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German Pages [600] Year 1966
Hans Blumenberg Die Legitimität der Neuzeit suhrkamp taschenbuch Wissenschaft
Die bloße Feststellung, daß die moderne Welt, in der wir leben, außer sich selbst nicht viel und auch dies immer weniger - im Sinne hat, würde nicht rechtfertigen, diese »Verweltli chung« spezifisch mit dem Christentum in Zusammenhang zu bringen, das dann nur zufällig und beliebig die »Unweltlichkeit« einer Religion in der Vergangenheit dieser Gegenwart repräsentierte. Der Satz, die ge genwärtige Welt sei als Ergebnis der Säku larisierung des Christentums zu verstehen, will sich sicher so wenig zu sagen nicht begnü gen. Aber was muß er sagen, wenn er mehr sagen will?
SV
Hans Blumenberg
Die Legitimität der Neuzeit
Suhrkamp Verlag
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1966
C’est curieux comme le point de vue diffère, suivant qu’on est le fruit du crime ou de la légitimité. André Gide, Les Faux-Monnayeurs
Inhalt
Erster Teil Säkularisierung - Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts
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Zweiter Teil Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung
75
Dritter Teil Der Prozeß der theoretischenNeugierde
201
Vierter Teil Cusaner und Nolaner: Aspekteder Epochenschwelle
433
Literaturnachweis Namenregister
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Erster Teil
Säkularisierung — Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts
Die >Weltlichkeit< der Neuzeit - wenn das mehr ist als eine er bauliche Floskel der Distanzierung von einer transzendenzver gessenen Gegenwart, was kann es dann heißen? Die Weltlichkeit dessen, was in der Welt geschieht und diesen Inbegriff von Reali tät konstituiert, scheint eine Trivialität zu sein. Sie kann, so scheint es, nur überboten werden, wenn man sich schon auf den Standpunkt einer Betrachtung >von außen< stellt, indem man theologische Prämissen vorgibt, die eine Position der räumlichen oder zeitlichen Exteriorität gegenüber der Partikel und Episode >Welt< implizieren. Sofern Verweltlichung nichts anderes als ein geistliches Anathema gegenüber dem, was nach dem Mittelalter Geschichte geworden ist, bedeutet, gehört sie in ein Vokabular, dessen Aufschlußwert von Voraussetzungen abhängt, die weder dem Historiker noch dem Philosophen verfügbar sind und gerade dem durch das Attribut der >Weltlichkeit< gekennzeichneten Ver ständnis der Wirklichkeit nicht mehr unterstellt werden können. Eine solche Prädikation >von außen< wäre denen, die davon be troffen sein sollen, eben infolge dieser Qualität unverständlich. Aber >Weltlichkeit< ist als Resultat eines geschichtlichen Prozesses auch und gerade dort, wo man die theologischen Prämissen mit zumachen nicht bereit sein konnte, als Kategorie der Interpre tation historischer Sachverhalte und Zusammenhänge akzeptiert worden. Auch wer, wie Nietzsche, von sich sagen kann, er be gehre nichts mehr, als über das ganze höchst verwickelte System von Antagonismen, aus denen die >moderne Welt< besteht, auf geklärt zu werden ’, stößt heute im Arsenal der bereitstehenden historischen Hilfsmittel solcher Aufklärung immer wieder auf den Begriff der Säkularisierung. Dabei wird der Komplex unserer geschichtlichen Wirklichkeit im Hinblick auf jene Bestände durch1 Brief an Malwida von Meysenbug vom 25. Oktober 1874 (Briefe, ed. R. Oehler, 1917, 180-182)
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Erster Teil
mustert, die er entweder von sich ausgeschlossen hat oder die er bis zur Unkenntlichkeit ihrer Herkunft >umgearbeitet< in sich enthält. Dem historischen Interesse kommt es nicht auf das Be klagen eines Verlustes oder auf die Bilanz der zum Verschwinden gebrachten Kennzeichen ehemals transzendenter Bezüge an, son dern auf die Identifizierung des konstitutiven Materials, auf die Feststellung der Provenienzen im genetischen Zusammenhang einer aus ihrer Vergangenheit aufgelaufenen Realität. Um der Spezifität eines solchen Verfahrens für das Verständnis der Neu zeit gewahr zu werden, braucht man sich nur zu vergegenwär tigen, wie unsinnig es wäre, das Attribut der Weltlichkeit und den Wandlungsmodus der Verweltlichung auf die Antike anzu wenden. Die Differenz des theologischen und des historischen Gebrauchs der Kategorien Weltlichkeit und Verweltlichung liegt nicht in einer Änderung des Wertvorzeichens, nicht in der Umdeu tung des Verlustes zur Emanzipation. Zwar ist seit den An fängen des Christentums die Klage nie verstummt, daß >die Welt< immer weltlicher geworden sei. Aber gerade die Versuche, zur Radikalität der ursprünglichen theologischen Weltdistanz zurück zukehren und die Transzendenzaussagen der Theologie dialektisch zu erneuern, konnten und können in der massiven Deutlichkeit der Manifestation der Welt als >Weltlichkeit< den Vorteil der Unverwechselbarkeit ihres Immanenzcharakters wahrnehmen, die Wiederherstellung der Härte einer unversöhnlichen Heterogeneität. Das der Welt Fremde und ihr als paradoxe Zumutung der Selbstaufgabe Begegnende kann sich in dieser neuen Deutlichkeit der Umschlingung und Verkleidung wieder entziehen, in der es sich etwa zum Zweck des registrierbaren missionarischen Erfolges zu falscher Vertrautheit und Annehmlichkeit angebiedert hatte.2 Eben die >Säkularisierungideenpolitischer< Begriffsgeschichte der Säkularisierung (1965, 86-108), deren Spektrum über den hier thematischen historischen Ge brauch hinausgeht.
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anderen Seite als Postulat der Klärung der Fronten, der ent schlossenen und zur Entschließung zwingenden Scheidung der Geister im Vorwege jenes endgültig >diese Welt< und >jene Welt< trennenden eschatologischen Gerichts formulieren. Danach brauchte, was faktisch im Prozeß der Säkularisierung geschehen war, nicht als Verlust an Substanz, sondern nur als Aufgabe von Quantität verstanden zu werden, sofern man den Kern des Essen tiellen eng und hart genug definierte und vom historisch Zufäl ligen befreite. Als schicksalhafter Vorgang ebenso wie als kultur politisches Programm konnte sich die Säkularisierung auch denen plausibel machen, die gerade an der Unverletzlichkeit der Sub stanz interessiert waren: Wird nicht durch die Verweltlichung der Welt auch das Geistliche geistlicher?3 So konnte der Verlust von Herrschaft, Einfluß, besetzter Position und kulturellem Ambiente als providentieller Vorgang von rei nigender Kraft für das Christentum verstanden werden.4 Was als Gefährdung der Existenz religiöser Formen und Gehalte in der Welt, als Krise des Geltungswertes theologischer Aussagen und ihrer pragmatischen Umsetzung erschien, sollte sich als an ober flächlichen Symptomen genährte, selbst >verweltlichte< Ängstlich keit erweisen, während der fatale Vorgang seine paradoxe Um wertung im Lichte der biblischen Kenosis, der Knechtsgestalt des inkarnierten Gottes, erhielt, dessen Recht auf Herrschaft un kenntlich bleiben mußte, um die Motive derer, die sich ihr unter warfen, nicht in weltlichen Kalkül zu verfälschen. Nicht die Sä kularisierung selbst wird abgelehnt, sondern der Dienst, den sie als Argument der Rechtfertigung für die >Bedeutung< des Chri stentums innerhalb der Welt leisten soll. Der Übergang der Reli gion in Kultur, die Berufung auf das Syndrom des antik-christ lichen >AbendlandesWeltEntweltlichung< zu inter pretieren, den Hannah Arendt gegen die These der Säkularisie rung gesetzt hat. Sie spricht von der Weltlosigkeit ohnegleichen, die in einer hier theologisch nicht disponierten Bedeutung der Neuzeit ihr Gepräge gebe. Der Mensch sei, als er die Hoffnung 5 H. Zahrnt, in: Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz. Hrsg. v. H. W. Richter. München 1962, 185. 6 C. H. Ratschow, Artikel >Säkularismus< in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart V, Tübingen 3i96i, 1289.
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auf das Jenseits verlor, nicht eo ipso mit der freigewordenen Intensität seines Bewußtseins an das Diesseits verwiesen worden; vielmehr wurde er aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückgeworfen. Die Wirklichkeit der Welt, der er sich gegenüber sah, sei ihm nun gerade zweifelhaft geworden, und der unmittelbare Sinnenkontakt habe sich ihm durch die mathematisierte Physik als Vermittlung vordergründiger Erschei nung enthüllt. So habe sich der Mensch erheblich weiter von der Erde und der sinnlich gegebenen Realität entfernt, als irgendeine christliche Jenseitshoffnungihnje von ihr entrückt hatte. Die Welt lichkeit der Neuzeit läßt sich also nicht als die Rückgewinnung des Bewußtseins von Wirklichkeit beschreiben, das vor der christ lichen Epoche unserer Geschichte bestanden hatte. Es gibt keine historische Symmetrie, in der die Weltlichkeit der Neuzeit so etwas wie die Disposition für die Wiederkehr des Kosmos der Griechen wäre, und die Renaissance erweist sich als das Miß verständnis, den sich ankündigenden neuen Wirklichkeitsbegriff als Wiederkehr einer schon erfahrenen und damit in vertrauten Kategorien zu bewältigenden Struktur aufzufangen. >Welt< ist also keine Konstante, die am Ende des geschichtlichen Prozesses der Überdeckung und Verquickung mit theologischen Elementen als der gleichsam genuin pagane Bestand wieder unverhüllt zu tage getreten wäre. Diese ungeschichtliche Vorstellung, die im unvermerkten Mitmachen theologischer Deutungen zustande kommt, entstellt die Authentizität der Neuzeit als Epoche zu dem, was im Rückzug der Religion auf ihre autarke Weltunbezogenheit übrigbleibt. Solcher Dualismus der heterogenen >Substanzen< verstellt das Phänomen. Was immer wir meinen mögen, wenn wir von Säkularisierung sprechen, historisch kann sie auf keinen Fall als ein Verweltlichungsprozeß im strengen Sinne des Wortes angesehen werden; denn die Moderne hat nicht eine dies seitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genom men hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen; sie ist bestenfalls auf es zurück geworfen.7 Es kommt hier auf die These der Entweltlichung als solche nicht an; aber was sich zeigt, ist die Fragwürdigkeit der Alternative von Weltlichkeit und Unweltlichkeit als einer voll7 H. Arendt, i960, 312
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ständigen Disjunktion, die in der Geschichte gleichsam alternie rend entschieden worden wäre, so daß die Preisgabe transzen denter Bindungen und Hoffnungen immer schon ihr Resultat im pliziert hätte. Sobald man aus dem Bannkreis des theologischen Kategoriensystems heraustritt, kann die "Welt, zu der sich die Neuzeit als entschlossen gibt, unter dem Aspekt ihres Wirklich keitscharakters oder einer an der Antike gemessenen Unmittel barkeit der Anschauung eine >unweltliche< Welt sein. Wieder- holung, aber auch Dissoziation historischer Komponenten zu ihrer vermeintlich genuinen Reinheit gibt es nur, wo die Kate gorie der Substanz das Geschichtsverständnis beherrscht. Hat also der Begriff der Säkularisierung überhaupt etwas mit dem Verstehen geschichtlicher Prozesse und Strukturen zu tun? Oder gibt er dem Selbstverständnis unserer Epoche eine falsche Alternative vor, indem er ihm das Paradox zumutet, den Grund charakter der >Weltlichkeit< nur unter Prämissen erfassen zu kön nen, die ihm selbst kraft dieser Qualität gerade unzugänglich sein müssen? Hermann Lübbe hat darauf hingewiesen, daß der Gebrauch ideenpolitisch aktueller Begriffe nicht folgenlos ist und daß, wer hier nicht unversehens in Frontstellungen geraten wolle, an Auf klärung und Neutralisierung der begrifflichen Latenzen inter essiert sein muß; er hält es für möglich, einen rein wissenschafts immanenten Gebrauch des Säkularisierungsbegriffs auszugren zen - und eben das stehe in Übereinstimmung mit den Einsichten und Absichten der jüngsten Sâkularisierungs-TheologieïlAa.rvmz.g fragen, ob solche Konvergenz des Interesses nicht genau dort ihre Grenze haben muß, wo >AufklärungSäkularisierung< haben. Ihre Leistungsfähigkeit scheint unbegrenzt zu sein. Weniger um das nachzuweisen als um es zu illustrieren, gebe ich einige Belege, in denen so ziemlich alles das als Säkularisat vorgestellt wird, was der Neuzeit ihr Profil gibt. Die in der Erkenntnistheorie seit Descartes thematisch gewordene theoretische Gewißheit ist als die säkularisierte Gestalt des theo logischen Grundproblems der Heilsgewißheit dargestellt worden, und zwar verrate sich dieser Zusammenhang daran, daß diese Problematik aus dem absoluten Zweifel an der Realität über haupt hervorgegangen sei, aber auch daran, daß die von Descar tes begründete Wissenschaft die Funktion übernehmen wird, die bis dahin das Dogma der Kirche ausgeübt hatte, nämlich die einer allgemein-geistigen Existenzsicherung. Nicht weniger ein drucksvoll — gemessen an ihren Wiederholungen - scheint die Behauptung geblieben zu sein, das moderne Arbeitsethos sei Säkularisierung der Heiligkeit und ihrer vorzugsweisen Methode der Askese. Das politische Postulat der Gleichheit aller Bürger soll ebenso einen vorgängigen Begriff der Gleichheit der Men schen vor Gott säkularisieren wie die Grundvorstellungen unse res Strafrechts sich auf den Bahnen einer säkularisierten Theo logie bewegen und einen aus dem Sakralverhältnis geborgten Schuldbegriff implizieren. Die Akribie und Schonungslosigkeit moderner Tagebuchschreiber und Autobiographen soll die säku larisierte Selbsterfahrung der religiösen Gewissenserforschung und pietistischen Reflexion sein. Die Wissenschaft, von der schon Hegel in der Rechtsphilosophie hinsichtlich ihres Anspruchs auf Lehrfreiheit sagt, daß sie für sich wie eine Kirche sich zur Totali tät von eigentümlichem Prinzipe ausbildet, welche sich auch als
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an die Stelle der Kirche selbst noch mit größerer Berechtigung tretend betrachten kann - die Wissenschaft also, die nicht nur die Welt begreifen, sondern auch Normen des Handelns in ihr ab leiten will, gerät in solche Überzuständigkeit gerade dadurch, daß sie Verweltlichung der ursprünglich christlichen Kombination von Weltentwurf und Handlungsanweisung ist. Angesichts dieser Funktion ist es nicht verwunderlich, daß das Fazit der Leistung dieser Wissenschaft seit Galilei die Säkularisation der natürlichen. Offenbarung zum mechanistischen Materialismus ist. Die Welt des Mittelalters war endlich, sein Gott aber unendlich gewesen; in der Neuzeit übernimmt die Welt dieses Attribut Gottes; die Unend lichkeit wird säkularisiert. Auch für die politische Theorie ist nachhaltig geltend gemacht worden, daß alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre ... säkularisierte theologische Begriffe seien, und zwar nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, sondern auch in ihrer systematischen Struktur; so hätten Ernst fall und Ausnahmezustand politisch und rechtlich eine analoge Bedeutung wie das Wunder in der Theologie. Fast schon zur mo dischen Geläufigkeit geworden sind alle Versuche, politische Heils erwartungen vom Typus des Kommunistischen Manifests als Säkularisierungen entweder des biblischen Paradieses oder des apokalyptischen Messianismus zu interpretieren. Hat man schon die Idee des Fortschritts als Transformation der Vorstellung einer providentiell gelenkten Heilsgeschichte verstehen können, so muß auch der Endzustand des Fortschritts als Goldenes Zeitalter, Ewiger Frieden oder vollendete Gleichheit aller jenseits des Staa tes der theologischen Idee vom Ende der Geschichte analog und also eine Eschatologie ohne Gott sein können: Was früher >Fülle der Zeit< hieß, Vollendung der Gegenwart in der Ewigkeit als dem Ort des Heils, das heißt bei Saint-Simon jetzt >Perfektion der sozialen OrdnungReich der reinen praktischen Vernunft, bei Goethe, Schiller und Hölderlin >Humanität und neue Mythologien bei Rousseau >Rückkehr zur NaturRückkehr zu den Altem, bei Wieland und Gessner Ein bildungskraft des DichtersIdeologienSäkularisierung< ist die Übertragung dieses Momentes der Unrechtmäßigkeit. Der meta phorische Gebrauch hat seine Voraussetzung in den Merkmalen des Enteignungsverfahrens, die sich als Identifizierbarkeit des enteigneten Gutes, Legitimität des primären Eigentums an ihm und Einseitigkeit des Entzuges bestimmen lassen. Soweit moderne Autoren die Definition ihres Gebrauchs dieses Begriffes überhaupt für erforderlich halten, entsprechen ihre Bestimmungen diesem Merkmalskatalog. Verweltlichung, d. h. die Lösung geistlicher oder kirchlicher Vorstellungen und Gedanken, ebenso die Lösung geistlicher (geweihter) Sachen und Personen aus ihrer göttlichen Bindung.1213Ferner: Heute pflegt man von Säkularisierung zu reden, wo Ideen und Erkenntnisse von ihrer ursprünglichen Quelle, der Offenbarung, gelöst und der Vernunft des Menschen aus der ihr eigenen Kraft zugänglich werden. Die Säkularisierung betrifft also geistige Vorgänge, die ursprünglich durch den Glau ben ermöglicht wurden, dann aber vom Menschen mit den ihm verfügbaren Fähigkeiten vollzogen werden.11 Das im Hinter grund stehende Paradigma der Enteignung scheint in der vor sichtigen Formulierung, die vom >Lösen< von der ursprünglichen Quelle spricht, gerade noch durch, und die Übertragung wird als >Anwendung< verstanden.14 Und schließlich eine Formel, die die 11 H. Lübbe, 196 j, 28 f. 12 S. Reicke, Artikel >Säkularisierung< in: Die Religion in Geschichte und Ge genwart V, Tübingen 3i96i, 1280. 13 Μ. Stallmann, i960, 33 14 aaO 5: Von Säkularisation hat man zunächst in der Geschichtswissenschaft gesprochen und darunter die Übertragung von kirchlichen und geistlichen Herrschafls- und Eigentumsrechten an weltliche Gewalten verstanden. Dann wurde das Wort auf einen geistesgeschichtlichen Vorgang angewandt, bei dem sich
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Implikationen des Begriffs der Säkularisierung nicht verhehlt: Die Aufdeckung und Bewußtmachung des Säkularisationsvor gangs wahrt die Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergan genheit ... Es gibt eine Kontinuität des Geschichtlichen auch im negativen Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart ... Die Wirklichkeit, in der wir tatsächlich leben, ist überdeckt von irre führenden Vorstellungen.15 Das ist nur so weit deutlich, als es besagt, daß in der Bestimmung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit eine Diskontinuität unterstellt wird, die tat sächlich nicht bestehe; und es soll wohl auch ein Interesse an die ser Unterstellung angedeutet sein, nämlich die Bestreitung einer Verpflichtung der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit aus dem, was sie in der Unkenntlichkeit seiner Herkunft von ihr übernommen, härter ausgedrückt: ihr enteignet hat. Die Kate gorie der Säkularisierung wird beansprucht als Aufdeckung einer ideologisch überdeckten Bedingtheit; sie macht eine objektive Kulturschuld bewußt.16 Wenn die moderne Welt weitgehend als Ergebnis einer Säkulari sierung des Christentums verstanden werden kann17, muß das in der methodischen Analyse des Historikers als Nachweis der drei Merkmale aus der Übertragung des Enteignungsmodells verifizier bar werden. Zwar bedeutet die Forderung, diese Beweislast zu er bringen, nicht, daß man von Säkularisierung nicht auch in den weniger präzisen, dafür vielleicht um so tiefsinnigeren Bedeutun gen sprechen dürfe, die ich bereits charakterisiert habe; nur darf man dann nicht beanspruchen, etwas zum Verständnis der Kon stitution der Neuzeit beigetragen zu haben. Nur in der transitiven Ideen undVerhaltensweisen aus ihrem ursprünglichen religiösen Begründungs zusammenhang lösten und aus der allgemeinen Vernunft hergeleitet wurden. Man begnügt sich meist damit, diese Übertragung von einem Gebiet zum an deren festzustellen, ohne zu fragen, wodurch diese scheinbar mehrfache Wort bedeutung ermöglicht worden ist. - Das Merkmal des einseitigen Entzuges bleibt hier ebenso unbestimmt wie das des primären Eigentums: es wird das Lösen als Sich-lösen amplifiziert und in seinem Unrechtsgehalt entschärft, zu gleich aber die Herleitbarkeit aus der Vernunft unvermittelt danebengestellt, die streng genommen nur eine Konvergenz, nicht einen Nexus im Prozeß des Lösens unterstellt, also die Eindeutigkeit der Erklärungsleistung zumindest suspendiert. 15 F. Delekat, 1958, 55 f. 16 aaO 60 17 C. F. v. Weizsäcker, 1964, 178
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Beziehung auf ein bestimmtes Ideenobjekt, das aus seiner genui nen Zugehörigkeit zum christlichen System entnommen und in veränderter Funktion in das System der neuzeitlichen Interpre tation der Welt und des Menschen eingefügt wird, hat der Begriff der Säkularisierung einen historischen Aufschlußwert. Aber gerade diese Konkretion wird in den meisten Fällen, in denen Säkularisierung behauptet und oft zur geläufigen Formel gemacht worden ist, nicht erreicht. Die Beweislast, die mit dieser Theseübernommen wird, ist überwiegend unreflektiert und Undefiniert geblieben. Zu den geläufigen Aussagen, die in der zweiten Generation schon schlicht und knapp als >bekannt< bezeichnet werden können, ge hört die These von der Herkunft des Geschichtsbewußtseins der Neuzeit aus der Säkularisierung der christlichen Idee der Heils geschichte, näherhin der Vorsehung und der eschatologischen End lichkeit. Karl Löwiths bedeutendes Buch Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History hat hier seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1949 dogmatisierend gewirkt. In diesem Buch wird das Selbstverständnis des Deutschen Idealismus in seiner geschichtlichen Stellung und Leistung als objektive These über die Genesis des neuzeitlichen Geschichts begriffs genommen. Hegels geschichtsphilosophische Theorie der >Aufhebung< der christlich-reformatorischen Geschichtsphase in der Grundverfassung der modernen geistigen und politischen Welt, in ihrem konstitutiven Bewußtsein der subjektiven Freiheit vor allem, habe das Heilsgeschehen auf die Ebene der Welt geschichte projiziert und die letztere auf die Ebene der ersteren erhoben.18 Wenn der geschichtliche Prozeß Selbstrealisierung der Vernunft ist, dann muß das, was äußerlich als Diskontinuität der Verweltlichung erscheint, seiner immanenten Logik und Struktur nach den Ursprung zu seiner Konsequenz und damit die theo logische Vorgeschichte zu ihrer endgültigen Gestalt gebracht haben. Säkularisierung wäre dann nur der Aspekt partieller Objektivierung und Analyse, denn Verweltlichung wäre nicht Entfremdung vom Ursprung, sondern die Explikation des Ur sprungs selbst. Die These der Säkularisierung macht zwar Hegels Behauptung 18 K. Löwith, 21953, 6of.
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des genetischen Nexus von theologischer und rationaler Substanz mit, distanziert sich aber von der ursprünglich mit dieser Ab hängigkeit beanspruchten Legitimität des Übergangs, bestreitet also die Identität der in diesem Prozeß wirksamen Vernunft. Das Schema wird festgehalten, aber hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit umgewertet. Der Ersatz der theologischen Eschatologie und ihrer Vorstellung von der >Vollendung< der Geschichte durch die Idee des Fortschritts wäre so ein Säkularisat, das seinerseits nicht im Kontext des Fortschritts zu seiner theologischen Ursprünglichkeit stände, sondern das nur die Bewußtseinsfunktion, die im Zu laufen der Geschichte auf Erfüllung gegeben war, ersetzte und fortsetzte. Wie man hier die Wertvorzeichen anbringt, ist sekun där gegenüber der Frage, ob diese genetische Bedingtheit über haupt besteht und ob sie die Merkmale der >Projektion< oder Dislokation aufweist. Dafür gibt es, so meine ich, keine Anhalts punkte. Zwischen Eschatologie und Fortschrittsidee bestehen entschei dende, die Umsetzung blockierende Differenzen, die das Kri terium der Identifizierbarkeit des theologischen Moments in der Geschichtsidee problematisch machen. Der formale Unterschied liegt darin, daß die Eschatologie von einem in die Geschichte ein brechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur auf die Zukunft extrapoliert. Von einer Geschichte als Fortschritt ver stehenden Auffassung her erscheint die theologische Erwartung der von außen kommenden Erfüllung der menschlichen Hoffnun gen als Verhinderung derjenigen Einstellung und Aktivität, die dem Menschen allein die Realisierung seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse versichern. Es ist nicht zu sehen, wie aus der einen Einstellung je die andere hervorgehen sollte, es sei denn, daß man die Enttäuschung an der transzendenten Hoffnung als Agens der immanenten Innervation darstellt; aber dabei gibt es keine ver gleichbaren Gehalte, denn das Iheologumenon der Erwartung des anbrechenden Heils wird nur als negatives Moment der Blockie rung der authentischen Anstrengung und des Vertrauens zu ihrer Effektivität bestreitbar. In dieser Sicht hat der linke Hegelianis mus das Geschichtsschema Hegels umgedeutet.
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Erster Teil
Noch wichtiger ist aber die genetische Differenz von Eschatologie und Fortschrittsidee. In ihrer späten und historisch der Neuzeit vorausliegenden mittelalterlichen Form ist die Lehre von den > letzten Dingen< eine Antwort auf eine rational unbeantwortbare Frage, nämlich auf die Frage nach dem Sinn und der Verlaufs weise der Geschichte im ganzen. Die Fortschrittsidee beantwortet aber ursprünglich gar nicht diese umfassende, das menschliche Geschick in seiner Totalität betreffende Frage, sondern bezieht sich auf die partielle Struktur des theoretisch-wissenschaftlichen Prozesses, auf den Effekt der neuen methodischen Realisierung der Erkenntnis als eines über Individualität und Gegenwart im mer hinausreichenden Unternehmens. Ebenso partiell tritt der Gedanke des Fortschritts im Bereich der literarischen und ästhe tischen Auseinandersetzung mit der Tradition auf, und zwar nicht primär als Feststellung einer kontinuierlichen Sequenz von Überbietungen des je schon Geleisteten, sondern als Vergleich zwischen der in kanonisierter Geltung stehenden Literatur und Kunst der Antike mit dem Ertrag der Gegenwart - und hier wird der Fortschritt zum Inbegriff des Protestes gegen das huma nistische Verbindlichkeitsideal konstanter Vorbilder.19 Die Über tragung des Modells des theoretischen und ästhetischen Fort schritts auf die Gesamtvorstellung der Geschichte setzt voraus, daß der Mensch sich in dieser Totalität als allein zuständig am Werk sieht und aus dem Selbstverständnis des rationalen und schöpferischen Subjekts die Struktur' der Geschichte abzuleiten für möglich hält. Damit erst wird der Fortschritt zum Inbegriff der Bestimmungen der Zukunft durch die Gegenwart und zum Fundament der Voraussagbarkeit der Geschichte. Kant spricht in 19 H. R. Jauß, 1964. Für unsere Fragestellung wichtig ist vor allem der Nach weis, daß im Zuge der Querelle sowohl die Anciens als auch die Modernes sich zunächst einer naturhaft-zyklischen Vorstellung vom Geschichtsverlauf be dienten; der Nexus zwischen christlichem und historischem Geschichtsbegriff ist schon durch diese pagane Zwischenstufe problematisch. - Werner Krauß, auf dessen These vom Ursprung des geschichtlichen Weltbildes sich Jauß be zieht, bezeichnet auch seinerseits die Vermenschlichung des Geschichtlichen als Säkularisierung des religiösen Heilsplans (1963, 195), obwohl er kurz zuvor die von Turgot zu Condorcet erfolgende Wendung gegen Bossuet als Wider legung des weltgeschichtlichen Heilsplans charakterisiert hatte (aaO 187). Jauß moniert mit Recht, daß die Anfänge des geschichtlichen Bewußtseins mit der Kategorie einer Säkularisierung des theologischen Geschichtsverständnisses bzw. der christlichen Geschichtsphilosophie Bossuets nicht zu fassen seien. (12)
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diesem Sinne von einer a priori möglichen Darstellung der Be gebenheiten, die da kommen sollen, von der wahrsagenden Ge schichtserzählung des Bevorstehenden in der künftigen Zeit, und zwar aufgrund dessen, daß das Subjekt zugleich das Prinzip seines Gegenstandes ist: Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich? — Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt.21 Gerade die Zerstörung des Gedankens von einer Vorsehung, in deren Hand die Totalität der Geschichte liegt, ist Voraussetzung für die Geltung der rationalen Totalkonzeption, deren Wahr heitsgrund die konsequente Anwendung des schon von Vïco for mulierten Axioms verum et factum convertuntur ist. Bei dieser Logik des genetischen Sachverhalts ist es schwer zu sehen, wie die faktische historische Sukzession von eschatologischer Ge schichtsdeutung und Fortschrittsidee als das Sich-Durchhalten einer ihrem Ursprung entfremdeten Substanz vorgestellt werden könnte. Nicht minder fragwürdig ist die historische Anwendbarkeit der Kategorie Säkularisierung nach dem zweiten Kriterium, das die ursprüngliche und eigentümliche Zugehörigkeit einer Vorstellung zum theologischen Horizont erfordert, wenn ihre sekundäre Ver wendung als Entfremdung anerkannt werden soll. Das hat zur Voraussetzung, daß man methodisch überhaupt an die Frage der primären Zugehörigkeit, der Ursprünglichkeit, des >Eigentums< an einer solchen Vorstellung herankommen kann. Unter dem Oberbegriff der >Heilsgeschichte< findet sich ja eine ganze Reihe heterogener Elemente — wie Schöpfung, Vorsehung, Rechtferti gung, Gericht -, denen man nicht gleichermaßen genuine Zu20 Der Streit der Fakultäten II 2 (Werke, ed. E. Cassirer, VII 392). Wie diese Immanenz mißverstanden, wie das >Wahrsagenc im Sinne des Vicoschen Axioms zur gleichsam nachtheologischen Usurpation der >Weissagung< verdeutet werden konnte, exemplifiziert Friedrich Nicolais Polemik gegen Kant, den er (sprachlich überaus prägnant vorbeigreifend) den Erfinder einer wahr sagenden Geschichtserzählung nennt. (Über meine gelehrte Bildung, Berlin 1799, 94 ff·) Die in der Geschichte wirksame Vernunft, wie sie die Aufklärung verstand, ist freilich nur die Integration der individuellen Vernünftigkeiten, und diese ist als Geschichtsfaktor nur verläßlich, wenn sie nicht durch Dog matismen und Oppressionen aller Art entmündigt und abgedrängt wird, um erst durch >Kritikc wieder zur Funktion gebracht werden zu können. Einer hypostasierten Geschichtsvernunft kann und darf solches nicht passieren; dafür muß ihr Identität und Logik in allen Phasen des Prozesses nachweisbar sein.
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gehörigkeit zur theologischen Terminologie bescheinigen würde. Am einfachsten wäre der Nachweis des an keine Rezeption ge bundenen Ursprungs in der biblischen Literatur oder in der Dog mengeschichte, wobei rein sprachliche Entlehnung am wenigsten beeinträchtigend sein würde. Wir hätten dann eine Art von ur heberrechtlichem Eigentumsverhältnis vor uns, an dem sich eine Enteignung besonders drastisch manifestieren ließe. Dieses me thodische Ideal kann den Standpunkt innerhalb des Bezugs-' Systems der Neuzeit natürlich nicht verleugnen, denn schon der Gedanke des Eigentums an dem originär Produzierten, Gedach ten und Geschaffenen ist neuzeitlich, und noch die Begründung des göttlichen Rechts an der Schöpfung auf ihr Ursprungsverhält nis ist der Tradition nicht so selbstverständlich wie es denen er scheint, die daraus >naturrechtliche< Folgerungen ziehen. Aber hinzu kommt noch, daß die Theologie selbst natürlich kein im strengen Sinne auf Urheberschaft gegründetes Eigentumsverhält nis zu ihren Aussagen behaupten kann, sofern sie diese auf den Akt der >Schenkung< in einer Offenbarung zurückführt. Aber hier kann der Historiker getrost die Entstehung des primären Eigentums auf sich beruhen lassen, ohne eine ihm heterogene Selbstdeutung dadurch unkritisch mitzumachen. Dieselbe historische Einstellung und Methode aber, die sich der Kategorie Säkularisierung bedienen soll, um Entstehung und >Substanz< der Neuzeit dem Verständnis zu erschließen, hat ihr ganzes Instrumentarium aufgeboten,' um die vom Christentum beanspruchte Neuheit und transzendente Ursprünglichkeit seiner geistigen Gehalte der Abhängigkeit von der hellenistischen Um welt seines Ursprungs zu überführen und dadurch in den histo rischen Kontext einzubetten. Die Bemühung, die beiden großen Epochenschwellen von der Antike zum Mittelalter und vom Mit telalter zur Neuzeit unter die Maxime der geschichtlichen Konti nuität einer identifizierbaren >Substanz< zu stellen, führt in den offenkundigen Widerspruch, daß das, was durch die Säkularisie rung die Neuzeit fundieren und mit ihren wesentlichen Gehalten versorgen soll, eineinhalb Jahrtausende zuvor aus dem säkularen Substrat des Hellenismus entnommen und >entsäkularisiert< sein muß. Wenn, nach einem Wort von Willy Theiler, das Christen tum die immanente Entwicklung des Griechentums zur Religion
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vollendet und wenn, nach der These von Carl Schneider, nicht einmal von einer >Hellenisierung< der neutestamentlichen Aus sagen gesprochen werden kann, weil diese von Anfang an ihrer Herkunft und ihrem Inhalt nach hellenistisch waren21, dann wird die Voraussetzung des primären Eigentumsverhältnisses für die Durchführung des Gedankens der Säkularisierung mehr als pro blematisch, zumindest aber tritt - auch wenn man die Radikali tät dieser Reduzierung der Authentizität des Christentums nicht mitmacht — das ganze Gewicht der Beweislast für die Säkularisie rungsvorstellung vor Augen. Auch und gerade Rudolf Bultmann, der inmitten der historischen Bedingtheit und Rezeptionsfülle des neutestamentlichen Denkens den originären und unauflösbaren Kern eines formalen Ke rygma retten will, kommt bei seinem spezifischen Gebrauch des Terminus >Säkularisierung< um den Widerspruch nicht herum, daß eben das von ihm gesetzte Kerygma kraft seiner Definition nicht in Weltlichkeit >übergehenverschwinden< kann. Bultmann spricht von der Vergeschichtlichung der Eschatologie, die von Paulus eingeleitet und von Johannes radi kal durchgeführt worden sei.22 Was der Neutestamentler Bult mann dem Geschichtsphilosophen Bultmann voraus hat, ist der zeitlich vom Anfang der Neuzeit auf den Anfang des Christen tums selbst vorverlegte Anlauf dieses Prozesses der Vergeschicht lichung und Verweltlichung. Der theologische Grundgedanke ist deutlich: der absolute Anspruch des unweltlichen Kerygma wird von >der Weite nicht ertragen, sofort in ihre Geschichtlichkeit aufgefangen und dadurch in seiner akuten Unverwindlichkeit verdeckt und annehmlich gemacht. Aber konnte, was schon kraft der ihm zugeschriebenen transzendenten Natur fast vom Augen blick seiner Proklamation an dem Schicksal der Vergeschicht lichung unterlag, was als kosmische Eschatologie seine ohnehin nur rekonstruierbare Authentizität verloren hatte, was als unbestimmt-ferne Erwartung der Weltkatastrophe dem spekulati ven Kalkül über Patristik und Mittelalter hinweg preisgegeben 21 C. Schneider, 1954,1 29-156. Vgl. dazu meine Rezension in: Philosophische Rundschau 6, 1958, 95-102. 22 R. Bultmann, 1953, 384. Vgl. dazu meine Rezension in: Philosophische Rundschau 2, 1954/5, 121-140.
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war, nochmals säkularisiert werden? Der Geschichtsphilosoph Bultmann scheint eben dies anzunehmen, wenn er sagt, die Fort schrittsidee behalte den Gedanken der eschatologischen Voll endung in säkularisierter Form bei, oder wenn er die Geschichts anschauung Kants als eine moralistische Säkularisierung der christlichen Geschichtsteleologie mit ihrer Eschatologie bezeichnet oder wenn er schließlich bei Hegel die Säkularisierung des christ lichen Glaubens bewußt und konsequent durchgeführt sieht.23 Die kosmische Eschatologie der Weltzerstörung und des Welt gerichts, die anstelle des unmittelbar >die Existenz< fordernden transzendenten Kerygma getreten war, wird von Bultmann selbst aus dem Zusammenhang der kosmologisch-zyklischen Spekula tionen im hellenistischen Geistesraum hergeleitet und einem Grundmythos von der Art der ständigen Welterneuerung, wie ihn die Kosmologie der Stoa enthält, als gleichsam auf nur eine Periode verkürzte Sonderform der jüdischen Apokalyptik zu geordnet.24 Nun kann man Bedenken haben, ob das richtig ist, ob die Trennung von zyklischer Verlaufsform des Weltprozesses und immerwährender Wiederholung als bloß quantitative Änderung jenes Grundmythos plausibel ist oder ob dabei nicht unbeachtet bleibt, daß die zyklische Mythologie nur auf dem Boden einer positiven Wertung des Kosmos ausgebildet werden konnte. Die jüdische Apokalyptik enthält überhaupt kein kosmologisches In teresse, vielmehr kompensiert sie das Scheitern der geschichtlichen Erwartungen einer Nation mit der Prophezeiung geschichtsjen seitiger Erfüllung, um dadurch den Gott des Volkes und seiner Geschichte zu rechtfertigen. Aber dieser Einwand ändert nichts daran, daß die apokalyptische Eschatologie gerade als Kompen sation eines auf Welt und Geschichte gerichteten Interesses selbst schon >weltlich< ist und ein Bild des Weltverlaufs im ganzen ent wirft, das für das Leben des einzelnen Menschen ebensowenig unmittelbare, nämlich das Verhalten affizierende, Bedeutung hat wie die zyklische Kosmologie der ständigen Wiederkehr. Wenn Bultmann den essentiellen Unterschied der neutestamentlichen Eschatologie zur zyklischen Geschichtsvorstellung im Hel lenismus in der Verkürzung auf eine Periode sieht, so geht er 23 R. Bultmann, 1958, 75, 77 24 aaO 27
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schon von der Voraussetzung aus, daß das Geschichtsverständnis der Griechen im Gegensatz zu dem der christlichen Epoche natu ralistisch gewesen sei und daß der zyklische Grundmythos die Auslegung einer als Natur verstandenen Geschichte darstelle. Aber der hierbei verwendete Begriff von >Natur< ist selbst erst das Resultat einer der Antike fremden Dissoziation von Natur und Geschichte. Die Geschichtsvorstellung wird nicht schon da durch entkosmisiert, daß sie auf die Einmaligkeit des Gesamt verlaufs und auf die Einzigkeit jedes Ereignisses innerhalb des selben reduziert wird. Die Schärfe der Differenz liegt nicht zwischen der hellenistisch-kosmologischen Zyklentheorie und der jüdisch-apokalyptischen Enderwartung, sondern zwischen der Unbestimmtheit dieser TotalVorstellung von einer durch ihr Ende erfüllten Geschichte und der neutestamentlichen Naherwartung, durch die die verheißenen Ereignisse des Weitendes noch in das Leben des Einzelnen bzw. der lebenden Generation hereingerückt werden. Grundmythos und Naherwartung unterscheiden sich nicht nur quantitativ — nämlich hinsichtlich der Wartezeit -, son dern qualitativ, nämlich in ihrer Funktion für das Verhalten. Die lebendige Naherwartung zersprengt den überindividuellen Ge schichtsstrom, sie reißt aus dem kollektiven Geschichtsinteresse des Volkes heraus und drängt jedem seine eigene Heilssorge als das Nächstliegende und unmittelbar Dringliche auf. Sie motiviert die Härte der Forderungen auf Änderung des Lebensstils, die unter der Voraussetzung des >letzten Augenblicks< jedem gestellt werden können; die Bergpredigt ist der Typus für das, was in dieser Situation zugemutet werden kann. Nicht die Verkürzung des Zyklus also, sondern die Gegenwärtigkeit seiner Krisis schafft das, was auch für ein nichttheologisches Verständnis im Neuen Testament als >unweltlich< bestimmbar ist, nämlich die Maxime eines mit der bestehenden Realität der Welt nicht konsistenten und unter der Voraussetzung ihres Fortbestandes lebenswidrigen Verhaltens. Nimmt man dies als essentiell für den ursprünglichen Kern der christlichen Lehre, so hat es mit dem Begriff der Ge schichte eben nur das eine zu tun, daß es das absolute Desinter esse an Vorstellung und Erklärung der Geschichte selbst zum Kennzeichen der akuten Situation des herangekommenen Endes der Geschichte macht. Die Sinnlosigkeit der Selbstbehauptung in
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der Welt und damit die Proklamation der Geschichtslosigkeit des Menschen ist das, was für den Historiker als Korrelat jenes ihm unzugänglichen >Kerygma< faßbar wird. Die christliche Theologie hat zwar in ihrer weiteren Geschichte mit anderen Mitteln und Vorstellungen gearbeitet, aber sie ist in ihrer humanen Effek tivität gerade auf diesen Sinnverlust der Selbstbehauptung als Absolutsetzung der transzendenten Heilssorge zurückgekommen; das wird im zweiten Teil für den Ausgang des Mittelalters zu zeigen sein. Gerade dort also, wo die genuine Eigenart der neutestament lichen Eschatologie erweisbar wird, ist ihre Unübersetzbarkeit in einen wie auch immer definierbaren Begriff von Geschichte evident. Es gibt keine Geschichtsvorstellung, die sich ihrer >SubstanzFreispruch< vor dem göttlichen Tribunal war denen bereits zugestellt, die den Glauben besaßen; und Johannes ging konsequent noch den Schritt weiter zu sagen, daß das Gericht selbst schon vollzogen sei und
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der Glaubende das endgültige Heilsgut des >Lebens< schon be sitze. Die Tendenz in der Aufarbeitung der eschatologischen Ent täuschung geht also nicht nur auf Erklärung der Verzögerung, auf Gewinn neuer Unbestimmtheit, sondern auf die Verlegung der entscheidenden Heilsereignisse in die Vergangenheit und den aus ihr entstandenen >inneren< Besitz an Gewißheit; die Zukunft bringt nicht mehr das heterogen Neue, die sieghaft hereinbre chende Überwindung des Unheils, sondern sie wird zum Spiel raum all der kunstvollen Umformungen und spekulativen Aus flüchte, mit denen die überlieferten Zeugnisse der akuten Nah erwartung dem Fortbestand von Welt und Zeit angepaßt werden mußten. Die eschatologische Zukunft war nicht nur unbestimmt, sondern auch beziehungslos zu den der erlösten Menschheit schon über eigneten Heilsgütern geworden, und zwar derart, daß die eschato logische Grundstimmung der christlichen Epoche nicht mehr als Hoffnung auf die Ereignisse des Endes, sondern nur noch als Furcht vor Gericht und Weltzerfall beschrieben werden kann. Hatte die Urgemeinde noch nach dem Kommen des Herrn ge rufen, so bittet die Kirche alsbald pro mora finis, um Aufschub des Endes.25 Der Geschichtsbegriff, der sich hier allenfalls bilden konnte, ist der einer Gnadenfrist, nicht einer in die Zukunft ge richteten und dort Erfüllung suchenden Erwartung. Das End gericht wird zu einem geheimen Vorbehalt Gottes über dieser Ge schichte, der weniger das menschliche Bewußtsein vor seine akute Krise stellt als vielmehr zur Rechtfertigung Gottes dafür dient, daß er die Christen von den Äußerungen seines Zornes gegen25 Vgl. K. G. Kuhn, Artikel >maranathä< in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament IV, Stuttgart 1942, 470-475 (zu 1. Kor. 16, 22). Gebet um Aufschub der Schrecken des Endes wird schon Markus 13, 18 und Matthäus 24, 20 empfohlen, aber doch nur als Milderung der Bedingungen: solches möge nicht im Winter oder am Sabbat geschehen. Bei Tertullian ist das Gebet staatsund welterhaltend geworden: unter den negotia Christianae factionis zählt er auf, sie bestürme Gott pro statu saeculi, pro rerum quiete, pro mora finis (Apologeticum 39, 2). Eigeninteresse der Christen und Staatsinteresse des römischen Reiches koinzidieren, wie er versichert, weil die Frist bis zu den Leiden und Schrecken der clausula saeculi mit dem Bestand des Imperiums zusammenfalle; wer jene nicht erdulden wolle, müsse sich um dieses sorgen: itaque nolumus experiri et, dum precamur differri, Romanae diuturnitati favemus. (Apologeticum 32, 1) Dazu: H. U. Instinsky, 1963, 52 f. Zum Rück bildungsvorgang der akuten Eschatologie: Μ. Werner, 1941.
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über den Heiden nicht verschont und ihnen damit den Preis für den erflehten Fortbestand der Geschichte des aus Erwählten und Verworfenen noch ungeschiedenen genus humanum auferlegt. Die Zuverlässigkeit des Gottes der Christen wird der ungläubigen Umwelt nicht an der Erfüllung seiner Verheißungen, sondern an der Verzögerung dieser Erfüllung demonstriert. Da er einmal das ewige Gericht für die Zeit nach dem Ende der Welt fest gesetzt hat, vollzieht er die Scheidung, die Voraussetzung des. Gerichtes ist, nicht vor dem Ende der Welt. In der Zwischenzeit ist er in Güte und Zorn der gleiche für das ganze Menschen geschlecht.26 Aber die Kirche verweltlicht sich nicht nur nach außen, um sich der bedrängenden Umwelt als gemeinnützig zu erweisen; sie >organisiert< ihre Weltlichkeit auch nach innen, am deutlichsten in der Gemeindegerichtsbarkeit, die Tertullian als höchste Vorwegnahme des künftigen Gerichtes bezeichnet.27 Das mit Gebetsgewalt für die Welt erstrittene Interim füllt sich mit Surrogaten der absoluten Gerechtigkeit auf, die dadurch nicht vorbereitet, sondern hinsichtlich der Notwendigkeit des Bedürf nisses entbehrlich gemacht wird. Und Tertullian ist kein abseitiger Fall: Karl Holl hat seiner Abhandlung Tertullian als Schriftstel ler die fast enttäuscht klingende handschriftliche Marginalie hin zugefügt: Bei keinem Apologeten die Hoffnung auf das baldige Wiederkommen des Herrn!28 Wollte man den so umrissenen Prozeß als >Verweltlichung< gelten lassen, so wäre es jedenfalls nicht Verweltlichung der Eschato logie, sondern Verweltlichung durch Eschatologie, sofern man dem wiederkehrenden Weltinteresse eine neue Intensität der gleichsam unverhofft wieder zugelassenen Weltaspekte zuschrei ben könnte. Aber wichtig ist, daß dies alles mit dem Ursprung und der Konstitution der Neuzeit nichts zu tun hat, daß es ein immanenter Prozeß der christlichen Epoche selbst und im Kern 26 Apologeticum 41, 3 27 Apologeticum 39, 4: nam et iudicatur magno cum pondéré, ut apud certos de dei conspectu, summumque futuri iudicii praeiudicium est . . . 28 K. Holl, 1928, 11 Anm, d. Hrsgs. Audi wo die Enderwartung bzw. -Befürchtung sich selbst als kurzfristig ausgibt, ist das oft nur literarische Assimilation; wenn Laktanz versichert, lapsum ruinamque rerum brevi fore, oder gar venisse tarn finem rebus humanis orbique terrarum, zugleich aber sagt, der Spielraum betrage 200 Jahre (Divinae Institutiones VII 25, 5-7), so ist das entgegen dem Wortlaut eben doch Fernmythos.
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ihrer theologischen Formation ist. Trotz wiederkehrender eschatologisch-chiliastischer Erregungswellen hat das Mittelalter die Ten denz fortgesetzt, die biblischen Zeugnisse allegorisch-großräumig zu entschärfen und die Aussagen vom transzendent hereinbre chenden Heil in die Innerlichkeit des schon gewirkten und ver bürgten, im unerschöpflichen Gnadenschatz der Kirche zur Ver waltung überlassenen Heilsgutes umzuprägen. Hinzu kam, daß die systematische Einheit der Eschatologie auseinandergerissen wurde: für das Mittelalter gab es eine kosmische und eine indi viduelle Eschatologie, und es war unausbleiblich, daß das Inter esse des Menschen von der Frage nach seinen eigenen letzten Dingen< absorbiert wurde. Die späte Lehre von einem beson deren Gericht für jeden Verstorbenen im Augenblick seines Todes hat dem endzeitlichen allgemeinen Gericht die Rolle eines für den Einzelnen nicht mehr bewußtseinswirksamen Finales zu gewiesen. Aber auch, wenn wir zugestehen könnten, in diesem Funktions wandel der Eschatologie sei die genuin theologische Substanz noch identifizierbar, bliebe doch der Nachweis des dritten der unter der Vorstellung der Säkularisierung geforderten Merk male - die Einseitigkeit des Entzuges, der Enteignung und damit der Entstellung zu einer >uneigentlichen< und dem Ursprung ent fremdeten Gegebenheit — offen und problematisch. Daß gerade diesem Kriterium nicht genügt werden kann, liegt in der Natur des dargestellten Prozesses, dem man mit der Formel von der Vergeschichtlichung der Eschatologie sich nur unbestimmt nähert, wenn man das Agens dieses Vorganges nicht thematisiert. Denn hier ist nicht ein fremder und äußerlicher Faktor im Spiele, der das authentische Material der eschatologischen Vorstellungen in seinen Dienst zieht; die Quintessenz des dargestellten Sachver halts besteht vielmehr darin, daß die Eschatologie sich selbst vergeschichtlicht. Die Überspannung der ethischen Forderung in der akuten Situation der Naherwartung, die unausweichliche Widerlegbarkeit der apokalyptischen Verheißung und die notwendige Enttäuschung eines Verzichtes, der nur im Vergehen der "Weit triumphiert hätte - diese Momente erzwangen Antworten auf Fra gen, die sich zuvor nicht gestellt hatten und an deren Formulie rung sich die Theologie nicht beliebig oft versuchen konnte. Es war
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nicht die autonome Konkurrenz der neuzeitlichen Geschichts philosophie, die sich angemaßt hätte, als Erkenntnis auszugeben, was zuvor als Offenbarung angenommen worden war. Hegels Geschichtsphilosophie ist der erst späte und nachträgliche Ver such, das Geschichtsmodell der Aufklärung wieder derart an das christliche Geschichtsverständnis anzuschließen und zu ihm in Beziehung zu setzen, daß die Identität der in der Geschichte sich realisierenden Vernunft noch in einer untergründigen Konstanz der realisierten Ideen bestätigt gefunden werden konnte. Die Rede von der Säkularisierung als einem enteignenden Zu griff geht von der als ganz selbstverständlich vorausgesetzten Dualität und Konkurrenz einer geistlichen und einer weltlichen Instanz aus, also letztlich von der die Geschichte des Mittelalters prägenden Vorstellung der beiden Reiche. Säkularisierung wäre danach eine der geschichtlichen Formen des Übergriffs der welt lichen Instanz gegenüber der geistlichen, und zwar im übertra genen Sinne die Form des Zugriffs auf die ideelle Substanz. Aber diese Voraussetzung ist, geistesgeschichtlich betrachtet, eine Fik tion bzw. ein Bestandstück der tradierten theologischen Selbst deutung. Die Hypostasierung von Weltlichkeit - besser: theo logischer Unzuständigkeit - ist erst im Zuge der Enttäuschung und Selbstdestruktion der Eschatologie vollzogen worden. >Weltlichkeit< gab es nicht, bevor es nicht >Unweltlichkeit< gab; das, was nicht von dieser Welt zu sein beanspruchte, stellte diese Welt in Frage, eröffnete ihr damit aber logisch zugleich die Möglichkeit, sich als solche zu behaupten, als beständig und verläßlich und sogar im Fortbestand als wünschenswert zu erweisen. Aus der Betroffenheit der Enttäuschung und aus dem Glauben an den ge währten Aufschub konstituierte sich eine zuvor ungekannte Be deutsamkeit, aber auch Befragbarkeit der Welt; die genuine Ver weltlichung ist nicht eine Transformation von Gegebenem, son dern primäre Kristallisation jener Weltlichkeit, die im Begriff der Säkularisierung allererst des unrechtmäßigen Übergriffs über ihre Kompetenz hinaus auf das, was eigentlich nur Restbestand jener Ausgangssituation der akuten Naherwartung war, beschul digt werden konnte. Die Differenz der Instanzen, die in der Vorstellung des unrechtmäßigen Entzuges vorausgesetzt ist, ver liert unter diesem Aspekt den Zug eines fast gnostischen Dualis-
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mus und erweist sich als sekundäres Produkt innerer Vorgänge des im weitesten Sinne eschatologisch beherrschten Denkens selbst. Die Identifizierung der autonomen Vernunft mit jener Weltlich keit entspringt einer voreiligen Interpretation und wohl dem Wunsch, die Vernunft an dem dämonisierenden Effekt des Dua lismus partizipieren zu lassen. Wenn die neuzeitliche Vernunft in ihrer Gestalt als Philosophie den Grundzug der Überanstrengung an den großen und allzu großen Fragen annahm, der von den Bestreitern ihrer Legitimi tät als Hybris ausgelegt werden sollte, dann lag dies nicht an so etwas wie der >Dämonie< ihrer Weltlichkeit und ihres spon tanen Erkenntniswillens, sondern an der Überforderung durch die Fragen, die ihr hinterlassen worden waren. Der Schein der Illegitimität des neuen Anfangs entsteht dadurch, daß die Fra gen neuerdings als gestellt und aufgegeben angenommen wer den, die das Mittelalter sich gestellt und vorgeblich beant wortet hatte, die aber nur und gerade deshalb aufgeworfen worden waren, weil man sich schon im Besitz der >Antworten< glaubte. Die Kontinuität der Geschichte über den Epochenbruch hinweg liegt nicht im Bestand einer ideellen Substanz, sondern in der Hypothek der Probleme, in der übernommenen Funk tion, auch und wieder zu wissen, was schon einmal gewußt wor den war. Für das Beispiel der Idee des Fortschritts als Totalvorstellung von Sinn und Figur der menschlichen Geschichte läßt sich sehen, daß dieser Geschichtsbegriff nicht durch die Umprägung der theo logischen Eschatologie und durch deren Entzug aus ihrer eigent lichem Intention möglich wurde, sondern daß diese Konzeption ihren ursprünglich regional begrenzten und gegenständlich ge bundenen Aussageumfang erweitern und zur Allgemeinheit einer Geschichtsphilosophie überbeanspruchen mußte, um einer Frage gerecht zu werden, die gleichsam herrenlos und ungesättigt im Raume stehen geblieben war, nachdem die Theologie sie virulent gemacht hatte. Die Fortschrittsidee als eine der möglichen Ant worten auf die Frage nach dem Ganzen der Geschichte wurde in die Bewußtseinsfunktion der schon vergeschichtlichten Eschato logie hineingezogen. Sie wurde dabei für eine Erklärungsleistung in Anspruch genommen, die ihre Rationalität überforderte.
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Gewaltsamkeit der Transposition wurde also nicht gegenüber einem ursprünglich theologischen Vorstellungsgehalt geübt, son dern Umdeutung und Überdeutung ergriffen einen für sich genom men genuin rationalen Gedanken und belasteten ihn mit der- wenn man so sagen darf - Verantwortung für den Verlust der einmal in sicherem Besitz geglaubten Antwort auf die Frage nach der Geschichte. Die Entstehung der Fortschrittsidee und ihr Einsprin gen für die religiöse Geschichtsdeutung sind also zwei verschie dene Vorgänge. Ich möchte nicht um der Pointe der Umkehrung willen überspitzen - aber die Gewaltsamkeit der Enteignung, der Umdeutung und Überdeutung war nicht auf die Eschato logie bezogen und damit von der rationalen gegenüber der tran szendenten Instanz bewirkt, sondern es war die ganz unabhängig entstandene Idee des Fortschritts, die für eine Leistung in Dienst genommen wurde, die ihre authentische Rationalität überzog und sie zu einer metaphysischen Aussage über die Totalität der Geschichte auftrieb. Der Fortschrittsglaube hatte seine empirische Grundlage in der Erweiterung der theoretisch zugänglich und verfügbar gewordenen Realität und in der Leistungsfähigkeit der dabei effektiven wissenschaftlichen Methodik. Wenn das, was Erfahrung und vorweisbarer Bestand war, in einen die Zukunft einschließenden Glauben übersetzt wurde, so genügte damit das Selbstverständnis der Vernunft als des produzierenden Prinzips der Geschichte einem an sich selbst nicht rationalen Bedürfnis, mehr zu verstehen und als Gesetzmäßigkeit sich zu versichern, als der empirisch gesicherte Befund hergeben konnte. Noch Auguste Comtes Gesetz von den drei Perioden der Geschichte der theologischen, der metaphysischen und der positiven - steht unter dem Erklärungszwang der nach den kritischen Restriktio nen der dritten Phase — von der aus doch dieses Schema entwor fen wird - gar nicht mehr möglichen Totalität. Diese Art von Geschichtsphilosophie begeht den Widerspruch, sich selbst von der rationalen Kritik auszuschließen, die sie sich als Kennzeichen ihres geschichtlichen Standorts zuweist. Ihre Bindung an die Ver gangenheit ist nicht die Schuldigkeit aus übernommenem Besitz, sondern Belastung durch die reell nicht mehr einlösbaren Ver bindlichkeiten gegenüber dem Fortbestand der Fragen. Definiert man den Fortschritt einmal nicht als Zuwachs an Gü-
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tern, sondern als Minderung der Übel in der Welt, so wird deut licher sichtbar, worin die Konkurrenz dieses Typus der neuzeit lichen Geschichtsphilosophie mit der theologischen Geschichts auffassung eigentlich besteht: nicht die Aufhebung und Auf lösung des die Geschichte transzendent erfüllenden Messianismus in der Geschichte selbst ist das inkriminierende Moment, sondern die gestörte Funktion der Theodizee, die - nach dem im zweiten Teil zu besprechenden Konzept Augustins - die physischen Übel an der Schöpfung als gerechte Strafen für das aus der mensch lichen Freiheit kommende Böse auslegt. Nun ist dieses Böse aber gerade seit Augustins Überwindung der Gnosis durch die Ver legung des gnostischen bösen Prinzips in den Schoß der Mensch heit selbst als deren erbliche Sündigkeit eine konstante und nicht erst aus der Summierung fehlerhafter Handlungen sich ergebende Größe; lassen sich also im Fortschritt die Übel in der Welt ver mindern, so müßte der Mensch auch aus eigener Kraft die Straf fälligkeit für seine Schuld ermäßigen können. Hans Jonas hat das auf die augustinische Gegenposition des Pelagianismus ge bracht und als Nivellierung der Gnade zu einer in der ganzen Menschheitsgeschichte im Fortschrittssinne wirksamen, im stei genden Maße die Menschen zum Bewußtsein ihrer selbstverant wortlichen Freiheit bringenden Belehrungsmacht charakterisiert.29 Aber es wäre falsch zu folgern, damit sei wiederum die Fort schrittsidee auf eine theologische Präzedenz zurückgeführt; denn so richtig es ist, daß der Augustinismus und seine spätmittelalter liche Verschärfung das Fortschrittsschema ausschließen, so wenig ist zu akzeptieren, daß der Pelagianismus die innertheologische Alternative dazu darstelle. Es ist vielmehr eine rationale Posi tion der dem Menschen aus seiner woher immer bestärkten Ein sicht Verfügung über sich und seine Geschichte gebenden Auto nomie, die von Augustin zugunsten der Lösung des gnostischen Problems ausgeschlossen wurde und deren Erneuerung am ehe sten durch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts bezeichnet wird. Die Theodizee von Leibniz ist ebensowenig Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln; sie schließt gerade dadurch jeden Ansatz zur Geschichtsphilosophie aus, daß sie die Qualität der Welt als der besten aller möglichen Welten in statischer Unüber29 H. Jonas, 1930, 36 Anm. 1
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bietbarkeit behauptet und dem Menschen so hinsichtlich der Ver besserung dieser Bestimmung seine Rolle schlechthin bestreitet. Odo Marquard hat den Versuch gemacht, Hegels Selbstverständ nis seiner Geschichtsphilosophie als >Theodizee< für die historische Interpretation der idealistischen Geschichtsphilosophie zu aktua lisieren und ihre Radikalisierung der menschlichen Autonomie als den radikalen Nachweis der Schuldlosigkeit Gottes und da mit als Lösung des Theodizeeproblems verständlich zu machen.3031 Bedeutet die Annahme dieser These, daß in der reichsten und anspruchsvollsten Ausprägung der Geschichtsphilosophie doch schließlich säkularisierte Theologie vorliegt? Marquard verwen det diesen Begriff nicht; aber auch für ihn ist das Theodizee motiv die Antwort auf die Frage, ob es für den Idealismus viel leicht doch ein auch theologisch plausibles und honoriges Motiv gebe, die Autonomie d. i. die menschliche Freiheit Gott gegen über zu radikalisieren — im Extremfall in einem Maß, daß die Rede von Gott verstummen muß. Nun wird allerdings Anlaß und Leistung dieser Theodizee exemplarisch auf Kants Entdekkung und transzendentale Überwindung des Antinomienpro blems bezogen, das in der Nachfolge des cartesischen genius malignus als Indiz einer den Menschen täuschenden und damit schlimmen Welt erscheinen mochte, aber in der >kopernikanischen Wendung< eben dem Menschen als seinem Ursprung angelastet werden konnte. Mag hier zunächst der Mensch nur die >Schuld< für die theoretischen Torturen seines unkritischen Vernunft gebrauchs selbst übernehmen, so könnte sich doch dies als For mel auch für die Entlastung Gottes von den weniger theoreti schen Torturen der Geschichte angeboten haben. Die idealistische Geschichtsphilosophie wäre danach vielleicht nicht ihrem Gehalt und ihrer formalen Struktur nach säkularisierte Theologie, wohl aber ihrer Funktion nach noch mehr als dies, nämlich eine sich mit Rücksicht auf die Rechtfertigung Gottes als Anthropologie aussprechende Theologie oder eine - wie Marquard selbst es for muliert - konsequenterweise durchweg sich selber verhindernde Theologie?1 30 O. Marquard, 1965, 40 f. 31 aaO 47. Marquard teilt die hier vertretene Skepsis in bezug auf die heute übliche Herleitung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie aus dem escha-
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Ob nun die Geschichtsphilosophie die mittels der Theodizee aus geübte List der Theologie ist, mit der sie ihre von Feuerbach be hauptete Auflösung in Anthropologie doch nur zur gründlicheren und endgültigen Entlastung ihres Gottes betreibt, brauche ich zum Glück hier nicht zu diskutieren; aber die Frage, ob die Ab hängigkeit von der Theodizee als dem agierenden Motiv in direkte Säkularisierung einer ursprünglich theologischen Idee wäre, stellt sich schon deshalb, weil der von Odo Marquard be hauptete Zusammenhang mindestens so plausibel wie die These von der okkupierten Eschatologie ist. Gerade hier setzen meine Bedenken an: selbst wenn die Geschichtsphilosophie des Idealis mus Theodizee in reinster Konsequenz wäre, ließe sich doch im mer noch nicht sagen, sie sei Theologie mit anderen Mitteln. Denn die Theodizee in der ihr von Leibniz gegebenen neuzeit lichen Gestalt steht schon diesseits einer theologischen Funktion und gehört zum Protest der Aufklärung gegen den Willensgott und seine potentia absoluta, was aber nicht identisch ist mit der Aussage, in der Theodizee interessiere nicht mehr der >gnädige Gottgerechte Gott Säkularisierung! zu viel substantielle Identität mit der Theo logie unterstellte, sondern weil sie zu wenig von der genuin theologischen Funk tion dieser Philosophie erschließt. Säkularisierung wird auch hier zum Schein, der als solcher erklärt werden kann: Geschichtsphilosophie wäre indirekte Theologie, die vom Menschen und immer wieder vom Menschen spricht, um Gott nicht zu belasten, wie jemand, der von einem bestimmten Thema kon stant ablenkt, weil er weiß, daß dort jedes Wort einen Hinweis geben könnte, den er nicht zu geben wünscht. Die Phänomene der Säkularisierung würden auf dem methodischen Atheismus ad maiorem gloriam Dei beruhen, der zugleich die vielleicht einzig aussichtsreiche Form der Theodizee wäre (aaO 47). 32 aaO 38 f. Anm. 20
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dersprüchen mit der Erfahrung der Welt und der Geschichte zu befreien, also die Möglichkeit seiner Existenz rational zu machen. Ich werde im zweiten Teil zu zeigen versuchen, daß die Funktion solcher Überlegungen die der Selbstbehauptung gegen den theo logischen Absolutismus, also ein anthropologisches, nicht aber theo logisches Interesse ist, das man nur auf dem Umweg über die metaphysische Absicherung wahrzunehmen vermochte. Die Theo dizee ist indirekte Vertretung des humanen Interesses, und deshalb kann die aus der Theodizee hervorgegangene Geschichtsphilo sophie - wenn diese These richtig ist - nicht die indirekte Ver tretung des theologischen Interesses sein. Selbst wenn die ideali stische Autonomiethese die Rechtfertigung eines Gottes wäre, der zwar nicht die beste der möglichen Welten gemacht, aber dafür den Menschen mit der kompensatorischen Fähigkeit versehen hat, eine immer bessere Welt aus der bestehenden zu machen, so wäre diese Rechtfertigung doch nur zu der erneuten Reflexion auf die Geschichte bestimmt, diesen Gott von jedem Verdacht der Möglichkeit zu befreien, er sei hinsichtlich der Anerkennung der Autonomie des Menschen und seiner Welt nicht zuverlässig ge nug, um nicht von ihm Störung und Willkür befürchten zu müs sen. Die geschichtsphilosophische Mimikry der Theodizee führt nicht so sehr zum methodischen, als vielmehr zum hypothetischen Atheismus, zur Betrachtung der Geschichte nicht als Inbegriff der vom Menschen übernommenen Entlastung Gottes, sondern der von ihm demonstrierten Entbehrlichkeit Gottes. Diese Demon stration steht nun freilich unter den Bedingungen, die ihr durch den >Rahmen< der christlichen Geschichtsvorstellung hinterlassen sind.
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Die bisherigen Überlegungen galten der Klarstellung der metho dischen Beweislast für die historische Gültigkeit der Kategorie Säkularisierung. Im Zuge dieser Überlegungen ist aber auch deut lich geworden, daß die kritische Anfechtbarkeit des Gebrauchs dieses Erklärungsschemas nicht die Unterstellung impliziert, Säkularisierungen seien aus dem Motiv der geltend zu machen den >Kulturschuld< sozusagen erfunden worden. Auch wenn die einschlägigen Phänomene den Kriterien der Identifizierbarkeit, der Authentizität des Eigentums und der Einseitigkeit des Ent zuges nicht standhalten und damit des Scheincharakters ihrer Verweltlichung überführt werden können, hat dieser Schein doch sein fundamentum in re, seine nachweisbare historische Logik. Säkularisierung als Erklärungsform geschichtlicher Vorgänge konnte überhaupt nur dadurch entstehen und überzeugend wir ken, daß die historische Aufweisbarkeit von vermeintlich säku larisiertem Vorstellungen tatsächlich durch eine Identität im ge schichtlichen Prozeß getragen wird, die allerdings nicht Identität der Sache, sondern der Funktion ist, welche letztere ganz hetero gene Gehalte an bestimmten Stellen des Systems der "Welt- und Selbstdeutung des Menschen annehmen können. Dieses System hat die christliche Theologie in unserer geistigen Geschichte ent scheidend und vor allem im Sinne der Ausweitung bestimmt; sie hat neue >Stellen< im Rahmen der über die Welt und den Men schen für möglich gehaltenen Aussagen geschaffen, die nicht wie der >eingespart< oder in theoretischer Ökonomie unbesetzt ge halten werden konnten. Unbeantwortbare Fragen nach der Totalität der Welt und der Geschichte, nach der Herkunft und Bestimmung des Menschen brauchte es für die Theologie nicht zu geben, und darin gründet die Leichtigkeit, mit der sie Titel in den Haushalt der menschlichen Wissensbedürfnisse eingebracht hat, deren Einlösung jeder nicht gleicherweise auf transzendente
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Quellen sich berufenden Erkenntnis schwer oder gar unmöglich werden mußte. Man mag das einen Vorwurf nennen und ihn etwa mit dem Vorwurf vergleichen, den Leibniz gegen Descartes erhebt: er habe durch die Radikalität seines Zweifels und durch die fragwürdige Vordergründigkeit seiner Behebung eine Evi denzforderung in die Welt gesetzt, die der Strenge des Anspruchs nach weder er selbst noch jemand sonst erfüllen konnte. Die Bereitschaft, eine solche Hypothek der vorgegebenen Fragenanzunehmen und als eigene Verbindlichkeit abzutragen, bestimmt weithin die geistige Geschichte der Neuzeit. Es hat einen tra gischen Zug, daß die ebenso großzügige wie verzweifelte An strengung, dem Erbe des von der Theologie determinierten Sy stems gerecht zu werden, schließlich in die mehr oder weniger ausdrückliche Unterstellung ausläuft, der Erbfall sei auf unred liche Art zustande gekommen. Aber was in dem als Säkularisie rung gedeuteten Vorgang tatsächlich geschehen ist, ist nicht Um setzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten, die sich hinsichtlich der ihnen korre spondierenden Fragen nicht eliminieren ließen oder zu deren kri tischer Aushebung als anstehender Probleme die Voraussetzungen und der Mut des Eingeständnisses der Insuffizienz fehlten. Das bisher vorzugsweise behandelte Beispiel der zum Gemein platz gewordenen These von der Herkunft der Fortschrittsidee und allgemeiner des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs läßt sich nun aber nicht als Konjugationsschema für alle Fälle behaupteter Säkularisierung verwenden. Man darf hier den Blick nicht fixiert halten auf die Epochenwende vom Mittelalter zur Neuzeit, son dern muß schon die Struktur des Epochenwandels von der Antike zum Mittelalter in die Betrachtung hereinziehen. Denn die Überständigkeit des Systems der Fragen über die aus den neuen Prä missen möglichen Antworten ist nicht erst ein den Ursprung der Neuzeit bestimmendes Phänomen. Auch das Christentum selbst stand in seiner Frühzeit unter einem vergleichbaren >Problemdruck< ihm genuin fremder Fragestellungen. Wir werden uns von der Vorstellung freimachen müssen, es gebe einen festen Kanon der >großen Fragern, die in konstanter Durchgängigkeit durch die Geschichte die menschliche Wißbegierde und den Anspruch des
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Menschen auf Welt- und Selbstdeutung bewegt hätten, so daß die wechselnden Systeme der Mythologien, Theologien und Philoso phien aus der Kongruenz mit diesem Kanon erklärt werden könn ten. Nicht immer gehen die Fragen den Antworten voraus; es gibt die spontane, aus der Autorität nicht-rationaler Verkündigungen hervorgehende >Urzeugung< der großen, akut wirkenden Behaup tungen vom Typus der eschatologischen Naherwartung, der Schöp fungslehre oder der Erbsündendoktrin, die beim Schwund ihrer Glaubwürdigkeit und Geltung, bei der Selbstzersetzung aus ihren inneren Schwierigkeiten nur die ebenso großen Fragen hinterlas sen, auf die dann eine neue Antwort fällig wird, wenn und weil es nicht gelingt, die Frage selbst kritisch zu destruieren und am System der Welterklärung Amputationen vorzunehmen. Ich brauche nur daran zu erinnern, in welchem Umfang der schwindende und vor allem moralisch destruierte Mythos der Griechen der entstehen den Philosophie >vorgeschrieben< hat, welche Frage sie zu beant worten und welchen systematischen Rahmen sie auszufüllen hatte. Die Geschichte der Philosophie ist weit über ihre Anfangsphase hinaus geprägt von der Anstrengung, diesem vermeintlichen Maß stab ihrer Leistungsfähigkeit gerecht zu werden und die Enttäu schungen, die dabei nicht ausbleiben konnten, zu vertagen oder zu verschleiern. Es gibt also Probleme, die erst durch das Angebot ihrer vermeintlichen Lösung bzw. dessen, was nachträglich als Lösung eines vorgegebenen Problems erscheint, gestellt und zu hartnäckiger Insistenz stabilisiert werden. Ihre Gesamtheit bildet das, was man als formales System der Welterklärung bezeichnen könnte, in dessen Struktur sich die Umbesetzungen lokalisieren lassen, die den Prozeßcharakter der Geschichte bis zur Radikalität der Epochenwenden ausmachen. Dieses System bildet auch in der Konkurrenz der verschiedenen umfassenden Angebote zur Klä rung der menschlichen Daseinsprobleme das übergeordnete Kri terium ihrer Leistungsfähigkeit, auf das Bezug genommen und dem Genüge getan werden muß. Audi dem frühen Christentum traten aus der geistigen Welt, in die hinein es sich ausbreitete und der es seine Verkündigung wer bend anbot, Fragen entgegen, deren Lösung es von Haus aus überhaupt nicht bzw. nicht in der Präzision mitbrachte, die ihm in der Auseinandersetzung mit der hellenistischen Geisteswelt
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abgefordert wurde. Dabei zeigt sich als Grundprozeß der Ein stellung auf das angetroffene formale System die Umsetzung von genuinen Heilswerten in Erklärungswerte, ein irreversibler Pro zeß, den dennoch rückgängig zu machen immer wieder vergeblich versucht worden ist, bezeichnenderweise am radikalsten durch die reformatorische Theologie in eben der geschichtlichen Situa tion, die das als Scholastik angewachsene Syndrom dieser Erklä rungswerte zur Krise gebracht hatte. Die Reduktion des Christen tums auf seine Heilswerte in der Reformation war also zugleich der Versuch, sich dem Problemdruck wieder zu entziehen, der das Resultat seiner Verweltlichung als System der Welterklärung ge worden war. In der eschatologischen Naherwartung konnte das verheißene Heil in der Unbestimmtheit der radikalen Veränderung des Welt zustandes bleiben; erst durch die präzisen Ansprüche der von philosophischen Vorstellungen geprägten hellenistischen Welt mußte die Unsicherheit hinsichtlich der Formulierung des Heils ziels, die noch im Neuen Testament überall spürbar ist, zugunsten von Definitionen überwunden werden. Wenn man z. B. bedenkt, wie stark unsere Tradition durch die Idee der Unsterblichkeit affiziert worden ist, wird man immer wieder verblüfft durch die Feststellung, daß es diese Vorstellung in den biblischen Urkunden der vorexilischen Zeit nicht gibt und daß die Offenbarungs urkunde als ganze damit nur sehr unzulänglich für die an sie sich stellenden Fragen disponiert war. Die griechische Philosophie konnte, aus mancherlei Gründen, genauer angeben, welche Be dingungen in einer Verheißung von >Glückseligkeit< erfüllt sein mußten, und sie stellte diese Bedingungen als obligates System programm an die christlichen Autoren der ersten Jahrhunderte. Damit ist gesagt: dem in die hellenistische Welt eintretenden Chri stentum war seine Funktion, der Spielraum von ihm geforderter Aussagen, als eine zu erfüllende Leerform bereits vorgegeben und zugewiesen, und der Anspruch auf Gehör und Teilnahme an der Konkurrenz der welterklärenden Doktrinen konnte nur in der Übernahme dieser Funktion gerechtfertigt werden. Zum ersten mal trat ein System von Aussagen als die letzte Gestalt der Phi losophie auf. Das Christentum schuf diesen eigentümlichen An spruch, indem es sich in der Sprache der antiken Metaphysik
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dogmatisch formulierte und vorgab, deren Welträtsel zu lösen. Es ist eine geläufige Formel patristischer Autoren, der Gründer des Christentums habe alle Fragen der antiken Philosophen be antwortet. Christus hatte nicht nur Forderung und Verkündigung aus einer anderen Welt und über eine andere Welt gebracht, son dern auch die wahre und endgültige Erkenntnis über diese Welt bis hinein in die Fülle der Probleme de rerum natura11 Das als Säkularisierung gedeutete neuzeitliche Phänomen der Umbeset zung ist also nicht an die Spezifität der geistigen Struktur dieser Epoche gebunden. Christliche Rezeption der Antike und neuzeit liche Übernahme von Erklärungsfunktionen des christlichen Sy stems sind strukturell weitgehend analoge historische Phänomene: das patristische Christentum tritt >in der Rolle< der antiken Phi losophie auf, die neuzeitliche Philosophie >vertritt< weithin die Funktion der Theologie - und zwar nicht nur dort, wo sie sich selbst ausdrücklich als Erfüllung der theologischen Vorgeschichte versteht und definiert, sondern auch dort, wo sie sich als den schärfsten Widerspruch zu der als >überwunden< erklärten Phase der Theologie begreift. Nachdem die Menschen einmal angefangen hatten, so erstaunlich viel von Gott zu wissen, wie der junge Hegel schreibt33 3435 , war selbst ein Atheismus oder eine Erneuerung des paganen Kosmos nicht mehr möglich, sofern sie nicht das Anspruchsvolumen jenes Wissens neu aufzufüllen vermochten. Blickt man einmal nicht auf Hegel, den Theologen — umwillen der Philosophie15, sondern auf Nietzsches Kampf gegen das latente Christentum, so gilt nicht nur, daß er es nicht vermochte, seine Wiederholung der Welt Heraklits anders als antichristlich zur Sprache zu bringen - das könnte ein sehr vordergründiges Phänomen rein linguistischer Herausforderung sein -, sondern sehr viel präziser, daß die Fra gen, die sich für Nietzsche aus dem >Tode Gottes< ergaben, alle auf den Wegfall einer theologischen Antwort bezogen sind.36 Die aktive Vergeßlichkeit, jenes im strengsten Sinne positive Hem33 34 35 36
Vgl. W. Schmid, 1961 I, 266 Hegels theologische Jugendschriften, ed. H. Nohl (Tübingen 1907) 228 K. Löwith, 1964, 193 K. Löwith, 196'2, 44 f. Löwith gibt einen ganzen Katalog solcher Fra-
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mungsvermögen3738 , die Vergeßlichkeit des Kindes, nach der Zara thustra sich sehnt, die göttliche Kunst des Vergessens, von der der Dichter Nietzsche in den Fragmenten der Dionysos-Dithyramben spricht, ist nicht die Kunst der menschlichen Geschichte, deren Unumkehrbarkeit Erinnerung bedeutet und die die große kri tische Freiheit gegenüber den Antworten mit der Unabdingbar keit der Fragen kompensiert. Wichtig für Ursprung und Analogie der Probleme, die mit dem Schein der Säkularisierung und seiner Aufdeckung anhand der drei Kriterien Zusammenhängen, ist die Beobachtung, daß mit der Vorstellung vom ursprünglichen Ideeneigentum und den zu gehörigen Unrechtsvorwürfen schon in der Polemik und Apolo getik gearbeitet wird, die den Prozeß der antik-christlichen Re zeption begleiten. Legitimität des Ideenbesitzes zu behaupten und zu begründen, ist in der Geschichte das elementare Bestreben des Neuen oder des als neu sich Ausgebenden; solche Legitimität zu bestreiten und das aus ihr resultierende Selbstbewußtsein zu erschüttern oder zu verhindern, ist die Technik der Verteidigung des Bestehenden. Das frühe Christentum hat für sich nicht nur Legitimität seines Wahrheitsbesitzes kraft seiner Offenbarung in Anspruch genommen, sondern es hat auch der antiken Welt die Legitimität des Besitzes derjenigen Vorstellungen bestritten, die es mit ihr gemeinsam oder gar von ihr übernommen hatte. Der Kunstgriff, die Philosophen insgeheim aus der Bibel gelernt haben zu lassen und so die Rezeption ihref Sätze als Rückerstattung entfremdeten Eigentums auszugeben, kehrt in der patristischen Literatur immer wieder und verleugnet noch die offenkundigsten Abhängigkeiten. In bezug auf die bis zur Selbstverständlichkeit assimilierte stoische Lehre, der Kosmos sei um der Menschen wil len da, stellt Ambrosius die rhetorische Frage: Unde hoc, nisi de nostris scripturis dicendum adsumpserunt?™ Und Augustin for37 Zur Genealogie der Moral II i (Werke, Musarion-Ausgabe, XV 319). Das Thema Vergessen gehört bei Nietzsche primär in die antiplatonische Intention, die die Anamnesis als Vermittlung der Hinterwelt der Ideen betrifft, aber dann auch zum Komplex >Nachteil der Historie für das LebenQuellenQuelle< ist auf Öffentlichkeit der Nutzung angelegt - wer sich ein Besitzrecht aneignet, handelt .. . nicht lauter, hat Richard Harder (Quelle oder Tradition? In: Sources de Plotin. Entretiens Fondation Hardt. Vandoeuvres o. J., 327) zur Kritik der Quellen metaphorik und zur Vorstellung einer Verletzung eines ursprünglichen gei stigen Besitzrechtes gesagt. - Einen anderen Typus der Legitimitätsvorstellung wählt Irenäus von Lyon (Adv. haer. 9, 4; PG VII 1147): Christus sei deshalb gestorben, um seine Knechte freizulassen und sein Testament in Kraft zu set zen, das die Freigelassenen in den rechtmäßigen Besitz seines Erbes brachte.
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historischer Bedingtheit dieser Kategorie genügt noch nicht zur Vorbereitung ihrer Kritik; dazu muß der Nachweis kommen, daß Herkunft hier auch geschichtliche und spezifische Beschränkung auf den genuinen Gegenstandsbezug bedeutet. Der Zusammen hang von Wahrheitsbegriff und Eigentumsvorstellung hat sich in der Neuzeit gründlich gewandelt. Es gehört zu den die Neuzeit initiierenden Vorgängen, daß die Legitimität des Eigentums an Ideen einzig aus deren authentischer Hervorbringung normiert ist, während ihr Erwerb durch so etwas wie >Übertragung< im weitesten Sinne suspekt geworden ist. Das gehört in den Zusam menhang der Selbstbehauptung der Vernunft, die sich der ex tremen Zuspitzung des Gnadenmomentes in der Theologie wider setzt — wie im zweiten Teil zu zeigen sein wird - und ihr das Postulat der selbsterzeugten Wahrheit als der einzig selbsteigenen Wahrheit entgegenstellt. Diese Selbsterzeugbarkeit besteht prin zipiell für jedes vernünftige Subjekt, sie macht die Objektivität der Wahrheit aus. So kann Leibniz gegen den Voluntarismus der Begründung rationaler Wahrheiten bei Descartes den schlichten, aber als durchschlagend empfundenen Einwand erheben, daß bei dieser Abhängigkeit vom göttlichen Willen selbst die Bestimmun gen eines geometrischen Gegenstandes velut privilegium würden also in hintergründiger Doppeldeutigkeit sowohl dem Gegenstand als auch dem erkennenden Subjekt nicht aus sich selbst zukämen.42 Die Wahrheit hat ihre Analogie zum theologischen Gnadenrecht verloren und damit der Vorstellung des verliehenen und tradier baren Eigentums an Ideen ebenso wie der ihrer rechtswidrigen Aneignung die Voraussetzung entzogen. Wahrheit kann nicht mehr ein Lehensgut mit Erbrecht, also auch nicht mehr die Aus zeichnung einzelner oder einer bevorzugten Gruppe sein. Dieser Wandel in den Voraussetzungen der Vorstellung geistigen Eigentums wird zum Kriterium nicht nur für die Anwendbarkeit und Leistungsfähigkeit von >Säkularisierung< als Kategorie histo rischen Verstehens, sondern noch radikaler für die Möglichkeit der Konstruktion des Vorgangs geistiger Enteignung und Ver schuldung als solcher. In dem Anspruch, historisches Verstehen mit diesem Schema zu vermitteln, steckt eine dem neuzeitlichen 42 Philosophische Schriften, ed. Gerhardt, IV 274
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Selbstverständnis fremde, ihrerseits >säkularisierte< Prämisse. In diesen Zirkel seiner Voraussetzungen gerät der Historiker auch dann, wenn er die im Begriff der Säkularisierung angebotene Wertung nicht mitmacht, also weder das Bedauern über den Ver lust geistlicher Güter noch die Befriedigung über die reinere Wesentlichkeit des transzendenten Restes nach der Befreiung von dem, was >der Welt< zufallen kann. Das historische Verstehen tritt mit dem Gebrauch dieser Kategorie in die Selbstdeutung des' Christentums als eines Wahrheitsprivilegs ein. Es übernimmt fer ner aus der theologischen Selbstdefinition die mit dem Offen barungsanspruch notwendig verbundene Setzung eines aus der vorchristlichen Geschichte nicht begründbaren, immanent voraus setzungslosen Anfanges, mit dem nicht nur eine neue, sondern auch die endgültige Geschichtsformation beginnt. Mit diesem Endgültigkeitsanspruch mußte jedes geschichtliche Selbstbewußt sein in Konflikt geraten, das danach nochmals einen neuen An fang setzen zu können bzw. gesetzt zu haben glaubte. Die be anspruchte Endgültigkeit behauptet sich gerade dadurch, daß sie einem solchen humanen Gründungsakt in der Geschichte seine Möglichkeit der Authentizität bestreitet und ihn auf den unrecht mäßigen Gebrauch ihres Wahrheitsbesitzes angewiesen sein läßt; die Säkularisierungsthese ist nichts anderes als diese historisch formulierte Insistenz gegen das Selbstbewußtsein einer Epoche, die sich schon dadurch, daß sie sich selbst >Neuzeit< nannte, gegen über der Endgültigkeitsimplikation des Geschichtszusammen hangs, aus dem sie sich ausgrenzte, ins Unrecht gesetzt haben mußte. Die Neuzeit - was auch immer sie zu ihrem Programm machen konnte und gemacht hätte - mußte schon kraft ihres Selbst bewußtseins, neu und von Grund auf anfangend zu sein, mit der Theologie in Widerspruch geraten, und das heißt theologisch ge sprochen: >weltlich< werden. Das bedeutet, daß sie nicht Verwelt lichung, sondern Weltlichkeit ist. Die Epoche beginnt als Selbst entdeckung der Vernunft in ihrer Provokation durch die ihr vorgehaltene, nicht aus ihr selbst kommende Endgültigkeit. In sofern ist es richtig zu sagen, die Absage der Vernunft an ihre theologische Definition sei durch Theologie provoziert gewesen, und ferner, daß die Vernunft die Bedingung der Emanzipation
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auf sich nehmen mußte, um Vernunft zu bleiben?0 Das umreißt schon, was in der These des zweiten Teils unter >Selbstbehauptung< verstanden sein wird. Immer noch und wieder bleibt Problem, wie trotz dieser unschwer zugänglichen Sachlage die Vorstellung der Säkularisierung dem historischen Denken weithin als Verständnismöglichkeit geistes geschichtlicher Zusammenhänge plausibel, ja faszinierend werden konnte. Ich habe versucht, den Grund des Scheins von Säkulari sierung in der Struktur der >Umbesetzung< nachzuweisen. Aber das genügt noch nicht, um die Dichte und vordergründige Un durchdringlichkeit der einschlägigen Phänomene zu erklären. Die Neuzeit hat sich nicht nur den Rahmen der von ihr umzubeset zenden Systemstellen vorgeben lassen, sondern sie hat mit vieler lei Mitteln die Konkurrenz zu verschleiern gesucht, in die sie mit ihrem Anspruch trat, nach der theologisch endgültigen und un überbietbaren Epoche der Geschichte nochmals-und zwar diesmal die human endgültige und unüberbietbare -Epoche der Geschichte zu sein und damit das >Mittelalter< eben als mittlere und ver mittelnde, als vorläufige und auf Ablösung angelegte Phase der menschlichen Selbstverwirklichung herabzustufen. Der erhobene Anspruch scheut seine Konsequenzen vor allem stilistisch. Die ersten Jahrhunderte der Neuzeit sind von einer angestrengten, oft krampfhaften und zuweilen rein phänomenal alles Mittel alterliche in den Schatten stellenden >geistlichen< oder zumindest weltabgeneigten Attitüde. Die sakrale Sprachwelt überlebt die sakrale Sachwelt, ängstlich konserviert und als Deckung gerade dort vorgezogen, wo philosophisch, wissenschaftlich und politisch Neues gedacht wird. Zwischen Raffinement der Abschirmung und innerer Unsicherheit des geschichtlichen Rechtsbewußtseins wird man konkret nur schwer unterscheiden können. Die Dauerhaftigkeit gerade sakral geprägter Sprachelemente sehe ich nicht als ein quasi-mechanisches Phänomen ihrer Trägheit an, sondern als einen sinnhaltigen und interpretierbaren Sachverhalt. Die Umbesetzung von Systemfunktionen im Prozeß des Epochen wandels bedingt die sprachliche Konstanz in vielfältiger Weise. Wie in der Ritualisierung der einer Handlung genuin ihre Be stimmung gebende Vorstellungsgehalt verlorengehen kann und 43 O. Marquard, 1958, 82
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eine neue Sinngebung die Form der Handlung schematisch über nimmt, um die Sanktion der Überlieferung und ihrer Fraglosig keit zu erhalten, so bezeichnet das fortdauernde Sprachelement eine >StelleÜbernahme< kritisch genau zu nehmen: als Ferment der Zersetzung des mittel alterlichen Systems hätte das Attribut der Unendlichkeit sich selbst säkularisiert. Wir haben jedoch gerade für den Begriff des unendlichen Raumes die paradigmatischen Beobachtungen, die Newton uns ermöglicht und die zum Zweifel an der Vorstellung des >Übergangs< der Attribute Anlaß geben. Die Korrespondenz zwischen Leibniz und Clarke mit dem Streit um die metaphorische oder nicht metaphorische Verwendung des Ausdrucks sensorium dei für den absoluten Raum bei Newton hat den Eindruck eines primären metaphysischen Fundaments dieses Raumbegriffs hinterlassen. Dieser Eindruck ist dadurch bestärkt worden, daß der Begriff des absoluten Raumes naturwissenschaftlich keine objektivierbare Bestimmung besitzt und daher dem modernen Betrachter, der das nicht exakt Quantifizierbare für überflüssig hält, als ein woher immer eingebrachter Fremdkörper erscheinen kann. Die Säkula risierungsthese läßt sich gut mit der metaphysischen Redundanz dieses Raumbegriffs verbinden. Tatsächlich ist jedoch die meta physische Ausstattung des Raumbegriffs bei Newton ein sekun däres Moment; es läßt sich nämlich leicht sehen, daß der primär für die Definition des Trägheitsprinzips benötigte absolute Raum gerade deshalb als >Sinnesorgan Gottes< bezeichnet wird, weil die physische Unendlichkeit Newton der Bindung an die Gottheit und der Instrumentalisierung für sie als Rechtfertigung dringend bedürftig erschien. Der unendliche leere Raum war in der Tra dition nicht nur zum Horror der Natur, sondern auch zu dem exponierten Dogma der epikureischen Atomistik geworden, das ihrer Theologie der ohnmächtigen Götter genau zu entsprechen schien. Für Newton ergab sich also, wenn er den absoluten Raum als Begriff in seine Physik einführen mußte, ein zwingendes Mo tiv, ihn als unendlichen Umfang der göttlichen Gegenwart, wie Kant es nochmals in der Theorie des Himmels formulieren sollte, sinnfällig zu machen. Übrigens hatten beide, Clarke und Leibniz, in ihrem Streit recht: jeder von ihnen hatte ein Exemplar der ersten Auflage von New-
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tons Optik aus dem Jahre 1706 in der Hand, und doch hatten beide an der umstrittenen Stelle über den Raum als göttliches Sensorium nicht denselben Text vor sich, weil Newton, wie wir erst seit kurzem wissen46, die Auswechslung des Blattes mit der Seite 315 veranlaßt und in den Text ein ins Metaphorische ab schwächendes tanquam eingefügt hatte. Newtons Erschrecken vor der Nötigung, mit dem Begriff des unendlichen Raumes zu ar beiten und dabei die Weltlichkeit des Unendlichen als Implika tion zu erkennen, hat ihn zu einer metaphysischen Injektion be wogen, deren erneut bedenkliche Konsequenzen dann in die Unverbindlichkeit der Metapher zurückgenommen wurden. Ver ständlich ist dies alles nicht aus dem Zusammenhang einer Säku larisierung, sondern aus der schon in der Antike ansetzenden Tradition der Verrufenheit des leeren Raums der Atomistik und aus Newtons sachbedingter Tendenz, in diesen Abgrund von Seinsverrat wenn schon nicht hineinzustürzen, so doch wenigstens hineinzuschauen. Die Schnelligkeit, mit der er sich ins Unverbind liche zurückzog, scheint mir wenig Zweifel daran zu lassen, daß hinter der umstrittenen Bemerkung über die theologische Quali tät des Raumes nur wenig Tiefsinn und vielleicht noch weniger Überzeugung steckt; um so eher wird der moderne Leser in Ver suchung gebracht, seinerseits den Tiefsinn hineinzutragen und im absoluten Raum nach den Spuren des depossedierten Gottes zu suchen. Auch als Attribut des Fortschritts ist die Unendlichkeit eher ein Resultat der Verlegenheit und Zurücknahme einer voreiligen Fest legung als der Usurpation. Die frühen Vorstellungen vom Fort schritt halten sich an die endliche Typik der Lebensalter und ihrer wachsenden Erfahrung und Reife, wie bei Giordano Bruno, oder lassen den Entwurf des theoretischen Progresses in einem nicht allzu fernen Zustand systematischer Vollendung auslaufen, wie bei Francis Bacon und Descartes. Demgegenüber ist der Gedanke von der Unendlichkeit des Fortschritts zunächst eine Resignation : das Ausbleiben der morale définitive, die Descartes mit der Voll endung der theoretischen Erkenntnis versprochen hatte, und der Wiederherstellung des Paradieses als Herrschaft über die Natur 46 A. Koyré und I. B. Cohen, 1961, 555-566
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durch das Wort, die Bacon für greifbar gehalten hatte. Bezeich nenderweise ist Pascal der erste, der von der Unendlichkeit des Fortschritts spricht; aber gerade bei Pascal bedeutet Unendlich keit in Raum und Zeit nicht die Verweltlichung eines göttlichen Attributs, sondern den Inbegriff der metaphysischen Entbeh rungen und der Ambivalenz des Menschen zwischen seiner Größe und seinem Elend. In dem Fragment seiner Vorrede zum Traité du vide von 1647 bringt Pascal die Lebensalter-Metapher in Zusammenhang mit der Idee des homme universel, der über die Folge der Generationen hinweg als ein einziges ideales Subjekt begriffen werden kann, comme un meme homme qui subsiste toujours et qui apprend continuellement. Die Einführung des Grundgedankens, daß der Mensch für die Unendlichkeit gemacht sei (n’est produit que pour l’infinité), verträgt sich schlecht mit der Metaphorik des zu Reife und erfüllender Lebenshöhe heran wachsenden, dann alternden und absterbenden Individuums; der unendliche Fortschritt perpetuiert die erste Hälfte der organi schen Metapher: ... tous les hommes ensemble y font un conti nuel progrès à mesure que l’univers vieillit, parce que la même chose arrive dans la succession des hommes que dans les âges dif férents d’un particulier. In der Sprache Pascals ist der unendliche Fortschritt nicht die Bewegung, die die Differenz des Endlichen zum transzendenten Unendlichen kompensiert und der Gesamt heit der Menschen schließlich doch verschafft, was dem einzelnen unerreichbar ist, sondern die Aktualisierung des unaufhebbaren Abstandes zwischen der Punktualität, die das Endliche immer gegenüber dem Unendlichen behält, und der Bestimmung des Menschen, entgegen der Vergeblichkeit seiner eigenen Anstren gung dennoch gnadenweise des transzendenten Unendlichen teil haftig zu werden. Diese Konzeption macht deutlich, daß die Rationalität der Ge schichte als Fortschritt nicht das Attribut der Gottheit >übernimmtunendlich< eine Vorstellung der Seele be zeichnet, so folgt doch daraus noch nicht, daß wir irgendeine Vorstellung eines unendlichen Gegenstandes besitzen. Denn wenn man sagt, etwas sei unendlich, so bezeichnet man keine Bestim mung der Sache, sondern nur das Unvermögen unseres Geistes; wie wenn man sagte, daß man nicht wisse, ob und wo die Sache begrenzt sei.43 Das Unendliche dient weniger der Beantwortung einer der großen Fragen der Tradition als ihrer Entschärfung, weniger der Sinngebung der Geschichte als der Bestreitung des Anspruchs, ihr Sinn geben zu können. 47 Nachgelassene Aphorismen (Werke, ed. F. Jodi, X 322): Den absoluten Unsinn einer Schöpfung aus Nichts oder eines die Welt aus Nichts erschaffen den Wesens haben unsere Philosophen zum absoluten Geist gemacht. 48 De cive XV 14: Quando enim dicimus aliquid esse infmitum, non aliquid in re significamus, sed impotentiam in animo nostro; tanquam si diceremus, nescire nos, an et ubi terminetur. - Voltaire nennt im Traité Métaphysique das Unendliche un aveu de l'ignorance.
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Das macht verständlich, daß die "Wiedergewinnung der Endlich keit der Geschichte durch die Idee der ihren Prozeß zum Still stand bringenden letzten und endgültigen Revolution als Anti these zum unendlichen Fortschritt auftritt und in dieser Logik vollends begreiflich wird, ohne wiederum die Säkularisierung diesmal des Paradieses oder des eschatologischen Messianismus zu bemühen. Wenn der Endzustand, den das Kommunistische Manifest proklamiert, Ungeduld und Ungenügen am unend lichen Fortschritt in die Forderung der definitiven Aktion um setzt, so schließt dieser Nexus zumindest aus, daß beide Ge schichtsbegriffe, der finite und der infinite, säkularisiert sein könnten. Über den vordergründigen Ähnlichkeiten werden die tiefer gelegenen Differenzen übersehen. So ist es gleichgültig, ob ein paradiesisch-befriedigter Zustand weltlich oder unweltlich, irdisch-messianisch oder himmlisch ist; entscheidend ist, ob dieser Zustand leistungstranszendent oder leistungsimmanent ist, das heißt, ob der Mensch ihn durch die Anstrengung seiner eigenen Kraft erreichen kann oder ob er dazu auf eine nicht verdienbare Gnade angewiesen ist. Das Übersehen dieser Differenz wird na türlich durch die Sprache begünstigt. Sie macht recht eigentlich den Schein der Säkularisierung aus. Die Theologie hat, als ihr von der antiken Tradition die präzisere Formulierung ihrer Ver heißungen des menschlichen Glücks abgefordert wurde, das sprachliche Fassungsvermögen für Erfüllungsvorstellungen er weitert; Mystik und religiöse Dichtung haben jede abstrakte An regung aufgenommen und zu versinnlichen gesucht, hinsichtlich des Paradieses nicht mit einem den Höllendarstellungen ver gleichbaren Erfolg. In nichts ist die Sprache so leistungsfähig wie in der Formulierung von Ansprüchen im Bereich des Nichtgreif baren. Zur Erweckung der Hoffnung, so hat wiederum Hobbes es formuliert, genügten die gewichtlosesten Gründe, und noch Dinge, die der Verstand nicht zu begreifen vermag, könnten Ziele der Hoffnung werden, wenn sie nur ausgesprochen werden kön nen.49 Daß mehr ausgesprochen wird als im Denken vollzogen werden kann, ist der logisch-ärgerliche Sachverhalt, mit dem wir als einem geschichtsbildenden Faktor ersten Ranges zu rechnen 49 De homine XII 4: ad spem sufficiunt ... levissima argumenta, imo res, quae ne animo quidem concipi potest, sperari tarnen potest, si dici potest.
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haben. So werden emotionale Intensitäten geschaffen; und es bleibt nicht aus, daß auch eine radikal gewandelte Auffassung von der individuellen und sozialen Daseinserfüllung zwar nicht den Inhalt, aber die Dringlichkeit ihres Anspruchs in eben der selben Sprache formuliert, in der dieser Anspruch bis dahin am bewegendsten und nachhaltigsten dargestellt worden ist. Die Konstanz der Sprache indiziert die Konstanz der Bewußtseins funktion, aber nicht die Identität der Bedeutung. So soll gar nicht bestritten werden, daß die Ansprechbarkeit des modernen Be wußtseins für einen Appell vom Typus des Kommunistischen Manifests durch die in der Sprache der Theologie artikulierbar ge wordenen und dadurch evozierten Erwartungen vorbereitet worden ist; aber diese Ansprechbarkeit ist nicht begründet in dem Gehalt des Dokuments an vermeintlich säkularisierter Theo logie, sondern in der Bedürftigkeit eines an den großen Fragen und großen Hoffnungen in seiner Geschichte überdehnten und dann enttäuschten Bewußtseins. Wenn man einen solchen Text vor sich liegen hat, ist methodisch nicht zuerst zu fragen, wie er entstanden und seinen inhaltlichen Elementen nach herleitbar, sondern welchen Bedürfnissen er zugemessen sei, Bedürfnissen, denen zu dienen und denen sich einzufühlen gerade ein appellativer Text nie verschmäht hat. Die Entscheidungen, die jenseits der Welt in absoluten Akten der Gottheit gefällt worden waren, fallen jetzt im Menschen und durch den Menschen als moralische, soziale und politische Hand lungen, die in ihrer neuen Dringlichkeit dargestellt sein wollen. Aber auch die Phänomene der semantischen Adaptation haben als solche und unabhängig von ihrem historischen Aufschlußwert Folgen - das wieder beim Wort zu nehmen, was metaphorisch gemeint war, hat immer zu den Geschichte produzierenden Miß verständnissen gehört. Sicher wäre es übertrieben zu sagen, die Absolutismen der politischen Theorie seien insgesamt aus solchem Beim-Wort-Nehmen von säkularisierten Stilmitteln der neuzeit lichen Staatstheorie hervorgegangen. Genauso plausibel ist die Er klärung, daß die Sprache des theologischen Absolutismus die Sache des politischen Absolutismus dem Bewußtsein nur in die Sphäre des Vertrauten und Sanktionierten, des als Fatalität Hinzunehmen den habe rücken wollen. Die säkularisierte Ausdrucksschicht als
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Trojanisches Pferd von Ideen, die in nackter Unmittelbarkeit für unzumutbar gehalten worden wären - auch das ist ins Auge zu fassen, wenn man Aussprechbarkeit der Theorien und Ansprech barkeit der Menschen für diese methodisch beim Problem der säkularisierten Sprache unterscheidet. Man darf dabei nicht vergessen, daß der theologische Absolutis mus die >experimentelle< Demonstration seiner humanen Un erträglichkeit in der politischen Auswirkung seiner konfessionel len Pluralisierung lieferte. Konnte Hobbes um die Mitte des 17. Jahrhunderts noch von der Voraussetzung ausgehen, daß die Einheit der Religion im Staat als Neutralisierung der religiösen Energien für die politische Realität möglich bzw. erzwingbar sei, so ist für Pierre Bayle gegen Ende des Jahrhunderts die Religion bereits als das unlösbare Problem des Staates evident geworden und hat ihn zu dem ganz singulär ausgesprochenen Postulat ge führt, daß nur ein Staat aus Atheisten ein guter und einwand frei funktionierender Staat sein könne.50 Zwar hat Bayles Argu ment auf Hume, Gibbon und Feuerbach gewirkt, aber für das Verständnis des historischen Prozesses ist dies nur ein Präparat der extremen Konsequenz; faktisch wurde die Unerträglichkeit der innerstaatlichen absoluten Faktionierung dadurch aufgefan gen, daß der absolute Charakter der Freund-Feind-Kategorie auf das Verhältnis der sich integrierenden Nationalstaaten unter einander projiziert wurde. Die Überbietung der absoluten Cha raktere einer inneren Krise durch die Absolutsetzung einer äuße ren ist eine Besonderheit des historischen Bildes der Neuzeit bis in die Gegenwart, oder richtiger: bis zu dem Augenblick, in dem die Austragung der äußeren Krise alle Möglichkeiten der inne ren überbieten konnte (insofern geht eine Ära der Verdrän gung von inneren politischen Konflikten zu Ende). Überbietung hieß aber, die durch die religiöse Spaltung absolut gewordenen Konflikte dem Primat von Interessen unterzuordnen oder dienst bar zu machen, die ihrerseits nur mit der Weihe sanktionierender Attribute die Vertretung des Absoluten beanspruchen konnten. Der Übergang der Attribute absoluter innerer Überzeugungen auf die äußere Handlungseinheit des Staates entspräche am ehe st) Pensées diverses sur la Comète §§ 102-202; Dictionnaire, Art. Grégoire Vllj.Vgl. E. Weil, 1962, 156 f.
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sten den Kriterien einer Säkularisierung, wenn nicht die Aus gangslage dieses Vorgangs durch die Absurdität bestimmt ge wesen wäre, daß der absolute Anspruch der Theologie als politisch faßbare Realität zum erstenmal auf engstem Raum im Plural seiner Konfessionen aufgetreten war und durch die Stau ung der dadurch erzeugten Konflikte die Preisgabe religiöser Vorbehaltsgüter an den Staat aus sich selbst zur Notwendigkeit gemacht hatte. Mit den so dem Nationalstaat übereigneten pseudomorphen Qualitäten wird drei Jahrhunderte später ein analoger Vorgang nötig, nach dem auch die äußere Projektion der Feindschaftskategorie auf das Verhältnis der Staaten wenigstens und zunächst in kontinentalen Konfliktsräumen nicht mehr ge lingen kann; daß die nochmalige Überbietung durch einen singu lären Gegensatz dieser Kategorie mit dem Ost-West-Dualismus nur ein kurzfristiges Zwischenspiel sein konnte, war abzusehen. Wenn nicht mehr daran geglaubt werden kann, daß die Entschei dung zwischen Gut und Böse in der Geschichte unmittelbar be vorsteht, daß jeder politische Akt an dieser Entscheidung teil nimmt, verliert sich die Suggestion des Ausnahmezustandes als der Normalität des Politischen, dessen Technik dem Typus der gro ßen Verwaltungen ähnlicher wird als den Blitzen des Zeus und den Dekreten der Prädestination. Die Zumutungen des unbegrenz ten Opfersinns und des totalen Aufgebots der Kräfte und Güter verlieren in dem Maße an beschwörender Effektivität, in dem der Inbegriff des politischen Primats: die politische Bestimmung dessen, was als unpolitisch zu gelten hat - die Analogie zur theo logischen Bestimmung dessen, was >weltlicher< Kompetenz über lassen bleibt -, sich nicht mehr auf den absoluten Charakter der Gefährdungen des Staates und der Lebensform seiner Bürger be rufen kann. Der Satz: Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe51 ist, seit er 1922 aus gesprochen wurde, insofern nicht glaubwürdiger geworden, als man zu zweifeln gelernt hat, ob diese >Modernität< je modern gewesen ist - hier gibt es die markanten Ungleichzeitigkeiten in der chronologischen Gleichzeitigkeit, die Dauerhaftigkeit des Noch-nicht-Neuzeitlichen in der Neuzeit, die gründliche Verspä51 C. Schmitt, 1934, 25
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tung der Aufklärung. Der Rationalismus der Aufklärung ver warf den Ausnahme fall in jeder Form5253 — darf dieser Satz als historische Feststellung ins Imperfekt gesetzt werden oder be zeichnet er nicht vielmehr die Aufgabe, die immer noch darin besteht, die absolute Qualifizierung politischer Situationen als Anachronismen zu destruieren? Der Kern der unaufgeklärtem Residuen der Aufklärung liegt darin, daß auch sie hinsichtlich der metaphysischen Prämissen zu viel und zu sicher zu wissen glaubte, daß sie an der Entscheidung der großen Alternativen, der Optimismen und Pessimismen hinsichtlich der Welt und des Menschen, mit Unbefangenheit gegenüber den Konsequenzen teilnahm und dadurch die politischen Ideen in die Schärfe dieser Differenzen hineinzog. Jede politische Idee nimmt irgendwie Stellung zur >Natur< des Menschen und setzt voraus, daß er ent weder >von Natur gut< oder >von Natur böse< ist.55 Aber ge rade in solchem Mitmachen der Festsetzung über die Natur des Menschen und der darin implizierten Steigerung der Intensität der Entscheidung erweist sie sich als gebunden an die Funktion der >Umbesetzung< eines vorgegebenen Systems und als zur Er zeugung des Scheins der Säkularisierung verurteilt. Die >Weltlichkeit< der Neuzeit ist nicht ihr gesichertes historisches Merk mal, sondern ihr dauerndes kritisches Officium. 52 aaO 49 53 aaO 72
III
In dem weiten Feld der sprachlichen Phänomene, die Vorgänge der Säkularisierung indizieren könnten, bedarf es für jeden Fall der methodischen Sicherung durch eine Analyse der Funktion. Unter den bisher erörterten Befunden fehlte die nicht nur be wußte, sondern auch bewußt provozierende, bewußt die Bezie hung zum Sakralen suchende Aneignung sprachlicher Elemente religiöser Provenienz, also die Säkularisierung als Stilwille. Für sie ist charakteristisch, daß sie eines hohen Maßes an Fortgeltung der religiösen Ursprungssphäre bedarf, um ihre Wirkung zu er zielen, so wie die >schwarzeTheologie< ihre blasphemischen Schau der nur dort entfalten kann, wo die sakrale Welt unversehrt ist. Schon tief im Mittelalter greifen Mystik und Minne ineinander und leihen sich gegenseitig Sprachschatz und Spielregeln von himmlischer und irdischer Liebe aus. Sicher wird hier zumeist aus der sakralen Sprache nur zurückgeholt, was ihr die profane überlassen hatte. Aber darauf kommt es nicht an, weil das for male Moment des provozierenden Effekts im Risiko der gewag ten Entwendung liegt. Zu den Beweisformen der Liebe gehört das tollkühne Streifen an die Grenze des Erlaubten und Mög lichen gerade auch in der Sprache, die Prätention des nie zuvor und für keine andere Beziehung Gewagten, das in diesem einen und absoluten Falle dennoch übernommen wird. So wird die My stik erotisch, und die Erotik greift in das Reservat unantastbar geheiligter Vorstellungen. Das Mittelalter hatte fast alle Ge halte der Spiritualisierung für fähig befunden und dadurch einen Schatz von Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen, deren sekundär alles teilhaftig werden konnte, was nicht nur der Weihe der Ver geistigung, sondern auch der absoluten Verbindlichkeit des Reli giösen bedürftig und fähig erschien. Die Entdeckung der Austauschbarkeit sakraler und profaner Vor stellungen ist zunächst ein Stück rhetorischer Technik, durch das
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ein Reichtum an Parallelen und Assoziationen gestiftet wurde, dessen sich schließlich jede Intention bedienen konnte. Im Gegen satz zu der Vermutung von heimlicher Unterschiebung und Ver schleierung, die der mit dem Begriff der Säkularisierung gekop pelte Unrechtsvorwurf erweckt, treten diese sprachlichen Befunde nicht nur offen auf, sondern weisen ihre Herkunftsmerkmale ganz betont vor, weil sie nur so ihre literarische Funktion erfül len können. Die Idee der Renaissance, die vielfach im Gewand sakraler Wiedergeburtsvorstellungen und der zugehörigen kul tischen Symbole literarisch auftritt, läßt sich damit noch nicht als Säkularisierung aus den herangezogenen Elementen begreifen; im Gegenteil, die technische Bewußtheit der Verwendung dieser Elemente in Appellen zur Erneuerung des innerweltlichen Le bens ist vor allem ein rhetorisches Phänomen. Rhetorische Kühn heitsgebote machen das sprachliche Säkularisat von der Anspie lung bis zur frivolen Gleichung zum literarischen Stilmittel. Vielleicht ist die Pointe solcher Kühnheiten in einer über Bacon tradierten Anekdote enthalten: Sir Francis im Garten des Earls of Arundel, in dem eine große Anzahl antiker Statuen nackter Männer und Frauen stand, plötzlich stehenbleibend mit dem er staunten Ausruf: The résurrection.54 Die Kunst hat das Selbstverständnis ihres produktiven Aktes und ihrer Funktion in der geborgten Sprache der Theologie viel fältig dokumentiert. Die Entdeckung der schöpferischen Potenz gehört in die Selbstartikulation des neuzeitlichen Bewußtseins, mag sie auch aus der zunächst in frommer Absicht gebrauchten Formel von dem alter deus, dem deus in terris, als einer hyper bolischen Umschreibung der biblischen Gottebenbildlichkeit des Menschen hervorgegangen sein. Die Erörterung der Anthropo logie des Cusaners im vierten Teil wird Gelegenheit geben, die Genesis und Bedeutung der Formel zu behandeln. Die inventio, in der traditionellen Rhetorik nur ein Teilvorgang der sprach lichen Vermittlung des Gedankens als zunächst zufällige, dann methodisch lenkbare Ausschöpfung und Entfaltung, wird zum Inbegriff des künstlerischen Prozesses und zum Kriterium der Wertung, etwa wenn Scaliger und Sidney dem Epiker und Dra 54 Works, edd. Spedding, Ellis, Heath, VII 177
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matiker den Vorrang in der Dichtkunst einräumen, weil sie der göttlichen Schöpfung am ähnlichsten verfahren. Aber auch der späte Widerspruch gegen dieses ästhetische Ideal, etwa in der Poésie de la mémoire Prousts, die sich gegen die menschliche Ohnmacht im Verhältnis zur Vergangenheit und gegen die bloße mémoire des faits auflehnt, bedarf der Register einer säkulari sierten Nomenklatur, um den unüberbietbaren Ranganspruch der Kunst und die absolute Verantwortung des ästhetischen Ak tes nicht nur als Erinnerung, sondern als letzte Instanz des Ge richts über die Realität zu proklamieren: der Künstler macht sein Werk nicht nur zu einem Stück höchster Wirklichkeit, sondern zu dem wahrhaften Jüngsten Tage.55 Es wäre verfehlt zu sagen, die Idee der Kunst, ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Daseinsbedeu tung, sei irgendwann aus einer Umwandlung der Dogmen von der Schöpfung und vom Gericht hervorgegangen; wohl aber be zeichnen diese Begriffe die metaphysischen Ansprüche, die nach dem Schwund der theologischen Substanz unerfüllt geblieben und neuer Besetzung fähig und bedürftig geworden waren. Eine der reichhaltigsten Bezeugungen des ästhetischen Potentials der säkularisierten Sprache bietet Jean Pauls Vorschule der Ästhe tik. Sie beutet die Sprache der christlichen Überlieferung nach allen Möglichkeiten aus, vom rein rhetorischen Ornatus bis zum Spiel mit der blasphemischen Frivolität. Jean Paul entdeckt ihre ironische Disposition, um das endliche Faktum gegen seine un endliche Idealität bloßzustellen. Schöpfung und Inkarnation sind seine Lieblingsmetaphern für den dichterischen Prozeß, aber nicht nur, um ihn metaphysisch aufzuwerten, sondern auch, um ihn in seiner unüberwindlichen Verlegenheit gegenüber einem absolu ten Archetyp zu charakterisieren. Der Dichter ist weder an die Nachahmung der Natur noch an die Norm der Motivation ge bunden; er, der gleich einem Gotte, vorn am ersten Tage der Schöpfung seine Welt setzt, ohne weitern Grund als den der All macht der Schönheit, darf auch mitten im Werke da, wo nichts 55 Marcel Proust, Le Temps Retrouvé: . . . les excuses ne figurent point dans l’art, les intentions n’y sont pas comptées, à tout moment l’artiste doit écouter son instinct, ce qui fait que l’art est ce qu’il y a de plus réel, la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier. - Über den Zusammenhang in Prousts Art Poétique vgl. H. R. Jauß, 1955, 176-183.
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Altes beantwortet oder aufgehoben wird, den freien Schöpfungs anfang wiederholen.56 Das erste Kapitel eines Romans ist das Allmachts- oder Aseitäts-Kapitel.57 Das Verhältnis des Dichters zur Eigengesetzlichkeit seiner Geschöpfe gleicht dem Verhältnis Gottes zur Freiheit des Menschen; das Epos breitet das un geheuere Ganze vor uns aus und macht uns zu Göttern, die eine Welt anschauen; im Gegensatz zum Dramatiker verfügt der Epiker über die ganze Unendlichkeit möglicher Welten.58 Aber die poetische Metapher will nur beim Wort genommen sein, nicht Begriff werden; sonst führt sie in den vernichtenden Idealismus der Philosophie: ... wir sind nicht gemacht, Alles gemacht zu haben.59 Metaphern sind zwar Sprachmenschwerdungen der Na tur und Brotverwandlungen des Geistes und als solche Ausdruck des Prozesses, in dem die Natur für den Menschen in ewiger Menschwerdung begriffen ist; aber zugleich enthält diese Meta phorik der Metapher etwas von der vernichtenden Idee des Hu mors, die in der Verwendung der säkularisierten Sprache eine unendliche Ungenauigkeit stehenlassen will: Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschaut, so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmißt und verknüpft, so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.60 Dichtung als Inkarnation bedeutet nicht nur die Erhebung des Natürlichen in die Idealität, sondern auch die ständige Darstellung der Unerfüllbarkeit der Idealität; der Ge brauch der säkularisierten Sprache soll diese Ambivalenz an zeigen: Dichtkunst, wie alles Göttliche im Menschen, ist an Zeit und Ort gekettet und muß immer ein Zimmermannssohn und ein Jude werden...61 Aus dieser Ambivalenz erwächst die Potenz des Ästhetischen zum Gericht als der definitiven Entschiedenheit der Idealisierung durch den Dichter nach Gut und Böse: Keinen wirklichen Charakter kann der Dichter - auch der komische aus der Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste Tag die Leben56 57 58 59 60 61
Vorschule der Ästhetik II n § 68 aaO II 12 § 74 aaO II 11 § 62-64 aaO III 3 aaO II 9 § 49; I 1 § 3; I 7 S 33 aaO I 5 § 22
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digen, zu verwandeln für Hölle oder Himmel*2 Der Humor ebenso wie der Witz erhalten ihre Funktion in der Metaphorik dieses Jüngsten Tages.63 Eschatologische Metaphorik in entgegengesetzter, die schonungs lose Entblößung der Realität anzeigender Funktion findet sich in der neuzeitlichen Literatur der Selbstdarstellungen. Als Stil mittel für die Glaubwürdigkeit der Selbstenthüllung hat sich eine sprachliche Form herausgebildet, die darauf angelegt ist, ein lite rarisches Äquivalent der Vorbehaltlosigkeit zu geben, mit der das religiöse Denken den Menschen von Gott erkannt und durch schaut sein läßt. Das literarische Vorbild der Bekenntnisse Augu stins reicht zur Erklärung dieses Phänomens nicht aus; denn Augustin glaubte noch, daß Gott von der menschlichen Seele mehr wisse als diese von sich selbst weiß und daß also das Gericht in der Selbstdarstellung nicht vorweggenommen werden könne. Gerade die Respektlosigkeit, mit der etwa Rousseau die Bekennt nisse Augustins bewußt nachbildet, ist nicht so etwas wie die Legitimation der autobiographischen Zumutung mittels der lite rarischen Autorität, sondern das Stilmittel, um die rücksichtslose Entblößung glaubhaft zu machen: Ich habe mein Inneres so ent hüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist. Rousseau be zieht sich nicht nur auf das göttliche Gericht als die Instanz, die ihm einmal redit geben werde; er nimmt vielmehr in der Selbst offenbarung das transzendente Offenbarwerden des Menschen vor Gott in die eigene Regie. Das Forum der Menschheit, vor dem er sich bekennt, nimmt nicht nur vorläufig und metaphorisch die Stelle des Gerichts ein, sondern der geforderte Gerichtsspruch ersetzt die Appellation an das letzte Gericht, das in seiner Be deutung unwesentlich wird, wenn das Urteil von der neuzeit lichen Instanz der Objektivität schon eingeholt ist. So betont Rousseau ausdrücklich, daß ihm der Zeitpunkt des göttlichen Gerichts gleichgültig geworden sei - die Posaune möge erschallen, wann immer sie wolle. Selbsterkenntnis ist die der göttlichen Er kenntnis adäquate Erkenntnisform und ihre Wahrheit die schlecht hin nackte Wahrheit geworden. Ikonologisch ist bezeichnend, daß das Buch im Gericht seinen Platz gewechselt hat: während es in 62 aaO I i § 3 63 aaO I 7 § 3S; Π 9 § S4.
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der ganzen apokalyptischen Literatur als das am Throne Gottes geführte Schuldbuch der Menschheit vorgestellt ist, das beim End gericht vor der versammelten Menschenwelt aufgeschlagen wird, schreibt Rousseau dieses Buch für seinen Fall selbst und trägt es, wie er sagt, in der Hand vor das Tribunal mit den stolzen - und in der Reihenfolge der Gegenstände bezeichnenden - "Worten: Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Die sprachliche Säkularisierung ist zum Instrument der litera rischen Sensation des Schocks der un verhüllten Selbstdarbietung und der beanspruchten Rechtfertigung — geworden. Sicher ist dies nicht nur ein Merkmal der Ausdrucksschicht, sondern im an eignenden Zugriff auf das sakrale Reservat der Absicht nach Säkularisierung des transzendenten Gottesgerichts zum literari schen Selbstgericht. In der Terminologie der Ästhetik ist wohl kein Begriff so auf schlußreich für die Problematik der Kategorie Säkularisierung wie der des Symbols. Nicht erst die Vielfalt der "Wandlungen und Aspekte macht diese Relevanz aus, sondern schon das Poten tial, das der Ausdruck >Symbol< aus seiner vorästhetischen Ge schichte mitbringt. Zwar ist es richtig, daß >Symbol< vor Goethe noch keine ästhetische Spezifität besaß und auf dem Boden der Theologie, insbesondere der protestantischen Sakramentenlehre, eine fachsprachlich eng definierte Stelle einnahm. Aber diese Funktion entsprach ziemlich genau dem, was in der profanen "Wbrtgeschichte angelegt war und was das dem Bezeichneten ge genüber spezifisch heterogene Zeichen von dem Abbild als der Vorstellung des Abgebildeten unterscheiden sollte. Profan ist das der Identitätsnachweis einer Person, der nicht mit Hilfe ihres Bildes, sondern durch den Besitz eines durch Zufall entstandenen Merkmals erbracht wird: die Bruchkante der einen Hälfte eines Tafelchens, die genau zu der anderen abgebrochenen Hälfte paßt und den Besitzer zu einem Rechtsgeschäft legitimiert oder als Träger eines Mandats ausweist. Die unspezifische Zufälligkeit des Zeichens ist wesentlich für die Differenz zu Bild, Metapher, Allegorie; das Symbol entsteht durch Festsetzung und Abrede aus einem Vertrag, einem Bündnis oder der Präzedenz der Gast freundschaft zur "Wahrung ihrer Folgerechte. Es war naheliegend, daß die Theologie in der Ausgestaltung ihrer Grundvorstellung
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von den beiden heilsgeschichtlichen Bündnissen des Menschen mit Gott auf dieses bereitliegende Instrument für die Kennzeichnung der am Vertragsverhältnis und seinen Heilsrechten Beteiligten stieß. Die Beschneidung im Alten Testament, das Brechen des Brotes im Neuen Testament waren Zeichen des Bundes, die den, der sie vorweisen bzw. ausüben konnte, des Wohlwollens der Gottheit versicherten. Einsetzung des Zeichens durch den, der den Bund anbietet, ist die Ursprungsweise des Sakraments und der Glaubensinhalte, deren Bekenntnis den in das Mysterium Eingeweihten und zum Heil Berechtigten ausweist. Das Zeichen vertritt den abwesenden Gott, der nicht abgebildet werden kann. Folgerichtig tritt in der ästhetischen Sprache das Bedürfnis, die sen Ausdruck anzueignen, in dem Augenblick auf, in dem der imitatio-Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Gegenstand und seiner Präsenz im Kunstwerk abreißt, in dem nicht mehr ab gebildet, sondern >eingesetzt< wird, also der Mangel an nachbil dender Identität nicht mehr technische Verlegenheit, sondern ästhetische Dignität ist. Aber die negative Einsetzbarkeit gegen das imitatio-Ideal bedeutete noch nicht, daß der theologische Be deutungszuwachs von >Symbol< positiv auf die ästhetische Theo rie gewirkt hätte; im Gegenteil, der Ausdruck >Symbol< mußte auf seine formale Ursprünglichkeit reduziert werden, um über haupt der neuen ästhetischen Vieldeutigkeit fähig zu sein. Für eine neue ästhetische Gegenstandsbestimmung, die sich vor allem von den überlieferten Klassifizierungen abwenden wollte und mußte, bot sich hier ein Wort, das zwar aus der sakralen Sprach geschichte seine Würde, aber doch keinen für das neue Bedürfnis relevanten Bedeutungszuwachs gewonnen hatte - es sei denn die Spannweite der Unbestimmtheit, die bis auf den heutigen Tag das >Symbol< zum Schrecken seiner bemühten Interpreten ge macht hat. Hier sollte das Beispiel noch einmal zur Vorsicht ge genüber >echten Säkularisationsvorgängen< mahnen, bei denen selbst wenn man auf theologische Authentizität der Vorstellung verzichtet - nicht einmal ein für die säkularisierte Funktion rele vanter Bedeutungszuwachs nachweisbar ist. Zumindest: welche Fragen zu stellen sind, um den Aufschlußwert einer solchen These zu prüfen, war hier kurz anzuzeigen. Die kritischen Überlegungen zu dem, was an methodischer Vor
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sicht und sachlicher Differenzierung gegenüber der Kategorie der Säkularisierung geboten ist, haben zugleich auch ein gutes Stück aus der Nähe der >Toposforschung< weggeführt, deren Problema tik hinsichtlich der Voraussetzung von geistesgeschichtlichen Kon stanten sich eng mit der der >Säkularisierung< berührt, weil hier wie dort eine substantialistische Ontologie der Geschichte zugrunde liegt. Die Gleichzeitigkeit des Auftretens von Toposforschung und Säkularisierungsthese ist also kaum zufällig. Nun ist zwar die Feststellung von Konstanten durchaus rational, aber zugleich immer mit einem Erkenntnisverzicht verbunden; bei der Art unseres Erkenntnisvermögens ist das, was nicht weiter aufgelöst oder befragt werden kann, ein kontingentes Faktum. Die Faszi nation, die in den Naturwissenschaften von der Möglichkeit aus geht, Konstanten zu finden, ist nicht darin begründet, daß sie uns Naturprozesse begreiflicher machen, sondern darin, daß sie die Zuverlässigkeit erhöhen, mit der sie uns Ereignisse zu be stimmen erlauben. Aber diese Befriedigung überhöht sich selbst durch die Deutung, daß Konstanten, weil sie den theoretischen Prozeß der Analyse zum Stehen bringen, auch mit jenen gesuch ten Prinzipien identisch sein müßten, deren vollständige Kennt nis alles Geschehen erklären würde. Gerade dort, wo Wissen schaft auf >Atome< im weitesten Sinne gestoßen zu sein glaubt, zeigt sich, daß die erwartete Befriedigung ausbleibt. Naturwissenschaftlich gibt es für den mit Konstanten gegebenen Verlust der weiteren Befragbarkeit wenigstens ein Äquivalent; geisteswissenschaftlich ist die Einführung von Konstanten als ein theoretischer Verzicht ohne entsprechenden Gewinn zu verstehen. Hier ist der historisch oder philologisch feststellbare faktische Be stand immer nur ein Durchgangspunkt, über den das Verstehen hinausdrängt. Man braucht nur daran zu denken, wie voreilig und oberflächlich es wäre, aus der so vielfältig nachweisbaren Verwendung und Umbildung antiker mythologischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur die Folgerung einer lebendigen Tra ditionssubstanz zu ziehen. Vor der Selbsttäuschung neuer Renais sancen bewahrt uns der kräftige Schuß an Historismus, der jeder unserer Bezugnahmen auf Tradition und Klassizität unentrinn bar beigegeben ist. Aber die Art und Weise, wie mythische Grö ßen diese Tradition bis zur Gegenwart als ein Horizont ständiger
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Berufbarkeit ohne dogmatische Stabilität umgeben, ist ein gutes Beispiel für ein nicht-substantielles System von umbesetzbaren, nach dem Geltungsschwund bestimmter Gehalte neu ausfüllbarer >StellenGlaubens< gründet sich auf die Konvergenz des Interesses an der Durchsichtigkeit und Verläßlichkeit der Realität, deren Infragestellung gerade durch die Religion selbst — wie im zweiten Teil zu zeigen sein wird - die Notwendigkeit einer Erfüllung des rationalen Anspruchs mit anderen und neuen Mitteln erst aktualisiert hat. Lichtenberg hat das in einem seiner Beiträge zum Göttingischen Taschenbuch in bewußt säkularisierter Sprache als Morgenandacht eines Naturwissenschaftlers, als Lobpreisung des großen Sicher heitsgefühls, das er allein dem Grad von Erkenntnis der Natur zu danken habe, den er sich erworben hatte, dargestellt65: Wie wenn einmal die Sonne nicht wiederkäme, dachte Amintor oft, wenn er in einer dunkeln Nacht erwachte, und freuete sich, wenn er end lich den Tag wieder anbrechen sah ... Auch war dieses innere An erkennen von Ordnung nichts anders als wieder eben die Ord nung selbst, nur auf ihn, der sie bemerkte, fortgesetzt, und daher immer für ihn der höchste Genuß seines Geistes. Die durch die Gesetzlichkeit der Natur vermittelte Beruhigung des Gemüts be greift der Kantianer als das Werk seiner eigenen Vernunft, nennt aber den Akt ihrer bewußten Vergegenwärtigung seine Ver söhnung mit Gott. Sprache und Ritual sind säkularisiert, Begriff 64 C. F. v. Weizsäcker, 1964, 4 65 Amintors Morgen-Andacht (Vermischte Schriften, Göttingen 1800/06. V 3 ff·)
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und Argument der Wissenschaft besetzen die traditionell benann ten Funktionen: Überhaupt kamen bei seinem Vor trage viele Ausdrücke vor, deren sich die Bibel bedient; er sagte dabei: es sei nicht wohl möglich, dieselbe Geschichte des menschlichen Geistes zu erzählen, ohne zuweilen auf dieselben Ausdrücke zu geraten, und glaubte, man werde die Bibel noch besser verstehen, als man sie versteht, wenn man sich selbst mehr studiere; und um mit ihren erhabenen Lehren immer zusammenzutreffen, sei der kürzeste Weg, die Erreichung ihres Zwecks einmal auf einem andern, von ihr unabhängigen zu versuchen, und Zeit und Umstände dabei in Rechnung zu bringen .. 66 Die Gesamtheit der Phänomene, die zur Erwägung der Säkulari sierung als historischer Kategorie und zur daraus folgenden Gel tendmachung einer objektiven Kulturschuld Anlaß geben, läßt sich — und das wird die These der folgenden Untersuchungen sein aus der Umkehrung des Lastverhältnisses der Verschuldung inter pretieren. Eine Religion, die über Heilserwartung und Recht fertigungsvertrauen hinaus geschichtlich ihrem Anspruch nach zum ausschließlichen System der Welterklärung geworden ist, die aus der Grundidee der Schöpfung und aus dem Gedanken der Gott ebenbildlichkeit des Menschen die Angemessenheit des Erkennt nisvermögens an die Natur folgern konnte, aber schließlich in der Konsequenz ihrer scholastischen Sorge um die unendliche Macht und absolute Freiheit ihres Gottes die Bedingungen selbst zer störte, die sie für das Weltverhältnis des Menschen vorgegeben hatte - eine solche Religion hinterläßt ein Volumen ungesättigter, enttäuschter, zur Insistenz gesteigerter Erwartungen und An sprüche. Ein aus der puren Wertschätzung der Tradition hervor gegangener Geschichtsbegrift hat uns zu sehr darauf festgelegt, Verbindlichkeiten vor allem in dem Verhältnis jeder Zeit zu ihrer Vergangenheit und zu dem Ursprung ihrer tradierten Werte zu 66 Zum Thema theoretische Neugierde!, das im dritten Teil zu entwickeln sein wird, sei hier - um den Zusammenhang nicht auseinanderzureißen - aus Lichtenbergs Text schon vorweggenommen: Es sei... eine zu anhaltendem Studio der Natur sich unvermerkt gesellende Freude über eigenes Dasein, ver bunden mit nicht ängstlicher, sondern froher Neugierde (wenn dieses das rechte Wort ist), die so weit über so genannte Curiosité erhaben sei, als hohes Gefühl für Ehre über Bauernstolz, zu erfahren, mit diesen Sinnen oder mit analogen oder Verhältnissen anderer Art, die sich von jeder Art des Daseins hoffen lassen, was nun dieses alles sei und werden wolle.
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sehen, und darüber ist der kritische Blick für das, was die Ge schichte jeder Gegenwart schuldig geblieben ist, geschwächt wor den. Solche Formulierungen sollen freilich nicht dazu dienen, über die Geschichte zu moralisieren, sondern zunächst nur zeigen, wie problematisch es sein kann, geschichtliche Zusammenhänge in Rechtsbegriffen auszulegen: >Im Recht< kann zwar auch derjenige sein, dem sein Recht zuvor nicht bestritten worden ist, aber das Legitimitätsbewußtsein artikuliert sich erst am bestrittenen und ' erstrittenen Recht. Es ist nicht selbstverständlich, daß sich für eine Epoche das Pro blem ihrer geschichtlichen Legitimität stellt, genausowenig wie es selbstverständlich ist, daß sie sich überhaupt als Epoche versteht. Für die Neuzeit ist das Problem latent in dem Anspruch, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen und vollziehen zu können, und in dem Mißverhältnis dieses Anspruches zur Realität der Geschichte, die nie von Grund auf neu anzufangen vermag. Die Idee, daß die Geschichte eine Wendung vom Unheil zum Heil, vom Uneigentlichen zum Eigentlichen nehmen kann, ist innerhalb des Christentums — und zwar als sekundäre Aus legung seines gründenden Ereignisses, das ursprünglich nicht Ge schichte wenden, sondern sie beenden sollte — entstanden. Diese Vorstellung hat ohne Zweifel der Neuzeit zur Artikulation ihrer Selbstauffassung als Epoche im Bruch mit der bisherigen Geschichte verhülfen; aber Belege dafür, daß die Epochenwende als Ana logon des theologischen Ursprungsereignisses des Christentums gedeutet oder stilisiert worden wäre, werden wohl schon deshalb vergeblich gesucht, weil die Differenz des immanenten Anfangs zur transzendenten Setzung des Wendepunktes die formale Ent sprechung verdeckt. Wie alle politischen und geschichtlichen Legitimitätsprobleme ent steht das der Neuzeit durch Diskontinuität, und zwar insofern sie diese selbst gegenüber dem Mittelalter beansprucht; die Selbst bestätigung ihrer Autonomie und Authentizität durch Wissenschaft und Technik wird in Frage gestellt durch dieThese, daß die moderne Welt ihren unheimlichen Erfolg zum großen Teil ihrem christ lichen Hintergrund verdankt?7 Das Maß des Erfolges bedingt den Unrechtsgehalt, der darin liegt, seine wahren Voraussetzun67 C. F. v. Weizsäcker, 1964, 196
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gen vergessen zu haben. >Verdrängung< und >Seinsvergessenheit< sind Ausdrücke ganz verschiedener Provenienz, die uns vergegen wärtigen, daß das Vergessene seine eigene Art unheilvoller Prä senz haben kann; die Idee der Säkularisierung gehört auch in die sen Zusammenhang und erläutert sich in ihrer Funktion durch ihn. Säkularisierung ist eine theologisch bedingte Unrechtskate gorie. Ich sage nicht: eine >theologische< Unrechtskategorie - denn als solche hätte sie Kriterien sui generis, die hier gar nicht zur Dis kussion stehen können. Das bedeutet nun aber gerade nicht, daß sie als im Dienst des Historikers stehender Grundbegriff dem theologischen Interesse entzogen wäre. Im Gegenteil: als Un rechtskategorie enthält sie ein Potential der Berufbarkeit, die Implikation eines Schuldtitels. Nicht nur >Hintergrund< zu sein, ist die Präsenz der christlichen Sphäre in der Säkularisierung, sondern >Umwandlung< ist der zentrale Begriff ihrer prägnanten Bestimmung.6869 Die Kategorie Säkularisierung enthält ein zumin dest latentes ideologisches Moment, worunter ich das in einem Zusammenhang theoretischer Objektivierung aktualisierbare theoriefremde Interesse verstanden wissen möchte. Nicht zufällig eignet sich diese Vorstellung so gut für eine kulturkritische Be triebsamkeit, die auf der Suche nach möglichst entfernten Verant wortlichkeiten für ein an der Gegenwart empfundenes Unbehagen zu einem großen Teil darin besteht, über die Begründung der Neuzeit und die daran beteiligten Faktoren Schuldsprüche zu fällen. Wenn die Neuzeit ihrem geschichtlichen Bestand nach Säkularisat wäre, dann hätte sie sich als einen Inbegriff von dem zu verstehen, was >der Sache nach< nicht sein sollte.63 Dann gäbe es so etwas wie jene objektive Kulturschuld, und es läge in der Konsequenz der angewendeten Theorie, nach dem Schuldanerkenntnis und nach der Schuldrestitution zu fragen oder sie gar zu fordern. Insofern mag es zutreffend sein, von der Säkularisierung als einem letzten Theologumenon zu sprechen, das den Erben der Theologie das Schuldbewußtsein für den Eintritt des Erbfalles auferlegen will. 68 aaO 95: Diese Umwandlung des christlichen Radikalismus in den Radi kalismus der Realität möchte ich in einem prägnanten Sinne des Worts als Säkularisierung bezeichnen. 69 C. H. Ratschow, Art. >Säkularismus< in: RGG V 1288
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Es proklamiert die genaue Umkehrung des Rechtsanspruches, den geltend zu machen der junge Hegel als die sich seiner Zeit stellende Aufgabe der Religionskritik bezeichnet hatte: Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich vorbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigen tum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindizieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besitz zu setzen?70 Auch diese Vorstellung, daß der Mensch aus der Transzendenz nur zurückzuholen brauche, was er in sie hineinprojiziert habe, leidet an ihrem Substantialismus; sie sollte hier auch nur veranschaulichen, daß man mit beiden Versionen des Prinzips vom ursprünglichen Eigentum zwar - je nach Perspektive - zu frechen oder frommen Ansprüchen, nicht aber zum geschichtlichen Verstehen kommt. Geschichte, so schreibt Ludwig Feuerbach 1830, hat nur das, was selbst das Prinzip sei ner Veränderungen ist, was allen seinen Veränderungen als all gegenwärtige wesentliche Einheit zu Grunde liegt, dessen Ver änderungen daher innere, immanente, durch es selbst bestimmte, mit ihm selbst identische Veränderungen sind. Der Stein, der aus der Hand eines Bettlers in die Hand eines Königs kommt, aus Amerika nach Europa und von da nach Asien gelangt, hat des wegen noch nicht eine Geschichte.. ,71 70 Theologische Jugendschriften, ed. H. Nohl, 225 71 Werke, ed. F. Jodi, I 48
Zweiter Teil
Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung
In dem Arsenal der Kategorien, mit denen die Legitimität der Neuzeit angefochten wird, ist die Vorstellung der Säkularisierung nur ein Instrument. Seine Wirksamkeit ist gerade darin begrün det, daß die Anfechtung, die es potentiell enthält, nicht in die Ausdrücklichkeit der Rückforderung gebracht zu werden braucht. Es erlaubt alle Formen der sanften Modulation des Anspruches. Es gibt unverblümtere Aussagen, härtere Anathemata. Unter der Kategorie der Säkularisierung wird zugestanden und muß konsequent zugestanden werden, daß die Neuzeit eine Epoche originärer, nicht Vorgegebenes wiederholender Prägung ist, nur wird bestritten, daß sie dies aus sich selbst und kraft der von ihr beanspruchten rationalen Authentizität sei. Die Plausibilität, die der Kategorie der Säkularisierung so weithin und über das an ihren Implikationen interessierte Denken hinaus bestätigt wurde, be ruht wohl gerade darauf, daß sie der Spezifität von Geschichte, dem hohen Grad der Individualisierung aller Bestände in unserem historischen Bewußtsein, gerecht zu werden scheint und im tem perierten Gebrauch ihrer Konsequenzen nicht so etwas wie Rück kehr zum Ursprünge, sondern eher Anerkennung von Bedingt heiten fordert. Massiver, direkter ist der Ansatz solcher Kategorien, die die Epoche als Verfehlung des Geschichtlichen selbst, als Regression sehen lassen wollen. Natürlich hat auch hier das Instrumentarium der Deckungen, die sich der elementare Anspruch des Neuen durch Berufung auf die Autorität und Gültigkeit des Schon-Dagewesenen verschafft hat, Belege für eine bloße pagane Reaktion in Fülle bereit gestellt. Aber das Selbstmißverständnis der Renaissance als Wiederkehr des Alten und damit als Rückkehr zur unveräußer lichen Norm mitzumachen, kann kaum noch jemand geneigt sein. Für die Konstituierung der Neuzeit ist nicht die Renaissance exemplarisch, sondern gerade der Widerspruch, den ihre Grund
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Zweiter Teil
these von derUnüberholbarkeit der antikenLiteratur vom 17. Jahr hundert an gefunden hat — und zwar noch bevor man zu sehen gelernt hatte, wie wenig diejenigen die Antike verstanden, die sie zu erneuern versprachen. Daß die Neuzeit weder die Erneuerung der Antike noch ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln ist, bedarf nicht mehr der Erörterung. Gezielter als der Vorwurf des paganen ist der des gnostischen Rezidivs. Das gnostische Trauma der ersten nachchristlichen Jahr hunderte liegt tiefer als das der blutigen Verfolgungen, deren Tode in der Glorie des Zeugnisses für den neuen Glauben auf gingen. Wer sagt, daß die Neuzeit wohl besser das Gnostische Zeitalter genannt würde3, erinnert an den Urfeind, der nicht von außen kam, sondern schon an der Wurzel des christlichen Ur sprungs saß und dessen Gefährlichkeit in dem Maß an Klarsicht bestand, mit der er die größere Konsequenz der Systematisierung der biblischen Prämissen auf seiner Seite hatte. Unabhängig von der Frage, ob die Charakteristik der Neuzeit als einer neuen Gnosis repräsentativ für die Gesamtheit der Versuche ist, sie als christliche Häresie auf die Substanz des Christentums zu beziehen, verdient die Gnosis-Formel als der signifikanteste dieser Versuche und als der in seinen Implikationen aufschlußreichste einige Über legung. Mir liegt wenig daran, diese Phrase hinsichtlich dessen zu interpretieren, was ihr Autor faktisch gemeint hat; auch wenn sie im Stil unserer kulturkritischen Gemeinplätze nur so dahingesagt wäre - was ich aber dem Autor nicht unterstelle —, müßte sie unser Bedenken irritieren hinsichtlich dessen, was sie enthalten kann. Das Problem, das uns beschäftigt, gewinnt durch sie an Kontur. Die These, die hier vertreten werden soll, nimmt den behaupteten Zusammenhang von Neuzeit und Gnosis auf, aber sie kehrt ihn um: die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis.Das setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war. Diese These schließt ein, daß das Mittelalter als Jahrhunderte überspannende Sinnstruktur von der Auseinandersetzung mit der spätantiken und frühchristlichen Gnosis seinen Ausgang genommen hat und daß die Einheit seines rationalen Systemwillens aus der Bewältigung der gnostischen Gegenposition begriffen werden kann. 1 Eric Voegelin, in: Philosophische Rundschau 1, 1933/4, 43
Das Problem, das die Antike ungelöst hinterließ, war die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt. Die Idee des Kosmos, die die klassische Philosophie der Griechen beherrschte und die den Vorrang der platonisch-aristotelischen und der stoischen Tra dition fundierte, hatte darüber entschieden, daß diese Frage nach dem Übel in der Philosophie nur einen sekundären, systematisch nebenläufigen Rang erhielt. Die antike Metaphysik ist noch nicht einmal Kosmodizee, Rechtfertigung der Welt, weil die Welt der Rechtfertigung weder bedarf noch fähig ist. Sie ist alles, was sein kann, und der platonische Mythos vomDemiurgen versichert, daß in der Welt die Möglichkeit dessen, was sein konnte und wie es sein konnte, in der Nachbildung der Ideen ausgeschöpft worden ist. Die entscheidende systematische Nahtstelle liegt dort, wo im Prozeß der Weltentstehung planende Vernunft und blinde Not wendigkeit, Urbild und Material aufeinander stoßen.2 Diese Nahtstelle wird durch eine höchst charakteristische Metapher überbrückt: die Vernunft bringt die Notwendigkeit unter ihre Herrschaft >durchÜberredung< (τφ πείθειν). Der Glaube der Grie chen an die Kraft der Rede und Überredung projiziert sich hier ins Kosmische; der Vorgang, der über die Qualität der werden den Natur, über den gefährlichen Dualismus von Idee und Ma terie entscheidet, ist nach dem Modell des Politischen gesehen.3 Der platonische Demiurg ist nicht allmächtig, er findet die Materie, deren er sich für sein Werk bedienen muß, als ungeordnetes Sub strat unbekannter Herkunft schon vor; er muß sich auf die Kraft der Vernunft verlassen, der er sein Werk delegiert hat. Die Ge2 Plato, Timaios 47 E - 48 A 3 Ebenso bezeichnend ist Epikurs ausdrücklicher Widerspruch gegen dieses Moment des platonischen Mythos (Diogenes Laertios X 133 f.): die Notwen digkeit ist nicht zu überreden. Ausdruck dessen ist eine >Theologiefremde GottUnterbrechung< aufhebt. Die Menschen kehren nicht aus der Fremde der Welt in die transzendente Heimat zurück, die sie nach der Ordnung der Dinge nie hätten verlassen dürfen, sondern 5 Μ. Werner, 1941, 527. Dazu: H. Blumenberg, 1958, ioj-107
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- wie Harnack schwärmerisch sagt - eine herrliche Fremde ist aufgetan und wird ihnen zur Heimat.6 Marcion hat die Logik als Problem der ganzen ungeheuren Lite ratur deutlich gemacht, die die patristische Epoche hervorgebracht hat. Der Systemwille der Gnosis hat die sich konsolidierende Groß kirche gezwungen, sich zu dogmatisieren. Harnack hat die These aufgestellt, daß der Katholizismus gegen Marcion erbaut worden ist.7 Weiter gefaßt, entspricht das der These, daß die Formation des Mittelalters nur als Versuch der endgültigen Absicherung gegen das gnostische Syndrom verstanden werden kann. Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ur sprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüberzuretten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die Hochscholastik reicht. Uns interessiert hier nicht die Geschichte dieser Anstrengung selbst, deren Scheitern eine zweite Überwindung der Gnosis notwendig machte, sondern der Preis, der für die Behebung des gnostischen Dualismus inner halb des mittelalterlichen Systems aufzubringen war und dessen Problematik mit dem Scheitern jener Anstrengung in Zusammen hang gesehen werden muß. Die Überzeugungskraft der Gnosis für das frühe Christentum lag in der universalen Begründung, die sie für die eschatologische Ver heißung bot. Der Untergang der Welt und das Gericht über sie sollten nahe bevorstehen, und die Konzentration auf die Heils bedeutung dieses Ereignisses hatte das Bewußtsein der Vernich tungswürdigkeit der Welt zur Voraussetzung. Die Gnosis gab den plausibelsten Grund für diese Voraussetzung. Es war ohne Be deutung, der Frage nach der Erschaffung der Welt und dem Herrn ihrer Geschichte nachzugehen, wenn diese Episode alsbald ihr Ende finden sollte. Das Ausbleiben der erwarteten Parusie mußte folgenreich für die Umformung der ursprünglichen Lehre sein. Aber hier interessiert nur ein Punkt: die Welt, die sich beständiger als erwartet erwies, zog wieder die alten Fragen nach ihrer Her kunft und ihrer Verläßlichkeit auf sich, forderte Entscheidung zwischen Vertrauen und Mißtrauen, Einrichtung des Lebens mit ihr statt gegen sie. Man kann leicht sehen, daß die schließlich gegen 6 A. v. Harnack, 1924, 20 7 A. v. Harnack, 1924, VII
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die Gnosis fallende Entscheidung nicht im inneren Übergewicht des dogmatischen Systems der Kirche lag, sondern in der Uner träglichkeit des Bewußtseins, daß diese Welt der Kerker des Bösen sein sollte und dennoch von der Macht des nach seiner Offenbarung zur Erlösung entschlossenen Gottes nicht zerschlagen wurde. Das ursprüngliche eschatologische Pathos gegen den WeXtbestand transformierte sich in ein neues Interesse am WeXtzustand. Das metaphysische Interesse an der Schöpfung kehrte zurück, nach dem die Erlösung sich weniger spektakulär im Untergrund des nur Geglaubten zu vollziehen schien. Die große Zahl der patristischen Kommentare zum ersten biblischen Buch, der Genesis, belegt diese Konsequenz greifbar. Das Christentum mußte sich auf die Spielregeln der vorgegebenen und fortbestehenden Welt einrich ten; es mußte seine Diskussionsfähigkeit für seine hellenistische Umwelt und ihre drängenden Fragen nach der Stellung der neuen Lehre zum alten Kosmos erweisen. Das eschatologische Erbe, das bald nicht mehr die Hoffnung der Gemeinde, sondern ihre Furcht hervorrief, das nicht zum Gebet um das baldige Kommen des Herrn, sondern um Aufschub des Endes motivierte, erwies sich als Belastung für das Werben um Geltung in der geistigen Umwelt. Die Szene ist romanesk, aber darum nicht weniger aufschlußreich, wenn in der apokryphen Paulus-Passion der Kaiser Nero in hellen Zorn gerade darüber gerät, daß Paulus ihm die Ausbren nung dieser Welt in Aussicht stellt: daß Nero die Hinrichtung des Paulus und die Verbrennung der Christen befiehlt, wird als Kon sequenz dieses Kerygma, als Anwendung der eigenen Mittel auf seine Anhänger, verstanden.8 Das Arrangement des Christentums mit der antiken Metaphysik führte in einen neuen Kosmoskonservatismus hinein. Augustins Abwendung von der manichäischen Gnosis bezeichnet den End punkt einer Entwicklung. Selbst gegen den Neuplatonismus, der so viele Elemente für das neue System geliefert hatte und noch liefern sollte, wird der Schöpfungsbegriff kritisch effektiv. Augu8 Passio S. Pauli (edd. Lipsius, Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha I 30: Haec audiens Nero et ira succensus, quia mundi figuram per ignem Paulus dixerat resolvendam, iussit omnes Christi milites igne cremari, Paulum autem ... capite... truncari... Die stoische Ekpyrosis war keine >Vorbereitung< auf die Eschatologie, sondern selbst ein kosmischer Prozeß, der neuen Weltzyklen vorangehen sollte.
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stin wendet sich gegen das Postulat des Porphyrios, die Flucht der Seele aus der Körperwelt sei das Ziel ihres Strebens; wer so sage, wirft Augustin ein, der müsse die Folgerung auch für die Weltseele ziehen und sich aufgefordert fühlen, die Vernichtung der Welt zu betreiben.9 Die stoische Formel, daß die Welt um des Menschen willen geschaffen worden sei, findet eine breite patristische Rezeption und läßt vergessen, daß das Heil des Menschen gerade von der Zerstörung des Kosmos erwartet worden war. Der Begriff der Vorsehung, obwohl der biblischen Vorstellungs welt fremd, wird als theologisches Eigentum assimiliert und zu einem wesentlichen gegengnostischen Element gemacht. Aber im Resultat dieser Entwicklung ist die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt mit neuer Aktualität gestellt, und zugleich sind ihr traditionelle Lösungsmöglichkeiten ab geschnitten. Von seinem Demiurgen hatte Plato nicht gesagt, er sei allmächtig, sondern nur versichert, er habe die Welt so gut und seiner eigenen Güte so ähnlich gemacht, wie er nur konnte; die Notwendigkeit, die er als seine Gegenspielerin schon vor gefunden hatte, setzte ihm eine Grenze, an der er auf Macht verzicht und bloße Überredung angewiesen war. Der biblische Schöpfergott war zum allmächtigen Wesen gesteigert, und die Ausschaltung der Gnosis erforderte, der Materie ihre dualistische Vorgegebenheit zu nehmen und sie in die Einheit der Schöpfung aus dem Nichts einzubeziehen. Die Ausarbeitung der creatio ex nihilo als concreatio war Augustins nachhaltige Leistung in sei nen Gezzeszs-Kommentaren. Daß Gott im biblischen Schöpfungs bericht jedem seiner Werke die Bestätigung, daß es gut gelungen war, ausdrücklich gegeben hatte, konnte und wollte die Exegese nicht mehr übersehen. Woher kam dann das Übel in die Welt? Die Antwort, die Augustin auf diese Frage gegeben hat, war die folgenreichste der von ihm für das Mittelalter getroffenen Entscheidungen. Mit einer ebenso rührenden wie verhängnisvol len Geste übernahm er für den Menschen und auf den Menschen die Verantwortung für das, was an der Welt drückende Last war. Jetzt, nach der Gnosis, ist das Problem der Rechtfertigung Gottes 9 Augustinus, Sermo 241. 7: Tu qui dicis >corpus est omne fugiendums, occide mundum. - Der Platoniker vergesse, daß Plato seinen Demiurgen den Ge stirnen Unvergänglichkeit zusichern läßt. (241.8)
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übermächtig geworden, und sie erfolgt zu Lasten des Menschen, dem ein neuer Begriff seiner Freiheit eigens deshalb zudefiniert wird, um sich das volle Maß einer ungeheuerlichen Verantwor tung und Schuldigkeit imputieren zu lassen. Augustin schreibt fünf Jahre nach seiner Abwendung vom Manichäismus und ein Jahr nach seiner Taufe das erste Buch De libero arbitrio. Aber die thematische Fragestellung dieser Schrift ist nicht die Willensfreiheit als anthropologische und moralische Qualität, sondern als Bedingung der Möglichkeit des Menschen, von dem gerechten Gott mit den Übeln in der Welt für seine Ver fehlungen bestraft zu werden. Die Prämisse der menschlichen Freiheit erlaubt Augustin, die Mängel der Welt nicht als ursprüng liches Versagen ihrer Bestimmung zugunsten des Menschen zu interpretieren, sondern als die verändernden Eingriffe Gottes in sein Werk, mit denen er die Natur in den Dienst der Gerechtig keit gegenüber dem Menschen stellt. Den Leitfaden zu seiner Lösung des Problems der Herkunft des Übels (unde malum?) hatte Augustin schon der sprachliche Sach verhalt gegeben, daß die antike Philosophie zwischen dem Bösen, das der Mensch begeht, und dem Übel, das ihm begegnet, sprach lich nicht unterschieden hatte. Daß die Übel der Reflex des eige nen Bösen aus der Welt für den Menschen seien, war also schon in der Fragestellung angelegt. Die Problematik der Freiheit ist sekundär; sie wird von außen nach innen vorangetrieben: die kosmischen Übel können nur dann Strafen sein, wenn der Mensch überhaupt für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann.10 Die Gerechtigkeit des deus iustus wird als Prämisse ge wahrt, nicht als Konsequenz bewiesen. Der Glaube an den ge rechten Gott eröffnet die Erkenntnis der menschlichen Freiheit und die Lösung der metaphysischen Frage nach dem Ursprung des Übels; Augustin findet hier zu seinem Schema von der Be dingtheit der Erkenntnis durch die im Glauben angenommenen Prämissen. 10 Augustinus, De libero arbitrio I r : Non enim iuste vindicarentur (sc. malefacta), nisi fierent voluntate. Derselbe Gedankengang nochmals in dem erst 395 entstandenen zweiten Buch (II 3). In den >Con£essiones< (X 4, 5) gibt Augustin die Formel: bona mea instituta tua: mala mea delicta mea sunt et iudicia tua ...
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Aber ist die Freiheit, wenn sie derart für die Übel in der Welt einzustehen hat, ihrerseits nicht ein Übel? Hier ist die Lücke in der Argumentation, durch die der gnostische Demiurg wieder einzudringen droht. Augustin bietet Dialektik und Rhetorik auf, um diese Lücke zu schließen; die Schwierigkeiten der Antwort haben erkennbar die Abfassung des zweiten und dritten Buches des Freiheitstraktates um sieben Jahre verzögert. Müssen nicht auch diejenigen, die ein schlechtes Leben führen, die Freiheit be jahen, ohne die sie gar nicht gut sein könnten? Auch wer böse ist, will zumindest gut sein können; auch für ihn ist Freiheit also etwas, wovon er will, daß es nicht nicht sei.11 Die Freiheit bestätigt die Güte Gottes und seines Werkes in jedem Falle, weil sie sich selbst will, und zwar unabhängig von ihrer moralischen Qua lität.12 Aber der Rückgang auf die reflexive Struktur des Willens, der nicht nur dieses oder jenes, sondern primär sich selbst als Be dingung seiner konkreten Wahlhandlungen will, verschiebt das Problem nur um eine Stufe: der Wille, der sich selbst will, ist nur dann frei, wenn er auch sich selbst nicht wollen kann. Hier versagt die Rationalität; die SelbstVernichtung kann nicht mehr begründet werden: Sciri enim non potest quod nihil est.13 Kann der Mensch die Last tragen, für den Kosmos verantwort lich zu sein, also dafür, daß die Absicht Gottes mit seinem Werk nicht mißlingt? Die Konzeption erinnert von Ferne an Nietz sches Versuch, mit der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen den Menschen die Ungeheuerlichkeit seiner Verantwortung für das, was immer wieder so wird wie es war, spüren zu lassen. Von diesem Pathos der menschlichen Weltverantwortung hat Augu stin nichts. Die Belastung des Menschen bedeutet ihm nur einen 11 De libero arbitrio II 49: ... et dubitare de libéra voluntate, sine qua recte vivi non posse concedunt, etiam qui pessime vivunt? Et certe nunc responde, quaeso, quid tibi melius esse videatur in nobis, sine quo recte vivi potest, an sine quo recte vivi non potest. 12 De libero arbitrio I 25: Quid enim tarn in voluntate quam ipsa voluntas sita est? I 26: ... cum sit tarn magnum bonum, veile solum opus est, ut habeatur. II 51 : Noli ergo mirari si ceteris per liberam voluntatem utimur, etiam ipsa libéra voluntate per eam ipsam uti nos posse; ut quodammodo se ipsa utatur voluntas quae utitur ceteris, sicut seipsam cognoscit ratio, quae cognoscit et cetera. III 7: Quapropter nihil tarn in nostra potestate, quam ipsa vo luntas est. I3 De libero arbitrio II 54
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Nebeneffekt der Entlastung seines Gottes. Aber Augustin wäre wohl nie Manichäer geworden, wenn ihm die Übel der "Welt nur als Störungen der großen Ordnung, als Schönheitsfehler an einem sonst ungetrübten Bild erschienen wären. Um die Welt, wie sie der Manichäer gesehen und gewertet hatte, als Strafe zu verdie nen, mußte die Sünde des Menschen, die gleichsam an die Stelle der Bosheit des gnostischen Demiurgen trat, groß genug, übergroß sein. Eine Sünde, die an diesem Maßstab hätte gemessen werden können, fand Augustin nicht einmal in der zerknirschten Rückschau der Confessiones auf das eigene Leben. Die Bilanz zwischen dem Zustand der Welt und der Schuld des Menschen, die er mit seiner frühen Philosophie der Freiheit einmal aufgemacht hatte, ließ ihn zum Theologen der einmaligen ganz großen Urschuld der Menschheit und ihrer mythischen Erbschaft werden. Genau dort, wo Marcion zur Überzeugung von der Bösartigkeit des alttestamentlichen Gesetzgebers gekommen war, im Römerbrief des Pau lus, fand Augustin das theologische Instrumentarium für das Dogma von der universalen Schuld des Menschen und für die Auffassung von seiner Rechtfertigung als einem Freispruch, der im Gnadenwege gewährt wurde und die Folgen der Schuld nicht aus der Welt schaffte. Dort fand er auch die Lehre von der ab soluten Prädestination, die den Gnadenweg auf die kleine Zahl der Erwählten beschränkte und dadurch die Schuld der Allzu vielen als Erklärung der fortdauernden Verderbnis der Welt in Geltung ließ. Der gnostische Dualismus war für das metaphy sische Weltprinzip beseitigt, aber er lebte im Schoße der Mensch heit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen fort. Diese zur Rechtfertigung Gottes erson nene Krudität hat ihre verschwiegene Ironie darin, daß auf dem Umweg über die Vorstellung der Prädestination eben doch die Urheberschaft des absoluten Prinzips für die kosmische Verderb nis wieder hereingeholt wird, deren Elimination der ganze Auf wand gegolten hatte. Für diese Sünde in ihrer universalen Aus wirkung konnte letztlich eben doch nur der Urgrund der Dinge selbst verantwortlich gemacht werden - die massa damnata hatte dafür nur noch die Folgen zu tragen. Für unseren Zusammenhang ist wesentlich, daß der späte Augu stin, der Theologe der Erbsünde und der Prädestination, die wich
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tigste Quelle und Autorität für die theologische Spekulation des späten Mittelalters werden sollte. Die nicht überwundene, son dern nur transponierte Gnosis kehrt in Gestalt des verborgenen Gottes und seiner unbegreiflichen absoluten Souveränität zurück. Mit ihr hatte es die Selbstbehauptung der Vernunft zu tun. Die Scholastik des Mittelalters geht in mancher Hinsicht den Weg Augustins noch einmal. Ihr Versuch, den Schöpfergott und den Heilsgott in einem System zusammenzuhalten, beruht in der Fülle seiner Varianten auf dem Grundriß von De libero arbitrio. Und noch der Widerstand des Humanismus hält sich an das durch die Confessiones gegebene Formular der geistigen Biographie Augustins, nur daß er den Weg in umgekehrter Richtung geht: Petrarca wird als Leser Augustins zu Cicero und von diesem zu Plato zurückgeführt. Die Gnosis hatte den antiken Kosmos nicht zerstört; seine Ord nung blieb, aber sie wurde - wie >Ordnung< als Höchstwert nicht zum einzigen Mal - zum Terror, aus dem es nur den Ausweg der Flucht in die Transzendenz und der endlichen Zerstörung der cellula creatoris gab. Der Kosmos hatte nicht nur sein Wertvor zeichen gewechselt, sondern die wichtigste Qualität seiner Ver läßlichkeit, seine Ewigkeit, verloren. Auf Veränderung der Wirk lichkeit zugunsten des Menschen zu sinnen, war durch den vor gezeichneten Ausweg der Flucht, durch das Angebot der Erlösung gegen die Welt, keine Wahl. Augustins folgenreiche Wendung von der Gnosis zur menschlichen Freiheit rettet >die Ordnung< für das Mittelalter und bereitet die Wiederkehr des Aristoteles auf der Höhe der Scholastik vor. Der Preis für diese Rettung des Kosmos war nicht nur die Schuld, die der Mensch sich daran zumessen sollte, wie er die Welt vorfand, sondern auch die Resi gnation, die ihm seine Verantwortung für den Weltzustand auf erlegte: der Verzicht darauf, eine Wirklichkeit durch Handeln zu seinen Gunsten zu verändern, deren Ungunst er sich selbst zu zuschreiben hatte. Die Sinnlosigkeit der Selbstbehauptung war das Erbe der nicht überwundenen, sondern nur >übersetzten< Gnosis.
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Die zweite Überwindung der Gnosis am Ausgang des Mittel alters vollzieht sich unter >verschärften Bedingungem. Sie vermag den Kosmos der Scholastik nicht mehr zu retten und steht unter der Macht des Zweifels, daß die Welt schon ursprünglich nicht zugunsten des Menschen geschaffen sein könnte. Der Ausweg der Flucht in die Transzendenz als dem Menschen angebotene und nur zu ergreifende Möglichkeit hat gerade durch den Absolutis mus des Gnadenentscheids, durch das Heilskriterium des nicht mehr wählbaren Glaubens seine humane Relevanz verloren. Die ser Wandel der Voraussetzungen rückt die Alternative der imma nenten Selbstbehauptung der Vernunft durch Beherrschung und Veränderung der Wirklichkeit in den Horizont der möglichen Intentionen. Der >Ordnungsschwund< als Zweifel an einer auf den Menschen beziehbaren vorgegebenen Struktur der Wirklichkeit ist die Vor aussetzung für eine generelle Konzeption des menschlichen Han delns, die in den Gegebenheiten nichts mehr von der Verbindlich keit des antiken und mittelalterlichen Kosmos wahrnimmt und sie deshalb prinzipiell für verfügbar hält. Der Ordnungsschwund ist wiederum mit einem neuen Begriff der menschlichen Freiheit verbunden. Aber die Last, die diesmal dem Menschen zufällt, ist anderer Natur als die ihm von Augustin auferlegte: sie ist Ver antwortung für den Zustand der Welt als zukunftsbezogene For derung, nicht als vergangene Urschuld. Der umgewertete Kosmos der Gnosis hatte die Stabilität seiner antiken Herkunft bewahrt; er konnte nur von außen, aus der Übermacht des transzendenten Prinzips, zerstört oder nach außen >überwunden< werden. Mensch liche Hoffnung hatte ihren Fluchtpunkt jenseits der Welt. Die am Ende des Mittelalters zum Faktum werdende Wirklichkeit pro voziert den Willen gegen sich und konzentriert ihn auf sich. Die Übel der Welt erscheinen nicht mehr als metaphysische Merkmale
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der Qualität des Weltprinzips oder der strafenden Gerechtigkeit, sondern als Merkmale der Faktizität der Wirklichkeit. In ihr schien auf den Menschen >keine Rücksicht genommen< zu sein, und die Indifferenz der Selbsterhaltung alles Bestehenden ließ ihm das als Übel begegnen, was seinem eigenen Lebenswillen ent gegenstand. Das Mittelalter ging zu Ende, als es innerhalb seines geistigen Systems dem Menschen die Schöpfung als >Vorsehung< nicht mehr glaubhaft erhalten konnte und ihm damit die Last sei ner Selbstbehauptung auferlegte. >Selbstbehauptung< meint daher hier nicht die nackte biologische und ökonomische Erhaltung des Lebewesens Mensch mit den seiner Natur verfügbaren Mitteln. Sie meint ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit auf nehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will. Im Ver stehen der Welt und den darin implizierten Erwartungen, Ein schätzungen und Sinngebungen vollzieht sich eine fundamentale Wandlung, die sich nicht aus Tatsachen der Erfahrung, die jeder zeit geläufig waren, summiert, sondern ein Inbegriff von Präsum tionen ist, die ihrerseits den Horizont möglicher Erfahrungen und ihrer Deutung bestimmen und die Vorgegebenheit dessen enthal ten, was es für den Menschen mit der Welt auf sich hat. Selbsterhaltung ist ein biologisches Merkmal, und insofern der Mensch als ein mangelhaft ausgerüstetes und angepaßtes Lebe wesen auf die Bühne der Welt getreten ist, bedurfte er von An fang an der Hilfsmittel, Werkzeuge und technischen Verfahren zur Sicherung seiner elementaren Lebensbedürfnisse. Aber auf diese Natur des Menschen bezogen, war das Instrumentarium der Selbsterhaltung über lange Zeiträume und im Spielraum minimaler Varianten konstant. Es scheint, daß der Mensch seine Situation in der Welt über weite Strecken seiner Geschichte nicht als die des fundamentalen Mangels und der physischen Bedürftig keit gesehen hat. Das Bild, das er sich von sich selbst gemacht hat, ist eher bestimmt durch die Züge eines von der Natur wohlversorgten, aber in der Verteilung ihrer Güter selbst versagenden Wesens. Das Problem der Gerechtigkeit ist daher überwiegend als das der verteilenden Maßnahmen gestellt worden. Es läßt sich leicht sehen, daß im Rahmen dieser Vorstellung die technischen
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Fertigkeiten und Leistungen des Menschen eine nur ergänzende, der Natur nachhelfende, ihre Zweckmäßigkeit vollstreckende Funktion haben konnten. Die Zerstörung des Vertrauens in die dem Menschen zugewandte Ordnungsstruktur der Welt — aus welchen Motiven immer — mußte einen eminent pragmatischen Wandel im Weltverständnis und Weltverhältnis des Menschen bedeuten. Wenn der Ordnungsschwund, der den Zerfall des mit telalterlichen Systems bedeutete, die Selbsterhaltung aus ihrer biologisch bedingten Normalität und Unvermerktheit herausriß und zum >Thema< der menschlichen Selbstauffassung machte, läßt sich auch die neuzeitliche Stufe der menschlichen Technizität nicht mehr aus dem Syndrom der anthropologischen Mangelstruktur allein begreifen. Das Anwachsen des technischen Potentials ist nicht nur die Fortsetzung, ja nicht einmal nur die Beschleunigung eines Prozesses, der die ganze Menschheitsgeschichte umspannt. Vielmehr läßt sich die quantitative Vermehrung technischer Lei stungen und Hilfsmittel nur aus einer neuen Qualität des Be wußtseins begreifen. Ein der entfremdeten Wirklichkeit bewußt begegnender Wille zur Erzwingung einer neuen >Humanität< dieser Wirklichkeit lebt in dem Anwachsen der technischen Sphäre. Der Mensch reflektiert auf den Mangel der Natur als den Antrieb seines gesamten Verhaltens. Mit der Verspätung, die der philosophischen Explikation ge schichtlich wirksamer Bewußtseinsantriebe eigen ist, hat Nietz sche die Situation des im Ordnungssçhwund von der natürlichen Vorsorge verlassenen und sich selbst überantworteten Menschen formuliert, aber nicht, um der Enttäuschung des verlorenen Kos mos Ausdruck zu geben, sondern um den Triumph des aus der kosmischen Illusion zu sich selbst erwachten Menschen zu feiern und ihn der Mächtigkeit über seine Zukunft zu versichern. Der Mensch, der nicht nur die Natur, sondern sich selbst als verfüg bares Faktum begreift, hat in der Selbstbehauptung seiner neu zeitlichen Geschichte nur die Vorstufe seiner Selbststeigerung und Selbstübersteigerung durchlaufen. Die Zerstörung des Weltver trauens hat ihn erst zum schöpferisch handelnden Wesen gemacht, hat ihn von einer verhängnisvollen Beruhigung seiner Aktivität befreit. Für Nietzsche ist jede Form der Teleologie nur ein Deri vat der Theologie: die vermeintliche Zentrierung des Weltsinnes
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auf den Menschen erscheint ihm als gleichbedeutend mit jener >Vorsehung