200 113 116MB
German Pages 468 Year 1982
Linguistische Arbeiten
125
Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Die Leistung der Strataforschung und der Kreolistik Typologische Aspekte der Sprachkontakte Akten des 5. Symposions über Sprachkontakt in Europa/ Mannheim 1982 Herausgegeben von P. Sture Ureland
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Leistung der Strataforschung und der Kreolistik: typolog. Aspekte d. Sprachkontakte; Akten d. 5. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1982 / hrsg. von P. Sture Ureland Tübingen: Niemeyer, 1982. (Linguistische Arbeiten; 125) NE: Ureland, Per Sture [Hrsg.]; Symposion über Sprachkontakt in Europa ; GT ISBN 3-484-30125-2 / ISSN 0344-6727 1
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Becht-Druck, 7403 Ammerbuch 2
INHALTSVERZEICHNIS
VORBEMERKUNGEN
IX
VORWORT
XI
A.
ALLGEMEINE ASPEKTE DER SPRACHKONTAKTE 1.
P. STURE URELAND
Einführung in die Problematik 2.
1
PETER HANS NELDE
Überlegungen zur Kontaktlinguistik B.
15
INDOGERMANISTIK/ROMANISTIK 3.
JOHANNES HUBSCHMID
Vorindogermanische und indogermanische Substratwörter in den romanischen Sprachen - Methodische Überlegungen und Forschungsergebnisse C.
27
ROMANISTIK SPRACHGENESE 4.
CHRISTIAN
IN DER ROMANIA SCHMITT
Die Ausbildung der romanischen Sprachen - Zur Bedeutung von Varietät u n d Stratum f ü r d i e Sprachgenese .
.
.
. 39
MALTA 5.
REINHOLD
KONTZI
Maltesisch: Sprachgeschichtliche und areallinguistische Aspekte
63
SÜDITALIEN 6.
EDGAR RADTKE
Regionalitalienisch im Meridione - Zur Interferenzanalyse Dialekt - Hochsprache
89
VI
NORDITALIEN UND SCHWEIZ 7.
(ALPINO-ROMANISCH)
ISO CAMARTIN
Integration und Assimilation von Anderssprachigen (dargestellt an der Sprachsituation in Graubünden) . . 8.
107
BERNARD CATHOMAS
Rätoromanische Spracherhaltung - Konzepte - Maßnahmen Wirkungen 9.
119
ERWIN DIEKMANN
Soziolinguistische Aspekte
deutsch-rätoromanischer
Interferenzbeziehungen in Graubünden 10.
HANS GOEBL
Kulturgeschichtliche Bedingtheiten von Kontaktlinguistik - Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der "Questione ladina" 11.
155
PER STURE URELAND
Typological, Areal Linguistic and Statistical Aspects of Raeto-Romanic Reflexives 1 2.
131
171
AMBROS WIDMER
Die Orts- und Flurnamen des Medelsertales
2O1
NORDWESTFRANKREICH 13.
RUPPRECHT ROHR
Nordgermanische und bretonische Nachwirkungen in der französischsprachigen Bretagne . D.
.
215
KELTOLOGIE IRLAND 14.
GEAROID MAC EOIN
Linguistic Contacts in Ireland E.
227
GERMANISTIK DEUTSCHLAND 15.
HORST H. MUNSKE
Die Rolle des Lateins als Superstratum im Deutschen und in anderen germanischen Sprachen
237
VII
DEUTSCHLAND UND POLEN 16.
GÜNTER BELLMAN
Vorschläge zur Integrationstypologie auf der Grundlage des slawisch-deutschen Sprachkontaktes F.
265
NIEDERLANDISTIK BELGIEN 17.
JOHAN TAELDEMAN
"Ingwäonismen" i n Flandern . . G.
277
ANGLISTIK 18.
DIETRICH STRAUSS
Schottland - Einsprachig oder dreisprachig? Beobachtungen und Überlegungen aus nicht schottischer Sicht H.
297
NORDISTIK NORDSKANDINAVIEN 19.
ERNST HAKON JAHR
Language Contact in Northern Norway - Adstratum and Substratum in the Norwegian, Lappish and Finnish of Northern Norway I.
3O7
SLAVISTIK UND BALKANOLOGIE SOWJETUNION 20.
BALDUR PANZER
Genetische und stratalinguistische Faktoren in der Entstehung der ostslavischen Schriftsprachen . . .
.321
DER BALKAN 21 .
KLAUS STEINKE
Probleme der diachronen Sprachkontaktforschung Am Beispiel der Balkansprachen
339
VIII J.
FINNO-UGRISTIK UNGARN, FINNLAND UND DIE SOWJETUNION 22.
ISTVÄN BATORI
Versuch einer Typologie des Sprachkontaktes
anhand der
finnisch-ugrischen Sprachen 23.
WOLFGANG VEENKER
Russisch-finnougrische Stratawirkungen K.
355
.
.
.
.
371
KREOLISTIK 24.
ANNEGRET BOLLEE
Die Rolle der Konvergenz bei der Kreolisierung . 25.
.
391
.
407
PETER MÜHLHÄUSLER
Kritische Bemerkungen zu Sprachmischungsuniversalien 26.
.
INKEN KEIM
Gastarbeiterdeutsch als Spiegel der Kontaktprozesse . MITARBEITERVERZEICHNIS
433 447
IX
VORBEMERKUNGEN
Das fünfte Symposium über Sprachkontakt in Europa wurde im März 1982 vom Linguistischen Arbeitskreis Mannheim organisiert. Tagungsorte waren Mannheim und Zuflucht im Nordschwarzwald. Dank großzügiger Förderung durch die Stiftung Volkswagenwerk standen diesmal größere Mittel zur Verfügung, so daß die Anzahl der Referenten erheblich gesteigert werden konnte; 24 Vortragende kamen aus dem In- und Ausland. Die ausländischen Gäste kamen aus den USA (Ann Arbor), Irland (Galway), England (Oxford), Norwegen (TromsflJ), Dänemark (Kopenhagen), Belgien (Gent) und der Schweiz (Chur). Für die vorliegende Veröffentlichung entfallen ein Beitrag aus Dänemark, sowie ein Beitrag aus Irland, den USA und aus der Bundesrepublik Deutschland. Stattdessen sind vier zusätzliche Beiträge aufgenommen worden, die in anderen kontaktlinguistischen Zusammenhängen zustande gekommen sind: der Artikel über die Ortsund Flurnamen des Medelsertales von A. Widmer und der Artikel von B. Cathomas über rätoromanische Spracherhaltung, die beide als Vorträge vor dem Mannheimer Linguistenkreis im Herbst 1981 gehalten wurden. Außerdem kommen zwei weitere Artikel h i n z u , deren Inhalt in den Akten der 2. Brüsseler Tagung 'Contact + C o n f l i ( c ) t II 1 im Juni 1982 nur kurz umrissen werden konnten, die aber hier detaillierter erscheinen können: der Beitrag von E. Diekmann über soziolinguistische Aspekte der rätoromanischen Varietäten in Graubünden und ihre Verwendung, sowie der Beitrag von S. Ureland über rätoromanische Reflexivpronomina. Diese beiden Artikel stellen zwei Berichte über ein Forschungsvorhaben des Mannheimer Linguistenkreises über 'Sprachk&ntakt in den Alpen 1 dar. Die Sprachkontaktforschung in Europa ist jetzt zu einer bedeutsamen Forschungsdisziplin geworden. Zu den fünf Symposien in Mannheim kann man die zwei Tagungen von 1979 und 1982 in Brüssel hinzufügen, von denen die letzte von mehr als 250 Teilnehmern besucht wurde, wobei mehr als 125 Vorträge gehalten wurden, die demnächst von P. Neide veröffentlicht werden. (Vgl.: P. Neide (ed.) 1982 Proceedings of the Symposium: Contact + C o n f l i ( c ) t II, June 2-5, 1982 in Brussels. Vol. I: Current Trends in Contact Linguistics; Vol. II: Theory, Methods and Models of Contact
Linguistics; Vol. Ill: Comparability of Language Contacts; Vol. IV: Multilingualism. Bonn:Diimmler) . Für die internationale Kontaktnahme sowie den Erfahrungsaustausch mit anderen Kontaktlinguisten aus anderen Erdteilen, ist die vorgesehene Arbeitsgruppe unter dem Thema 'Sprachkontakt in Europa 1 auf dem 13. Internationalen Linguistenkongress in Tokio ein wichtiges Ereignis. Der Linguistische Arbeitskreis Mannheim sowie die Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit in Brüssel sind am Linguistenkongress in Tokio mit fünf Vertretern repräsentiert. Für die nahe Zukunft (1983 oder 1 9 8 4 ) ist eine Sommer- oder Winterschule über Sprachkontakt und kleinere Sprachen in Europa geplant. Die Beiträge der Tokioer Arbeitsgruppe sowie die der Sommeroder Winterschule 1983/84 werden im Anschluß an den Linguistenkongress bzw. der Sommer- oder Winterschule veröffentlicht.
Linguistischer Arbeitskreis Mannheim Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit Brüssel
XI
VORWORT
Die zentralen Fragestellungen des 5. Symposiums waren: Welche Ähnlichkeiten in den Sprachen der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich registrieren? Ist eine Typologie der Sprachkontakte möglich? Kann die Kreolistik als Korrektiv der Strataforschung dienen? Oder umgekehrt: Kann die Strataforschung die Hypothesenbildung in der Kreolistik einschränken? Diese Fragen entstanden aus zwei Hauptthemenkreisen, die auf zwei wissenschaftlichen Ansätzen basieren: der historischen Sprachkontaktforschung (Substrat-, Superstrat- und Adstratforschung) und der primär synchron ausgerichteten Pidgin- und Kreolforschung. Probleme des Sprachkontakts wurden an Hand einer ganzen Reihe von Sprachen behandelt: auf dem Gebiet der Romanistik, Germanistik, Niederlandistik, Nordistik,
Slavistik und der Finno-
Ugristik. Es ging dabei um die Bedeutung der Sprachkontakte in ihrer Entstehung, im Wandel und beim Untergang von europäischen Sprachen sowie um ihre pidginisierten und kreolisierten Abkömmlinge in Übersee (dem Indischen Ozean, dem P a z i f i k und der Kari-
bik) . Die breite Palette der Vorträge - Vorträge beispielsweise zum Irischen im Westen, zum Mokca-Mordvinischen im Osten, zum RussoNorwegischen im Norden oder zum Maltesischen im Süden, um nur den geographischen Rahmen des europäischen Kontinents abzustecken spiegelt eine Wende zu einer ethnolinguistischen Perspektive in der Sprachwissenschaft wider, die wir gegenwärtig zu erleben schei nen; d . h . die ethnolinguistischen und historischen Faktoren sind wieder in den Vordergrund gerückt und haben sich den systemlinguistischen Aspekten zur. Seite gestellt. Eine allgemeine und vergleichende
Interferenztheorie und Lehn-
gutforschung sind von größter Bedeutung für die Weiterentwicklung der (Kontakt-) Linguistik. Dabei wird es künftig wohl darum gehen, einen theoretischen Beschreibungsrahmen - eine Typologie - aufzustellen, innerhalb dessen eine Fülle von Interferenzphänomenen erklärbar wird. Diese Zielsetzung einer Typologie wird naturgemäß zu einer Auseinandersetzung mit einigen etablierten Auffassungen von der Natur
XII
der Sprache - seien sie saussureschen, generativ-transformationellen oder kommunikativ-theoretischen Ursprungs - führen, denn es wird von Befürwortern der letzteren Theorien leicht übersehen, daß der Mensch durchaus fähig ist,
mehrere Sprachen gleichzeitig zu
lernen und zu beherrschen, wenn auch mit unterschiedlicher Perfektion. Bilingualismus und Diglossie sind potentielle Fähigkeiten, mit denen jeder Mensch geboren ist.
Er kann sie zu einer bewun-
dernswerten Perfektion entwickeln, wenn die ethnischen und sozialen Verhältnisse ihn dazu zwingen. Man kann sich fragen, ob es überhaupt ein Individuum gibt, das nur über einen standardisierten Kode im Sinne der Strukturalisten oder nur über ein Regelwerk im Sinne der Generativisten v e r f ü g t . Jeder Mensch lebt mit einer Vielfalt von sprachlichen Varietäten, die er in relativ k u r z e r Zeit zu verstehen und zu sprechen lernt. Er würde sonst die komplizierten Erfordernisse der Kommunikationsakte gar nicht e r f ü l l e n können. Der systemlinguistischen Theoriebildung haftet diesem Zusammenhang oft
in
etwas Künstliches an. In mehrsprachigen
Gebieten oder in Gebieten mit einer stark ausgeprägten Diglossie von Mundarten und Standardsprache ist
die Unangemessenheit einer
Reihe systemlinguistischer Hypothesen besonders a u f f a l l e n d . Hier begegnen wir sogar Multilingualismus und Multilektualismus, die in einem schwer durchschaubaren sozialen Netzwerk von Domänen, Stilebenen und Registern funktionieren. Diese Multidimensionalität
steht in einem frappanten Gegensatz zu den von den Generati-
visten und anderen Systemtheoretikern aufgestellten eindimensionalen Regelsystemen. Die multidimensionale Sprachbegabung des Menschen muß in Untersuchungen zur Entstehung der modernen Sprachen Europas berücksichtigt werden. Perioden von Zweisprachigkeiten, die durch kriegerische Eroberung oder friedlichen Kontakt entstanden sind, haben zu sprachlichen Einbrüchen in bestehende Systeme bzw. zu Modifikationen g e f ü h r t , von denen wir heute nur die Trümmer solcher Vorgänge bzw. die entsprechenden Sprachinterferenzerscheinungen zu rekonstruieren
sehen oder
versuchen.
Die Auseinandersetzung mit diesem Problem wird die Sprachkontaktforschung noch lange beschäftigen und sie in der Zukunft zu einem faszinierenden Wissenschaftszweig machen. Was ansteht sind
XIII
weitere Detailuntersuchungen, seien sie allgemein sprachhistorisch-systemhafter, etymologischer, soziolinguistischer, istischer, sprachinterferenzhafter,
ethnolingu-
sprachgeographischer oder
dia-
lektologischer Themenstellung - eine Breite der Thematik, wie sie nicht nur die vergangenen Veranstaltungen, sondern auch das diesjährige Symposium wieder vorstellte. Was den Verlauf der Tagung b e t r i f f t ,
läßt sich sagen, daß 'eine
Gegenüberstellung der Strataforschung und der Kreolistik zu Beginn der Tagung in die Diskussion e i n g e f ü h r t wurde. Diese Polarisierung wurde jedoch von den Teilnehmern nicht so empfunden, da es sich sowohl bei der Strataforschung als auch bei der Kreolistik mehr um das allgemeine Problem des Sprachkontakts als übergeordnete Größe handelt. Insofern sind sich die historischen Ereignisse, die sich mit der Strataforschung verbinden, mit denen der aktuellen Sprachkontaktsituation
(Adstrat) b z w . denen der Kreolistik
durchaus ähnlich und miteinander vergleichbar. Die Kontaktprozesse, die wir in unserer Zeit im Bereich der Kreolistik beobachten können, sind deshalb mit denen in der retrospektiven diachronischen Perspektive zu beobachtenden Prozesse der Strataforschung nach A u f f a s s u n g der Teilnehmer des Symposiums verwandt. Es hat sich auf der Tagung gezeigt, daß zur Entwicklung
ei-
ner umfassenderen Sprachkontakttheorie weitere Detailstudien für eine anzustellende Typologie der Sprachkontakte notwendig sind. (Siehe in diesem Zusammenhang auch die Beiträge in Neide ( e d . ) 1982, Proceedings of the Symposium, Contact and C o n f l i ( c ) t Vols. I-IV, Bonn.
II.
In dem vorliegenden Band kommen zuerst zwei Beiträge von Ureland und Neide zur Publikation, die die Stellung der Kontaktlinguistik in der Geschichte der Sprachwissenschaft darstellen. Während Ureland sich mehr der Vergangenheit der Kontaktlinguistik widmet, zeigt Neide die Bedeutung der synchronen Kontaktlinguistik a u f . Die übrigen 22 Artikel, die hier veröffentlicht werden, sind Detailstudien über gewisse Teilprobleme der jeweiligen europäischen. Sprachgebiete, in denen der Aspekt des Sprachkontaktes im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Johannes Hubschmid erörtert die älteren Substrat- und Superstrattheorien, die in der Indogermanistik und Romanistik früher
XIV
gang und gäbe waren. Durch eine Anzahl von konkreten Beispielen zeigt Hubschmid, wie man mit Hilfe der historischen-vergleichenden Methode vorindogermanische und ältere indogermanische Sprachschichten in den heutigen Sprachen und Mundarten der Romania offenlegen kann. Für die Vorgeschichte ist
diese Methode eine der
wichtigsten Vorgehensweisen, um Proto-Kulturen und damit ProtoKontakte zwischen den Alteinwohnern Europas zu rekonstruieren. Christian Schmitts Beitrag muß auch in diesem Lichte gesehen werden, auch wenn sich seine Aufmerksamkeit um einige tausend Jahre später auf die Entstehung der romanischen Sprachen und Völker konzentriert - die Ethnogenese in der Romania. Die Evolutions-, Kontakt-, Raum- und Verkehrsthesen werden hier erläutert. Eine Universalthese für die Entstehung der romanischen Sprachen gibt es jedoch nicht. Weitere Beiträge von Romanisten sind den Sprachkontakten in der Romania gewidmet, wobei solche spannenden Kontakte wie die auf der Insel Malta (Arabisch - Normannisch - Italienisch - Englisch) aus areallinguistischer Sicht von Reinhold Kontzi behandelt werden. Eine ganze Reihe von Artikeln setzen sich dann mit den vielen Sprachschichten und Sprachkontakten in dem Ostalpengebiet
aus-
einander: Bernhard Cathomas, Iso Camartin und Erwin Diekmann über Spracherhaltungsmaßnahmen, Integrations- und Assimilationsprozesse und Interferenzbeziehungen in Graubünden (Schweiz); Hans Goebl über die "Questione ladina", Sture Ureland über die Verwendung von Reflexivstrukturen in rätoromanischen, lombardischen und friaulischen Varietäten und Ambros Widmer über Orts- und Flurnamen als Folge von Sprachkontaktvorgängen im Medelsertal, Graubünden. Edgar Radtke und Rupprecht Rohr haben die historischen und ethnischen Faktoren für die Entstehung der süditalienischen bzw. der nordwestfranzösischen Varietäten als Bezugsrahmen gewählt, um das Mosaikgebilde dieser den italienischen und französischen
Standard-
sprachen so völlig fremden phonetischen und lexikalen Entwicklungen darzustellen. Ohne den Kontaktaspekt
ist
es völlig unmöglich,
die Entwicklung und die Ausgliederung dieser romanischen Varietäten zu verstehen. Danach folgen in dem vorliegenden Band einige Artikel, die dem Kontakt der germanischen Sprachen miteinander und mit anderen
XV
nicht-germanischen Sprachen behandeln: Latein als Superstratum im Deutschen (Horst H. Munske);
nordseegermanisches Substratum -
Ingwäonismen - im Flämischen (Johan Taeldeman); lappische, f i n nische und russische Substrat- und Adstratstrukturen im Nordnorwegischen und die Entstehung eines Handelspidgins ("Russenorsk") zwischen Norwegisch und Russisch vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Russischen Revolution (Hakon J a h r ) ; die dreisprachige Situation in Schottland
(Schottisch-Englisch,
Standardenglisch
und Gälisch) (Dietrich Strauß) ; die Sprachkontakte auf Irland (Mac E o i n ) ; die relativ wenig bekannten slavisch-deutschen Sprachkontakte zwischen West-Slavisch (Polnisch) und Ostmitteldeutschen Mundarten (Günter Bellmann). Die osteuropäischen Sprachen sind das Thema in drei Artikeln: Die genetischen und stratalinguistischen Faktoren in der Entstehung der ostslavischen Schriftsprachen
(Russisch, Ukrainisch
und Weißrussisch) werden von Baidur Panzer auseinandergehalten. Er betont, daß die stratalinguistischen Veränderungen öfters schwer nachzuweisen sind und daß die internlinguistischen Erklärungen in den meisten Fällen ausreichen, um die Veränderungen und ihre Ursachen zu beschreiben
(vgl. hierzu auch Annegret Bollees
Artikel über die Entstehung der französischen Pidgin- und Kreolsprachen im Indischen O z e a n ) . Die ostslavischen Sprachen seien jedoch nicht erklärbar
innerhalb der Kontexte historischer Zeit.
Isacenko's These (vgl. Isacenko 1 9 7 5 ) , daß das Russische als moderne Schriftsprache erst im Kontakt mit Französisch und Deutsch im 17. und 18. Jahrhundert entstand, sei nicht korrekt, was man eventuell für das Weißrussische oder Ukrainische behaupten könnte. Den Versuchen, viele Phänomene im Russischen als Finno-Ugrismen zu erklären, stellt sich Panzer sehr kritisch gegenüber ( z . B . Nominalsätze, Verlust der Präsenzkopula, des Possessivperfekts, Entstehung der Akanie u s w . ) . Veenker antwortet als Finno-Ugrist auf diese kritischen Bemerkungen, daß die von ihm vorgschlagenen 5O Finno-Ugrismen im Russischen (vgl. Veenker 1 9 6 7 ) wohl nicht alle heute als solche gelten können, aber daß er von dem Substrateffekt vom Finno-Ugrischen her im Russischen überzeugt sei;
er verweist hier auf seine eigenen
XVI
Forschungen sowie auf die von Vassner 1936 und 1941 und Valentin Kiparsky 1970 und 1 9 7 1 . Auch wenn die meisten Nicht-Slavisten und Nicht-Finno-Ugristen auf der Tagung hier keine Kenntnisse zur Thematik hatten, war die ganze Problemstellung sehr anregend. So z . B . die generelle Frage, wie das Verhältnis zwischen internen Erklärungsversuchen (Parallelentwicklung) und solchen Erklärungen, die Sprachkontakte als äußeren ausschlaggebenden Faktor ansetzen ( S t r a t a e i n f l u ß ) , zu beurteilen sei.
Die Frage
konnte nicht gelöst werden. Die ergiebige Diskussion nach Panzers und Veenkers Vorträgen über Kausalität des Sprachwandels, zeigte den Zuhörern, daß die ganze Sprachkontaktproblematik für alle Teildisziplinen sehr befruchtend ist, gleichgültig ob man von der kontaktlinguistischen These ausgeht oder von der Parallelentwicklungsthese. Istvän Batori skizziert in seinem Beitrag die Stellung der ungarischen und finnischen Varietäten
in den Anrainer-Staaten.
Er präsentiert auch eine graphische Darstellung der verschiedenen Typen von Sprachkontakten (grenzlands- und hinterlandslose Zweisprachigkeit) . In dem letzten Beitrag dieser Abteilung betont Klaus Steinke, daß die ganze Sprachkontaktforschung
unübersicht-
lich sei und daß es noch an einer verwendbaren Typologie solcher Kontakte mangele, zumindest was die relativ gut erforschten
Bal-
kansprachen b e t r i f f t . Die letzten Beiträge dieses Bandes behandeln die Typologie und Entstehung der Pidgin- und Kreolsprachen. Annegret Bollee nimmt mit ihrem Artikel den Leser auf eine spannende Reise in den Indischen Ozean und die Karibik mit, einem Gebiet, in dem 19 verschiedene Typen der vermutlichen Interferenzstrukturen in den Kreolsprachen des karibischen Raumes (Louisiana, Haiti, Antillen, Guayana) und des Indischen Ozeans (Mauritius, Reunion und die Seychellen) zu beobachten sind. Jedoch muß Annegret Bollee zugeben, daß die meisten dieser Strukturen
(Pluralsuffixe, Personal-
pronominalformen, Possessivkonstruktionen,
Präteritumformen, Redu-
plikation, Kopierung des Subjekts mit Pronomina etc.)
durchaus mit
Subvarietäten des Französischen erklärbar seien: z . B . mittels der Seemannssprache,des älteren Französisch des 16. und 1i.7. Jahrhunderts, der französischen Umgangssprache der Kolonien usw.. Eine
XVII
mechanische Zurückführung dieser Strukturen auf ein afrikanisches Substrat (Wolof, Ewe, Bantu usw.) sei nicht immer zu empfehlen. Die Rolle der Parallelentwicklung, der Konvergenz, zwischen allen ausgebildeten Kreolsprachen in der Karibik und zumindest denen im Indischen Ozean müßte berücksichtigt werden bei den Spekulationen über das Afrikanische Substrat und die kreolisierten romanischen Sprachen. Eine Tendenz zu übertriebener Substratomanie in der Kreolforschung auf Kosten der Konvergenzhypothese sei leider festzustellen. - Peter Mühlhäusler und Inken Keim geben uns informative Daten über die Entstehung von Kreolsprachen durch die Kontaktprozesse, die diesen zugrundeliegen. V7ährend Inken Keim zu dem Beg r i f f Pidgin- und Kreolsprache in der Beschreibung der Kontaktfälle in Europa (Deutsch und Gastarbeitersprachen in der Bundesrepublik Deutschland) kritisch Stellung nimmt, führt .Mühlhäusler die Zuhörer in die "Katastrophentheorie zur Entstehung der Pidgins und Kreolsprachen" ein. Hierbei geht es um die Frage, wie völlig neue Systeme der Kommunikation entstehen, die durch Sklavenhandel, Handel und Plantagenwirtschaft verursacht worden sind. Schlagartig wie in einer Explosion bricht das alte System zusammen und wird durch ein anderes ersetzt, wobei universale Simplifizierungs- und Spracherwerbsprozesse alle Pidgin- und Kreolsprachen charakterisieren. - Inken Keim zeigt in ihrem Artikel über das Deutsch der türkischen Gastarbeiter im Raum Mannheim/Ludwigshafen a u f , daß das sog. Pidgin-Deutsch dieser Sprecher gar kein Pidgin darstellt, sondern daß es sich um eine Lernerspräche, eine interlanguage im Sinne Schumanns, handle. Das abgehaltene 5. Symposium wurde durch eine Förderung der Stiftung Volkswagenwerk ermöglicht; wir möchten an dieser Stelle der Stiftung Volkswagenwerk herzlich danken. Folgende Personen waren bei der Herstellung des vorliegenden Bandes involviert: Christoph Rühling, Roswitha Lauber-Klapper, Waltraud Marx, sowie besonders Iain Clarkson; ihnen allen danke ich an dieser Stelle für ihre Mithilfe und Unterstützung. Otmar Bettscheider und Karin Seib sowie Leopold Auburger danke ich für ihre organisatorische Hilfe bei der Durchführung des Symposiums, ebenso meinem Kollegen Erwin Diekmann. P. Sture Ureland
EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK P. Sture Ureland
1. Das Thema des 5. Symposiums beinhaltete zwei historiographische Perspektiven: eine ältere, die uns zu einer Bilanz der Ergebnisse der Strataforschung führen sollte, und eine jüngere, die uns eine Typologie der Pidgin- und Kreolforschung ermöglichen sollte.
Wie der Untertitel des Symposiums andeutet, ging es in erster
Linie darum, eine Typologie der Sprachkontakte in Europa zu erstellen. Ob eine solche Typologie der Sprachkontakte auch für Kreolsprachen realisierbar ist
oder ob eine Typologie der Sprach-
kontakte überhaupt möglich ist,
konnte erst am Ende des Symposi-
ums deutlich werden - eine besondere Diskussionsrunde war h i e r f ü r im Schwarzwald vorgesehen, in der gewisse Richtlinien für
die
weitere Forschungen gefunden werden konnten. In der Planung dieses Symposiums wurde als eine dritte Komponente eventuell eine Zusammenfassung der Ergebnisse der synchronen Interferenzforschung vorgeschlagen. Die Teilnehmer der Planungskommission waren jedoch der Meinung, daß dieses letztgenannte Feld so groß und so unüberschaubar sei,
daß es für sich eine besondere
Tagung beanspruchen würde. Wir haben deshalb diesmal darauf
ver-
zichtet, Vertreter der synchronen Interferenzforschung zu unserem Symposium einzuladen und haben stattdessen Forscher auf dem Gebiet der Strataforschung und Kreolistik vorgezogen. Dazu kam noch der Umstand, daß die Brüsseler Tagung "Contact + C o n f l i ( c ) t II" reichende Gelgenheit bot,
aus-
die synchrone Interferenzforschung zu
behandeln, so daß unser Symposium als
eine komplementäre Veran-
staltung dienen konnte mit dem Schwerpunkt auf dem Gebiet der Strataforschung und der Kreolistik. Die bereits existierende gute Zusammenarbeit zwischen der Forschungsstelle für
Mehrsprachigkeit
in Brüssel und dem Linguistischen Arbeitskreis Mannheim konnte der europäischen
Sprachkontaktforschung auf diese Weise am besten
dienen. Die SchwerpunktSetzung auf die Strataforschung und die Kreolistik bedeutet aber keineswegs eine indirekte Aufwertung der älteren Sprachkontaktforschung auf Kosten der synchronen,
sondern ist hier einfach als eine praktische Arbeitsteilung zu sehen. 2. Auch wenn die synchrone Interferenzforschung
nicht direkt im
Mittelpunkt unseres Symposiums stand, herrschte Einigkeit darüber, daß sie als Bezugsrahmen für eine zeitgerechte und angemessene Vorgehensweise zu dem Komplex Sub-, Super- und Adstrat in der Romanistik, Germanistik, Slavistik, Keltologie, Finno-Ugristik und Indo-Germanistik sowie in der Pidgin- und Kreolforschung zu gelten habe. Ohne empirische Beobachtung der Kontaktprozesse in unserer Zeit und ohne eine allgemeine Typologie der Sprachkontakte, die auf dem sicheren Boden der synchronen Kontaktforschung ausgearbeitet wird, ist
jede Spekulation über Strata früherer Sprach-
kontakte h i n f ä l l i g . Solche leeren Spekulationen wollten wir vermeiden und so nicht einer ungehemmten und uneingeschränkten Substratomanie oder -phobie zum Opfer fallen. Die neuerlich gewonnenen Einsichten in die Natur der Sprachkontaktprozesse werden auf ältere Sprachstufen projiziert, von denen wir wissen, daß sie durch Sprachkontakte und Sprachkonflikte erheblich modifiziert worden sind. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob man die Entstehung von Kontaktstrukturen in einer gegebenen Sprache überhaupt verallgemeinern
darf und eine parallele Entstehung in einer
vergangenen Epoche rekonstruieren kann, in der ganz andere politische, kulturelle und soziale Verhältnisse vorherrschten, d . h . ist überhaupt eine komparative Sprachkontaktforschung in diesem Sinne möglich? Der Schwerpunkt auf die Strataforschung legen, bedeutet keineswegs, daß die s.g. genetisch bedingten Veränderungen einer Sprache hier außer acht gelassen werden, die spontan oder vielleicht per Z u f a l l entstanden
sind. Der Wert einer Drift-Hypothese im Sinne
von Sapir 1921 wird hier durchaus anerkannt, um Sprachwandel in allen indogermanischen Sprachen zu erklären.Jedoch könnte man sagen, daß diese genetisch-genealogische Perspektive vom Sprachwandel mehr als genug in den einschlägigen Handbüchern der Romanistik, Germanistik, Indogermanistik usw. vertreten ist
- ein Erbe des
historisierenden Biologismus in der Sprachwissenschaft des vorigen Jahrhunderts - und daß der Kontaktperspektive
eine ihr gebührende
Rolle nicht zuerkannt wird, weil Kontaktprozesse sich schwer
in kategorische Entwicklungsschemata einzwängen lassen. Diese Aussage gilt für alle dogmatischen Theoriebildungen über Sprachwandel, seien sie junggrammatischen, strukturalistischen oder generativen Ursprungs. Ein tertium quid entsteht durch die Kontaktprozesse, so daß in den Interferenzen der Keim zu einer neuen Sprachform oder zu einer Ausgliederung einer Sprache in neue Varietäten vorhanden ist.
Es kommt nur auf die jeweiligen sozialen, politischen
und kulturellen Faktoren an, ob diese Interferenzstrukturen
als
Innovationen von den Sprechern anerkannt werden. 3. Neben dieser sehr allgemeinen Zielsetzung, d . h . die Rolle der Sprachkontakte in der Entwicklung einer gegebenen Sprache oder Sprachfamilie zu beschreiben, kam in der Plangungskommission ein zweites zentrales Thema zur Sprache: die Bedeutung der Kreolistik für die Sprachgeschichte der europäischen Sprachen seit dem Z e r f a l l des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert n . C h r . Ist
es so, daß die
höchst wertvollen und anregendenden Forschungen über die pidginisierten und kreolisierten Formen der ausgewanderten Kolonialsprachen (Portugiesisch, Spanisch, Englisch, Niederländisch, Französisch und sogar Deutsch) uns einen besseren Zugang geben zu dem großen und noch ungelösten Problem: Wie entstehen neue Sprachen? Gibt es verbindende Parallelen z . B . in der Ausgliederung und Entstehung der romanischen Sprachen vom Latein zwischen 4OO und 900 n.Chr. und der Entstehung der romanischen Kreolsprachen in der Karibik, in West Afrika und auf den Inseln des Indischen Ozeans oder des P a z i f i k s
(15oo - 19oo)? Können wir hier Ähnlichkeiten in
den Kontakten zwischen Sprachen der Vergangenheit und der Gegenwart entdecken? Können wir hier wie in einem Spiegel die Kontaktprozesse wiederholt vor uns sehen, die die Grundlage neuer sprachlicher Systeme ausmachen? "Sprachtod" ist gegenwärtig eine beliebte Thematik bei einer Reihe von Linguisten, aber "Sprachgeburt" ist genauso wichtig für die allgemeine Wenn es wahr ist,
Sprachwissenschaft.
daß die Kreolisierungsprozesse die Entstehung
neuer Sprachen wiederspiegeln, dann sind das Studium und die Erforschung der Pidgin- und Kreolsprachen von höchster Priorität, nicht nur für die moderne Linguistik, sondern auch für die Sprachwissenschaft im traditionellen Sinn. Unter dieser Voraussetzung könnte die Kreolistik als Korrektiv der Strataforschung dienen. Wenn es aber umgekehrt ist,
daß vielmehr die be-
währte Strataforschung in Europa uns ein völlig anderes Bild der Kontaktprozesse präsentiert als die Kreolistik und daß hier in Europa mehr natürliche und historisch herangewachsene Formen der Kultur und Sprache eine zuverlässlichere Basis für eine Kontäkttypologie darstellen als die Sprachformen, die durch Sklaverei, Handel oder Plantagenwirtschaft in der Dritten Welt entstanden sind, dann würde die Strataforschung als Korrektiv der Kreolistik dienen. Ich will hier keine Stellung zu diesen beiden Möglichkeiten nehmen, sondern bin der Meinung, daß die Antworten auf solche Fragen sich in der vorliegenden Veröffentlichung widerspiegeln. 4. Als primäres Ziel haben wir eine Aufarbeitung der wichtigsten empirischen und theoretischen Ergebnisse innerhalb der Strataforschung und der Kreolistik zwecks Vorbereitung einer allgemeinen Theorie und Terminologie der Sprachkontakte vor uns. Meiner Meinung nach ist
eine allgemeine und vergleichende
Interferenztheorie
und Lehngutkunde von größter Bedeutung für die Weiterentwicklung der Linguistik. Wir suchen einen theoretischen Beschreibungsrahmen, innerhalb dessen die Fülle von Interferenzphänomenen, die auf Schritt und Tritt in jedem Sprachkontakt auftreten,
erklärbar wer-
den. In einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen wird der Mangel an ethnischen und varianzlinguistischen Perspektiven in der theoretischen Linguistik angegriffen. Besonders Jessel 1978 hat in seinem Buch The Ethnic Process die Entwicklung in der modernen Linguistik unter dem Banner Chomskys wegen überbetonung der Sprachuniversalien und Zurückstellung der enorm großen Sprachunterschiede hart kritisiert (S. 1 2 5 ) . Nur ein oberflächliches Interesse an ethnischen Perspektiven sei bei den meisten theoretischen Linguisten von Chomskys Richtung vorhanden. Man kann jedoch feststellen, daß in den letzten zehn Jahren einige ethnologisch höchst interessante, aber noch unbeachtete Arbeiten, Sammelbände und Festschriften
er-
schienen sind, die zumindest im deutschsprachigen Raum auf ein echtes Interesse an ethnischen Problemen hinweisen. Ich denke dabei an H. Kloss 1 1 9 6 9 große Arbeit über Grundfragen der Ethnopolitik im 2O. Jahrhundert und die neue Auflage und die umgearbeitet Version seiner Entwicklung neuerer germanischer Kultursprachen seit 2 *~~ 180O (vgl. Kloss 1 9 7 8 ) . Weiterhin kann man als ein erwachendes
Interesse an Ethnizität und Minderheiten die beiden Handbücher über linguistische Minderheiten in Europa von M. Straka (ed.) 1970 und Stephens ( e d . ) 1978 anführen. Ich möchte auch vier Festschriften erwähnen: Sprachliche Interferenz , Festschrift Betz, hrsg. von Kolb & Lauffer 1981, die beiden Festschriften für Wandruszka: Interlinguistica hrsg. von Bausch & Gauger 1971 und Europäische Mehrsprachigkeit hrsg. von Pöckel 1981. Zuletzt möchte ich auch an den Sammelband Hugo Schuchardt erinnern, der anlässlich Schuchardts 50. Todestag von Lichem & Simon 1980 herausgegeben worden ist. In den genannten vier Festschriften, die fast programmatischen Charakter haben, wird das Homogenitätspostulat der Systemlinguistik in Zweifel gezogen. Wie die Titel der Festschriften veranschaulichen, stehen jetzt Heterogenität und Polysystematik im Zentrum des Interesses: Interferenz, Interlinguistik, Mehrsprachigkeit und last but not least der Name Schuchardt, der in den 60er Jahren von Bilingualismus- und Diglossieforschern sowie Kreolisten wiederentdeckt worden ist. Die Titel der obengenannten Festschriften ist ein Ausdruck einer Wende im linguistischen Denken seit 1970. Man beruft sich dabei auf Schuchardt, für den Sprache kein homogenes Gebilde war, sondern für den Sprache aus mehreren Systemen und Teilsystemen bestand. Für uns ist er besonders interessant, weil er sich auch mit Mischsprachen und Kreolsprachen auseinandergesetzt hat. Folgendes Zitat beleuchtet die Einsicht Schuchardts in die Multidimensionalität und den Sprachkontaktcharakter der Sprache: "Mischung durchsetzt überhaupt alle Sprachentwicklung; sie tritt ein zwischen Einzelsprachen (=Idiolekten), zwischen nahen Mundarten, zwischen verwandten und selbst zwischen ganz unverwandten Sprachen. Ob von Mischung oder von Entlehnung, Nachahmung, fremdem Einfluß die Rede ist, immer haben wir wesensgleiche Erscheinungen vor uns (H. Schuchardt-Brevier, hrsg. von L. Spitzer 1 9 2 2 : 1 7 1 (zitiert nach Denison 1 9 8 O : 8 ) . Auch für die Kreolistik hat Schuchardt einiges geleistet. Schon im Jahre 1882, also mitten in der junggrammatischen Periode, schreibt er in seinen kreolischen Studien: "Wo sich einmal eine kreolische Mundart fixiert hat, wird zwischen ihr und der europäischen Grundsprache, falls sie ebenda irgendwie cultiviert wird, eine Scala von Kreuzungen oder Übergängen hervortreten. Es ist wichtig, diese hybriden Bildungen kennen zu lernen, in denen ja doch der anfängliche Process sich gewissermassen weiterspinnt" (Schuchardt Kreolische Studien 1882:8OO).
Hier nimmt Schuchardt die Entwicklung von Begriffen wie "kreolisches Kontinuum" einerseits und "Akro-, Meso- und Basilekt" andererseits vorweg. 5. Nach dieser Aufzählung von in jüngster Zeit erschienenen Arbeiten über Multilingualismus und Interferenz sind noch zwei Sammelarbeiten zu erwähnen, die von Reinhold Kontzi in zwei Bänden herausgegeben worden sind: R. Kontzi ( e d . ) 1978 Zur Entstehung der
ro-
manischen Sprachen und R. Kontzi ( e d . ) 1982 Substrate und Superstrate in den romanischen Sprachen. Neben einem eigenen Beitrag zu dem arabischen Super- und Adstrat in den iberoromanischen, süditalienischen, sizilianischen und maltesischen Mundarten (vgl. Kontzi 1982a) bietet Kontzi dem Leser eine Liste von Strataforschern an, die für die allgemeine linguistische Theoriebildung fast in Vergessenheit geraten sind: Ascoli, Bartoli, Menendez-Pidal, Gamillscheg, Rohlfs, Merlo, Wartburg, Valkhoff u s w . , denen wir die B e g r i f f e Substrat (Ascoli 1881-82), Superstrat (Valkhoff
(von Wartburg 1 9 3 2 ) und Adstrat
1 9 3 2 ) verdanken.
Einige Artikel, die sich auch kritisch mit diesen in der historischen Sprachwissenschaft so umstrittenen B e g r i f f e n auseinandersetzen, sind in dem von K o n t z i herausgegebenen Sammelband zu finden: die Artikel von Francescato 1969, Malmberg 1961 und Nielsen 1952 aus strukturalistischer Sicht, sowie Baidinger 1963, Delattre 1969-7O und Tovar 1951 aus romanistischer b z w . allgemeinsprachwissenschaftlicher Sicht. Das Wertvolle ist
hier, daß der Leser in
zwei Bänden ein Konzentrat der wichtigsten Publikation auf dem Gebiet der Strataforschung erhält und daß er sich mit Hilfe dieser Artikel eine eigene Auffassung von der Relevanz dieser Art von historischer Kontaktforschung bilden kann. 6. Besonderer Erwähnung bedürfen die K u r z r e f e r a t e oder Preprints zum 5. Internationalen Linguistenkongress von 1939, der wegen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eingestellt werden mußte (vgl.Kontzi ( e d . ) 1 9 8 2 : 7 2 - 1 0 1 ) . Auf diesen Seiten sind eine Reihe von Kontaktforschern vertreten, die Beiträge zu der historischen Strataforschung liefern: Br^ndal (SS. 1OO-1O1), Cohen ( S . 1 O O ) , Gamillscheg (SS. 8 3 - 8 4 ) , von Wartburg ( S S . 8 7 - 8 9 ) , Valkhoff ( S . 7 8 ) , Whatmough (SS. 77-78) u.a.
(SS. 8 1 - 8 2 ) , Pisani
Im Strudel des Weltkrieges und wegen des Rassenwahns
der deut-
schen Nationalsozialisten geht aber im deutschsprachigen Gebiet und in Skandinavien das Interesse an dieser Art von ethnologischhistorischer Kontaktforschung verloren, so daß die Forscher sich anderen Zielen und Methoden zuwenden. In der Romanistik jedoch lebt dieser Forschungszweig weiter, wie der Sammelband von Kontzi demonstriert. Auch die Ethnolinguistik in den USA und die durch Labovs Einsatz entstandene Soziolinguistik in Europa geben Anregungen für ein Aufleben des Interesses an Sprachkontakten und an ethnisch bedingten Veränderungen im Sprachwandel. Dazu kommt noch das Problem in den Ländern der Dritten Welt, neue Adninistrationssprachen und Schulsprachen für eine wirkungsvolle Kommunikation zu s c h a f f e n , wo sich sprachpolitische Fragen sofort stellen und wo sich das Problem ergibt wie sie gelöst werden sollen. Der 5. Brüsseler Linguistenkongress war jedoch nicht die erste Gelegenheit für ein offenes Diskussionspodium über Themen des historischen Sprachkontaktes. Schon auf dem 4 . Kongress im Jahre 1936 in Kopenhagen sprach Sandfeld über allgemeine Aspekte der Konsequenzen der Sprachkontakte in Europa (vgl. Kontzi ( e d . ) 1982, SS. 6 7 - 6 9 ) und Bartoli über Sub- und Superstrate in der Entwicklung der italienischen Standartsprache und der italienischen Mundarten (vgl. Kontzi ( e d . ) 1982: 7 0 - 7 1 ) . 7. Auch auf dem 6.Linguistenkongress in Paris nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1 9 4 7 wurde der Sprachkontakt als veränderte K r a f t im Leben der europäischen Sprachen eingehend in einer Sektion erörtert. Die Frage IV dieser Sektion dürfte für uns alle von grossem Interesse sein: "Unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen kann der E i n f l u ß des morphologischen Systems einer gegebenen Sprache sich auf das morphologische System einer anderen Sprache auswirken?" Da wir an unserem Symposium ein ähnliches (typologisches) Thema der Sprachkontakte gewählt haben, sind die Diskussionsbeiträge
der Pariser Sektion von 1 9 4 7 von außerordent-
lichem Interesse für uns. Ich werde einige Zitate aus damaligen Diskussionen wiedergeben: (i)
"There is no limit in principle to the influence which one morphological system may have upon another" (Bazell 1949:
303) .
8
(ii)
"il n'existe absolument pas de limites
ä la penetration
du Systeme morphologique d ' u n e langue par celui d ' u n e autre" (Bonfante 1 9 4 9 : 3 O 4 ) . (iii)
"quant aux consequences que 1"action du Systeme morphologique des langues de culture...peut avoir pour les langues moins evoluees...elles peuvent etre enormes" (Pisani 1 9 4 9 : 3 3 3 ) .
Diese drei Aussagen habe ich als exemplarische Beispiele gewählt, um die Einstellung einiger europäischer Sprachwissenschaftler zur Wirkung der Sprachkontakte auf die morphologischen Systeme zu demonstrieren. Jedoch ist
auch eine entgegengesetzte Einstellung
zur Wirkung des Sprachkontaktes in der wissenschaftlichen Literatur vorhanden, wie folgende Zitate illustrieren: (iv) "on n'emprunte guere de vraies formes grammaticales" (Meillet 1958 ( 1 9 2 1 ) : 87) (v)
"prise en bloc la morphologie roumaine est cependant restee exempte d'influencesetrangeres"
(Rosetti 1 9 4 5 : 7 8 ) .
Auch in Amerika waren Sapir und nach ihm viele Strukturalisten einer ähnlichen Meinung: ( v i ) "nowhere do we find any but superficial interinfluencings" (Sapir 1 9 4 9 ( 1 9 2 1 ) : 2 O 3 ) Morphologische Strukturen ( A f f i x e ) und gewisse Funktionswörter (Konjunktionen, Präpositionen, Adverbien usw.) wurden als recht stabile Einheiten in einer Sprachkontaktsituation angesehen, weil sie,
wie man glaubte, tief verwurzelt im Sprachensystem seien.
Diese Behauptung, die auf einer ungenügenden empirischen Grundlage und einem strukturalistischen Vorurteil beruht, wurde von Haugen 195O wiederholt,
indem er mit einer Skala der Anpassung des Lehn-
gutes zwischen Norwegisch und Amerikanisch-Englisch arbeitete. Vor dieser "scale of adoptability" warnt Weinreich 1953 in seinem Buch Languages in Contact wegen ihrer hypothetischen Natur ( S . 3 5 ) . Trotz dieser Kritik schreibt Haugen in seinem Buch Bilingualism in the Americas ( 1 9 5 6 ) folgendes: (vii)
"Function words which normally occur only as a part of utterances are seldom borrowed"(Haugen 1 9 5 6 : 6 6 )
(viii) "bound morphemes whose independent meaning does not become apparent except by comparison of utterances, e.g. deri-
vatives or plural affixes are seldom...if ever borrowed" (idem. S . 6 7 ) . Auch wenn Haugen seine Anpassungshypothese über die Natur der Interferenzen später modifiziert hat, (vgl. z . B . Haugen 1 9 7 2 und 1 9 7 7 ) , ist sein E i n f l u ß auf die Sprachkontaktforschung in Amerika, zumindest in der Erforschung der skandinavischen Sprachen dort so groß geblieben, dass Hasselmo 1972 und 1 9 7 4 in seinen verdienstvollen Arbeiten über das Amerika-Schwedisch noch von einer "geordneten Wahl" lexikalischer und grammatischer Elemente in der Sprache des zweisprachigen Amerikaschweden spricht. (ix) "This variation - which may be referred to either as codeswitching or as integration... is not haphazard but follows a principle that will be termed ordered selection" (Hasselmo 1 9 7 2 : 2 6 4 ) Gemäss diesem Prinzip von "ordered selection" unterliegt der Zweisprachige einer Beschränkung in seiner Wahl von lexikalischem und AE AR grammatischem Material: ( x a ) S - NP + VP oder ( x b ) NP -* Ä Art
. AE
, +
.„AE N
Der zweisprachige Sprecher zieht es also vor, eine amerikanischenglische ( A E ) Verbphrase nach einer amerikanisch-englischen Subjektnominalphrase zu wählen, auch wenn er Schwedisch spricht dieses Phenomen wird auch code-switching genannt. Die Wahl von amerikanisch-schwedischem (AS) Material wäre hier ein Verstoß gegen AE AS die geordnete Wahl im Sinne Hasselmos: ( x a 1 ) S - NP + VP AP A^ oder ( x b ' ) NP * Art + N . Im letzteren Falle wäre auch die Wahl eines englischen Artikels (the) plus ein amerikanisch-schwedisches Nomen ein Verstoß gegen die geordnete Wahl (e.g. the l a n d ) . Auch umgekehrt ist die Wahl eines schwedischen nachgestellten Artikels eine Verletzung dieses Prinzips: ( x b 1 ' ) NP - NAE + Art AS ( e . g . country + t ) . Wenn solche Fälle in der Sprache der zweisprachigen Schwedisch-Amerikaner auftreten, nennt Hasselmo sie Beispiele von "ragged code-switching". Es würde hier zu weit führen, auf die Einzelheiten dieser geordneten Wahlhypothese näher einzugehen. Ich weise deshalb auf zwei Arbeiten hin, wo ich Stellung gegen eine strikte Anwendung dieses Prinzips genommen habe. (vgl. Ureland 1 9 7 5 , S.87-92 und Ureland im D r u c k ) . Wie die oben erwähnten europäischen Forscher des Pariser Kongresses bin ich der Meinung, daß eine rela-
10
tiv uneingeschränkte
Penetration und Integration in der Sprache
von Zweisprachigen vor sich gehen, wenn die im Kontakt unterlegene Sprache nicht den Status von Landessprache oder Administrationssprache h a t , d . h . wenn sie in einer kulturellen, kommunikationsmässigen und administrativen Abhängigkeit zu einer anderen Sprache steht.
Die unterschiedlichsten Typen von Wortklassen und A f f i x e n
werden dann zwischen den beiden Sprachen t r a n s f e r i e r t , je nach Kontaktintensität der involvierten Sprecher. 8.
Ich habe mich hier verhältnismässig ausführlich mit den ver-
schiedenen Hypothesenbildungen in der Geschichte der Sprachkontaktforschung beschäftigt. Meine Absicht war es, eine Diskussion über die Natur der Kontaktprozesse anzuregen, wobei ich gewisse Ergebnisse der Theoriebildung aus der synchronen Interferenzforschung wiedergegeben habe. Ich habe auch die relativ freie Sehweise von Sprachkontakten und ihren Konsequenzen für die involvierten Sprachen bei Schuchardt und anderen Sprachforschern älteren Datums zitiert und einige Hypothesen zur Typologie der Kontaktstrukturen seitens der Strukturalisten kritisiert. Die große Frage bleibt jedoch unbeantwortet, wie eine solche generelle Typologie aussehen soll. Es wäre für die allgemeine Sprachkontaktforschung wertvoll, wenn ein Katalog von Kontaktstrukturtypen aus den europäischen Sprachen zusammengestellt werden könnte, von denen wir wissen, daß sie eindeutige Fälle von Integrations- und Transferenzprozessen zwischen zwei oder mehreren Sprachen sind. Dieser Katalog müßte in Zusammenarbeit zwischen Spezialisten verschiedener sprachwissenschaftlicher Disziplinen erstellt werden. Erst dann können wir es wagen von einer allgemeinen Typologie der Kontaktprozesse zu sprechen. Dieses Unternehmen ist kein isoliertes linguistisches Anliegen, sondern, es gehört zu einer Klärung der kulturellen und menschlichen Beziehungen überhaupt, weil Sprachkontakte auch Kulturkontakte sind.
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ÜBERLEGUNGEN ZUR KONTAKTLINGUISTIK Peter Hans Neide
0. In den letzten fünf Jahren hat sich in der Linguistik eine deutliche Verschiebung bemerkbar gemacht und schliesslich durchgesetzt. Die Illusion von der in sich völlig homogenen Sprachgemeinschaft Chomskyscher Prägung hat einer die sozialen, psychologischen und individuellen Komponenten berücksichtigenden Betrachtungsweise Platz gemacht, wodurch rein formalistische, beschreibungstechnische Gesichtspunkte zugunsten einer auch diachronische, soziokulturelle, politische, kurz : aussersprachliche Faktoren einschliessenden Sprachwissenschaft zeitweilig in den Hintergrund gedrängt wurden. Konsequenterweise sollten mehrdimensionale Strategien die - häufig - eindimensionale Systemlinguistik ersetzen. Statt der beschreibungstechnischen Schwierigkeiten beispielsweise im Bereich der Semantik entstand j e t z t eine neue Problematik - die der Variationen und M o d e l l v i e l f a l t . Die Einbeziehung zahlreicher Nachbardisziplinen wie der Soziologie und der Psychologie sowie die Auseinandersetzung mit Sprechakttheorien, Areallinguistik und Sprachbarrierenproblematik mit gesellschaftspolitischer Relevanz f ü h r t e zu einer Methodenbreite, deren Stärke und Schwäche zugleich in den Variationsmöglichkeiten lag. Zu den zentralen Themen einer Varianzlinguistik gehörte schon bald eine Forschungsrichtung, die wissenschaftsgeschichtlich eine Tradition b e s i t z t , die auf die frühen fünfziger Jahre zurückgeht - die Sprachkontaktforschung oder Kontaktlinguistik. Diese, je nach Blickwinkel, soziolinguistisch oder sprachsoziologisch ausgerichtete Vorgehensweise hat, ähnlich wie die Anfänge der Systemlinguistik, ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, wo WEINREICHs, FISHMANs und später LAMBERTs und LABOVs Arbeiten wiederbelebten, was lange Zeit verpönt war - die Feldforschung empirischer A r t , die in Europa vor allem im Bereich der Areallinguisten anzutreffen war.
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Die Sprachkontaktforschung verdankt aber zugleich der soziopolitisch orientierten Sprachbarrierenforschung im Sinne Bernsteins und Oevermanns zahlreiche.Anregungen, da über die bereits behandelten Zweisprachigkeitskontakte in Konfliktzonen hinaus (wie z. Bsp. Französisch und Englisch in Q u e b e c ) , ganz neue Bereiche von sozial bedingter Halb-, Zwei- und Mehrsprachigkeit erschlossen wurden. Mithilfe des Fergusonschen und von FISHMAN ausgebauten Diglossiebegriffes , der weitgehend den eher pädagogisch-historisch zu definierenden Bilinguismusbegriff ersetzte, erfasste man j e t z t die gesellschaftspolitisch motivierten Schwierigkeiten von Dialektsprechern, sozial unterprivilegierten Grosstädtern, der im beruflichen Aufstieg benachteiligten Ein- oder Mehrsprachigen in sprachlichen K o n f l i k t z o n e n . Auf diese Art und Weise rückten Kreol- oder Pidginsprachen der Dritten Welt nunmehr als vollwertige Kommunikationsmedien in den Mittelpunkt des Interesses von L i n g u i s t e n . . I n den Vereinigten Staaten wurden Substrat- und Teilsprachen von Angehörigen verschiedener Bevölkerungsschichten (meistens als Gegensatz Schwarze/ Weisse) soziolinguistisch beschrieben, und in Europa entdeckte man zahllose Formen von doppelter Diglossie : So sind nicht nur alle europäischen Länder mit der Ausnahme Islands mehrsprachig, sondern auch überwiegend dialektsprachig. 1.
Kontaktlinguistik
Eine Kontaktlinguistik im engeren Sinne geht auf die frühen f ü n f ziger Jahre zurück. In den vorhergehenden Jahrzehnten standen kulturlinguistische Kontaktnahmen wie die Fremd- und Lehnwortübernahme im Mittelpunkt der Forschung, wobei in Europa die Untersuchung lateinischer Sprachkontakte und ihrer Auswirkungen prävalierten. Soziologische oder psychologische Gesichtspunkte wurden jedoch erst von WEINREICH, FISHMAN und HAUGEN ins Spiel gebracht, und zwar unter besonderer Berücksichtigung sprachexterner und sprachinterner Faktoren. Damit verschob sich der ursprünglich interlinguale Charakter der Forschung zugleich auch auf interethnische Kontakte, so dass neben Interferenz- und Transferenzuntersuchungen auch soziale und situative Elemente der Sprachverwendung, Gebrauchsbereiche
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(Domänen), Einstellungen ( A t t i t ü d e n ) , Stereotype und Vorurteile in den Vordergrund rückten. 1.1.
Aktuelle Themenbereiche der Kontaktlinguistik
Sprachplanung und Sprachpolitik beriefen sich in den letzten Jahren immer wieder auf Ergebnisse der Kontaktlinguistik, da z. Bsp. davon ausgegangen wurde, dass sowohl Mehrsprachigkeit wie Zweit- und Drittsprachenerwerb dem Frieden und der Völkerverständigung dienlich seien. Intensität, Vitalität (HAARMANN 1980 I) und Dynamik (AUBURGER 1979) von Sprachkontakten beherrschen zur Zeit die Diskussion auf der einen Seite, auf der anderen stehen Phänomene wie Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel. Hierdurch wurden der sprunghaft sich entwickelnden Linguistik der siebziger Jahre neue Dimensionen erschlossen . Der Rückgriff auf diachronische neben den überwiegenden synchronischen Betrachtungsweisen, die Interdependenz mit zahlreichen Nachbardisziplinen, der Zwang zur Gruppenarbeit und die offensichtlich enge Beziehung und Nähe zu politischen, historisch gewachsenen und ideologischen Situationen und Kontexten erschweren die Beschäftigung mit Sprachkontakt und Sprachkonflikt, machen jedoch zugleich den Arbeitsbereich Kontaktlinguistik zu einem fesselnden Unternehmen, für das sich Einsatz und Mühe lohnen. Dies kam vor allem den Sprachminderheiten zugute und zwar im Zusammenhang mit den linguistischen, psychologischen und soziologischen Implikationen kon^ trastiver Sprachbeschreibung-oder interferierender Sprachverwendung. 1.2.
Kontaktlinguistik
und Mehrsprachigkeit
Erstaunlicherweise sind kontaktlinguistische Initiativen in Ländern mit sprachlichen Minderheiten eher selten (in Europa : Frankreich, S c h w e i z ) . Doch sind Sprachuntersuchungen in mehrsprachigen Ländern unerlässlich, da politische Entscheidungen häufig auf regionalsprachlichen Zuständen basieren. Schliesslich muss die Sprache oft als entscheidendes Beurteilungskriterium herhalten, da sich die Bevölkerung mehrsprachiger Gebiete in vielen Fällen nicht durch andere Unterscheidungsmerkmale von ihren Nachbarn abhebt - für den Kontaktlinguisten eine Herausforderung, da er hier gezwungen ist, seine
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Modelle und Theorien mit der sprachlichen Wirklichkeit zu konfrontieren . 2. Drei Topoi der Sprachkontaktforschung Den einzelnen Sprachen - und das erschwert jegliche eindimensionale, lineare Untersuchung - kommt aufgrund kultureller, historischer, sozialer und politisch-ökonomischer Entwicklungen ein höchst unterschiedlicher Stellenwert auf Landes- wie auf Regionalebene zu. So umfassen die verwendeten Kommunikationsvarianten mutter- und fremdsprachliche Einsprachigkeit, Diglossie und Mehrsprachigkeit,däneben weitere sprachliche Ubergangszonen und Mischformen, die Kontaktlinguisten mono- oder interdisziplinär in den Griff zu bekommen versuchen. 2.1.
Problematik von Sprachenzählungen in mehrsprachigen Gebieten
Leicht liesse sich am Beispiel o f f i z i e l l e r Sprachenzählungen nachweisen : (1) (2)
Sozioökonomische Paktoren beeinflussen die Antworten oft im -1 Sinne der Mehrheit, der stärkeren Gruppe ("Elitegruppe") . In Zweifelsfällen entscheidet der Befragte sich für die so-
zial dominierende Sprachvariante. (3) Sprachstatistiken verzeichnen in Konfliktzonen aufgrund individueller und sozialer Subjektivität zugunsten der Elitegruppe die sprachliche Wirklichkeit. ( ^ ) Interpretation und einseitige Auswahl statistischer Angaben verfälschen weiterhin die Aussagen. (5) Sprachplanerische Absichten oder politische Spannungen können die Aussagen der Befragten in ihr Gegenteil verkehren. Unberücksichtigt bleibt dabei die weitgehende Unvergleichbarkeit von Sprachstatistiken, da deren Wert von einer einheitlichen Fragestellung abhängt (Frage nach der am häufigsten gesprochenen Varietät bzw. nach allen benutzten Varianten e t c . ) . Diese kritische Einstellung gegenüber Sprachstatistikeh hat ihre Ursache jedoch keineswegs in einer Ablehnung sprachlicher Befragungen, sondern will nur auf die Gefahr einseitiger Interpretation und die Notwendigkeit, eine starke Relativierung jeglicher Aussage und
19
gleichzeitige Einbettung in den soziokulturellen Rahmen des Befragten hinweisen. Der Ort, die Anwesenheit bekannter oder unbekannter weiterer Personen, der Interviewer, die Gesprächsfunktionen, der Vertraulichkeitsgrad, die Äusserungsabsicht und die Selbsteinschätzung innerhalb der soziologischen Gruppe bestimmen die Sprachwahl zwar in stärkerem Masse als Sprachregelungen und -Vorschriften, bewirken aber zugleich, dass die kommunikationsintensivsten Sprechsituationen des Privat- und Familienbereiches sich zum Teil dem Prestige- und Sozialdruck der Mehrheitssprache entziehen können. Erst eine gründliche Analyse dieses intimsprachlichen Bereiches in sprachlichen Konfliktzonen kann A u f s c h l u s s über das Sprachverhalten sogenannter Mehrsprachiger erteilen. 2.2.
Polarisierung
Es ist in der einschlägigen Literatur bis zum Uberdruss über die' einschneidenden Folgen der politischen und sozialen Umwälzungen in Europa : seit der industriellen Revolution, in Afrika : seit dem Ende der Kolonialherrschaft - für das Individuum und für gesellschaftliche Gruppen berichtet worden. Selbstverständlich können in mehrsprachigen Gebieten auch die Sprachkontakte nicht isoliert von gesellschaftlichen Veränderungen gesehen werden. Mehrsprachige Gemeinschaften, die seit Jahrhunderten mehr oder weniger harmonisch gewachsen oder im Laufe kriegerischer Auseinandersetzungen entstanden waren, hatten Wege und Mittel der mehrsprachigen Kommunikation gefunden, wobei sich deutliche Bewertungsparameter hinsichtlich von privilegierten Sprachen oder deren Prestigevarianten ergaben. Beispiel l : Sprachteilhaber einer zwölfsprachigen Dorfgemeinschaft in Indien verständigen sich, indem sie ihrer Muttersprache in einem ständigen, jedoch institutionalisierten Wechsel eine Übersetzung in mindestens einer, zuweilen auch in zwei oder drei Prestigevarianten dominierender Dorfsprachen h i n z u f ü g e n . Beispiel 2 : In einem der kleinsten, j e t z t jedoch heftigsten Sprachkonfliktherd Europas, im Voer (Fouron-)gebiet (gelegen zwischen Belgien und den Niederlanden nahe der deutschen Grenze) hatte sich trotz sprachlicher Überfremdung durch das Französische eine stabile
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Diglossie (niederländische Mundart und französische Hochsprache) entwickelt, die in den meisten Lebensbereichen fest war, so dass bei sprachimmanenten Domänen wie der Sprache in der Schule, dem Gemeinderat, der Öffentlichkeit, die Sprachverwendung einer unausgesprochenen Übereinkunft zufolge nach einem fast rituellen Muster verlief. Der Trend der neueren industriellen Gesellschaft nach Einheitlichkeit im Sprachgebrauch, verbunden mit einer Vorherrschaft der hochsprachlichen Varianten schuf derartigen Minderheitsgebieten mit ausgeprägtem Dialektgebrauch unerwünschte Probleme. Territoriale Einsprachigkeit ersetzte die individualisierte Diglossiesituation und zwang die Sprachteilhaber zu einer Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Hochsprache. Diese Polarisierung hatte deshalb zum Teil völlig unerwartete Folgen - zumindest in den Augen "logisch" operierender Sprachplaner : Die diglossische b z w . dialektsprachige Bevölkerungsgruppe entzog sich diesem Polarisierungsdruck, indem sie auf die zugehörige Standardvariante verzichtete und .sich einer fremden Kultursprache zuwandte (in Indien : dem Englischen, im belgischen Voeren in Europa : dem Französischen). Da ein derartiger Bereichswechsel nicht stets erfolgreich sein kann, führt er zu schizoglossischen Zuständen (HAUGEN) oder zum Sprachwechsel. 2.3·
Sprachwechsel ,
Wenn zumindest zwei Sprachen oder Sprachvarianten sich begegnen und zwar in einem längeren Kontakt, der häufig mehrere Generationen umfassen kann, kommt es vielfach zum sogenannten Sprachwechsel. MACKEY (1980) hält aufgrund jüngster Censusvergleiche in Kanada diesen Wechsel bereits für voraussagbar. Das geschieht durch "the measurement of interlingual attraction, the elaboration of community language pressure profiles, and the geocoding of patterns of p language use" . Da es bis heute kein exaktes Messinstrument für die Kultureigenschaften - und dazu gehört an erster Stelle die Sprache - einer Bevölkerung gibt, kann auch kein Standardindex für die Identifizierung von Erst- und Zweitsprachen erstellt werden. Im Vorder-
21
grund sollte deshalb eher eine Analyse des jeweiligen soziopsychologischen Kontextes aus historischer Sicht stehen. Die Soziologie hat bereits brauchbare Modelle entwickelt, die eine soziologische Beschreibung zulassen. Hierzu gehört z . B . die Beschreibung mithilfe von Referenzgruppen, die versehen mit den gleichen Normen und Rollenerwartungen eine Richtschnur und ein Kontrollorgan darstellen, die auf die Einhaltung dieser Normen und das Sanktionieren des Verhaltens achten. Die gegenwärtigen weltweiten Minderheitsprobleme ergaben sich meist aus drei Faktoren, der Migration, der Sozialisation und der Assimilation, wobei letztere für die Beurteilung von Sprachverschiebung und Sprachstabilisierung in einem mehrsprachigen Gebiet besonders wesentlich ist : Unter welchen Bedingungen und wie schnell ist der Zugezogene einzugliedern, mit welchen Gruppen identifiziert er sich und in welche Kulturgemeinschaft lebt er sich vorzugsweise ein? Jedoch ist es auch der Soziologie bisher nicht gelungen, ein gültiges theoretisches Bild der Mehrsprachigkeit slander und deren Gruppenverhalten zu entwerfen. Der Grund hierfür liegt offensichtlich in der Variationsbreite der Sprachkontakte. Der soziale Kontext mit seinen unterschiedlichen Impulsen wird z . B . den Zugezogenen zu einer Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Sprache zwingen. Auf die Frage, welche die Gründe für die Aufgabe ihrer Muttersprache im zweisprachigen Kontext einer europäischen Grosstadt seien, wurde in folgender Reihenfolge geantwortet : 1 Mangel an Mut und Selbstbewusstsein 2 Glaube an die Überlegenheit der fremden Kultursprache 3 mit der Fremdsprache mehr Aufstiegsmöglichkeiten 4 fremdsprachige Umwelt 5 fremdsprachliche Begabung der Minderheitsbevölkerung 6 die Minderheit muss sich fügen 7 es wird seitens der Fremdsprachigen Druck ausgeübt 8 Kinder werden in fremdsprachige Schulen geschickt Es wäre sicherlich die Aufgabe einer anwendungsorientierten Psychound Soziolinguistik, um sich einer solchen Bevölkerungsgruppe anzunehmen, denn bei einer gründlichen Überprüfung der Argumente
22
stellte sich heraus, dass die scheinbar unwichtigsten beiden letzten Gründe für Sprachverfremdung entscheidend sind. Das belgische Heilmittel, das zur Zeit auch relativ erfolgreich in FrankoKanada praktiziert wird, lautet deshalb auch : Zur Aufrechterhaltung der Muttersprachlichkeit eines Individuums ist im territorialen Bereich eine vollständige einsprachige Infrastruktur im 1 Verwaltungsbereich 2 Schulbereich 3 Gewerbe- und Indus.triebereich vonnöten. Vor allem der dritte Punkt hat sich in den letzten Jahren als wesentlich herausgestellt, da hier die Konfrontation mit internationalen Konzernen,Multi-Nationals und einer angloamerikanisch ausgerichteten Weltwirtschaft s t a t t f i n d e t . Somit war z . B . in Kanada und Belgien das sog. Betriebssprachengesetz der siebziger Jahre ein deutliches Zeichen sprachlicher Selbstbehauptung. Erst seither kann beispielsweise von einer gewissen Entemotionalisierung im belgischen Sprachkontakt gesprochen werden. Wesentlich erscheint uns, dass Sprachwechsel nicht kollektiv, sondern individuell in Einzelsituationen erfolgt, wobei diese Situationen als soziolinguistisch einzuordnen sind. Woher auch heute noch in Zeiten der weltweiten Anerkennung des Prinzips der existentiellen Gleichberechtigung von Sprachen und Kulturen die in vielen Fällen erstaunliche Bereitschaft, eine Fremdsprache und andere Kultur zu übernehmen? Neben den aus einer i n f r a s t r u k t u r e l l e n Beschreibung der wichtigsten Sektoren auf dem Arbeitsmarkt hervorgehenden Verfremdungsmechanismen spielt ein anderer Faktor m i t , der den Sprachwechsel teilweise automatisiert. Ohne starke kulturelle Bindungen kommen die Immigranten vom Lande nicht als Gruppe, sondern als Einzelpersonen in die Grosstadt mit dem festen Willen, sich sozial so schnell wie möglich einzuordnen, um aufsteigen zu können; schliesslich liegt das Bruttosozialprodukt in der Grosstadt oft ein Drittel oder mehr über dem Landesdurchs c h n i t t . Diese weitgehende Anpassungsbereitschaft sorgt für eine schnelle Integration. Da die grosstädtische Sprachgruppe soviel stärker erscheint, wird beruflich wie privat Anschluss bei dieser Statusgruppe gesucht. Die Folge dieses Integrationsbemühens ist der soziale Aufstieg.
23
In dieser Klasse der Aufsteiger sind Mischehen unverhältnismässig häufig. Der fremdsprachige Ehepartner, dem man sich unabhängig von dessen Geschlecht - aus Statusgründen ebenfalls sprachlich-kulturell anpasst, wird nun die zukünftige Familiensprache wiederum stark prägen, so dass in der zweiten Generation bereits ein Schneeballeffekt e n t s t e h t . Die Partnersprache verdient bei jeglicher soziolinguistischen Untersuchung deshalb genausoviel Aufmerksamkeit wie die bisher stets untersuchte Muttersprache. Hierzu ein Beispiel aus der belgischen Hauptstadt : Sprachverwendung in soziolinguistischen Situationen Nachbarn
32,5
27,6
39,9
695
Arzt
35,7
5,1
59,2
722
Polizist
19,6
13,0
-67,4
708
städt. Angestellter
17,5
7,8
7^,7
708
Priester
17,6
5,7
76,7
528
Verkäufer
16,1
15,6
68,3
706
Ehepartner
22,^
3,2
7^,4
693
Kinder
22,5
6,9
70,6
608
7,9
5,0
87,1
723
21,7
4,1
7^,2
676
eigene Verwandte Verwandte des Ehepartners
Mehrheitsspräche
beide Minderheits- Anzahl Sprachen Sprache
24
Die Umfrage bestätigte diese Beobachtung. 1*\% aller Kinder aus Mischehen werden in französische Schulen geschickt und stehen damit am Anfang eines Sprachwechsels, der sich in der nächsten Generation vollzogen haben wird . Dass, wie frühere Untersuchungen ausweisen, bei Frauen die Neigung zum Sprachwechsel und zur Kulturübernahme aus Prestigegründen stärker ausgeprägt ist als bei Männern, liegt vielleicht auch in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen begründet : Frauen sind überwiegend im Privatsektor tätig, der grösstenteils französiert ist. 3.
Ergebnisse kontaktlinguistischer Untersuchungen
Welche Folgerungen ergeben sich aus einer solchen Untersuchung nach den Sprachkontakten und Sprachkonflikten einer Grosstadtbevölkerung? Thesenartig, jedoch ungleichwertig seien hier einige Punkte zusammengefasst : 3.1. Das Aufsteigenwollen in eine finanziell und sozial höher erachtete Statusgruppe, die einen Ausschliesslichkeitsanspruch erhebt, muss zum Sprach- und Kulturwechsel oder zum Sprach- und Kulturkonflikt f ü h r e n . 3.2. Die Sprach- und Kulturverfremdung unterer und mittlerer Schichten, vor allem des Arbeiters, ist in Ermangelung einer massgeblichen gleichsprachigen Statusgruppe unvermeidlich. 3-3. Zur soziolinguistischen Erforschung der Sprach- und Kulturkonflikte sollte nicht das Individuum, sondern Gruppen (Familien) und deren Sprachverhalten untersucht werden, da nur so die auslösenden Ursachen von Sprachwechselvorgängen blossgelegt werden können .
3.4, Eine wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen für Sprachund Kulturwechsel kann nur interdisziplinär erfolgen.
25
Anmerkungen 1 2
Vgl. NELDE 1 9 7 8 : 2 4 . Vgl. MACKEY 1980: 41. Damit lehnt auch MACKEY das simplistische Zählen in sprachlichen Mischgebieten ab.
3
Vgl. NELDE 1 9 7 8 : 38.
Literatur AUBURGER, Leopold ( 1 9 7 9 ) : "Zur Theorie der Sprachkontaktforschung: Ist die 'linguistique externe' keine ' l i n g u i s t i q u e ' ? " . AUBURGER, L. / KLOSS, H. ( e d s . ) : Deutsche Sprachkontakte in Übersee. Tübingen: 123-156. FISHMAN, Joshua A. ( 1 9 7 2 ) : The Sociology of Language. Rowley, Mass, HAARMANN, Harald ( 1 9 8 0 ) : Multilingualismus I und II. Tübingen. HARTIG, Matthias ( 1 9 8 0 ) : Soziolinguistik für Anfänger. Hamburg. HAUGEN, Einar ( 1 9 8 0 ) : "Language Problems and Language Planning: the Scandinavian Model". NELDE, P.H. ( e d . ) : 1 5 1 - 1 5 7 . KLOSS, Heinz ( 1 9 6 9 ) : G r u n d f r a g e n der Ethnopolitik im 20. Jahrhundert. Wien - Stuttgart - Bad Godesberg. LABOV, William et al. ( 1 9 6 8 ) : A Study of the non-Standard English of Negro and Puerto-Rican Speakers in New York City. I und II, Washington D . C . LAMBERT, Wallace E. ( 1 9 6 9 ) : "Psychological Studies of the Interdependencies of the B i l i n g u a l ' s Two Languages". PUHVEL, J. ( e d . ) : Substance and Structure of Language. Los Angeles: 99-126. MACKEY, W . F . ( 1 9 8 0 ) : "The Ecology of Language Shift". NELDE, P . H . ( e d . ) : 35-41. NELDE, Peter H. ( 1 9 7 8 ) : "Sprachkonflikt und Sprachwechsel in Brüssel". URELAND, P. Sture ( e d . ) : Sprachkontakte im Nordseegebiet. Tübingen: 1 9 - 4 1 . ( 1 9 7 9 ) : Volkssprache und Kultursprache. Wiesbaden. ( 1 9 8 0 ) : "Sprachloyalität und soziale I d e n t i f i k a t i o n " . Grazer Linguistische Studien 1 1 / 1 2 : 201-209. ( e d . ) ( 1 9 8 0 ) : Languages in Contact and in C o n f l i c t . Wiesbaden. / AMIAN, W. ( 1 9 7 9 ) : "Plädoyer für eine soziolinguistische Betrachtungsweise einer westeuropäischen Minderheit". NELDE, P. H . : Deutsch als Muttersprache in Belgien. Wiesbaden: 1-6. W E I N R E I C H , Uriel ( 1 9 6 3 ) : Languages in Contact. 2 . A . Den Haag.
VORINDOGERMANISCHE UND INDOGERMANISCHE SUBSTRATWÖRTER IN DEN ROMANISCHEN SPRACHEN
Methodische Überlegungen und Forschungsergebnisse Johannes Hubschmid I. Allgemeines Durch die römische Kolonisation wurde die lateinische Volkssprache in Gebiete getragen, in welchen zuvor nicht lateinische Sprachen gesprochen wurden. Diese sind zum größten Teil, wie das Latein, indogermanischen Ursprungs. Ihr Wortschatz ist
im allgemeinen di-
rekt nur durch verhältnismäßig wenige Zeugnisse bekannt. Doch
las-
sen sich aus den romanischen Sprachen zusätzlich vorromanische Substratwörter erschließen. Die vor dem Latein und später noch eine Zeit lang neben ihm gesprochenen Sprachen enthalten indessen auch Elemente, die in anderen indogermanischen
Sprachen keine sicheren
oder überhaupt keine Entsprechungen f i n d e n , wohl aber teilweise in noch lebenden nicht indogermanischen Sprachen, wie z . B . im Baskischen. Denn niemand bestreitet, daß indogermanische Völker in die spätere Romania eingewandert
sind aus früheren, mehr östlich oder
auch zunächst nordöstlichen S i t z e n . Diese Einwanderung erstreckte sich über einen längereren Zeitraum (2. bis 1. Jahrtausend v. C h r . ) . Gewisse Gebiete wurden erst relativ spät durch solche Völker besiedelt, Nordafrika wahrscheinlich, Sardinien sicher erst durch die Römer. Außerdem kann mit Sicherheit angenommen werden, daß eingewanderte
indogermanische Völker zahlenmäßig unterlegen waren.
Vor indogermanische Volksgruppen haben gewiß noch längere Zeit neben eingewanderten
indogermanischen
Stämme gelebt, und die Sprach-
kontakte waren nicht auf wenige Jahrhunderte beschränkt. Derartige Kontakte hatten zweierlei zur Folge. Die Einwanderer mußten sich mit der autochtonen Bevölkerung verständigen; beide Gruppen entlehnten dabei Wörter aus der anderen Sprache für Beg r i f f e , die ihnen nicht bekannt od.er wenig geläufig waren, vor allem einerseits aus dem Bereiche der Sachkultur im weitesten Sinne, Andererseits übernahmen die Zugewanderten manche Bezeichnungen für geographische B e g r i f f e
(darunter auch Ortsnamen), sowie für einhei-
mische Pflanzen und Tiere. Doch wäre es falsch, den Entlehnungsvorgang nur unter diesem Aspekt zu sehen. Vorindogermanische Völ-
28 ker haben ihre Sprache schließlich aufgegeben: sie wurden indogermanisiert. Beim Sprachwechsel· behielten sie aber Wörter aus der angestammten Sprache bei. Durch die sprachlichen Kontakte der indogermanisierten autochtonen Völker mit den Zugewanderten übernahmen die letzteren auch ihnen bisher unbekannte Wörter aus der Sprache der bereits indogermanisierten autochtonen Bevölkerung, eben jene Elemente, die sie beim Sprachwechsel beibehalten hatten. Jakob Jud nannte die so zunächst beim Sprachwechsel nicht ersetzten alten, "zurückgebliebenen" Wörter "Rel_iktwörter". Diese wurden zwar in der Folge auch "entlehnt", aber sie unterscheiden
sich grund-
sätzlich von den Lehnwörtern im engeren Sinne, den sog.
"Kultur-
^ehnwörtern", die ihrerseits durch Handelsbeziehungen oder durch die sekundäre Ausbreitung ihrer Träger innerhalb der übernehmenden Sprache weiter verbreitet wurden. So hat denn auch M. Krepinksy betont,
daß viele slawische Eleme'nte im Rumänischen eigentlich
nicht "Lehnwörter" sind: "ce ne sont pas les Roumains qui ont emprunte les elements slaves aux Slaves, ce sont les Slaves qui les ont introT duits dans leur roumain et les ont par la generalises" Diese Interpretation ist
sicher z u t r e f f e n d . Sie wird
insbesondere
bestätigt durch die okzitanischen Elemente im Regionalfranzösischen von Toulouse: das Okzitanische als
"Substratsprache"
ist
in der Stadt weitgehend verdrängt worden durch das Französische. Die einheimische Bevölkerung war lange Zeit zweisprachig (oder ist
es noch h e u t e ) . Beim französisch Sprechen hat diese Bevölke-
rungsschicht alte Okzitanische Wörter nicht durch französische
er-
setzt, weil es sich entweder um Ausdrücke handelte, welche typisch meridionale Dinge bezeichneten
( z . B . landwirtschaftliche Ge-
räte, spezielle G e r i c h t e ) , oder weil das Okzitanische Wort familiären Charakter hatte, der affektbetonten Sprache angehörte oder ein in jeder Beziehung entsprechendes französisches
Wort fehlte.
Schließl·^!! sind so^he Okzitanismen (Reliktwörter) vor der zugezogenen französisch
sprechenden Bevölkerung zum Teil auch über2 nommen (entlehnt) worden . Was wir bei heutigen Sprachkontakten beobachten können, traf gewiß auch zu bei
Sprachkontakten im Mittelalter, im Altertum und
in vorhistorischer Zeit. Der Begriff "Substratwörter" unterscheidet sich in der Synchro-
29
nie nicht vom verwandten Begriff "Superstratwörter", sondern nur in der Diachronie. Ein sprachliches Substrat bezieht sich auf eine früher gesprochene Sprache, die schließlich durch eine andere verdrängt wurde; ein Superstrat bezieht sich auf eine später dazugekommene Sprache, die aber von deren Träger aufgegeben wurde zu Gunsten der'vorher schon dagewesenen Sprache (wie das bereits zitierte Slawische im rumänischen oder das AItniederfränkische im galloromanischen Sprachgebiet). Die Vorgänge bei den Sprachkontakten sind, synchron betrachtet, genau dieselben. Daher ist
es auch
nicht angängig, prinzipiell etwa Bedenken zu äußern in Bezug auf das Verbleiben von Wörtern (Reliktwörtern) für bodenständige Beg r i f f e aus der ursprünglichen Sprache der neu Dazugekommenen, wenn diese Sprache (als Superstrat) später aufgegeben wurde, sofern die neu Dazugekommene nicht nur eine dünne Oberschicht von Verwaltungsbeamten bildeten, sondern auch das Land bebauten, wie dies gewiß oft der Fall war. Das Terminus Adstrat schließlich kann verwendet werden für eine Sprachgemeinschaft, die auf einem kompakten Sprachgebiet neben einer anderen Sprachgemeinschaft lebte. Elemente aus einer solchen Sprache sind durch Kontakte im Grenzbereich übernommen worden, wo die Bevölkerung vielfach zweisprachig war, vor allem durch Handelsbeziehungen: Kaufleute kamen ins andere
Sprachgebiet
und vermittelten der empfangenden Bevölkerung zusammen mit eingeführten Waren auch die entsprechenden Bezeichnungen. Streng genommen handelt es sich auch bei einer gemischtsprachigen Bevölkerung, synchron betrachtet, um ein "Adstrat", da die Sprachträger nebeneinander wohnen. Manche Wörter aus untergegangenen Sprachen werden aber h ä u f i g einfach als bezeichnet. Oft ist wo es bezeugt ist,
"Substratwörter" oder "Lehnwörter"
ein und dasselbe Wort, je nach den Gebieten, sowohl das eine als auch das andere .
Bei vorindogermanischen Elementen in späteren indogermanischen Sprachen haben wir wenigstens theoretisch auch zu unterscheiden zwischen Wörtern, welche eine indogermanische Sprache sprechende Völker bereits in früheren Wohnsitzen übernommen und dann auf ihren Wanderungen weiter verbreitet haben: die Substratwörter erweisen nicht notwendigerweise ein sprachliches Substrat dort, wo sie heute leben. Vorindogermanische Wörter werden oft vermutet bei in indogermanischen Sprachen mehr oder weniger isolierten Wörtern oder
30
Wortfamilien. Doch ist dabei stets zu bedenken, daß viele alte Wörter im Verlaufe der Sprachentwicklung ganz oder zum großen Teil untergegangen sind. Dies können wir auch bei der Entwicklung des Lateins zu den romanischen Einzelsprachen oder bei der Entwicklung des Altfranzösischen zum Neufranzösisähen feststellen. Wäre das Lateinische nur aus den romanischen Sprachen zu rekonstruieren, so könnte wohl jemand annehmen, jedes in einer einzigen romanischen Sprache oder in wenigen Mundarten weiterlebende Wort sei wegen seiner beschränkten Verbreitung gar nicht lateinisch gewesen, sondern stamme aus einer Substratsprache. Allein aus der beschränkten geographischen Verbreitung von Wörtern in indogermanischen Einzelsprachen lassen sich also nicht mit Sicherheit vorindogermanische Elemente erschließen. Um eine solche Theorie zu stützen, brauchen wir weitere Anhaltspunkte. Ich habe eingangs schon auf mögliche Entsprechungen im Baskischen gewiesen. Doch kann das Baskische alte Lehnwörter aus der Sprache indogermanischer Völker, die nach dem Westen zogen, übernommen haben. Es muß also durch innersprachliche baskische Vergleiche nachgewiesen werden, daß es sich um autochtone Elemente handelt, was nicht immer leicht ist. Sichereren Boden unter den Füßen haben wir beim Sardischen, da in Sardinien vor der Kolonisierung durch die Römer fast ausschließlich nicht indogermanische Sprachen gesprochen wurden. Spätere Lehnwörter von ursprünglich vorromanischen Elementen aus dem Spanischen oder Italienischen sind dank des ausgezeichneten Dizionario etimologico sardo von Max Leopold Wagner leicht auszumachen. Eine wichtige Rolle für die Unterscheidung zwischen alten vorindogermanischen und ursprünglich indogermanischen Elementen in den romanischen Sprachen spielen ferner typologische Kriterien: bestimmte kaum mehr produktive S u f f i x e , die für das Indogermanische nicht vorausgesetzt werden können oder deren indogermanischer Ursprung zweifelhaft ist, Wechsel von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten, soweit sie nicht jüngeren Datums sein werden, vom indogermanischen System abweichende Besonderheiten im Vokalismus, oder in gewissen Fällen Doppelkonsonanz. Nur läßt sich nicht immer mit Sicherheit sagen, was wirklich sehr alt ist und was eher auf späterer einzelsprachlicher, nicht von einem Substrat beeinflußten Entwicklung beruht. Die Meinung der Forscher gehen hier oft auseinander.
31
II.
Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Substratsprachen
1.Vorindogermanische Elemente Bei der geographischen
Verbreitung von bestimmten Wortfamilien
vermutlich vorindogermanischen Ursprungs sind zu unterscheiden a) offensichtliche Zusammenhänge, die schwerlich zu widerlegen sind, vor allem wenn sich keine anderen Erklärungen anbieten; b) mögliche Zusammenhänge, wobei andere Erklärungsversuche
für
eine der Wortgruppen weniger wahrscheinlich scheinen. Lexikalische Beziehungen beruhen nicht notwendigerweise auf einer genealogischen Verwandtschaft der betreffenden Sprachen: es kann sich auch um alte Entlehnungen von einer Sprache in die andere handeln, um älteste Substrate, oder um Kulturlehnwörter,
die
durch Handelsbeziehungen verbreitet wurden. Ferner stellt sich zuweilen die Frage, ob nicht mit Hugo Schuchardt an eine elementare Verwandtschaft von Wortgruppen zu denken ist, wie zum mindesten bei eigentlichen onomatopoetischen oder kindersprachlichen Wörtern. Gewisse Forscher, wie Corominas, sprechen h ä u f i g von einer "formacion expresiva". Sie stellen sich dabei vor, es handle sich stets um verhältnismäßig junge Sprachschöpfungen. Doch sind sog. expressive Wörter auch schon sehr früh gebildet worden. Sie sind z . B . im Baskischen bezeugt und in benachbarten romanischen Sprachen oder auch nur in wenigen benachbarten romanischen Mundarten. Anderswo fehlen sie indessen, oder sie lassen sich nur in indogermanischen Sprachen nachweisen, nicht aber in benachbarten oder weit entfernten nichtindogermanischen Sprachen. Bei Wörtern, die vermutlich aus vorindogermanischen stammen, z. T. mit Entsprechungen im Baskischen, ihrer Verbreitung
Sprachen
lassen sich aus
in der Romania unter Umständen Schlüsse ziehen
auf älteste Sprachschichten oder Sprachbeziehungen, die im Westen bis Portugal, im Osten z. T. bis in den Balkan reichen, oder vielleicht darüber hinaus, bis Kleinasien, in Randgebiete des Kaukasus oder in kaukasische Sprachen. Dadurch wird nicht in jedem Fall eine genealogische Verwandtschaft der betreffenden
Sprachen
erwiesen. Älteste Lehnwörter sind gewiß mit der Verbreitung von Haustieren, besonders von Ziegen und Schafen, verbreitet worden. Diese stammen erwiesenermaßen aus den Steppengebieten des Ostens.
32
Ursprüngliche Lockrufe wurden später zu Gattungswörtern für
die
betreffenden Tiere. Auf eine genealogische Verwandtschaft hinweisende sprachliche Elemente zwischen den drei unter sich sehr verschiedenen kaukasischen Sprachgruppen, in der Art, wie wir sie bei den indogerm. Sprachen kennen, sind bis j e t z t nicht nachgewiesen worden. Die Verschiedenheiten beispielsweise zwischen südkaukasischen und dagestanischen Sprachen sind enorm. Selbst zwischen den dagestanischen Sprachen wird ein Begriff oft durch eine Reihe unter sich nicht verwandter Wörter ausgedrückt. Wenn es eine kaukasische "Ursprache" gab, dann müßte sie in allerälteste Zeiten zurückreichen.
Sprachliche Neuerungen, vielleicht auch hervorge-
rufen durch Sprachmischungen (Substrate, Superstrate), müßten
in
sehr großer Zahl eingetreten sein. Trotzdem kann man den von mir vorgeschlagenen Terminus "Hispanokaukasisch" zur Bezeichnung einer vorindogermanischen Sprachschicht in Westeuropa mit Beziehungen zu östlichen Sprachen beibehalten. Zu dieser Sprachschicht gehörende
Wortfamilien brauchen indessen nicht notwendigerweise
im Baskischen oder in kaukasischen Sprachen weiterzuleben (wie auch indogermanische Wortfamilien nicht notwendigerweise im Altindischen und in germanischen Sprachen vertreten sein m ü s s e n ) . Andererseits gibt es einige lexikalische Beziehungen zwischen dem Baskischen und Berberischen. Da sich das Berberische vom Baskischen
(einer Sprache mit zahlreichen erstarrten, aber auch noch
produktiven Suffixen)
auch in der Morphologie prinzipiell unter-
scheidet, habe ich nicht eine genealogische Verwandtschaft zwischen Baskisch und Hamitisch angenommen, sondern verwandtschaftliche Beziehungen zu einem vorberberischen Substrat und zum Iberischen. Diese Sprachen stellte ich zu einer "eurafrikanischen" Familie, die auch Teile von Westeuropa umfaßte und die wohl identisch ist
mit der von Heinrich Wagner angenommenen "afro-medi-
terranen" Sprachschicht. Darüber habe ich oft mit Pokorny diskutiert. Aus historischen Gründen schien es mir undenkbar, ein eigentliches "hamitisches" Substrat in Westeuropa, das bis
Ir-
land gereicht hätte, anzunehmen. Pokorny hielt schließlich meine These für durchaus möglich. Im Baskischen hätten wir demnach eurafrikanische
Einflüsse zu vermuten (als Substrat, z . T . viel-
leicht auch als Superstrat).
33 Schwierig zu beurteilen sind baskisch-vorromanisch-südkaukasisch-hamitosemitische Wortgleichungen mit Beziehungen zu indo4 germanischen Sprachen, so bei der Wurzel *kar^r^- 'Stein' Weisen diese einerseits auf sehr alte baskisch - vorindogermanisch/indogermanische Sprachbeziehungen, wie dies A. Tovar verschiedentlich angenommen hat, andererseits auf baskisch-kaukasische und kaukasisch-semitohamitische Beziehungen? Nach den neuesten Forschungen von Th. Gamkrelidze kann man annehmen, daß die primäre indogermanische Urheimat südlich des Kaukasus lag, in der Nachbarschaft des Semitischen. Gemeinsame sprachliche Elemente können auf Urverwandtschaft, aber auch auf sehr alten Entlehnungen beruhen. Die Ljicfurer sind zweifellos aus dem Osten eingewandert. Wir finden auch "Ligurer" (Ligyes) in Kleinasien und Kolchis; entfernte Beziehungen zum Baskischen sind wahrscheinlich. Die Etrusker stammen aus Kleinasien. Ihre Sprache enthält indogermanische Elemente. Im westlichen Mittelmeergebiet repräsentieren sie eine jüngere Sprachschicht, die auch "Tyrrhenisch" genannt wird. Beziehungen zum Baskischen sind nicht nachgewiesen. 2. Indogermanische Substratsprachen Hier stellt sich vor allem das Problem sekundärer Uberschichtungen in vorhistorischer Zeit. Es gab zweifellos indogermanische Stämme, die in bereits von Indogermanen besiedelte
Gebiete gezogen sind.
Dadurch ergaben sich Sprachmischungen durch Entlehungen aus der früheren Sprache in die später dazugekommene, oder umgekehrt aus der später dazugekommenen in die früher schon dagewesene. Rein sprachlich läßt sich nicht unterscheiden, welche der beiden Möglichkeiten z u t r i f f t . So wurde das vermutete indogermanischen Ursprungs auch als
"vorgriechische" Substrat
"Superstrat" innerhalb des
Griechischen aufgefaßt. Bei der historischen Interpretation vorromanischer
Substrate spielt vor allem das früher
"Illyrisch" ge-
nannte, weit verbreitete Substrat, eine Rolle. Man spricht indessen besser vom Protovenetischen, von einer damit eng verwandten untergegangenen Sprachgruppe, deren Träger z. T. sekundär seit alter Zeit in keltisches Gebiet eingewandert (als Superstrat), teils wohl weiter gezogen sind, in Gebiete, die dann später von Kelten besiedelt wurden (dort als Substrat im Keltischen). Ein Rest
34
dieser Sprachgruppe, die ich "Parakeltisch" genannt habe, hat sich offenbar in dem durch Inschriften bezeugten Venetischen erhalten. Das sog. "alteuropäische" Substrat hat H. Krähe besonders aus Flußnamen erschlossen, die sehr f r ü h , als die europäischen Sprachen noch wenig d i f f e r e n z i e r t waren, mit Appellativen benannt wurden, die meist bald untergegangen sind, also nur noch - auch im Inselkeltiscnen - "erstarrt" in Namen weiterleben. Bei der Namengebung ist gewiß nicht von "fertigen Namen" auszugehen. Substratwörter (auch Namen) mit erhaltenem indogermanischen g> auf später keltischem Gebiet müssen deshalb relativ spät entlehnt worden sein, zu einer Zeit, als indogermanisches g im Keltischen bereits geschwunden war; sie können nicht innerhalb des Keltischen direkt, bodenbeständig entwickelt, auf eine alteuropäische Vorstufe zurückgehen. Dies hat besonders Pokorny in mündlichen Diskussionen betont. Auf dem nördlichen Balkan haben wir im Rumänischen unter anderem ein dako-mösisches Substrat, das engere Beziehungen zum heute noch weiterlebenden Albanischen hatte. Dies geht aus zahlreichen albanisch-rumänischen Wortgleichungen hervor. Andererseits gibt es viele rumänische Wörter ohne albanische Entsprechungen, sei es, daß diese im Albanischen untergegangen sind, aber im Mösischen weitergelebt haben (südlich der Donau), oder daß sie ursprünglich dakisch waren, und nördlich der Donau in die Sprache dort verbliebener römischer Kolonisten (Veteranen) übernommen wurden. Diese letzte Möglichkeit halten rumänische Forschern als die einzig wahrscheinliche. Eine Übernahme solcher Wörter südlich der Donau ist indessen prinzipiell nicht ausgeschlossen. III. Zusammenfassung Ich hoffe damit einen Überblick über wesentliche Probleme der vorindogermanischen und indogermanischen Substratforschung im Bereiche der romanischen Sprachen gegeben zu haben, über notwendige methodische Überlegungen und über die möglichen Interpretationen der verschiedenen Entlehnungen.
35
IV. Anhang: Beispiele Die nur summarisch angegebene Verbreitung der Wörter, wobei manche Nebenformen nicht angeführt wurden, kann z . T . sekundär erfolgt sein Auf einem kleineren oder einem größeren Gebiet bezeugte Substratwörter können in vorhistorischer Zeit aber auch viel weiter
ver-
breitet gewesen sein: sie sind beim Sprachwechsel nicht immer übernommen worden. Es ist
indessen möglich, daß älteste Substrat-
wörter bereits in einer vorindogermanischen Sprachgruppe mit Beziehungen zum Baskischen nicht allgemein verbreitet waren. Daher sind Verwandte von ihnen im heutigen Baskischen nicht immer nachzuweisen. Die Zusammengehörigkeit der folgenden Wortgruppen - eine Auswahl von insgesamt über hundert analogen Beispielen -,
läßt sich
kaum bestreiten. Eine eingehende Begründung findet man in der angeführten Literatur. Zur Diskussion steht lediglich die sprachhistorische Interpretation der Lehnbeziehungen. A. Baskisch - westliche Romania - Nordafrika 1. Bask, tsapar ' j u n g e E i c h e ' ; span, chaparro - berb. t a s a f t ; rom. *tsapp- ' F ö h r e ' > prov.
S ap
'Tanne';
(vor)lat.
vor-
tsappino->
abruzz. zapping 'Pinus m u g u s ' , lat. sappinus 'Art Föhre 1 . - Hubschmid ( 1 9 6 3 ) , 4 2 6 - 4 3 3 . 2 . Bask, arta-karro 'immergrüne E i c h e ' , span, carra^ca 'junge Steineiche'; aprov. garric 'Kermeseiche'; kors. carognu 'Art kleine Eiche mit Dornen 1 ; griech. (Kalabrien) karr£ ' Z e r r e i c h e 1 . - (Vor lat.
cerrus ' Z e r r e i c h e ' ; berber. akerrus 'immergrüne Eiche'
(nicht
lat. Lehnwort; ^u§ ist S u f f i x ) . - Hubschmid ( 1 9 5 3 ) , 93-97; ( 1 9 7 8 ) , 358. 3. Bask, mata 'Baumstrunk'; span.port, mata 'Baum, G e s t r ü p p ' ; okzit. mato 'Haselnußstrauch, Gebüsch, Büschel, Baumstrunk'; frankoprov. mata ' H a u f e , H e u h a u f e 1 ; sard, mata 'Gebüsch, Gestrüpp 1 ; Lazio matta 'Reisigbündel'. - Berber. ( R i f ) damatta ' H e u h a u f e 1 . - Hubschmid ( 1 9 5 3 ) , 33-35. B. Baskisch - westliche Romania - Balkan: 1. Bask, tsokor 'entkörnter Maiskolben", Alva chocorro 'Baumstumpf; fr.
souche, südtosk. ciocco, rum. cioaca. - Hubschmid
( 1 9 6 3 ) , 404 - 4 1 6 .
36
2. Bask, kotor "Pels', Burgos cotorro 'H gel 1 ; astur, cuetu ' H gel, Fels 1 , galiz. coto ' G i p f e l ' , coto de cabeza 'oberer Teil des K o p f e s ' ; aprov. kat. galiz. cotar 'mit den Kopf, (speziell) mit den H rnern sto e n 1 , port, decotar Oben abschneiden', span. (Osona) escotolar 'desnucar'; aprov. cota ' N a c k e n ' . - Agr. (dorisch) κοττίς 'Kopf, κοτίς 'Hinterkopf' (Hippokrates), κότταβος 1 Kottabosspiel 1 , Doubs coutevet. - Hubschmid ( 1 9 7 9 ) , 643-666. 3. Port, (dial.) carva 'Schlucht', dauph. garbo ' L o c h ' , ligur. garbu ' H hle, hohler Baum'; prov. caravel 'Abgrund, Schlucht, Vertiefung im Gel nde 1 ( ' c r e u x ' ) , s dtosk. karravone 'vom Wasser ausgeh hlte R i n n e " , kors. karravoni 'Schlucht', caravone " L o c h " , apul. caravutte. - amaked.κάραβος 'Tor' ( H e s y c h ) , ngr. ' f f n u n g , Loch, enger Durchgang, Abzugskanal, Schlucht, A b g r u n d ' . - Hubschmid ( 1 9 4 9 ) , 90-104. 4. Portug. loira 'Kaninchenh h l e ' , campan. lavera 'Felsplatte 1 , friaul. l vare. - Nordalban. ler§ 'Ger ll, Steinhaufen". Agr. λάθρα "enger Weg, Zugang zu einer H h l e " . - Hubschmid ( 1 9 4 3 ) , 261-267 (ohne sichere indogermanische Etymologie). C. (Baskisch) - westliche Romania (mit Sardinien) 1. Bask, maskaro " s c h m u t z i g " ; apikard. se maskier "sich schw rzen (mit Ru u.a. beschmieren)', f r . ^Schurer, aprov.kat.arag. mascarar; aprov. masca 'Hexe' (urspr nglich 'd monische, schwarze G e s t a l t 1 ) , port, (dial.) mascarrado ' D mon, T e u f e l ' , sard, su maskatore, asard. maskare Offendere 1 . - Hubschmid, im FEW VI/1, 437439. 2. Sard, arroia "Pf t z e " ; hispan. arrugium 'Stollen im Bergwerk', span, arroio ' B a c h ' , apiem. rugia "Wassergraben 1 , f r i u l . rcxjj5. Hubschmid ( 1 9 5 3 ) , 67. D. "Parakelt." Elemente 1. Vorrom, palla ' berh ngender Fels' , port.(dial.) pala, salmant. palla; vorrom. *pellawo- 'Fels' > sav. peilevo, zentrallad, pelf; vorrom. *pelisa > ostalp. PeJLsa_, Berg. - Verwandt mit ir. all "Fels" (kelt. p_-Schwund!) , aisl. f jail 'Gebirge', agriech. πέλλα "Stein 1 usw. -Hubschmid ( 1 9 5 O ) , 7O-71. 2. It. capanna "H tte (urspr nglich aus Weidenruten geflochten) 1 , auch s dit. mit alten Belegen, oberit. cavanna, hispanolat.
37
capanna (Isidor), aprov. cabana, kat.
cabanya , span, cabafia,
port, cabana, port, cabano 'großer Korb aus Weidenruten 1 ; ligur. cavagno ' i d . 1 ( >prov. cavagn, FEW II, 547-548, mit irrtümlicher Etymologie), engad. chayogna , röm. kagano; galiz. cabazo 'Speicher aus geflochtenen Weidenruten 1 ,
port, caba^ 'gefloch-
tener K o r b ' , aprov. cabas usw. - Agr. (Thessalien)
"Art
1
Reisewagen (mit geflochtenem Wagenkasten) , gr. 'Futterkrippe 1 (schon Homer). - Zur idg. Wurzel *kap- ' f a s s e n ' , lat. capiq u s w . . - Hubschmid ( 1 9 5 9 ) , 133. E. Elemente aus verschiedenen indogerm. Substratsprachen A f r . alie 'Eisbeere' ( ' a l i s e ' ) , occit. alicjo; fr. alise, sp. aliso 'Eisbeerbaum, E r l e ' , bask, altz, a_ltza, alza^ kors. alzu ' E r l e 1 , kalabr. aussu, ä u z i n u » - Verwandt mit lat.
alnus ' E r l e 1
und seiner Familie, Pokorny ( 1 9 5 9 ) , 302. Siehe auch Hubschmid ( 1 9 5 0 ) , 57; ( 1 9 5 9 ) , 137; FEW 2 4 , 318-319.
Anmerkungen 1. 2. 3.
4. 5.
KREPINSKY, M . : "L'element slave dans le lexique roumain". Melanges M. Roques, 4. Paris 1 9 5 2 , 153-162, Zitat S. 158. SEGUY, J.: Le francais parle ä Toulouse. Toulouse 195O. Verschiedene Stellungnahmen zu diesen Fragen: Kontzi ( 1 9 8 2 ) , S. 72-127. Dieses Buch enthält eine Sammlung von methodisch wichtigen Arbeiten, mit reichhaltiger Bibliographie, auch über manche auf spezielle Substratsprachen bezügliche Probleme. Weitere bibliographische Angaben finden sich in den Einführungskapiteln der in dieser Bibliographie genannten Arbeiten. Eigene, bei Kontzi und hier nicht zitierte Publikationen über Substrateinflüsse sind zusammengestellt in der Festschrift J. Hubschmid, Bern 1982. HUBSCHMID, J. ( 1 9 5 3 ) , S. 1O8-112. GAMKRELIDZE, Th.: Die indogermanischen Sprachen und die Indogermanen. Rekonstruktion und historisch-typologische Analyse der Vorsprachen und der Protokultur. (Erscheint 1982/83 in russischer Sprache und separat in englischer Übersetzung.)
38 LITERATUR FEW: W . v . Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch. Bonn (später Leipzig, Basel) 1928 ff. HUBSCHMID, Johannes ( 1 9 4 3 ) : "Bezeichnungen für 'Kaninchen 1 'Höhle 1 - ' S t e i n p l a t t e ' " . Festschrift J. Jud, Romanica Helvetica 20, 246-28O. ( 1 9 4 9 ) : Praeromanica. Romanica Helvetica 3O. ( 1 9 5 O ) : "Vorindogermanische und jüngere Wortschichten in den romanischen Mundarten der Ostalpen", Zeitschr. f . rom. Phil. 66, 1-94. ( 1 9 5 3 ) : Sardische Studien. Romanica Helvetica 4 1 . ( 1 9 5 9 ) : "Lenguas prerromanas no indoeuropeas. Testimonios romänicos". Enciclopedia lingüistica hispänica, I Madrid 1960, 27-66. "Lenguas prerromanas indoeuropeas. Testimonios romänicos". Enciclopedia lingüistica hispänica, I, Madrid 196O, 127-149. ( 1 9 6 3 ) : "Wörter mit s-/z-, ts im Romanischen, Baskischen und in anderen Sprachen". Rev. de ling. rom. 27, 365-448. ( 1 9 7 8 ) : "Romania mediterraneenne et Mediterranee prelatine". XIV Congresso intern, di lingüistica e filologia romanza, Napoli 1 9 7 4 , 1, Napoli 1978, 351-364. ( 1 9 7 9 ) : "Etymologische Prinzipien, dargestellt an kat. escotar 'ein Kleid oben ausschneiden" und damit verwandten Wörtern vorromanischen Ursprungs". Festschrift K. Baidinger, 2, Tübingen 1979, 6 4 3 - 6 6 6 . KONTZI, Reinhold ( H r s g . , 1 9 8 2 ) : Substrate und Superstrate in den romanischen Sprachen. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. POKORNY, J. ( 1 9 5 9 ) : Bern 1959.
Indogermanisches etymologisches Wörterbuch.
DIE AUSBILDUNG DER ROMANISCHEN SPRACHEN
Zur Bedeutung von Varietät und Stratum für die Sprachgenese Christian Schmitt
1.
Vorbemerkungen zum Thema Sprachklassifikation
Die Suche nach einer Erklärung für die Ausbildung von Sprachen gehört zu den ältesten Fragestellungen, die wir ir.it dem Problemkomplex Sprache überhaupt verbinden. Dieses Thema wird, wie schon Steinthal erwähnt, in zahlreichen Mythen verschiedenster Kulturkreise und Völker dargestellt (STEINTHAL 2 1890: 1, 5 f f . ) ; auch an zwei entscheidenden
Stellen der Bibel werden sprachgenealogische
Fragen aufgeworfen und Antworten gegeben: im zweiten Kapitel der Genesis tritt der Mensch als Namensgeber a u f , während dem Bericht des elften Kapitels zufolge die göttliche Intervention die babylonische Sprachenverwirrung gestiftet
hat.
Wie Arno Borst in seinem monumentalen Werk über die Rezeption der Geschichte vom "Turmbau zu Babel" gezeigt hat,
beherrschte
dieses Thema die christliche Antike und das Mittelalter (BORST 1 9 5 7 - 6 3 ) ; es bildete die Grundlage, auf der Sprachgeschichte
sich
hätte entwickeln müssen und es im Grunde genommen nicht konnte, weil eine den gottgewollten Genealogien widersprechende Ordnung und Klassifikation unvereinbar war mit der christlichen Tradition der mittelalterlichen biblisch - patristischen Überlieferung, wie dies in instruktiver Weise etwa Dantes "De vulgari eloquentia" dokumentiert. Erst mit der Überwindung des babylonischen Mythos, die sich in der Zeit des Humanismus und der Renaissance ankündigte, als bei der Errichtung der Nationalstaaten humanistisch - säkularisierten Ideen der Durchbruch gelang, konnte die Ausbildung von Sprachen weitgehend unabhängig von religiösen Rücksichten und Festlegungen angegangen werden. Die Humanisten waren also die ersten, die Kriterien für die Klassifikation und Entstehung von Sprachen ausarbeiteten. Da ihre Werke jedoch seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr oder nur sporadisch rezipiert wurden - man kann in diesem Zusammenhang ohne Zweifel von
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einer Verweigerung der Rezeption durch die historische Sprachwissenschaft sprechen - wird ihre Leistung nur selten gewürdigt und' Wagner hat sicher Recht, wenn er in diesem Zusammenhang betont: ... on n 1 a pas reellement ecrit l'histoire des enfances de la linguistique romane. Chez tous les critiques perce ou un dedain ou une moquerie ä l'egard des 'irreguliers', des 'reveurs 1 , des ' f o u s ' . (WAGNER 1951/2: 123) Dabei haben, wie wir in der Folge auf der Grundlage der spanischen Tradition nachweisen wollen, diese hochgebildeten Wissenschaftler im Grunde alle bis heute in die Diskussion um die Ausbildung der romanischen Sprachen eingeführten Kriterien und Argumente vorweggenommen. In ihren Schriften werden - noch unsystematisch, aber doch im wesentlichen korrekt - die möglichen Einflüsse einer separaten Lautentwicklung, die Auswirkungen subsidiärer Sprachen ( d . h . von Substraten) wie die Folgen von Sprachenkontakt und Sprachenmischung ( d . h . grosso modo von Superstraten) thematisiert. Hier werden zahlreiche Grundeinsichten der historischen Lautlehre vorweggenommen . 2.
Die spanische Philologie und die Ausbildung der rom. Sprachen
Die genealogischen Zusammenhänge zwischen Latein und Spanisch bilden Gemeingut der Grammatiken und Poetiken seit dem 15. Jahrhundert; ein Juan de Mena oder Juan de Lucena waren sich nicht nur der Latinität des Spanischen bewußt, sondern hatten auch für die Andersartigkeit des Spanischen im Vergleich zum Latein eine Erklärung parat, die man getrost als rudimentäre Substratthese bezeichnen kann. Im "Libro de vida beata" zieht Juan de Lucena eine direkte Verbindung vom vorromanischen 'lenguaje bärbaro 1 zum Latein und dem Spanischen seiner Zeit. Das Aufgehen dieses Substrats im Latein sieht er als eine lineare Entwicklung einer Sprache, denn "antes quel Cesar sometiese al imperio romano las Ispanias, era nuestra lengua bärbara, muy cerrada" (LUCENA 1463/1892: 1 1 1 ) ; der Kontakt zwischen dem Vorromanischen und dem Latein habe dann die Sprachbastarde Spanisch und Italienisch - ein Terminus, den später Schuchardt gebrauchen sollte - ergeben: [Cesar] accordo transportar muchas gentes ispanas en Roma y muchas romanas en Ispania; y en esta guisa ambas lenguas se bastardaron: (era antes la lengua romana perfecta latina); y dende llamamos hoy nuestro comun fablar romance, porque vino de Roma. Ninguna nacion, aunque mäs vecina le sea, tan
41
apropria su lenguaje de aquella, ni tan cercana es de la lengua latina quanto esta. (LUCENA 1463/1892: 112) Diese Auffassung vom Spanischen als einem (historisch gesehen) verderbten Latein geht direkt Vorstellungen voraus, wie sie Nebrija entwickelt hat, dem Juan de Mena und Juan de Lucena wohl bekannt waren. Die mit Nebrija verbundene, aber sicher schon dem 15. Jahrhundert generell vertraute K o r r u p t i o n s t h e s e , d i e auch in Juan del Encinas "Arte de poesia castellana" dominiert (BAHNER 1956: 3 5 f f . ) , kennt eine zweigleisige Entwicklung des Lateins einmal zur literarischen "ne - varietur 1 -Version der römischen Klassik, die durch 'arte' (d.h. Grammatik) erreicht wurde, und zum anderen eine vom 'arte 1 unbeeinflußte Evolution, die zum Romanischen führte; diese sei eng mit den Ereignissen des Jahres 57O verbunden, ... cuando la ocuparon los godos, los cuales, no solamente acabaron de corromper el latin y lengua romana, que ia conlas muchas guerras avia comencado a desfallecer, mas aun torcieron las figuras y tra^os de las letras antiguas. (NEBRIJA 1492/1946: 16) Am Beginn der 'lengua castellana 1 , der Nationalsprache des spanischen Königreiches, steht damit für Nebrija das Zusammentreffen des Lateins mit einem Superstrat, eine Idee, die auch in Italien und Frankreich geläufig ist, wo das "volgare italiano 1 resp. "vulgaire francois' von Flavio Biondo (KLEIN 1957: 8 3 f f . ) resp. Charles de BOVELLES (1533) als durch germanischen bzw. germanisch - griechischen Einfluß affiziertes Latein superStratologisch und durch die Verbindung des Lateins mit vorromanischen Einheiten substratologisch erklärt werden. Dabei bilden bei diesen sprachexternen Klassifikationen Kombinationsthesen wie etwa der Einfluß der Druiden und die Frankuslegende gekoppelt mit der Germanenthese die Regel (GERIGHAUSEN 1963: 61 f f . ) . In dem für die Geschichte des Spanischen noch bedeutenderen Traktat "Diälogo de la lengua" des Juan de Valdes rücken sprachexterne Aspekte noch weiter in den Mittelpunkt der spanischen Sprachgeschichte. Analog zur französischen Tradition sieht Valdes im Griechischen das nobelste und mithin wichtigste Substrat des 'castellano', wodurch die Bedeutung des Baskischen automatisch reduziert und
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im Vergleich zum Zeitgenossen Lucio Marineo SICULO (1530/1603) oder zum Kantabrer Andres de (1587/1959) stark eingeschränkt wurde. Dabei trennt Valdes zwei Aspekte, die wir auch' heute noch zu trennen pflegen, wenn wir von griechischem Substrat und griechischem Adstrat sprechen, da er das - Griechisch der Heiligen Schrift ausklammert. Das griechisch beeinflußte Latein der römischen Eroberer wurde ein zweites Mal korrumpiert durch die Sprache der siegreichen Goten, denen Valdes offenbar einen höheren Einfluß auf das Spanische einräumt als den Mauren, deren Einfluß als 'quantite negligeable 1 abgetan wird (VALDES 1535/1928: 2 8 ) . Bei Valdes kommt noch ein weiterer Aspekt zur Sprache, dem Nebrija kaum seine Aufmerksamkeit widmet: in seiner Sicht sind Sprachen zwar grundsätzlich das Ergebnis historischer (außersprachlicher) Prozesse, doch auch das Mit - und Nebeneinander von regionalen Varietäten bringt Sprachwandel insofern, als der Austausch zwischen diatopischen Registern und Subsystemen unabhängige Sprachentwicklung begünstigen oder erst ermöglichen kann: ... como siempre se pegan algo unas provincias comarcanas a otras, acontece que cada parte de una provincia, tomando algo de sus comarcanas, su poco a poco se va diferenciando de las otras, y esto no solamente en el hablar, pero aun tambien en el conversar y en las costumbres. (1928: 29) Damit sind im 16. Jahrhundert bei Valdes vier zusammenwirkende Prinzipien für die Sprachengenese bekannt, die sich in der heutigen Terminologie als: - Substratthese Superstratthese Evolutionsthese Adstratthese charakterisieren lassen. Diese vier Komponenten bilden die Grundlage der Korruptionsthese, wie sie im 17. Jahrhundert von Bernardo Aldrete gegen die phantastische urkastilische Theorie verteidigt und im 18. Jahrhundert von Gregorio Mayäns i Siscär auf der Grundlage von Aldretes "Del origen, y principle de la lengua castellana o romance que oi se usa en Espana" neu formuliert wurde. Dabei hat Aldrete zunächst großen Wert auf die Analyse des Kontaktverhältnisses zwischen den Sprachen der vorrömischen Einwohner Hispaniens und der Sprache der Römer gelegt, woraus das 'Romance' bzw. die 'lengua Latina vulgär' hervorgegangen sei. Das 'Romance'
43
Aldretes beruht damit auf einem verderbten, von Substraten affizierten Latein und nicht auf dem angeblich zunächst reinen Latein Roms, das die militärischen Sieger zu Recht der Urbevölkerung aufzuzwingen versucht hätten, denn Aldrete erkennt, wie etwa hundert Jahre zuvor der französische Bischof Claude de Seyssel (SCHNITT 1979: 4 7 3 f . ) , das Prinzip des 'cuius regio eius lingua 1 voll an. Das hispanische 'Romance 1 habe nun weitere Depravierung dadurch erfahren, daß ein Superstrat - ein germanisches - auf es eingewirkt habe. Als Garant für die negative Einschätzung der sich durch "bestialidad" ( 1587/1959: 270) auszeichnenden Germanen gilt der Heilige Isidor: I dixo mui bien San Isidoro, que cada de las gentes, que fueron sugetas al Imperio, llevo a Roma los vicios, i faltas de su lengua, i costumbres. (ALDRETE 16O6/1970: 151) Die Goten schufen damit letztendlich das Kastilische, wie'die Sueben das Galizische geprägt haben sollen (ALDRETE 1970: 1 6 5 f . ) · Mit den Barbaren (Goten in Spanien, anderen germanischen Stämmen in Italien) beginnen die romanischen Einzelsprachen: ... los vencidos se vuieron de acomodar ala lengua de los vencedores, los quales desearon, i procuraron aprender la Latina, que se les dio mui mal, i la corrompieron, i unos, i otros cada uno por diverso camino, vinieron a dar principio a la lengua Italiana, i Castellana. (ALDRETE 197O: 150) Dabei ist der Katalog der Interferenzerscheinungen bei Aldrete besonders aufschlußreich, denn er kennt: (1)p h o n e t i s c h e I n t e r f e r e n z ("unas letras entendian por otras", (197 : 153) (2) l e x i k a l i s c h e I n t e r f e r e n z ("juntaron los nombres Latinos con los suios", (1970: 153) (3)m o r p h o s y n t a k t i s c h e I n t e r f e r e n z wobei folgende Phänomene mit den Goten in Verbindung gebracht werden: (3a) Reduktion der Flexionsmorpheme beim Substantiv ("dexaron la declinacion, la quäl tomaron de su lengua", 1970: 153) (3b) Reduktion der Verbalmorpheme ("siendoles prolixa ... la variacion de los verbos por sus tiempos ... ", 197 : 153)
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(3c) Aufgabe des Passivs ("en los verbos siguieron las conjugaciones en algo, pero totalmente perdieron la voz passiva; usaron de los participios con el verbo ser ... ", 1970: 153) (3d) Ausbildung des perfecto compuesto (" ... lo mismo hizieron en la activa en los tiempos, que tratan de lo-passado mas perfectamente ... ", 1970:
154)
Der sprachexterne Aspekt steht dabei so sehr im Vordergrund, daß die Frage, ob etwa für die Genese des Italienischen, Französischen oder Spanischen auch sprachinterne Faktoren verantwortlich zu machen sind, überhaupt nicht diskutiert wird, obwohl bei Aldrete Rudimente einer historischen Lautlehre in einigen Kapiteln des zweiten Buches erarbeitet werden, die eigentlich mehr als das mitleidige Lächeln der Philologen des 19. Jahrhunderts verdient hätten. Hier werden nämlich genauere Vorstellungen von den Varietäten und der inneren Evolution des Spanischen entwickelt (ALDRETE 1970: 2 2 7 f f . ) , doch finden solche Erkenntnisse angesichts der überragenden Bedeutung der Korruptionsthese keine Anwendung auf die genealogische Klassifikation der romanischen Sprachen. Wie sehr der sprachexterne Aspekt Aldretes Denken beeinflußt, läßt sich auch im Zusammenhang mit der Entstehung des Portugiesischen und des Katalanischen ersehen: beide Sprachen seien durch die an der 'Reconquista' beteiligten Franzosen aus dem 'Romance 1 herausgebildet worden, ihre Sonderstellung verdanken sie also dem Phänomen der 'mezcla 1 , der Sprachenini s chung (ALDRETE 1970: 164 166) . Aldretes sprachgenealogische Forschungen wurden in der Folge von Historikern ergänzt und Philologen präzisiert, gelten aber grosso modo uneingeschränkt weiter bis ins 18. Jahrhundert, wie dies die von Mayans i Siscär kompilierten "Origenes de la lengua espanola" zeigen; auch für diesen von seinen Zeitgenossen hoch geschätzten Gelehrten stellt das Kastilische eine neulateinische Sprache dar und auch für ihn gibt es eine "prueva evidentissima de aver sido la lengua Castellana que hoi hablamos, en su Origen, Latina"(MAYANS I SISCÄR 1737/1981: 6 9 ) ; dieses Latein habe mehrere Depravationsstufen durchlaufen, es gilt für ihn als gesichert, daß die iberische
45
Variante nicht nur "en la Lengua puramente Latina; sino en la ya barbarizada: especialmente en los libros de la infiina Latinidad" (MAYANS I SISCAR 1981: 1, 45) zu suchen sei, wo man beobachten könne "de la manera que el Latin se iva corrompiendo; o por mejor decir, se iva formando este nuevo Lenguaje que hoi hablamos" (1981: 1, 4 5 ) . Dieses bereits korrumpierte Latein sei weiter durch Strate a f f i z i e r t worden: Gotisch, Kantabrisch und Arabisch. Dabei sind die Angaben über die Goten widersprüchlich, denn einerseits spricht er davon, daß diese zusammen mit den anderen Germanen "introdujeron en Espana muchissimas voces, que aun hoi perseveran"(1981: 1, 4 5 ) , andererseits hält er sich an die durch Aldrete gegebene Bewertung des Superstrateinflusses, der zufolge dem gotischen Beitrag im Spanischen kein besonderes Gewicht zukommt ( 1 9 8 1 : 2, 2 2 2 f f . ) . Auch im Rahmen der Korruptionsthese, die für ihn chronologisch mit der kan4 tabrisch - lateinischen Sprachmischung beginnt und mit der arabisch - lateinischen endet, nimmt der gotische Beitrag eine untergeordnete Stelle ein, wie dies die als Rangliste interpretierbare Auflistung der Strate andeutet: "En lo que toca a las Lenguas, se ha de poner mayor estudio en aquellas, de las quales se han tornado mas Vocablos, que en las otras de que se han tornado menos. I assi mayor estudio deven poner los Etimologistas Espanoles en la lengua Latina, que en la Arabe; mayor en la Arabe, que en la Griega; mayor en la Griega, que en la Hebrea; mayor en la Hebrea, que en la Celtica; mayor en la Celtica, que en la Goda; mayor en la Goda, que en la Punica; mayor en ia Punica, que en la Vizcaina; i generalmente hablando, mayor en las Lenguas que menos Siglos ha fueron dominantes, o de Naciones con quienes los Espanoles han comerciado mucho; que en otras mas antiguas; o de Naciones con quienes hemos comunicado menos."(MAYANS I SISCAR 1981: 1, 6 7 f . ) 3.
Die Fortführung der humanistischen Ansätze in der Romanistik und ihre Reduktion in monistische Ausgliederungsthesen
Betrachtet man nun die ersten Arbeiten der kritischen Philologie des 19. Jahrhunderts, so stellt man hinsichtlich unserer Fragestellung kaum einen nennenswerten Fortschritt fest, noch immer dominiert die Korruptionsthese; die von Diez gegebene Klassifikation basiert weitgehend auf geographischen Kriterien, wenn er von der Aufgliederung des Volkslateins und dessen Entwicklung in je zwei östliche, westliche, südwestliche und nordwestliche Sprachräume spricht (DIEZ 1836- 1844: 1, 4 ) . Im Mittelpunkt der Diezschen Arbeiten steht damit
46 die Fortführung der in der Renaissance bereits bekannten, aber, soweit ich sehe, nie monistisch vertretenen These, die soziale/regionale/stilistische Differenzierung des Lateins habe dessen Ausgliederung in verschiedene romanische Sprachen bedingt. Neu ist also nicht die Evolutionsthese, sondern allein die geringe Gewichtung stratologischer Faktoren; hinzugetreten ist noch der von den Junggrammatikern in der Folge konstruierte Bezug zur [darwinistisch geprägten] Naturwissenschaft, gegen den sich Schuchardt wenden sollte, dessen Ermittlung von Sprachbastarden, die sich "so wenig wie Bastarde des Tier - und Pflanzenreiches zur Fortpflanzung" (SCHUCHARDT 1870/1900: 10) eignen, kaum die These von den natürlichen Sprachen als sich nach gegebenen Gesetzen entwickelnden Organismen zum Wanken bringen konnte, zumal bei Schuchardt das Substrat wie das Superstrat eine recht widersprüchliche Rolle spielt. Wissenschaftsgeschichtlich interessant bleibt, daß das evolutionistische Prinzip hier noch zusammen mit dem Problem des sprachextern bedingten Wandels dargestellt wird; denn schon wenig später sollten sich beide Thesen verselbständigen, weil Evolutionsthesen und Stratathesen jeweils monistisch als Erklärungsprinzipien für die romanische Sprachenvielfalt
Verwendung fanden.
Am Anfang der rigoristisch vertretenen Evolutionsthesen standen dabei latinistische Untersuchungen zu lokalen, sozialen und chronologischen Varietäten innerhalb des Lateins selbst, wie sie von SITTL (1882) und MOHL (1899) inauguriert wurden; diese Vorarbeiten standen Pate für die von Gröber (in KONTZI 1978: 2 3 - 3 2 ) formulierte These, der Zeitpunkt und die Modalitäten der Romanisierung seien entscheidend für die Ausbildung der romanischen Sprachen: die früh romanisierten Teile Unteritaliens und Sardiniens hätten mithin ein altes, Dakien hingegen ein junges Latein erhalten. Solche Erklärungen ließen sich ebenso wenig aufrecht erhalten wie die auf Erkenntnissen der Sprachgeographie beruhenden mechanistischen Prinzipien der von Bartoli inaugurierten 'linguistica spaziale" (BARTOLI 1 9 4 3 ) , die zeitlich wie auch teilweise inhaltlich Lüdtkes Unterscheidung der Romania in eine "Romania terrestre oppure la Romania delle strade" (LÜDTKE 1962/1965: 1105) vorausgeht und auch als Voraussetzung für Alonsos Gruppierung angesehen werden kann, der zufolge eine pro-
47 fund latinisierte 'Romania continua 1 und eine kaum klassifizierbare und linguistisch noch schwerer definierbare 'Romania discontinue' einander gegenüberstünden (ALONSO 1951: 1O1 - 1 2 7 ) . Auch Wartburgs Gliederung der Romania in eine östliche und westliche Hälfte (WARTBURG 195O: 2 O - 3 4 , 1967: 2 5 - 3 6 ) basiert allein auf dem Evolutionsprinzip. Noch schneller führten die allein auf dem Substrateinfluß basierenden Thesen ins Abseits: Bartolis Zweiteilung der Romania in einen appennino-balkanischen und einen pyrenäo - alpinischen Block (BARTOLI 1906: 1, c o l . 2 9 7 - 3 0 8 ) besitzt den evidenten Nachteil, daß kein historisch bekanntes Substrat auch nur annährungsweise räumlich wie zeitlich mit diesen Einheiten zur Deckung gebracht werden kann, und auch Krepinskys These, die romanischen Sprachen seien die direkten Fortsetzer der von Substraten geschaffenen lateinischen Regionalsprachen (KREPINSKY 1958), scheitert an der Realität, denn nicht eine einzige romanische Sprache kann mit den Auswirkungen eines Substrats auch nur hinlänglich erklärt werden. Es scheint daher auf den ersten Blick die von Wartburg vorgetragene Ausgliederungsthese wenigstens methodologisch einen Fortschritt darzustellen, weil hier neben den sozialen Varietäten des Lateins auch die Strate Berücksichtigung finden. Bei näherem Betrachten aber erweist sich die 'Fragmentation 1 nicht als Verbindung zweier Aspekte und Prinzipien, wie sie im Humanismus gesucht wurde, sondern a l s A d d i t i o n zweier m i t Ausschließlichkeitscharakter vorgetragener Thesen: der Evolutions- und der Superstratthese. Für die Großraumgliederung in West- und Ostromania wird nur das sozial differenzierte Latein verantwortlich gemacht, für die weitere Untergliederung der Blöcke in romanische Einzelsprachen wird ausschließlich das Superstrat herangezogen (WARTBURG 1967: 59ff.). Dabei beruht der evolutionistische Teil der der recht doktrinär postulierten Hypothese der die nur durch zwei entscheidende Veränderungen Bewahrung bzw. Restitution des auslautenden -s_
'Ausgliederung 1 auf lateinischen Einheit, relativiert ist: die im Westromanischen
und die Sonorisierung der intervokalischen Verschlußlaute; des weiteren basiert diese These auf der unbeweisbaren, ja fragwürdigen
48
Annahme, daß aus diesen lautlichen und morphosyntaktischen Veränderungen zwei verschiedene Roroanisierungsmodalitäten erschlossen werden könnten: eine Romanisierung 'von oben" für die Westromania / und eine Romanisierung 'von unten 1 für die Ostromania. Die Kritik hat inzwischen klar erkannt, daß eine solche Erklärung u.a. am Sardischen und Iberoromanisehen scheitern muß: am Bardischen, weil dessen Zwitterstellung nicht expliziert werden könnte (WAGNER 1955: 3 6 1 f f . ) , am Spanischen, weil dort partiell die Sonorisierung nicht eingetreten ist (GARCIA DE DIEGO 3 197O: 9 3 f . ) . Auch die wiederum monistisch vorgetragene These von der Ausgliederung der Galloromania durch das germanische Superstrat läßt sich in dieser Form aus mindestens sechs Gründen nicht halten: ( 1 ) das wichtigste Kriterium, die angeblich durch die Germanen bewirkte Diphthongierung der Haupttonvokale in offener Silbe hat Schurr überzeugender als innerromanisches Phänomen erklärt (SCHURR 1970); (2) sprachgeographisch besteht zwischen dem germanischen Siedlungsgebiet und dem Gebiet mit Diphthongierung keine Übereinstimmung; schwer erklärbar bleibt v.a. die von Pignon beschriebene phonetische Sonderstellung des Poitevinischen (PIGNON 1960: 131 150); (3) die dem germanischen Einfluß zugeschriebene angebliche Rücknahme der Palatalisierung von lt. k im nördlichen Galloromanischen läßt sich nicht mit Wartburgs Kriterien verteidigen; vielmehr zeichnet sich die nördliche Trias, wie Müller gezeigt
(4)
hat, zusammen mit dem Moselromanischen durch sprachlichen Konservativismus aus (MÜLLER 1979: 7 2 9 - 7 4 4 ) ; auch historisch vermag die Germanenthese nicht zu überzeugen, da sie von der Annahme ausgeht, eine politische Grenze, die nur 2O Jahre Bestand gehabt hat, habe entscheidenden sprachlichen
Einfluß ausgeübt (MÜLLER 1971: 2 0 f . ) ; (5) die nähere Betrachtung der Burgundismen des Frankoprovenzalischen hat gezeigt, daß vor allem hier Wartburg recht heterogene Belege zusammengetragen hat und daß er zumindest hier mit unzuverlässigem Material diskutiert (SCHMITT 1977: 91 f f . ; JÄ'NICKE (6)
1979: 8 2 9 f f . ) ; evident ist auch die methodologische Schwäche der Superstrat-
49
these: die Eventualität einer schon vor der fränkischen
Landnahme
bestehenden Sprachgrenze wurde überhaupt nicht geprüft.
Brun, der
eine auf vorromanischen Substraten basierende Zweiteilung der Galloromania postuliert hat barsch abgekanzelt
(BRUN 1936: 1 6 5 f f . ) , wird von Wartburg
(WARTBURG 1953/1955: 2 3 f f . ) , Merlos These von
der Gleichsetzung des dialektalen Frankreich mit Caesars Gallien (MERLO 1959: 2 O 3 f f . ) ebenso wenig ernst genommen (WARTBURG 1967: 6 2 f f . ) wie Windischs Keltenthese (WARTBURG 1967: 9 6 f f . ) ; für eine auf lt.
Basis beruhende Sprachgrenze - wie sie damals schon für
Spanien bekannt war (MEIER 1930) - wurde durch die Annahme eines homogenen Lateins der Blick verstellt, wie sich Wartburg aus Voreingenommenheit auch nicht bemühte, die Morfthese zu würdigen (WARTBURG 1967: 6 2 f f . ; SCHMITT 1 9 7 4 : 3 1 6 f f . ) . Allein einer der von GAMILLSCHEG ( 1 9 2 2 : 5 0 f f . ) betonten Ausgliederungsfaktoren wird hier systematisch ausgebaut: der Beitrag des Superstrats. Es ergibt sich aus dieser recht summarischen Schau der seit Diez vertretenen Ausgliederungsthesen sten Erklärungsversuche
für die Galloromania, daß die mei-
zu einseitig waren und daß in der Regel
erst Thesen aufgestellt wurden, für die man dann im Nachhinein das Material gesucht hat.
Es ist
bestimmt kein Z u f a l l , daß dabei die
Optik der Thesen immer enger wurde: hatte Morf noch versucht, a l l e
historisch greifbaren Fakten durch eine die ethnischen
Grundlagen, die römischen 'civitates 1 und die Konstituierung der Kirchensprengel und des Gerichts- und Marktwesens einbindende Sicht zu berücksichtigen, so war diese auf keltischen, römischen und kirchlich - administrativen Grundlagen beruhende These bei Gamillscheg bereits zu einer nur noch die lateinisch - germanische Basis berücksichtigenden These mit zwei komplementären Faktoren geworden, aus der Wartburg dann allein den superstratologischen Aspekt hera u s g r i f f . Das Scheitern dieser These - trotz des gewaltigen lexikalischen Materials - zeigt, daß es für die Entstehung einer so bedeutenden Sprachfamilie wie die romanischen Sprachen eben eine Universalthese schlechthin nicht gibt, weil die seit Wartburg verfochtene Alternative s p r a c h e x t e r n e i n t e r n e
versus s p r a c h -
Ausgliederung eine ungenügende Ausgangsbasis liefert.
50
4.
Perspektiven für eine genealogische Klassifikation der romanischen Sprachen
Die bisherigen Klassifikationsversuche lassen es geboten erscheinen, rigoristische Einzellösungen zu vermeiden und nach möglichst umfassenden Lösungen zu suchen. Dies bedeutet zum einen, daß genealogische Klassifikationen durch typologische zu ergänzen (und nicht abzulösen) sind (MULJACIC 1967: 2 3 f f . ; MÜLLER 1971a: 2 4 2 f f . ) , zum ändern aber auch, daß für die genealogische Klassifikation Kriterienkataloge aufgestellt werden müssen, wie dies recht überzeugend im Zusammenhang mit dem Rumänischen geschehen ist, wo die Diskussion sich nicht mehr um das evident Signifikante, sondern zunehmend um die Gesamterfassung aller genealogischen Prinzipien dreht. Das Rumänische wird heute mehr und mehr im Rahmen der Balkanlinguistik behandelt, was zur Folge hat, daß substratologischen, romanistischen wie superstratologischen Aspekten die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird: Der von der französischen Fassung von Sandfelds"Balkanfilologien" ( 1 9 2 6 ) hergeleitete, heute weit verbreitete Begriff "Balkanlinguistik" (SANDFELD 1930) ist, wie dies Solta formuliert hat, "eine Art Bekenntnis: denn er besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Balkansprachen über gewisse Merkmale verfügen, die vorteilhafterweise von einer eigenen Disziplin behandelt werden sollen" (SOLTA 1980: 1 f . ) ; aber er unterstreicht auch deutlich, daß diese Disziplin nicht von einem einseitigen Standpunkt aus, sondern von mehreren Positionen aus als vergleichende genealogische Disziplin darzustellen ist. Es ist daher konsequent, daß bei genealogischen Fragestellungen hier der Methodenpluralismus einen hohen Stellenwert einnimmt. Der Beitrag der alten Balkansprachen, der z . B . in zahlreichen rumänisch - albanischen Isolexien und phonetischen Gemeinsamkeiten dieser geographisch nicht zusammenhängenden Sprachlandschaften nachgewiesen wurde, wird als Glied in einer Kette, aber nicht als konstitutives Element für die genealogische Einordnung des Rumänischen angesehen. Auch die zuletzt von BAHNER (197O) und MIHAESCU ( 1 9 7 8 ) dargestellte eigene Latinität des Rumänischen wird heute nicht (mehr) einseitig zugunsten einer Evolutionsthese mißbraucht, sondern im Zusammenhang mit anderen historischen Kriterien interpretiert. Früher unter politischer Zielsetzung so vehement
51
diskutierten Themen wie der Frage der Urheimat der Rumänen und dem Problem der Ethnogenese (SOLTA 1980: 6 7 f f . )
fehlt damit heute ein
Teil der Brisanz der früheren Diskussionen, selbst die Frage, ob das Rumänische als Balkansprache oder primär als romanische Sprache zu betrachten sei,
ist
damit inaktuell und wird verdrängt durch
die Einsicht, daß die Stellung des Rumänischen nur unter Berücksichtigung balkanologischer wie latinistisch - romanistischer Gesichtspunkte richtig beurteilt werden kann, ja daß für die Beurteilung der Position dieser Sprache ein Einschluß der heute noch kontrovers diskutierten rumänisch - s lavischen Lehnbeziehungen und der griechisch - rumänischen wie evtl. der germanisch - rumänischen Interferenz nötig
ist.
Die referierenden Arbeiten der letzten Jahre (SCHALLER 1975, KRATICIC 1 9 7 6 , HAARMANN 1976, SOLTA 1980) unterstreichen deutlich die Notwendigkeit einer ausgewogenen Berücksichtigung aller in der Sprachengenese des Rumänischen zusammenwirkenden Faktoren. Was methodologisch für das Rumänische gilt, muß auch für andere Sprachräume versucht werden, wie wir dies am Beispiel der Galloromania zeigen möchten, deren Genese von der Wartburgthese nicht ausreichend beschrieben werden kann, weil in diesem Ansatz, von den korrekturbedürftigen, nachgeschobenen Ausführungen über die Irrelevanz des Substrats von 1953 abgesehen (WARTBURG 1953/1955: 2 3 f f . ) , eine Gewichtung des Substrats nicht vorgenommen wurde, da Wartburg die Subsubstratthese Bruns diskussionslos verwirft und die Morf/ Merlo - These, die pointiert der Formel "la Francia dialettale odierna e la Gallia di Giulio Cesare" (MERLO 1959: 208) entspricht, nicht auf ihre Haltbarkeit überprüft,
sondern nach ihren Schwach-
stellen absucht. Besonders problematisch bleibt die Wartburgthese hinsichtlich des angenommenen einheitlichen Lateins für die gesamte Galloromania. Wir greifen Argumente aus einer früheren Arbeit a u f , wenn wir gerade in diesem Zusammenhang den Verzicht auf das aut - aut postulieren und für eine nach dem Prinzip des et - et ausgerichtete Sprachklassifikation plädieren (SCHNITT 1 9 7 4 : 3 1 5 - 3 2 6 ) , für die es folgende Gründe gibt: ( 1 ) schon die lateinischen Autoren sprechen einerseits von einem
52 gallischen Latein, das sich vom hispanischen und italischen Latein abgehoben habe. Des weiteren gibt es eine Aussage des Sulpicius Severus, die dahingehend gedeutet werden darf, daß der profunder romanisierte Süden (Provincia und Aquitania) sich sprachlich vom später romanisierten Norden abhob; (2) der durch das "Französische Etymologische Wörterbuch" (WARTBURG 1 9 2 2 f f . ) ermöglichte Vergleich des afrz. mit demaokz. Wortschatz ergibt eindeutig, daß die bekannten romanischen Sprachräume Frankreichs sich schon vor dem Mittelalter konstituiert haben müssen und daß das lateinische Element konstitutiv an der Ausbildung des Okzitanischen, Frankoprovenzalischen, Französischen und der nördlichen Dialekttrias Normannisch/Pikardisch/Wallonisch beteiligt war. Teilweise bestehen solche auf der unterschiedlichen Romanisierung beruhenden Isolexien noch in den heutigen Sprachatlanten fort. Damit wird dem Hauptteil der Wartburgthese die Grundlage entzogen, denn diese geht von der "fragmentation de l'unite latine" (WARTBURG 1967: 2 5 f f . ) in fränkischer Zeit aus, einer Hypothese, die im Grunde frühere Arbeiten (WARTBURG 1918, JUD 1917, GRIERA 1922, MEIER 193O) bereits widerlegt hatten; (3) der den einzelnen Sprachlandschaften eigene charakteristische Wortschatz unterstreicht die Bedeutung von Zeitpunkt, Art und Dauer der Romanisierung sowie sprachexternen Faktoren (wie der Anschluß an die Verkehrsadern, die Zuordnung zu Verwaltungseinheiten und die Einordnung in die kirchliche Gliederung). Dabei wird vor allem anhand der sprachexternen Aspekte deutlich, daß lateinisch - romanische Gegebenheiten oft nicht losgelöst von substratologischen Gesichtspunkten behandelt werden können, weil, wie Morf wohl zuerst erkannt hat, einerseits römische Verwaltungseinheiten oft vorrömische Einheiten fortführen, andererseits die spateren kirchlichen Räume meist - aber nicht immer - auf römischen Verwaltungseinheiten basieren oder durch solche präfiguriert sind, was heißt, daß im Rahmen der qualitativen Analyse des Lateins auch sprachexterne Aspekte wie Lüdtkes Straßenthese oder Morfs Bistumsthese eine gewisse Aktualität erlangen. Meier hat Recht, wenn er betont: "In dieser Auflockerung durch ihre planmäßige Historisierung liegt die
53
methodische Bedeutung der Morfschen Studie" (MEIER 1941: 2 5 ) . Die Behandlung der sprachinternen Aspekte hingegen zeigt, daß viele bisher monistisch vorgetragene Thesen in nuce partiell richtig waren, daß aber wohl erst aus dem Zusammenführen aller Kriterien ein brauchbares Gesamtbild gewonnen werden kann: - der besonders hohe Anteil altlateinischen Wortschatzes am typischen frankoprovenzalischen (SCHMITT 1974: 1 7 9 f f . ) und okzitanischen Wortschatz (SCHMITT 1974: 1 2 2 f f . ) des FEW unterstreicht, welche Wichtigkeit dem in der Gröberthese betonten Moment des Zeitpunkts und der Dauer der Romanisierung zukommt; auf qualitativer Ebene bestehen hier enge Beziehungen zur Latinität des äußersten Nordens und wohl auch zum Moselromanischen, Gebieten, die früh an römische Straßensysteme angeschlossen und durch starke Garnisonen früh und intensiv romanisiert worden sind; - der auffallend hohe Anteil spätlateinischen und kirchensprachlichen Wortschatzes an dem typischen französischen Wortschatz hingegen ließ auf eine spätere, wohl weniger ausgeprägte Latinisierung (im Zusammenhang mit der Christianisierung) des f r z . Zentralgebietes schließen (SCHMITT 1974: 2 1 9 f f . ) ; Verbindungen zum Frankoprovenzalischen, mit dem das f r z . spätlateinischen Wortschatz gemeinsam hat, zeigen, daß in späterer Zeit von Lyon aus ein Romanisierungsschub ins f r z . Zentrum erfolgt sein muß (SCHMITT 1974: 2 9 5 f f . ) ; hier bleibt Lüdtkes Straßenthese (LÜDTKE 1962/1965) aktuell, denn in späterer Zeit wurde Nordgallien von Lyon aus verwaltet; - die Sonderstellung des Frankoprovenzalischen beruht auf der Geschichte des Zentrums, ist mit der Sonderstellung Lyons eng verbunden, das anfänglich zur Narbonensis hin, später dann nach Norden orientiert war und als Kulturzentrum obendrein literarischen Wortschatz in seiner Volkssprache kennt, der sonst in dieser Form nirgends fortlebt (SCHMITT 1974: 1 9 O f f . ) . Hier können Ansätze von GRIERA (1929: 1 8 O f f . ) und GARDETTE ( 1 9 6 2 : 7 1 f f . ) bestätigt werden, auch Morfs These darf man im Zusammenhang mit diesem Sprachraum nicht ablehnen: Da Lyon bis ins Mittelalter Zentrum blieb, also eine gewisse Unabhängigkeit durch die Sonderstellung im kirchlichen Bereich und später durch die burgundische Reichsgründung bewahrte, konnte sich hier eine Varietät des Lateins weiterentwickeln.
54 Die durch das "Französische Etymologische Wörterbuch" ermöglichte Untersuchung des galloromanischen Wortschatzes ergab, daß die sprachliche Gliederung der Galloromania nicht unabhängig von der Romanisierung Galliens erklärt werden kann; für die Konstituierung der Galloromania muß man deshalb eine Latinitätsthese postulieren, was angesichts der Untersuchungen MENENDEZ PIDALs ( 1956) oder MEIERs zur Iberoromania (1941: 6 3 - 9 9 ) und romanistischer Arbeiten zur Ostromania (NICULESCU 1965; NICULESCU 1 9 7 7 ) erwartet werden konnte. Doch darf man für diese These keinen Ausschließlichkeitscharakter postulieren, da aus der Feststellung unterschiedlicher Qualität des galloromanischen Lateins keine Aussagen über die Auswirkungen von Substrat und Superstrat hergeleitet werden können. Damit darf unter Berücksichtigung der bisherigen Strataforschung als Ergebnis der Gesamtanalyse des galloromanischen Wortschatzes festgehalten werden, daß den Substraten allenfalls die ersten Konturen der heutigen Sprachlandschaften zu verdanken sind, daß aber die sprachliehe Dreigliederung im wesentlichen als Werk der Romanisierung anzusehen ist, wobei nie außer Acht gelassen werden darf, daß alle Nachfolgeformen der römischen Administration in der Regel das römische Werk weiterführten. In dieser Sicht kommt dem germanischen Superstrat nicht mehr die auslösende, prägende Funktion bei der sprachlichen Ausgliederung zu, da die Germanen bereits vorgeformte Einheiten stabilisierten, also noch mehr sprachextern als sprachintern beeinflußten. Daran ändern auch nichts die imposanten Bände 1 5 - 1 7 des "Französischen Etymologischen Wörterbuchs", in denen nicht nur der Superstratwortschatz der Burgunder, Goten und Franken zu finden ist, sondern ebenso germanische Wanderwörter, nur an der Peripherie belegter Adstratwortschatz und spätere Entlehnungen zusammengetragen sind. Die Wartburgthese darf also nicht von der Substratthese und der Latinitätsthese gelöst werden, man schätzt den Beitrag des Superstrats sicher richtig ein, wenn man unterstreicht, daß es angelegte, bereits vorhandene Entwicklungen begünstigt und gefördert, aber nicht verursacht hat.
55
5.
Folgerungen und Ausblick
Gerade die romanischen Sprachen zeigen uns, daß die Bewertung des Strateinflusses mit größter Umsicht und Vorsicht vorgenommen werden muß, und daß bei "parti pris 1 hier schillernde, schnell platzende Seifenblasen entstehen, deren ideologische Färbung leicht auszumachen i s t , ( M E I E R 1977: 2 9 2 - 3 3 4 ) . Die romanische Philologie ist gegenüber anderen Philologien priviligiert, da sie wie kaum eine andere über Dokumentationen und Quellen verfügt, die es ihr gestatten, ohne große Spekulation über inneren und äußeren Sprachwandel zu urteilen, und der Romanist - das zeigt das Beispiel der sprachlichen Gliederung Frankreichs - tut stets gut daran, zuerst die lateinisch - romanische Basis und dann das Substrat und das Supers trat zu analysieren, bevor er sich auf Abenteuer einläßt. Für den Kreolisten, der spanische, portugiesische oder französische Kreolsprachen beurteilt, ist es selbstverständlich, zunächst den Vergleich mit den in Frage kommenden romanischen Ausgangsstufen zu suchen und zunächst die Varietäten dieser romanischen Einzelsprachen heranzuziehen (BOLLEE 198O: 6 8 f f . ) , und dann erst den Blick auf die Kontaktsprachen zu richten; die Kreolistik ist hier zunächst im Kern eine vergleichende Disziplin. Ein Vorgehen, wie wir es im Zusammenhang mit der Superstratthese feststellten, wo Wartburg ohne Voranalyse von der nie bewiesenen Einheit des Lateins zur (superstratbedingten) romanischen Vielfalt überging, wäre hier undenkbar, und das zu Recht. Das heißt, gerüstet mit den Erkenntnissen der modernen Linguistik zur Methodenvielfalt des Humanismus oder auch eines Heinrich Morf zurückzukehren, die unseren Ausgangspunkt bildete, dies natürlich nicht, um alte Spekulationen neu aufzugreifen, aber um alle Faktoren der Sprachentwicklung zumindest theoretisch in eine umfassende Darstellung mit einzubeziehen, wozu heute natürlich die Sprachgeographie, die Kreolistik, die Sprachtypologie, die Interferenzforschung und die Varietätenlinguistik zählen. Nur so wird es möglich sein, die Entwicklungslinguistik auf gesicherte methodologische Grundlagen zu stellen und den Beitrag von Varietät und Stratum für die Diachronie von Sprachen besser einzuschätzen und subjektive Spekulation durch empirisch gesicherte Erkenntnisse abzulösen.
56 Anmerkungen 1
Z vim Folgenden vgl. auch die Ausführungen bei L. KUKENHEIM (1932), R. MENENDEZ PIDAL (1933: 7 - 6 3 ) , H. MEIER (1935: 1 - 2O) und W. BAHNER (1956: 17 - 54) . 2 So wohl erschließbar aus der Einleitung seines zweiten Buches: "For