Die Lehre vom Gewissen: Ein Beitrag zur Ethik [Reprint 2019 ed.] 9783111723549, 9783111087436


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German Pages 232 [236] Year 1900

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Table of contents :
Einleitung
Inhalt
I. Vorbemerkungen
II. Vorchristlicher Hintergrund
III. Biblisches Material
IV. Historische Uebersicht
V. Das Wesen des Gewissens
VI. Sittliches und religiöses Gewissen
VII. Irrthum und Wahrheit des Gewissens
VIII. Das Gewissen im übertragenen Sinn
IX. Die Thätigkeitsformen
X. Schluss
Anhang. Das scholastische Wort Synderesis
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Die Lehre vom Gewissen: Ein Beitrag zur Ethik [Reprint 2019 ed.]
 9783111723549, 9783111087436

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m

G e w i s s e n .

Ein Beitrag zur Ethik

von

Dr. W. Gass.

B e r l i n . Druck und Verlag von Georg Reimer.

1869.

Der n a c h f o l g e n d e n Schrift liegt ein g l e i c h n a m i g e r Vortrag- ziini G r u n d e . welchen ich am A n f a n g e des v e r g a n g e n e n J a h r e s in D a r m s t a d t und einige Monate später a u c h in Giessen vor einer g r ö s s e r e n V e r s a m m l u n g g e h a l t e n habe. Der G e g e n stand hat mich, seit ich mich s e l b s t ä n d i g mit der E t h i k beschäftige, l e b h a f t a n g e z o g e n ; ich entschloss mich sogleich zu einer gründlicheren Bearbeitung, und sie w ü r d e früher zu S t a n d e g e k o m m e n sein, hätte ich nicht bald d a r a u f Giessen verlassen, und wäre ich nicht w ä h r e n d des e r s t e n J a h r e s meines Heidelberger L e b e n s fast ausschliesslich a u f a k a d e m i s c h e T h ä t i g k e i t hingewiesen w o r d e n . Wie die A b h a n d l u n g j e t z t vorliegt, hat sie mit dem ersten E n t w u r f nichts g e m e i n als die Ansicht sowie einige Beste rhetorischer S p r a c h e , welche ich nicht habe tilgen wollen. Das e r ö r t e r t e T h e m a hat im L a u f e der beiden letzten Decennien a u s mancherlei U r s a c h e n d a s wissenschaftliche Nachd e n k e n der T h e o l o g e n und P h i l o s o p h e n in e r h ö h t e m G r a d e auf sich gelenkt. Von a l l g e m e i n e r e n systematischen W e r k e n a b g e s e h e n sind ihm auch m e h r e r e m o n o g r a p h i s c h e Unters u c h u n g e n g e w i d m e t worden. Meine Schrift tritt d a h e r in eine ziemlich a n g e w a c h s e n e iieihe a n d e r e r , welche ebenso ungleich an A u f f a s s u n g wie an U m f a n g die Tiefe d e s P r o b l e m s a u f ' s Neue vor A u g e n stellen, a b e r a u c h zu wiederholtem Eing e h e n auf dessen S c h w i e r i g k e i t a n z u f e u e r n geeignet sind. D a s ausführlichste W e r k ist: Die L e h r e von dem G e w i s s e n , dargestellt von Dr. R u d o l p h l l o f n i a n n , L e i p z i g 18G6; auf dieses ist denn auch im F o l g e n d e n a m Meisten Bücksicht g e n o m m e n w o r d e n . I n d e m ich dasselbe, wie schon der selige Rothe ge-

IV

than, als eine achtbare, fleissige und verdienstliche Arbeit, die auch mir viel genutzt hat, gern anerkenne, bin ich doch der Ueberzeugung, dass es bei der von Hofmann gelieferten B e handlung der Sache unmöglich bewenden kann. Ich stelle ihr die meinige kritisch zur Seite, welche zwar nicht durchgängig, aber doch in Hauptpunkten gegensätzlich ausgefallen ist. Wenn von einigen Schriftstellern die Bedeutung des Gewissens über das bisher gewöhnliche Maass ausgedehnt wird: so habe ich sie vielmehr im Anschluss an die ältere Ueberlieferung begrenzen und ihrem rechtmässigen Gebiete zurückgeben wollen. Meine Absicht war, den Begriff des Gewissens weder mit Rothe flir den wissenschaftlichen Gebrauch preiszugeben, noch über seine natürlichen Schranken hinaus zu erweitern, sondern ihn dergestalt festzuhalten, dass er desto vollständiger und eigent ü m l i c h e r in sich selbst zur Entfaltung gelangt. Neben der Uebersicht und Verwertliung des geschichtlichen Materials hat mich daher gerade j e n e schwierige Seite der Untersuchung, wo sich psychologische, ethische, religiöse und selbst dogmatische Interessen berühren, am Meisten beschäftigt; praktische Folgerungen und Anwendungen sind erst am Schluss und nur kürzlich zur Sprache gekommen. Den Anhang wolle der Leser als kleine gelehrte Zutliat mit in Kauf nehmen. Möge Übrigens das BUchlein von der Liebe und Anstrengung, aus der es hervorgegangen, auch Zeugniss geben. Heidelberg im September

1869.

Dr. G a s s .

I

n

h

a

l

t

.

Seite I.

Vorbemerkungen

1

II.

Vorchristlicher Hintergrund

i

III.

Biblisches Material

15

IV.

Historische

37

L'ebcrsicht

V.

D a s W e s e n des G e w i s s e n s

VI.

Sittliches und religiöses Gewissen

113

I r r t h m n u n d W a h r h e i t des G e w i s s e n s

Hl

Das Gewissen im ü b e r t r a g e n e n

183

VII VIII IX. X.

83

Sinn

Die T h ä t i g k e i t s f o r m e n Seliluss

Anhang.

Das scholastische Wort Synderesis

188 206 216

D i e L e h r e vom Gewissen.

I.

Vorbemerkungen. Der Gegenstand der folgenden Untersuchung betrifft einen allbekannten Namen und höchst geläufigen Vorstellungskreis, welcher, um fasslich zu werden, gar keiner wissenschaftlichen Beihülfe zu bedürfen scheint; er ist gerade darum schwierig, weil er seine Schwierigkeit nicht zur Schau trägt. Alle sittlichen Begriffe sind ihrer allgemeinen Bedeutung nach Gemeingut und werden n o t wendig zu Gemeinplätzen; als solche sind sie selbstverständlich und gehen einfach von Munde zu Munde. Man hält nicht für nöthig, sie einer genaueren Erwägung zu unterziehen; auch über Werth und Inhalt des< Gewissensbegriffs glaubt Jeder hinlänglich Bescheid zu wissen, und Niemand denkt daran, dass die unsichtbare Macht, in welcher viele grosse Weltereignisse ebenso wie die Vorgänge des täglichen Lebens ihre letzte Erklärung suchen, oder die höchste Instanz, mit welcher tausend Fragen beantwortet und tausend Zumuthungen kurzweg abgelehnt werden, selbst ein Fragliches sein und werden könne. In solchem Falle handelt scheinbar die Wissenschaft ihren eigenen Zwecken zuwider, denn sie macht das Gewisse wieder ungewiss, das Sichere zweifelhaft; in der That aber folgt sie doch nur ihrem alten Beruf, indem sie ausdenken und ergründen will, was jeder sinnbegabte Mensch schon in sich trägt. Das Bekannte wird zum Problem, denn nur befreit von dem Ungefähren und Oberflächlichen, was ihm aus der Umgangsrede der Menschen anhaftet, kann es sich in seiner Eigentlichkeit darstellen als das, was es ist und worauf es beruht. Auch das Wesen der Religion wird selten völlig verkannt, selten in seiner Tiefe und Vollständigkeit verstanden. Aehnliches gilt Gass, über (las Gewissen.

1

2 von d e m j e n i g e n Hauptbegriff der Ethik, mit welchem sich d a s F o l g e n d e zu beschäftigen h a b e n Gewissen

ist,

wird.

W e r gar nicht w e i s s ,

den niuss man stehen l a s s e n ,

was

er hat vom B a u m

der E r k e n n t n i s s noch nicht genascht; der alte S p r u c h : ihr w e r d e t sein wie Gott, wissend das Gute und das Böse, — ist noch nicht an ihm in E r f ü l l u n g gegangen.

Er ist noch ein Kind, oder er m ü s s t e

j e n e R e g u n g e n vergessen haben, und dann w ä r e er entweder zum moralischen Stumpfsinn h e r a b g e s u n k e n , oder angelangt auf d e r letzten Höhe des Lebens.

J e d e r besitzt also eine allgemeine K e n n t -

niss der Sache, die E r k l ä r u n g e n b e r ü h r e n sich oder laufen in einander;

genauer angesehen

weichen

welche die Grundvorstellung

sie jedoch in Momenten

afficiren.

Es zeigt sich die

ab,

unend-

liche Schwierigkeit, die Thatsachen sittlicher E r f a h r u n g u n d Selbsterkenntniss

auf

einen

u n s e r Nachdenken

adäquaten

wird

Ausdruck

zurückzuführen,

gleichzeitig befriedigt und

und

zu n e u e r An-

s t r e n g u n g aufgefordert. Jedenfalls ist der Gegenstand in aller seiner Klarheit u n d Unklarheit doch vom allerersten Range.

Was er besagt, ist nicht al-

lein ein wesentliches Band alles Verkehrs u n d ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verstandniss des Menschenlebens, nein es h a t auch fast in j e d e r einzelnen Wissenschaft seine nothwendige Stelle. Vom Gewissen darf Keiner a b s e h e n , er sei nun ein Theolog o d e r Philos o p h , ein P ä d a g o g oder Psycholog, ein Rechtskundiger o d e r endlich ein Arzt, und

nur

der exaete Naturforscher hat

unmittelbar

keine Veranlassung, diesen Begriff in die Reihe seiner E r w ä g u n g e n aufzunehmen.

Uebrigens zieht sich dieser Gedanke durch alle p r a k -

tische o d e r wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschenleben, und w e n n

d e r Historiker

ihn täglich b r a u c h t

und

anwendet:

so

darf ihn auch die physische Anthropologie nicht zurückweisen, da eine Reihe von körperlichen Affectionen auf ihn hindeutet. glichen mit T u g e n d und Pflicht ist das W o r t Gewissen

Ver-

abstracter

u n d inhaltsloser, aber zugleich schärfer und nachdrucksvoller, weil es, wie es auch erklärt w e r d e n möge, innner den Sinn einer schlechthin gültigen Auctorität mit sich f u h r t ; es gebietet A c h t u n g u n d fordert A n e r k e n n u n g d u r c h seinen blossen Klang.

Alle a n d e r e n Ge-

3 böte hat m a n vielfach a b g e s t u f t , aber seine Aussagen u n d Z e u g nisse stehen immer auf gleicher Linie. Art von B i n d e - u n d L ö s e g e w a l t

Alle denken dabei an eine

im Menschen,

beginnt und später aufhört als jede a n d e r e .

welche f r ü h e r

Nun zerfallt a b e r das

ganze sittlich-natürliche Leben in lauter engere und weitere Kreise, die wieder d u r c h ebenso zahlreiche Bindungen und L ö s u n g e n , setze und Freiheiten mit einander z u s a m m e n h ä n g e n . sen

einzelnen

Beschränkungen

und

Ge-

Zu allen die-

Befreiungen scheint

sieh

Gewissen wie das Allgemeine zum Besondern zu v e r h a l t e n ,

das

es ist

das unverlierbare und unentbehrliche Regulativ, welches dieselben theils berechtigt und a n w e n d e t , tlieils prüft u n d , ausreichen w e i d e n ,

ergänzt.

da sie

Mit diesem persönlichen

niemals

Maassstabe

in der Hand wird Jeder in die Welt entlassen, und es klingt ihm der f r o m m e W u n s c h n a c h ,

dass er sich an rechter Stelle g e b u n -

den oder gelöst fühlen möge.

Wir b e r ü h r e n damit vorläufig einen

nächstliegenden Gedankenkreis.

Meist waren es p r a k t i s c h e

Er-

wägungen, welche die Vorstellung des Gewissens von j e h e r begleitet h a b e n , und zwar entweder tröstlicher und zuversichtlicher o d e r bedenklicher Art.

Sie führten bald zu einer stolzen F r e u d e

den starken P a r a k l e t e n ,

über

welcher dem Menschen f ü r alle sittlichen

Kämpfe und Entscheidungen

geliehen

sei,

bald endigten sie

mit

einer ernstlichen Sorge, ob derselbe sein hohes Amt a u c h treulich üben und sich nicht durch anderweitige Zuehtmeister darin beirren lassen.

werde

Dieses doppelte Anliegen sollte stets v e r b u n d e n sein,

gleichwohl haben die Zeitalter je nach ihrer nächsten B e s t i m m u n g sich entweder m e h r um

die Freiheit

der

um die Strenge und Unveränderlichkeit Gewissensübung

bemüht.

In beiden

oder Fällen

muss es aber f ü r das wissenschaftliche Denken zuletzt zu der F r a g e kommen:

was das f ü r ein Ding sei, welchem ein so grosser An-

theil an d e r F ü h r u n g der Individuen

und

der Geschlechter

zuer-

k a n n t wird. Die philosophische

oder theologische Ethik

handelt

in

ihren

grundlegenden Abschnitten von der menschlichen Natur, vom sittlichen Vermögen, d e r Freiheit u n d dem Gesetz, in diese erste Gedankenreihe

gehört

auch

das Gewissen.

Dieses wird 1 *

in d e r T u -

4 g e n d - u n d Pflichtenlehre v o r a u s g e s e t z t , ohne d a s s e l b e w i r d die T u g e n d nicht v e r s t a n d e n u n d die Pflicht nicht g e ü b t w e r d e n Nimm es h i n w e g : das Sittliche, haupt

so

oder

können.

fehlt die s u b j e c t i v e U n t e r s c h e i d u n g s g a b e

es müsste b e w i e s e n w e r d e n ,

dass diese

erst auf d e m W e g e des Unterrichts und der

dem m e n s c h l i c h e n Sinne eingeflösst s e i ,

ohne

für

über-

Ueberlieferung

in

ihm eine n a t ü r -

F ü r eine v o r h e r r s c h e n d theologische A r b e i t ,

wie w i r sie hier

liche V e r t r e t u n g zu finden.

b e a b s i c h t i g e n , ergiebt sich die A n o r d n u n g des z u g e h ö r i g e n Stoffes ziemlich von selbst.

Es ist nöthig, eine Durchsicht und Z u s a m m e n -

stellung des biblischen Materials an die Spitze z u stellen, an w e l c h e sich eine g e d r ä n g t e G e s c h i c h t e der Gewissenslehre anschliessen m ö g e . Dann erst wird es m ö g l i c h sein, zu einer selbständigen U n t e r s u c h u n g ü b e r das W e s e n des G e g e n s t a n d e s , seine sittliche oder religiöse B e d e u t u n g , seine W a h r h e i t und endlich die Vielseitigkeit seiner men u n d A e u s s e r u n g e n

For-

überzugehen.

n. Vorchristlicher

Hintergrund.

Z u n ä c h s t gebietet die Vollständigkeit, mit einigen u n d literarhistorischen Notizen zu Der Name „ G e w i s s e n " in

den wichtigsten

ein W i s s e n a u s , elöevai. lich

alten

sprachlichen

beginnen.

findet sich z w a r nicht in a l l e n ,

und

w i e conscientia

neueren

Cultursprachen,

eine scienlia

er

und avveidrjais

doch drückt ein

E r hat eine Reihe von R e d e w e i s e n im Gefolge, die ähn-

in anderen

Sprachen

wiederkehren,

weil sie

gen s u b j e c t i v e n E m p f i n d u n g e n h e r v o r g e g a n g e n sind.

aus

gleicharti-

In dem

deut-

schen W o r t e liegt ein G e w i s s s e i n , K c n n t n i s s oder Einsicht, in dem griechischen und lateinischen ein M i t g e w i s s s e i n ; die Vorstellung hat sich also h i e r v o n einer a n d e r e n Seite g e b i l d e t . 1 )

Conscientia.und

') Im Mittelhochdeutschen finden sich die Formen gewizzen, wizzentheit, gewizzenheit in der Bedeutung: Einsicht in das, w a s sich zu thun gehört. Der

5 ovveldtjoig

(avveaig,

xo

ovveidog)

b e d e u t e n Mitwissen u n d Mit-

w i s s e n s c h a f t , a l s o Z u s t i m m u n g zu e i n e r bei A n d e r e n Vorstellung, Meinung oder Anerkennung; wendig einen sittlichen Inhalt h a b e n . W i s s e n s a u f d j e sittliche N o n n Gebrauch

der W o r t e

A u s d r ü c k e von

sehr

vorhandenen

diese i n u s s

nicht

not-

Doch ist die B e z i e h u n g dieses

u n d Differenz s c h o n im k l a s s i s c h e n

entschieden hinzugetreten,

d e m sittlichen

Bewusstsein

und

so d a s s

der mit

die

ihm

ver-

bundenen

normativen l'rtheils- und rnterscheidungskraft verstanden

wurden.

Daraus ergab

animi

circa

rede

sich

et prave

das

in d e r Regel g e m e i n t e

facta.

Judicium

Ein ä h n l i c h e r U e b e r g a n g von

zu e i n e m m o r a l i s c h d e t e r m i n i r t e n V e r s t e h e n

nem allgemeinen

Mitwissen lässt sich a u c h bei avvoida

u n d avvtaig

eioder

nachweisen.

In

d e r l e t z t e r e n R i c h t u n g t r e f f e n sie mit d e m g e w ö h n l i c h e n S i n n

des

d e u t s c h e n „ G e w i s s e n " w e s e n t l i c h z u s a m m e n , w i e w o h l in d e m schen Wort

nur

die Vorstellung

n i c h t die d e r T h e i l n a h n i e

an

einer

einem

(persönlichen)

Wissen

selbst b e w u s s t s e i n s ( o v v s i ö e v a i eavr