des genialen Wissen­ schaftlers oder Künstlers. Es gibt Derbrechernaturen, die durch die Art, wie sie ihrer Disposition nachkommen, ebenso in Erstaunen versetzen, ja sie überragen darin vielleicht chre ethischen Gegner durch die Gewalt, die an sich allen physischen Bindungen zukommt. c) In der Reihe der Willensbelastung sind gegen­ teilig jene Prozesse vereint, in denen die Allgemeinheit subjektseindlich austritt, gn diesen Prozessen verweigert die Welt der empfänglichen Disposition die Befriedigung ganz oder doch teilweise un8> droht ihr, soweit es sich um Lebensnotwendig­ keiten handelt, mit Gefahren. Die Strömungen des WUlens werden gehemmt und aufgestaut. Solche Ereignisse wirken sich umso stärker aus, je größer die der Zlelstrebung innewoh­ nende, subjektive Lebensgewalt und die Kraft des Widerstandes ist; große Menschen sehen wir mehr leiden als kleine, die sich in vieles zu schicken vermögen, gn der Lebenspraxis überwiegt diese Reihe kraft des ungleichen Verhältnisses zwischen Wille und Welt. Daraus entsteht die allgemeine Neigung der Men­ schen zum Tragischen und zum Pessimismus. Die Willenshemmung wird wesentlich charakterisiert durch eine Verdichtung des Willens auf die eine gefährdete Dispo­ sition, negativ betrachtet, also durch eine Verengung des Dorstellungskreises, eine Schwächung der Energie aus den anderen Linien, ein Aufstauen der Kraft in Erregung, Zorn und Eigenwilligkeit und, als natürliche Reaktion, einer nachfolgen­ den Ermüdung. Der Mensch wird newös, eng, gewalttätig. Hier ist kein natürliches Wachstum, kein frohes Entwickeln, kein ruhiges Ausgestalten, sondern Kampf, Gewalt und Ver­ dichtung. Die Erscheinungen im Gefühl sind überwiegend un­ sympathisch. gn kleinen Fällen nennen wir sie Beklommenheit, Kleinmut, Angst und Bangigkeit, in schweren Lagen Nervosität, Zorn, Affekt, Melancholie, Kummer, Skepsis, Depression, Apathie und Verzweiflung, gn dem größeren Reichtum und der feineren Ziselierung dieser Begriffe spiegelt sich allein schon 57

das Vorwiegen dieser Prozesse in unserem praktischen Leben wieder. Nun bedeutet allerdings die Willensfeindlichkeit nicht schlechthin einen Anwert. Abgesehen davon, dah sie verwerf­ liche Dispositionen wirksam bekämpft (es gibt überhaupt keine andere Bekämpfung als den Dorenthalt der Entwicklung), ent­ steht durch sie auch eine Art Aktivität, die durch die besondere Willensanspannung Bedeutendes leistet. Das Aufstauen be­ dingt eine Energieverdichtung, die eine grohe Förderung der einzelnen Dispositionen herbeiführt. Groll, Zorn und Todes­ verachtung sind elementare, Demut, Opfersinn und Treue ver­ edelte Formen der Energieballung, die vieles geleistet haben. Es kann nicht verkannt werden, dah durch sie in der Menschheit grohe Taten verbracht wurden. Hat doch die Sprödigkeit der Landschaft dem Europäer zahlreiche Erfindungen abgelockt, die der Mensch glücklicherer Wohngebiete nicht nötig hatte. Viele der gröhten Geister gingen durch eine harte Lebensschule. Die Drosselung des Willens bewahrt vor Selbstverfunkenheit, vor Träumerei und, in anderer Hinsicht, vor der Sehnsucht nach der Auflösung im Nichts, die das indische Nirwana gestaltet haben mag. Am Widerstand der Welt richtet sich der Mensch zu klarem, zielbewuhtem Wollen auf. Allein diese Aktivität ist doch anderer Art als jene der Willensförderung und sie ist nicht im ökonomischen Sinne schöpferisch. Ihre Erfolge werden sehr ost verdunkelt durch begleitende Schattenseiten und die Ergebnisse weisen nicht selten einen Zug ins Krankhafte auf. Aus der Tiefe bricht zu­ weilen auch Verschwiegenes, Allzumenschliches mit auf. Die Arbeit geht nicht aus einer harmonischen Zielstellung hervor. Ihre Einseitigkeit verurteilt anderes, Wertvolles zumSchweigen und erzeugt ungünstige Relationen. Das Europa der Gegen­ wart ist in mehr als einer Hinsicht ein treffendes Beispiel dafür. Trotz groher Geistestaten ist es schwer krank. Mancher bedeu­ tende Mensch hat allzuviel in seine Wirbel mit hineingerissen und die Masse unterliegt den Kammerformen, die in der Willens­ verneinung wurzeln. Der Wille schafft am gesündesten in seiner Gesamtheit, nicht in einer einzelnen Disposition. Auch

muh auf gewaltsame Energieanspannung notwendig eine Er­ müdung folgen, die aller Produktivität die Tore verschlieht und die sich gerade in unserer Zeit vielfach ungünstig auswirkt. Wenn sich Darwin und seine Schüler Verdienste erwarben, in­ dem sie den natürlichen Wert des Kampfes erkannten, so irrten sie doch in einer verhängnisvollen Weise, sobald sie ihn als Vater aller Werte ansprachen. Gröher als der Kamps ist, rein psychologisch gesprochen, die Liebe, eine Tatsache, deren ele­ mentare Wahrheit längst erkannt ist und Paulus zu seinem schönsten Worte führte. Lebensbejahung ist Fruchtbarkeit; Lebensverneinung gewaltsames Erzwingen. Im praktischen Leben allerdings finden sich beide nicht immer reinlich geschieden, ost ergänzen sie sich in eigener Art. Aber die Einseitigkeit des falsch verstandenen Wortes vom Lebenskampf hat in unserer Zeit furchtbare Folgen gezeitigt, indem es Anlah unglückseliger Mahnahmen und Deckmantel niedriger Begierden wurde, und es tut not, das Lebenskranke der Willensaufstauung mit aller Deutlichkeit zu betonen. Wäre der Kampf der Grundstock wert­ voller Entwicklungen, wir müßten ein wahrhaft geniales Ge­ schlecht sein. d) Die Reihe der indifferenten Haltung unseres Willens wäre, wenn es sich nur um Verhältnisse des einzelnen Menschenlebens handeln würde, lediglich des Zusammenhanges halber zu erwähnen. Denn in ihr sind jene Erscheinungen ver­ eint, in denen eine Lebensströmung der Gesamtheit im ein­ zelnen Menschen keine oder nur eine schwache Disposition vor­ findet, also ohne größere Auswirkung vorübergeht. In diesem Sinne ist die Reihe negativ. Sobald man aber eine ganze Zeit­ genossenschaft in ihrem realen Dasein betrachtet, überträgt sich der Vorgang ins Positive. Die Tatsache, dah bedeutende Lebens­ inhalte an einzelnen Menschen ohne nennenswerten Eindruck und Einfluß vorübergehen, vielleicht kuriose Wirkungen erzielen oder rein konventionelle Äußerungen auslösen, stellt die Menschen zueinander in besonderes starke Gegensätze. Die­ jenigen, die erfaßt werden, begreifen nicht, daß andere sich teil­ nahmslos verhalten, und der Taube findet die Begeisterung der anderen unbegreiflich. Jene erheben Forderungen, die dieser

nicht verstehen, und wenn ihm die Macht verliehen ist, nicht er­ füllen kann und will. Wo der eine sein Glück sieht, wendet sich der andere enttäuscht und unbewegt ab. Wo er wünscht, lacht oder spottet jener. Beide verallgemeinern aber ihre sub­ jektive Erfahrung und geraten dadurch in eine Gegnerschaft, die sich um so tragischer auswirkt, je enger sich beide in einem Machtverhältnis verbunden sind. So entstehen leidenschaftliche Kämpfe auf den Gebieten der Wirtschaft, der Politik, der Wissen­ schaft und Kunst, die nicht im Wesen der Sache selbst liegen würden, und so erwächst viel Irrtum unter allen Menschen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den Ständen, den Völkern und anderen Grup­ pierungen. Arme und vermögliche Familien, Menschen an leitenden und solche an untergeordneten Posten, Ästhetiker und Moralisten, fortschrittliche und konservative Naturen, das erfahrene Alter und die stürmende oder zu Zeiten auch blasierte Jugend, den Menschen des Nordens und jenen des Südens, den Bewohner der Stadt und den des flachen Landes sehen wir auf solche Art in bittere Streitigkeiten verwickelt, die ein gut Teil nur in der seelischen Unfähigkeit, den Partner zu verstehen, keimen und auftreiben. Zu den ergreifendsten Erscheinungen der Ge­ schichte zählen die Schicksale jener Männer, die, ihrer Zeit weit vorausellend, neue Strömungen sahen und zu gestalten ver­ suchten und dafür bittere Feindschaft oder gar den Tod ernteten. Große Menschenmassen laufen Unternehmungen nach, die, ob sie gleich eine glänzende Fassade auftun, in Wahrheit nur auf die primitiven Dispositionen dieser Masse spekulieren, und schädigen dadurch gleichzeitig hohe Ziele anderer Zeitgenossen. Die psychische Indifferenz gehört zu den geheimen Unter­ gründen, aus denen schwere Konflikte der Menschheitsgeschichte hervorgingen und immer hervorgehen werden. Darin liegt ihre tragische Bedeutung, der allerdings auch eine schöpferische gegenübersteht, denn die Mannigfaltigkeit der psychischen Kon­ stitution ist es auch, was den Gesamtorganismus allein erhalten kann; nur eine in sich mannigfaltige Zeitgenossenschaft vermag die vielen Möglichkeiten und Lebensnotwendigkeiten auszu-

werten. Schließlich ist auch eine psychische Indifferenz allein imstande den einzelnen vor allem Übermaß der heute überreich anstürmenden Lebenslinien der Zeit zu schützen. 5. Die Charakterisierung der Reihe unbewußter Prozesse streifte schon die Tatsache, daß die organische Psychologie den Begriffen „Denken" und „Fühlen" einen wesentlich anderen Inhalt beimißt als die bisherige Psychologie. Denken und Füh­ len sind ihr nicht die Triebkräfte des Handelns, sondern die beiden Erscheinungsformen, in denen die psychischen Prozesse bewußt werden. Sie nennt Denken und Fühlen die Erschei­ nungsformen des psychischen Geschehens in unserem Be­ wußtsein. Sie sieht in ihnen die einzigen Möglichkeiten un­ seres Bewußtseins, die an sich unfaßbaren, psychischen Gescheh­ nisse zu erfassen. Die treibende Straft entspringt dem Zu­ sammentreffen von Leben und Wille; wir werden die Vor­ gänge in den Formen des Denkens und Fühlens gewahr. Die Gründe für diese Erklärung der beiden Begriffe liegen in folgendem: Es gibt unbewußte Prozesse. Wäre, wie die naive An­ schauung glaubt, das Fühlen und Denken der seelische Ausgangs­ punkt unseres Handelns, dann wären unbewußte Funktionen überhaupt nicht möglich. Es kann keine unbewußten Funktionen geben, wenn bewußtes Fühlen und Überlegen der Antrieb alles Handeln- ist. Unser Leben müßte dann in vollkommener Ab­ hängigkeit von unserem Bewußtsein und überlegtem Wollen sein. Das ist aber, mit Beziehung auf das Attribut „vollkom­ men" gewiß nicht der Fall. Bei aller Anerkennung der Größe menschlichen Willens kann nicht verkannt werden, daß es um unser Dasein schlecht bestellt wäre, sobald es ausschließlich von unserem Wollen abhängig wäre. Richt nur der einfache Mensch handelt zuweilen ohne gedankliche Untersuchung; es gibt viele Fälle, in denen jeden Menschen die unmittelbare Reaktion zum Handeln treibt und die Überlegung erst nachher eingreift, und es gibt eigenartige psychische Vorgänge, die man nicht kurzweg leugnen kann, weil sie sich der Anschauung der reinen Derstandesherrschast nicht einfügen: das Ahnen unmittelbar be-

vorstehender, aber noch unbekannter Ereignisse; das Traum­ leben; die Hypnose; das Ersassen einer neuen Situation, ehe Zeit war, sie zu bedenken; das rein naive Handeln u. v. a. Auch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob uns selbst heute, nach so vielen Ergebnissen naturwissenschaftlicher Untersuchungen, alle Bedingungen und Einflüsse unseres Lebens bekannt sind. Ein weiterer Beweis liegt im spontanen Auftreten jedes echten Gefühls. Es kommt weder auf unseren gewollten Anruf, noch eilt es den Ereignissen voraus. Es keimt offensichtlich aus seelischen Vorgängen auf. Fühlen heißt, sich einer Stimmung plötzlich bewußt werden oder gar so stark in ihr ausgehen, daß die gedankliche Feststellung des Zustandes überhaupt unter­ bleibt. Gefühle steigen aus einem geheimnisvollen Untergrund auf, sind da, blühen und wirken und sind umso reiner, je weniger Absicht in ihnen waltet. Willkürlich erzeugte Gefühle bleiben schwach, wirken in der Mehrzahl der Fülle kraftlos, falsch und abstoßend. Ein Mensch, der in Gefühlserregung kommt, kann uns auch dann noch sympathisch oder doch verständlich er­ scheinen, wenn seine Erregung unschöne Formen annimmt; wer sich selbst in eine Erregung hineinzwingt, wirkt immer lächerlich. Der falsche Dichter, der Empfindungen heuchelt oder erdenkt, ist uns verächtlich; niemand wird von seinen Schriften innerlich ergriffen. Wir wollen hinter allen Gefühlen die Ge­ walt des Lebens verspüren, die uns selbst mächtig erfaßt. Dieser echte Hintergrund der Gefühle ist aber der wahre seelische Pro­ zeß. Das Gefühl ist seine Erscheinungsform. Ähnlich verhält es sich aber auch mit unseren Gedanken, obwohl es uns zunächst scheinen will, als würden wir über unser Denken frei verfügen und als könnten wir unsere Vorstellungen und Ideen selbstherrlich kommandieren. Wenige, genaue Beob­ achtungen werden uns schon belehren, daß sich unser echtes, lebendiges und wertvolles Denken immer um die Dinge be­ wegt, die augenblicklich im Vordergrund unseres Lebens stehen, daß es uns schwer wird, unsere Gedanken auf Gebiete zu führen, zu denen wir keine Lebensbeziehung besitzen und daß es sich umso ausschließlicher um eine Angelegenheit gruppiert, je stärker der Zwang der Lage ist. Eine bedeutende Situation,

ein erwartetes Ereignis, eine Gefahr verdunkeln alle unbeteilig­ ten Vorstellungen und werfen alles Licht der Beobachtung und Erkenntnis auf den einen Punkt. Die Gedanken kreisen dann unausgesetzt um den einen Lebensinhalt und suchen ihm immer größere Klarheit abzuringen. In ruhigen Zeiten löst sich aller­ dings dieses konzentrierte Hinschauen und wir kommen wieder in die Lage, mehrere Beziehungen zu bedenken; aber in diesem Vorgang liegt doch nichts anderes vor als das Widerspiel des mannigfaltigen Lebens, dem wieder mehrere unserer psychi­ schen Dispositionen offen stehen. Beschäftigt uns auch manches gleichzeitig, so doch nie etwas, das außerhalb unserer subjektiven Empfänglichkeit liegt. Die Entspannung auf einem intensiv beanspruchtenGebiet erlaubt nur die Widerkehr mehrerer anderer Beziehungen. Stärkere und schwächere, neu auftretende und alte Lebensbeziehungen werden aktiv und erscheinen in unserem Denken als ein eigenartiges Spiel von Vorstellungen und Ideen, denen wir bezeichnenderweise oft nachhängen, ohne den Ablauf selbst zu beobachten. „In Gedanken verloren", d. i. eine typische Derstandesgebundenheit, ist Hingabe an die Gewalt des Lebens und Erscheinung des Prozesses in unserem erkennenden Be­ wußtsein. Wo wir keine lebendige Beziehung unterhalten, da mangeln uns auch Vorstellungen, Ideen, Urteile, die denn auch, sobald wir sie aus irgendwelchen Gründen künstlich vortäuschen möchten, alle Zeichen der Schwäche an sich tragen. Gedanken ohne Lebensbindung — das sind Reden, die hohl und leer klingen; das sind Höslichkeitsphrasen, die niemand erwärmen; das sind Bücher, aus denen niemand klug wird, und Urteile, über die der Kenner — sich wundert. Wäre unser Denken die Ursache unserer Lebensprozesse, so könnte es keine Inkonsequenz geben. Kausal verbunden, müßte das, was wir tun, wenigstens in den Fällen, in denen wir ftei sind, immer mit dem, was wir erdacht haben, überein­ stimmen. Aber das ist nicht immer der Fall, öfter als wir es zugeben wollen, handeln wir auch nach reiflicher Überlegung inkonsequent und unterstehen dabei dem deutlichen Gefühl, daß es unmöglich oder schädlich gewesen wäre, das Gedachte auszu­ führen. Das Inkonsequente unseres Handelns ist nicht immer

eine Denk- oder Willensschwäche; es ist in vielen Fällen not­ wendige Erscheinung der Mannigfaltigkeit des Lebens in un­ serem engen Bewußtsein. Eine engstirnige Schuldoktrin, die das nicht wahr haben will, sieht sich selbst im praktischen Leben sehr ost zu einer Verleugnung ihrer Thesen verurteilt, die sie nur notdürftig verheimlichen kann. Die Lebenskunst aller großen Männer bestand zu einem großen Teil in der Fähigkeit, sich dem Leben immer offen zu halten, weshalb denn auch in ihr Leben und ihre Taten und Schriften eben die Inkonsequenz ein­ schleicht, die dem geistigen Philister so viele Kopfschmerzen be­ reitet. Das alles ist keine Absage an den großen Wert des Den­ kens; es korrigiert ein Extrem, in das ein falsches Beurteilen der Verstandesfunktionen abirrte. Schließlich könnte man auch auf das künstlerische Schaffen und darüber hinaus alle Arten sog. Eingebung Hinweisen. Das Größte, was der menschliche Geist geleistet hat, ist im Kern seines Wesens nicht aus freiem Willensentschluh, jetzt etwas Be­ sonderes zu leisten, hervorgegangen. Es war jedesmal plötzlich da. Freilich war viel vorausgehende Arbeit nötig; denn die Empfangsfähigkeit setzt eine intensive, ungewöhnliche Entwick­ lung der Disposition voraus. Alle anderen Menschen mit weniger geeigneter psychologischer Konstitution haben, obwohl sich ihnen das nämliche bot, nichte erfahren. Aber das Wichtigste wird auch vom Genie zuletzt in unvorhergesehenen Augenblicken herausgestellt. Es tritt, vergleichbar einem großen Wanderstern, (dem Symbol der Geburt christlicher Weltanschauung l) geahnt und doch überraschend aus einem Dunkel hervor. In den größten Dingen ist Schauen alles, Wollen nichts. — Wenn wir so Gefühl und Denken als Erscheinungsformen der psychischen Prozesse im Bewußtsein ansprechen, dann darf aber der Begriff „Erscheinungsform" nicht so verstanden werden, als könne unser Bewußtsein einen schon abgelausenen Prozeß nur mehr rein passiv konstatieren, als würde es sich nur um einen Reflex handeln. In diesem Falle wäre ja der Mensch völlig unfrei. Wir haben Einfluß auf das Geschehen. Aber wir üben ihn aus auf Grund unsrere menschlichen Bewußtseinsformen. Es gibt für uns keine andere Möglichkeit, das Geschehen als

solches zu erfassen. Wir sind von Natur aus daran gebunden, das Leben zu denken und zu fühlen. Aber während wir es in diesen Formen ersassen, sind wir auch in ihnen nach Maßgabe unserer relativen Freiheit aktiv. 6. Wenden wir uns nun den Erscheinungsformen selbst noch zu, und zwar zunächst dem Gefühl. Unter Gefühl verstehen wir eine Art von Funktionskoeffizienten. Der organische Ausgleich zwischen unserem Willen und der andringenden Lebensmacht erscheint in unserem Be­ wußtsein der Größe, dem Kraftverhältnis nach als eine Span­ nung, die man allgemein Gefühl nennt. Wir empfinden den Vorgang einer seelischen Auseinandersetzung, aber nicht nach der sachlichen Seite, sondern der formalen Intensität. Die Übermacht eines der beiden Faktoren des Prozesses offenbart sich als ein starkes, leidenschaftliches Geftlhl, der geringere Kraftunterschied als leichtere, oberflächliche Emotion. Es gibt dementsprechend in unserem Bewußtsein eine große Stufen­ leiter von Gefühlen (eine Reihe, die übrigens vom sachlichen Inhalt der Ereignisse nicht aufgestellt wird; die gegensätzlichsten Vorkommnisse können völlig gleiche Gesühlswallungen aus­ lösen !), eine Stufenleiter von der Tiefe der Willenshemmung über geruhige Empfindungen bis zu der Höhe strömender Lebenslust. Vielleicht könnte man sie mit folgenden Begriffen skizzieren: Verzweiflung, Apathie, Depression, Kummer, Sorge, Mitleid, Angst, Bangigkeit, Kleinmut, Zweifel, Gleichgültig­ keit, Zartgefühl, Behaglichkeit, Frohsinn, Liebe, Freude, Eifer, Begeisterung, Affekt, Ekstase. Die Stufenleiter ist damit nur angedeutet, nicht erschöpft. Das Leben hat sie fein ziseliert, so sein, daß sie sich wohl überhaupt nicht vollkommen in Be­ griffe fassen läßt. Kaum einer der Begriffe deckt ganz das augenblickliche Geschehen und vor allem die subjektive Färbung des Gefühls. Unsere Seele gleicht einem feinen Instrument, darauf das Leben spielt und aus dem es immer wieder neue, eigen­ artige Töne hervorzulocken weih. Es kann gewaltige, hinstür­ mende Melodien und leise Klänge anstimmen, es kennt markige Kraft und weiche Hingebung, verträumte Stimmungen und Staun, Di« Macht bee Stelischen,

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schrille Mihtöne, langanhaltende Einheiten und schnellen Wechsel, gm Gefühl zittert da» Tempo der Zeit. Es gibt Seelen, die tauben Instrumenten gleichen und gibt seinnervige Dispositionen. Vielleicht ist au» all den Gründen die Mujit eine bessere Inderin des Gefühlslebens, da ihr ja alle diese Elemente zu eigen sind. Der Wert des Gefühls liegt im Symptomatischen. Der Wille des Menschen läßt Richtung und Verlauf der Prozesse auf diesem Wege unmittelbar bewußt werden, ehe der Gedanke seine klaren Bilder formen kann, gm Augenblick zeigt sich im Gefühl Richtung und Widerstand an und dies mit einer Nach­ drücklichkeit elementarer Art. Jedes Gespräch, jede Wendung, jede Bewegung, jedes Geschehen unseres Alltags wird uns in solcher Art sofort anschaulich und das schnelle Gefühl ermöglicht den raschen Ablauf vieler kleiner Ereignisse. Wir erledigen viele Dinge „gefühlsmäßig". Selbst wenn man von der Kunst, in der das Gefühl eine dominierende Bewußtseinssorm ist, absieht, finden sich in unserem Leben viele Situationen, die nur durch das Gefühl beherrscht und gelöst werden können, sogar in der Polittk, die man sonst das nüchternste Verstandes­ geschäft nennen darf. Die politische Geschichte ist reich an Augen­ blicken, in denen Spannungen auf rein gefühlsmäßige Weise gelöst wurden, gelöst werden mußten, in denen ohne scharfe Überlegung entscheidende Entschlüsse geformt und große Unter­

nehmungen eingeleitet wurden. Erst später konnte der Ver­ stand den Gehalt erfassen, vielleicht bewundernd, vielleicht aller­ dings auch kritisch. In dem Wesen des Gefühls als eines Koeffizienten liegen auch seine Schattenseiten begründet, seine Gebundenheit an den Augenblick, seine ewige Bewegtheit, seine Neigung, ins Uferlose zu schwimmen, seine Unfähigkeit zur Objektivität. Gefühle sind immer rein persönlich und sie kommen und gehen mit dem Augenblick. Daß jederzeit eigengeartete Prozesse ab­ lausen und sich dem Bewußtsein in Emotionen offenbaren, bringt mit sich, daß unser Gefühlsleben immer bewegt ist, unsere Gefühle ständig schwanken, weshalb wir denn auch in der Tat, sobald wir uns selbst beobachten, einen fortwährenden Wechsel

unserer Stimmung wahrnehmen. Wir unterscheiden nicht nur Zelten und Tage, in denen wir ausgesprochen fröhlich und schaffensfreudig oder verärgert und lebensunfroh sind, wir er­ leben auch innerhalb kürzerer Zeitabschnitte auffallenden Stim­ mungswechsel. Das ist umso bedeutender, als für den Ablauf eines neuen Prozesses unsere Gefühlsverfassung, mit der wir in ihn eintreten, von Einfluß, vielleicht sogar von entscheidender Wichtigkeit ist. Line Depression kann uns unfähig zu Funktionen machen, eine Stimmung einseitig und ungerecht sein lassen und andererseits kann eine günstige Verfassung zur glücklichen Wen­ dung unseres ganzen Lebens werden. Nach dem Gefühl urteilen heißt in vielen Fällen auch irren, so sehr es in anderen sicherer Maßstab sein kann. Hier ist die Stelle, wo, psychisch gesprochen, das naturwissenschaftliche, kritische Jahrhundert in seiner Be­ kämpfung des Gefühls Erfolge erzielen konnte, Erfolge, die freilich selbst zu Irrtümern verleiteten, sobald sie ins Extrem gingen und über der Gebundenheit und Subjektivität des Ge­ fühls sein feines Eingehen auf unwägbare Werte und seine Bereicherung des Lebens vergaßen. Die Gegenwart weiß, was es heißt, des Gefühls zu spotten und sich ganz dem „nüch­ ternen" Verstand zu verschreiben. Einen eigenartigen Einblick in das Weben der Jahrhunderte erschließt uns die Tatsache, daß es schlechthin eine Geschichte des Gefühlslebens gibt. Die Fähigkeit zur Empfindung ist keineswegs eine konstante. Zweifellos lassen sich Zeitalter eines starken (vielleicht sogar überkultioierten) und solche eines schwa­ chen, verarmten Gefühlslebens unterscheiden. Es gibt Zeiten, in denen die Menschen feinnerviger, gefühlsreicher leben, und zwar nicht nur einzelne, gn Briefen und Kunstwerken, in Umgangsformen und Festlichkeiten, in Kleidung und Ge­ wohnheit tritt dann überall eine zarte Rücksichtnahme und eine sensible Reagenz aus. Die Künstler zeichnen sich durch eine differenzierteste Gefühlsunterscheidung aus; im Kleinstadtleben entwickelt sich eine nervöse Pedanterie; man sieht allgemein den Wert des Lebens in der Empfindsamkeit und man schätzt am Mitmenschen vor allem die Form seiner Bewegung, gm Senti­ mentalen liegt die Größe und Schwäche solcher Zeiten, ihr

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Gemütsreichtum und ihr Mangel, an energischem zielbewußtem Handeln. Sobald sich das Verhältnis zur Einseitigkeit hin ent­ wickelt, entsteht ein eigenartiger Hang zum Träumerischen, der nach der Reaktion verlangt. Es gibt andere Zeiten, Jahrzehnte oder selbst Jahrhunderte eines erfolgreichen, energischen Handelns, der größeren Selbst­ behauptung, der klareren Erkenntnis aus verschiedenen Gebie­ ten, die deutlich durch ein Überwiegen der gedanklichen Bewußt­ seinsform charakterisiert sind. Es sind Zeiten, die mit Stolz auf ihre Errungenschaften Hinweisen, dabei nur eben verschweigend, daß mit dem Sinken des Gefühlslebens auch Werte verloren gingen, vor allem viel Rücksichtnahme und seelischer Reichtum. Über extrem verstandesanbetenden Zeiten liegen die Schatten der Formlosigkeit, der Rücksichtslosigkeit, des idealarmen Er­ raffens allzuvergänglicher Güter. Es kommt etwas Schweres, Kaltes, Barbarisches ins Leben und selbst in der Kunst taucht das Gefühlsstumpfe, Grobe und Schreiende auf, wenn auch nur in den Reihen der mittleren Begabungen. Es gibt Zeiten der gefühlsbetonten und solche der verstandes­ mäßigen Bewußtseinsform, insofern eine der beiden überwiegt. Sie werden hervorgerusen durch allgemeine Lebensverhält­ nisse. In ihrer gegenseitigen Beurteilung stehen sie sich mit psychischer Notwendigkeit ablehnend gegenüber. So hat sich eine ganze Literatur mit gegenseitiger Ablehnung und Ver­ spottung angehäust. Es ist interessant, den Wechsel zu verfolgen, in einem Einzelfall etwa an der Beachtung, die ein so sehr in seiner Zeit wurzelnder Schriftsteller wie Jean Paul sand und findet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt er vielen als der größte Dichter der Zeit; in der zweiten wurde er vergessen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gekürzt (1) wieder auf den Büchermarkt gebracht und wird heute wieder in seiner Originalschreibweise verlegt. So wurde Machiavelli vergessen und ausgegraben und so sinkt ein Naturalismus ins Grab, sicher nicht für immer. Noch vor 15 Jahren verlachte man die sentimentale Zeit des Biedermeier; heute findet dieses Lachen wenig Beifall. In der Vorherrschaft einer der beiden Bewußtseinsformen

kann es sich allerdings nur um ein Schwanken handeln. In Wirksamkeit sind immer beide, ergänzen sich gegenseitig und tragen durch ihr eigentümliches Verhältnis viel zur seelischen Struktur einer Zeit bei. Auch in Zeiten der Romantik hat es immer Denker von Rang gegeben und in Zeiten nüchternster Derstandeskultur leben Menschen mit seinem Einfühlungsver­ mögen. Im Jahre der „Sappho" und der Grimmärchen durch­ querte der erste Dampfer den Ozean; die Entstehung der Lieder­ sammlung „Des Knaben Wunderhorn" und die Erfindung der Schnellpresse fallen zeitlich sehr nahe zusammen; während Automobil, Telegraph und Telephon ihren Siegeszug antraten, schrieb Hans Pfitzner seinen „Armen Heinrich" und seine „Rose vom Liebesgarten" und vor 400 Jahren spielte sich in dem Italien Michelangelos und Alexanders VI. jenes eigen­ artige Schauspiel ab, das wir die Italienische Renaissance nennen, in dem sich Idealität und Brutalität in einer Weise vereinten, die uns nahezu unverständlich ist. Das Leben ist immer reicher als unser Bewußtsein und gerne verleitet uns eine Theorie zur Einseitigkeit. 7. Haben wir das Gefühl einen Krästekoeffizienten genannt, so verstehen wir unter der zweiten Bewutztseinsform, dem Denken, die Fähigkeit, sich die Lebensvorgänge in Bildern vorzustellen. Die sinnlichen Wahrnehmungen, die auf dem Wege über die Sinnesorgane in unser Bewußtsein fließen, dienen uns als Bausteine unsererErkenntnisse.Wir denken die Welt so, wie wir sie auf Grund der Aktionsart unserer Sinnesorgane sehen, also in Bildern, nicht wie sie ist, in Funktionen. Erfahrungen haben uns zwar gelehrt, daß Zusammenhänge bestehen und das 19. Jahrhundert hat vornehmlich den kausalen und orga­ nischen Bindungen nachgesorscht. Aber niemals kam das mensch­ liche Denken weiter als bis zu der Feststellung, daß aus bestimmte Voraussetzungen bestimmte Neuerscheinungen folgen. Das eigentliche Geschehen in den vielen Ereignissen, die wir gesetz­ mäßige nennen, ist uns verborgen geblieben, weil dem Menschen die geistige Anschauungsfähigkeit hiezu fehlt. Bilder haben keine Bewegung und sind für die Darstellung von Funktionen

unbrauchbar. Wir aber müssen in Bildern denken und ver­ fügen über keine Dewußtseinsform, die zur Wiedergabe der eigentlichen Vorgänge unmittelbar geeignet wäre. So sehen wir immer das Vorher und da» Nachher, zwei Zustände, können durch Vergleiche die Veränderung beachten und die Regelmähigkelt feststellen; was aber dazwischen liegt, kann von uns nie gedacht werden, erscheint nie in unserem Bewußtsein. Run ist man srellich mit Recht jener Anschauung entgegengetteten, die den gesamten Besitz an Vorstellungen und Ideen als ein von außen erworbenes Sinnesgut unmittelbarer Art anspricht. Es gibt Denkerzeugnisse, die nicht auf reiner Sinnes­ ernte beruhen, sondern gleichsam (wir müssen auch hier bildlich sprechen!) von innen herstammen. Allein diese Tatsache wird uns weder beirren noch verwundern, da wir ja einen Unter­ schied -wischen außen und innen sachlich nicht gegeben sehen, sondern nur als ein Produtt unserer Stellung erschauen und werten und also leicht erklären können, wieso Reflexionen des organischen Lebens nicht nur von außen, sondern auch von innen her ins Bewußtsein vordringen. Rur müssen wir auch diese Erkenntnisse in Vorstellungen denken und in Worte sinnlicher Herkunft fassen. Daß es absttatte Begriffe gibt, zeigt unsere Losgelösthelt von einer zu eng erfaßten Sinnlichkeit. Daß sich die absttatten Begriffe sehr bald ins Undeutliche verlieren, dann nämlich, wenn wir verschmähen möchten, Bllder zu gebrauchen, lehrt uns, wie allgemein sinnlich wir denken. Das geschieht so vollkommen, daß wir unser Denken und die Wirtlichkeit ost nicht einmal auseinanderhalten. Es ist die Regel, daß der Mensch das, was er dentt, dem, was geschieht, gleichseht, Ge­ danke und Ereignis für dasselbe hinnimmt und sich wundert, wenn sich Unterschiede prattisch fühlbar machen. Diese Verwechslung muß eintreten, da das Geschehen und unsere Dorstellungsbildung organisch miteinander verbunden sind und das vom Bewußtsein nicht Erfaßte eben — nicht be­ wußt ist. Es bedarf eingehender Experimente, um den Nachweis der Unterschiedlichkeit zu erbringen, Experimente, die der naive Mensch nie anstellt und die auch den Psychologen nicht davor bewahren, bei Gelegenheit selbst wieder dem natürlichen Irrtum

zu verfallen. Die Verwechslung muh aber erkannt sein und die Unterschiedlichkeit -wischen Denken und Geschehen klar heraus­ gestellt werden, wenn die natürliche Stellung des Menschen sichtbar sein soll. Au» ihr ergeben sich schwerwiegende Folgen. So zunächst eine Enge unseres Bewußtseins. Unser Welt­ denken kann weder das organische Geschehen erfassen, noch auch nur alle äußeren Erscheinungen festhalten. Ja, die gewonnenen Vorstellungen müssen wieder verblassen und untergehen, um neuen Platz zu machen. Unser Dorstellungsbegriff wechselt fortwährend im Fluß des Lebens. Was wir als Kinder, als Schüler, als Studenten wußten und dachten, ist zu einem großen Teil wieder aus unserem Bewußtsein entschwunden. Wir können den Verlust inhaltlich nur nicht ersassen, well es sonst ja kein Verlust wäre. Im Vordergrund stehen heute die Nöte, Interessen und Sorgen unseres gegenwärtigen Lebens. Auch sie werden versinken zugunsten von Erkenntnissen unseres Alters und der Lebensstellung, die wir dann einnehmen werden. Innerhalb dieses großen Rahmens vollzieht sich aber auch noch ein schneller ablaufender Wechsel der Eintagsvorstellungen und in eigenartigen Lagen blitzen Ideen auf, die sofort wieder unter­ gehen und die wir vielleicht niemals wieder erfassen. Don einem ständigen Dorstellungsbesltz kann im psychischen Sinne nur sehr bedingt die Rede sein. Was wir ständige Vorstellungen heißen, sind Bewußtseinsbilder, die vom Leben weiterhin ge­ nährt werden. Wir würden erstaunen über die Fülle der Ver­ änderungen, wenn es uns möglich wäre, das vollständig Ver­ lorene, das stark Verdüsterte und das Weltest-umgeformte in unserem Weltdenken zu sehen. Daß wir das nicht können, bringt die Täuschung mit sich, als würden wir immer dieselben bleiben. Eine wichtige Folge besteht weiter darin, daß unser Denken vom Leben genährt werden muß und nur in subjektiver Art genährt werden kann. Echte Gedanken sind aus dem Fluß des Lebens geboren und sie tragen einen persönlichen Stempel an sich, alles gewollte und gekünstelte Denken, in unserer Zeit reichlich gezüchtet, bleibt leeres Papierwissen. Es wirkt als Gerede, Gescheidseinwollen, als Phrase. Vorstellungen und Gedanken, die aus dem Leben kommen, sind einfacher Art, sind

klar und verständlich, während sich das gewollte Denken in halbverständlichen und unklaren Bildern verliert. In echten Gedanken findet sich der Pulsschlag des Lebens und sie wirten sich daher auch auf irgend eine Art aus. Anechte Gedanken welken sehr schnell dahin. Daß es aber echte und unechte Ge­ danken gibt und dah die Gebundenheit dieser Bewußtseinssorm allen Vorstellungen eine rein persönliche Note ausdrückt — wie stark muh das alle Anschauungen der Menschen variieren und welche tiefe Klüfte müssen sich so zwischen Zeiten und Völ­ kern austun! Dieselbe Gegenwart muß mannigfaltigstes, oft genug extremes Gegenwartsdenken auslösen, muh leiden­ schaftliche Selbstbehauptung, unlösbare Konflikte und unent­ wirrbare Mihverständnisse auch noch dort verursachen, wo sie an sich sachlich nicht gegeben wären. Die Natur der Menschen wird Quelle einer Lebenstragik großen Umfanges. Eine heute vielumstrittene Konsequenz der Trennung von Geschehen und Bewußtsein ist in dem Relativitätsgedanten gegeben. Wenn wir nicht das Leben selbst sehen, sondern nur seine Bilder, die unser persönliches Bewußtsein formt, dann wird alles zur Beziehung, abhängig von menschlicher Beengt­ heit und schwankend. Diese Folgerung würde, mißverstanden, unermeßliche Evolutionen nach sich ziehen, da einerseits Natur­ verhältnisse nicht nach dem Für-gut-achten oder Ablehnen der Menschen bestehen, andererseits aber, bei vollständiger Rela­ tivität der Arteile alle Wirksamkeit großer ethischer Gesetze be­ droht erscheint. Allein es ist unrichtig, aus der Tatsache der Relativität menschlicher Dewußtseinsformen auf eine Relati­ vität der großen ethischen Ideen zu schließen. Was wären ethische Ideen, wenn sie menschliche Erfindung wären! Was würde ein menschliches Bewußtsein bedeuten, das unfähig wäre, die größten Linien des Weltgeschehens zu verkennen! Ethische Gesetze werden in ihrer Dauer und Gültigkeit von der Tatsache der menschlichen Dewußtseinsenge nicht betroffen; sie sind dem Leben selbst eingebaut; sie stellen Lebensinhalte dar, die nie verleugnet werden können; zu ihnen muh jedes höher entwickelte Denken immer wieder zurückkehren. Fallen können vermeint­ lich ewige Gesetze, Aberglauben und enge Doktrin, erstarrtes

Erbe und örtliche Sitte, nie aber jene Gewalten des Lebens, die immer regieren, weil sie Richtlinien, Gebote jener Macht sind, die wir in unserer menschlich bedingten Auffassungsgabe nie begreifen können und die wir Gott nennen; Sittengesetze, die noch kein Volk ungestraft verleugnete, weil ihre Verletzung eine Unterbindung des Lebens ist. Das Ewige wird sich, wenn auch tausendfältig gesehen, immer wieder in seinem einen, un­ verkennbaren Wesen dem Denken des Menschen zeigen. Relativ ist, was aus der Verbindung von Welt und Wille hervorgeht; absolut ist, was als Urmacht jenseits dieser Ver­ bindung steht. So kann nur in einer dilletantischen Deduktion der Relativitätsgedanke als eine Gefahr der wenigen, großen Lebensgesetze bezeichnet werden. Das Göttliche kann nie von ihm berührt werden.

II. Funktionsbegriffe. 8. Die Betrachtung des Verhältnisses von Welt, Wille und Bewußtsein hat uns bisher die wichtigsten Grundbegriffe der organischen Psychologie aufgezeigt. Wir können uns nun den Funktionsbegriffen zuwenden. Als eine solche, bedeuffame Funktion haben wir bereits den Psychischen Prozeß kennen gelernt; ihn suchen wir nun näher zu begreifen. Für das Zustandekommen, den Eintritt eines Pro­ zesses, sind, wie wir sehen, zwei Faktoren, Weltleben und psychische Konstitution, von ausschlaggebender Bedeutung. Der Mensch wurzelt an einer Stelle der großen Welteinheit und die Geschehnisse in dieser Weltzelle bedeuten für ihn die Welt. Die in dieser Zelle ablaufenden, eigentümlichen Ereig­ nisse sind der Nährboden seiner Prozesse und ob er gleich damit der ganzen Einheit, die ja auch diese Zelle ernährt, verpflichtet ist, kennt und nützt er doch nur das Geschehen dieser psychischen Heimat. Und ebenso bestimmend ist für ihn seine subjektive psychische Konstitution. Diesen allgemeinen Vorbedingungen für das Zustande­ kommen eines Prozesses entsprechen aber auch besondere, d. h.

augenblickliche Prvzeßmöglichkeiten. Es ist für den Eintritt eine» Prozesses wichtig, ob und wie weit ihn der augenblick­ liche Gesamtzustand zuläßt. Die Dispositionen liegen nicht, wie wir schon gehört haben, nebeneinander, sondern bilden in ihre Gesamtheit ein organisches Gefüge. Die überragende Attivität der einen Disposition entzieht den anderen Dispositionen Ener­ gie, und Verbrauch oder Aufspeicherung von Straften bestimmt die Eigenart des Augenblicks, infoferne dadurch eine aufge­ rufene Disposition besonders aktiv oder gelähmt auftritt. Für den Eintritt eines Prozesses ist der augenblickliche psychische Allgemeinzustand von Bedeutung. Bei an sich gleichen, all­ gemeinen Vorbedingungen kann uns das Leben in dem einen Falle besonders tatkräftig, in einem anderen ganz oder teilweise aktionsunsähig vorfinden. Hier ruht die praktisch außerordent­ lich wichtige Erscheinung der unglücklichen und der genützten Gelegenheiten, die sich in jedem Leben vorfindet, ost markante Wendepunkte verursacht und nur sehr selten durch spätere Nach­ betrachtungen korrigiert werden kann. Den Eintritt eines Prozesses können wir nicht in jedem Falle sogleich wahrnehmen. Es gibt Prozesse, die erst einige Zelt nach ihrem Beginn bewußt werden. Auch umfaßt das erste Dewußtwerden nicht immer sogleich den ganzen Umfang des Prozesses und wir sind ost genötigt, erst in seinem Ablauf weiter in ihn vorzudrtngen. Persönliche Fähigkeiten differenzieren dabei unseren Erfolg. Das erste Bewußtwerden eines Prozesses nennen wir eine Wahrnehmung. Wir verengen diesen Begriff nicht, ent­ sprechend dem Eharakter des Vorgangs, auf das Erkenntnis­ leben, wie es die bisherige Schulpsychologie tat, sondern be­ ziehen ihn auch auf die Gefühlserscheinung. Wahrnehmung ist nicht nur ein physiologischer Vorgang, ist mehr als eine Summe von Organsunktionen, ist bereits fließender Prozeß, nur eben im ersten Stadium seines Bewußtwerdens. Dem Wesen des Gefühls entsprechend ist die Erscheinung im Gefühl vor allem dann eine auffallende, wenn die Spannung eine große ist. Das Kräfteverhältnis erzeugt dann lebhafte Gemütsbewegung: Überraschung, Erwartung, Freude, Angst,

Schrecken und Furcht. Wir beginnen zu zittern oder zu weinen (wobei charakteristischerweise auch rein physiologische Erschei­ nungen auftreten: Erröten, Erbrechen, Schweißabsonderung und zwar gleichermaßen, ob es sich um Gutes oder Schlimmes handelt), oder wir werden vollkommen ruhig im Sinne der Hoffnung oder der Erstarrung. Das außerordentliche, die Unkenntnis in Dingen unserer eigenen Natur läßt uns in man­ chen derartigen Fällen über uns selbst staunen. In der über­ wiegenden Zahl der Fälle ist ja die Spannung keine so große, sind also die Erscheinungen auch ruhigere. Das heißt aber wieder­ um nicht, daß die alltäglichen Ereignisse nicht ebenfalls gefühlsbewußt würden; auch jedes unscheinbare Vorkommnis wirst seinen Gefühlsreflex, so daß wir dem andringenden Leben in jedem Falle in Sympathie, Antipathie (oder Indifferenz) gegenüberstehen, eine Tatsache von großer Lebensbedeutung. Gerade diese Kleinempfindungen sind es, die in ihrer Mehrzahl den Allgemeinton unserer Lebensstimmung erzeugen. Im Denkbewußtsein ist die Wahrnehmung natürlich durch die beginnende Dorstellungsbildung, in der keimhast auch schon der Aufruf alten Besitzes gegeben ist, gekennzeichnet. Die Sinnesorgane arbeiten, ihre Meldungen verschmelzen, Erinne­ rungsbilder treten hinzu und es blldet sich eine Vorstellung von dem Geschehen. Deutlich sehen wir das Walten subjektiver Elemente, so in der Art der Sinnestätigkelt, im Auftreten alten Dorstellungsbesitzes, in der Aufnahme der Lebensströmung durch die psychische Disposition. Im übrigen hat die bisherige Psychologie die Besonderheiten dieser ErkenntnisattivitSt (Funktion und Eigenart der Sinnesorgane, Begriff, Inhalt und Umfang der Vorstellungen und Komplikationen und die Typenblldung) so eingehend untersucht und dargestellt, daß sich darüber weitere Ausführungen erübrigen. Sie finden sich in jedem Lehrbuch der Psychologie. Nur auf zwei Erscheinungen muß noch besonders hingewiesen werden, auf die Reflexbe­ wegungen und die Assoziation. Unter einer Reflexbewegung verstehen wir das kurze Aufleuchten eines Prozesses im Bewußtsein, einen schnellen Prozeßablauf, der infolge seiner Geschwindigkeit im Bewußt-

sein nur mehr stückweise erscheint. Auf die Wahrnehmung folgt bereits das Handeln und auch die Wahrnehmung selbst trägt schon alle Zeichen der Unvollkommenheit an sich. Das Dewuhtsein kann seine volle Aktivität erst nach Ablauf des Pro­ zesses entfalten in der Gestalt von Erinnerungen. Während des Ablaufes ist ihm mehr als eine bruchstückweise Arbeit nicht möglich. Reflexbewegungen sind also keine physiologisch-me­ chanischen Vorgänge, als welche sie bisher gerne angesprochen werden (eine Anschauung, die allerdings schon immer auch Widerspruch gefunden hat); sie sind volle Lebensprozesse, unterschieden nur durch die unvollkommene Art ihres Dewußtwerdens. Die Assoziation ist bekanntlich in der Psychologie seit jeher eines der vielumstrittensten, ist auch eines der interessan­ testen Kapitel. Wir begreifen darunter die eigenartige Tatsache, dah unser Bewußtsein nie ein Bild des andringenden Lebens mechanisch gestaltet, daß es also nie rein passiv aufnimmt, nie einer photographischen Platte gleicht, auch wenn wir uns schein­ bar dem beobachteten Gegenstand gegenüber aufnehmend ver­ halten, dah es vielmehr in dieses Bild von Anfang subjektive Elemente mischt und bestrebt ist, das Reue dem Alten einzu­ bauen. Die bisherige Psychologie erklärt die Erscheinung in dem Sinne, daß überhaupt keine neue Vorstellung ausgenommen werden kann, wenn nicht hiezu Assoziationshilfen in Gestalt bereits vorhandener Vorstellungen zur Verfügung stünden. Die ältere Psychologie hat, bereits seit Aristoteles, vier Assozia­ tionsgesetze—Ähnlichkeit, Kontrast, Gleichzeitigkeit und Gleich­ örtlichkeit — unterschieden und eine neuere Psychologie hat diese vier Gesetze auf eines zurückzuführen versucht. Man hat unterschieden zwischen simultanen und sukzessiven Assoziationen und hat besondere Typen der visuellen, akustischen und moto­ rischen Assoziation experimentell festgestellt. Man unterscheidet zwischen den eigentlichen Assoziationen und der Assimilation, einem Vorgang, bei dem die äußere Erscheinung die verwandte Vorstellung im Bewußtsein weckt, und Herbart hat die psychische Erscheinung als Apperzeption in die Pädagogik eingesührt. Die

experimentelle Physiologie schließlich hat eigene Assoziations­ zentren in der Großgehirnrinde erforscht, sog. Endstationen vieler Nervenfasern, die ausgesprochen der Verbindung dienen. Es mag vornehmlich diese physiologische Arbeit gewesen sein, die den ganzen Vorgang in eine rein materialistische Denkart einfügte, so daß die Erklärung, es gäbe eine Vorstellung A und eine Vorstellung B, zwischen denen eine Bahn hergestellt werde und damit eine Verbindung, (die wiederum für den späteren Vorgang des Erinnerns von Bedeutung sei) zu einer fast popu­ lären wurde. Dem standen freilich schon immer auch Beobachtungen und Aussprüche prominenter Persönlichkeiten entgegen. Man hat erkannt, daß es sich bei den Assoziationen keineswegs bloß um Vorstellungen, sondern auch um Gefühle und Willensvorgänge handle, und Wundt, der Begründer der experimentellen Psycho­ logie, erklärte selbst, bei den Vorstellungen handle es sich nicht um konstante Objekte, sondern um höchst veränderliche Vor­ gänge unseres Seelenlebens. Allein die naturwissenschaftlich­ materialistische Deutung der Assoziationen als Leistung be­ stimmter Gehirnbahnen entsprach (obwohl auch nachgewiesen wurde, daß dieselben Windungen höchst unterschiedliche Vor­ stellungen verarbeiteten), zu sehr der allgemeinen Tendenz der Zeit, als daß sie damals hätte widerlegt werden können. Die organische Psychologie kann sich mit der Annahme von bestimmten, dinglichen Vorstellungen, zwischen denen eine dinglich gedachte Verbindung bestehen soll, nicht einverstanden erklären. Das Vorhandensein der Gehirnwindungen und der Beweis, daß gewisse seelische Funktionen mit dem Vorhanden­ sein und der Beschaffenheit solcher Windungen zusammen­ hängen, kann sie nicht veranlassen, diese physiologischen Organe als die eigentlichen Erzeuger der Assoziationen zu betrachten, so wenig sie im Auge den Schöpfer eines schönen Landschafts­ bildes sieht. Ohne das Auge natürlich keine Landschastsbild; aber noch weniger ohne seelische Funktion!

Was versteht aber dann die organische Psychologie unter Assoziationen?

Vorstellungen sind Projektionen des seelischen Geschehens in die schaubare Region des Bewuhtseins; sie sind als solche vollkommen abhängig von den beiden Trägern und Verur­ sachern des psychischen Prozesses: dem Gehalt des äuheren Geschehens und dem Inhalt der subjektiven Disposition. In dem Dorstellungsbild müssen also Elemente aus beiden Fak­ toren erscheinen; es muh alte und neue Elemente enthalten. Es kommt nicht zu einer Dorstellungsbildung, wenn keine psychische Disposition vorhanden ist. Ist sie aber vorhanden, so muh sie in der ihr eigenen Art und mit ihren Inhalten auf­ treten. Diese Eigenart bildet die Ursache, dah die Disposition für die neue Erscheinung, die von auhen her andringt, emp­ fänglich ist. Der Lebensvorgang als solcher ist aber nicht schaubar; schaubar ist erst die Erscheinung im Bewuhtsein und dabei hat die Disposition bereits ihre Neugestaltung erfahren. Ihr Inhalt ist verändert, ihre Funktionsfähigkeit erhöht. Hier zeigt sich deutlich, warum das Neue und Alte nicht bloh innerhalb der Vorstellungen, sondern auch im Gefühls- und Willensleben auftritt und warum Wundt die Vorstellungen als sehr veränder­ liche Vorgänge anspricht. Der psychische Prozeh wird nicht allein im Denken, er wird auch in der Form des Gefühles bewuht, und die erneuerte und veränderte Disposition zeigt sich in einem veränderten Wollen. (Das Wollen nannte die bis­ herige Psychologie den Willen, worunter die organische Psycho­ logie etwas anderes versteht). Untersucht man rein das im Bewuhtsein Erscheinende, das gedanllich Feststellbare, so muh man zu den obengenannten Einteilungen der Assoziationen kommen. Im Grunde ist aber solche Unterscheidung nur eine Verarbeitung der subjektiven Eigentümlichkeiten der einzelnen Menschen, nicht eine Variierung der Erscheinung als solcher. Wenn ich beim Anblick einer Bergspitze an ein Horn denke, ein Vorgang, den man Assimilation nennt, so ist das seelisch dasselbe, als wenn ich beim Anblick des Berges sogleich an andere, früher gesehene Berge denke. So handelt auch der akustisch reichere Typ nur subjek­ tiv, nicht sachlich, wesentlich anders als der visuelle oder motorische. Es ist klar, warum man der Assoziation seit jeher so grohes Interesse entgegenbrachte und warum man ihre Bedeutung als

eine immer größere anerkennt. Liegt doch in ihr nicht weniger vor als das grundlegende psychische Geschehen, die seelische Ernäh­ rung des Menschen in ihrer positiven und negativen Tragweite. Positiv wirkt sie sich aus, indem durch sie das Fremde in das Persönliche eindringt. Sie stellt den Weg dar, aus dem wir ständig neu werden und uns neuwerdend in der Fülle des Lebens erhalten. Die psychischen Dispositionen gestatten uns durch ihre Aufnahmefähigkeit, daß wir dem Leben gerecht wer­ den; indem sie sich fortwährend in den psychischen Prozessen umsormen, passen sie sich jeweils dem Leben an und ermög­ lichen uns die seelische Existenz in einer sich ewig erneuernden Welt. Negativ wirkt sich die Assoziation aus, indem sie uns nur gestattet, bestimmte Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten und uns dadurch gleichzeitig die Aufnahme vieler anderer Lebensinhalte vorenthält. Hier stehen wir vielleicht am nächsten an der Quelle alles Subjektiven, das uns zwar einerseits vor der Überlastung schützt, aber anderseits in absolutem Sinne zu einem gellendasein verurteilt. Sobald wir uns dessen nicht voll bewußt sind, wird aber unsere Isolierung auf allen sozialen Gebieten tragisch. Unsere Welt ist nicht die Welt unserer Mit­ menschen. 9. Die Assimilation und chre Unterformen Aufmerksamkeit und Interesse sind nicht mehr ausschließliche Erscheinungen der Wahrnehmung; sie gehören entscheidend auch dem eigent­ lichen Ablauf des Prozesses an. Es werden ja auch weiter­ hin Vorstellungen gebildet; ja der eigentliche Vorgang wird überhaupt kein anderer. Vorder ist nur das erste Stadium des Bewußtwerdens, die Wahrnehmung. Der ablaufende Prozeß erscheint in mannigfaltigeren Formen im Bewußtsein als der beginnende, in jenen Formen, die wir unter den Be­ griffen Gedächtnis, Phantasie, Denken im engeren Sinne, Urteilen, Schließen, in anderer Hinsicht auch unter Illusion, Halluzination und Traum kennen. Unter Gedächtnis versteht man bekanntlich die Fähig­ keit, alte Vorstellungen wieder zu denken. Ein naives, sinnliches

Ersassen dieses Vorganges spricht von einer Vorratskammer, in der die Vorstellungen gleichsam auf ihre Auferstehung jeder­ zeit warten. Die Wissenschaft spricht von einer Schwelle des Dewuhtseins, unter bzw. über die einzelne Vorstellungen treten. So räumlich liegen die Dinge kaum. Dem eigentlichen Sachverhalt dürsten wir näher kommen, wenn wir unter Ge­ dächtnis den Anruf einer Disposition, besser gesagt ihr Auf­ treten in dem ihr eigenen Gehalt, das Bewußtwerden ihres augenblicklichen Inhaltes verstehen. Die ruhende Disposition ist uns unanschaulich. Erst die arbeitende erfüllt unser Bewußt­ sein mit Bildern, und zwar mit jenen, die augenblicklich ihren Gehalt ausmachen. Es kommt darauf an, in welchem Umfang eine Disposition angesprochen ist, auch, in welcher Relation sie zu den verschiedenen Linien des akuten Lebensprozesses steht. Sie kann vollkommen, kann teilweise auftreten, kann getreu, verändert oder — gar nicht erscheinen. Wir sprechen dann von einem guten, einem mangelhaften, einem versagen­ den Gedächtnis. Denn es kommt nicht auf unser Wollen an') (ein sehr interessanter, sich im praktischen Leben oft wieder­ holender Vorgang besteht darin, daß wir uns trotz lebhaftesten Bemühens aus einen Namen oder ein Ereignis nicht mehr ent­ sinnen können!); nur wenn das Leben selbst anspricht, erscheint Disposition und Erinnerung (hernach fällt uns Name und Ereignis plötzlich ein! — Beachte auch die Wortwendung „fällt uns ein" — woher ein Einfällen?). Das Vergessen ist die Folge eines Nichtangesprochenwer­ dens unserer Dispositionen oder auch jene eines mangelhaften Prozesses, in dem keine wirkliche Bereichemng stattgefunden hat. Die Mannigfaltigkeit des Lebens und sein rasches Tempo bedingen sehr oft eine Flüchtigkeit der Prozesse, die eine wahre Umformung unserer Dispositionen nicht zuläßt, weshalb der Erwerb nut ein scheinbarer war. Vergessen werden übrigens auch jene Schulkenntnisse, die wir uns nur zwangsmäßig an­ geeignet haben, die in keinem wahren psychischen Vorgang in *) Auch ein Beweis, daß unser psychische» Erleben nicht vom bewuß­ ten Wollen abhSngt t

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unsere geistige Konstitution eingegangen sind. Vergessen wird, was „nicht interessiert hat", d. h. was unsere Eigenart nicht anzurufen fähig war, und schließlich vergessen wir vieles im Laufe der Jahre durch die allmähliche Umgestaltung unserer Dispositionen. Zugunsten neuer Anhalte werden alte ausge­ schieden auf dem Wege der Verkümmerung. Richt vergessen werden alle jene Anhalte, die für unsere Dispositionen wesent­ lich sind und gleichsam zum Grundstock unseres geistigen Be­ sitzes gehören, die immer wieder vom Leben selbst ernährt werden. Aus dieser Auffassung erllärt sich auch die Tatsache, warum die Vorstellungen während ihres sog. Aufenthaltes unter der Schwelle des Bewußtseins eine mehr oder weniger bedeut­ same Veränderung erfahren, die aber in den einzelnen Fällen eine so ungleiche ist, daß sich keinerlei Analogien oder gar Ge­ setze solcher Veränderung finden ließen. Die Erscheinung, die aus der Tatsache fußt, daß unsere Disposittonen eigenartige, von Fall zu Fall verschiedene, weil von vielen Faktoren ab­ hängige Veränderungen erfahren, spielt im Leben eine ziemlich große Rolle. Die Bilder der Erinnerung unterscheiden sich von denen der Erfahrung; wir aber übersehen die Veränderung, da uns ja jeder Vergleich unmöglich ist und halten Erinnerungs­ bild und Ersahrungsbild für vollständig gleich. Wir kommen daher in die Lage, etwas ganz bestimmt für wahr zu halten, was doch nicht den Tatsachen entspricht. Wir leben der Über­ zeugung, einen Satz, eine Ätuation, eine Örtlichkeit noch richtig

zu denken, während wir uns doch irren, nicht weil wir ungenau wahrgenommen haben, sondern weil unsere Disposition in­ zwischen eine Änderung erfahren hat. Wir wissen, daß wir sehr gut beobachtet haben und halten daher umso verhängnisvoller an unserem (falschen) Urteil fest. Kehren wir in eine früher besuchte Landschaft zurück, lesen wir ein Buch nach Jahren wieder, treffen wir nach langem Getrenntsein einen Bekannten oder finden wir Auszeichnungen unseres eigenen Lebens nach langer Zeit auf, so nehmen wir wahr, daß diese Landschaft, dieses Buch, dieser Bekannte, diese Auszeichnungen anders in unserer Erinnerung standen als wir sie nun vorfinden. Kehren wir aber nicht zu den Tatsachen zurück, sondern sprechen nur

in Gesellschaft von ihnen, so fehlt uns die Möglichkeit der Unter­ scheidung und wir glauben gerne an unser Trugbild. Dieser Umstand wirkt sich im Leben sehr mannigfaltig und durchaus nicht immer harmlos aus. Tritt in einem Lebensprozeh die aktive Disposition und ihr Gehalt sehr stark in den Vordergrund gegenüber einem ge­ ringen Grad von äuherer Einwirkung, so sprechen wir von Phantasieren. Es gibt Prozesse, in denen das äußere Ge­ schehen nur als erster Antrieb tätig ist, das seelische Geschehen aber dann vorwiegend in einer Aktivität der Disposition selbst besteht. Die Fähigkeit, die eigene Disposition in ihrer Bewegt­ heit (die allerdings immer durch das Leben verursacht ist) zu schauen, nennen wir Phantasie. Im Bewußtsein erscheinen zum großen Teil Bilder des eigenen Pesitzes in ihrer subjektiven Form und Verbindung. Das Kriterium des Phantasierens liegt daher auch in einer rein persönlichen Note der Vorstellun­ gen, weshalb wir Phantasie dort schätzen, wo es sich nur um Persönliches handelt, am meisten in der Runft, während wir sie geringer werten, wo sachliches Denken vorwiegen muß. Wenn man in manchen Kreisen auch in der Wissenschaft vom Wert der Phantasie spricht, so ruht das auf einem Verkennen des Wesens der Phantasie. Man denkt dann an eine Ahnung von Zusammenhängen, die zunächst noch nicht klar erkannt sind und nun zum erstenmal in einem menschlichen Denken austreten. Das hat aber mit dem Wesen der Phantasie psychisch nichts zu tun. Phantasie ist reine Innenaktivität. Phantasie ist es, wenn der Künstler Ideen in der Gestalt von Allegorien in die reale Weltvorstellung überträgt. In diesem Sinne konnte ein bedeutender französischer Romantiker sagen: „Ich male nur, was ich sehe", und auf die erstaunte Frage eines Schülers, in der Seelandschaft seien aber doch keine Nixen zu sehen, ant­ worten: „Ja, wenn Sie nicht gut sehen, das ist etwas anderes; ich sehe sie." Wissenschaftlicher Ahnung, einem seltsamen Hinausgrei­ fen der Dispositionen über das sinnlich Wahrnehmbare, steht die Phantasie ferne, dagegen ist sie verwandt zum Wahnsinn. Phantasie, übersteigert, ist Wahnsinn. Phantasie ist noch ge-

sunder Prozeh unter Dorherr schäft des Subjektiven; Wahn­ sinn ist ein Verlieren im Persönlichen unter Ausschaltung der Umwelt. Der Mensch ergeht sich in -en Gebilden seiner Dispositionen, die deshalb auch viele überraschende Züge der Lebenswahrheit, Spuren früherer Entwicklungen, an sich tragen und viel an phantasiebegabte Menschen erinnern. So sind die gezeichneten Bilder von Geisteskranken ost von einer eigenartigen Stärke. Aus eben diesem Grunde der nahen Be­ ziehung ist auch die Grenze zwischen Phantasie und Wahnsinn nicht immer leicht zu ziehen. Diele Künstler endeten in der Nacht des Wahnsinns, so Hölderlin, Lenau, Nietzsche, C. F. Meyer u. a. Ist der Wahnsinn die vollendete pathologische Erscheinung eines Überwiegens der subjektiven Elemente, so liegt in der Illusion nur ein Versagen der Sinnesorgane vor, die uns in diesem Falle einen Eindruck vermitteln, der nicht den Tat­ sachen entspricht. Die Sinneeaktivität wird von einer aktiven Disposition zu stark beeinflußt; Elemente der Disposition fließen bis in die Verarbeitung des Sinnesproduktes. Die experimentelle Psychologie hat als illusionsfördernde Momente erkannt die Schwäche des äußeren Eindrucks (schlechte Beob­ achtung), starke Gefühle und Affekte, namentlich aber Erwar­ tung und Furcht. Das sind bezeichnenderweise Gefühle, die eine sehr starke Aktivität einer Disposition anzeigen. Sie rech­ net deshalb gerne auch den Traum zu den Illusionen, insoferne |ic die Träume auf schwächste äußere Reize zurückführt bei einem Vorherrschen der subjektiven Momente. Eine unbe­ queme Lage wird im Traum zu schwerer Arbeit, ein leises Glockenzeichen zum Sturmgeläute. Ereignisse des Tages wirken im Traum noch nach und eigenartige Verbindungen lassen uns an die kühnste Phantasie denken. Allerdings kann nicht be­ wiesen werden, daß es ohne äußeren Anlaß keinen Traum gäbe und insoferne ist die Deutung des Traumes als Illusion an­ fechtbar. Kaum bezweifeln läßt sich der Charakter des Traumes als eine jener psychischen Erscheinungen, die auf citiern Vorherr­ schen der subjektiven Elemente beruhen. Übrigens darf von den Illusionen in unseremZusammenhang

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nicht gesprochen werden, ohne daß ihre große Bedeutung und ihre weite Verbreitung wenigstens betont wird. Wenn Ibsen in seinem Drama „Wildente" den Gedanken vertritt, daß nichts gefährlicher sein könne, als dem Menschen seine Illusionen zu nehmen, so spricht er damit als dramatischer Psychologe eine tiefe Lebenserkenntnis aus, die nur insofern irrt, als es über­ haupt gar nicht möglich ist, in das psychische Geschehen so stark einzugreifen. Illusionen kann man dem Menschen nicht neh­ men; man kann sie höchstens durch andere ersetzen. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man anführt, daß wir keine einzige von Illusionen vollständig freie Vorstellung besitzen und wahr­ scheinlich ohne Illusionen überhaupt nicht leben können. Sie sind ein fester Bestandteil unseresgeistigen Besitzes. Zu den vielen Beispielen, die durch das Auffallende ihrer Täuschung interessant sind und die zu allen Zeiten von Mund zu Mund gingen, kommen neuerdings wieder einige, die das Wesen der Illusion sehr deutlich -eigen. Don zwei Schnüren, die beide um die Erde gelegt sind, ist die eine um einen Meter länger; um wieviel rückt sie dadurch von der Erdoberfläche ab? — Eine von ihnen wird in einem Meter Abstand vom Erd­ boden gedacht; um wieviel ist sie länger als die andere? — Eine Korkkugel von 2 Meter Durchmesser wiegt der reinen Schätzung nach wieviel? — Die Illusion ist eine natürliche Erscheinung. Krankhaft ist ihre Übersteigerung, die Halluzination. Darunter verstehen wir eine Sinnestäuschung, die den eigenen Dispositionsgehalt unmittelbar in die Umwelt hinausprojiziert und Wirklichkeit und Projektion überhaupt nicht mehr zu unterscheiden vermag. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen im Bewußtsein und die seelische Eigenart erscheint weitgehend als Tatsache in der Umwelt. Das ist pathologisch; denn der Mensch hat damit eine seiner wesentlichen geistigen Fähigkeiten ein­ gebüßt. Verstehen wir unter Phantasieren, unter Illusion, Traum und Halluzination ein Dorwiegen der seelischen Disposition im Ablauf des Prozesses, so richtet im Denken im engeren Sinn des Wortes der Wille den Blick vornehmlich auf die ver-

ursachende Erscheinung. Die Phantasie ist subjektiv, das Denken sachlich orientiert. Da» Denken ist darum vor allem dort erforderlich, wo es sich um eine klare Erkenntnis einer Sachlage handelt, wo das Lesen mit entscheidender Gewalt aus den Menschen einwirkt. Denken ist Haupterfordernis in unseren großen Wirtschafts­ zentralen, wie denn überhaupt der moderne Mensch vorwiegend ein Denker geworden ist. Der ungeheure Ansturm des äußeren Lebens mit den vielen ungelösten Problemen elementarer Art hat seine geistige Konstitution besonders in dieser Linie entwickelt. Der Mensch früherer Zeiten, in denen das Leben von außen her nicht so übergewaltig auf jeden Einzelnen ein­ drang, konnte sich mehr den persönlichen Werten hingeben, bei hoher geistiger Qualität kulturellen Beziehungen wie der Kunst, bei primitiver Geistigkeit dem Spießbürgertum und dem Sonderlingswesen. Und sobald unsere Zukunft durch den Aus­ gleich der übergroßen Spannungen, die mit jeder raschen Evolution verbunden sind, den Druck wegnimmt, kann sehr wohl ein Auspendeln nach dieser Seite wieder eintreten; viele Momente sprechen dafür. Heute aber ist das Denken aus natürlichen Ursachen die wichttgste Funktion des erkennenden Bewußtseins. Es ist bezeichnend, daß selbst ein so reiner Idea­ list wie Johannes Müller einen Artikel mit der Forderung „Sachlich leben!" veröffentlichte. Wenn wir das Wesen des Denkens näher untersuchen, ge­ langen wir zu drei graduellen Unterstufen: Denken, Urteilen und Schließen. Denken ist die eigentliche Bildgestaltung, die Zusammenfassung aller einzelnen Sinnesmeldungen zu einem geschlossenen Bild, einer sachlichen Vorstellung. Wenn wir denken, so umgehen wir gleichsam das zu bedenkende Objett von allen Selten, um von ihm möglichst viele Eindrücke zu bekommen und vereinen diese Erfahrungen zu einer in sich geschlossenen Einheit (in der sich allerdings immer subjettive Elemente finden). Unsere geistige Kraft findet sich in einem starken Kontakt mit ftemdem Leben und sucht Wesentliches von ihm zu erfassen. Dabei ist es notwendig, nicht bloß sinnliche Eindrücke neben85

einander zu stellen; es müssen, da Za die Welt nicht gegen­ ständliche Erscheinung, sondern organische Bewegtheit ist, Beziehungen beobachtet werden. Ist dies auch nicht unmittel­ bar möglich, weil uns hiezu die Bewußtseinsformen fehlen, so läßt sich doch aus einem Vergleich verschiedener Stadien er­ kennen, daß ein Zusammenhang besteht und welcher Art er, allerdings nur äuherlich gesehen, ist. Die Erkenntnisse solcher Art sind für uns mit Rücksicht auf den Charakter des Lebens von größtem Wert, so daß dieses Zueinander-in-Beziehung-setzen, das Urteilen, für uns eine wertvollste Denkstufe bildet. Ein Denken, das nur Vorstellungsgestaltung wäre, würde für die Erhaltung unserer Existenz nicht genügen, da es dem Wesen des Lebens nicht nahe genug käme. Das Kind, das wesentlich nur im Sinneseindruck lebt, kann für sich allein nicht bestehen. Selbständig wird der Mensch durch die erwachende Fähigkeit des Urteilens. Über das Urteilen hinaus führt noch das Schließen, bei dem zwar auch zwischen zwei Inhalten eine Beziehung ge­ sucht wird, bei dem aber der Inhalt der zweiten Vorstellung po­ sitivgar nicht vorliegt, sondern erst erwartet wird. Weil wir um Beziehungen wissen, obzwar wir sie nicht unmittelbar verstehen, können wir nach früher erworbenen Einblicken von einem Sta­ dium aus ein anderes erwarten, können sagen, nach einer be­ stimmten Zeit werde eine Quantität Wasser in ihre chemischen Bestandteile zerlegt sein, wenn wir jetzt unter gewissen Vor­ aussetzungen den elektrischen Strom hineinleiten. Unter Schlie­ ßen verstehen wir also ein Urteil, von dem nur eine Prämisse vorliegt, während die zweite nur erdacht wird. Der Umstand des Hinausweisens in die Zukunft gibt der dritten Denkstufe ihre Bedeutung. Sie ermöglicht uns, Kommendes vorauszusagen (Physik, Chemie, Astronomie), ja sie läßt uns in Gebiete vor­ dringen, die uns an sich nicht zugänglich sind (Spektralanalyse). Das 19. Jahrhundert verdankt dem kritischen Denken und dem darauf aufbauenden Urteilen und Schließen nahezu alle seine Erfolge. Jahrtausendelang ungeahntes Geschehen hat sich auf solche Weise dem menschlichen Geist erschlossen. Langsam schält sich uns die Erkenntnis heraus, warum es

gerade die Naturwissenschaften waren, die diesem Zeitabschnitt Führung und Schicksal wurden. Denn auf ihren Gebieten ist es vor allem möglich, in Zusammenhänge einzudringen, so­ bald nur erst der Weg der exakten Methode vorgezeichnet war durch die Tat Kants. Auf den Gebieten der Weltmechanik konnte das menschliche Denken, wenn auch nicht das Wesen der Zusammenhänge selbst, so doch das regelmäßige Nachein­ ander feststellen, einen Einblick in das natürliche Geschehen gewinnen und nach solchen Erfolgen (und darin liegt nicht weniger als der Kern aller Evolutionen unserer Zeit!) an die praktische Verwertung durch die Technik gehen. Kant war Philosoph und vielen im Lande unbekannt. Auf ihn aber folgten Naturwissenschaftler und Techniker, die mit ihren Werken alle Welt in Erstaunen setzten und, was viel mehr be­ deutet, in eine Umwälzung aller Lebensformen, die sie aller­ dings selbst kaum ahnten, hineinführten. Das Denken hat seine Triumphe gefeiert, notwendigerweise aber nur auf den Ge­ bieten, die ihm naheliegen. So ergab sich die große Einseitigkeit jenes naturwissenschaftlich-materialistischen Bewußtseins, das noch um 1900 das beherrschende, allgemein verbreitete war. Kehren wir zur theoretischen Psychologie zurück. Denken nannten wir die Vorherrschaft des fremden Lebens in einem seelischen Prozeß. Denken heißt für uns heute, vom unvoll­ kommenen ersten Eindruck zum wesentlichen Geschehen vor­ streben. Wer denkt, verfällt nicht einem ungenügenden, zu sehr mit subjektiven Momenten durchsetzten Urteil und Schauen. Er sieht besser und tiefer und urteilt klarer, sachlicher. Er gibt sich nicht mit dem Oberflächlichen zufrieden; er überwindet eine menschliche Enge, deren Schwäche er kennt und nähert sich dem eigentlichen Geschehen, ohne es allerdings restlos zu erreichen. In der größeren Sachlichkeit liegt der Vorzug des Denkens und damit die Forderung der Zeit, das Denken zu pflegen und zu entwickeln. Das Jahrhundert der Naturwissen­ schaften ist zugleich das Jahrhundert der beginnenden allge­ meinen Schulpflicht; aber seine Schule ist auch ausschließlich auf diesen Zweck abgestimmt und daher nicht im psychischen Sinne vollkommen, harmonisch.

Es ist von größter Bedeutung für den Menschen, daß sein Denken aus natürlichen Ursachen immer ein relatives bleiben muß, nie sein Ziel erreichen kann. Dadurch wird der Mensch verurtellt, immer zu irren, da ja nur ein vollkommenes Denken den Irrtum ausschließen könnte. Er wird auch gehalten, sich immer „strebend zu bemühen", wie es Goethe ausdrückt. Es wird ein immer drängendes Fortschreiten, einen Fortschritt mit allen seinen Folgen geben. Die Lebensverhältnisse werden immer wieder andere, da aus neuen Einsichten sofort neue Unternehmungen abgeleitet werden, in Zeiten vieler neuer Einsichten viele neue Unternehmungen, ein Umstand, der all­ gemeine Evolution bedeutet, an dem sich vorwärtsdrängende Menschen aufrichten, konservative Naturen aufstauen, durch den alle Zeitgenossen in vielerlei Gegensätze hineingetrieben werden. Eine der entscheidenden Varianten bildet das Denken selbst, insofern die Fähigkeit der einzelnen Menschen, zu denken, d. h. das Leben sachlich zu erfassen, nach Qualität und Tempo eine sehr unterschiedliche ist und auch beim einzelnen Menschen noch schwankt, während niemand seine eigene Gebundenheit absehen kann und gerade noch der Weiseste weiß, daß er nichts weiß, wie es schon die Griechen ausfprachen. Dasselbe Er­ eign^» findet die unterschiedlichste Beurteilung und jedermann

bemüht sich, andere von chrer „falschen Anschauung" durch Worte oder Gewalt zu bekehren (siehe unser politisches Leben!) bis er endlich nach langen Versuchen zu der Erkenntnis der Un­ möglichkeit seines Beginnens kommt, aber auch wieder nicht zur Einsicht in die wahren Ursachen, sondern zur Anllage gei­ stiger Unfähigkeit, verwerflichen Eigensinns und verbitterter Bosheit. Wenn aber jeder zu solcher Zeitbeurteilung kommt und zu all den vielen physiologischen und sozialen Gegensätzen auch noch die geistigen kommen, dann muß das in einer Zeit, in der alle diese Menschen gleichzeitig einander verbunden sind, zu Zuständen führen, die wir denn auch so eindringlich am eigenen Leibe verspüren, daß wir sie nicht näher zu charakteri­ sieren brauchen. — 10. Wir haben bisher den ablaufenden Prozeß vorwiegend

in der Bewußtseinsform des Denkens (im allgemeinen Sinn des Wortes) bedacht. Wir müssen un» daher noch seiner Er­ scheinung im Gefühl zuwenden. Dabei treffen wir auf die Erscheinung der Gefühlskurven. Der Lebensprozeh ist organischer Ausgleich zwischen Welt und Wille in einer einzelnen Begegnung. Während nun der Prozeheintritt von einem einzelnen Verhältniswert, also einem etnzigen Gefühl charakterisiert wird, muh der Ablauf des Pro­ zesses in der Regel Schwankungen erleiden, die wir in wechseln­ den Gefühlen erfahren. Graphisch dargestellt ergibt das Ge­ fühlskurven. Sie veranschaulichen, wie das Auhen und Innen in ihrem Einfluß auf die Resultate wechseln. Es ist unnötig, die starke Variabilität dieser Kurven in breiteren Darstellungen zu erörtern. Entscheidend für unser Erleben ist die Tatsache, dah der Kurvenstand im einzelnen Stadium des Prozesses jeweils auf den weiteren Verlauf einen starken Einfluh ausübt. Sobald die Linie wesentlich fällt, d. h. sobald sich das Verhältnis stark zuungunsten des Willens verschiebt und im Bewußtsein als unsympathisches Gefühl auftritt, als Zweifel, Angst, Bangig­ keit, Kleinmut, Sorge, Kummer und Zorn, sobald stellt die tätige Disposition andere Erinnerungsbilder ebenso unsym­ pathischer Art ein und der Wille verengt sich. Die Phantasie zeigt Gebilde, die in der Richtung des Unsympathischen liegen und die Beobachtung beginnt, sich auf Vorstellungen solchen Ge­ haltes zu beschränkens. Neigt sich die Kurve den sympathischen Gefühlen zu, weil das subjektive Element vorwiegt, beseelt uns also Zartgefühl, Behaglichkeit, Frohsinn, Liebe und Freude, vielleicht gar Eifer und Begeisterung, so wird nach dem Vor­ gang der geistigen Befruchtung das Denken reicher, leichter, freier, beweglicher, glücklicher. Es stürmen andere Bilder der Erinnerung ins Bewußtsein und es ist daher, als bekäme die Welt ein anderes Aussehen. *) Sobald wir zu fürchten beginnen, eine Situation könne bedrohlich werben, stellen sich Vorstellungen ein, die un» erneut beängstigen, bl« aber durch die äußere Sachlage nicht begründet sind.

Darin liegt eine bedeutsamste Mitwirkung des Gefühls in den Lebensprozessen und man darf Gefühlsreichtum und Gefühlsbeherrschung wohl gleichberechtigt neben Denken und Gedankendisziplin stellen. In sehr vielen Fällen des Lebens, vor allem in den Kreisen der geistig-naiven Bevölkerung — aber durchaus nicht nur in diesen — entscheidet das Gefühl mehr als das Denken; von Gefühlen mit fortgerissen, gibt es für viele keinen Halt mehr, bis alles vollendet ist und wäre es der eigene Ruin. Hier ist die Geschichte vieler Verbrechen be­ sonders lehrreich, wo geradezu in einer Mehrzahl der Fälle nicht so sehr eine ausgesprochene Derbrechernatur als ein zügel­ loses Willens- und Gefühlsleben die eigentliche Ursache der Taten ist und erst hernach, wenn der Prozeh bzw. eine ganze Prozetzreihe abgelaufen ist, die Vorstellung dessen ins Be­ wusstsein dringt, was nun eigentlich geschehen ist und was die Folgen davon sein werden. Aber auch abgesehen von solchen tragischen Ereignissen, deren es im täglichen Leben auherordentlich viele gibt, werden Prozesse und Handlungen vielfach von den Gefühlen geleitet, auch im Leben der Gebildeten, wohl­ überlegenden Menschen. Aus einer Gefühlsstauung beruhen die meisten jener schweren Auseinandersetzungen, an denen unser heutiger Tag so reich ist und die einer ruhigeren Betrach­ tung nicht selten einen lächerlichen Kern enthüllen; auf ihr beruht auch viel von jener Müdigkeit und Skepsis, die über unserer Zeit liegen. Dor allem kleine Tagesereignisse werden durchschnittlich aus dem Augenblicksgefühl erledigt; jede Ge­ richtsverhandlung liefert ein reiches Material dazu. Das alles ist aber nicht Unbildung oder schlechter Wille, als was es viel­ fach genommen wird; es ist natürliche Erscheinung des ablaufenden Prozesses im Bewuhtsein und kann daher auch von keiner­ lei Ermahnung aus der Welt geschafft werden. Ein überaus anschauliches Beispiel liefern die genauen Berichte der Parlamentstagungen, namentlich stürmischer Sitzungen. Hier kann man fast greifbar nahe das vorherrschende Gefühlsmoment erschauen gegenüber der sachlich-kühlen Ein­ stellung und Beurteilung der Reden. Der Abgeordnete, dessen Hand zittert oder der sich zu einer aufgeregten Handlung hin-

reihen läht, ist längst nicht mehr psychisch fähig, das Gehörte rein zu denken. Seine subjektive Konstitution hat eine stärkste Verdichtung erfahren, deren äuheres Merkmal die Handlung ist und die mir noch nach einer gewaltsamen Lösung des Pro­ zesses verlangt. 11. Der Natur des Vorgangs entsprechend, muh sich im Ausgang des Prozesses eine neue Lebensströmung er­ geben. Das Zusammentreffen von Welt und Wille mündet in eine Resultante, einen neuen Lebensimpuls, der vom Men­ schen aus in das allgemeine Geschehen eindringt und im Dasein anderer Menschen als äußerlich anströmendes Geschehen auf­ tritt. Dieser ausströmende Impuls ist unser Handeln. Han­ deln ist Einwirkung unseres Willens auf die Umwelt auf gründ seelischer Erlebnisse; es ist Rückkehr des Lebens aus unserem Einzelleben in die Gesamtheit. Wie ursprünglich ein fremder Impuls von auhen her unseren Willen erfaßte, so geht nun von uns als Ergebnis dieses Prozesses wieder ein neuer Impuls aus und wirkt im Dasein anderer Menschen weiter. Der Vor­ gang, der sich in unserem Seelenleben abspielte und dort als Gedanke und Gefühl bewußt wurde, ist, im Leben der Gesamt­ heit gesehen, ein einzelner Iellenvorgang jener Lebensfülle, in die wir eingewoben sind. Mit unseren Seelenvorgängen stehen wir organisch mitten im Gesamtgeschehen der Zeit, auch wenn wir ihr fern zu stehen glauben, und etwas andere» als Zeitimpulse können wir weder aufnehmen noch verarbeiten, weder denken noch fühlen. Wenn unsere Gedanken und Gefühle so weit voneinander abweichen, so zeigt das den gewaltigen Reichtum unserer Zeit an Lebensgehalt und die grohe Diver­ genz ihrer Impulse. Mit der Behandlung des Begriffes „Handeln" kommen wir zunächst zu einem Problem, das ebenfalls sehr im Vordergrund des gegenwärtigen wissenschaftlich-psychologischen Interesses steht: zu der Frage des instiktiven Handelns, das einerseits in seiner Existenz nicht abgeleugnet werden kann, anderseits aber sich kaum mit der Definition des Handelns als einer Tochter des Denkens decken will.

Für die organische Psychologie gibt es eine Lösung des Problems. Denn ihr ist das Handeln der natürliche Ausgang des psychischen Prozesses, der, soll er im Bewußtsein erscheinen, auf die beiden Bewuhtseinssormen angewiesen ist, unter ge­ wissen Umständen aber überhaupt nicht oder erst später bewußt wird. Für sie ist also ein Handeln ohne Erscheinung im Bewußt­ sein denkbar, wie chr jeder Prozeßteil unabhängig vom Bewußt­ sein sein kann, Instinktives Handeln ist ihr nichts anderes als ein Handeln, dessen verursachender Lebensprozeh wenig­ stens nicht im Augenblick des Geschehens bewußt wurde, bei dem nur der sinnlich unmittelbar wahrnehmbare Teil, die in­ stinktive Handlung als solche, erfaßt wird. Diese Erkenntnis wird wesentlich dadurch gestützt, daß auch im bewußten, denkenden Handeln instinktive Elemente ent­ halten sind. Es ist nicht so, wie wir gerne annehmen, daß unser Handeln bis in die letzten Einzelheiten hinein vom Denken und nur vom Denken bestimmt wäre. Gewiß gibt es unter unseren Handlungen solche, die einen sehr hohen Grad rein verstandes­ mäßigen Ursprungs ausweisen. Die Politik, die experimentelle Naturwissenschaft, die Chirurgie, der Handel, das Geldgeschäft u. a. Lebensgebiete liefern hiezu Beispiele. Allein überall kann nur von einem relativ sehr hervortretenden Tell, nie von einem absoluten Ganzen die Rede sein. Immer finden sich, offen oder versteckt, instinktive Elemente, ergibt sich ein Ent­ scheiden und Tun, dessen Quelle uns trotz aller Überlegung unbekannt bleibt und das wir üben, ohne zu wissen, warum wir so handeln. Ein treffliches Beispiel hiezu ist der (gesellschaftliche, poli­ tische, künstlerische, erziehende) Takt. Hier stützen wir unser Tun geradewegs auf etwas Ungedankliches. Takt kann man nicht eigentlich lehren. Takt zeigen und vordenken wollen, kann zum unglücklichsten Gegenteil führen; alles vornehme Handeln ent­ springt einer instinktiven Fähigkeit. Man empfindet im ein­ zelnen Fall, daß nun so und nicht anders gehandelt werden müsse und das geheimnisvolle Instrument, das hier diktiert, entscheidet allein über Wert und Unwert unseres Tuns. Es ist nichts anderes als eine organische Empfänglichkeit für gesellschaftliche

Situationen und Lebenslinien, die lm Augenblick akut sind und die in dem einen Menschen Dispositionen antreffen, in einem anderen aber nicht. Wo ein organischer Prozeß sogleich entstehen kann, da ist taktvolles Handeln, im Bewußtsein er­ scheinend als das Gefühl des jetzt Schicklichen und als llare Vorstellung des Notwendigen. Wo kein Prozeß eintritt, weil die psychischen Voraussetzungen fehlen (die Disposition kann überhaupt nicht vorhanden oder noch unentwickelt sein), da kommt es weder zu Gefühl, noch Vorstellung und Handeln und da wird kein angelerntes Programm den seelischen Mangel ersetzen. Vielleicht rückt es nur erst recht die seelische Unfähigkeit in das dfsentliche Licht und wird zur Lächerlichkeit und Bloß­ stellung. Auch im bewußten, nur in geringem Grade instinktiven Handeln entspricht der Ausgang des Prozesses dem Charakter des seelischen Vorganges. Es gibt kein anderes als ein persön­ liches Handeln mit allen Eigentümlichkeiten unserer verschieden­ artigen Gebundenheit. War die Auseinandersetzung eine inten­ sive, willensanspannende, konzentrierende, so trägt auch die Handlung diesen Charakter der Verdichtung, Energie und Dewuhtseinsenge, je nach unserer persönlichen Eigenart. War der Prozeß flach, so ist es auch die Tat. Wir handeln nicht leiden­ schaftlich oder träge, weil wir uns dazu entschlossen haben, sondern je nachdem wir in einer Angelegenheit seelisch stark oder schwach beteiligt sind, ein Zustand, der mit Gewaltmaßnahmen nicht herbeigeführt werden kann und auch durch kein Heucheln zu ersehen ist. Deshalb ergibt sich die Erscheinung, daß dieselbe Sache einen Menschen zu stürmischem Handeln hinreißt, die einen anderen kühl und gleichgültig läßt. Der Leidenschaftliche begreift nicht, wieso der andere apathisch bleiben kann und der Kühle sieht kopfschüttelnd das affektiöse Benehmen seines Mit­ menschen. Den Leidenschaftlichen zeichnet im allgemeinen die größere Energie, den Ruhigen die größere Sachlichkeit aus. Der Bewegte wirkt oft geistig eng und intolerant; der Ruhige bleibt auch dort, wo er begehrt, zumeist erfolgloser. Leiden­ schaftliche Naturen reißen hin durch ihre eigene seelische Span­ nung; innere Unbewegtheit bleibt immer unfruchtbar, auch

wenn sie sich hinter den schönsten Worten verbirgt. Ein ein­ ziger Mensch, für eine Sache begeistert, erreicht mehr als eine ganze Vereinigung von Hunderttausenden, die ohne einheitliche seelische Triebkraft sein wird. Redner wirken viel mehr durch ihre augenblickliche Bewegtheit als durch die Worte und Ge­ danken, die sie aussprechen und die mitunter, nachher mit kühlem Blute besehen, einen sehr enttäuschenden Eindruck hin­ terlassen. Auch ist es bekanntlich nicht dasselbe, wenn zwei dasselbe tun. Der subjektive Charakter unseres Handelns ist im allge­ meinen Zeitgeschehen von gröhter Bedeutung. Denn diese Tatsache heißt nichts anderes, als daß unmöglich alle Menschen gleich handeln können und werden, daß es unter den Menschen ein sehr ungleiches Handeln geben muß und also jedem Einzel­ nen aus dem Leben anderer Menschen Handlungen zusließen, die er nicht versteht. Was uns als eigenes Handeln natürlich, sachlich und gerechtfertigt, vielleicht sogar selbstverständlich er­ scheint, das kann einem anderen Menschen unverständlich sein, von ihm kritisiert, verworfen, achtlos übergangen werden. Der Umstand, daß wir eine andere Stellungnahme für unmög­ lich erachten, kann nicht bedeuten, daß andere Menschen nicht zu eben diesen für unmöglich gehaltenen Ergebnissen kommen. Unser Handeln, so wertvoll es gedacht sein mag, wird von anderen immer relativ beachtet und geschäht, bei gegensätzlicher Konsti­ tution verurteilt, jedenfalls aber nie so gewertet, wie wir es aus unserer geradlinigen Einstellung heraus ansehen. Von unserem Handeln erscheinen nach außen keine seelischen Untergründe, vielmehr tritt es in den Kreislauf der äußeren Ereig­ nisse losgelöst von seinen eigentlichen Wurzeln und wird von anderen Menschen daher auch nicht in seiner natürlichen Ent­ stehung gewürdigt, sondern als äußerliches Geschehen ausge­ nommen mit allen Mängeln und Eigentümlichkeiten, die der seelischen Konstitution dieser aufnehmenden Menschen eigen ist. Die fremden Menschen geben unserem Handeln vielleicht ein ihm vollkommen fremdes Profil, daß es uns wundernehmen muß, was andere Leute aus unserem Tun machen. Das ist ober nur notwendiges Geschehen; denn niemand kann die see-

lische Heimat der Handlungen, die irgendwie in seinem Leben auftreten, ergründen. Wir müssen alle fremden Handlungen immer so nehmen, wie sie auf uns wirken und können uns nur einer größeren Tiefe der Stellungnahme befleißigen oder einer flüchtigen Beachtung verschreiben. Wir selbst erscheinen in jedem fremden Bewußtsein als ein anderer, wenn sich nicht um unsere Person eine Maske legt, durch die wir für alle ein ein­ ziges Profil zu haben scheinen. Die Geschichte vieler bekannter Persönlichkeiten liefert hiezu Beiträge; das Profil, das sie in der Öffentlichkeit haben, stimmt kaum einmal mit der Wirklich­ keit überein, ist immer typisiert und dem allgemeinen Ver­ ständnis angepocht. Es ist, einmal festgelegt, unausrottbar; selbst spätere Generationen können das Falsche daran nur schwer entfernen. Der subjektive Charakter unseres Handelns mit der Diel­ gestalt menschlicher Handlungen ist aber auch notwendig und nützlich. Ein gleichgeartetes Handeln aller Menschen wäre wahrscheinlich ihr Untergang. Nur durch die reiche Divergenz werden die Handlungen der Zeitgenossen in ihrer Gesamtheit den großen Zeitaufgaben gerecht und können den breiten Unter­ grund liefern, auf dem die gesamte Zeitgenossenschaft wohnt. Fremdes, anders geartetes Handeln kann allein alle die Voraus­ setzungen schaffen, die für unser Dasein in seinen natürlichen Bindungen notwendig sind; auf fremdem Handeln allein kann unsere Existenz heute wurzeln. Freilich ist damit fremdes Han­ deln für jeden von uns nicht nur Boden, sondern auch Schicksal. Hier streift die psychologische Untersuchung die große soziale Frage. Sozial handeln! ist ein Aufruf an allen Toren dieser Zeit geworden. Sozial handeln hat aber die Zeit noch lange nicht gelernt, weil die Lebensformen noch nicht gereift sind. So ist die soziale Frage allgemein die Zeitfrage seit hundert Jahren und doch immer noch nicht gelöst. Wir werden später darüber eingehender zu reden haben.

12. Einem Sondergebiet des Handelns müssen wir uns noch besonders zuwenden: der Sprache.

Denn die lebendige Sprache, dem naiven Denken ein erdachtes DerstLndigungsmittel unter den Menschen, ist psychisch nichts anderes als eine Handlung, ein Ausfluh seelischer Prozesse und zwar ein überaus wichtiger und darum allgemein ver­ breiteter. Sprache ist eine Formgebung des inneren Geschehens, Mittel der sinnlichen Darstellung des in uns Vor-sich-gehenden, unmittelbar getragen von den seelischen Vorgängen gleich anderen, technisch mehr gebundenen Ausdrucksformen, der Malerei, der Zeichenkunst, der Plastik und der Musik. Die Sprache ist reiner Ausfluh des seelischen Geschehens; wir sprechen, was wir leben; eine Sprache lebt und stirbt mit dem Volke, das sie spricht. Tote Sprachen sind Petrefakte wie viele andere Reste untergegangener Kulturen. Künstliche Sprachen unterscheiden sich deutlich von natürlichen. Es ist ganz unrichtig, zu glauben, der Mensch spreche nur deshalb, um anderen etwas mitzuteilen. Soviele Mitteilungen als Gespräche gibt es ja nicht. Wäre die Sprache eine reine Zweckangelegenheit, so bliebe es unverständlich, wieso tausend­ mal Gesagtes und allen Bekanntes immer wieder gesagt wird; warum die meisten Reden Dinge enthalten, die der Zuhörer selbst weih; warum in Gesprächen das Alltägliche den Haupt­ inhalt bildet und warum in einer Zuschauermenge, die ein und denselben Vorgang gemeinsam betrachtet, fortwährend be­ sprochen wird, was doch alle sehen. Wäre der Mitteilungszweck das Wesen der Sprache, dann wären die 24000 Schriften und Bücher, die heute allein Deutschland jährlich druckt, ein lächer­ liches Unding, denn niemand wird glauben, dah man so viele Seiten mit Neuigkeiten, die nur der Verfasser kennt, füllen kann. Bekannt ist im Gegenteil das von Goethe wieder gebrachte, alte Wort, dah es überhaupt nichts gibt, was nicht schon irgendwo und irgendwie einmal gedacht wurde. Es mühte, sollte das Reden und Schreiben der Menschen nicht barer Unsinn werden (man beachte einmal den Inhalt der meisten Privatbriefe!) ein grohes Schweigen eintreten, da von all dem, was an einem Tag wirklich gesprochen wird, nur ein verschwindend kleiner Bruch­ teil wirklich aus Zweckgründen gesagt werden mühte. Notiert man wortgetreu, was an einem Gesellschaftsabend gesprochen

wird und untersucht das Geschriebene andern Tags daraufhin, was aus Mitteilungszwecken notwendig war und was nicht, so wird man zu einem eigenartigen Ergebnis kommen, obwohl man abends den Eindruck einer angenehmen, jedenfalls ange­ regten Unterhaltung mit nach Hause nahm. Reden heißt nicht in erster Linie, einem äußeren Zweck dienen. Es ist gestaltetes Ausgeben des seelischen Erlebens. In den meisten Fällen heißt, etwas erleben, auch gerne davon reden. „Wes das Herz voll ist,....". Manche reden in Er­ regung still vor sich hin; andere haben das Bedürfnis, ihre Er­ lebnisse aufzuschreiben. Das große Heer der Alltagsmenschen erzählt sich gegenseitig seine Alltagserlebnisse und wird erst sehr spät müde, ein allen bekanntes Orts- und Tagesereignis immer wieder zu besprechen. Es gibt Naturen, die sich an der eigenen Rede berauschen. Das sprechendste Beispiel aber bietet viel­ leicht der Zorn, an dem wir deutlich wahrnehmen, wie die seelische Stauung in Worten abfließt und eine wesentliche Erleichterung eintritt, wenn sie, in erregten Worten, ab­ geflossen ist. Oder was ist das Geflüster der Liebenden und das Gestammel der überrascht Glücklichen anders als seelischer Ge­ halt in Form der Sprache? Wie abstoßend wirkt anderseits ein Reden ohne seelische Notwendigkeit, ein „leeres Gerede", wie wir es bezeichnend nennen! Daß wir mit der Sprache außer ihrem ursprünglichen, psychischen Wert auch Mitteilungszwecke verbinden, steht zu dem Charakter des Sprechens in keinem Gegensatz. Mitteilung ist nichts anderes als Weitergabe von Lebenslinien, Übertra­ gung von Erlebtem, in Vorstellungen bewußt Gewordenem auf andere. Wir wollen das, was wir an Lebensinhalt erschaut haben, auch anderen zugänglich machen und dazu dient uns die Sprache; sie besitzt die relative Fähigkeit, Dispositionen wach­ zurufen, insoweit sie eben Lebensausfluß eines Menschen ist. Ursprünglich war sie aber, das darf man wohl heute als fest­ stehend annehmen, reines Ausdrucksmittel, in dem das subjek­ tive Geschehen abflotz, wie wir heute noch an Kindern beob­ achten, daß sie zumeist für sich aus ihrer kleinen Welt heraus reden und erst allmählich den Zweckwert übernehmen. Erst die

Entwicklung weitgehender sozialer Bindungen wird die Sprache zu dem seinstdurchgearbeiteten Instrument des Ausdrucks her­ ausgearbeitet haben, als das wir sie jetzt kennen. Die verschiede­ nen Lebensgründe und die Abgesondertheit der einzelnen Völker haben in der Entwicklung die einzelnen Sprachen zur Blüte bzw. zum Untergang gebracht. Die Sprachen entwickelten sich in den einzelnen Kulturen nach den Gesetzen, die sich dem Gehalt dieser Menschenformen großen Formats einsügten;*)sie erlebten auch in unserem Europa ihre besondere sinngemäße Entwicklung, die nicht abgeschlossen ist, weil es auch in Sprachen keinen Stillstand gibt bis zum endlichen Untergang. Die Sprache des Europas von heute ist nicht mehr jene des Europas im 18. Jahrhundert; der Städter ist im allgemeinen sprachgewandter aus naheliegen­ den Gründen, während anderseits von dem Landbewohner im Unterschied von einer Vielzahl der Städter manch tiefes Wort überrascht. Das Jahrhundert der Völkerverschmelzung ist ein Jahrhundert der Reden und Bücher und ein interessantes Studium könnte sich damit befassen, welche Wörter und Wort­ formen in den letzten 150 Jahren in den europäischen Sprachen ausgestvrben sind und welche neu erstanden. Es gibt kurz- und langlebige Wörter und es erweist sich ihr Lebensgrund als die Ursache dieser längeren oder kürzeren Lebensdauer. Dem Wesen der Sprache zufolge ist das Wort subjektiv. Zwar ist es zunächst, aus der Vergangenheit und dem nationalen Besitz kommend, von einer gewissen allgemein gültigen Prä­ gung; aber da der Prozeß, in dem es auf uns kommt, stark subjektive Elemente enthält, mischt sich in den objektiven Ge­ halt immer auch eine persönliche Rote, die so weit gehen kann, daß derselbe Begriff im Denken verschiedener Menschen einen stark abweichenden Inhalt besitzt. Wir übernehmen zwar ein allgemein gebräuchliches Wort; aber wir füllen es jedesmal mit persönlichem Gehalt und sind daher im Besitz von durchwegs subjektiven Begriffen, obgleich wir sie in der Regel als objektive gebrauchen. Daraus ergeben sich viel mehr Irrtümer und bittere *) Ein interessantes Beispiel bieten jene eigengearteten Begriffe, die sich nur in einer Sprache finden und nicht übersetzen lassen, („cant", „Gemüt" usw.)

Folgen als man annehmen will, da der Hörer unsere Worte nicht in unserem, sondern in seinem Sinne aufnimmt und zu Überzeugungen kommt, die er auch für unsere hält, obwohl das nicht den Tatsachen entspricht. Dazu gesellt sich die Wirkung der Illusion, die uns von einem Menschen bestimmte An­ schauungen vermuten läßt, die er nie ausgesprochen hat und die in Wahrheit, wenigstens in dieser Form, gar nicht seinem Denken angehören. Am bekanntesten ist die Erscheinung des subjektiven Wortes naturgemäß dort, wo sie am stärksten und störendsten in Er­ scheinung treten muß, auf wissenschaftlichem Gebiete. Dort tritt sie als klare und immer betonte Forderung einer feststehen­ den Terminologie auf. Besonders das kritische Denken mußte hier die Einwirkung des Subjektiven als sehr störend empfinden und sucht daher die Erscheinung auszuschalten durch jene For­ derung. Bezeichnenderweise ist der Erfolg bis heute und wohl für alle Zukunft nur ein relativer. Alle Bestrebungen, wenig­ stens in der Wissenschaft für bestimmte Inhalte bestimmte Worte ein für allemal sestzulegen, sind in Teilergebnissen stecken geblieben, soweit sie nicht überhaupt scheiterten. Nur mühsam gelingt es, der größten Begriffsverwirrung zu steuern, zum Teil nur durch die Einzelforderung, daß jeder Sprecher seine Be­ griffe genau definiere, was aber voraussehen würde, daß seine Hörer auch sogleich in der Lage wären, sich diese Definitionen bzw. ihren Gehalt psychisch anzueignen. Das ist kaum der Fall; unwillkürlich verbindet jeder Hörer mit den Worten doch wieder seinen Gehalt. Andererseits ist allerdings in der abstrakten Wissenschaft die Gefahr auch am größten (vor allem die Philo­ sophie steht im ständigen Kampf um eine gebrauchsfähige Termi­ nologie !); wo alles im regsten Fluß begriffen ist und der Mensch über die Grenzen seiner natürlichen Stellung hinausdrängt, da muß der subjektive Gehalt mächtiger sein als in all den realen Dingen des Lebens, die anschaulicher und leichtfaßlicher vor Augen stehen. Im alltäglichen Leben finden sich die stark ausgeprägten, unpersönlichsten Begriffe und Worte, die sprachlichen „Ge­ meinplätze", wie man sie allgemein nennt. Ja hier kommt es 7*

im Gegenteil zu abgebrauchten, innerlich toten Begriffen, zu seelisch stumpfen Formen die, wie es Schiller einmal ausdrückt, unfähig sind, farbige Bilder in uns wachzurufen und die daher vom Dichter gemieden werden müssen. Es sind jene Ausdrücke, die der geistig anspruchslose Mensch am liebsten gebraucht, die man immer und überall in aller Mund findet, Domänen, auf denen sich der Kleinbürger mit Vorliebe und Stolz ergeht, als wäre seine Rede besonders originell, während sie in Wahrheit schon am nächsten Tisch wieder zu hören ist. Eine qualitative Geistigkeit wird immer auch eine gewähltere Sprache pflegen, weil sie allein dem seelischen Gehalt gerecht wird. Wir erschauen die psychische Arsache der Erscheinung, dah alle seelische Kultur gleichzeitig Sprachpflege betreibt im Gegensatz zu den Ge­ pflogenheiten primitiver Volksschichten, denen dies im Grunde unverständlich ist und die darin höchstens ein Moment äutzerer, geschickter und wirkungsvoller Aufmachung sehen. Der Parvenu will die Sprache der Gesellschaft übernehmen, um seine Herkunft zu verbergen; aber der erste Schrecken schon verrät ihn. Allgemein gesprochen ist die Sprache eine überaus be­ deutsame Funktion innerhalb der psychischen Aktivität des Ein­ zelnen und der Gesamtlebenserscheinung der Menschen. Sie vermag sehr viel, vielleicht am meisten von allen Ausdrucksmitteln vom menschlichen Erleben zu künden und stellt eine der wichtigsten Derbindungsbrücken zwischen den Menschen dar. Sie arbeitet entscheidend in unserer geistigen Werkstatt mit, denn im Gesamtgehalt einer Vorstellung findet sich auch die sprachliche Fixierung und Worte sind Erinnerungshilsen wie Bilder. Sie greift im reinen Wortwissen eigenartig in unser Zeitgeschehen ein und in ihr zittern die meisten der Impulse von Mensch zu Mensch. Ihre bedeutungsvolle Stellung im Lebensprozeß der Zeit unterwirft sie aber auch dem Charakter dieser Gegenwart; Kürze, prägnanter Ausdruck, Sachlichkeit, Nüchternheit und satyrische Schärfe, zum anderen Teil Flüch­ tigkeit, geringe Tiefe und Abgeklärtheit, Verkümmerungen und Verzerrungen lassen sich heute allgemein an ihr beobachten und nicht bloß an der Sprache eines einzelnen Volkes unserer Ge-

genwart. Mit Erstaunen sehen wir alle die Zeiteigentümlichkeiten sich in den Sprachen widerspiegeln, aber doch nur solange, als wir den organischen Charakter des Sprechens als Ausfluß unseres zellenmäßigen Zeiterlebens verkennen. Bedenken wir die natürliche Bindung der Sprache, so kann uns alle die Sprach­ eigentümlichkeit dieser Zeit weder verwundern noch mit allzu pes­ simistischen Gedanken erfüllen. Eine harmonischer ausschwin­ gende Zukunft wird auch ihre reinere Sprache wieder besitzen. 13.

Ausdrucksform, Abfluß unseres psychischen Erlebens, ist außer unseren Handlungen und unserer Sprache vor allem auch die Kunst. Seelischen Gehalt in Form bringen, und zwar aus innerer Nötigung, eben unter dem Zwang des psychischen Geschehens, war immer das Wesen des Kunstschaffens, ob es sich nun in Plastiken, Bildern und Zeichnungen oder in Kompo­ sitionen, Dichtungen und Bauwerken realisierte. Asterkunst war immmer alles das, was aus irgendwelchen anderen Grün­ den, ohne die tragende seelische Bindung, gemalt, gedichtet oder komponiert wurde. Kunst ist Aussprache des Persönlichen. Der Gehalt des Kunstwerkes ist ein Impuls, der sich als Abfluß eines seelischen Prozesses manifestiert hat, eines Prozesses, in dem ein Mensch sich ganz den Gewalten der unendlichen Lebensströme überließ. Gehalt und Form machen daher den Wert eines Kunstwerkes aus; sie können aber nicht mit äußeren Mitteln erkämpft werden, sondern müssen organisch aus der psychischen Konstitution eines Menschen hervorwachsen. Darum kann auch der größte Künst­ ler nicht nach freiem Ermessen schaffen, sondern muß schaffen, wenn seine Stunde gekommen ist, wenn sein Wille aktiv ist im Ringen mit dem Leben und seinen Gewalten. Chopin setzte sich unvermittelt in einer Abendgesellschaft ans Klavier und entwarf seinen berühmten Trauermarsch. Nietzsche schrieb wie in einem Taumel in Rapallo innerhalb 10 Tagen den ersten Teil seines „Zarathustra". Schubert schlich sich zuweilen aus der heitersten Zusammenkunft bei dem geliebten Wein weg und vermochte zu Hause dann während der Nacht kaum alle die

Noten flüchtig hinzukritzeln, die seine Einfälle festhalten sollten. Michelangelo band sich bekanntlich eine Laterne auf den Helm, um auch bei Nacht arbeiten zu können, wenn er von seinem Impuls getragen wurde. W. Kienzl schrieb seine bekannteste Oper, den „Evangelimann", nach dem Lesen einer Novelle innerhalb 6 Wochen, während er für alles andere unempfind­ lich geworden war. Schiller, der 10 Jahre geschwiegen hatte, brachte in den Jahren 1800—1805 jedes Jahr eines seiner be­ rühmtesten Dramen, und Tolstoi diktierte seine „Macht der Finsternis", als er fußkrank zu Bett lag. So arbeitete Goethe 60 Jahre lang an seinem „Faust" und so schrieb Wagner sein herrlichstes Werk, den „Tristan". Sie alle arbeiteten in einem expansiven Zustand ihres genialen Willens und der ausgegebene Gehalt ihres Lebens ist es, was in ihrem Werke weiterlebt und uns immer wieder ergreift. Das Gewollte, und wäre es noch so geschickt geschaffen, verweht der Tag; das Gewachsene bleibt. Die vielen, vielen Werke, die der Kunstverstand Jahr für Jahr hervorbringt und die in ihrer Art viel Können verraten, sind nach kurzer Zeit vergessen, sind stumm geworden vor den Sin­ nen der Mitmenschen; Mozarts „Requiem", dem er selbst kurz vor seinem Tode ein tiesergriffener Zuhörer war, Schuberts Lieder, Kleists „Prinz Friedrich von Homburg", Raffaels „Sixtinische Madonna", Beethovens Streichquartette op. 132 und 133 (man müßte alle die Werke auszählen, die uns höchster Kunstbesitz sind) überdauern die Zeit. Sie sind Höchstpunkte, tiefster Kunstausdruck der abendländischen Lebensform (wie es Spengler ausspricht) und leben und sterben mit ihr. Zugleich aber enthüllt sich auch im größten Kunstwerk' wenigstens für seinen Schöpfer, die Bedingtheit und Unvoll­ kommenheit aller menschlichen Kraft. Es ist bekannt, daß die großen Künstler von keinem ihrer Werke restlos befriedigt waren, ja daß vieles von ihnen wieder vernichtet wurde oder nur mit List vor dieser Vernichtung bewahrt wurde. So hingebend der Wille während des Schaffens lebte, so kritisch stand er dem Ge­ schaffenen später gegenüber, mehr das Nicht-mehr-zur-Aussprache-Gekommene als das Ausgesprochene sehend. Man lese die Geschichte Leonardos, Beethovens oder irgendeines anderen

Großen. Manche freilich beachteten das Geschaffene überhaupt nicht mehr und ließen es seitwärts liegen; jedenfalls waren aber alle Künstler bestrebt, immer noch etwas Größeres zu leisten, dem Geahnten immer noch näher zu kommen, den Ge­ halt ihres Willens immer noch tiefer auszuschöpfen. Ihre Ge­ schichte ist Sehnsucht und Selbstvernichtung in rastloser Arbeit. Das ist der Mensch, der auch in seiner genialen Form das große Geheimnis des Lebens nur ahnend empfinden, nie aber erschöpfen und restlos schauen kann. Nur der Dilettant, selig in der Enge seiner Zelle und bar alles Ausblicks, hält all sein Geschriebenes und Gemaltes hoch und heilig und vergräbt sich selbstzufrieden in seinen Schriften und Bildern. Kunst als ausströmender Wille — das ist die Ursache der großen Unterschiedlichkeit der einzelnen Werke nach ihrem per­ sönlichen und ihrem historischen Gehalt. Die Gebundenheit an den Lebensprozeß des subjektiven Künstlergeistes und seiner Kulturgemeinschast bedingt die Einzigartigkeit eines jeden Kunstwerkes, aber auch seine Eingliederung in die Lebensform einer Zeit, die es späteren Kulturen unmöglich macht, den Ge­ halt des in seiner Süßeren Erscheinung noch erhaltenen Werkes zu erleben. Jede Kultur hat aus diesem Grunde ihre besondere, nur ihr verständliche, weil nur in ihr zu seelischem Anspruch fähige Äunft und die Seele ihrer Werke stirbt mit ihr. Wir besitzen heute Kunstwerke längst untergegangener Lebensformen größ­ ten Stils und wir verehren sie; aber es bleibt im Grunde immer eine Verehrung des Alters, bleibt ein Moment des historischen Interesses und der Ehrfurcht, was wir vor ihnen empfinden. Die Seele, die uns aus Werken unserer Lebensform ausspricht, suchen wir vergeblich. So werden einst auch Werte unserer Zeit und Rultuc hineingetragen in Lebensformen, die anders konstituiert sind und daher nicht mehr verstehen werden, was uns vor diesen Schöpfungen beseelte. Kunst als ausströmender Wille — das ist schließlich auch die Ursache jener vielbesprochenen und im Grunde tragischen Er­ scheinung, daß der große Künstler zum einsamen Menschen werden muß, weil ihm niemand in seine Welt zu folgen vermag. Goethe und G. Keller hüllten sich in Masken; E. F. Meyer

war ein Einsamer wie Kleist, Hebbel und Grillparzer; aus Beethovens Briefen klagt uns die Einsamkeit erschütternd ent­ gegen wie in neuerer Zeit wieder aus den Briefen D. van Goghs, und in der Charakteristik Herders findet sich heute noch ein Moment des Mürrischen eingenistet, das nichts anderes ist als von Späteren falsch verstandene Einsamkeit. Wer dächte nicht an Dostojewsky, wenn hievon die Rede ist, an Michel­ angelo und an den Einsamen von Sils-Maria, an Nietzsche! Nur die Zweit- und Drittrangigen, die Künstler mit dem feinen Instinkt für das Augenblickliche und die Wünsche des Publikums, die gerissenen Könner, die heute impressionistisch und morgen „sachlich" malen, wenn es Mode ist, die vereinsamen nie und die schöpfen Geld, Ehre und Stel­ lung, wenn auch nur in eben dem flüchtigen Tag, für den sie schassen. In den Reihen der eleganten und ge­ wandten Schriftsteller, Maler, Musiker und Bildhauer finden wir die schönen Sommersitze, die reichen Stadtvillen, die glänzende Abendgesellschaft. Sie sind geschätzt, umworben, verwöhnt. Denn was sie hervorbringen, das spricht eben jene Massen mit stumpferen Sinnen an und erscheint in einem Durchschnittsbewußtsein als Kunst, das aus seiner Konstitution heraus zu dem Leben und Schaffen der Großen, der Einsamen keinen Weg finden kann. Es ist psychische Notwendigkeit, wenn sich die Tatsache von dem überall gespielten Kotzebue und dem überall abgewiesenen Kleist so ost in der Geschichte wiederholt. Nur die Zukunft ist eine fteilich späte Richterin. „Wenn wir auch so ziemlich zu allen Zeiten die Gorgiasse und Hippiasse obenauf sehen, das Absurde in der Regel kulminiert und es unmöglich scheint, daß durch den Chorus der Bethörer und Dethörten die Stimme des Einzelnen je durchdränge; — so bleibt dennoch jederzeit den echten Werken eine ganz eigen­ tümliche, stille, langsame, mächtige Wirkung und wie durch ein Wunder sieht man sie endlich aus dem Getümmel sich er­ heben, gleich einem Ärosthaten, der aus dem dicken Dunstkreise dieses Erdenraums in reinere Regionen emporschwebt, wo er, einmal angekommen, stehen bleibt und keiner ihn mehr herab­ zuziehen vermag." So stellt es Schopenhauer in der Vorrede

zu der 2. Auflage seines Werkes „Die Welt als Wille und Vor­ stellung" dar, 1844, nachdem er 26 Jahre auf die Wirkung seines Werkes gewartet hatte und als er noch einmal 15 Jahre auf die Z. Auflage und eine endliche Anerkennung warten mußte. „Bin ich doch zuletzt auch angelangt und habe die Befriedigung, am Ende meiner Laufbahn den Anfang meiner Wirksamkeit zu sehen, unter der Hoffnung, daß sie, einer alten Regel gemäß, in dem Verhältnis lange dauern wird, als sie spät ange­ fangen hat." So in der Vorrede von 1859. 14.

Dadurch, daß wir Schopenhauer als Zeugen hören, mag zugleich angedeutet sein, daß vieles von dem, was über Runft als Ausdruck des Lebens und Abfluß echter Willensströmungen gesagt wurde, auch von den Werken der Wissenschaft gilt. Es erübrigt sich, alles sinngemäß zu wiederholen. Bereits die Betrachtung des einzelnen psychischen Pro­ zesses, der wir uns bisher zugewendet hatten, zeigte an vielen Stellen die Abhängigkeit einzelner Vorgänge von anderen, die Beziehungen, die unter den Prozessen gegenseitig bestehen. Diese Beziehungen der einzelnen Prozesse unterein­ ander sind naturgemäß höchst mannigfaltige. Denn das prak­ tische Alltagsleben verwickelt uns fortwährend in solche Prozesse, es läßt in sehr vielen Fällen kaum soviel Zeit übrig, um jeden einzelnen Prozeß zu vollenden, es wirft uns ost in neue Situa­ tionen, ehe die eben lebendige ausgeschöpst ist. Besonders die unendliche Fülle des heutigen Alltags, eine Folge der Tat­ sache, daß der Gegenwartsmensch einer ungeheuren Lebens­ gemeinschaft eingewoben ist, während noch sein Großvater in dem viel kleineren Rahmen des Gemeindelebens aufging, ver­ urteilt unseren Willen dazu, einer reichen Flut andrängenden Geschehens gerecht zu werden und wenn ihm dazu auch die modernen Hilfsmittel weitgehend zur Verfügung stehen, kann er doch nur mit höchstem Kraftaufwand und weitausholender Schulung diesem Ansturm genügen. So kommt es in unserem Leben heute in rascher Folge zu den verschiedensten Formen von Prozessen, zu oberflächlichen und tiefgreifenden, zu flüch-

tigen und anhaltenden, zu schnelloerwehenden und entscheiden­ den Entwicklungen, zu höchst variablen psychischen Ereignissen, die sich alle gegenseitig wieder bedingen, fördern oder hemmen. Manche Dispositionen gelangen zu einer Vorherrschaft und stehen dann im Vordergrund unserer Aktivität, andere werden nur mähig entfaltet und treten in den Hintergrund. Zn diese Fülle besonders gelagerter Verhältnisse läßt sich nur schwer eine begriffliche Unterscheidung einbauen, die nicht ebensogut durch eine andere ersetzt werden könnte. Man mühte denn ganz allgemein das Gesetz aufftellen, daß die stärkeren Prozesse die schwächeren verdrängen, daß alle Dispositionen nur durch Entwicklung zu ihrer Stellung gelangen, einmal ent­ wickelt, aber ihre Stellung auch behaupten, und daß es dem Menschen unmöglich ist, sich dem Einfluß solcher psychischer Ent­ wicklung zu entziehen. Dieses ganze Gewebe untersteht weder der vollen Erkenntnis noch der absoluten, bewußten Willens­ herrschaft; eine Befteiung aus dem Gewirr der Prozesse seiner Lebenszelle kann es für den Menschen nicht geben. Jedenfalls würde eine begriffsscharse Unterscheidung einzelner Gruppen von Funktionsbindungen mehr einen theoretischen Sinn als einen praktischen Wert haben. Wichtiger ist die Erkenntnis, daß das subjektive Gewebe der Dispositionen unsere psychische Konstitution schlechthin aus­ macht, das Wirken dieser Konstitution unseren Charakter als Persönlichkeit bildet. Unter Konstitution verstehen wir also wiederum nichts Bleibendes, endgültig Gegebenes, wenngleich das psychische Erbe für sie von Belang ist. Unsere Konstitution ist eine ständig wech­ selnde, nicht nur innerhalb der größeren Grenzen der Lebensalter, sondern auch in den kleineren Bezirken des Tagesgeschehens. Sie ist gebunden an die Eigenart der Lebenszelle, in der wir uns, vielfach unbewußt, befinden und untersteht ihren Schwankungen. Wesentliche Änderungen dieser Zelle bzw. unserer Weltstel­ lung, sind von Einfluß auf unsere Konstitution, weil in ihr ein neues Leben auch ein neues Sein gestaltet. Der Mensch, der aus seinem Heimatkrels heraustritt und sich draußen irgendwo im Leben ansiedelt; der Begabte, der aus niederen Stellungen in

höhere aufrückt; der Mann, der seinen Beruf wechselt, und die Frau, die vom Elternhaus weg einem Manne in völlig neue Lebensverhältnisse folgt; der Agitator, der von seiner Opposi­ tionsstellung heraus zu einem verantwortlichen Politiker wir-, und der Reiche, der plötzlich sein Vermögen verliert und nun durch Arbeit seinen Unterhalt verdienen soll: sie alle verändern mit diesem entschiedenen Wechsel ihrer Lebenszelle auch all­ mählich ihre psychische Konstitution. Freilich erhalten sich im neuen Wesen erkennbare Züge des alten, weil ja psychisches Erbe und bisherige Entwicklung nie negiert werden können; und da in der neuen Stellung die Impulse stark angespannt sind, unter­ bleibt zumeist auch die Beobachtung dieser Veränderung. Allein, sobald sich der Vergleich von selbst anbietet, wird die Verände­ rung auch dem primitivsten Denken anschaulich. Der Welt­ fahrer, der nach langen Jahren in die Heimat zurückkehrt, findet die Heimat verändert, während die Heimat ihn als einen anderen kennen lernt. Die Frau, die nach langer Ehe in fremder Welt noch einmal heimkehrt, sucht vergeblich die alte Kinderheimat. Schwestern, die sich an unterschiedliche Männercharaktere ver­ heiraten, finden sich, soferne es sich um wirkliche Ehen, d. h. seelische Verbindungen handelt, allmählich weniger nahestehend als in der Mädchenzeit. Die Arbeitermassen warten vergeblich auf die Einlösung der Ideen und realen Forderungen, die ihnen der einstige Kamerad vortrug und der jetzige Politiker nun bringen soll. In all diesen Fällen wird viel von Abtrünnigkeit und Schuld gesprochen und fast immer übersehen, daß die Um­ formung der psychischen Konstitution diese äußeren Erscheinun­ gen zwangsläufig nach sich ziehen muh. Richt böser Wille, sondern seelisches Neuwerden verursacht die Entfremdung. Der menschliche Wille kann immer nur . in seiner augen­ blicklichen Konstitution wahrhaft aktiv sein. Dieses Aktivsein, diese Eigenart seines Wollens heihen wir Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit im psychischen Sinne ist jeder Mensch; denn in jedem Leben gruppiert sich um einen eigenartigen Dispositionskern eine eigenartige Gesamtfähigkeit, zu handeln. Psychologisch kann man unter Persönlichkeit nichts anderes ver­ stehen als die subjektive Struktur des Willens. Ethische Linien 107

haben es mit sich gebracht, bah wir praktisch aber nur dann von einer Persönlichkeit sprechen, wenn diese Struktur eine besonders in sich gefestigte, beinahe eine Ausnahmestruktur ist. Schleier­ macher z. B. schreibt: „Es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, in eigener Mischung ihrer Elemente, damit aus jede Weise sie sich offen­ bare." Wie auf allen Gebieten im praktischen Leben wird aber auch auf psychischem vorweg das Besondere allein als beach­ tenswert angesehen und so bezeichnet man als Persönlichkeit die Ausnahmenatur. Das Wesen dieser (besonderen) Persönlichkeit beruht darin, dah sich um einen starken Dispositionstern eine relativ weitge­ festigte Konstitution gebildet hat, so dah der Wille eines solchen Menschen weniger als jener der Durchschnittscharaktere von den Strömungen des Augenblicks ersaht und nicht bald da, bald dorthin geschleudert wird. Obwohl von einer tieferen Er­ fassung einzelner, grundlegender Ereignisse als der Ober­ flächenmensch, geht so von ihm doch im Gesamtbild eine ge­ wisse Ruhe und Stabilität aus, die wir höher bewerten als die Gebundenheit der meisten Menschen an all die tausend kleinen Ereignisse des Tages. Freilich ist diese Stärke und Ruhe und Tiefe ebenfalls nur eine relativ gehobene, keine absolute, gm Leben auch der be­ deutendsten Persönlichkeiten finden sich Momente, in denen wenig Gröhes zu spüren ist, weshalb denn oft Persönlichkeiten in der Ferne gröher gesehen werden als in ihrer nächsten Um­ gebung. gm Leben bedeutender Menschen finden sich Züge kleinlicher Art und wer diese Tatsache zum erstenmal erfährt, ist geneigt, an dem Begriff Persönlichkeit überhaupt zu zweifeln. Denn der Laie erwartet sich darunter eine absolute Höhe. Er weih nicht, dah es diese unter Menschen nie geben kann. Für den Wissenden aber ist auch solcher psychischer Schatten ein not­ wendiges Korrelat der Gröhe und er achtet das Persönliche um so mehr, als er die starke Gebundenheit aller Menschen er­ kennt. Er sieht an Männern wie Goethe, Leonardo, Dürer, Lessing, Beethoven, Kant die Macht und Gröhe ihres Willens und die ungewöhnliche Weite, die sie abzusehen vermochten. Er

empfindet das als eine Erscheinung höchster Menschlichkeit und kann sie nur um so eher bewundern, als er die Widerstände kennen lernt, die auch diesen Männern in chrer allgemein mensch­ lichen und subjektiv bedingten Konstitution aufgebürdetwaren. Für die Beurteilung des Wesens der Persönlichkeit ist es schließlich noch von wesentlicher Bedeutung, klar zu erkennen, daß eine persönliche Weltstellung nicht abhängt von einem augen­ blicklichen guten oder bösen Wollen und daß demgemäß auch keinerlei äußere Gewalt hier etwas Entscheidendes ändern kann. Diese Tatsache ist deshalb stark zu unterstreichen, weil und ein naives Denken immer vorspiegelt, die Menschen könnten so­ gleich viel besser werden, wenn sie nur erst wollten, d. h. wenn sie sich eines Morgens entschließen könnten, von heute ab Per­ sönlichkeiten, Charaktere zu sein. Diese naive Anschauung hat sich allen trüben Erfahrungen zum Trotz bis auf den heutigen Tag erhalten und es gibt nicht wenige Menschen in unserer Zeit, die die Menschen mit der Geißel in der Hand verbessern zu können glauben. Diese Unternehmungen können nicht anders als tragisch enden, weil die Natur letzten Endes immer stärker ist als die menschliche Vorstellung. Anklage, Resignation, Un­ heil, Zersplitterung und Schlimmeres ist die Folge eines solchen Kampfes gegen die Natur. Denn niemals kann ein Mensch anders handeln, als es seinem Wesen entspricht, und wenn er sich eine Zeitlang der äußeren Macht beugt, so handelt er doch unter falschem Schein und wächst langsam in eine seelische Ver­ fassung hinein, die den Keim schwerer Katastrophen in sich trägt. Das besagt durchaus nicht, daß es überhaupt keinen Ein­ fluß auf die psychische Konstitution der Menschen gäbe, gm 3. Teil dieses Buches wird noch davon zu reden sein. Es besagt nur, daß dieser Einfluß durchaus innerhalb der natürlichen Umformung unserer Konstitution wirksam sein muß, weil alle anderen Maßnahmen zwangsläufig die Wirkung erzielen, die ihnen von Natur aus zukommt und die eine andere ist als die gedachte. Für die Gesamtaktivität des einzelnen Menschen ist noch eine Beziehung bedeutungsvoll, die wir gerade in unserer Zeit

häufig am Werke sehen: die Massensuggestion. Es ist deshalb wertvoll, auch diesen Funktionsbegriff noch kurz zu beleuchten. Suggestion ist Macht über fremde, psychische Vorgänge, ist ÜbermachtfremdenWillensgegenüber einem einzelnen Willen. Wenn wir den Begriff Willen im Sinne der früher ange­ führten Definition deuten, in ihm also „die strebende Gewalt im Menschen verstehen, die sein persönliches Dasein führt, er­ höht und verteidigt", und zugleich die subjektive Gebundenheit eines jeden Einzelwillens bedenken, so liegt in dem Begriff der Suggestion durchaus nichts mehr von jenem geheimnisvollen Wesen, das er ursprünglich für die Beobachter besah. Es zeigt sich dann als eine durchaus verständliche Erscheinung; denn dann ist es nur natürlich, daß es innerhalb eines höchst ungleichen Ver­ hältnisses zwischen Kraft und Medium zu einem hochgradigen Überwiegen des gebietenden Willens kommt. Ist es doch ge­ radewegs eine Voraussetzung aller Suggestion, daß sich der zu Suggerierende aufnehmend und nicht widerwillig verhäft! Es ist dabei kennzeichnend, dah die Herrschaft eines Wil­ lens über einen anderen, soweit es sich um eine auherordentliche handelt, eine seltene und meist zeitlich bedingte ist, dah vielmehr die Mehrzahl der Suggestionen Massensuggestionen sind, d. h. ein üntergehen des einzelnen Willens in dem fortreihenden Strom einer Augenblickskonstellation. Das Leben ist in seiner normalen Form überaus vielge­ staltig. Es birgt in sich die mannigfaltigsten Lebenslinien und verpflichtet demgemäß die Mehrzahl der Menschen stark diver­ gierenden Lebensformen und psychischen Konstitutionen. Zu­ weilen ereignet es sich aber, daß auf kurze Zeit alle diese Lebens­ linien scheinbar in eine einzige zusammenschmelzen, insoferne eine große Lebensbindung elementar in den Vordergrund tritt und das Gesamtblickfeld beherrscht. Eine solche absolute Vor­ machtstellung können natürlich nur die stärksten Lebensbedin­ gungen erlangen, die Ernährung, das Gesundheitswesen, die politische Existenz, die Wirtschaft. Alle anderen, wenn auch höher organisierten Lebenslinien, wie etwa die geistigen, sind dazu nicht imstande, weil von ihnen das Dasein nicht als solches in dem unmittelbaren Sinne abhängt.

Auch die starken Lebensbedingungen können diese Vorherr­ schaft nur scheinbar und nur vorübergehend erringen. Solange es ihnen aber gelingt, stellen sie eine außervrdenlliche Willens­ macht dar und reihen die Mehrzahl -er irgendwie beteiligten Menschen in chre Richtung hinein. Der einzelne Wille des Durchschnittsmenschen kann sich in dieser Situation nicht mehr selbständig erhalten; er verfällt dem Gesamteindruck, derMassensuggestion, wie wir sagen. Rur Ausnahmenaturen besitzen die Kraft, auch in diesen Augenblicken selbständig zu bleiben; äußer­ lich, aber nur äußerlich, gesellen sich chnen die Stumpfen zu, die auch von solchen Gewalten nicht erfaßt werden. Das Ge­ samtbild einer solchen Situation zeigt dann die Massenbewegun­ gen, die grandiosen Anmärsche von Menschenmillionen für irgendeine Sache, den hinreißenden Elan, den niemand auf­ halten kann, der etwas Faszinierendes, aber auch etwas Tra­ gisches an sich hat. Gegenüber irrtümlichen Vorstellungen von Massensugge­ stionen muß ausdrücklich daraus hingewlesen werden, daß es sich bei solchen Ereignissen also niemals um etwas von einzelnen Menschen Ausgellügeltes und mit irgendwelchem Raffinement den Massen Aufoktroyiertes handelt, weil niemals ein Mensch imstande ist, aus seinem kleinen Wollen heraus derartige Wir­ kungen zu erzielen. Die Männer, die wir als Führer (und vermeinlliche Verursacher) solch grandioser Bewegungen kennen, sind Naturen, in denen die vordrängende Situation besonders lebhafte Bewegtheit auslöste, die einen so starken subjektiven Willen besitzen, daß sie sich als Sprecher und Agitatoren eigneten und durch ihr Auftreten die Gruppenbildung fördern konnten. Die Situation stammt in keinem Falle von ihnen, aber sie sind ihr stärker als andere verpflichtet und am fähigsten, ihr in subjektiver Gebundenheit Ausdruck zu geben. Die Gebundenheit in ihren positiven und negativen Erscheinungen ist daher eine immer zu beobachtende Erscheinung im Charakterbild der Führer. Alle jene Naturen, die aus äußeren Ursachen glaubten, eine große Bewegung inszenieren zu können, kamen niemals an dieses erdachte Ziel, fanden die Masse stumpf, statt geeignet zu einer tragenden Suggestion, und scheiterten schließlich auf eine arme Art.

Aber auch die Erscheinung eines jeden Führers einer echten Lebensbewegung ist tragisch. Denn der Charakter der Massen­ suggestion schließt in sich, daß ihre Dauer eine kurz bemessene sein muh. Die Vereinigung aller Lebensmannigfaltigteit auf eine einzelne Linie, die überragende Mehrheiten mit sich fort­ reißt, muß sehr bald wieder der alten Vielheit der Linien weichen und damit innerhalb der so großartig einsetzenden Bewegung Platz für allerhand Spaltungen freigeben. Wir sehen in jeder großen Bewegung, welche Massen hinter sich sah, schon nach kurzem gnnenkrisen austreten, die sich bald vermehren und mit keinerlei Mitteln auf die Dauer unterbinden lassen. Die alte Mannigfaltigkeit tritt wieder auf; die Suggestion be­ findet sich aus absteigender Linie; die eindrucksvolle Geschlossen­ heit löst sich auf; die Bewegung zerfällt in sich. Der Führer aber kann nicht zurück und findet keinen Weg nach vorwärts. Er scheitert an seinem Werk, das ihn einen Augenblick lang hoch­ getragen hatte. Der Einzelwille aber wird wieder frei und die Kräfte schwingen zu einem neuen Gleichgewicht aus. In der Natur der Massensuggestion liegen alle die Er­ scheinungen begründet, die sie begleiten. Sie ist im Höhepunkt ihrer Wirksamkeit unbekämpsbar; denn niemand verfügt über die Mittel, ihrer Gewalt zu begegnen. Sie ist einseitig; denn die Dielgestalt des Lebens ist in ihr zugunsten einer einzelnen Lebenslinie unterbunden. Sie ist unzulänglich auf die Dauer, weil sie anderen Bindungen nicht gerecht wird und deren Auf­ stauung verursacht. Sie ist wesentlich zerstörender Art, d. h. sie reißt alte, unmöglich gewordene Formen ein; sie vernichtet, was ohne diese Macht nicht überwunden werden kann. Aber sie baut nicht auf; sie gibt nur den Platz hiezu frei. Alle die Massen­ suggestionen, denen wir im Laufe der Geschichte begegnen, haben sich im positiven Sinne als unfruchtbar erwiesen; sie haben nur, das ist offenbar ihre große Ausgabe im Lebenshauohalte der Natur, die Möglichkeit geschaffen, daß etwas Neues ausgebaut werden konnte. Die produktive Arbeit geschah immer auf dem unscheinbareren, stillen Weg der Evolutionen, die frei­ lich nicht möglich gewesen wären, wenn ihnen nicht gewaltige Massenbewegungen vorgearbeitet hätten. Die Französische

Revolution vermochte an sich nichts Positives aufzubauen; den­ noch ist sie die notwendige Voraussetzung gewesen für die positiven Leistungen, die das 19. Jahrhundert verzeichnen darf. Damit charakterisieren wir auch schon das Funktionsverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Masse schlechthin. Die Masse hat dabei auf die Dauer das Übergewicht; denn in ihr ist jene Mannigfaltigkeit von Lebenslinien am Werke, die die wahren Träger des Geschehens sind und die der Einzelne kaum absieht, viel weniger erkennen oder gar in chrer Gesamtheit lenken kann. Selbst ein so starker Wille wie der Napoleons zer­ brach letzten Endes an der Masse, die er wie wenige Menschen zu beherrschen wußte. Das Leben war stärker als er; in seiner Verbannung ist er ein anschauliches Bild des Versagens mensch­ licher Kraft vor dem Leben der Massen. Das Todeswort des Julius Cäsar: „Auch du, mein Brutus!" ist eine erschütternde Fassung der Erkenntnis, wie weit die scheinbar bezwungene Lebensmacht zuletzt in die eigene Jelle vordringt. Die tieferen Gründe der von vielen so tragisch empfundenen Entlassung Bismarcks sind in ihrer Art ein Kommentar aus neuerer geil. Rur die Idee, die Lebenslinie, der ein großer Mensch diente, kann ihn überdauern und so den Schein erwecken, als wäre er selbst im Tode noch lebendig und vermöchte die Massen noch zu beherrschen. Politiker wirken in ihrer Zeit, das religiöse, wissen­ schaftliche und künstlerische Genie ergreift ost erst die Massen nach feinem physischen Tode. Das Massenproblem enthält jene Funktionen, die uns am eindringlichsten die Gebundenheit und Enge aller menschlichen Leistung zu veranschaulichen vermögen.

III. Gestaltungen des Seelischen in der Gegenwart. 16. Die Darstellung der Funktionsbegriffe ließ uns bisher wesentlich in die Zellenvorgänge des Seelischen schauen, in die kleinen, intimen Zusammenhänge unseres geistigen Lebens und ihre organische Verbundenheit. Braun, Ole Macht de» Sreltschrn

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Aber das Psychische erschöpft sich in seinen Gestaltungs­ möglichkeiten und seiner Wirksamkeit nicht in diesen Kleinvor­ gängen. Aue dem Zellengeschehen bauen sich größere Gestal­ tungen aus, die das Persönliche weit überragen und die als entscheidende Machtfaktoren in unserem realen Tag stehen. Diesen großen Gestaltungen müssen wir uns daher noch zu­ wenden; in ihnen sehen wir erst die ganze Tragweite und Macht des Seelischen ab. Der einzelne Prozeß sowie die organische Prozeßvereinigung zum Wesen einer Persönlichkeit bestehen nicht frei für sich. Sie sind organische Ereignisse im größeren Rahmen der Zeit­ struktur, empfangen von dorther wesentlicheEinflüsse und wirken sich auch nach der Seite dieser Zeiteigenart wieder aus. Aktivi­ tät und Persönlichkeit stehen in unmittelbarer Verbindung mit dem Wesen einer Zeit, d. h. mit der Formung der Lebensbin­ dungen, die ihr eigen ist, und sie arbeiten selbst wieder an dieser Formung mit. Beide sind untrennbar verbunden. Aus der Lebensform einer Zeit ersteht ihre psychische Gestalt; durch ihre psychische Aktivität vollendet sich ihre Formung und Umformung. Alle äußere Form geht aus dem zeitgebundenen See­ lischen hervor und ist nur aus ihm verständlich. Dieser Sah besagt aber, in anderem als dem historischen Sinne gelesen, daß auch alle unsere heutigen Formen aus der eigenartigen psychi­ schen Struktur unserer Zeitgenossen hervorgehen, also die Dinge und Ereignisse, die uns umgeben, nicht ausschließlich von der sachlichen Seite her, sondern ebenso auch durch das Psychische bestimmt werden. Die Gestaltung des Seelischen einer Zeit ist für ihr Sein, also für ihr Wohl und Wehe nicht weniger von Bedeutung als die äußere Sachlage, der sich eine Menschheit gegenübersieht. Die Psychische Struktur in ihren großen Ausmaßen ist ein erster, wichtiger Zeitsaktor. Wenn wir nun zunächst nach den formalen Gesetzen einer solchen Gestaltung fragen (ehe wir uns den realen Gestaltungen unserer Zeit zuwenden), so finden wir keine anderen Zusammen­ hänge und Begriffe als wir sie schon im kleineren Geschehen der Prozeßfunktionen beobachteten. Auch hier gilt der Begriff der psychischen Disposition; nur

umfaßt er jetzt nicht mehr die Ausmaße einer einzelnen Per­ sönlichkeit, sondern jene einer ganzen Gemeinschaft, eines Stammes, eines Volkes, einer kontinentalen Gemeinschaft. Unverkennbar kommt solchen Einheiten aus den Bindungs­ formen, denen sie lange unterstehen, eine gewisse psychische Eigenart zu, die schon in der Heranwachsenden Fugend wieder typische Dispositionen auftreten und den Lebensgehalt über Generationen hinaus fortwirken läßt. Untersteht doch nicht jeder einzelne eines Stammes oder Volkes völlig andersge­ arteten Lebensverhältnissen. Vielmehr gibt es viele Bindungen, in denen eine Landschaft zwar variabel, aber doch gleichgeartet auf alle ihre Bewohner erziehend einwirkt, gibt es Lebens­ lagen, denen alle unterstehen und daher auch psychisch untertan sind. Das Europa der gesamten Vergangenheit bis ins 19. Jahr­ hundert herein ist ein großes Lehrbuch der ersten, die Geschichte des Europakrieges ein solches der zweiten Bindung. Unter dem Gebot seiner Heimat nahm der ältere Europäer heimatgeformte Eigenart an, die sich als psychische Stammesdisposition ver­ erbte; in der gewaltigen Evolution der Gegenwart erstehen neue psychische Dispositionen, die wir mit Erstaunen bei unseren Kindern, die doch noch nichts miterlebt haben, bereits vorfinden. Es ist einer der allerstärksten Zeitfaktoren, daß diese psy­ chischen Dispositionen auch jetzt noch, obwohl die Verschmelzung schon weit fortschreitet, in den europäischen Völkern lebendig sind, ja nicht bloß in den Völkern, auch noch in den schon vie, länger und inniger verbundenen Stämmen desselben Volkes! und sich also eine wirtschaftliche Vereinigung von Menschen gebildet hat, die seelisch allein schon ihren angeborenen Dispo­ sitionen nach höchst unterschiedlich sind. Langsam erst kann sich aus der neuen Lebenslage die neue psychische Disposition durchsetzen, schneller an den Brennpunkten des neueuropä­ ischen Lebens, langsam in den abgelegenen, wirtschaftlich und geistig abgelegenen Bezirken. Wir finden neben der Wirksamkeit der psychischen Dispo­ sitionen auch jene der allgemeinen Funktionsgruppen, der Ge­ setze der unbewußten Aktivität, der Förderung, der Hemmung

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und der Indifferenz wieder. Wie der Einzelne, so untersteht ihnen auch jede Gesamtheit. Dor allem wirken sich die Gesetze der psychischen Förderung und der Hemmung in solchen Aus­ maßen erst gewaltig aus. An großen Lebenslagen wachsen Stammes- und Döltereinheiten zu bedeutenden Leistungen heran; an großen Widerständen staut sich ihre Geistigkeit zu riesigen Ereignissen und Gestaltungen an. Würden wir psychisch tiefer sehen, wir würden hier die Untergründe der großen Er­ scheinungen erkennen, die wir vielfach nur in ihrem äußeren Kleide bewundern. Welch ein gewaltiger Komplex, wie sich am Wesen des Mittelalters langsam der deutsche Geist auf­ staut bis zu den Eruptionen des 15., 16. und 17. Jahrhunderts, der Renaissance auf philosophischem Gebiete, den Bauern­ kriegen auf sozialem, der Reformation mit ihren Vorläufern auf religiösem Gebiet! Welch ein gewaltiger Komplex kaum hundert Jahre später, als die Französische Revolution alte Widerstände überrannte, dem Psychologen ein Schulbeispiel seelischer Aufstauung, des Freiwerdens von Massenkräften für die Aufgaben, die das 19. Jahrhundert auf technischem Gebiete löste, auf sozialem freilich nicht bezwang! Hätte man dieses Gesetz der psychischen Aufstauung, Ver­ dichtung und schließlichen Explosivität früher gekannt und be­ achtet, man würde in unseren deutschen Landen den sozialen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts anders begegnet sein und hätte wahrscheinlich vermocht, die Kräfte, die ausgeschlossen von der Staatsgemeinschast zerstörend wirken mußten, in die Volks­ gemeinschaft fruchtbringend einzubauen. Man hätte nicht wähnen können, es handle sich hier um böses Führertum und blinde Verirrung einiger hunderttausend Volksgenossen, die man mit Gewalt auf den „rechten" Weg zurückbringen könne. Das Verkennen der psychischen Zusammenhänge hat uns hier in eine noch jetzt unabsehbare Lage gebracht, die nicht weniger katastrophal ablief und abläust als aus physiologischem Gebiet eine der verheerenden Epidemien. Wie die psychischen Dispositionen, so finden wir auch den Ablauf des gesamten geistigen Lebens der größeren Gemein­ schaft zeitbedingt. Jede Gemeinschaft hat auch ihre besondere

Form der Assoziationen, überhaupt der ganzen Prozesse. Es gibt Gemeinschaften, in denen sich nach organischen Zusammenhän­ gen die einzelnen Prozeßphasen höchst individuell gestalten, Phantasie und Denken, Handeln und Sprache, Kunst und Wissenschaft; aus kleinen, internen Zellenereignissen baut sich die besondere seelische Haltung mittlerer und größter Menschen­ vereinigungen auf und tritt in besonderer Aktivität auf den Plan des Weltgeschehens. Wenn wir heute Völker mit besonderer Phantasie und andere mit strenger Nüchternheit, Nationen der beherrschten Tat und andere des fteudigen Lebensgenusses, Völker der Kunst und andere des Wissens, Stämme von lang­ samer Geistesarbeit und andere rascher, aber ebenso vergäng­ licher Auffassungskrast kennen, so liegen hier psychische Ge­ staltungen großen Formates vor, die nicht aus dem Ungefähr oder etwa gar aus dem bewußten Wollen dieser Gemeinschaften kommen, sondern organisch aus dem Lebensverhältnis erwachsen sind. Das psychische Geschehen, im kleineren Rahmen des Sub­ jektiven vielfach verborgen, offenbart sich uns darin in seinen überragenden, zeitbestimmenden Gestaltungen. Wir finden somit rein formal in diesen Auswirkungen keinen Artunterschied gegenüber den psychischen Ereignissen in dem einzelnen Menschen; dieselben Vorgänge kehren hier wieder. Aber deutlicher als dort tritt uns die Macht und Bedeutung des Seelischen vor Augen. Wir erkennen immer mehr, daß das Seelische nicht, wie man heute noch vielfach dentt, eine mehr romantische, unzulängliche und ungewisse Angelegenheit, daß es vielmehr ein höchst realer Fattor im Leben einer jeden Zeit ist, ein Fattor, den man um seiner unsinnlichen Erscheinung ver­ kennen, übersehen kann, der sich aber darum nicht weniger ent­ scheidend auswirkt, den man nicht außeracht läßt, ohne in falsche Perspettiven abzuirren. Es tritt vor unserer Zeitbettachtung — der Bettachtung eines Leidenden in einer tatasttophalen Ge­ genwart — eine Erkenntnis auf, die völlig neue Einsichten er­ öffnet, etwas Ungewohntes, vor dem wir, die wir heute so real, nüchtern und sachlich denken, bis jetzt -urückschre«tten. Es gilt zu lernen, daß unserer jetzige Art, nur die äußeren Fattoren eines Zeitgeschehens zu würdigen, eine einseitige ist und ergänzt

werden muh durch ein Erkennen und Derstehenlernen des See­ lischen als einer nicht minder wichtigen Lebensmacht — Welches sind aber nun die seelischen Gestaltungen unserer Zeit? Welche Form hat das Psychische in unserem Gegenwarts­ geschehen angenommen und welche Ereignisse erstehen aus dieser Haltung? Solche Grundlinien müssen aus dem Wesen der Zeit, wie wir es schon erkannten, erwachsen. Wir wollen die stärksten kurz charakterisieren.

17. Der rasche Ablauf bedingt ein Äbereinanderschieben der Generationen. Die Zeit befindet sich immer im Fluß. Seit jeher erwächst aus dieser Sachlage eine gewisse Gegnerschaft der aufeinander­ folgenden Geschlechter. Zu allen Zeiten standen sich ältere und jüngere Zeitgenossenschaft in manchen, vielleicht vielen Dingen gegenüber, zum Teil eine Folge der unterschiedlichen Reife, ge­ wiß aber auch aus einer unterschiedlichen Zeitbindung heraus. Es gab Zeiten, in denen diese Krise offen ausbrach und andere, in denen sie verheimlicht oder unterdrückt wurde; bestanden hat sie immer. Aber in normalen Zeiten sind es doch immer nur zwei Gruppen, die sich seelisch zu einem gewissen Grade ftemd sind: Die Alten und die Jungen. Die Zeit fließt int allgemeinen zu langsam, als daß sie bei den 5 oder 6 Lebensjahrzehnten des Menschen reichere Kontraste solcher Art hervorbrächte. Unsere Zeit ist hier anders geartet. Weil in ihr der Umformungsab­ laus ein außerordentlich rasches Tempo angenommen hat, so daß sich schon jedes Jahrzehnt von seinem vorhergehenden start unterscheidet, ja oft in Jahren ein Wechsel eintritt, der sonst großen Perioden vorbehalten war, genügt die relativ kurze Lebensftist des Menschen, reichere Differenzierungen allein aus der Zeitbindung herauswachsen zu lassen; drei und vier unter­ schiedlich gestaltete Menschensormen leben gleichzeitig; Genera­ tionen schieben sich übereinander. Heute leben Menschen, die seelisch den SO« und 60« Jahren des vorigen Jahrhunderts angehören, neben Kindern

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des 7. und 9. Jahrzehntes und Enkeln der Jahrhundertwende, wozu sich noch die zahlenmäßig allerdings schwächeren Formen der noch früheren Zeiträumen verpflichteten oder noch später geborenen Zeitgenossen gesellt. Das muh nicht notwendig eine Frage des Lebensalters selbst sein; es ist eine Frage des wahren, subjektiven Verhältnisses zwischen Wille und Lebensform. Das Leben in den Jahren 1850 und 1860 war aber seiner inneren Struktur nach ein vollkommen anderes als das um 1870 oder 1875, und seit dem Ausgang des Jahrhunderts gleichen sich kaum mehr die Jahrfünfts. Alle die Menschengruppen, die so unterschiedlichen Lebensgründen seelisch überantwortet sind, müssen eine unterschiedliche, seelische Konstitution besitzen, eine unterschiedliche Haltung einnehmen, und, wenn sie gleichzeitig leben, sich vielfach ftemd und ohne Verständnis gegenüberstehen. Freilich mindert die Gewalt des Lebens manches an diesen Gegensätzen. Mag eine menschliche Natur noch so sehr -um Alten, Einmaligen neigen, so wird sie doch, in den Formen unse­ rer Tage lebend, in vielem auch dieser Gegenwart verpflichtet sein und nach ihren Impulsen handeln. Und anderseits trägt auch jeder, der start dieser Gegenwart lebt, altes, seelisches Erbe in sich, vielleicht unbewußt, aber darum nicht unwirksam. Die Natur kennt keine ausschließliche Zeltzugehörigkeit. Aber diese Abschwächung hebt den eigentlichen Charakter der seelischen Gegensätze nicht auf; sie variiert ihn nur. Notwendig müssen sich so der seelischen Haltung nach min­ destens drei große Weltanschauungsgruppen herausschälen, die in sich aber selbst noch voller Gegensätze bestehen: die alten Lebensformen verpflichteten konservativen Menschen, ihre g an­ der Zukunft zugewandten Gegner, die Radikalen, und schließlich die zwischen beiden Lagern stehenden gemäßigt Fortschrittlichen, die man heute die Liberalen nennt. Wir sind gewohnt, diese Begriffe zunächst nur auf das politische Leben anzuwenden, mit Unrecht. Sie sind Grundbegriffe subjektiver, seelischer Struktur und wirken sich auf allen Gebieten, fteilich am ein­ dringlichsten auf dem politischen Gebiete aus. Konservativ nennen wir jenen Menschen, der alten Lebens­ formen verpflichtet ist (von Parasiten ist hier natürlich nicht die

Rede!) Das ist durchaus keine Angelegenheit freier Entschei­ dung, wie man fälschlicherweise mindestens unbewußt sehr oft urteilt; das ist vielmehr gewachsenes Lebensverhältnis. Es ist schon in psychischen Dispositionen keimhast vorgestaltet, durch die Entwicklung der Kinderjahre zur ersten Entfaltung gebracht. Früh sind Beziehungen zu solchen Werten und Formen lebendig geworden und haben in einem ständigen Verkehr -wischen Wille und Lebensinhalten dem Willen die Richtung gegeben. Be­ wußt und unbewußt fördern dann tägliche Gewohnheit und geistige Auseinandersetzung, Arbeit und Erholung, Familienleben und öffentliche Stellung, Umgang mit Freunden und Kampf mit Gegnern fast immer Dispositionen solcher Art, denn der gerichtete Wille sondiert unbewußt das andringende Leben, öffnet sich gerne allem seelisch Verwandten und verschließt sich dem seelisch Fremden. Die Grundgesetze seelischer Förderung und Hemmung, sowie psychischer Indifferenz greifen hier stark ins reale Leben ein und bedingen Auswahl und Eigenart. Da» muß keineswegs eine Folge bewußter Erziehung in den Kinderjahren sein, wie es niemals ein freier Entschluß des Er­ wachsenen sein kann. Auch wird die reifere, weiterblickende Natur sehr wohl die eigene Begrenzung absehen und noch Fähigkeiten besitzen, um Fremdartiges wenigstens schwach anzufühlen. Rur der enge Kopf entbehrt der Fähigkeit, Anders­ geartetes überhaupt seelisch wahrzunehmen und verschanzt sich daher in einem kleinen Lager. Er wird um so leidenschaftlicher, je stärker das reiche Leben mit ftemden Gewalten an diese Schan­ zen pocht. Aber auch der große Mensch konservativer Richtung vermag das seelisch Fremde nur schwach anzufühlen; in allen entscheidenden Fragen muß er sich seinem Lebensverhältnis an­ vertrauen und nach Maßgabe feiner psychischen Bindungen urteilen und handeln. Er muß, in der Welt neuer Zusammen­ hänge lebend, versuchen, entweder alte Formen wieder herzu­ stellen oder dem neuen Leben den alten Geist einzuhauchen. Das psychische Bild des radikalen Partners ist dem Inhalt, nicht der Form nach, ein gegensätzliches. Vielleicht ein Stief­ kind vergangener Zeiten — weshalb sich die linken Parteien wesentlich aus Proletariern zusammensetzen —, jedenfalls aber

ein Mensch, den die alten Formen so wenig ansprechen als den konservativen Menschen die neuen, strebt er mit allen Kräften in eine Zukunft hinein, von der er sich Lebensinhalte, die ihm psychisch konform sind, erhofft. Wie jener der Vergangenheit, so ist er seelisch der Zukunft verpflichtet, hat Blick und Gefühl für Neues, wie jener ein Wertverhältnis zum Alten zu leben weiß. Auch in seinen Reihen gibt es Naturen enger, zu einem Weitblick unfähiger Konstitution, und andere, größere Menschen, die auch das Fremde noch sehen; nur sind diese Weitschauenden aus äußeren, sozialen Gründen seltener. Die Armut und Not spricht hier zu deutlich mit. Auch ist es leichter, alte, ausgereiste Kulturwerte noch zu leben, als neue Formen vorauszunehmen. Zwischen beiden Extremen muß es aus psychischen Grün­ den eine ausgleichende Mitte geben, die den Fortschritt inner­ lich erwartet und gleichzeitig die Werte der Vergangenheit schätzt, Menschen, die also den ganzen Äbergangscharakter der Zeit in sich leben. Sie müssen weniger von extremen Leiden­ schaften bewegt fein, aber zugleich unklarer nach außen wirken. Sie können kein einseitiges, eindeutiges Programm aufstellen wie die extremen Naturen mit ihrem Blick nach dem Alten und Neuen; in politischen Strudeln werden sie zu einer gewissen Ohnmacht verurteilt sein. Dennoch stehen sie dem eigentlichen Zeitcharakter am nächsten. In ihren Reihen sind die stärksten Gegensätze, kämpft die größte Uneinigkeit, treffen sich alle die widerstrebenden Impulse einer chaotischen Gegenwart. Diese große Gruppierung der Zeitgenossenschaft, im wesent­ lichen eine Folge des Zellencharakters aller menschlichen Psychenaktivltät und des eigenartigen Wesens unserer Zeitlage, wirkt sich keineswegs nur im Politischen aus; sie tritt hier nur am stärksten in Erscheinung, weil hier die Entscheidungen fallen, die Gegensätze am Steuer am leidenschaftlichsten entbrennen. Sie ist aber auf allen Gebieten am Werke und oft ist es nur der äußere Schlußakt, in dem sich eine innerlich herangereiste Situation vollendet. Die grundlegende .Lebensanschauung spiegelt sich wider im gesamten Privatleben, in Ehe und Kinder­ erziehung, in Unterhaltung und Arbeit, in der Presse, die man sich hält, und im Vergnügen, das man aufsucht, in der Kunst-

richtung, die man bevorzugt, und im religiösen und wissenschaft­ lichen Leben, das man schätzt und pflegt, am entscheidendsten aber vielleicht in den vielen Einzeltätigkeiten, mit denen man sich in den Gesamtorganismus der Gesellschaft eingliedert. Wie uns die Grundhaltung ost schon im Äußeren der Menschen, unter denen wir uns bewegen, entgegentritt, in ihrer Kleidung und ihren Umgangsformen, ihrer äußeren Haltung, ihrer Sprache und der Bildung ihres Bekanntenkreises, so sehen wir sie in all den kleinen Tagesgeschehnissen mindestens im Hintergründe tätig; in unendlich vielen, ost eindeutig scheinenden Tages­ situationen sehen wir sie den Ausschlag geben. 18.

Die Divergenz der Lebensverhältnisse bewirkt eine ebenso große der seelischen Konstitution der einzelnen Menschen. Jur zeitlichen Differenzierung des Seelenlebens gesellt sich eine räumliche. Aus dem Nebeneinander vieler kleiner Lebensgemein­ schaften, wie es in der Gemeindewirtschast früherer Zeiten gegeben war, hat sich durch das Aufkommen der neuen Derkehrsund Wirtschaftsformen ein einziger großer, europäisch-ameri­ kanischer Gesamtorganismus entwickelt und wird sich mit der Verbesserung und intensiveren Auswirkung der technischen Fortschritte noch mehr befestigen.*) Eine halbe Milliarde Abend­ länder verschmelzen zu einer Einheit; der Enkel ist ihr schon ganz überantwortet, wo der Großvater noch alter Gemeindebürger war. Ein solcher Riesenorganismus kennt sehr unterschiedliche Positionen; die Zellen, in denen die einzelnen Menschen leben, sind ihrem Inhalt und ihrer Struktur nach von höchst unter­ schiedlicher Eigenart. Der einzelne Mensch kann immer nur einen kleinen Lebensraum in dieser unabsehbaren Heimat be­ wohnen und er untersteht daher in erster Linie den Lebens­ faktoren, die diesen kleinen Raum durchpulsen. Sein menschlich kleiner Wille vermag nie dauemde Beziehungen zur Gesamt*) Eben arbeitet die Flugtechnik erfolgreich an der Verknüpfung der beiden Kontinente.

heit aufrecht zu erhalten, wenngleich er, als Iellenbewohner, in lebendigem Kontakt mit dem Ganzen steht. Er bewegt sich vielmehr mit seinem Denken und Wollen in dem ihm ent­ sprechenderen Ausmaß seiner persönlichen Welt und wird For­ men annehmen, die der besonderen Struktur dieser seiner persönlichen Umwelt angehören. Ist er Kaufmann oder Arbeiter, Industrieller oder Land­ wirt, Politiker oder Künstler, Taglöhner oder Rentier — in jedem Falle bewegt er sich schon allein mit seiner täglichen Be­ schäftigung, die seine meisten Kräfte absorbiert, in einem be­ stimmten Lebenekreis. Es sind klare, einzelne Situationen und Zusammenhänge, in denen er empfängt und gibt; in der Auseinandersetzung mit ihnen müssen sich vor allem die Dis­ positionen entfalten, die Gedanken klären, die Einsichten ver­ tiefen, die zu diesem Kern eine unmittelbare Beziehung be­ sitzen. Diese Arbeit ist so reichhaltig, jede Zelle wird von einem so vielgestaltigen Leben durchflutet, daß der geistig wenig Vermögende voll beansprucht, aber auch der Leistungsfähigere dadurch gefesselt und ermüdet wird. Die Kräfte werden hier wesentlich verbraucht, die Zeit verrinnt in diesen Funktionen und so mangelt beides, Zeit und Kraft, um über die eigene Lebenszelle allzuweit, vielleicht auch nur in beschränktestem Matze in ftemde Gebiete hinauszudringen. Freilich ruht in der menschlichen Seele zu viel Divergie­ rendes, als dah nicht wenigstens in normal begabten Menschen Prozesse entstünden, die nicht mehr dem engsten Lebens­ kreis angehören. Wir dürfen uns selten rühmen, einen Menschen ganz zu kennen, und ein Wechsel der Position, heute häufiger als je, bringt ost völlig neue Seiten eines Menschen zum Klin­ gen. Es widerspäche der Natur des Menschen, wollte man ihn doktrinär auf ein Einzelgebiet eingeengt sehen. Aber auch dieses Hinausahnen und -tasten bedeutet keine Überwindung des Zellencharakters unserer Aktivität; es hebt die Bindungen und Formen nicht auf, die wir unter seiner Gewalt annehmen. So zerfällt dieselbe Zeitgenossenschaft, die organisch an­ einander gekettet ist, dem Schicksal, aus unterschiedlichen Posi­ tionen in seelisch unterschiedliche Konstitutionen hineinwachsen

zu müssen und aus solch subjektiver Geistigkeit heraus anderes nicht mehr in seinem wahren Zusammenhangs absehen zu können. Es kommt zu einer Seelen- und Sprachstemdheit elementarer Art. Auf rein sachlichen Gebieten werden wir diesen beengten Zellencharakter unserer Geistigkeit sogleich gewahr, sobald wir nur aufzuzeichnen versuchen, was wir über Zusammenhänge außerhalb unseres eigenen Gebietes, als Arzt über Rechtswesen, als Jurist über die Schule, als Lehrer über das Kaufmännische, als Kaufmann über Landwirtschaft, als Landwirt über Kunst, ja als Goldarbeiter über Schreinerarbeiten oder als Angestellte über Prokura wissen. Wir täuschen uns gerne, weil wir aller­ dings gewohnt sind, über vieles zu sprechen; aber ein kleines Blatt Papier oder ein kurze Aussprache mit einem Fachmann wird uns, wenn wir willens sind, bald über eine Unwissenheit belehren, die wir nicht vermuteten, weil uns die eigene Aktivi­ tät in unseren Grenzen eine größere Leistungsfähigkeit vor­ spiegelt. Run würde das geringe Wissen an sich nicht von ausschlag­ gebender Bedeutung sein; es wird durch Vermögen auf anderen Gebieten korrigiert. Aber es handelt sich keineswegs nur um Wissen, sondern um den Mangel der gesamten seelischen Hal­ tung, der aus dem Fehlen jener Prozesse hervorgeht; die Reife in einer einzigen Zelle führt jeden zu einer Sonderentwicklung und enthält ihm die Fähigkeit zu vielen anderen Geschehnis­ linien vor. Sie läßt ihn die Welt immer in der eigenen Per­ spektive sehen, zeigt chm nicht, wo er unwissend irrt, und ver­ urteilt ihn, immer aus dieser einzigen, beengten Zelle und ihren Inhalten heraus zu handeln. Die Impulse, die von dem Men­ schen ausgehen, entstammen nicht einem tragfähigen Lebens­ verhältnis, wenn es sich nicht um Inhalte der eigenen zentralen Tätigkeit handelt; sehr ost sind Trugbilder, Fehlschlüsse, falsch gesehene Ereignisse, der Ausgang wichtiger Entschlüsse und Handlungen. Darin liegt die große Bedeutung dieser Bindung an die eigene seelische Heimat. Dies wirkt sich umso tragischer aus, als ein so großer Organismus die konträrsten Positionen ausweist. Er besitzt, 124

wie wir schon an anderer Stelle bedachten, Zentralpunkte und Außenbezirke, Stellen rasch und stark fließenden Lebens und andere der Stille und Ruhe, Posten, auf denen der passende Mann Macht und Reichtum erntet, und andere, die ihre ZnHaber zu Armut und Ohnmacht verurteilen. Zn jedem Falle wird nur eine bestimmte Art von Menschen herangezüchtet und verkümmern andere Fähigkeiten derselben Menschen an Licht­ armut. Und so sehen wir denn in der Tat rings um uns vom Leben die unterschiedlichsten Menschen gestaltet, jeden in seiner Form befangen, jeden die Gesamtereignisse in seiner Art be­ obachtend und wertend. Dem Außenstehenden erwächst daraus das eigenartige Bild, daß über dasselbe Geschehen alle möglichen Urteile kursieren, daß um derselben Sachlage halber die leiden­ schaftlichsten Meinungskämpfe entbrennen und dasselbe Zeit­ geschehen ein Menschengeschlecht vorfindet, voller Zwietracht, Parteiung, Irrtum und Selbstzerfleischung.

19.

Zu der Macht der unterschiedlichen Lebensverhältnisse ge­ sellt sich ja obendrein ein stark divergierendes Ausmaß der per­ sönlichen Intelligenz und Willenskraft. Die Bildung so großer Menschenelnheiten drängt den Einzelnen in subjektive Stellun­ gen hinein, aus der jeder nur relativ, fteilich der Vermögende erheblich weiter als der Geistig-Beschränkte vordringen kann. Ist das Leben des Menschen ein Zellenleben, so ist sein Wille in jedem Falle nur fähig, stückweise in das große Gesamtgeschehen vorzudringen; je größer und umfassender aber dieses Gesamtgeschehen sich gestaltet, um so weniger kann der mensch­ liche Wille, der mit diesem Wachstum nicht Schritt halten kann, zu einer Gesamtbeherrschung gelangen. Das ungleiche Machtund Größenverhältnis verurteilt ihn immer mehr zu einer Ohn­ macht, die er tragischerweise freilich kaum gewahr wird, weil ihm der Vergleichsmahstab fehlt. Er sieht das ganze nicht ab und so sieht er auch die Relativität seines Blickfeldes nicht in dem wahren Verhältnis. Es wird zu einer Frage der Intelligenz und Willenskraft, wie weit der einzige Wille in seinem Vordringen in das Gesamt-

geschehen gelangt." An einem Widerstand von so gewaltigem Ausmaße mutz der kleine, der naive und wenig vermögende Wille schon sehr bald erlahmen, während der intelligente Mensch immerhin ein bedeutsames Stück des Lebens zu erfassen ver­ mag und so wird die Unterschiedlichkeit der Intelligenz, ge­ wachsen aus Veranlagung und Entwicklung durch Schule und Arbeit, zu einer Unterschiedlichkeit des Weltbildes, der Funk­ tionsfähigkeit, des seelischen Reichtums und des Aktionskreises, die aufs neue die Menschen trennt und sich im sozialen Leben mannigfaltigst auswirkt. Der geistig wenig Vermögende wird in seiner kleinen Um­ welt verharren müssen. Er kann nicht einmal ahnen, daß er in einer so kleinen Welt lebt; denn wenn er auch andre Menschen anders leben sieht, so bleibt er doch immer am Äußeren hängen und kann nie das wahre Wesen jener Anders-Lebenden be­ greifen. Um es zu begreifen, mühte er ja eben das Unvermögen, das ihn bannt, ausschalten können. Er wird sich daher mit fal­ schen, seiner Aufsassungskraft entsprechenden Urteilen begnügen und sich schließlich von jenen Beobachtungen weg wieder seiner Welt zuwenden. Dies wird er schon deshalb tun, weil auch seine kleine Welt so voller Spannungen und Impulse ist, daß sein Wille davon gefesselt wird. Sind es gleich nur einfachste, unkomplizierte und sich reichlich wiederholende Tagesereignisse, so beherrschen sie doch jedesmal wieder seinen kleinen Geist und so verbringen diese Menschen ihren Tag in vielen kleinen Dingen, die dem Außenstehenden, vielleicht in anderen Augenblicken auch ihnen selbst sehr unbedeutend erscheinen, sich aber im Augenblick des Prozeßablaufes als stark genug erweisen, um die Stellung zen­ traler Vorgänge einzunehmen. Sind es doch bezeichnender­ weise meist Zusammenhänge physischer oder sozialer Art, also Vorgänge aus jenen Bindungen, die den Sinnen des Menschen am nächsten stehen. Der menschliche Wille dieser Kreise ist eben noch stark genug, sich mit solchen Ereignissen auseinanderzu­ setzen; er wird von ihnen vollkommen beansprucht und ver­ braucht. Es ergibt sich jenes Leben, das wir bei sehr vielen Menschen beobachten können, nicht bloß bei denen äußerlich

armer Dvlkskreise. Es liegt dem heute so oft gebrauchten Worte „Masse" zugrunde. Der vermögendere Wille offenbart sich dadurch, dah er, ob es ihn gleich niemand lehrte, aus eigener Kraft über diese enge Welt des Nächstliegenden hinausstrebt. Er negiert die Ereignisse und ihr KrSstespiel nicht, aber der Raum ist für sein Streben zu eng; er sucht die seinem Wesen entsprechende Weite. So sehen wir Menschen, scheinbar ohne Grund, sich mit Dingen befassen, die abseits des Alltäglichen liegen; es erwächst der weiterblickende, geistig interessierte Mensch. Die Dielgestalt -es großen Weltlebens muß bedingen, daß sich ihm dabei vielerlei Wege anbieten. Während die nüchternen Alltagsmenschen sich immer um dieselben Fragen des Essens, der Kleidung, der Bequemlichkeit, des nachbarlichen (Miß-)Verhältnisses, der Gesundheit usw. bewegen, weshalb sie sich denn auch untereinander meist sehr gut verstehen, zerstreuen sich die Geistigen in die unendlich vielen Richtungen des unausgang­ baren Weltgeschehens und wir finden sie meist ebenso gespalten als jene vereint. Schon innerhalb jeder einzelnen Hauptrichtung, innerhalb der Kunst, der Philosophie, der Jurisprudenz, der Medizin, der Pädagogik, der Religion, der Naturforschung ent­ springen sogleich die stärksten Gegensätze und zwischen Anhängern verschiedener Hauptrichtungen gähnt geheimnisvoll ein Ab­ grund. An der Weltweite muh sich in der Tat sogleich die Begrenzt­ heit des menschlichen Willens in solcher Form zeigen. An sol­ chen Ausmaßen wird es selbst dem größten Geiste schwer, das Zusammenwirkende, das Tiefere und Verbindende wahrzu­ nehmen und zu suchen; die größere Zahl derer, die zu diesem menschlich größten Ziele nicht gelangen können, werden sich in ihrer Richtung, ihren Anschauungen und Erkenntnissen ver­ kapseln. Wer hätte es nicht schon ost erfahren, dah kaum etwas schwerer hält, als drei „gebildete" Menschen aus eine gemein­ same Anschauung zu bringen? So wird die Geistigkeit, der man einst blindlings die Kraft zur Überwindung der Weltkonflikte zuschrieb, an der Relativität ihrer Fähigkeiten zu einer neuen Hemmung.

Die Tragik, die darin begründet liegt, wollen wir kurz an dem Beispiel des Kunstschaffens zu erschauen trachten. Sie könnte ebenso in vielen anderen Richtungen veranschaulicht werden. Die Natur des großen Künstlers trägt ihn weit über das Fühlen und Erleben seiner Mitmenschen in die Unendlichkeit des Lebens hinaus. Wo Leid und Freude, Farbenslcht und Klangauffassung, Gefühl und Lebensschau der Mitmenschen immer mehr an der Oberfläche hasten bleiben und vom raschen Tag sehr bald wieder verweht sind, da flutet in ihm die Gewalt des Lebens tiefer, sind die Eindrücke elementarer, die Erleb­ nisse leidenschaftlicher. Don völlig anderer, psychischer Struktur, steht er deshalb mit seinem Schauen und Schaffen außerhalb der Lebenekreise seiner Mitmenschen. Dies ist sein Adel und sein Fluch. Sein Adel, denn es be­ fähigt ihn, zu leben, was sonst niemand lebt und zu gestalten, was keiner außer ihm gestalten kann. Sein Fluch, denn sein Wert kommt zu den anderen Menschen und wie sollten sie fähig sein, das ihnen seelisch Fremde innerlich anzufühlen? Sind sie Käufer, so werden sie ihre finanzielle Macht in Erscheinung treten lassen, sind sie Beschauer oder Zuhörer, so werden sie wenigstens all ihr Unvermögen unbewußt offenbaren und der Künstler das, was ihm heilig ist, bloßgestellt sehen. Langsam erst wachsen kommende Generattonen in ein Auffassungsvermögen hinein, das den großen Kunstwerken gerecht werden kann. Stei­ nerne Denkmäler ehren spät den Künstler, der in Einsamkeit, sehr ost in Armut stirbt. Gleichzeittg erntet der Macher, der nicht aus seiner Sonder­ welt heraus schafft, sondern das dilettantische Verlangen der Heutigen beobachtet und zum Ausgangspuntt seines Tuns nimmt, Anerkennung und Gold; ihm müssen sich Herzen und Scheckhefte erschließen, weil hier die seelische Brücke besteht. Was kümmett ihn, daß man ihm einst kein Denkmal errichten wird? 20.

Die neuen Formen der Grundlagen des Lebens bestimmen eine neue Konstellation der Machffattoren und streben überall nach neuen Formen des inneren und äußeren Lebens.

In diesem vierten Grundzug der psychischen Evolution unserer Zeit atmet am deutlichsten ihr ganzes Wesen. Besagt er doch nichts anderes, als daß sich das Seelische gleich dem Gesamtgeschehen der Zeit in völliger Umformung befindet und dementsprechend auch alle Mächte und Formen andere werden wollen. Die-Wertskala, der der Einzelne seelisch untersteht und die Formen, in denen er sich bewegt, sind von dem allgemeinen Prozeß ersaßt. Aber der Prozeß hat nur begonnen, ist bis zu einer gewissen Reife gediehen; er ist nicht vollendet. So finden sich auch hier alle Differenzierungen. Noch bestehen in einzelnen Menschengruppen alte Werturteile und -skalen und schon leben andere Gemeinschaften nach neuen. Alte Formen werden in unserer Zeit noch gelebt und gleichzeitig neue leidenschaftlich verfolgt. Alle Übergangsstadien wirken sich in unseren Tagen aus, alles wankt, alles wird befehdet und ersehnt, betrauert und erhofft. Großmächte des Lebens haben sich durchgeseht und re­ gieren: das Kapital, die industrielle Produktion, die Presse, die politische Organisation. In Körperpflege und Sport ist der Kunst und dem wissenschaftlichen Buch ein starker Konkurrent erstanden» Der Verbrauch der Kräfte durch die Berufstätigkeit hat an die Stelle einer reifen Innenkultur die vielen Erschei­ nungen eines raschen, grellen Vergnügungslebens gesetzt. Der Kritizismus des exakt-wissenschaftlichen Forschens hat hinter die bisherigen Weltvorstellungen ein Fragezeichen gesetzt, wahr­ nehmbar auch dem Ungebildeten, und viele, weil alles wankend wurde, der Gleichgültigkeit und dem Pessimimus preisgegeben. In seelischen Dingen hat eine große Skepsis um sich gegrif­ fen; Nächstliegendes, Greifbares hat als einzige anerkannte Realität das verlassene Land erobert. Und doch sind diese gegenwärtigen Mächte und Formen keine bleibenden. Sie sind, vielleicht mit der einzigen Ausnahme des Sportes, auch für ihre Anhänger kein Evangelium. Sie werden nicht nur von außen angegriffen; auch von innen zehrt an ihrem Bestand Zweifel, Angst, Ungläubigkeit. Mit fiebernder Hand suchen Börse und Presse ihre Stellung zu halten, die sie nicht für unüberwindbar erachten; wie ein eigenartiger Find®t«un, DI« Macht d als solches un­ veränderlich, noch entziehen sich die Faktoren, die an ihm ar­ beiten, in entscheidendem Ausmaß unserer Erkenntnis oder Wirk­ samkeit. Wir sind also befähigt, an unserem Seelenleben mit­ zuarbeiten, freilich nicht in der Form von begrifflichen Forde­ rungen, sondern in der realeren Form der Anbahnung und Pflege psychischer Prozesse. Wie der erkennende Mensch seinen Körper gesund erhalten oder ftüh dem Verfall überantworten kann, so vermag er auch seine Seele zu bereichern oder zu Küm­ merformen zu verurteilen. Die einstmals als unvermeidlich betrachteten Alterserscheinungen des Körpers finden jetzt ihr Gegenstück in den ebenso als naturgeboten hingenommenen Verarmungserscheinungen des Seelenlebens. Solange beide Erscheinungen in ihrem Wesen nicht erkannt waren, mußten sie in der Tat als unabwendbar hingenommen werden; heute ist das nicht mehr der Fall. Das heute mögliche, große Ziel der Psychohygiene lautet: Gesunderhaltung, Bereicherung und Erhöhung der aktiven Leistung des Seelischen durch bewußte Pflege! Für den Ein­ zelnen bedeutet das reicheren Lebensinhalt, größere Befteiung von einem lastenden Pessimismus und gehobene Lebensstellung; für die Gesamtheit eines Volkes bedeutet es erhöhte Produkti­ vität und Überwindung aller Konflikte, die sich aus der seelischen Verkümmerung so mächtig ins soziale Leben ergießen. And nun zur Praxis einer solchen Lebensführung!

Den größten Raum nimmt in unserem heutigen Leben bei den meisten Menschen die berufliche Arbeit ein. Arbeit ist Pro­ duktivität. Wir arbeiten, um Lebensgüter hervorzubringen. Dieses Hervorbringen ist abhängig von den äußeren Faktoren, aber nicht weniger von unserer eigenen Fähigkeit. In diesem Punkte sind aber unsere heutigen Anschauungen höchst unvoll­ kommen und geringwertig. Wahre Produktivität, auch jene auf sachlich einfachsten Ge­ bieten, entspringt seelischen Prozessen. Wir sind dann wahrhaft produktiv, wenn wir uns in seelischem Kontakt mit dem Gegen­ stand unserer Arbeit befinden. Dieser Kontakt läßt sich nicht durch ein Machtgebot herstellen, eine Tatsache, die heute in weitestem Maße übersehen wird. Nicht weil wir gezwungen sind, etwas zu tun, entsteht der psychische Prozeß als notwen­ diger Gestalter einer guten Leistung, sondern weil zwischen unserem Willen und dem Lebensverhältnis, das uns entgegen­ tritt, eine solche Verbindung möglich ist. Fehlt die seelische Vor­ aussetzung auf unserer Seite, so wird kein Zwang den produk­ tiven Vorgang herbelführen und die Arbeit bleibt mindestens halbwertig. In einer Zeit, in der also viele Menschen nur unter Zwang arbeiten, muß viele halbwertige Arbeit geleistet werden, und dies um so mehr, als der Zwang an sich Lust und Kraft verschließt, wo er sie öffnen sollte. Der gezwungene Arbeiter ist oft auch dort, wo er fähig wäre, ein unwilliger, weil die Tat­ sache des Zwanges in natürlichem Zusammenhang den Willen ablenkt und hemmt. Das ist in doppelter Hinsicht schädlich. Erstens wird die Arbeit nicht im besten Sinne vollendet; sie bleibt mangelhaft und kann nicht konkurrieren. Und zweitens staut sich im Arbei­ tenden und im Belieferten ein Unwillen auf, der vielleicht im Ein­ zelfall weniger wirksam erscheint, aber gewiß einen Hintergrund abgibt, auf dem ungünstige Erscheinungen gedeihen. Jede derar­ tige Halbleistung stellt ein Zellengeschehen dar, aus dem schließ­ lich, im Zusammenhang, mit vielen solchen Vorkommnissen, Un­ zufriedenheit, Aufruhr, Skepsis, Menschenverachtung erwachsen. Wenn wir also produktive, beste Arbeit wollen, so müssen wir die seelischen Voraussetzungen dafür schaffen: unsere Fähig-

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feit, in den Prozeh einzutreten. Es ist dillettantisch, diese For­ derung mit dem Gedanken abtun zu wollen, es könne nicht jeder Mensch an einem ihm günstigen Posten stehen. Wer gesund arbeitet, muß wissen, was der sachliche Sinn dieser Tätigkeit ist. Er darf nicht nachmachen, was man ihm äußerlich angelernt hat und was ihn innerlich also nicht berührt. Die Auseinandersetzung mit den besonderen Verhältnissen einer Arbeit stellt jenen notwendigen Kontakt her. Eine Arbeit lernen heißt, sich langsam in den Sinn und in die Verhältnisse einer Geschehnisgruppe einzuleben; einen Beruf ausüben heißt, sich immer mehr in diesem Sinn zu vertiefen, immer klarer zu sehen, allen neuen Wendungen entgegenzuschauen. So erhält alles und jedes, was getan wird, seinen Inhalt. Es mag Irrtum da­ bei unterlaufen, aber es ist qualitative Arbeit, weil sie von innen her geschieht, und sie befriedigt, weil es sich um wirkliche Leistung handelt. Es liegt ein Lebensverhältnis vor, in das der Mensch hineingewachsen ist. Eine nicht unwichtige Rolle spielen dabei die äußeren Ver­ hältnisse, unter denen die Arbeit geleistet wird. So muß alle wirkliche Produttivität anerkannt werden, beim einfacheren Menschen durch anerkennende Worte und einen möglichen Lohn, beim gehobenen Menschen durch eine gerechte, liebevolle Würdigung, die sich frei hält von Nörgelsucht und Besserwisserei. Wir müssen uns gewöhnen, nicht über jede Leistung mit unseren Wenn und Aber und Sondermeinungen herzufallen wie über einen Raub, sondern dem Mitmenschen durch Anerkennung zu dienen; wir fördern ihn und uns.

Der Arbeitsraum darf nicht allen seelischen Ansprüchen Hohn sprechen. Es ist der Raum, in dem wir uns viel aushalten; seine Ausstattung muß auch aus uns wirken. Sie braucht nicht luxuriös zu sein; Arbeit ist mehr als Erholungsgenuß; aber sie muß so weit als möglich aus die allgemeinen Bedürfnisse eines seelisch empfindenden Menschen Rücksicht nehmen. In Licht und Luft und schönen Räumen entwickelt sich der Mensch in anderem Sinne als in dunklen, stickigen und schmutzigen Stätten. Das Geld, das dafür aufgewendet wird, ist nicht sentimental ver-

ausgabt und verloren, sondern verzinst sich durch die Erhöhung der qualitativen Leistung. Während der Arbeit müssen — das ergibt der wahre Schaf sensprozeh von selbst — alle anderen Bindungen unterbrochen sein. Unsere Zeit fordert eine intensive Arbeit; die seelische Pflege schließt sich dieser Forderung an, weil dadurch Zeit ge­ spart wird. Alle unsere Arbeit ist heute mehr oder weniger einseitig. Darum darf sie nicht unsere ganze Kraft in Anspruch neh­ men. Das ist auch nicht nötig. Die Maschine gestattet uns heute, die zur Erhaltung des Menschengeschlechtes nötige Pro­ duktion bereits in acht Tagesstunden zu leisten, während früher zehn und zwölf Stunden gearbeitet werden mußte. Eine Ver­ vollkommnung der Maschine wird in Zukunft das Stundenmaß noch weiter herabdrücken. Wir haben also nicht nötig, unsere gesamte Zeit auf die Erledigung unserer Berufsarbeit zu ver­ wenden (außer in Ausnahmezeiten irgendwelcher Art); dafür muß die Intensität in den Arbeitszeiten gewinnen. Dies ist dann möglich, wenn wir wirkliche psychische Aktivität erzielen durch Herbeiführung wahrer psychischer Prozesse. Verlassen wir die Arbeit, so müssen wir uns auch seelisch vollkommen von ihr absondern. Wir schädigen uns vielfach da­ durch, daß wir auch in unserer Freizeit über Fragen unserer Berufstätigkeit nachgrübeln, diese Zeit ist aber höchst notwendig als Korrelat gegen einseitige geistige oder körperliche Aktivität. Die Seele des Menschen erträgt die Einseitigkeit nicht; sie will alle ihre Fähigkeiten entfalten oder doch ein größeres Ausmaß. Sie leistet mehr, wenn sie vielseitiger aktiv ist, als wenn sie nur eine einzige Disposition entfalten kann. Darum muß die Frei­ zeit wirklich frei sein von den Prozessen der Hauptbeschäftigung. Die Stunden, die wir außerhalb unseres Berufslebens ver­ bringen, sind für uns von der allergrößten Wichtigkeit. Hier erwachsen uns durch Unwissenheit auch die größten Schäden. Wir verlieren heute nicht so viel durch die Art unserer Berufsarbeit als vielmehr durch die Unart der Verwendung unserer Freizeit.

Der Schaden, daß sehr viele Menschen nur unter einem äußeren Zwang arbeiten, nicht aus einem inneren Verhältnis zu ihrer Tätigkeit, veranlaßt sie nämlich, in ihren kurzen Frei­ stunden schnell einen Lebensgenuß zu suchen. Weil die Tätig­ keit im Beruf sie innerlich unangesprochen läßt, also Widerstände und Unlust anhäust, soll die Freizeit eine Lebensbesriedigung bringen. Ist aber nun das Seelische unentwickelt, so ist ein solcher Lebensgenuß nur auf den lautesten, sinnlichsten Gebieten möglich. Starke, sinnliche Reize wirken auch aus übermüdete Nerven und sie lausen schnell ab. Kommt eine spekulative Ge­ schäftswelt diesen Bedürfnissen noch raffiniert entgegen, so entwickelt sich ein Genuß- und Vergnügungsleben, wie wir es vielfach um uns wirksam sehen. Aber diesem Erholungsleben kommt keinerlei hygienische Qualität zu. Hier wird nicht die Seele des Menschen gesund er­ halten, sondern zur Armut und schnellen Alterung verurteilt. Es entfalten sich nicht jene Dispositionen, die einen wahren Ausgleich schassen und Freude und Reichtum erzeugen; viel­ mehr wird eine Jugend in wenigen Jahren verausgabt. Zurück bleibt die Langeweile, die Leere, die Müdigkeit. Das Leben ist reich, wenn wir seelisch reich sind, um es zu sehen und zu er­ sassen. Verkümmern wir aber seelisch, weil wir nur körperlich­ sinnlichen Reizen opfern, so muß auch die Welt um uns arm sein. Die Sinne stumpfen ab und schließlich stehen wir blind in der Welt und klagen, daß sie schal und leer sei. Am den Reichtum des Lebens zu sehen und in höherem Sinne zu genießen, gibt es nur den Weg, uns seelisch zu fördern durch Entfaltung von seelischen Dispositionen, die in uns ruhen und von selbst nach Aktivität verlangen, sobald wir nur daraus achten. Der Entfaltung dieser Dispositionen muß daher unsere auherberusliche Beschäftigung gewidmet sein, weil wir nur da­ durch den notwendigen Ausgleich gegen eine einseitige Berufs­ tätigkeit erzielen, unseren Willen naturgemäß ernähren und zu einem wahren Lebensgenuß kommen. Je mehr es uns gelingt, durch Entwicklung unserer Dispositionen wahre auherberusliche Seelenvorgänge fördernder Art anzubahnen, umso reicher und befriedigender erscheint uns das Leben, umsomehr verliert

es von seiner Belastung und öde und umso leichter ertragen wir die wahren, unvermeidbaren Konflikte, die uns aus der Stellung in einem so bewegten Riesengeschehen zufließen. Wir haben dann einen seelischen Heimatboden, der uns trägt; wir haben ein seelisches Heim, in das wir uns zurückziehen können; wir verlieren nicht alles, wenn wir ins Unglück geraten. Die Anbahnung solcher seelischen Beziehungen, die Reife unserer psychischen Dispositionen vollzieht sich nach den Ge­ setzen, die wir in der Organischen Psychologie kennen gelernt haben, durch eine erst langsame und leise, dann sich immer lei­ denschaftlicher auswirkende Verbindung zwischen unserem Willen und einem Geschehen der Umwelt, heiße dieses Gesche­ hen nun Kunst oder Natur, Wissenschaft oder Bastelei oder Sport oder sonstwie. Wir können bewußt diese Entwicklung anbahnen und pflegen, soweit sie uns trägt. Änen sehr wesentlichen Punkt müssen wir dabei in der be­ wußten Ausschaltung all der vielen Nichtigkeiten beachten, die uns heute durch die Mannigfaltigkeit des Umweltgeschehens zu­ fließen und gefangen nehmen, wenn wir uns nicht schützen. Das Tagesgeschehen ist immer voller Kleinereignisse. Wer in eine so große Gemeinschaft eingeslochten ist als wir Gegen­ wartsmenschen, namentlich Bewohner von Großstädten, der muß sich von einer Unsumme von Ereignissen und kleinen Erforder­ nissen umgeben sehen, die ihn alle beschäftigen können, beschäf­ tigen wollen, ohne daß aber diese Beschäftigung irgend einen Wert besitzt. Wir finden uns heute sehr verstrickt in derartige Kleinereignisse. Überdenken wir abends den Tag, so werden wir viele solche Vorkommnisse finden, die wir bedacht, mit anderen besprochen und beurteilt haben. Ziehen wir aber eine seelische Bilanz,so ergibt sich eine vollendete Null.Wir haben für ein Nichts gedacht, geurteilt, vielleicht sogar gekämpft oder gestritten; wir haben für nicht» einen wesentlichen Teil unserer Energie geopfert, nicht weil wir wollten, sondern weil uns die Dinge eben mitgerissen haben. So unselbständig sollte unsere Lebens­ führung nicht sein. Dieses immer wiederkehrende Heer von Kleinereignissen — Vorkommnisse in unserer äußeren Umge­ bung, Schilderungen in der Presse, Ärgerlichkeiten unseres All-

tags, Meinungsverschiedenheiten in belanglosen Dingen, Ver­ spätungen der Post usw. — muß aus dem Willensleben aus­ geschaltet werden. Wollten wir nur genauer zusehen, so würden wir mit Erstaunen gewahr, einen welch hohen Hundertsah unse­ res Energieverbrauches diese Dinge beanspruchen, obwohl dem Verbrauch keinerlei Erfolg oder auch nur formaler Wert zu­ kommt. Denn zu Unrecht nennt man das Sich-gehen-lassen eine Erholung. Erholen können wir uns nur, wenn wir unsere En­ ergie überhaupt ausschalten und z. B. im Grase liegend, dem Zug der Wolken nachträumen. Hier ruht unser Wille und es ist gewiß nötig, ihm derartige Ruhepausen zu gönnen, gn jenen Kleinereignissen ruht er nicht, sondern ist in hohem Maße aktiv; er verbraucht sich zweck- und sinnlos und tritt dann bedeutsamere Prozesse geschwächt an. Dor allem müssen wir auch lernen, daß es in einer Welt wie der unseren töricht ist, alles wissen zu wollen. Schon unsere Schulbildung lädt uns ein viel zu hohes Maß von unproduktiven Wissensstoffen aus, dessen Besitz und Erhaltung unnütz Kraft vergeudet. Aber in noch viel höherem Grade überlasten wir selbst unser Denken und Wissen mit „Stossen", die uns seelisch in keiner Weise fördern und obendrein in den meisten Fällen nicht einmal der Wirklichkeit entsprechen. Bildung ist nicht Dielwissen, gesundes, seelisches Sein nicht ein Herumstürzen in allen Gebieten. Seelisch ernährt und fördert uns nur die leben­ dige Beziehung zu Lebensgebieten; wir gewinnen hier, wenn wir dort Straft sparen, wo wir sie bis jetzt unnütz verausgaben. Darunter fallen vor allem auch die vielen eigenartigen Vorgänge, die wir gewöhnlich in das Gebiet der Autosuggestion einreihen, jene Selbstbeeinflussung, in der wir durch ständiges Wiederholen einer Furcht, einer Vermutung, einer quälenden Vorstellung uns selbst schädigen. Zuweilen mischt sich in unser Denken plötzlich ein derartiger Gedanke, daß wir krank seien, einem Unglücksfall entgegengehen, vielleicht nie die Verwirk­ lichung unserer Hoffnung erleben. Vorgänge in unserer Um­ gebung lösen solche Gedanken aus. Wir müssen aber deutlich ersehen, daß hier ein lähmendes Gift in unser Leben drang, das wir am Anfang leicht ausschalten, später aber nur mehr schwer

überwinden können, wenn es sich durch ständige Wiederholung sehr verstärkt hat. Ls gibt nicht wenige Menschen, die in solcher Weise leiden, ihr Leben aussichtslos und arm empfinden und, weil ihnen der Glaube fehlt, auch wirtlich zu keiner Tat ge­ langen. Die Geschichte der Selbstmorde würde uns, könnten wir Einblick erhalten, sehr wahrscheinlich immer auch die Wirk­ samkeit derartiger Keime zeigen. Anderseits trägt jeden Erfolg­ reichen ein gewisser Glaube an seine Leistung; aus ihm schöpft er die Kraft, die vielen Widerstände der Umwelt zu besiegen. Ein großes Kapitel persönlicher Psychohygiene umfaßt unsere Beziehungen zu den Mitmenschen. Die Gegenwart, die uns in unmittelbare und indirekte Verbindung zu einer übergroßen Anzahl von Mitmenschen stellt, ja uns in starke Abhängigkeit zu ihnen bringt, muh an sich viele Möglichkeiten solcher Beziehungen bieten. Wenn wir trotzdem an Verbindungen, die uns seelisch wertvoll sind, starken Mangel haben, zwar viele Menschen kennen aber nur wenige innerlich schätzen, so liegt die Ursache darin, daß wir unsere Beziehungen so gut wie gar nicht pflegen und auch hier alles dem Zufall überlassen. Nun kann es aber keine Verbindung mit Menschen geben, in der nicht störende Momente aufträten. Es ist ein verhängnis­ voller Irrtum, zu glauben, es gäbe eine Verbindung zwischen Menschen, die niemals trennende Augenblicke erlebt. Denn einmal gibt es nie zwei seelisch absolut konforme Menschen und so­ dann ist die augenblickliche Konstellation der subjektiven Kräfte nie gleich. Immer sehen zwei Menschen dieselbe Tatsache ein­ mal unterschiedlich und immer reagieren sie einmal auf dasselbe Geschehen andersartig. Dieses Anders-Urteilen und AndersHandeln wird aber unwillkürlich als beftemdlich empfunden und soweit unmittelbare Interessen im Spiele sind, zu einer Gefahr der Beziehung. Stehen wir diesen seellschen Zusammen­ hängen naiv gegenüber, so beginnen wir in solchen Augenblicken vom anderen abzurücken. Erkennen wir aber die Natur dieses Zersetzungskeimes, so werden wir ihn unschwer überwinden. Die Pflege einer jeden Beziehung zu Mitmenschen ge­ bietet also zu allererst, daß wir die kleinen Keime, die durch ein160

zelne Vorgänge in unsere Beziehung geworfen werden, sofort wieder beseitigen, indem wir anerkennen, daß auch unser Urteil subjektiv ist. Dabei werden wir bald erfahren, daß es in vielen Fällen vollkommen belanglose Anschauungen sind, die uns zu trennen geeignet wären, und ost eine geringe Anstrengung schon genügt, um einen anderen Menschen anderer Anschauung sein zu lassen. Freilich gibt es auch Fälle, in denen das unmöglich ist und sich eine Trennung kaum vermeiden läßt. Es wäre in diesem Falle sogar unklug, weil wir uns dann nur auf die Dauer schwer belasten. Allein eine solche Lage der Verhältnisse ist sehr selten. Aber die Pflege einer Beziehung erschöpft sich nicht in der Ausschaltung der Zerstörungskeime. Sie muß auch aktiv ge­ schehen durch ein Fördern des anderen Teiles und ein freundliches Eingehen auf seine Eigenart. Hier liegen die stärksten Krankheitsherde unserer Zeit. Wir kümmern uns fast nur mehr ausschließlich um uns selbst oder um Personen, die uns nützen. Wir haben keine Zeit und Fähigkeit mehr, für andere zu leben. Das Leben überschüttet uns mit Ereignissen, Gefahren und Aufgaben und so sind wir immer mit uns selbst beschäftigt. Während gleichzeitig die Zeit­ entwicklung auch die alten Umgangsformen zerbrochen hat, stehen wir somit ganz allein für uns und werden, ohne es eigent­ lich zu wollen, ja ohne uns dessen bewußt zu sein, reine Egoisten. Eben dadurch entfremden wir uns aber alle anderen Menschen und vereinsamen vollkommen. Wir verlieren die innere Verbun­ denheit und besitzen deshalb auch nur äußerlich gebrauchte, von niemand innerlich geschätzte Umgangssormen. Es fehlt uns alles, was von anderen Menschen mitfühlend, teilnehmend, liebend-ausmertsam gegeben werden kann und das ist außer­ ordentlich viel. Den Mitmenschen lernen wir nur als geheimen Gegner fürchten oder verachten, nicht als unseren Freund schätzen und wir verarmen dadurch in einem Grade, der schließ­ lich unerträglich ist. Dabei müssen wir in diesem ständigen Miß­ trauen und Kampfe einen Großteil unserer Kräfte verbrauchen; wir zerreiben uns an Widerständen, die unfruchtbar sind und vermieden werden können. Braun, Die Macht des Seelischen.

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Ein erster, zaghafter und vielleicht unkluger Versuch mag uns in der alten Anschauung bestärken. Man lächelt, obwohl innerlich dürstend, über den Idealisten, der die Hand an diese Wunde legt. „Die Menschen waren immer zu einem größten Teil Bestien", sagt man. Nichts ist unrichtiger als diese Behaup­ tung. Niemals standen sich die Menschen teilnahmsloser gegen­ über als heute, weil sie niemals ähnliche Entwicklungsverhält­ nisse dazu verführten. Wer die Brücke zu Mitmenschen schlägt, wird vielmehr bald bei ihnen dieselben Einsamkeitsgefühle vor­ finden und fast immer ergeben sich gemeinsame Fähigkeiten, die, gepflegt, eine Verbindung zulassen. Aus einen fteundlichen Akt wird man ost erstaunte, vielleicht auch mißtrauische, aber doch selten roh abweisende Mienen erfahren; eine gepflegte Be­ ziehung wird kaum Gelegenheiten der gegenseitigen Förderung entbehren; sie wird beide Teile mit Lebensinhalten erfreuen, die uns jetzt vollkommen mangeln und deren Fehlen wir jetzt als allgemeine Zeitskepsis empfinden. Es ist eine der größten Zeitaufgaben psychischer Art, die vie­ len Drücken zwischen den Menschen wieder herzustellen und durch bewußte Pflege von Beziehungen eine innere Verbundenheit aufzubauen, die sich dann in wahren, äußeren Formen von selbst realisieren wird. Der Umgang zwischen Menschen ist von größter psychischer Bedeutung; aber der gute, wahr empfundene Umgang kann sich erst kristallisieren, wenn die inneren Voraus­ setzungen dafür geschaffen sind. Alles äußerlich Ersonnene der Form ist unhaltbar und wertlos. Die Menschen werfen es von sich, weil sie die innere Unwahrheit verabscheuen. Auf drei großen Einzelgebieten mutz die Hygiene der Be­ ziehungen daher vor allem aufgebaut werden. Das erste Gebiet ist der allgemeine Umgang zwischen Menschen, wo alte, den kleinen Gemeinschaften früherer Zeiten angepaßte Formen zerbrochen sind und neue erst von innen her gefunden werden müssen. Das zweite Gebiet ist unsere Eheleben. Wir finden es heute in einer weitgehenden Zerrüttung; ein großer Teil der Ehen ist krank. Das hat seine natürliche Ursache int Psychischen. Denn die alte Ehe, die vielfach robusterer Art und stark von Süßeren

Bindungen abhängig war, ist von den gesellschaftlichen Fesseln weitgehend befreit, die Ehe ist mehr aus die Basis eines reinen Privatverhältnisses zwischen zwei Personen gestellt. Wir finden aus diesem Grunde heute viele Ehen von einer seelischen Inner­ lichkeit, die früher seltener war. Aber die Ehe ist dann in ihrem Bestand gefährdet, wenn diese Basis nicht gepflegt wird. Das Sexuelle kann die Ehe anbahnen und gründen; allein erhalten kann es die Ehe auf die Dauer nicht. Die Ehe kann nur bestehen als engste und innigste Beziehung und gegenseitige Förderung und Pflege, als eine seelische Heimat zweier Menschen in der Rastlosigkeit und Gleichgültigkeit einer ganzen Welt. Die Ehe ist wie jede andere Beziehung dadurch bedroht, daß auch zwischen Ehegatten die vielen subjektiven Unterschiedlichkeiten bestehen und wirken. Es gibt keine Ehe vollendeter Übereinstimmung. Nichts ist verhängnisvoller, als immer wieder dieses Idealbild, das es nicht gibt, aufzustellen und den Menschen blind zu machen gegen die Gefahren, die in der Variabilität der Menschennatur liegen. Wer eine vollkommene Harmonie erwartet, muß enttäuscht sein; es ist notwendig, die Gefahren des Subjektiven klar zu sehen, weil sie sich dann früh ausschalten lassen, vor allem durch Anerkennung, Pflege und Förderung glücklicher Be­ ziehungen. Werdenbie Gegensätze derNatur nicht erkannt, so hin­ terlassen die ersten Vorkommnisse schon kleine Wunden, in denen sich neue Zersetzungskeime festsetzen, bis es früher oder später zu größeren Szenen oder Katastrophen kommt. Heute frägt man meist erst dann, wenn die Vergiftung des Verhältnisses weit vorgeschritten ist, wieso es zu einer solchen Sachlage kommen konnte, da doch beide Teile den besten Willen hatten. Diese Frage gleicht der Verwundenmg darüber, daß man an einer Infektion sterben kann. Die Ehe hat in sich die Möglichkeit, eine der reichsten Quel­ len seelischer Gesundheit zu sein, weil hier die größte Unmittel­ barkeit gegeben ist. Aber sie kann ihre volle Wirksamkeit nur ent­ falten, wenn wir sie einerseits vor den ersten Versallskeimen schützen und anderseits soweit als immer möglich seelisch fördern. Sich selbst überlassen, muß sie in Gefahr kommen; die Verhält­ nisse unserer Zeit sind ein starker Kommentar zu diesem Satz. —. 11*

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Das dritte Gebiet endlich betrifft die Beziehungen beruflicher Art zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, Arbeit­ gebern und Arbeitnehmern. Auch hier sehen wir die seelischen Faktoren, wohl danun, weil sie nicht unmittelbar sichtbar sind, völlig beiseitegeschoben. Man stellt im beruflichen Verhältnis alles, auch sehr Neben­ sächliches, in Rechnung, nur nicht das seelische Moment und nimmt große Verheerungen und Schäden als Schicksal hin, statt ihren nicht selten zutage liegenden Ursachen nachzugehen. Zn vielfacher Hinsicht herrscht die reine äußere Gewalt. Es ist die Regel, daß man sich gegenseitig nicht einmal wirklich kennt und aneinander vorbeigeht wie Fremde. Der Unter­ gebene ist froh, wenn er seinen Vorgesetzten nicht zu sehen be­ kommt; der Obenstehende erläßt lieber aus der Abgeschlossen­ heit seines Arbeitsraumes Direktiven, als daß er sich unter seinen Leuten bewegt. Ein anderes Verhältnis wird überall besprochen — ein Beweis, wie selten es ist. Man glaubt sogar in vielen Kreisen, diese Art sei die fruchtbarste, ein eigentümlicher Trugschluß, der nur in Zeiten möglich ist, wo das Seelische eine sehr geringe Beachtung findet und wenig beherrscht wird. Wollte man einem Unternehmer zumuten, zu arbeiten, ohne die äußeren Bedingungen seines Betriebes zu kennen, also z. B. einem Fabrikanten, einen Betrieb zu leiten, ohne über die Gestellung der Rohmaterialien, über die Lage des Absatz­ marktes, über Neuerungen, Maschinen und Konkurrenzver­ hältnisse im klaren zu sein, so würde man verlacht. Einzig über den psychischen Posten darf er vollkommen ununterrichtet sein und doch ist die seelische Verfassung der Arbeitenden schon allein als Arbeitsfaktor von ausschlaggebender Bedeutung. Es kann durchaus nicht gleichgültig sein, wie die Leute arbeiten und die Leute können nicht unabhängig von ihrer seelischen Verfassung arbeiten. Die seelischen Momente berücksichtigen, heißt große Arbeitskräfte mobil machen, die sonst dem Werk verloren gehen. Ein Unternehmer, der Erfolg haben will, muß heute und in Zukunft immer mehr verstehen lernen, die seelischen Kräfte der Menschen, die unter ihm arbeiten, zu mobilisieren, was durch­ aus nicht allein in der plumpen Form einer kleinen Lohner-

Höhung möglich ist. Überall, wo es sich darum handelt, daß beste Arbeit getan wird — und die außerordentliche Weltkonkurrenz wird das auf allen Gebieten, auch den staatlichen, for­ dern, — ist es von Bedeutung, wie weit die seelischen Kräfte der Arbeitenden ersaßt werden durch eine hygienische, d. h. ge­ sunde Führung und wie weit all die Faktoren aüsgeschaltet werden, die, indem sie die psychische Aktivität der Menschen lähmen, auch den Erfolg des Unternehmens beeinträchtigen. Es mag Unternehmer und Führer geben, die diesen Faktor über­ sehen 311 können glauben; die Entwicklung wird sie anders be­ lehren, freilich manchen zu spät, wenn er längst in rückwärtige Stellungen abgedrängt ist. Insoferne dabei nicht mehr bloß das Interesse des Einzel­ nen, sondern jenes der Staatsgemeinschast auf dem Spiele steht, — denn auch der Staat als Ganzes untersteht heute den großen Gesetzen der Konkurrenz — münden die Überlegungen hier unwillkürlich in unser zweites größeres Gebiet.

Psychologie und Staatsleben. Der Staat ist heute der natürliche Einzelverband von Menschengruppen. Am Anfang war es die Sippe, später wurde es die Gemeinde, dann, unter den ersten Diktaten des Handels und Verkehrs das Stammesvolk. Heute, in dem großen Raum der Weltwirtschaft, heißt die natürliche Einheit der Staat; viel­ leicht wird sie in nicht allzuferner Zeit durch eine noch umfassen­ dere Organisation abgelöst. Die Ursache der Erscheinung sind die jeweiligen Formen der Lebensbedingungen; die Auswirkung sehen wir in der Geschichte vor uns. Der Staat ist die den Ausmaßen der Weltwirtschaft ent­ sprechende heutige Einheit. Das natürliche Interesse des Staa­ tes liegt in der Obsorge, sich zu erhalten und seine Lebensver­ hältnisse zu verbessern. Er muß also sein Augenmerk sowohl auf die Außenwelt wie aus die Verhältnisse im Innern richten, muß Außen- und Innenpolitik treiben, wie wir heute sagen; die Erfolge, die er hier erzielt, und die Rückschläge, die er erleidet, entscheiden über Wohl und Wehe der Millionen die in ihm,

vereint sind. Beide sind daher auch maßgebend für die Beur­ teilung der Führenden. Nicht die äußere Staatsform als solche verbürgt schon den Erfolg, sondern die Art und Weise, in der Geführte und Führende arbeiten und leben, d. h. in der sie den besonderen Verhältnissen gerecht zu werden wissen. Dabei begegnet uns wieder dieselbe eigentümliche Er­ scheinung, daß in Außen- und Innenpolitik zwar allen sachlich­ äußerlichen Umständen nachgegangen wird, daß aber die see­ lischen Faktoren so viel wie gar keine Beachtung finden, obwohl sich daraus seit Jahr und Tag und in unserer Zeit der größten Lebensrevolution doppelt tragische Ereignisse ablösen. Der moderne Staat sieht sich in der eigentümlichen Lage, von einer ganzen Zeitgenossenschaft abhängig zu sein. Für ihn sind die Weltereignisse nicht interessante Vorgänge, sondern unmittelbare Lebensfaktoren und er muß sie als solche werten. Er muh über alles draußen in der Welt im Bilde sein, nicht allein durch ein Wissen um die einzelnen äußeren Vorgänge, sondern vielmehr durch ein Verstehen der Bewegungen, aus denen diese Vorgänge hervorgehen. Die großen Weltereignisse haben alle ihre bedeutsamen, lebensorganischen Wurzeln und diese Wurzeln müssen erkannt sein, wenn man die Vorgänge richtig sehen und würdigen will, gnsoferne nun diese Wurzeln vielfach psychischer Art sind, ist ein Beherrschen psychoorganischer Zusammenhänge von ausschlaggebender Bedeutung. Unwillkürlich entsteht hier immer wieder die Gefahr der Sympathie oder Antipathie. Beides sind aber nur relative Werturteile, von allen möglichen Augenblickskonstellationen bedingt, keine sachlichen Einsichten. Zu- oder Abneigung gibt an, wie sich Außenverhältnisse zu unseren subjektiven Anschau­ ungen verhalten; sie geben aber nicht an, wie sich draußen Ur­ sache und Wirkung abspielt und sie sind daher zu einer Deurteilung der Verhältnisse, die für das Staatsleben von Einfluß sind, untauglich. Für den, der im Dienste des Staatswohles arbeitet, kann es sich nicht um Antipathie oder Sympathie handeln, sondern nur um die Klarheit über die Eigenart, Stärke und Richtung sachlicher und psychischer Strömungen im Auslandsgeschehen.

Dabei handelt es sich aber ebensowenig wie bei unserem internen Geschehen um rätselhafte Zufälligkeiten; auch dort herrschen im Seelischen die großen psychischen Zusammenhänge und es ist lediglich unsere subjektive Beengtheit, wenn wir statt zu­ sammenhängender Geschehnislinien überraschende, uns zu­ fällig erscheinende Wendungen erleben. Sehr oft ist die Bericht­ erstattung psychisch unzulänglich; sehr oft auch vermag das heimische Denken fremden seelischen Konstellationen nicht zu folgen. Es schleichen sich immer wieder gewohnte, aber nurstammeseigentümliche Folgerungen ein und verwehren dem Blick die getreue Einsicht. Alle diese Gefahren müssen erkannt und über­ wunden werden, wenn sich ein Staat erhalten und fördern will. Hier ruht die staatsmännische Größe Bismarcks, der viele Strömungen erkannt und richtig eingesetzt hat. Nun kann es sich aber heute nicht mehr darum handeln, daß lediglich der Mann an der Spitze der Außenpolitik über diese Einsichten verfügt, schon darum nicht, weil er von der Ge­ samtheit getragen werden muß. Mindestens alle führenden Schichten des Volkes müssen ebenfalls in dieser sachlichen Richtung zu denken lernen, nicht, weil es irgendeine Lehre fordert, sondern weil der Staatserfolg auf Seite desjenigen Volkes ist, das dieser Zeitersordernis am meisten Rechnung trägt und weil ein Übersehen dieser Zeit­ ausgabe sich schließlich am gesamten Staatswohl rächen muß. Man kann derartige Zeitersordernisse verkennen, aber man ent­ geht nicht den natürlichen Folgen dieses Irrtums. Die Ge­ schichte der letzten hundert Jahre ist allein voll derartiger Fehler und Folgen, weil sie ja die Geschichte eines Evolutionszeitalters ist. Ein Staat, dessen Oberschichten und Massen in primitiven Vorurteilen, subjektiven Schätzungen, unzulänglichen Einsichten und phantastischen Vorstellungen vom Auslandsgeschehen da­ hinleben und dementsprechend seine politischen Posten besetzen, kann schwerlich bei dem organischen Zusammenhang alles Le­ bens und der großen wirtschaftlichen und geistigen Verbunden-, heit der Völker seine Stellung wahren und verbessern; er wird von schärfer blickenden und urteilenden Nationen überflügelt, abgedrängt und damit zu allen Folgen dieses Verlustes ver-

urteilt. Vergebens wird das Volk dann den einen oder anderen Namen anklagen. Was uns daher nottut, ist nicht so sehr ein Wissen um Namen von Städten, Ländern und Flüssen, worauf man sich heute im Weltkundeunterricht der Schulen, in beschreibenden Werken für Erwachsene noch immer beschränkt — eine Gewohnheit aus der Zeit, in der es sich nur um Interessantes, nicht um Interessen handelte — als vielmehr um die Einsicht in die besonderen Le­ bensbedingungen und seelischen Strömungen von Völkern, die wir heute fremde nennen, obwohl wir ihnen ebenso verbunden sind als unseren eigenen Landsleuten. Das außenpolitische Wissen und Verständnis weiter Volks­ schichten ist sachlich und psychisch eine unmittelbare Voraus­ setzung für die Führung einer guten Außenpolitik des Staates. Aber dieselben Verhältnisse und Forderungen bestehen nicht minder auf dem Gebiete der Innenpolitik. Unsere gegenwärtige Innenpolitik ist nicht viel mehr als ein Kamps aller gegen alle, ein Aufreiben der Volkskräste an inneren Spannungen. Alles und jeder denkt und kämpft nur für sich; die Parlamente sind die Schauplätze dieses Vorganges, weshalb denn auch viele dieses System oder die Parlamentarier selbst anklagen. Aber die Sitzungssäle sind nur Brennpunkte, in denen ein Zeitgeschehen sichtbar wird. Wer die Parlamente abschafst, hat nur die Spiegel zerbrochen, nicht die Erscheinung als solche überwunden. Wir stehen in unserer Innenpolitik vor der einfachen, mathematisch-psychologischen Tatsache, daß wir einen unnatür­ lich hohen Hundertsatz der Volkskräste gegenseitig wertlos neu­ tralisieren und uns dieses seelische Kapital daher auf anderen Gebieten mangelt. Das Auskommen dieses enormen Schadens ist allein dadurch verständlich, daß man dieses Kapital weder kennt noch schätzt. An sich ist er nicht notwendig. Wie im einzelnen Menschen die Dispositionen und äußeren Geschehnisanlässe zu größeren Geschehnislinien zusammen­ fließen, so entwickeln sich auch in Völkern dervrtige Konstella­ tionen und Ereignislinien, die natürlich bedingt sind und ihren psychischen Ablauf haben. Auch hier handelt es sich nicht um

Zufälligkeiten und geheime Abmachungen, sondern um orga­ nische Prozesse, die ihre Ursache und ihre Entwicklung haben und die man erschauen muß, wenn man das äußere Geschehen, das aus ihnen hervorgeht, begreifen will. Das Psychische ist an diesen Geschehnislinien ganz außerordentlich beteiligt; ost ist es die stärkste Wurzel. Das Leben im Volke spielt sich weder sinnlos-zufällig, noch im Sinne erdachter und willkürlich herbeigeführter Verhältnisse ab; es unterliegt vielmehr den Geboten der bestehenden Bin­ dungsformen. Das Leben eines Volkes setzt sich aus vielen Ge­ schehnislinien zusammen, deren jede in wirksamen Bindungen ihre Ursache hat; Volksbewegungen sind organische Ereignisse, bedingt durch die Sachlage, in der sich Volksteile finden, und durch die psychische Konstitution, in der sie dieser Sachlage gerecht werden sollen. Wer Volksbewegungen in ihrem Wesen ver­ stehen will, der muß daher die sachlichen Untergründe absehen, aus denen sie hervorgehen, und auch die psychischen Verhältnisse, in denen sie reisen. Es ist ein völlig unzulängliches und zu den schwersten Irrtümern führendes Gebaren, solche Bewegungen lediglich nach subjektiven Ansichten zu beurteilen; denn dadurch wird nur festgestellt, wie sich ein einzelner Mensch oder eine kleine Gruppe von Menschen zu der Bewegung verhält, aber nicht verstanden, welch ein Vorgang hier abläuft und zu welchen Zielen er nach seiner Eigenart drängt. Während die subjektive Meinung ihre Sonderschlüsse zieht und zu realisieren trachtet, wächst aber die Bewegung nach ihren Eigengesehen und es geht jener mögliche Einfluß, der aus einem wahren Verstehen er­ wachsen kann, ebenfalls verloren. Das Anschwellen der sozialisti­ schen Bewegung im 19. Jahrhundert und das Verhalten der maßgebenden Persönlichkeiten ihr gegenüber ist ein ebenso großartiges als tragisches Beispiel hiezu. Es liegt in der Natur der Sache, daß aus dem Leben des Volkes Bewegungen erstehen, die dem Staatsganzen, d. h. dem Wohle der Gesamtheit dienstbar und andere, die ihm schädlich sind. Das kann nicht int absoluten Sinne gelten; denn alles Dienstbare hat auch schädliche Komponenten und alles Schädliche nützliche. Es kann sich nur um ein Vorherrschen handeln.

Beide Gruppen von Erscheinungen, nützliche und schäd­ liche, fördernde und hemmende, erwachsen nach organischen Zu­ sammenhängen. Sie sind nicht von Anfang an in ihrer mäch­ tigsten Erscheinungsform da, sondern sie ciitoiddn sich auersten Anfängen. Diese Anfänge sind charakterisiert durch eine entstehende Sachlage und durch das Auftreten von Persönlich­ keiten, die zuerst und vor den vielen anderen das seelische Ver­ mögen zur Beachtung dieser Sachlage mitbringen. Dies trifft unabhängig vom Inhalt der Bewegung zu, sei sie nun gewerb­ licher, politischer, künstlerischer, technischer, religiöser Art. Das Auftreten von Persönlichkeiten mit irgendwelchen neuen Ideen­ inhalten — für den Kundigen nicht allzuschwer zu unterscheiden von Leuten, die keinen Inhalt haben und nur originell sein wollen — ist ein Symptom. In ihm wird für den Außenstehen­ den eine Lebenslinie erkennbar und die Gesamtheit mutz daran ein Interesse haben, das Mesen dieser neuen Entwicklungslinie zu verstehen. Mir sind längst gewohnt, Symptome auf anderen Gebieten, z. B. auf dem gesundheitlichen, zu beachten. Mir warten heute in der Regel nicht, bis eine physische Krisis ihren Höhepunkt erreicht hat, sondern beachten bereits ihr erstes Auf­ treten, erkennbar an bestimmten Merkmalen, weil wir wissen, datz unsere Macht in diesem Stadium größer ist als im späteren des Höhepunktes. In demselben Sinne muh die Gemeinschaft ein Interesse haben daran, welche seelischen Bewegungen (im allgemeinen Sinne) in ihren Reihen erwachsen und sie darf sich nicht damit begnügen, lediglich vorschnelle, subjektive Urteile darüber abzugeben. Sie muh in das Mesen solcher Erscheinun­ gen einzudringen versuchen; es handelt sich um Vieles, vielleicht um ihren Bestand. Wird sie aber das Wesen gewahr (nicht allein die eigene persönliche Einstellung), dann mutz in den besten führenden Köpfen auch die Richtung einer solchen Linie sichtbar sein und daher ermessen werden können, wieweit und in welchem Sinne das Wohl der Gesamtheit davon betroffen wird. Es mutz sich das sachliche Urteil einstellen. Dieses Urteil aber entscheidet auch darüber, ob Mah­ nahmen zur Förderung einer Bewegung oder andere zu ihrer

Ablenkung nötig sind und welcher Art solche Maßnahmen sein können. Erst wenn man die Erscheinung in ihrem Gehalt ver­ steht, kann man dahin gelangen, sie wahrhaft zu fördem oder zu bekämpfen. Wenn man um die sachlichen und psychischen Unter­ gründe Bescheid weiß, ist man erst aus dem Wege, fördernd oder hemmend eingreifen zu können, während alle Maßnahmen, die nur aus einem persönlichen Verhältnis und mit Mitteln der äußeren Gewalt einsetzen, immer andere als die gedachten Fol­ gen nach sich ziehen. Das beengte, subjektive Urteil ist unfähig, zu entscheiden und zu lenken; äußere Macht ist untauglich, see­ lische Bewegungen irgendwelcher Art zu fördem oder zu unter­ binden. Aus dieser Erkenntnis heraus allein ist der bekannte Satz W. v. Humboldts zu verstehen, der Staat möge sich jeg­ lichen Einflusses auf Bewegungen enthalten und sich lediglich auf Derwaltungsaufgaben beschränken. Der seelisch reiche Staatsmann muhte klar erkennen, daß die Staatsgewalt, wie er sie täglich sah und kennen lemte, unfähig sei, in seelischen Fragen zu urteilen und glücklich einzugreifen; er muhte alles be­ fürchten, wenn diese Maschine sich des Seelischen bemächtigt hätte. Allein ganz zu Unrecht wird dieser Sah rein äu ßerlich, wie er auf dem Papier steht, in der allgemeinsten Form übernommen. Wenn der Staat die Gemeinschaft bedeutet, dann hat er un­ mittelbar ein Interesse an seinen Lebenserscheinungen; die Allgemeinheit kann nicht dazu vemrteilt sein, alles dem Zufall zu überlassen, so wenig der einzelne Mensch gut tun wird, von heute auf morgen gedankenlos dahinzuleben und sich davon die beste Entwicklung zu erhoffen. Die Allgemeinheit muß Bewegungen, die ihr dienen, nach ihren Möglichkeiten fördern, muh seelische Faktoren, soweit sie aufbauender Tendenz sind, davor bewahren, sich erst mühsam den Weg durch die Nichtbeachtung zu bahnen und so die besten Kräfte schon am Anfang, ehe es zur eigentlichen Wirksamkeit kommt, zu verbrauchen (wie oft sehen wir Gmppen von Leuten, die das Beste wollten und konnten, als verbrauchte Greise an einem Ziel, von dem aus sie ftüher etwas geleistet hätten); die Allgemeinheit muh Bewegungen destruktiver Richtung früh­ zeitig erkennen und Mittel suchen, um sie innerlich abzulenken.

In beiden Richtungen, im Aufbauenden und im Hemmen­ den, spielt die Beachtung der seelischen Faktoren eine grohe Rolle. Nur wer hier klar sieht, begreift den Vorgang. Derartige Gedanken wollen uns heute phantastisch, un­ durchführbar erscheinen. Mit demselben eigentümlich erhabe­ nen Lächeln, mit dem einst frühere Generationen die Idee be­ dachten, verheerende Epidemien natürlich bedingte und bei sachlicher Einsicht mit natürlichen Mitteln bekämpfbare Er­ scheinungen zu nennen, nicht unabwendbare Schicksalsschläge, der Menschheit zu irgendwelchen Zwecken auserlegt; mit eben der Scheu, mit der man bezweifelte, ob der menschliche Ver­ stand sich an Erscheinungen wagen dürfe, die seit uralter Zeit immer in der bisherigen Weise aufgetreten waren: mit eben diesem Lächeln und dieser Scheu, die wir an jenen Altvordern unverständlich finden, bedenken wir heute die Frage, die see­ lischen Erscheinungen sachlich zu untersuchen und zu lenken, ob­ wohl wir mehr als deutlich, nämlich katastrophal, die Folgen der Nichtbeachtung an unserem Leibe verspüren. lind doch kann es keine andere Überwindung vieler Zeit­ erscheinungen, über die zu klagen wir nicht müde werden, geben, weil diese Zeiterkcheinungen in der Nichtbeachtung des Seelischen wurzeln und also auch nur von hier aus wahrhaft überwunden werden können.

Psychologie und Erziehung. Die Idee der Organischen Psychologie in der Frage der Bildung unserer Jugend — damit soll ihr Wirten noch in einem Sonderkreise gezeigt werden. Es wlll freilich erscheinen, als sei darüber seit mehr als einem halben Jahrhundert reichlich viel geschrieben worden. Weil Erziehung und DUdung in weitgehendem Matze seelische Arbeit in sich schliehen, mußte das Psychische hier zuerst prak­ tische Beachtung finden. Die pädagogische Psychologie war die erste und ist im Grunde bis heute einzige, weitwirkende prak­ tische Ausübung von Erkenntnissen des Seelenleben». Auf andere Gebiete des Lebens griff die Psychologie nicht über;

mit Ausnahme der Psychologen und der Lehrer weiß die ge­ bildete Welt nichts von Psychologie und sieht in ihr nur das Fachstudium jener engen Kreise, nicht eine die Öffentlichkeit interessierende Angelegenheit. Aber auch in der einzigen, praktischen Auswirkung kam es nur zu Teilergebnissen. Die Psychologie hat nur den Lernvor­ gang schärfer erkennen lassen und die vielen Anterrichtsmethoden hervorgerufen. Sie hat die Aufgabe ergriffen und wenigstens zu einem Teil gelöst, das ungeheure Wissen, das uns das 19. Jahrhundert gebracht hat und das man in möglichster Ausdeh­ nung an die Kinder herantragen will, weil man den Wissenden für den Gebildeten hält und tatsächlich das moderne Leben ein breites Wissen voraussetzt, wirklich auf die jungen Gehirne zu übertragen. Ohne Psychologie wäre es nie möglich gewesen, in Prüfungen jenen Umfang von Wissen sestzustellen können, wie es jetzt geschieht. Für das Lernen hat die Psychologie Wege zu finden ge­ wußt. Aber vieles andere, was kaum weniger zum Begriff der Bildung und zu einer achtenswerten Führung des Lebens nötig ist, wurde von ihr wenig beeinflußt und wird heute von den Erziehenden in eben der naiven Weise geübt oder nicht geübt als es vor dem Auftreten der pädagogischen Psychologie ge­ schah. Das Bildungswesen geht in seiner Theorie und theo­ retisch fundierten Praxis vorüber an der Tatsache, daß die Fu­ gend die Schulbücher verächtlich beiseite legt, wenn sie nach Hause kommt; daß sie sich, obwohl sie Naturkundeunterricht genießt, draußen in der Natur nicht anders bewegt als jemand, der nichts gelernt hat; daß das gelernte Wissen schon in kurzer Zeit verfallen ist; daß die wahre Teilnahme der Kinder völlig anderen Dingen gehört als denen, mit denen sie sich schulmäßig befassen soll; daß aus gebildeten Kreisen Geschehnisse bekannt werden (oder als offene Geheimnisse die Runde machen), die wenig mit Bildung zu tun haben; daß durch die Verbreitung des Schulwissens keinerlei Verbesserung der Lebenshaltung, keine Verinnerlichung erreicht wurde, die nicht ohne sie auch bestanden hätte; daß eben nur eine Umstellung des Denkens, die gewiß nötig, dienlich und notwendig war, eintrat, aber die

Bildung des Volkes als Ganzes keinen Fortschritt erzielen konnte. Allgemeine Schulbildung und die Lebensführung desselben Volkes der seelischen Qualität nach sind heute ein Begrisfspaar, das nicht davon zeugt, daß die Bildungsfrage gelöst ist. Sowohl unsere gesamte Bildungsorganisation, wie unsere Bildungsarbeit und ihre psychologische Fundierung ge­ hören einer vergangenen Epoche an, sind aufgebaut auf den Lebensformen des 19. Jahrhunderts und entsprechen daher nicht mehr den Erfordernissen des 20. Es heißt also nicht, die vielen psychologischen Darstellungen zur Erziehungssrage noch einmal neu ummodeln und servieren, es heißt vielmehr, das Verhältnis zwischen Erziehung und Psychologie in einem anderen Lichte aufzeigen, wenn die Frage im Rahmen unserer bisherigen Überlegungen behandelt wird. Die Organische Psychologie läßt uns das Seelenleben als bewegtes Geschehen, als Funktionsfülle eines Willens in der Mannigfaltigkeit des Lebens und äußeren Geschehens begreifen. Sie erblickt seelischen Reichtum in der Vielfalt und Tiefe dieser Funktionen, bedingt vor allem durch eine reiche Entwicklung tragsähiger Dispositionen, seelische Armut aber in einer ge­ ringen Aktivität als Folge des Mangels oder der Verkümmerung angeborener Fähigkeiten. Sie sieht den Menschen als seelisch gesund, glücklich und gebildet leben, der durch seine seelischen Fähigkeiten aktiv, gestaltend, beglückt lebt, während sie die Enge, Anproduktivität und Unzufriedenheit als ein psychisch unge­ sundes Stadium anspricht. Das Ungesunde besteht darin, daß wesentliche Dispositionen verkümmert sind und so die normale (diesem Menschen normale) Funktionsfülle und seelische Be­ wegtheit nicht besteht. $>ct Mensch ist dann aus Teilatmung, wenn man so sagen kann, angewiesen; mit den seelischen Fähig­ keiten schwindet die Fülle des Weltbildes und es bilden sich krankhafte Ballungen. Wenn das psychische Fiel des Erziehungsvorganges dem­ entsprechend eine reiche Aktionsfähigkeit des Willens ist (die natürlich auch von sachlichen und von ethischen Grundsätzen beeinflußt sein muß), so kann der Bildungsgang in nichts ande­ rem bestehen, als zwischen Leben und Willen möglichst viele und

günstige Verbindungen herbeizusühren und zu pflegen, damit sich in solchen Verbindungen ständig echte, psychische Prozesse entwickeln und Dispositionen entfalten. Die Bildung des jun­ gen Menschen vollzieht sich in natürlicher Bewegtheit seines Willens durch Impulse, Vorgänge, Lebensinhalte, die ihm von außen zufließen und zu denen er eine seelische Beziehung aus­ zunehmen vermag. Die Begünstigung derartiger Verbindun­ gen ist die wesentliche Arbeit der Erziehenden, negativ ausge­ drückt die Verhinderung jener Prozesse, die den Werdevorgang ungünstig lenken. Es ist nötig, diesen Unterschied zwischen dem bisherigen Lern-, bzw. Erziehungsbegrisf und dieser neuen Fassung noch näher zu beleuchten, weil sich auf ihm alles Organisatorische aufbauen muß. Wählen wir zur Veranschaulichung die Vorgänge bei einem 1l jährigen Volksschulkind. Es sei ein Knabe. Er entstammt einer bürgerlichen Familie und soll eine tragbare Stellung erlernen. So denken's die Eltern, die das Leben in ihrer reiferen, erfahrenen Weise sehen. Dieses selbe Leben sieht aber im Bewußtsein des Kindes ganz anders aus, d. h. seine Totalität existiert dort überhaupt nicht. Der Wille des Kindes hat jene Formung, die ihm gestatten würde, das Leben und seine Zusammenhänge zu sehen, noch nicht erreicht; seine Dispositionen sind nicht genug entwickelt und so gibt es die Welt in der Art, wie sie die Eltern sehen, für das Denken des Kindes noch nicht. Die Erwachsenen täuschen sich ständig darüber; sie reden aus ihrem Denken heraus und nehmen stillschweigend an, was ihnen sichtbar und verständlich sei, müsse es auch dem Kinde sein. Sie wissen nicht, daß man alles, was man weiß und begreift, nur soweit weiß und versteht, als die eigene Willenskraft dies vermag, das Kind aber diese Kraft noch nicht haben kann. Die Eltern schicken also den Knaben zur Schule in der An­ nahme, er müsse dort „fürs Leben" lernen, d. h. das lernen, was er im Leben benötige. Ein eigentümlicher Irrtum, der zugleich verhängnisvoll ist, wenn ihn auch die Schule teilt. Denn während der Knabe zur Schule geht und sich in ihren Räumen

aushält, muß notwendig sein Leben und seelisches Geschehen in den Formen und Inhalten ablausen, die der Natur ent­ sprechen. Die Erziehungsarbeit der Eltern und der Schule geht an der wahren Entwicklung dieses kleinen Willens vorüber und gibt sich einer Täuschung hin. Es gibt im Leben des Kindes dann gleichsam zwei Entwick­ lungen: eine wirkliche unter dem Gebot des anslutenden Um­ weltgeschehens und der kindlichen Verarbeitung dieser Ereig­ nisse, und eine scheinbare unter dem Zwang der Erziehung. Die eine ist echt und nachhaltig, die andere falsch und vergänglich. Dieses Doppelgesicht tritt für jeden, der es sehen will, überall in Erscheinung. Der Knabe lernt in der Religionsstunde und auch bei anderen Gelegenheiten, man dürfe seinen Nächsten nicht mißhandeln; auf der Straße verhaut er noch vor dem Schulhaus seinen Kameraden« Er hört zu und wiederholt aus Verlangen, aus welchen Ursachen die Französische Revolution erstanden ist; aber gleichzeitig muß sein Lehrer acht haben, ob er nicht heimlich mit einer Kinderschleuder oder einem Knet­ gummi oder einem Reklamebildchen spielt. Er lernt die wesent­ lichen Eigentümlichkeiten einer deutschen Stadt und denkt, un­ gewollt darüber nach, wieviel er seinem Freunde anbieten wird, damit er sein Fahrrad nach der Schule einmal benützen darf. Er müht sich mit Prozentrechnungen ab, kann aber zu Hause zwar mit einem anderen Knaben vorteilhaft tauschen, aber seiner Mutter keine drei Besorgungen erledigen. Er zeigt all dem Lesestoff und den Aussätzen und Rechtschristen und Zeichen­ ausgaben gegenüber immer dasselbe unbewegte Gesicht, eine monotone, aber eindringliche Klage und Abwehr; aber sein Auge bekommt Glanz, sobald es zum Spiel aus die Wiese geht oder zum Basteln in die Werkstätte. Der Grund ist ein seelischer. (Ein furchtbarer Irrtum, daß man immer annahm, es sei ein böswilliger t) Wenn der Knabe ein Reklamebild sieht, aus dem eine interessante Stellung beim Fußballspiel abgebildet ist, und wenn er gar dieses Bild für seine eigene Sammlung ersteht, so gehen echte, psychische Pro­ zesse vor sich. Dieses Leben spricht dieses Knabenbewutztsein an, mit der Disposition erwachsen Vorstellungen, Erinnerungen,

Gefühle, die ganze Welt, die im Knaben tobt, wenn er selbst Ball spielt, durchflutet ihn von neuem und dazu kommt noch das echt kindliche, dem naiven Besitztrieb entgegenkommende Mo­ ment des Sammelns. Hier ist eine echte Verbindung zwischen Geschehen und Kindbewußtsein aktiv, was gleichbedeutend ist damit, daß der Knabe denkt, phantasiert, wünscht, strebt, etwas will und — für alles andere taub ist. Wird aber diesem kindlichen Bewußtsein ein historischer oder erdkundlicher oder rechnerischer Stoss vorgesagt oder er­ klärt, so ist das psychische Bild ein vollkommen anderes. Erstens ist schon die Darstellung einer Sache nicht dasselbe wie die Sache selbst. Einen Krieg mitmachen oder von einem Krieg, etwa gar in Übersichten, reden hören, ist etwas Grundverschiedenes. 21m aus einer Rede oder auch einem Bild das Leben zu schöpfen, dazu gehört eine große seelische Reise, über die selbst viele Er­ wachsene nicht verfügen. Beim Kinde fehlt aber nicht nur diese Kraft der Rekonstruktion, es kann überhaupt zu den meisten derartigen Stoffen kein Verhältnis gewinnen. Warum die Lerche grau ist, welche Volksschichten es bei den Germanen ge­ geben hat und wieso man für ein Kapital 4 oder 6% Zinsen bezahlt und bezahlen kann, das sind Dinge, die dem kindlichen Vermögen absolut ferne liegen. Es kann zu ihnen keine see­ lische Verbindung aufnehmen, weil alle psychischen Voraus­ setzungen dazu fehlen, und also kann es weder zu echten, psy­ chischen Prozessen, noch zu einer wirklichen Entwicklung der Seelenkräfte kommen. Was sich abspielt, ist vielmehr etwas völlig Andersgeartetes. Zunächst entsteht, namentlich bei den stärkeren Naturen, aber nicht bloß bei ihnen, ein natürlicher Widerwillen. Die Natur wehrt sich gegen die Vergewaltigung. Sie wird von psychischen Prozessen, zu denen sie eben hindrängt, abgehalten und sie soll eine Verbindung ausnehmen, zu der die Voraussetzungen fehlen. Sie fühlt sich in ihrer Richtung gehemmt und zu der befohlenen nicht hingezogen. Diese Tatsache tritt als Widerwillen in Er­ scheinung, eine psychische Konstellation, die allein ungün­ stig wirkt. Zedermann erinnert sich aus eigener Erfahrung an Situationen, in denen er diesen Widerwillen verspürte, wenn Braun, Sie Macht bes Seelischen.

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er plötzlich zu einer Umstellung gezwungen wurde, auch in Fällen, in denen die neue Denkrichtung an sich nicht unsym­ pathisch war. Die Natur will die Prozesse, in denen sie be­ sangen ist, durchleben. Das Kind ist derartigen seelischen Konstellationen doppelt überantwortet; anderseits läßt es sich allerdings in seiner sinn­ lichen Gebundenheit eher lenken als der Erwachsene. Dem Lehrenden mag es daher gelingen, durch ein geschicktes Vor­ gehen das Kind einigermaßen einzustellen. Indes kommt sehr bald die kritische Situation: das Kind will in der Richtung des Unterrichtsstoffes denken — vielleicht, weil es wirklich ange­ lockt ist oder weil es folgen will oder weil es sich fürchtet oder weil es der Suggestion der Klasse untersteht. Aber es kann see­ lisch nicht wahrhaft erleben. Zwischen dem kindlichen Willen und dem vorgetragenen Unterrichtsstoff entsteht keine Ver­ bindung in dem Sinne, den der Lehrende erwartet. Es wird sich meist ein Doppeltes einstellen. Zunächst eine falsche Verbindung. Die psychische Konstitution des Kindes wählt aus dem Stoff etwas aus, was ihr sinngemäß ist, irgend­ ein Teilgeschehen, und verarbeitet es durch reichliche Phantasie zu einer kindertümlichen Form. Die Disposition des Kindes ist angerufen, an einem Minimum von äußerem Einfluß ent­ zündet sie sich zu einer Aktivität und bewirkt im Bewußtsein Vorstellungen und Gefühle, die sehr lebhaft sein können, aber von den Vorstellungen und Gefühlen, die der Unterricht er­ zielen wollte, weit entfernt sind. Stellt der Lehrer die Aufgabe, das Gelernte zu wiederholen, so treten dann diese subjektiven Gestaltungen aus, die ihn, wenn er naiv denkt, zur Verzweiflung bringen, die ihm aber, wenn er psychologisch wägt, den wahren Vorgang verraten. Zeigt er z. B. ein Bild vom Straßenleben einer fremden Stadt, so hat das Kind nicht das Typische dieser Straße gesehen, sondern einen Radler, der zufällig mitphoto­ graphiert wurde; spricht er von den Kämpfen in den Helden­ sagen, so wird im Denken des Kindes alles zu einer Keilerei, wie sie unter Knaben stattfindet; erzählt er von großen Übersee­ dampfern, so nehmen sie in der Vorstellung des Schülers Riesenformen an, die aller Wirklichkeit spotten.

Diese Art Verbindung hat aber noch den Vorteil einer wahren Aktivität. Es kommt zu Prozessen, Vorstellungen und Gefühlen. Der zweite Vorgang, der sich einstellt, irrt überhaupt vom Unterrichtsstoff ab. Weil die Seele nicht angesprochen wird, gelangt sie, ohne daß der Schüler es will, ost auch nur weiß, aus Abwege und beschäftigt sich in ihrer Art. Plötzlich bemerkt der Schüler einen Kaminkehrer aus dem Dache des Nachbar­ hauses und verfolgt eifrig seine Bewegungen, oder er sinnt, während er vorschriftsmäßig in seiner Bank sitzt und den Lehrer anschaut, eigenen Gedanken nach und wird dann unliebsam durch eine Frage des aufmerksam gewordenen Lehrers heraus­ gerissen. Zu Unrecht wird dem Schüler dann eine Rüge er­ teilt. Er wollte nicht abirren; er hat es selbst erst im Augenblick, als er gerufen wurde, bemerkt, daß er etwas Fremdes dachte. Die Natur ist schuld, die einen ungangbaren Weg verlassen und einen gangbaren betreten hat. Die Schule hat bisher derartige psychische Zusammenhänge auf das Schuldkonto des Kindes gesetzt, weil sie der naiven An­ schauung war, es bedürfe nur des „guten Willens", damit sich Derartiges nicht ereigne. Sie wähnte daher auch, mit Strenge und Strafmitteln diesen Erscheinungen steuern zu können und wurde nicht müde, geradezu den Großteil ihrer Kraft in diesem täglichen Kleinkrieg zu verbrauchen. Sie hat viel Zeit und En­ ergie geopfert, um den kindlichen Willen immer wieder in dieser Richtung zu biegen, was aber nie gelingen konnte, weil das kindlich-bewußte Wollen gar nicht die Ursache war. Dagegen erreichte sie durch diese Unermüdlichkeit, daß den Kindern die Schule mehr oder minder ein Ort des Unbehagens, wenn nicht des Schreckens wurde; denn da das kindliche Willensleben ständig abgehalten wurde, seine natürlichen Bahnen einzuhalten und gezwungen wurde, falsche Wege zu gehen, steigerte sich der Widerwille des Einzelfalles zu einem allgemeinen Wider­ willen gegen die Schule und, die verhängnisvollste Wirkung, zu einer Abneigung gegen alles, was die Schule erstrebte. Das ganze Wissen und Können, der Fleiß und die Arbeit und Moral, alles das bekam einen bitteren Beigeschmack und wurde daher, sobald die Freiheit erreicht war, über Bord geworfen, 12*

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bis vielleicht später einmal, bei manchen aber niemals, die Er­ kenntnis dämmerte, daß diese Dinge im Grunde nicht so ver­ abscheuenswert seien ate man sie empfand. Nun konnte es natürlich, wenn Kinder zehn Fahre lang täglich zur Schule gehen, nicht allein zu einem phantastischen Lernen und zu einem Abirren in persönliche Gedankenwelten kommen, es mußten auch Ergebnisse positiver Art erreicht wer­ den. Aber dieses Wissen, das in Prüfungsarbeiten „present sein mußte", ist in das Leben nicht um seiner selbst eingezogen, sondern unter einem Druck anderer Art. Die Kinder und Stu­ denten haben gelernt, um gute Zeugnisse zu bekommen, um der Strafe zu entgehen, um sich ein Lob zu erobern, um einen Be­ rechtigungsschein zu besitzen. Das alles sind echte Lebenslinien und haben daher Gewalt. Hier liegen Faktoren eindringlicher Art vor und in der Auseinandersetzung mit ihnen wurden ge­ wisse Vorstellungen gelernt, befohlene Fähigkeiten geübt. Nicht die Sache an sich bestimmte Arbeit, Fleiß und Erfolg, sondern die Folge, die mit Können und Nicht-Können verbunden war. Die Aneignung des Wissens war nur Mittel zum Zweck. So­ bald dieser Zweck erreicht war, wurden Buch und Arbeitspult verschlossen und das Denken und Streben wandte sich ausatmend jenen Gebieten zu, die wahres Erleben bedeuten. Daß diese Gebiete meist extrem entgegengesetzt lagen, beweist noch ein­ mal die Annatürlichkeit des Druckes. Wenn die Organische Psychologie diese Zusammenhänge herausstellt und klar bewußt macht, so kann das nichts weniger als eine Anklage bedeuten, als welche es vielleicht irrtümlich empfunden wird. Vielmehr muß sie das tun, um die Arsachen zu erhellen und aus dem neuerkannten Grunde ein zweckdien­ licheres Bildungswesen aufzubauen. Wie es keinen Sinn hätte, die Menschheit des 17. Jahrhunderts anzuklagen, daß sie unge­ heure Menschenmafsen der Pest und Cholera verfallen ließ, wie überhaupt schlechtweg jede Kritik, die nur Kritik und nicht Grund­ legung ist, zwecklos und unberechtigt ist, so kann es sich auch hier nicht um eine Anklage, sondern muß sich vor allem um Einsicht in die bestimmenden Faktoren und ihre praktische Auswirkung handeln.

Die zentrale Erkenntnis des Bildungsvorganges liegt darin, daß es einen anderen Weg zur Bildung als den durch wahre, zweckdienliche Prozesse nicht gibt und also alles getan werden muh, um die junge Seele in solchen echten Seelenvorgängen zur Entfaltung zu bringen. Wir können nicht unmittelbar selbst formen; unsere Arbeit besteht darin, die günstigsten Voraus­ setzungen der Selbstentwicklung zu schaffen. Wie ein Gärtner seine Pflanzen nicht gestalten, wohl aber jene Bedingungen herbeifahren kann, unter denen sie sich am besten entwickeln; wie er Wunder tut, indem er Verhältnisse schafft, die sonst Nie vorliegen; wie er gehalten ist, immer nur das anzustreben, was möglich ist, sich also der Natur unterzuordnen: so muß auch alle Bildungsarbeit (der Eltem und der Schule) sich den Mög­ lichkeiten der Natur beugen, aber gleichzeitig alles tun, um durch Erzielung der günstigsten Bedingungen diese Möglichkeiten ihre schönste Entfaltung erreichen zu lassen. Seelisch wachsen kann der Mensch nur am Leben, nie an der Reflexion eines fremden, andersgearteten Dewuhtseins; alle Bildung ist Selbst­ bildung. Aber ein pädagogisches Sehen und Können vermag die Bedingungen, unter denen diese Selbstbildung vor sich geht, so glücklich zu beeinflussen, daß sich eine ungleich höhere Seelen­ kultur ergibt als unter den alltäglichen Zufälligkeiten. Drei zentrale Aufgaben ergeben sich von selbst hieraus: L Der Erziehende muh über die allgemeinen und besonderen seelischen Möglichkeiten seines Schülers weitgehend im Bilde sein. Er muß wenigstens in bestimmten Grenzen die Disposi­ tionen und ihre gegenwärtige Form erkennen^ 2. Er muh befähigt sein, Lebensinhalte auszuwählen und seinen Schüler mit chnen zu verbinden. Er muß im Leben nicht nur die äußere Erscheinung, sondern den treibenden Kern er­ schauen und abschätzen, welche Inhalte und in welcher Richtung sie seinem Werk dienen können. 3. Er muh, während möglichst ergiebige Prozesse in seiner Kinderschar ablaufen, immer Blick dafür haben, wie stark die Intensität und wie ergiebig die Auseinandersetzungen sind. Das Wissen und Können der Schüler ist ihm dabei die selbstverständ­ liche Frucht, von der et weih, daß sie kommt, wenn die Prozesse

wahrhaft vor sich gehen. Seine Arbeit ist immer nur mittelbare Pflege, niemals unmittelbare Formung. Die Schule ist die große seelische Heimat der Jugend, in der sie sich reich und froh bewegt; sie ist der glückliche Boden, auf dem alle mögliche Akti­ vität reift. Der Schüler ist nicht der passiv erleidende Teil, sondern der aktiv gestaltende. Wer zehn Jahre und darüber hinaus freie Stunden und Abende sich in solcher Atmosphäre bewegt, seine seelischen Kräfte entfaltet und sich tätig zu Hause fühlt, hat eine wahre Formung seiner Seele, also echte Bildung, soweit sie ihm möglich ist, er­ fahren; weil er eine gehobene Konstitution erreicht hat, wird er nichts über Bord werfen, vielmehr den Weg in seiner Weise fortsetzen. Die Entwicklung der seelischen Dispositionen ist die Gewähr für die unerläßliche Weiterbildung und für eine ge­ hobene Führung des Lebens, weil diese Dispositionen nach Be­ friedigung verlangen und die Lebensbereicherung ermöglichen und ersehen. Der Schüler verläßt sein Bildungsheim nicht allein mit einem Zeugnis in der Tasche. Aus der Natur des Bildungsvorganges ergibt sich die äußere Gestaltung aller Bildungsarbeit. Zwischen beiden muß eine organische Übereinstimmung bestehen; es ist eine Unmöglich­ keit, Bildungsarbeit nur in ihrer äußeren Erscheinung anderen Leuten abzusehen und nachzuahmen, weil die äußere Form unter dem Diktat der jeweiligen Umstände eine schwankende sein muß. Niemals kann daher ein derartiges Schulwesen ein für allemal in seinen einzelnen Äußerungen beschrieben werden mit dem Ziel, eine Nachahmung wäre ebenfalls Bildungsarbeit; in jedem Falle müssen die äußeren Maßnahmen von Einsichten in den jeweiligen Bildungsvorgang getragen werden. Immerhin ergeben sich einige Allgemeinlinien konstanter Art. So wird die beste Verbindung meist zwischen unmittel­ baren Geschehnissen der Umwelt und dem beobachtenden Willen herzustellen sein. Das Sachliche der Welt erweist sich als ein Zentralpunkt der Aktivität; am Dinglichen und Ereignisreichen entzündet sich der Wille des Kindes am ehesten.

Die Auseinandersetzung zwischen kindlichem Geist ilnd dem Weltgeschehen konzentriert sich also um Sacherlebnisse. Am Anfang werden das Dinge und Ereignisse sein müssen, die an sich aus das kindliche Bewußtsein einen starken Anreiz ausüben, seine naiven Sinne gefangen nehmen, seine Phantasie anregen, sein kleines Denken beschäftigen und sein Wollen anregen. Durch die ersten Jahre heraus wird ein großer Teil des Bildungsin­ haltes von solcher Art sein müssen. Dieser starke Reiz, richtig eingesetzt, lockt die kindliche Aktivität immer wieder hervor und läßt so die Dispositionen arbeiten. Die Natur will das Kind ununterbrochen regsam. Ein Kind, das sich selbst überlassen ist, wird nur im Krankheitsfälle träge vor sich hinbrüten; jedes ge­ sunde Kind ist den ganzen Tag aktiv. Die Natur will das, um den jungen Organismus zu entfalten. Gleichzeitig können wir daraus auch ersehen, daß diese Entfaltung eine riesige Summe von Prozessen verbraucht. Damit die Entwicklung vor sich geht, genügen nicht wenige Wiederholungen und Funktionen; Fahre hindurch arbeitet ein Kind seelisch in seiner Art, bis es die großen Wegstrecken überwunden hat. Das muß uns ein Fingerzeig sein, daß sich nichts übereilen läßt und nur die größte Aktivität und Geduld zmn Ziele führt. Es müssen daher auch Fahre für die Auseinandersetzung mit kindlichen, d. h. stark ansprechenden Stoffen verwendet werden und es ist darauf zU achten, daß diese Auseinandersetzung in echt kindlicher Weise vor sich gehe. Phan­ tasie, Sprunghaftigkeit, Impulsivität und Lust zur ständigen Wiederholung müssen zu ihrem Recht kommen; Erwachsenen­ begriffe dürfen nie gewaltsam oktroyiert werden. Aus der sachlichen Beschäftigung ergeben sich formale Be­ ziehungen, Fähigkeiten, Kenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Singen, die an sich nichts bedeuten, ihren Sinn vielmehr aus dem Sachlichen herleiten. Diese Dinge lassen sich daher auch nicht aus sich selbst betreiben, sie müssen in ihrer natürlichen Abstammung aus dem Sachunterricht her­ vorgehen und dürfen nur solange unb insoweit betrieben werden, als dies von dorther nötig ist. Man liest nicht, um zu lesen und schreibt nicht,- um zu schreiben, und wird daher auch nicht lesen üben, wenn man schon lesen kann. Weil man durch Lesen etwas

erfährt, was man so nicht erfahren wird, und weil man durch Schreiben und Zeichnen etwas ausspricht, was man sonst nicht so aussprechen kann, darum erwirbt man sich diese Fertigkeiten uni) vervollkommnet sie soweit als möglich. Die Beschäftigung solcher Art gruppiert sich also um die sachlichen Arbeiten, wird von dort angeregt und wirkt sich nach dorthin wieder aus. Das Wesentliche der Bildungsarbeit umfaßt anderseits aber nicht bloß die bisherigen Wissensfächer, die aus den Wissen­ schaften stückweise in die Schulen herabgedrungen sind, Erd­ kunde, Naturkunde, Geschichte, Gesundheitslehre usw., sie um­ faßt vielmehr das Leben schlechthin, soweit es ansühlbar ist. Es kommen also so tiefgreifende Einheiten dazu wie das Ge­ meinschaftsleben, soziale Abhängigkeit und Eingliederung, Reinlichkeit, Amgangsformen, Arbeit, Unglück, Vergnügen, Kunst, Zwang der Verhältnisse, Kamps, Selbsterkenntnis usw. Auch diese Dinge treten bereits, in kindlicher Form, in frühen Jahren aus, erfahren allerdings ihre wesentlichste Reise in oberen Jahrgängen. Die spätere Arbeit ist an sich überhaupt nicht wesensver­ schieden der psychischen Grundhaltung nach; sie wird nur der entwickelten Konstitution gerecht, indem sie in Umfang, Stofs und Tiefe differenziert. Die gesamte Bildungsarbeit bis zur sachlich höchsten Leistung auf der Hochschule unterliegt immer demselben Vorgang des persönlichen Verbindungsprozesses zwischen Willensdisposition und Weltgeschehen; nur fordert jede höhere Stufe der seelischen Entwicklung, weil sie anspruchs­ voller und leistungsfähiger ist, andere stoffliche Anhalte und Ausmaße. Dabei muß immer die wahrhaft eingetretene Konstitu­ tionsreife den Zeitpunkt bestimmen, an dem die neuen Inhalte und Formen auftreten und angenommen werden können. Keinerlei Außensaktoren können ja den inneren Mangel er­ setzen, während anderseits die eingetretene Reise von selbst sich Wege sucht. Von selbst stellt sich dann ein, was vorher trotz aller Mühewaltung nicht zu erreichen war. Alle Natur strebt danach, entwickelte Dispositionen immer noch weiter zu ent­ falten und sie erzielt den größten Erfolg immer durch lange

Entwicklungsperioden. Diesem Gesetz, das wir überall um uns wirksam sehen, in hochwertigen Leistungen, etwa der Kunst, ebenso wie in den mannigfachen persönlichen Liebhabereien, muß sich das Bildungswesen unterwerfen, wenn es sich vor Täuschungen und Fehlentwicklungen bewahren will. Nur wird stofflich durch die Mannigfaltigkeit der Willens­ strukturen und der Lebenswege, die ein Mensch gehen wird, mit steigendem Bildungsgrad immer mehr eine Differenzierung eintreten, sowohl nach der Begabungsrichtung und -stärke als auch den Berufsverhältnissen nach. Mangelnde oder früh ver­ kümmerte Intelligenz muß den Weg langsamer gehen, aber dabei ebenso aktiv sein wie ein von Natur reiches und durch günstige Umstände gefördertes Willensleben. Die Struktur kann mehr dem phantasiebegabten Erleben oder dem nüchtern­ sachlichen Erkennen zuneigen und in einer der beiden extremen Richtungen den größeren Lebenserfolg erwarten lassen. Soziale Verhältnisse, gesundheitliche und wirtschaftliche Vorgänge können eingreisen; vor allem erfordert das Berufsleben ein langsames Hineinwachsen in seine Lebensgebiete. Dazu kommt noch, daß ein innigeres Eingehen auf bestimmte Lebensinhalte ebenfalls zur Gliederung und Differenzierung des Stoffes selbst führt, so daß sich aus der Einheit des Beginns allmählich eine Fülle der Wege entfaltet, wenngleich sie formal immer dem­ selben Gesetz unterstehen. Die Schulbildung, ein Unterbegriff von Bildung im allge­ meinen Sinne, kann als abgeschlossen betrachtet werden, wenn der junge Mensch jene Reise erfahren hat, daß er ohne Zwang den begonnenen Weg seiner Veredelung weitergehen kann und will; aus der Schule (als eines Heimes Heranwachsender) tritt er in die größere Schule des Weltgeschehens, der Geistigkeit seiner Zeitgenossenschaft, der Ausgaben seines Berufes und Staats­ lebens, nun auch rein äußerlich vollkommen auf sich selbst ge­ stellt. Sein Verhalten qualifiziert den Erfolg seiner Schule. Seelisch gebildet ist er eine wenn auch subjektiv beengte Per­ sönlichkeit, wie sie die heutige Zeitgenossenschaft zur Lösung ihrer großen Ausgaben nötig hat. So gliedert sich die Schule in die neue Zeit ein.

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Aus diesem Inhalt des Bildungswesens müssen schließlich auch die rein organisatorischen Maßnahmen abgeleitet werden. Alle äußere Schulorganisation muß auf diesen rein sachlichen, pädagogischen Verhältnissen fußen; sie muß die beste Gewähr bieten, muß praktisch sein. Deshalb werden wir, im Organisatorischen vielleicht die wesentlichste Folge, das Starre unseres Schulbetriebes über­ winden müssen, jene eigentümliche Verurteilung sämtlicher Kinder, täglich fünf und mehr Stunden in einem einzigen Raum auf einem einzigen Holzsitz vor einem einzigen Lehrer aus Worte und Aufgaben zu warten. Es kann keinem Zweifel unterliegen — der Gedanke unserer Schulhäuser mit der absoluten Klassen­ isolierung stammt nicht