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German Pages 232 [236] Year 1900
Die
L
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h
r
e
v
o
m
G e w i s s e n .
Ein Beitrag zur Ethik
von
Dr. W. Gass.
B e r l i n . Druck und Verlag von Georg Reimer.
1869.
Der n a c h f o l g e n d e n Schrift liegt ein g l e i c h n a m i g e r Vortrag- ziini G r u n d e . welchen ich am A n f a n g e des v e r g a n g e n e n J a h r e s in D a r m s t a d t und einige Monate später a u c h in Giessen vor einer g r ö s s e r e n V e r s a m m l u n g g e h a l t e n habe. Der G e g e n stand hat mich, seit ich mich s e l b s t ä n d i g mit der E t h i k beschäftige, l e b h a f t a n g e z o g e n ; ich entschloss mich sogleich zu einer gründlicheren Bearbeitung, und sie w ü r d e früher zu S t a n d e g e k o m m e n sein, hätte ich nicht bald d a r a u f Giessen verlassen, und wäre ich nicht w ä h r e n d des e r s t e n J a h r e s meines Heidelberger L e b e n s fast ausschliesslich a u f a k a d e m i s c h e T h ä t i g k e i t hingewiesen w o r d e n . Wie die A b h a n d l u n g j e t z t vorliegt, hat sie mit dem ersten E n t w u r f nichts g e m e i n als die Ansicht sowie einige Beste rhetorischer S p r a c h e , welche ich nicht habe tilgen wollen. Das e r ö r t e r t e T h e m a hat im L a u f e der beiden letzten Decennien a u s mancherlei U r s a c h e n d a s wissenschaftliche Nachd e n k e n der T h e o l o g e n und P h i l o s o p h e n in e r h ö h t e m G r a d e auf sich gelenkt. Von a l l g e m e i n e r e n systematischen W e r k e n a b g e s e h e n sind ihm auch m e h r e r e m o n o g r a p h i s c h e Unters u c h u n g e n g e w i d m e t worden. Meine Schrift tritt d a h e r in eine ziemlich a n g e w a c h s e n e iieihe a n d e r e r , welche ebenso ungleich an A u f f a s s u n g wie an U m f a n g die Tiefe d e s P r o b l e m s a u f ' s Neue vor A u g e n stellen, a b e r a u c h zu wiederholtem Eing e h e n auf dessen S c h w i e r i g k e i t a n z u f e u e r n geeignet sind. D a s ausführlichste W e r k ist: Die L e h r e von dem G e w i s s e n , dargestellt von Dr. R u d o l p h l l o f n i a n n , L e i p z i g 18G6; auf dieses ist denn auch im F o l g e n d e n a m Meisten Bücksicht g e n o m m e n w o r d e n . I n d e m ich dasselbe, wie schon der selige Rothe ge-
IV
than, als eine achtbare, fleissige und verdienstliche Arbeit, die auch mir viel genutzt hat, gern anerkenne, bin ich doch der Ueberzeugung, dass es bei der von Hofmann gelieferten B e handlung der Sache unmöglich bewenden kann. Ich stelle ihr die meinige kritisch zur Seite, welche zwar nicht durchgängig, aber doch in Hauptpunkten gegensätzlich ausgefallen ist. Wenn von einigen Schriftstellern die Bedeutung des Gewissens über das bisher gewöhnliche Maass ausgedehnt wird: so habe ich sie vielmehr im Anschluss an die ältere Ueberlieferung begrenzen und ihrem rechtmässigen Gebiete zurückgeben wollen. Meine Absicht war, den Begriff des Gewissens weder mit Rothe flir den wissenschaftlichen Gebrauch preiszugeben, noch über seine natürlichen Schranken hinaus zu erweitern, sondern ihn dergestalt festzuhalten, dass er desto vollständiger und eigent ü m l i c h e r in sich selbst zur Entfaltung gelangt. Neben der Uebersicht und Verwertliung des geschichtlichen Materials hat mich daher gerade j e n e schwierige Seite der Untersuchung, wo sich psychologische, ethische, religiöse und selbst dogmatische Interessen berühren, am Meisten beschäftigt; praktische Folgerungen und Anwendungen sind erst am Schluss und nur kürzlich zur Sprache gekommen. Den Anhang wolle der Leser als kleine gelehrte Zutliat mit in Kauf nehmen. Möge Übrigens das BUchlein von der Liebe und Anstrengung, aus der es hervorgegangen, auch Zeugniss geben. Heidelberg im September
1869.
Dr. G a s s .
I
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a
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t
.
Seite I.
Vorbemerkungen
1
II.
Vorchristlicher Hintergrund
i
III.
Biblisches Material
15
IV.
Historische
37
L'ebcrsicht
V.
D a s W e s e n des G e w i s s e n s
VI.
Sittliches und religiöses Gewissen
113
I r r t h m n u n d W a h r h e i t des G e w i s s e n s
Hl
Das Gewissen im ü b e r t r a g e n e n
183
VII VIII IX. X.
83
Sinn
Die T h ä t i g k e i t s f o r m e n Seliluss
Anhang.
Das scholastische Wort Synderesis
188 206 216
D i e L e h r e vom Gewissen.
I.
Vorbemerkungen. Der Gegenstand der folgenden Untersuchung betrifft einen allbekannten Namen und höchst geläufigen Vorstellungskreis, welcher, um fasslich zu werden, gar keiner wissenschaftlichen Beihülfe zu bedürfen scheint; er ist gerade darum schwierig, weil er seine Schwierigkeit nicht zur Schau trägt. Alle sittlichen Begriffe sind ihrer allgemeinen Bedeutung nach Gemeingut und werden n o t wendig zu Gemeinplätzen; als solche sind sie selbstverständlich und gehen einfach von Munde zu Munde. Man hält nicht für nöthig, sie einer genaueren Erwägung zu unterziehen; auch über Werth und Inhalt des< Gewissensbegriffs glaubt Jeder hinlänglich Bescheid zu wissen, und Niemand denkt daran, dass die unsichtbare Macht, in welcher viele grosse Weltereignisse ebenso wie die Vorgänge des täglichen Lebens ihre letzte Erklärung suchen, oder die höchste Instanz, mit welcher tausend Fragen beantwortet und tausend Zumuthungen kurzweg abgelehnt werden, selbst ein Fragliches sein und werden könne. In solchem Falle handelt scheinbar die Wissenschaft ihren eigenen Zwecken zuwider, denn sie macht das Gewisse wieder ungewiss, das Sichere zweifelhaft; in der That aber folgt sie doch nur ihrem alten Beruf, indem sie ausdenken und ergründen will, was jeder sinnbegabte Mensch schon in sich trägt. Das Bekannte wird zum Problem, denn nur befreit von dem Ungefähren und Oberflächlichen, was ihm aus der Umgangsrede der Menschen anhaftet, kann es sich in seiner Eigentlichkeit darstellen als das, was es ist und worauf es beruht. Auch das Wesen der Religion wird selten völlig verkannt, selten in seiner Tiefe und Vollständigkeit verstanden. Aehnliches gilt Gass, über (las Gewissen.
1
2 von d e m j e n i g e n Hauptbegriff der Ethik, mit welchem sich d a s F o l g e n d e zu beschäftigen h a b e n Gewissen
ist,
wird.
W e r gar nicht w e i s s ,
den niuss man stehen l a s s e n ,
was
er hat vom B a u m
der E r k e n n t n i s s noch nicht genascht; der alte S p r u c h : ihr w e r d e t sein wie Gott, wissend das Gute und das Böse, — ist noch nicht an ihm in E r f ü l l u n g gegangen.
Er ist noch ein Kind, oder er m ü s s t e
j e n e R e g u n g e n vergessen haben, und dann w ä r e er entweder zum moralischen Stumpfsinn h e r a b g e s u n k e n , oder angelangt auf d e r letzten Höhe des Lebens.
J e d e r besitzt also eine allgemeine K e n n t -
niss der Sache, die E r k l ä r u n g e n b e r ü h r e n sich oder laufen in einander;
genauer angesehen
weichen
welche die Grundvorstellung
sie jedoch in Momenten
afficiren.
Es zeigt sich die
ab,
unend-
liche Schwierigkeit, die Thatsachen sittlicher E r f a h r u n g u n d Selbsterkenntniss
auf
einen
u n s e r Nachdenken
adäquaten
wird
Ausdruck
zurückzuführen,
gleichzeitig befriedigt und
und
zu n e u e r An-
s t r e n g u n g aufgefordert. Jedenfalls ist der Gegenstand in aller seiner Klarheit u n d Unklarheit doch vom allerersten Range.
Was er besagt, ist nicht al-
lein ein wesentliches Band alles Verkehrs u n d ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verstandniss des Menschenlebens, nein es h a t auch fast in j e d e r einzelnen Wissenschaft seine nothwendige Stelle. Vom Gewissen darf Keiner a b s e h e n , er sei nun ein Theolog o d e r Philos o p h , ein P ä d a g o g oder Psycholog, ein Rechtskundiger o d e r endlich ein Arzt, und
nur
der exaete Naturforscher hat
unmittelbar
keine Veranlassung, diesen Begriff in die Reihe seiner E r w ä g u n g e n aufzunehmen.
Uebrigens zieht sich dieser Gedanke durch alle p r a k -
tische o d e r wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschenleben, und w e n n
d e r Historiker
ihn täglich b r a u c h t
und
anwendet:
so
darf ihn auch die physische Anthropologie nicht zurückweisen, da eine Reihe von körperlichen Affectionen auf ihn hindeutet. glichen mit T u g e n d und Pflicht ist das W o r t Gewissen
Ver-
abstracter
u n d inhaltsloser, aber zugleich schärfer und nachdrucksvoller, weil es, wie es auch erklärt w e r d e n möge, innner den Sinn einer schlechthin gültigen Auctorität mit sich f u h r t ; es gebietet A c h t u n g u n d fordert A n e r k e n n u n g d u r c h seinen blossen Klang.
Alle a n d e r e n Ge-
3 böte hat m a n vielfach a b g e s t u f t , aber seine Aussagen u n d Z e u g nisse stehen immer auf gleicher Linie. Art von B i n d e - u n d L ö s e g e w a l t
Alle denken dabei an eine
im Menschen,
beginnt und später aufhört als jede a n d e r e .
welche f r ü h e r
Nun zerfallt a b e r das
ganze sittlich-natürliche Leben in lauter engere und weitere Kreise, die wieder d u r c h ebenso zahlreiche Bindungen und L ö s u n g e n , setze und Freiheiten mit einander z u s a m m e n h ä n g e n . sen
einzelnen
Beschränkungen
und
Ge-
Zu allen die-
Befreiungen scheint
sieh
Gewissen wie das Allgemeine zum Besondern zu v e r h a l t e n ,
das
es ist
das unverlierbare und unentbehrliche Regulativ, welches dieselben theils berechtigt und a n w e n d e t , tlieils prüft u n d , ausreichen w e i d e n ,
ergänzt.
da sie
Mit diesem persönlichen
niemals
Maassstabe
in der Hand wird Jeder in die Welt entlassen, und es klingt ihm der f r o m m e W u n s c h n a c h ,
dass er sich an rechter Stelle g e b u n -
den oder gelöst fühlen möge.
Wir b e r ü h r e n damit vorläufig einen
nächstliegenden Gedankenkreis.
Meist waren es p r a k t i s c h e
Er-
wägungen, welche die Vorstellung des Gewissens von j e h e r begleitet h a b e n , und zwar entweder tröstlicher und zuversichtlicher o d e r bedenklicher Art.
Sie führten bald zu einer stolzen F r e u d e
den starken P a r a k l e t e n ,
über
welcher dem Menschen f ü r alle sittlichen
Kämpfe und Entscheidungen
geliehen
sei,
bald endigten sie
mit
einer ernstlichen Sorge, ob derselbe sein hohes Amt a u c h treulich üben und sich nicht durch anderweitige Zuehtmeister darin beirren lassen.
werde
Dieses doppelte Anliegen sollte stets v e r b u n d e n sein,
gleichwohl haben die Zeitalter je nach ihrer nächsten B e s t i m m u n g sich entweder m e h r um
die Freiheit
der
um die Strenge und Unveränderlichkeit Gewissensübung
bemüht.
In beiden
oder Fällen
muss es aber f ü r das wissenschaftliche Denken zuletzt zu der F r a g e kommen:
was das f ü r ein Ding sei, welchem ein so grosser An-
theil an d e r F ü h r u n g der Individuen
und
der Geschlechter
zuer-
k a n n t wird. Die philosophische
oder theologische Ethik
handelt
in
ihren
grundlegenden Abschnitten von der menschlichen Natur, vom sittlichen Vermögen, d e r Freiheit u n d dem Gesetz, in diese erste Gedankenreihe
gehört
auch
das Gewissen.
Dieses wird 1 *
in d e r T u -
4 g e n d - u n d Pflichtenlehre v o r a u s g e s e t z t , ohne d a s s e l b e w i r d die T u g e n d nicht v e r s t a n d e n u n d die Pflicht nicht g e ü b t w e r d e n Nimm es h i n w e g : das Sittliche, haupt
so
oder
können.
fehlt die s u b j e c t i v e U n t e r s c h e i d u n g s g a b e
es müsste b e w i e s e n w e r d e n ,
dass diese
erst auf d e m W e g e des Unterrichts und der
dem m e n s c h l i c h e n Sinne eingeflösst s e i ,
ohne
für
über-
Ueberlieferung
in
ihm eine n a t ü r -
F ü r eine v o r h e r r s c h e n d theologische A r b e i t ,
wie w i r sie hier
liche V e r t r e t u n g zu finden.
b e a b s i c h t i g e n , ergiebt sich die A n o r d n u n g des z u g e h ö r i g e n Stoffes ziemlich von selbst.
Es ist nöthig, eine Durchsicht und Z u s a m m e n -
stellung des biblischen Materials an die Spitze z u stellen, an w e l c h e sich eine g e d r ä n g t e G e s c h i c h t e der Gewissenslehre anschliessen m ö g e . Dann erst wird es m ö g l i c h sein, zu einer selbständigen U n t e r s u c h u n g ü b e r das W e s e n des G e g e n s t a n d e s , seine sittliche oder religiöse B e d e u t u n g , seine W a h r h e i t und endlich die Vielseitigkeit seiner men u n d A e u s s e r u n g e n
For-
überzugehen.
n. Vorchristlicher
Hintergrund.
Z u n ä c h s t gebietet die Vollständigkeit, mit einigen u n d literarhistorischen Notizen zu Der Name „ G e w i s s e n " in
den wichtigsten
ein W i s s e n a u s , elöevai. lich
alten
sprachlichen
beginnen.
findet sich z w a r nicht in a l l e n ,
und
w i e conscientia
neueren
Cultursprachen,
eine scienlia
er
und avveidrjais
doch drückt ein
E r hat eine Reihe von R e d e w e i s e n im Gefolge, die ähn-
in anderen
Sprachen
wiederkehren,
weil sie
gen s u b j e c t i v e n E m p f i n d u n g e n h e r v o r g e g a n g e n sind.
aus
gleicharti-
In dem
deut-
schen W o r t e liegt ein G e w i s s s e i n , K c n n t n i s s oder Einsicht, in dem griechischen und lateinischen ein M i t g e w i s s s e i n ; die Vorstellung hat sich also h i e r v o n einer a n d e r e n Seite g e b i l d e t . 1 )
Conscientia.und
') Im Mittelhochdeutschen finden sich die Formen gewizzen, wizzentheit, gewizzenheit in der Bedeutung: Einsicht in das, w a s sich zu thun gehört. Der
5 ovveldtjoig
(avveaig,
xo
ovveidog)
b e d e u t e n Mitwissen u n d Mit-
w i s s e n s c h a f t , a l s o Z u s t i m m u n g zu e i n e r bei A n d e r e n Vorstellung, Meinung oder Anerkennung; wendig einen sittlichen Inhalt h a b e n . W i s s e n s a u f d j e sittliche N o n n Gebrauch
der W o r t e
A u s d r ü c k e von
sehr
vorhandenen
diese i n u s s
nicht
not-
Doch ist die B e z i e h u n g dieses
u n d Differenz s c h o n im k l a s s i s c h e n
entschieden hinzugetreten,
d e m sittlichen
Bewusstsein
und
so d a s s
der mit
die
ihm
ver-
bundenen
normativen l'rtheils- und rnterscheidungskraft verstanden
wurden.
Daraus ergab
animi
circa
rede
sich
et prave
das
in d e r Regel g e m e i n t e
facta.
Judicium
Ein ä h n l i c h e r U e b e r g a n g von
zu e i n e m m o r a l i s c h d e t e r m i n i r t e n V e r s t e h e n
nem allgemeinen
Mitwissen lässt sich a u c h bei avvoida
u n d avvtaig
eioder
nachweisen.
In
d e r l e t z t e r e n R i c h t u n g t r e f f e n sie mit d e m g e w ö h n l i c h e n S i n n
des
d e u t s c h e n „ G e w i s s e n " w e s e n t l i c h z u s a m m e n , w i e w o h l in d e m schen Wort
nur
die Vorstellung
n i c h t die d e r T h e i l n a h n i e
an
einer
einem
(persönlichen)
Wissen
selbst b e w u s s t s e i n s ( o v v s i ö e v a i eavr