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German Pages [245] Year 2020
Tilman Pohlmann (Hg.) Die LDPD und das sozialistische »Mehrparteiensystem« in der DDR
Berichte und Studien Nr. 81 herausgegeben von Thomas Lindenberger und Clemens Vollnhals im Auftrag vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.
Tilman Pohlmann (Hg.)
Die LDPD und das sozialistische »Mehrparteiensystem« in der DDR
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: 14. Parteitag der LDPD vom 8. bis 9. April 1987 mit Besuch Wolfgang Mischnicks, Foto: Gisela Funke, Reproduktion des Originals aus dem Bestand des Archivs des Liberalismus, Signatur FL2-77-e Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-0422 ISBN 978-3-7370-1003-0
Inhaltsverzeichnis
Tilman Pohlmann Die LDPD im sozialistischen Mehrparteiensystem der DDR – eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Koordinaten von SED und MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Die Liberaldemokraten in den 1980er-Jahren David Bordiehn Die Tragik der Emanzipation. Zur Rolle der LDPD in den 1980er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Alexander Koch »Erbe« und »Tradition« der Liberaldemokraten. Zum Geschichtsbild einer »bürgerlichen« Blockpartei in den 1970er- und 1980er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Franz-Joseph Hille Die LDPD und das Ende des SED-Staates. Der Umgang mit der Vergangenheit am Beispiel der Affäre um Justizminister Kurt Wünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Biografie, Basis und Kader Michael Thoß Zwischen Staats- und Parteiapparat. Zum politischen Wirken des LDPD-Funktionärs Horst Lösler . . . . . . . . . . 107 Marlene Heihsel Die Gotha-LDPD: Politische Basisarbeit – eine Quellenstudie . . . . . . . . . . . 131
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Inhaltsverzeichnis
Thomas Widera Zentralismus und Disziplinierung: Die Kaderarbeit in der LDPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 III. Über den Tellerrand: Fühmann, Quellenkritik und Kontrafaktik Christoph Schreiber Soldat, Marxist, Kulturfunktionär: Die Metamorphosen des Franz Fühmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ines Soldwisch Vom dienstlichen Dokument zur historischen Quelle? Parteimitgliederstatistiken als Forschungsproblem am Beispiel der LDP(D) im Norden der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Luise Güth Was wäre, wenn? Die Blockparteien in einer DDR des Jahres 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 IV. Anhang Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Tilman Pohlmann Die LDPD im sozialistischen Mehrparteiensystem der DDR – eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Koordinaten von SED und MfS
I. Vorbemerkungen Der vorliegende Band geht zurück auf eine im Jahr 2016 durchgeführte T agung, die vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Tech nischen Universität Dresden (HAIT) in Kooperation mit dem Archiv des Liberalismus (ADL) der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit o rganisiert wurde. Die Veranstaltung war eingebunden in das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt des HAIT mit dem Titel »Das sozialistische Mehrparteiensystem in der DDR. Funktions weisen und Grenzen der Blockpolitik. Analysen unter besonderer Berücksichtigung der LDPD als SED-Blockpartei zwischen dem Bau und dem Fall der M auer 1961–1989/90«. Innerhalb des vermeintlichen Mehrparteiensystems in der DDR kam der vor allem auf bürgerliche gesellschaftliche Gruppen fokussierten Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) eine wichtige Funktion zu, nicht zuletzt, da sie als »Blockpartei« sehr mitgliederstark war.1 Im Rahmen des Projektes wurde das Ziel gesetzt, verschiedene Aspekte der »sozialistischen Bündnispolitik« in Hinblick auf die LDPD transparent zu machen. Die Konzentration in der Forschung auf das in der DDR etablierte und de facto praktizierte System der monopolistischen Einparteienherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sollte durch die Untersuchung der Ränder der Macht aufgebrochen und so dem gesamten politischen System der DDR deutlichere Züge gegeben w erden, als das in der Vergangenheit geschehen ist. Zugleich sollte über das Projekt einer Forschungslücke in Bezug auf die LDPD Rechnung getragen werden. Anders als bei den anderen Blockparteien in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR, der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDUD), der National-Demokratischen Partei Deutschlands 1
Siehe zur Problematik der Parteimitgliederstatistik den Beitrag von Ines Soldwisch in diesem Band.
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(NDPD) und der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) ist die Geschichte der LDPD ab 1961 wenig erforscht. Aussagekräftige und zusammenhängende Untersuchungsbefunde liegen vor allem für die Gründungsphase der LDPD vor.2 Weitere Untersuchungen widmeten sich vor allem Überblicksdarstellungen und Analysen zu verschiedenen Einzelfragen der Geschichte der LDPD.3 Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich hauptsächlich auch wegen der spärlichen Forschungslage vom Zeitraum des Mauerbaus 1961 bis zum Ende der DDR und der sich seit 1989 bereits andeutenden Wandlung der Parteien und ihrer Fusion mit den parteipolitisch in der BRD verwurzelten Schwesterorganisationen. Inhaltlich wurde das Projekt als eine dreigeteilte Untersuchung konzipiert, die jeweils auf der Makro-, Meso- sowie Mikroebene eigene Forschungsfragen entwickelt, die sich dann im Ergebnis als eine kompendienhafte Gesamtstudie über die LDPD lesen lassen. Insgesamt drei Projektbearbeiter des HAIT untersuchten innerhalb des Gesamtprojektes den Komplex der simulierten pluralistischen Politik auf den folgenden drei Analyseebenen: Das erste Teilprojekt widmete sich der Ebene der zentralen Parteiführung der LDPD mit dem Parteiapparat, dem Sekretariat, den Ausschüssen und Kommissionen. Eine Analyse der Zusammen2 3
Vgl. Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter Führung der SED, Münster 1996. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. die Anmerkungen in den Beiträgen dieses Bandes. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei an dieser Stelle auf folgende Veröffentlichungen zur LDPD verwiesen: Frölich, Jürgen (Hg.), Die »bürgerlichen« Parteien in der SBZ, DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953, Köln 1995; ders., Die LDP(D) in Ost-Berlin 1948–1989. In: F.D.P. Berlin (Hg.), 50 Jahre Berliner F.D.P. Liberale Parteien in Berlin seit 1945, Berlin 1995, S. 83–103; ders., Die LDP-Parteielite und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1945–1949. In: Deutschland-Archiv, 35 (2002), S. 435–441; ders., Die LDPD 1945–1990: Liberaldemokraten in der DDR zwischen hoffnungsvollem Beginn, langer Agonie und überraschender Wende. In: Walter Scheel/Otto Graf Lambsdorff (Hg.), Freiheit in Verantwortung. Deutscher Liberalismus seit 1945. Gerlingen 1998, S.125–140; ders., Die LDPD zwischen Prager Frühling und Grundlagenvertrag (1968–1972). In: liberal, 35 (1993) 2, S. 53–61; ders., (K)Ein besonderer liberaler Weg zur Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten? Die Kontakte zwischen FDP und LDPD in den 1970er und 1980er Jahren. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 20 (2008), S. 199–212; ders., Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. In: Gerd-Rüdiger Stephan/Andreas Herbst/Christine Krauss/Daniel Küchenmeister/ Detlef Nakath (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 311–342; ders., »Regierungspartei und Opposition« zugleich? Zur Politik der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) in der Wendezeit 1988–1990. In: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre. Berlin 2001, S. 255–268; ders., Zur Verfolgung von Liberaldemokraten in der SBZ und DDR bis 1961. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 12 (2000), S. 215–228; Marcowitz, Reiner, Der schwierige Weg zur Einheit. Die Vereinigung der deutschen Liberalen 1989/90, Dresden 2002; ders.: Liberaler Widerstand am Ende der DDR. Ein Problemaufriss in sechs Thesen. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 17 (2005), S. 177–198; ders., Manfred Gerlach – ein Liberaler im SED-Staat? Individuelles und Typisches seiner Biographie. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 15 (2003), S. 243–264; ders., Reformkraft oder »Blockflöte«? Das Bild der LDPD und ihres Vorsitzenden in der FDP während der »Wende« 1989/90. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 14 (2002),
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setzung und des Wirkens der Leitungsgremien sowie ihrer Beziehungen zur SED, zum Staatsapparat, zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und zu den anderen Blockparteien geht der Frage nach, inwieweit und mit welchen Mitteln es der SED gelang, die Parteileitung der LDPD auf ihre Politik zu verpflichten und in den »Parteienblock« einzubinden. In der Untersuchung des zweiten Teilprojektes, zur mittleren Parteiebene der Bezirksverbände, ging es um inhaltliche Schwerpunkte in den Verbindungen von LDPD-Bezirksvorständen und SED-Bezirksleitungen im Territorium der DDR, um die Durchdringung der LDPD-Bezirksvorstände durch das MfS in den heterogenen DDR-Bezirken. Einen wichtigen Aspekt dieser Analyseebene bildeten Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Leitungsfiguren von LDPD und SED auf Bezirksebene. Im dritten Teilprojekt wurde auf der parteipolitischen Mikroebene untersucht, inwieweit es der LDPD an der Basis gelang, glaubhaft die von der SED vorgegebenen Ziele und die unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Am Beispiel der Bezirke Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam wurden der Aufbau und das Wirken der regionalen Parteiapparate bis hinunter zu den Ortsverbänden und deren Verhältnis zur Parteileitung untersucht sowie die Einflussnahme der LDPD auf die staatliche Politik, etwa durch die Übernahme von Ämtern und Funktionen im regionalen Staatsapparat in den Fokus genommen. Zudem bildeten Struktur, Selbstverständnis und Motivation der einfachen Mitglieder der LDPD sowie deren Verhältnis zu den eigenen Parteivorständen weitere Schwerpunkte der Untersuchung. Gut ein Jahr nach Projektbeginn konnte 2015 die Erforschung der LDPD durch Forschungsstipendien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit noch weiter intensiviert werden. Dies bedeutete neben der inhaltlichen Vertiefung zugleich eine weitere Vernetzung des Gesamtprojektes in der zeitgeschichtlichen Forschungslandschaft. In einem der Promotionsprojekte wird der Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Ruf der LDPD als Wirtschaftspartei und der wirtschaftlichen
S. 219–243; ders./Hübsch, Reinhart (Hg.), Deutsch-deutscher Liberalismus im Kalten Krieg. Zur Deutschland-Politik der Liberalen 1945–1970. Potsdam 1997; Papke, G erhard, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien – Die LDPD. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED- Diktatur in Deutschland«, Bd. II/4, S. 2410–2417; ders., Bislang unbekanntes Gründungsprotokoll der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 1179–1185; ders., Liberale unter kommunistischer Herrschaft. Zur Geschichte der LDP 1945–52, Gummersbach 1994; Sommer, Ulf, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter Führung der SED, Münster 1996; ders./Rummelt, Peter, Die Wende einer Blockpartei. Zu Rolle der LDPD im der Herbstrevolution 1989. In: Martina Husemann/Ingo Zwilling (Hg.), Fragen an die deutsche Zukunft, Münster 1991, S. 118–138; Soldwisch, Ines, etwas für das ganze Volk zu leisten und nicht nur den Zielen einer Partei dienen … Geschichte der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in Mecklenburg 1946–1952, Berlin 2007; dies., Die Demokratische Partei Deutschlands (DPD) in der liberaldemokratischen Tagespresse der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 20 (2008), S. 47–58.
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Programmatik der LDPD, die offiziell der ideologisierten SED-Wirtschaftspolitik entsprach, nachgegangen. Zugleich wird untersucht, ob auf der regionalen Ebene im Rahmen der herrschenden Planwirtschaft Spielräume für eigensinnige Konzepte und Initiativen bestand und wie dies im Verhältnis zu den Leitlinien der SED-Politik stand. Methodisch stehen Fallbeispieluntersuchungen der drei Kreisverbände Eisenach, Erfurt und Gotha im Zentrum der Untersuchung.4 Ein weiteres Forschungsvorhaben nimmt das DDR-Justizministerium unter der Leitung der LDPD-Minister Kurt Wünsche und Hans-Joachim Heusinger zwischen 1967 und 1990 in den Blick. Das Dissertationsprojekt hinterfragt das Postulat vom Staat als Parteiinstrument und rückt das Ministerium in Form der darin aktiv handelnden Akteure in den Vordergrund. Das Ministerium der Justiz wird als ein multifunktionales soziales Gebilde betrachtet und so dem monolithischen Postulat vom »Partei- und Staatsapparat« entgegengesetzt. Außerdem werden Fragen nach den tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der LDPD-Parteipolitik und der Autorität der beiden LDPD-Minister akzentuiert.5 Ein letzter Problemkontext der assoziierten Forschungsstipendiaten wird mit der Untersuchung der Geschichtspolitik der LDPD zwischen 1945 und 1990 aufgegriffen. Darin werden anhand des Feldes der sich wandelnden Geschichtspolitik der Liberaldemokraten die Funktions- und Wirkungsmechanismen der »politisch-ideologischen Überzeugungsarbeit« der LDPD in den Fokus gerückt. Hervorzuheben ist dabei die Untersuchung der Resonanz zentraler ideologischer Einwirkungsversuche auf die Parteimitglieder an der politischen Basis.6 Die Skizzierung der Forschungsprojekte über die LDPD kann nicht auskommen ohne einen gesonderten Verweis auf die Institution, die den Zugang zur historischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Liberaldemokratischen Partei erst ermöglicht, dem ADL in Gummersbach. Seit dem Jahr 1991 werden dort – neben anderen Beständen – etwa 600 Meter Archivgut aus dem Berliner Zentralarchiv der LDPD gesichert, erschlossen und für die Nutzung bereitgestellt. Das Material, das sich im Eigentum des Bundesarchivs, Abteilung Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO), befindet, besteht vor allem aus Akten sämtlicher Zentralorgane sowie der regionalen Untergliederungen. Darin sind Protokolle und Schriftverkehr der Gremien, dazu Material zur Mitgliederstatistik und zur »Stimmung« in der Partei und deren Umfeld enthalten. Durch die interessierte und kooperative Haltung der Leitung, die hervorragenden Bestandskenntnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die fachgerechte Erschließung des Archivguts konnten alle Projektbeteiligten so man4 5 6
Dieses Forschungsvorhaben wird von Marlene Heihsel durchgeführt. Dieses Forschungsvorhaben wird von Franz-Joseph Hille durchgeführt. Dieses Forschungsvorhaben wird von Alexander Koch durchgeführt.
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chen Weg in Überlieferungssackgassen vermeiden und erhielten Hinweise auf ergiebige Bestandsgruppen. Durch die kurzen Aushebungszeiten und die offene und fachlich kommunikative Atmosphäre im Archiv sind für die historische Liberalismusforschung außergewöhnlich produktive Bedingungen gegeben. Das Zusammenspiel von Erschließung und effizienter Bereitstellung für die Forschung ist herausragend in der deutschen Archivlandschaft. Diese Bedingungen haben über die gesamte Projektbearbeitungsphase die Qualität der Untersuchungen entscheidend positiv beeinflusst. Auch die professionelle Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung mit weiteren Kooperationspartnern durch das ADL zusammen mit der Friedrich-Naumann-Stiftung hat einen großen Anteil am Gelingen der Projekte im Allgemeinen und dem Erscheinen dieses Bandes im Besonderen. Die in diesem Band versammelten Beiträge basieren auf der Idee, die gegenwärtigen Untersuchungen zur LDPD und zu den weiteren Blockparteien zu bündeln, ohne sie thematisch im Vorfeld auf einzelne Fragestellungen, Quellengattungen oder methodische Zugänge hin einzuengen. Ziel war es vielmehr, auf diese Weise aus multiperspektivischen Blickwinkeln heraus die Rolle der LDPD und der Blockparteien aufzufächern und so ihre Rolle im politischen System der DDR neu vermessen zu können. Die so entstandene Spannweite der Untersuchungen reicht dabei von der gesellschaftsgeschichtlichen, akteurszentriert-generations typolgischen Darstellung eines brandenburgischen Bürgermeisters mit »Blockparteibuch« über die herrschafts- und institutionengeschichtliche Untersuchung der Kaderpolitik in der LDPD-Parteizentrale bis hin zu experimentell-innovativen Konzepten wie der kontrafaktischen Geschichte eines sozialistischen Mehrparteiensystems in einer DDR des Jahres 1991. Auf diese Weise realisiert sich in dem Band der Dialog zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Forscherinnen und Forschern verschiedener methodischer Ansätze der zeitgeschichtlichen Forschung mit der übergreifenden Klammer der Blockparteien. Aus verschiedenen Gründen konnte nicht jeder der auf der Tagung gehaltenen Vorträge direkt als eigenständiger Beitrag im Band veröffentlicht werden. Bei träge anderer Kolleginnen und Kollegen, die an der Tagung nicht haben partizipieren können, haben wiederum mit ihren Analysen Eingang gefunden. Der Band lässt sich trotz dieser skizzierten Vielschichtigkeit dennoch in vier überspannende thematische Einheiten gliedern. Der Herausgeber des Bandes eröffnet in diesem einleitenden Beitrag die Untersuchungen zum sozialistischen Mehrparteiensystem in der DDR. Darin geht der Autor auf die Wechselwirkungen zwischen den beiden herrschaftsgeschichtlich zentralen Säulen des politischen Systems der DDR und der Liberaldemokratischen Partei ein. In einem ersten Schritt wird die ambivalente Rolle der LDPD als von den Herrschafts intentionen der SED bestimmten politisch-institutionellen Akteur einerseits und der von den Parteimitgliedern als gruppenspezifische Vertretungsinstanz wahrgenommenen Repräsentation ihres politischen Willens andererseits diskutiert.
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Mittels einer Typologie von verschiedenen Anspruchsebenen der SED steht im Mittelpunkt, ob die LDPD auf der Mesoebene der Bezirke Möglichkeiten eigensinniger politischer Handlungswirksamkeit entwickeln konnte oder ob sie den Herrschaftsstrategien der SED unterworfen blieb. In einem zweiten Schritt wird – ebenfalls auf der Bezirksebene – die kooperative Verflechtung von LDPD- Bezirksvorstandsmitgliedern mit dem MfS untersucht. Neben der Skizzierung der Motivlagen aufseiten von MfS und einzelnen liberaldemokratischen Bezirksvorsitzenden richtet die Analyse den Blick vor allem auch auf praxeologische Grenzen geheimdienstlicher Durchdringung. Die erste Sektion des Buches nimmt Phänomene auf, die explizit auf die LDPD bezogen sind und ihren inhaltlichen Schwerpunkt in den 1980er-Jahren hatten. Diese chronologische Klammer bietet den Raum für Analysen von Problemlagen der Liberaldemokraten, die sich vor dem Hintergrund der sich wandelnden innen- und außenpolitischen Verhältnisse in der Spätphase der DDR abspielten. David Bordiehn problematisiert in seinem Beitrag zur politischen Strategie der LDPD in den 1980er-Jahren die zu Beginn des Jahrzehnts initiierte Neu positionierung der Partei in ihrem Verhältnis zur SED. Der Autor hinterfragt die Rezeption dieser in der Forschung als Liberalisierungstendenz rezipierten Phase der Parteientwicklung. Um diesem Komplex näher zu kommen, beleuchtet Bordiehn vor allem das Denken und Handeln des Parteivorsitzenden Manfred Gerlach als entscheidendem politischen Akteur der Liberaldemokraten. In dem Beitrag wird argumentiert, dass ein Strategiewechsel hin zu mehr Selbst- und Mitbestimmung der Parteimitglieder nicht ohne Kenntnisnahme der SED hatte geschehen können, und herausgearbeitet, dass dieses Liberalisierungsstrategie paradoxerweise gerade Anteil an der Stabilität der SED-Diktatur bis in die Zeit der politischen Transformation und den Zusammenschluss mit der westdeutschen Freien Demokratischen Partei (FDP) 1989/90 hatte. In seinem Beitrag über das Geschichtsbild der LDPD analysiert Alexander Koch aus ideengeschichtlicher Perspektive das Geschichtsbewusstsein der Liberaldemokraten in den 1970er- und 1980er-Jahren. Ideologiekritisch waren bereits starke Tendenzen der Anpassung an die marxistischen Deutungsformen der Vergangenheit im Sinne der offiziellen Staatsdoktrin zu erkennen gewesen. Koch beschreibt unter Rückbezug auf die Rolle der LDPD, wie im Zusammenhang der unter DDR-Historikern geführten Diskussion über »Erbe und Tradition« die SED den Versuch unternahm, ein sozialistisches Nationalbewusstsein zu etablieren und in der Gesellschaft zu verankern. Der Autor beschreibt, dass das unter den ideologischen Vorzeichen der SED neu aufgesetzte historische Selbstverständnis der Liberaldemokraten jedoch beim Großteil der Parteimitglieder kaum verfing. Dies habe jedoch offenbar nicht an der unerschütterlichen Existenz traditionaler liberaler Wertbindungen innerhalb der LDPD gelegen, von denen, so Koch,
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a llein in der Phase der Parteigründung nach dem Zweiten Weltkrieg noch Spuren zu rekonstruieren gewesen waren. Franz-Joseph Hille richtet in seinem Beitrag den Blick auf die politische Transformationsphase der Jahre 1989/90 und geht auf die letztlich gescheiterten Bemühungen der Liberalen ein, ihre affirmative Haltung gegenüber der SED der zurückliegenden Jahre durch personalpolitische Schachzüge in den Hintergrund rücken zu lassen. Der Autor arbeitet an der Figur des ehemaligen Justizministers Kurt Wünsche zentrale Elemente der Vergangenheitspolitik der LDPD heraus. Diese bestanden in der Wendezeit vor allem darin, das Narrativ einer Partei zu etablieren, die sich trotz aller Angepasstheit immer auch durch eigensinniges politisches Handeln ausgezeichnet hatte. Hille zeichnet anschaulich nach, dass es der Partei trotz der Freiheiten im sich öffnenden politischen System an der Bereitschaft fehlte, die eigene Rolle im SED-Staat ernsthaft kritisch zu hinterfragen und ihr auch das nötige Feingefühl gegenüber den von der DDR-Justiz Betroffenen abging. Exemplarisch zeigte sich dies im Umgang mit der kritischen Berichterstattung über Wünsche in den Westmedien und dem trotzigen Festhalten an Wünsche, der von den Parteistrategen als »Projektionsfläche für Unangepasstheit in der Vergangenheit und politischen Erneuerungswillen in der Gegenwart« aufgebaut worden war. Die zweite Sektion löst sich vom chronologischen Rahmen der 1980er-Jahre im engeren Sinne und versammelt Beiträge, die einen gegenstandsbezogenen Bogen von der politischen Basis bis zur Parteispitze der LDPD schlagen. Ansatzpunkte sind biografiegeschichtliche, praxeologische und organisationsstruk turelle Fragestellungen. Michael Thoß verknüpft in seinem Beitrag am Beispiel des 1926 geborenen LDPD-Funktionärs Horst Lösler generationstypologische Fragestellungen mit Analysen zu Karrierewegen und politischen Handlungsspielräumen im kommunalen Raum. Der Autor ordnet Lösler der »Aufbaugeneration« zu, die sich durch eine bejahende Haltung zum Sozialismus ausgezeichnet und so der langfristigen Anpassung der Liberalen an die politischen Vorgaben der SED bereitwillig Vorschub geleistet habe. Thoß arbeitet heraus, dass es dem Funktionär vor allem durch seine Loyalität gegenüber zentralen LDPD-Parteibeschlüssen und besonders auch gegenüber der SED gelang, ein Netzwerk von politischen Beziehungen aufzubauen und zu festigen, das ihm Handlungsspielräume auf kommunalpolitischer Ebene eröffnete. Nicht außer acht lässt Thoß ebenfalls die Verstrickungen Löslers zum MfS. Marlene Heihsel richtet in ihrem Beitrag den Blick auf den Gothaer LDPD-Kreisverband. Aus einer netzwerkanalytischen Perspektive heraus erarbeitet die Autorin, wie im lokalen Rahmen eine Themen- und Personenkonzentration der aktiven LDPD-Mitglieder entstand, die im politisch-ökonomischen
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Bereich hauptsächlich auf persönlichen, inoffiziellen Verbindungen zwischen wirtschaftsleitenden Organen, staatlichen Einrichtungen und Volksvertretungen und dem Vorstand der LDPD Gotha sowie seiner Kommission Örtliche Versorgungswirtschaft (ÖVW)/Handwerk beruhten. In ihren Betrachtungen kommt Heihsel zu dem Befund, dass durch die Mitarbeit und Verbesserung der Arbeit im Bereich der ÖVW die LDPD im kommunalen Maßstab einen Beitrag zur Dämpfung der Unzufriedenheit der Menschen leistete und damit indirekt das SED-Herrschaftssystem stärkte. Im dritten Beitrag der zweiten Sektion beschäftigt sich Thomas Widera mit der Personalpolitik der LDPD. Der Autor rekonstruiert darin die Entwicklung von ideologisch zuverlässigen Parteifunktionären durch die Kaderabteilungen und beschreibt so eine der Kernaufgaben der Blockparteien: die Einbindung zielgruppenspezifischer Akteure in das über die engen Grenzen der SED hinausgehende politische System. In dem vor allem auf die institutionellen Ebenen fokussierten Beitrag wird herausgearbeitet, dass der Mauerbau im Jahr 1961 eine markante kaderpolitische Zäsur war. Die Rekrutierung neuer linientreuer Funktionäre professionalisierte sich anschließend durch den Einsatz von personalpolitischen Disziplinierungsmechanismen wie etwa politischen Beurteilungen, Qualifizierungsmaßnahmen und organisationsweit implementierten Bildungszirkeln. Das Prinzip des »Demokratischen Zentralismus« habe als Modus Operandi der Organisationskultur innerhalb der LDPD Einzug gehalten. Neben der politisch-ideologischen Zuverlässigkeit der Führungsgremien stellt Widera zugleich eine sich mit der Zeit wachsende Entfremdung zwischen Parteiführung und Basis fest und belegt, dass Unterordnung und Einfügung innerhalb der LDPD nicht vollauf im Selbstlauf geschahen. In der dritten Sektion sind Beiträge zusammengestellt, die sich von ihren Gegenständen und Fragestellungen her auf höchst unterschiedliche Weise dem Komplex des sozialistischen Mehrparteiensystems nähern und sich damit einer eindeutigen Einordnung entziehen. Die vornehmlich auf die Frühphase der DDR-Geschichte fokussierte lebensgeschichtliche Skizze des vom National so zialisten zum überzeugten Marxisten gewandelten Kulturfunktionärs und Schriftstellers Franz Fühmann steht neben der metahistorischen Analyse der Parteimitgliederstatistiken der LDPD in den späten 1980er-Jahren. Im letzen Beitrag wird über die Verbindung von quellengesättigter historischer Analyse mit hypothetisch-kontrafaktischer Geschichte ein abschließender Blick auf die Blockparteienlandschaft in der Spätphase der DDR geworfen. Christoph Schreiber beschäftigt sich in seiner Darstellung des Lebensweges von Franz Fühmann mit dessen persönlich-ideeller politischer Konversion. Der Autor beleuchtet durch die Schilderung von Fühmanns parteipolitischer Einbindung in der frühen DDR zugleich einen Teil der Geschichte der NDPD. Die wesentliche
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Funktion der 1948 gegründeten Partei, so Schreiber, lag in der Integration von Entnazifizierten, konservativen Kreisen und ehemaligen Wehrmachtsangehörigen in die DDR sowie in der Schwächung der »bürgerlichen« LDPD und CDUD. An der Reflektorfigur Fühmann zeigt der Beitrag auf, wie diffizil die Konstruktion einer überdauernden integrierenden Programmatik in einer von einer kleinen Elite aus politischem Kalkül heraus ins Leben gerufenen Partei gewesen ist. Ines Soldwisch problematisiert in dem Beitrag zu den Parteimitgliederstatistiken der LDPD als Forschungsproblem für Historiker die Aussagekraft dieser Quellengattung am Beispiel der Überlieferung der Bezirksverbände der LDPD Rostock, Schwerin und Neubrandenburg Ende der 1980er-Jahre. Die Autorin stellt in ihrer Analyse heraus, dass Dokumente aus der politischen Praxis der Partei stets in ihrer Ambiguität interpretiert werden müssen: Zum einen als »dienstliche Dokumente« zum internen Verwaltungsgebrauch, zugleich jedoch immer auch als hochpolitisiertes Schriftgut, das Aussagen über die ideologische Verfasstheit einer Blockpartei im Herrschaftssystem der DDR zulässt. Soldwisch operationalisiert diese These, indem sie die Mitgliederstatistiken auf ihren Aufbau, den Aussagewert und die politische Motivlage hinter den quantitativen Kennzahlen hin untersucht. Luise Güth entwirft in ihrem abschließenden Beitrag das kontrafaktische Szenario einer historischen Gegenwart des Jahres 1991. Ausgehend von den ab dem Jahr 1986 zu beobachteten Veränderungen in der DDR nimmt die Autorin zum einen mögliche Entwicklungen der DDR-Blockparteien in den Blick, die ohne die politische »Wende« von 1989/90 hätten stattfinden können. Die von der Autorin durchaus anerkannte Kritik am spekulativen Ansatz lässt sich zum anderen bei genauerem Hinsehen durch die im Beitrag gewählte Vorgehensweise relativieren. Güth legt in ihrer Analyse Quellenauswertungen und profunde Bestandsanalysen der Rostocker LDPD-, NDPD- und DBD-Bezirksverbände vor und leistet dadurch zugleich einen Beitrag zur Geschichte des sozialistischen Mehrparteiensystems im Zuge der sich anbahnenden Transformation von 1989/90.
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II. Herrschaftsansprüche der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR »Mit unserer vorbehaltlosen Zustimmung zu der auf dem X. Parteitag der SED entwickelten ökonomischen Strategie der achtziger Jahre stellen wir uns offensiv und realistisch den Anforderungen unserer Zeit, helfen wir mit, eine Gesellschaftsordnung weiter zu festigen, in der das Lachen des einen nicht mehr auf dem Weinen des anderen beruht. […] Wir alle, liebe Parteifreundinnen und Partei freunde, stehen in der Pflicht, als Bündnispartner der Arbeiterklasse und ihrer Partei der SED – der führenden Kraft unseres Landes – den konstruktiven Kurs kameradschaftlich miteinander […] zum Nutzen unseres gesamten Volkes fortzusetzen.«7
Mit diesem pathetischen Apell, getragen von der dezidierten Subordination unter die Herrschaft der SED, schloss Klaus-Peter Weichenhain im April des Jahres 1983 in Weimar eine Konferenz des Zentralvorstandes (ZV) der LDPD mit den 214 Kreisvorsitzenden aller 15 Bezirke der DDR. Weichenhain, der nach dem Studium und anschließender Anstellung als Lehrer bereits im Alter von 26 Jahren in Frankfurt (Oder) in den hauptamtlichen Parteidienst der LDPD eintrat, wurde im Jahr 1975 mit 34 als einer der jüngsten Vorsitzenden überhaupt im Grenzbezirk Suhl eingesetzt. Er war in der parteiinternen Kadernomenklatur rasch emporgekommen. Dies war zum einen seinem rhetorischen Talent, zum anderen jedoch besonders seinem politischen Aufstiegswillen und dem anhaltend demonstrativen Eintreten für die ideologische Linie der »Bündnisfrage« und damit der Unterstützung der SED-Herrschaft in der DDR geschuldet. Zuvor bereits an sämtlichen Instanzen LDPD-interner Parteischulungseinrichtungen8 ausgebildet, erhielt er schließlich mit 40 Jahren das Angebot, seinen Posten in Suhl zu räumen und als Sekretär in den Zentralvorstand in Berlin aufzurücken. Diese Karrierechance ließ er sich nicht entgehen. 1981 war er im Kreis der Parteispitze der LDPD angekommen. Ideologisch-agitatorische Überzeugungsarbeit wie in der eingangs zitierten Ansprache hatte Weichenhain nicht nur unter den hauptamtlichen Parteifunktionären geleistet. Auch in der Öffentlichkeit hatte er sich noch als Bezirksvorsitzender immer wieder mit vergleichbaren Zeitungsartikeln und Vorträgen 7
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Schlusswort Weichenhain auf der Weimarer Konferenz des Zentralvorstands der LDPD mit den Kreis- und Stadtbezirksvorsitzenden am 13.4.1983, o. D. (SAPMO, Nachlässe, NY 4631 Vol. 4, Bl. 11 f.). Eine erste Version der folgenden Ausführungen zum Verhältnis von SED und LDPD erschien unter dem Titel »Zusammenarbeit« als Gefolgschaft. Über Herrschaftsansprüche der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 28 (2016), S. 361–373. Für wertvolle Kritik, Hinweise und Anregungen sei an dieser Stelle Jürgen Frölich und Ewald Grothe vom AdL herzlich gedankt. Weichenhain besuchte 1964, 1965 und 1966/67 Lehrgänge an der zentralen LDPD-Partei schule »Wilhelm-Külz« in Bantikow, vgl. den Abschlussbericht der Abteilung XX des MfS vom 19.10.1976 (BStU, AOPK 564/80, Bd. I, Bl. 217).
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zur Rolle der LDPD im Sozialismus und zum Selbstverständnis der Blockpartei hervorgetan: »Unmittelbar an der Scheidelinie zwischen Sozialismus und Imperialismus, im Grenzbezirk Suhl lebend, können wir aus unserem persönlichen Leben die Feststellung, dass wir alle [...] in einer Zeit schärfster Klassenauseinandersetzung leben, bestätigen.« So klingt etwa ein mit dem Titel »Wir haben die Freiheit im wahrhaftigen Sinne« überschriebener Presseartikel Weichenhains aus dem Jahr 1977 an.9 Wie doppelbödig jedoch der Begriff der Freiheit – in diesem Fall auch für den ranghohen Funktionär Weichenhain persönlich – gewesen ist, lässt sich h eute, viele Jahre nach dem Ende der DDR und der damit verbundenen Öffnung der Archive, in der BStU nachvollziehen. Dort befindet sich mit einem rund 700 seitigen, vier Bände umfassenden Vorgang der »Archivierten Operativen Personenkontrolle« (AOPK) zu Weichenhain ein – auch in diesem Umfang singuläres – Zeugnis darüber, wie fehlgeleitet dessen propagierter, an Theoreme des Marxismus-Leninismus angelehnter Freiheitsbegriff gewesen ist. Während der ehemalige Bezirksvorsitzende sich sicher wähnte, mit der Verbreitung der einheitssozialistischen Dogmen in den Reihen der eigenen Mitgliedschaft und der weiteren Öffentlichkeit den Ansprüchen der »führenden Arbeiterpartei« Genüge zu tun, lief hinter den Kulissen ein – wie es in der Sprache des MfS hieß – »konspirativer Vorgang zur Aufklärung und Überwachung« gegen ihn. Und dies bereits über einen Zeitraum von über zehn Jahren.10 Diese nicht zu lösende Ambivalenz von Freiheit und Kontrolle, Autonomie und Abhängigkeit kann als symptomatisch für die LDPD in den Bezirken der DDR betrachtet werden. Ambivalenzen und Brüche ziehen sich wie ein roter F aden durch die Geschichte dieser – im SED-Jargon so bezeichneten – »befreundeten Partei«. Nicht nur bezogen auf das politische Agieren der Liberaldemokraten in den Bezirken insgesamt und besonders deren führenden Bezirksfunktionären, sondern auch im ideellen Sinne des Selbstverständnisses der Parteifunktionäre und der einfachen Parteimitglieder. Das noch von bürgerlich-liberalen Posi tionen getragene Eisenacher Programm war zwar bereits 1953 auf dem V. Parteitag der LDPD in Dresden über Bord geworfen worden.11 Fortan verfügte die LDPD außer einer Reihe von Grundsatzerklärungen formal über kein eigenes Programm mehr und die Parteiführung rief ihre Mitglieder immer wieder zur Anerkennung der »Normen der sozialistischen Moral und Ethik« und der »so zialistischen Gesellschafts- und Machtverhältnisse«12 unter der Führung der SED 9 10 11 12
Der Morgen vom 5./6. 3.1977 (SAPMO, Nachlässe, NY 4631 Vol. 2, unpag.). Die Sammlung der AOPK in der BStU beginnt mit dem Überlieferungsjahr 1967 und reicht bis zum Jahr 1980. Ziel war es, die politische Zuverlässigkeit des Funktionärs dauerhaft zu überwachen. Vgl. BStU, BV Suhl, AOPK 564/80, Bd. I–IV. Vgl. Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien, S. 2404. Vgl. ebd., S. 2405.
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auf. Jedoch blieb die LDPD, sei es wegen des Attributes »liberal« als »historischem Relikt« im Parteinamen,13 sei es wegen der Interessenvertreterfunktion für diejenigen Schichten in der DDR, die als »Mittelstand«14 wenig Bindung an den sozialistischen Staats- und Gesellschaftsentwurf der SED hatten, eine gespaltene Partei. Sowohl während des Untersuchungszeitraumes unseres Projektes vom Mauerbau 1961 bis zur Wende 1989, als auch bereits zuvor blieb, wie es Gerhard Papke 1995 formulierte, vor allem die kaum aufzulösende »Diskrepanz zwischen der Führung und den Mitgliedern eine feste Konstante«.15 Nimmt man die eingangs zitierten Ausführungen in der Rede Klaus-Peter Weichenhains inhaltlich noch einmal näher in Augenschein, erkennt man darin deutlich die Züge der Ende der 1980er-Jahre vom Parteivorsitzenden Manfred Gerlach zusammengefassten, formal an den vulgärmarxistischen Duktus der SED erinnernden »fünf unverrückbaren Grundsätze« der Politik der LDPD. Diese lauteten zusammengefasst wie folgt: »1. Grundsatz: Die LDPD erkennt die führende Rolle der SED an – ›aus Erfahrung, aus historischen Gründen, aus Einsicht in gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten und mit Blick auf die Perspektive unseres Volkes.‹ 2. Grundsatz: Die LDPD trägt die Arbeiter- und Bauern-Macht mit, die Alternative zur Herrschaft der Bourgeoise auf deutschem Boden. 3. Grundsatz: Die LDPD leistet ›auf eigenständige Weise‹ einen ›höchstmöglichen Beitrag‹ zur ›Entwicklung des Sozialismus‹. 4. Grundsatz: Die LDPD vertieft sozialistische Grundüberzeugungen und Liebe zum sozialistischen Vaterland. 5. Grundsatz: Die LDPD geht davon aus, dass die ›deutsche Frage politisch entschieden ist. Die DDR verkörpert alles Fortschrittliche in der deutschen Geschichte und nationalen Zukunft.‹«16
Das Formulieren und besonders das Propagieren dieser Dogmen, die ohne Abweichung der von der SED für die Liberaldemokraten vorgesehenen ideologischen Position entsprachen, war ein dezidierter Herrschaftsanspruch der SED an die LDPD. Ihre Funktionäre auf Bezirksebene – und keineswegs nur dort – wurden aus der Sicht der SED ihrer Rolle als »befreundete« Partei immer dann gerecht, wenn sie sich »vor allem der politisch-ideologischen Arbeit zur Klärung
13 Vgl. ebd., S. 2406. 14 In der DDR hatte es selbstverständlich aus dem ideologischen Grund des Egalitätspostulates offiziell keinen solchen »Mittelstand« gegeben. 15 Gerhard Papke, Die LDPD. Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien – Die LDPD. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung. Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II/4, Baden-Baden 1995, S. 2399–2463, hier S. 2406. 16 Aus der Arbeit des Politischen Ausschusses und des Sekretariates des Zentralvorstandes, Neue Beschlussakte. In: LDPD-Informationen 11/88, S. 6.
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der Grundfragen der Politik unseres sozialistischen Aufbaus und der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus immer zielstrebiger zuwenden.«17 Diese zitierte Zuschreibung hatte der gerade von einer Sitzung des Zentralkomitees in Berlin zurückgekehrte 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin, Bernhard Quandt, den versammelten Parteimitgliedern der Liberaldemokraten des Bezirkes Schwerin auf deren Bezirksparteitag im Winter des Jahres 1971 in die Notizbücher diktiert. Der Inhalt des Zitats von Bernhard Quandt leitet unmittelbar über zu den Herrschaftsansprüchen der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR im engeren Sinn. Die mannigfaltigen impliziten und relativ überschaubaren expliziten Vorgaben der SED an die LDPD, die man in den Beständen des ADL sowie in den verschiedenen Landesarchiven Ostdeutschlands zusammentragen kann, lassen sich zu vier idealtypischen Herrschaftsansprüchen verdichten. Diese sollen im Folgenden kursorisch vorgestellt und drei davon anschließend näher ausgeführt werden. Der erste zu nennende – und vielleicht auch der wichtigste – Anspruch der SED an die LDPD bestand darin, dass die Funktionäre der LDPD innerhalb der Mitgliederschaft im Allgemeinen und in der der Partei zugewiesenen Bevölkerungsschicht des »Mittelstandes« im Besonderen (Handwerker, »Intelligenz«, private Gewerbetreibende) als Katalysator der politischen Ideologie und der politischen Linie der SED in den Bezirken zu wirken hatten. Der LDPD kam so die Rolle als sozialistisches Indoktrinationsinstrument in einem gesellschaftlichen Teilsegment zu. Der Begriff des Transmissionsriemens, den man in der Literatur zu den Blockparteien in der DDR häufig findet, seit ihn Dietrich Staritz Anfang der 1980er-Jahren in die Diskussion eingebracht hat, soll hier bewusst vermieden werden. Der zweite Anspruch der SED an die LDPD bestand darin, dass die Liberaldemokraten dafür sorgen sollten, im Rahmen der berufsbezogenen und wirtschaftspolitischen Zielgruppenzuordnung innerhalb ihrer Klientel sowohl punktuelle, als auch dauerhafte, zuvor freilich von der SED entweder angestoßene oder zumindest autorisierte Impulse zum konkreten Wirtschaftswachstum in den Bezirken der DDR zu initiieren. Auf diese Weise war es nach dem Willen der SED an der LDPD, ihren Beitrag zu leisten bei der Lösung spezifischer »Grundfragen unserer politischen und ökonomischen Entwicklung«, wie es ein Bezirksvorsitzender im Jahr 1974 formulierte.18 Der dritte Anspruch der SED bestand darin, von der LDPD aus den Bezirken Rückkoppelungen und Resonanzen ihrer zentralistisch-dirigistischen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu erhalten. Geschehen sollte 17 18
Diskussionsbeitrag des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Schwerin auf dem Bezirksparteitag der LDPD am 20.11.1971 (LHSA, Bestand 10.34–3, Bd. 3, Akte 2272, Bl. 1). Einschätzung der am 18.10.1974 durchgeführten BDK [Bezirksdelegiertenkonferenz] der LDPD in Dresden durch das Sekretariat des Bezirksvorstands der LDPD Dresden, o. D. (HStAD, Bestand SED-Bezirksparteiarchiv, V/C/2/15/695, Bl. 4).
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dies zum einen über die Weiterleitung von Alltags- und Praxiserfahrungen durch LDPD-Funktionäre und LDPD-Mitglieder, etwa anhand von Informationsberichten. Besonders aber – und dies spielte offenbar eine weitaus gewichtigere Rolle – geschah dies über die von den Bezirksvorständen an die SED-Bezirksleitungen eingereichten »Vorschläge«. Mit diesem Terminus bezeichnete man zum Teil sehr umfassende Aufstellungen von vor allem wirtschaftspolitischen Problemkreisen und darauf bezogene Verbesserungsstrategien aus den jeweiligen Bezirksverbänden. Das Ziel der SED war es, über die territorial strukturierte LDPD ein Feedback aus den Bereichen zu bekommen, wo ihr unmittelbarer Einfluss durch das Betriebsgruppenprinzip nicht groß genug gewesen ist. Auch hier sind besonders das Handwerk und das private Gewerbe zu nennen. Die Staatspartei versuchte sich dadurch in die Lage zu versetzen, etwaige politische Fehlentwicklungen der eigenen Politik genauer zu registrieren und im Bedarfsfall zu korrigieren bzw. unter Kontrolle zu bringen. Ein vierter Anspruch der SED an die LDPD – und dieses Faktum bezog sich generell auch auf die übrigen Blockparteien – bestand in dem dauerhaften und engagierten Aufrechterhalten der »Suggestion sozialistischer Pluralität«19 im vermeintlichen Mehrparteiensystem der DDR. Die aktive und öffentlichkeitswirksame Ausführung dieser Funktion durch die LDPD war Teil der Legitimitätsinszenierung des SED-Staates als Ganzem. Durch die Teilnahme an diesem Spiel, das innenpolitisch etwa durch die Agitationsarbeit im Vorfeld von Volkskammer-, Bezirkstags- oder Kreistagswahlen besondere Strahlkraft entfalten sollte, das aber auch durch Kontakte der LDPD in das sozialistische Ausland und besonders durch das deutsch-deutsche Verhältnis zur FDP untermauert wurde, hatte die LDPD somit ihren Beitrag zur Legitimationsstiftung und Stabilisierung des DDR-Regimes zu leisten. Nun zunächst zum ersten Punkt, der Funktion als Ideologiekatalysator. Diese hier etwas technizistisch bezeichnete Erkenntnis scheint zunächst wenig überraschend. Bereits in den 1980er-Jahren schrieb Peter Joachim Lapp der LDPD die Funktion als gesinnungsmäßige »Gefolgschaftspartei«20 zu. Es ist jedoch freilich schwierig, ex post die Wirkmächtigkeit der ideologischen Einflussnahme der LDPD-Bezirksvorstände auf die nachgeordneten Funktionäre und damit wiederum auf die politischen Überzeugungen der Parteimitglieder insgesamt in den Kreisen, Städten und Kommunen nachzuvollziehen. Gerade die Quellen gattung der »Stimmungsberichte aus den Kreisen«, in denen die Meinungen der einfachen Parteimitglieder für die Berichterstattung der Bezirksvorstände »nach oben« an den Zentralvorstand dokumentiert sind, lassen in ihrem »ausbalancier19 Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien, S. 2436. 20 Peter Joachim Lapp, Die »befreundeten Parteien« der SED. DDR-Block-Parteien heute, Köln 1988, S. 16.
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ten« Verhältnis von dezidierter Zustimmung zur Politik der SED-Führung sowie den ebenfalls aufgeführten kritischen Stimmen wenig Raum zur Eruierung der eigentlichen ideologischen Haltung der »Basis«. Unabhängig davon, wie hoch der tatsächliche Grad der Indoktrination der Mitglieder durch die politische Agitationstätigkeit der LDPD auch gewesen sein mag: Ideologisierung bedeutete ja im politischen Alltagshandeln – abgesehen von der Schulung an den Parteibildungsstätten – vor allem die Erläuterung und Einordnung der Beschlüsse der SED unter den einfachen Parteimitgliedern. Mit diesen kontinuierlichen Anstrengungen, koordiniert durch Bezirksvorstände, erzielte die Partei einen Effekt, welcher der Herrschaftsstabilisierung des SED- Regimes jenseits von reinen Gesinnungsfragen nutzte: Die Adressaten ideologischer Indoktrination wurden zu Sendern gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Problemlagen. »Ihr spezifischer Platz im sozialistischen Mehrparteiensystem der DDR«, so heißt es in einem Bericht der Abteilung Befreundete Parteien des ZK der SED aus dem Jahr 1969, »ist dadurch bestimmt, dass sie […] ideologisch-politischen Einfluss auf die Bündnispartner der Arbeiterklasse nehmen und sie so zu befähigen, ihre ganze Kraft und ihr ganzes Können in den Dienst unserer gemeinsamen sozialistischen Sache zu stellen.«21 Viel mehr als um die Schaffung »sozialistischer Persönlichkeiten«22 und die Verbreitung der marxistisch-leninistischen Theorie ging es der SED um die Herstellung des dauerhaften unmittelbaren Kontakts der LDPD-Funktionäre zur Parteibasis – und damit letztlich um handlungsbezogene politische Praxis. In einem Zeitzeugengespräch mit dem langjährigen Dresdner Bezirksvorsitzenden der LDPD, Joachim von Jagow, der von Anfang der 1970er-Jahre bis 1990 amtierte, wurde deutlich, welche pragmatischen Konsequenzen die Ideologisierungsarbeit der LDPD hervorbrachte. Auf die Frage nach der Bedeutung der Ideologiesierung berichtete dieser wie folgt: »Wenn man das so will, wollte sie [die SED], dass wir politisch-ideologisch in den Schichten wirksam werden, und sie praktisch in den Aufbau der neuen Gesellschaft begleiten, oder sie mitnehmen. Wir haben nie von der kommunistischen Gesellschaft geredet – wird ja oft gesagt, DDR ist gleich kommunistische Gesellschaft, das ist alles Quatsch! Wir waren noch nicht mal bei der entwickelten sozialistischen Gesellschaft! Ich rede eigentlich von der sozialistischen Gesellschaft. Das Ziel war, diese sozialistische Gesellschaft zu gestalten. Dass das dann in die Hose ging, ist eine ganz andere Frage. Und dass war das Ziel. Und ich glaube, dass der Anspruch an uns vonseiten der SED darin bestand, diese Schichten mitzunehmen auf dem Weg in die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. […] Und wenn du das machst, wenn du dann mit dem Handwerker, dem Gewerbetreibenden die Fragen
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Bericht der Abteilung »Befreundete Parteien« des ZK der SED, undatiert (SAPMO, DY 30/IV A 2/15/15, unpag.). Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien, S. 2432.
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der Zukunft berätst, dann kommen die Kritiken von dem Einzelnen ›ja das müsste besser und das und das geht nicht‹ und so weiter und sofort. Und daraus entstehen dann praktisch auch wiederum die Forderungen, dass das zu verändern ist, damit wir das machen können.«23
Also aus dem ideologischen Prinzip, so lässt sich aus den Schilderungen des Bezirksvorsitzenden von Jagow schlussfolgern, entwickelte sich durch den Kontakt der Funktionäre mit den Mitgliedern ein sachbezogenes Faktum als Rückmeldung, das dann einfließen konnte in den politischen Gang der Entscheidungsprozesse der LDPD-Führung und damit letztlich auch der Führung der SED. Auf diese Interpretation hin im Interview angesprochen stimmte von Jagow nach einer längeren Zeit des Nachdenkens zu: »Jaja. Ja, das ist der Kreislauf gewesen.«24 Es deutet sich nach den bisherigen Untersuchungen an, dass die Strategie der ideologischen Einflussnahme mittelbar auch im ideellen Nichterfolgsfall beim Einzelnen den oben beschriebenen Nutzen einer praxisbezogenen Stabilisierung des sozialistischen Herrschaftssystems der SED ganz wesentlich mitgeprägt hat. Nun zum zweiten Punkt, der Funktion als Wachstums-Initiator. Es konnte nur Positives berichtet werden nach Berlin, nachdem am 18. Oktober1974 der Vorsitzende der LDPD des Bezirks Dresden sein Referat auf der Delegiertenkonferenz seines Bezirksverbands gehalten hatte. Der zweistündige Vortrag wurde als »parteilich, erzieherisch und als Einheit von Bilanz und Orientierung eingeschätzt.« Es sei, so heißt es weiter in dem Bericht an den Zentralvorstand der LDPD, »kritisch, polemisch, konstruktiv« gewesen und habe die Delegierten dazu »begeistert«, »die künftigen Aufgaben noch besser zu lösen.«25 Im Vorfeld war der Referent zu einem als »Konsultation« bezeichneten Treffen geladen gewesen, das von dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung geleitet wurde. Weitere Teilnehmer dieser »Konsultation« waren die SED-Bezirks sekretäre der Abteilungen Wirtschaft, Agitation und Propaganda und Staat und Recht. Zusätzlich nahmen noch der zuständige Mann des Wirtschaftsrats des Bezirkes und der Bezirksbaudirektor, die ebenfalls beide SED-Mitglieder waren, teil. Der LDPD-Funktionär traf also auf das nahezu gesamte politische »Who is who« des Bezirkes. Aus diesem Gespräch ging der Bezirksvorsitzende dann mit einer ganzen Liste von »zu berücksichtigenden Hinweisen« heraus, die er kurze Zeit später auf der Delegiertenkonferenz seinen Parteifunktionären als eigene politische Agenda zu verkünden hatte.26 Zur Veranschaulichung hier ein kurzer Überblick über diese praxisbezogenen politischen Vorgaben der SED, bei deren »Lösung die LDPD im Bezirk entsprechend ihrer«, so formulierte es der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung 23 Interview Tilman Pohlmann mit Joachim von Jagow vom 22.5.2015. 24 Ebd. 25 Bericht des Bezirksvorstands der LDPD Dresden an den Zentralvorstand der LDPD vom 18.10.1974 (HStAD, Bestand SED-Bezirksparteiarchiv, V/C/2/15/695, Bl. 2–5). 26 Ebd., Bl. 2.
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Hans Modrow, »spezifischen Möglichkeiten einen bedeutenden Beitrag leisten kann.« Solche waren etwa »die Verstärkung der Anstrengungen auf dem Gebiet der Dienstleistungen, insbesondere der Textilreinigung und der Versorgung der Bevölkerung; die Mithilfe bei der Sicherung des Wohnungsbauprogramms, der Werterhaltung einschließlich des Um- und Ausbaus sowie Erhöhung der Zahl der Kindergarten- und Krippenplätze.«27 Ein weiterer Bereich betraf die »Entwicklung der sozialistischen Demokratie und der Arbeit mit den Abgeordneten«. Dies beides sei »weiter zu qualifizieren«, wie der 1. SED-Bezirkssekretär betonte. Das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen müsse »gründlicher angewendet und ausgenützt zu werden, der Erfahrungsaustausch und die Lösung solcher Aufgaben wie der territorialen Rationalisierung seien zielstrebig zu organisieren. Große Aufmerksamkeit müsse auch dem Erholungswesen gewidmet werden.« Die LDPD hatte im Rat dieses Bezirkes in den 1970er-Jahren die Leitung des Ressorts Erholungswesen inne.28 Diese Beispiele belegen die konkrete Erwartung der SED an die LDPD zum politisch-gelenkten Handeln bis in einzelne Segmente von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Gleichermaßen wie die Erfüllung von Aufträgen politischer Anleitung forderte die SED jedoch punktuell auch die wachstumsbezogene Eigeninitiative der liberalen »befreundeten Partei« im – wie es hieß – »Bezirksmaßstab« ein. Diesem Anspruch kam die LDPD immer wieder nach. Das folgende Beispiel illustriert dies: 1975 wurde vom Dresdner LDPD-Bezirksvorstand eine Analyse über die Produktivität der Backwarenbetriebe angefertigt. Als verantwortliches Segment des alltäglichen Bedarfs hatte das Backwarenhandwerk für die Bevölkerung des Bezirks eine große Bedeutung. Mitte der 1970er-Jahre wurde die Versorgung der Bevölkerung mit Backwaren laut einer Aufstellung der LDPD zu über 50 Prozent durch das private Bäckerhandwerk abgedeckt. Der bereits erwähnte Bezirksvorsitzende der LDPD von Jagow erinnert sich daran wie folgt: »So, und da juckte uns das schon, wie die Ausrüstung der Bäcker veraltete und keine neue nachkam. Das war völlig ungenügend. Zum Beispiel bei den Backöfen. Das waren noch alles Kohlebacköfen! Da haben wir mit den Kreisen und mit den Parteimitgliedern, die Bäckereien hatten eben eine Analyse gemacht und mal […] aufgelistet, was benötigt wird an Ausrüstung, auch bei steigendem Bedarf. So. Und sind mit dieser Liste zu ihm hingezogen [gemeint ist der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow] und haben das auf den Tisch gelegt. Und unser Hintergedanke war darüberhinaus, dass die im Bezirk ansässigen volkseigenen Betriebe, die ähnliche Dinge produzierten, aus der Überproduktion mal für den Bezirk was zur Verfügung stellen und damit mal mehr herauskommt als normalerweise über die Plankommission. Und da hat er zugestimmt. Aber das musste er natürlich auch erst über Berlin regulieren. Und da ist dann schließlich auch nichts daraus geworden, weil er dann oben eben auch nicht durchkam.«29
27 Ebd., Bl. 5. 28 Ebd. 29 Interview Pohlmann mit von Jagow vom 22.5.2015.
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An diesem Fall wird zweierlei deutlich. Erstens, dass die LDPD auf Bezirks ebene nicht wie oben skizziert nur auf Anweisung, sondern durchaus auch eigeninitiativ Klientelpolitik betrieben hat und dabei versuchte, ihre marginalen Handlungsspielräume zu nutzen. Zweitens, dass es auch auf der Anspruchsseite der SED durchaus Differenzen innerhalb der verschiedenen Parteihierarchiestufen gegeben hat, die im Einzelfall genau zu beurteilen sind. Dass der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung im angesprochenen Beispiel laut der Schilderung des ehemaligen Bezirksvorsitzenden der LDPD »in Berlin auch nicht durchkam« – also bei der Fachabteilung des ZK der SED bzw. dem Politbüro und der staatlichen Plankommission – verweist auf die Prärogative der Spitzengremien im SED-Regime gerade im Bereich der Wirtschaftsplanung, die jeglichen Bottom-Up-Impulsen einen Riegel vorschieben konnten. Dennoch waren diese politischen Initiativen der LDPD von der SED durchaus gewollt. Dies leitet über zu dem dritten und letzten hier ausführlicher dargestellten idealtypischen Herrschaftsanspruch der DDR-Staatspartei an die Liberaldemokraten: der Funktion der LDPD als Praxisindikator. »Wir sind entschlossen, die Aufgaben, die die Bezirksdelegiertenkonferenz Gera der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschließen wird, als Bündnispartner in Ehren erfüllen zu helfen.«30 Mit dieser verbalen Devotionsgeste vorauseilenden Gehorsams schloss Raimund Kolbe, der Bezirksvorsitzende der Geraer LDPD, im Frühjahr 1986 sein persönliches Anschreiben an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung. Anbei sendete er ein umfangreiches Dokument, dessen Inhalt nach gegenwärtigem Erkenntnisstand das Maximum formal-politischer Einflussmöglichkeit der liberaldemokratischen Politik auf Bezirksebene enthielt: die »Vorschläge und Hinweise« der LDPD an die SED. Zusammengetragen aus Einzelfallanalysen, monatlichen Informationsberichten, Abschlussberichten der Jahreshauptversammlungen, Kom missionsberichten, persönlichen Unterredungen und Beschlüssen der Sekretariate der Bezirksvorstände der LDPD spiegelten diese Vorschläge zum einen sachbezogene, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Problemlagen aller Politikfelder der Bezirke wider und gaben so der SED entscheidende Rückkoppelung zu fehlgeleiteten Konzeptionen ihrer zentralistisch-autoritären Politikführung. Zum anderen boten sie zugleich unmittelbare Lösungsvorschläge der Liberaldemokraten für eben diese Probleme an. Der Sekretär für »Befreundete Parteien« der SED leitete diese Vorschläge nach Erhalt innerhalb der SED-Bezirksleitung an die entsprechenden Fachabteilungen weiter, von wo aus sie dann an das Sekretariat zur weiteren Beschlussfassung gingen. In Antwortschreiben der SED an die Bezirksverbände der LDPD wurden die eingegangenen Vorschläge dann kommentiert und bewertet, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: 30 Vorschläge des Bezirksvorstandes Gera der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands an die Bezirksleitung Gera der Sozialistischen Einheitspartei vom 8./9.2.1986 (ADL, LDPD, 33031, Bl. 4).
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Vorschlag: Zur materiellen Versorgung der PGH [Produktionsgenossenschaft des Handwerks] und privaten Handwerksbetriebe: Es sollte geprüft werden, inwieweit durch gezielte Leistungsmaßnahmen eine sortiments-, qualitätsund zeitgerechte Bereitstellung benötigter Materialien, Ersatzteile und Werkzeuge dauerhaft gesichert und verbessert werden kann. So sollten ab 1988 – die Bedarfsermittlung und Materialplanung im Handwerk selbst ausgebaut und qualifiziert werden; – Möglichkeiten geschaffen werden, dass PGH, ELG [Einkaufs- und Liefergenossenschaften] und Handwerksbetriebe direkt im Einzelhandel solche Werkzeuge und Kleinmechanismen kaufen können, deren Angebot die Nachfrage der Bevölkerung übersteigt bzw. überlagert sind (länger als 1 Jahr); – Überplanbestände im Handwerk, die im Ergebnis diskontinuierlicher Bereitstellung durch den Produktionsmittelhandel oder die Industrie entstehen, generell nach den Kreditbestimmungen für im volkswirtschaftlichen Interesse liegende Überplanbestände mit Zinsabschlägen kreditisiert werden. Antwort: Verwirklicht werden könnten jene Vorschläge, die die Bedarfsermittlung und die Bedarfsanforderung betreffen. Nicht akzeptiert werden kann der Vorschlag, dass Handwerksbetriebe überlagerte Werkzeuge oder Kleinmechanismen im Einzelhandel kaufen dürfen. Hierzu müssten die Materialbörsen genutzt werden. Nicht akzeptiert werden kann auch der Vorschlag, Überplanbestände, die aus o. g. [oben genannten] Gründen im Handwerk entstehen, generell nach den Kreditbestimmungen für in volkswirtschaftlichem Interesse liegenden Überplanbeständen mit Zinsabschlägen zu kreditisieren.«31
Diejenigen Impulse, die nicht bereits im Vorfeld am Veto der SED scheiterten, hatten prinzipiell also die Chance, über die verschiedenen ständigen Kommissionen der Bezirkstage Eingang in die legislativen Gesetzgebungsverfahren zu finden. Dies geschah jedoch vielfach entweder mit großer Verzögerung oder wurde textuell bis zur Unkenntlichkeit innerhalb der SED-Apparate entfremdet und ließ dann häufig kaum mehr die Urheberschaft der LDPD erkennen. Dazu sei noch einmal aus dem Interview mit dem ehemaligen Dresdner Bezirksvorsitzenden der LDPD von Jagow zitiert: »Das Feedback war – das gab es, aber ich will mal sagen, was mit a und b und c werden soll, das ist ein bisschen nebulös gewesen. Du hast dann natürlich – es gibt da ein Beispiel, wir haben mächtig gekämpft, dass die steuerliche Anerkennung der Löhne der mithelfenden Ehefrauen durchkommt. Das ist dann auch realisiert worden, aber über welche Umwege und welchen Zeitraum der Realisierung, das kann ich jetzt nicht mehr sagen, das weiß ich nicht mehr so genau. […] Das ist schon etwas deprimierend, wenn man seine eigenen Ideen nicht durchbekommt. Ist aber auch auf der anderen Seite – und das dann zunehmend – der Beweis, dass du eben keinen großen Einfluss nehmen kannst. Und du stehst dann auch an der Basis Rede und Antwort, du wirst ja dann auch gefragt auf den nächsten Mitgliederversammlungen: ›Das hat sich immer noch nicht verbessert?‹ So ungefähr. Das zu begründen, da resignierst du und sagst: Das kannst du nicht ändern. Zum großen Teil wurde das ja immer [vonseiten der SED] mit Schwerpunkten, die gegenwärtig woanders liegen, finanziellen Möglichkeiten, die nicht da sind usw. und sofort begründet. Da gibt es natürlich auch manchmal, je nachdem wie groß das Hemd ist, auch die Einsicht: ›Na gut, dann machen wir es im nächsten Jahr.‹
31 Antwortschreiben der SED an den Bezirksvorstand Gera der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands vom 10.4.1986 (ADL, LDPD, 33031, Bl. 18–20).
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Und dann passiert auch wieder nichts. Schwer zu sagen. Das ist ein zähes Ringen immer wieder, der Wille, das noch einmal zu versuchen oder praktisch mit anderen Lösungen auszubessern bis zu dem Punkt, wo du eben in den 1980er-Jahren dann sagst: Es geht nicht mehr. Es geht nicht mehr. Ja? Und – diese Einsicht, dass die volkseigene Wirtschaft mit ihrem sozialistischen Wettbewerb nicht in der Lage ist, mit der freien Konkurrenz gleichzuziehen, ist dann eine Einsicht, die am Ende, die in letzter Konsequenz, zu 1989 geführt hat.«32
Die einzig ernst zu nehmende Form strukturellen politischen Initiativhandelns für die LDPD waren dennoch genau diese »Vorschläge«, die sich letztlich deckten mit dem Anspruch der SED auf Resonanz aus den ihr fernstehenden Schichten in den Kreisen und Bezirken der DDR. In Bezug darauf, welcher Art diese Vorschläge waren, verfügte die LDPD durchaus über einen gewissen Grad an politischem Spielraum, die Realisierbarkeit hing jedoch ausschließlich an den Entscheidungswegen und den Positionen innerhalb der SED, die politische Autonomie verlief nur innerhalb des von der SED gesteckten Rahmens. Es mutet daher schon paradox an: Gerade dadurch, dass die LDPD im Bezirksmaßstab punktuell Initiative und relativ autonome politische Vorstellungen entwickeln konnte, degenerierte dies vom Ergebnis her durch die Filterstruktur des Herrschaftsapparates der SED zu instrumentalisierter Zuarbeit und damit letztlich zu eigenmachtloser Herrschaftsstabilisierung. Von der LDPD konnte in den Bezirken der DDR jenseits der ihr durch die SED zugedachten Funktionen keine »eigensinnige« politische Handlungswirksamkeit erreicht werden. Die politischen Freiräume waren von der herrschenden Staatspartei der Einheitssozialisten bewusst gesetzt. Darüber hinausgehende Einflussmöglichkeiten konnten die Liberaldemokraten auf Bezirksebene nicht für sich reklamieren. Damit fand sich die Partei letztlich während des gesamten Untersuchungszeitraumes ab. Selbst im Sommer 1989, als die DDR bereits im Begriff war, sich vor aller Augen aufzulösen, belegen verschiedene Treffberichte von Bezirksvorsitzenden der LDPD mit dem MfS noch deren institutionelle Staats- und Bündnistreue. Auch die hohen liberaldemokratischen Funktionäre sahen jedoch, dass die Zeit des SED-Regimes abgelaufen war und damit zugleich ihre Rolle als »politische Zulieferer« und Repräsentanten einer »befreundeten« Partei. Es sei zum Schluss noch einmal auf Klaus-Peter Weichenhain zurückzukommen, mit dessen Appell diese Überlegungen zum Verhältnis von LDPD und SED begonnen haben. In Aufzeichnungen, die er vor einigen Jahren als Konvolut von Arbeitsnotizbüchern dem Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde übergeben hat, lässt sich die Aufkündigung der »Bündnistreue« anschaulich nachvollziehen. Im Sommer 1989, der Endphase des sozialistischen Einheitsstaates, notierte er
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Interview Pohlmann mit von Jagow vom 22.5.2015.
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eben seinen Mitschriften zu einer Sitzung des Zentralsekretariats der LDPD als n Nebengedanken: »Die DDR ist keine Grundorganisation der SED.«33 Die Politische Wende 1989 und die damit verbundene Erosion des Herrschaftsgebildes in der DDR brachte offenbar auch die persönliche Wende bei Weichenhain auf den Weg. An die Stelle des SED-treuen Pathos der eingangs zitierten Rede war der Ton eines bitteren ironischen Abgesangs getreten.
III. Das Verhältnis der LDPD-Bezirksvorstände zum MfS »Natürlich ist jeder Bericht, zum Beispiel über die Versorgungslage im Sektor der Energie, auf Um wege [an das MfS] gegangen! Das habe ich, glaube ich, schon einmal gesagt. Wir direkt haben keine Berichte für die Stasi gemacht, und wo die ihre Berichte hergekriegt haben, das war ihr Geheimnis. Ich denke schon, woher es nur hergekommen sein kann – das kann nur über die SED oder über die Nationale Front gekommen sein […], dass dort Kopien gemacht worden sind und dann ging das dorthin. Das war ja im Prinzip ja auch kein Problem, aber das, was man dann daraus machte.«34
Von Jagow selbst war weder inoffiziell noch offiziell jenseits von öffentlichen Anlässen des DDR-Festkalenders auf Bezirksebene enger mit dem MfS in Berührung gekommen. Seine Spekulation über mögliche Informationskanäle zur Abschöpfung von LDPD-internen Dokumenten jedoch sollte sich dennoch als falsch herausstellen. Es hat, wenn man die Überlieferung der Staatssicherheit über sämtliche Bezirke der DDR prüft, durchaus nicht der von ihm genannten Umwege zur Informationsgewinnung bedurft. Das MfS hatte sich innerhalb der LDPD-Bezirksvorstandsgremien eine unmittelbare Informationsbasis geschaffen, die selbst hochrangige Funktionäre der SED im Nachhinein überrascht zu haben scheint: »Das Geflecht des MfS, das hat auch einer wie ich in der Breite und in der Art, wie sie es gesponnen haben, auch erst begriffen und erkannt, als dann der ganze Kram am Ende war.«35 So erinnerte sich der ehemalige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden und spätere kurzzeitige Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow. Es soll an dieser Stelle nicht im Vordergrund stehen, ob die Äußerungen dieser beiden politischen Spitzenfunktionäre der 1970er- und 1980er-Jahre im Dresdner Bezirk als ex post-Legitimationsstrategien ihres politischen Wirkens zu werten sind oder man sie als Beleg für erfolgreich angewandte, geheimdienstliche Methoden der Konspiration des MfS interpretiert. Die Aktenlage in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
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Notizbücher Weichenhain, o. D. (SAPMO, Nachlässe, NY 4631, Verl. 12, unpag.). Interview Pohlmann mit von Jagow vom 22.5.2015. Interview Tilman Pohlmann mit Hans Modrow vom 25.4.2016.
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ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) zur Durchdringung der LDPD durch das MfS auf Bezirksebene ist ohnehin zu eindeutig, als dass hier dieser Diskurs aufgemacht werden müsste. Im Folgenden soll es um die genauere Bestimmung des Verhältnisses der LDPD-Bezirksvorstände zum MfS gehen. Zunächst zu den Untersuchungsgegenständen im engeren Sinn. Der institutionelle Rahmen der Überlegungen wird abgesteckt durch die politischen Gremien der jeweiligen LDPD-Vorstände in den 15 Bezirken der DDR, also inklusive Berlin, und den diesen zugeordneten geheimdienstlichen Abteilungen der Bezirksverwaltungen des MfS. Um die Blockparteien im Allgemeinen und die LDPD-Bezirksvorstände im Besonderen »kümmerte sich« vonseiten des MfS die Hauptabteilung XX/1: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«. Deren Aufgabe war es laut einem Jahresarbeitsplan des Referates III: Blockparteien und Massenorganisationen von 1982 »die Bündnispolitik im Sinne der SED und ihrer führenden Rolle zu gewährleisten und durchzusetzen«. Ferner sollten alle »Angriffe auf ideologischem Gebiet« in den »befreundeten Parteien« erkannt und daraufhin unterbunden werden. Schwerpunktbereiche bzw. Objekte der operativen Tätigkeit des Referates waren eben vor allem die Parteivorstände der Blockparteien auf Bezirksebene.36 Um in diesem Sinne den Verflechtungen der LDPD mit dem MfS näher zu kommen, wurde bei der BStU eine Recherche zu Unterlagen über sämtliche zwischen 1961 und 1989 amtierende Bezirksvorsitzende der LDPD angestoßen. Mit diesem akteurszentrierten Ansatz lassen sich gerade in der Forschung zum MfS sowohl individuell anschauliche als auch überindividuell verallgemeinerbare Betrachtungen anstellen. Die Bezirksvorsitzenden der LDPD selbst spielten innerhalb der institutionellen Ordnung der Partei über den gesamten Untersuchungszeitraum eine herausragende Rolle. Sie hatten als die exponiertesten territorialen Akteure in mehrere Richtungen zu agieren. Zum einen lief über sie die »Durchstellung« sämtlicher politisch-praktischer Zielvorgaben des Zentralvorstands der LDPD an die Mitgliederschaft in den unteren Parteieinheiten. Ähnlich wie bei der SED verfügte die Parteispitze in Berlin über ein hohes Maß an politischer Weisungsbefugnis, ohne dass in der LDPD freilich explizit von politscher Linie im Sinne des »demokratischen Zentralismus« gesprochen worden wäre. Die wichtigsten Adressaten waren alle diejenigen Mitglieder, die in den verschiedenen der LDPD zugeordneten Wirtschaftszweigen des Mittelstandes, der Bezirke in Funktion waren, ebenso wie die Angehörigen der »bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Intelligenz« sowie ein größerer Teil der Angestellten.37 36 37
Roger Engelmann/Frank Joeste, Grundsatzdokumente des MfS (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2010, S. 56 f. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421303180; 24.4.2020). Protokoll der Sitzung des BV der LDPD Suhl vom 15.7.1971 (AdL, LDPD, BV Suhl, 30522, Bl. 3).
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Zum anderen oblag es den Bezirksvorsitzenden – gewissermaßen in der Gegenrichtung – für die Interessenvertretung eben dieser Parteiklientel beim Zentralvorstand bzw. beim politischen Ausschuss des Zentralvorstands der LDPD einzutreten. In keiner anderen Funktion innerhalb der Partei bündelte sich folglich auf der strukturell-vertikalen Achse die Aufgabe der politischen Anleitung und der Interessenvertretung so sehr wie in dem Amt der liberaldemokratischen Bezirksvorsitzenden. Auch auf der querliegenden horizontalen Ebene hatten diese das Agieren der verschiedenen LDPD-Funktionsträger in der Bezirkspolitik zu leiten. Sie verantworteten deren Handeln in der Nationalen Front als Zusammenschluss sämtlicher Parteien und Massenorganisationen in den verschiedenen Abteilungen bei den Räten der Bezirke sowie in den Kommissionen und Ausschüssen der Bezirkstage. Zwar konnten die Bezirksvorsitzenden kaum Einfluss nehmen auf grundlegende strukturelle Entscheidungen im Rahmen der von der SED vorgegebenen Plan- und Handlungsvorgaben für die Bezirke. Jedoch häuften sie zumindest aus der Perspektive der LDPD-Mitglieder genügend politisches Kapital an, um bei der Lösung personeller oder politischer Probleme eine Rolle spielen zu können. Darüberhinaus – und das war besonders wichtig – hatten sie in den eigenen Parteieinheiten den Boden zu bereiten für die Propagierung der von der SED vorgegebenen, größeren gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Linien. Genau an diesem exponierten Schnittpunkt verschiedenster politischer Ansprüche standen die Bezirksvorsitzenden der LDPD. Darüber, dass ihnen das komplexe Ausbalancieren dieser Ansprüche vor allem im Sinne der herrschenden Staatspartei SED auch tatsächlich gelang, wachte akribisch das MfS. Im Vorfeld der Untersuchungen stand die Annahme, dass bei der BStU vor allem Informationsberichte des MfS über diese Spitzenfunktionäre und deren politisches Wirken innerhalb der Leitungsgremien der LDPD auf Bezirksebene zum Vorschein kommen würden. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Annahme relativiert und zugleich um einem weiteren wesentlichen Aspekt ergänzt werden musste. Mittlerweile liegen geheimdienstliche Daten zu drei Vierteln (29 von 38) der im Zeitraum zwischen 1961 bis 1989 amtierenden Bezirksvorsitzenden vor. Von diesen 29 Bezirksvorsitzenden der LDPD waren etwas über die Hälfte nicht wie angenommen durch Dritte bespitzelte Objekte der Staatssicherheit, sondern als inoffizielle Mitarbeiter selbst für den DDR-Geheimdienst tätig. Über den IM-Bestand dieses – wie es in der Terminologie des MfS heißt – »Sicherungsbereiches Parteivorstände der Blockparteien« waren bislang in der Forschung noch keine verlässlichen Daten vorhanden. Einem Perspektivplan aus dem Jahre 1972 ist laut dem Handbuchprojekt »Anatomie der Staatssicherheit« lediglich zu entnehmen gewesen, dass jährlich zwei IMs in den verschiedenen
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Bezirksverbänden insgesamt neu geworben, und bis 1975 in den meisten Verlagen und Betrieben (VOB) der Blockparteien zumindest ein neuer IM eingesetzt werden sollte.38 Anhand der Untersuchungen kann diese angesprochene Lücke an verlässlichen Daten zumindest in Bezug auf die Führungsebene der LDPD in den Bezirken quantitativ geschlossen werden. Die Ausgangsüberlegung der qualitativen Darstellung des Verhältnisses von LDPD und MfS evoziert zunächst in gewissem Sinne zwei sich gegenüberstehende Pole, bei dem der eine (LDPD) durch den anderen (MfS) dominiert bzw. beherrscht wird. Nach allem, was bis dato gesichtet werden konnte, war die geheimdienstliche Dichte an Herrschaftswissen der Staatssicherheit über die verschiedensten Vorgänge innerhalb der Bezirksparteiorganisationen der LDPD tatsächlich außerordentlich groß. Es muss dennoch auf der hier relevanten bezirkspolitischen Ebene analytisch zugleich von einem komplexen »Kräftefeld« ausgegangen werden, in dem die Rollen der klassischen Über- und Unterordnung ins Fließen geraten.39 In solchen Kräftefeldern sozialer Herrschaftspraxis sind – im Anschluss an Jan Palmowski – die »Beherrschten eben keineswegs nur passive Objekte, denn ihr Verhalten im Alltag ermöglicht gerade Herrschaft und bestimmt deren Grenzen.« Paradigmatisch konzentriert in den Figuren der LDPD-Bezirksvorsitzenden als IM verwischen die Grenzen des Objekt-Subjekt-Verhältnisses von Herrschaft. Ihre Funktion gründete »auf der einen Seite darauf [...], dass sie als Teil derjenigen wahrgenommen wurden, an die sich potenziell Herrschaft durch das MfS richtete, sie aber durch ihre inoffizielle Funktion gleichzeitig Teil des [auf totale Kontrolle ausgerichteten] Herrschaftsapparates waren«.40 Nicht als hinreichender analytischer Maßstab erscheint nach den bisher gesichteten Unterlagen die faktische quantitative Feststellung der Dichte inoffizieller Mitarbeit. Auch die Art und Weise, wie diese inoffizielle Mitarbeit neben der offiziellen Zusammenarbeit der Bezirksvorstände mit dem MfS ausgestaltet worden ist, muss für eine differenzierte Betrachtung in den Blick genommen werden. Um diese Vorüberlegungen zu operationalisieren, werden nun im Wesentlichen zwei Ebenen betrachtet. Zunächst die Perspektive auf das MfS: Welche Ziele verfolgte das MfS bei der Überwachung von bzw. bei der Zusammenarbeit mit den Bezirksvorständen der LDPD und welcher Mittel bediente es sich? Wie erfolgreich war die Staatssicherheit beim Erreichen dieser Ziele? 38 39
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Engelmann/Joestel, Grundsatzdokumente, S. 56 f. Theoretische Grundlage für diesen Ansatz bilden die von Alf Lüdtke entworfenen Überlegungen zur Herrschaft als sozialer Praxis. Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale P raxis. In: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63. Jan Palmowski, Staatssicherheit und soziale Praxis. In: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in DDR, Göttingen 2007, S. 253–272, hier 257.
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Anschließend kommt diese Frage aus der Perspektive der LDPD-Funktionäre aben heraus zum Tragen. Welche Motive zur Zusammenarbeit mit dem MfS h für die LDPD-Funktionäre bestanden, wie sah die konkrete Interaktion mit der Staatssicherheit aus und was für Erkenntnisse können dadurch anhand der MfS-Akten zum politischen Alltagshandeln der LDPD-Bezirksvorstände gewonnen werden? Im Folgenden wird anhand einiger Fallbeispiele versucht, Antworten auf diese Fragenkomplexe herauszuarbeiten. »Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Funktionär des SC Motor?« – »Nein, nicht SC Motor, sondern SC Wismut.« Mit dem Austausch dieser Losungsworte eröffneten die Offiziere des MfS ihre persönlichen Treffen mit dem inoffiziellen Mitarbeiter »Helmuth«.41 Diesen Decknamen hatte sich der von 1959 bis 1985 amtierende Vorsitzende der LDPD im Bezirk Karl-Marx-Stadt, Rolf Unger, zu Beginn seiner Tätigkeit als IM bereits im Jahr 1954 zugelegt. Zu der Zeit war er neben seinem Hauptberuf als Verwaltungsdirektor eines Krankenhauses im Erzgebirge zugleich Kreisvorsitzender der LDPD, Mitglied des Bezirksvorstands, Bezirkstagsabgeordneter und Nachfolgekandidat zur Volkskammer der DDR gewesen.42 Die IM-Tätigkeit Ungers, die laut Unterlagen freiwillig und »auf der Basis der politischen Überzeugung« erfolgt war,43 wurde auch nach seiner Berufung zum Bezirksvorsitzenden im Jahr 1959 aufrechterhalten. Er informierte das MfS regelmäßig über die politische Lage innerhalb der unteren LDPD-Parteieinheiten seiner Bezirksparteiorganisation. Er gab sowohl Einschätzungen über hauptamtliche Mitarbeiter der Kreisvorstände als auch über einfache Mitglieder innerhalb seines Bezirkes an seinen Führungsoffizier weiter. Besonderen Wert legte die Abteilung V/3 der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt in den frühen 1960er-Jahren auf sämtliche Art von Informationen, mit denen Hinweise auf »ideologische Diversion« gewonnen werden konnten.44 Über Unger verfolgte man ab 1962 vor allem das Ziel, »feindliche Elemente innerhalb der [Kreisverbände der] LDPD und des Mittelstandes [im Bezirk]« aufzuklären.45 IM »Helmuth« fungierte jedoch nicht allein als passiver Berichterstatter. Er erhielt vielmehr gezielt einzelne Aufträge vom MfS, in seiner Rolle als Bezirksvorsitzender auf Parteiveranstaltungen »politisch offensiv gegenüber negativen Elementen aufzutreten, um diese zu Stellungnahmen zu einem stehenden politischen Pro blem zu zwingen«,46 wie es in einem Bericht heißt. Unger setzte die Forderungen 41 Bericht der MfS-Kreisdienststelle Zwickau, Abteilung V vom 3.5.1954 (BStU, BV KMSt, AIM 516/63, Bl. 13). 42 Bericht des IM »Anton« über Unger vom 11.10.1955 (BStU, BV KMSt, AIM 516/63, Bl. 35). 43 Auskunftsbericht des Führungsoffiziers Ungers an die Abteilung V/3 der BV Karl-Marx-Stadt vom 24.5.1962 ( BStU, BV KMSt, AIM 516/63, Bl. 85). 44 Ebd., Bl. 87. 45 Ebd., Bl. 86. 46 Ebd., Bl. 87.
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des MfS offenbar besonders gewissenhaft und erfolgreich um. Gegen fünf Parteimitglieder der LDPD-Ortsgruppe Jöhstädt im Kreis Annaberg etwa, die von ihm im Mai des Jahres 1962 auf die geschilderte Weise »operativ bearbeitet« wurden, konnte aufgrund seines aktiven Engagements ein Verfahren wegen politischer Hetze eröffnet werden.47 Ein weiteres Beispiel für eine direkte IM-Tätigkeit zur »politisch-operativen Sicherung« eines LDPD-Bezirksverbandes bietet der unter dem Decknamen IM »Neumann« geführte ehemalige Bezirksvorsitzende von Gera. Hans-Karl Kreissig bekleidete dieses Amt von 1959 bis 1981, seine Tätigkeit für das MfS begann wie bei Unger reichlich vor seiner Zeit als Bezirksvorsitzender im Jahr 1955 und endete dann drei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Bezirksvorstand der LDPD im Jahr 1985. Da er während der langjährigen Zusammenarbeit mehrfach auch als sogenannte Reiseleiter-IM für die Hauptabteilung VI tätig gewesen ist, erhielt er auch nach seiner aktiven Funktionärslaufbahn noch als Rentner diverse Aufgaben im Rahmen von Auslandseinsätzen für das MfS. Die Haupteinsatzrichtung während seiner Funktionärszeit war jedoch ebenfalls die geheime Informationssammlung und Weitergabe sämtlicher für das MfS relevanter Vorgänge ideologischer Abweichung innerhalb der von ihm geleiteten Geraer Bezirksparteiorganisation der LDPD.48 Zu seinen wiederkehrenden Aufträgen gehörte die Einschätzung der charakterlichen und politisch-ideologischen Eignungen sämtlicher Kreisvorsitzender der LDPD in seinem Bezirk. In einem Einschätzungsbericht vom November 1959 schreibt Kreissig wie folgt: »Beim Vorsitzenden des Kreisverbandes Saalfeld zeigten sich in der Vergangenheit wiederholt pazifistische Tendenzen. In der Zustimmung zum Aufbau des Sozialismus«, so Kreissig weiter »brachte er wiederholt Vorbehalte zum Ausdruck. Er hat sich zwar sehr eingehend mit dem Marxismus-Leninismus befasst und ist auch in der Lage, interessante Lektionen darüber zu halten. In persönlichen Aussprachen distanziert er sich jedoch von wesentlichen Grundfragen des Marxismus und vertritt die Meinung, dass es auch noch andere Auffassungen geben könnte. Darüberhinaus«, so schließt er seine Kritik, sei es »sehr schwierig, ihn davon zu überzeugen, dass ein dauernder Kontakt mit der Kreisleitung der SED für die politische Arbeit unserer Partei sehr nützlich sein könnte«.49
Diese beiden exemplarischen Fälle belegen die personal-auftragsgebundene Informationsgewinnung in den untergeordneten LDPD-Parteiorganisationen der Bezirke durch die Bezirksvorsitzenden als inoffizielle Mitarbeiter des MfS. Das Interesse der Staatssicherheit richtete sich hier vornehmlich auf die Registrierung von Abweichungen vom ideologischen Konformitätsgebot innerhalb der LDPD
47 Ebd. 48 Bericht des Leiters der Abteilung XX/1 der MfS-Bezirksverwaltung Gera zum Abbruch der Verbindung zum IMS »Neumann« vom 19.3.1984 (BStU, BV Gera, AIM 312/84, Bd. I, Bl. 438 f.). 49 Einschätzung der Kreisvorsitzenden und Kreissekretäre des Bezirksverbandes Gera der LDPD durch IM »Neumann« vom 24.11.1959 (BStU, BV Gera, AIM 312/84, Bd. III, Teil 2, Bl. 171).
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und der politischen Praxis bei der Interaktion mit der SED. Wie oben bereits angesprochen, spielte die Überwachung der Parteimitglieder aber auch jenseits der engeren Sphäre parteipolitischer Partizipation innerhalb der LDPD eine wichtige Rolle. Dort bezog sie sich vor allem auf die Problemlagen, die mit wirtschaftlichen Fragen der Bezirke in Zusammenhang standen. Das MfS versuchte über die LDPD-Vorsitzenden, gezielt Informationsmaterial zu den kleineren Wirtschaftsbetriebseinheiten der Bezirke, die von LDPD- Mitgliedern geleitet wurden, zu gewinnen. Besonders wichtig wurde dieses Herrschaftswissen Anfang der 1970er-Jahre, kurze Zeit nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker. Die SED-Führung hatte begonnen, die wirtschaftsliberaleren Strukturelemente des Ulbricht’schen Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung zurückzunehmen. Im Zuge der von Honecker propagierten »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« sollten die vielen noch vorhandenen privaten Mittelbetriebe und die bereits durch Komplementäre geführten Betriebe mit staatlicher Beteiligung (BSB) sukzessive vollständig in die Hände des Staates überführt werden. Obwohl es gerade diese Art von privaten Unternehmen waren, die »trotz aller Widrigkeiten und Hindernisse« vielfach die Versorgungslücken schlossen, für »die die ausschließlich auf die Großindustrie fixierte [SED-]Planungsbürokratie zuvor gesorgt hatte«,50 war dennoch im Politbüro die Entscheidung zur Umsetzung der staatlichen Übernahmeziele gefallen. Da in diesem Wirtschaftsbereich besonders viele LDPD-Mitglieder als Komplementäre tätig waren, richtete das MfS nun verstärkt den Blick auf diesen Sektor. Auch hier konnte die Staatssicherheit mit ihren Verbindungen in die Bezirksvorstände der LDPD operieren. Bereits gut ein halbes Jahr vor dem Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 8. Februar 1972 über die Verstaatlichung der BSB, der privaten Industrie- und Baubetriebe sowie der Produktionsgenossenschaften des Handwerks übergab am 27. Juli 1971 der Leipziger LDPD-Bezirksvorsitzende Manfred Eißner laut dem Aktenvermerk des IM »Vorwärts« dem MfS ein wichtiges Dokument.51 Eißner, der von 1969 bis 1976 dem Leipziger Bezirksverband der LDPD vorstand, hatte zuvor zehn Jahre lang diese Funktion im Bezirk Neubrandenburg bekleidet. Bereits dort war er von der Abteilung XX/1 der MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg als sogenannter Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) angeworben und registriert worden.52 Auch zwischen der Staatssicherheit
50 51
Michael Meißner, Dynamik des Übereifers. In: Horch und Guck, 64 (2009) 2, S. 40. Aktenvermerk des IM »Vorwärts« für die Abteilung XX/1 der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig vom 27.7.1971 (BStU, BV Leipzig, AIM 708/91, Bl. 111). 52 Zu den GMS vgl. o. V., Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit und Inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik vom Januar 1968. In: Helmut Müller-Enbergs (Hg.), In-
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und den GMS bedurfte es – wie bei den IM – einer Erklärung zur Bereitschaft der Zusammenarbeit mit dem MfS und der »Lösung der Aufgaben der Geheimhaltung«, wie es im Stasi-Jargon hieß. Jedoch sollte dieses Verhältnis nicht denselben Umfang erreichen, wie es bei den IM der Fall gewesen ist. Die GMS waren laut MfS-Richtlinie 1/68 »vorrangig in Sicherungsbereichen einzusetzen, in denen sich politisch-operative Schwerpunkte herausgebildet haben oder sich entsprechend der prognostischen Einschätzung herausbilden können.«53 Ein eben solcher operativer Schwerpunkt entstand im Vorfeld der angesprochenen Verstaatlichungsaktion. Der dem Leipziger Bezirksvorsitzenden zugeordnete Führungsoffizier IM »Vorwärts« beauftragte Eißner, in diesem Zusammenhang Aufstellungen anzufertigen, in denen alle PGH-Vorsitzenden, Komplementäre und private Unternehmer im Bezirk Leipzig verzeichnet sein sollten, die über eine LDPD-Mitgliedschaft verfügten. Die dann bei den geheimen Treffs übergebenen Listen stellten den IM offenbar sehr zufrieden, er lobte die Konkretheit und Übersichtlichkeit der Zuarbeit Eißners.54 Auf dem 11. Parteitag in Weimar Anfang 1972 war die LDPD-Führung dann offen für die Verstaatlichung eingetreten. Der Parteivorsitzende Manfred G erlach und seine Parteifreunde an der Spitze der LDPD entschieden sich bei dem Balanceakt zwischen Bündnistreue gegenüber der SED-Politik und L oyalität gegenüber der eigenen Klientel demonstrativ dazu, der Linie von Erich Honecker zu folgen. In verschiedenen Treffberichten aus dem Leipziger Bezirk wird deutlich, dass das MfS in der Folge über den GMS Eißner versuchte, die Stimmungslage besonders unter den Komplementären herauszufinden und die hartnäckigsten Gegner unter ihnen zu isolieren. Dabei war die Staatssicherheit gerade auch Dank Eißners Zuarbeit offenbar überaus erfolgreich. Der GMS berichtete auf der Grundlage eigener Gespräche und Berichte der einzelnen Kreisvorstände der LDPD bis in die einzelnen Positionen von Betriebsmitarbeitern hinein ausführlich über den Grad an Zustimmung bzw. Ablehnung zur wirtschaftspolitischen Entwicklung. Darüberhinaus machte er gegenüber dem MfS auch das weitere strategische Vorgehen des LDPD-Bezirksvorstands transparent. Anfang Februar 1972 gab er an, dass »es unter seinen Leipziger Parteifreunden ca. 120 Betriebe mit staatlicher Beteiligung gebe, und dass man mit diesen Parteifreunden Komplementären schon klar kommen würde.« Zur Umsetzung der nun konzertierten Aktion hatte Eißner eigens Aussprachen mit der Vorsitzenden des Leipziger Bezirkswirtschaftsrates geführt, um offiziell gemeinsam mit dem Staatsapparat
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offizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996, S. 248–256. Ebd., S. 249. Aktenvermerk des IM »Vorwärts« für die Abteilung XX/1 der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig vom 27.7.1971 (BStU, BV Leipzig, AIM 708/91, Bl. 111).
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und inoffiziell mit dem Staatssicherheitsdienst »Festlegungen« zum »Verkauf der privaten Anteile« an den Staat zu erzwingen.55 Freiwilligkeit, wie sie von einigen ausgewählten Komplementären auf dem LDPD-Parteitag propagandistisch inszeniert bekundet worden war, traf man in der betrieblichen Alltagspraxis kaum an. Dies belegt die Masse diverser von Eißner an das MfS weitergeleiteter ablehnender Haltungen unter den LDPD-Betriebsmitgliedern zur wirtschafts politischen Entwicklung. »Jetzt ist alles zu Ende«, hieß es da etwa. »Wir werden nicht mehr gebraucht, die eigene Partei setzt einem die Pistole auf die Brust. Warum hat uns die Partei nicht früher informiert?« Solcherart Meinungen waren, laut der informationellen Zuarbeiten Eißners, in den Leipziger Komplementärkreisen vielfach geäußert worden. Die besonders kritischen Stimmen gerieten durch ihn direkt auf den Schreibtisch seines Führungsoffiziers. »Die LDPD überholt wohl jetzt sogar die SED links«, hieß es da etwa. »Warum musste die LDPD sich hergeben zur Frage der BSB, warum tat das die SED nicht gleich auf ihrem VIII. Parteitag?56 Mit diesen Informationen aus den Händen des Bezirksvorsitzenden konnte nun gezielt die sogenannte Bearbeitung einzelner LDPD-Mitglieder durch die staatlichen Organe beginnen. Die bis hierhin geschilderten Fälle lassen sich als erfolgreiche Instrumentalisierung der LDPD-Bezirksvorsitzenden durch das MfS lesen. Während die Motive der Erlangung von Herrschaftswissen aufseiten der Staatssicherheit klar auf der Hand liegen, lässt sich dies für die kollaborierenden Bezirksvorstandsmitglieder der LDPD meist deutlich schwerer einordnen. Die in den Verpflichtungserklärungen standartmäßig verwendete Formel: »Meine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit erfolgt auf freiwilliger Grundlage und ist Ausdruck meiner persönlichen Überzeugung, einen aktiven Beitrag bei der Sicherung der DDR vor feindlichen Anschlägen zu leisten«, wie beim Bezirksvorsitzenden von Karl-Marx-Stadt aus dem Jahr 1988, hilft bei dieser Frage sicherlich nur bedingt weiter.57 Dennoch: In keinem der hier vorgestellten Fälle erfolgte die Werbung des MfS durch Zwang oder Erpressung aufgrund von kompromittierendem Material. Häufig erfolgte der Beginn der inoffiziellen Tätigkeit zu einem Zeitpunkt, als die Betreffenden auf ihrem Karriereweg bereits ein gutes Stück zurückgelegt hatten und sich anschickten, eine nächsthöhere Stufe im politischen System zu erklimmen. Davon hatte das MfS in den hier untersuchten Fällen stets Kenntnis. Ein 55 Bericht des IM »Vorwärts« an die MfS-Bezirksverwaltung Leipzig vom 27.7.1971 (BStU, BV Leipzig, AIM 708/91, Bl. 124). 56 Bericht des IM »Vorwärts« an die MfS-Bezirksverwaltung Leipzig vom 29.2.1972 (BStU, BV Leipzig, AIM 708/91, Bl. 129). 57 Verpflichtungserklärung des Bezirksvorsitzenden der LDPD Dietmar Schicke vom 4.3.1988 (BStU, BV KMSt, AIM 2480/88, Bl. 19).
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wesentliches Motiv scheint daher vor allem in der persönlichen Vorteilsnahme gelegen – und damit der Denkfigur der partizipativen Diktatur entsprochen zu haben.58 Unter dem Rubrum der Partizipation lässt sich auch der eingangs angeführte Gedanke eines Kräftefelds bzw. eines Raumes, der Herrschaft als soziale Praxis versteht, näher betrachten. Die reibungslose und auftragsgebundene, alle Vorgaben des MfS willfährig realisierende Zusammenarbeit der Bezirksvorsitzenden stellte nur eine – wenn auch gewichtige – Seite der Medaille dar. Es lassen sich jedoch auch politische Verhaltensweisen der LDPD-Bezirksvorsitzenden und deren Stellvertreter beobachten, bei denen es vielmehr um eigenen, unmittelbaren Machterwerb oder »sozialen Geländegewinn« in ihrer hierarchisch strukturierten, autoritären Organisation auf Bezirksebene ging. Die Zusammenarbeit mit dem MfS fungierte dabei vor allem als Mittel der eigensinnigen, beruflichen Konfliktregulierung, wo andere »auf Verhandlung und Kompromiss angelegte Formen der Konfliktbewältigung nicht oder allenfalls rudimentär vorhanden waren.«59 Dieser Gedanke soll an einem besonders auffälligen Beispiel illustriert werden. Wie oben erwähnt, war nicht nur die gelingende, unmittelbare Kooperation der Bezirksvorsitzenden als inoffiziell für das MfS handelnde Subjekte zu beobachten. Genauso waren diese auch überwachte Objekte für »die Klärung der Frage ›Wer ist wer‹«, wie es in der operativen Terminologie des MfS hieß.60 Das Interesse des MfS richtete sich eben nicht nur auf die Aufklärung der Bezirksparteiorganisation der LDPD über die Instanz der Bezirksvorsitzenden, sondern auch auf die Politikführung in den Bezirksvorstandsgremien im engeren Sinne. Gerade die Stellvertreter waren in den Augen des MfS besonders dafür geeignet, das Agieren ihrer Vorgesetzen zu beobachten und dem MfS gegenüber offenzulegen. Diese spezielle Konstellation steht jedoch wie kaum eine andere zugleich dafür, dass die inoffizielle Zusammenarbeit auch gezielt zur Durchsetzung eigener politischer Interessen umgenutzt werden konnte und auch wurde. War dies der Fall, drifteten häufig die Motive und Zielstellungen der Staatssicherheit und die der IMs auseinander. »Es ist also ein solches Spannungsverhältnis, dass ich glaube, ehe ich mich hier voll verschleißen lasse, es günstiger ist, eben einen Ausweich zu suchen.« Das Zitat stammt aus einem Bericht des stellvertretenden Bezirksvorsitzenden der Suhler LDPD, Hartmut Schmidt alias IM »Oswald« über dessen Arbeitsbeziehung zum Bezirksvorsitzenden Weichenhain aus dem Jahr
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Vgl. Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 12. Gerhard Paul, Private Konfliktregulierung, gesellschaftliche Selbstüberwachung, politische Teilhabe? Neuere Forschungen zur Denunziation im Dritten Reich. In: Archiv für Sozialgeschichte, 42 (2002), S. 380–402. 60 Abschlussbericht der OPK zu Weichenhain vom 27.6.1980 (BStU, BV Suhl, AOPK 564/80, Bl. 161).
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1976.61 »Ich weiß nicht«, fuhr er seinem Führungsoffizier gegenüber fort, »wie ihr das einschätzt, aber ich glaube, hier wäre unwichtig, welche genaue Lösung ihr trefft. Was ich vorhabe, wollte ich erst einmal mit euch abstimmen. Weil ja massive Dinge vorliegen, wo ich mir sage, ist es jetzt verantwortungsvoll, da auszuscheren, wo dieser Mann sich in einer Art und Weise entwickelt, bei der man den Trend noch nicht voll absehen kann.« Der IM hatte an das MfS in früheren Berichten wiederholt von kritischen Einschätzungen und Polemiken Weichenhains zur Politik der SED ihm gegenüber im persönlichen Gespräch berichtet. »Ich bin da in einer Zwickmühle«, so IM »Oswald« weiter. »Das belastet ja auch seelisch, wie man sich vorstellen kann, wie der mich im Sekretariat fertigmacht. Meine Leistungsspiegel hat der mir ja in einer kalten Brutalität vom Tisch gewischt, hat mir vor den anderen einfach das Wort verboten. […] Die Art und Weise, wie er mich bloßstellt, wie er bei jeder Reaktion versucht, mich zu drücken, wie er Positionen einnimmt. […] Wie er unterschiedliche Motive hat, weil er wahrscheinlich zum großen Teil irgendwie Neid, Ehrgeiz, immer alles besser zu wissen, die Sache zu beherrschen als Despot, keine andere Meinung aufkommen zu lassen usw. im Vordergrund hat. […] Ich soll nun diesen Mann als Bezirksvorsitzenden respektieren. Das mache ich auch, soweit das sachlich möglich ist, solange das nicht mit Grundfragen kollidiert, aber wenn ich eben auf eine solche Problematik stoße, wo dieser falsche Fuffziger mir eben meine politischen Maßnahmen, die ich im gradlinigen Sinne durchzusetzen versuche, zerstört, dass er mich so anweist, das ist für mich eine unvorstellbare Situation. Diese Dinge sind für mich auf die Dauer unhaltbar […], das sind Dinge, die habe ich in meinem ganzen Leben in meiner politischen Arbeit noch nie erlebt.«62
An dem hier zitierten Bericht des stellvertretenden Suhler LDPD-Bezirksvorsitzenden und IMs des MfS ist zweierlei hervorzuheben. Zum einen scheint die Staatssicherheit von ihm als eine außerordentlich große Vertrauensinstanz angesehen worden zu sein. IM »Oswald« fasste sich offenbar als Teil einer tschekistischen »in-group« auf, innerhalb derer er die Freiheit hatte, sämtliche Probleme aus seiner beruflichen Alltagspraxis anzubringen. Anders ist kaum zu erklären, dass er seinen Bericht in der Form eines atemlosen, hypotaktischen »stream of consciousness« verfasst hat. Der Text insgesamt erstreckt sich über sechs engzeilig und vollständig beschriebene Schreibmaschinenseiten und gleicht von der Schreibhaltung mehr einem persönlich-psychologischen Offenbarungseid als einem objektivierbaren Sachbericht. Abgesehen von der stilistischen Form versprach sich der IM durch die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit vor allem, systematisch auf »die Abberufung Weichenhains« hinwirken zu können.63 Die damit verbundene Umwidmung der Staatssicherheit von der Überwachungsinstanz zur Erfüllungsplattform eigener 61 Bericht IM »Oswald« über Klaus-Peter Weichenhain vom 16.10.1976 (BStU, BV Suhl, AOPK 564/80, Bl. 185). 62 Ebd., Bl. 187. 63 Abschlussbericht zur OPK Weichenhain vom 27.6.1980 (BStU, BV Suhl, AOPK 564/80, Bd. II, Bl. 161).
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beruflicher Interessen spielte in dem hier geschilderten Fall eine größere Rolle als die vermeintliche vom MfS anvisierte »Sicherung der entwickelten sozialistischen Gesellschaftsordnung.«64 Zum Bedauern des IM konnte das MfS jedoch nach umfangreichen Untersuchungen gegen Weichenhain keine öffentliche Äußerungen nachweisen, die nach §106 Abs. 1 Ziffer 3 Strafgesetzbuch der DDR geeignet gewesen wären, ihm Diskriminierung von Repräsentanten oder anderen Bürgern der DDR oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen« nachzuweisen.65 Im Gegenteil: Der Bezirksvorsitzende Weichenhein verfügte seinerseits über einen engen Kontakt sowohl zum 1. Bezirkssekretär der Suhler SED-Bezirksleitung, Hans Albrecht, sowie zu dem für die Blockparteien zuständigen SED- Bezirkssekretär. Auch zu dem LDPD-Zentralvorstand sowie mehreren hauptamtlichen Mitarbeitern der ihn überwachenden Instanz der MfS-Bezirksverwaltung Suhl stand Weichenhain in regelmäßiger Verbindung, ein strategischer Vorteil, der auch die Grenzen inoffizieller politischer Einflussnahme durch das MfS andeutet. Weichenhain selbst wiederum nutze sein eigenes Netzwerk im Bezirk in anderen Fällen gezielt aus, um sich gegen eventuelle Angriffe aus seinem politischen Umfeld abzusichern. Zu diesem Netzwerk gehörten eben auch hauptamtliche Mitarbeiter der Bezirksverwaltung des MfS. So informierte er beispielsweise einen Oberstleutnant der Suhler MfS-Bezirksverwaltung schriftlich, nachdem er in der PGH »Bild und Ton« in Zella-Mehlis von deren Vorsitzenden, einem Mitglied der LDPD, auf einer Mitgliederversammlung wegen seiner restriktiven Haltung gegenüber dem praktizierten Gemeinschafts-Antennenbau der PGH nach Feierabend kritisiert worden war. Weichenhain forderte das MfS darüberhinaus direkt auf, gegen diese Praxis und die Gruppe, die ihm gegenüber in der Sache einen außerordentlich »aggressiven und feindlichen Ton« an den Tag gelegt habe, vorzugehen. Der Fortgang dieser Angelegenheit ließ sich aus den Unterlagen der Staats sicherheit zwar leider nicht mehr rekonstruieren. Für die hier interessierende Indienstnahme des MfS durch einen LDPD-Bezirksvorsitzenden im Kräftefeld des Bezirkes jedoch spricht bereits der kommunikative Impuls Weichenhains eine mehr als deutliche Sprache.
64 Weichenhain jedoch verfügte im Politischen Ausschuss über einflussreiche Befürworter und wurde nicht von seiner Funktion herabgestuft, sondern zog zwei Jahre nach dem offiziellen Ende der OPK gegen ihn sogar in den Politischen Ausschuss der Parteispitze ein und übernahm ein Amt als Sekretär beim Zentralvorstand der LDPD in Berlin. 65 Abschlussbericht zur OPK vom 19.10.1976 (BStU, BV Suhl, AOPK 564/80, Bl. 217–231, hier 231).
Die LDPD im sozialistischen Mehrparteiensystem der DDR – eine Bestandsaufnahme
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Aus den über den akteurszentrierten Zugang gewonnenen Erkenntnissen über das Verhältnis der LDPD-Bezirksvorstände zum MfS lässt sich vor allen zweierlei ableiten. Zum einen verfügte die Stasi in dem Sicherungsbereich LDPD-Vorstände über eine außerordentlich breite inoffizielle Informationsbasis. Dies sicherte dem MfS potenziell detaillierteste Kenntnisse sowohl über interne parteipolitische Vorgänge als auch über die konkreten, vor allem wirtschaftlichen Belange der der LDPD zugeordneten gesellschaftlichen Gruppen und deren politischen Vertretungsinstanzen. Zum anderen bot jedoch die enge Verflechtung mit den Bezirksvorständen der LDPD gerade letzteren auch die Möglichkeit, das MfS als eine Erweiterung der eigenen Machtbasis zu nutzen. Das damit einhergehende Auseinanderklaffen der Motive der vermeintlich kooperativen Verflechtung zwischen geheimdienstlichen und politischen Interessen lässt aufscheinen, dass die Totalität geheimdienstlicher Durchdringung der Bezirksvorstände der LDPD mitunter ihre eigenen Grenzen mitproduzierte.
I. Die Liberaldemokraten in den 1980er-Jahren
David Bordiehn Die Tragik der Emanzipation. Zur Rolle der LDPD in den 1980er-Jahren
Anfang der 1980er-Jahre initiierte der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) Manfred Gerlach1 einen Strategiewechsel, der eine Neupositionierung »seiner« Blockpartei zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) implizierte und der in seinen Folgen von der Forschung als von »Liberalisierungstendenzen getragen« rezipiert wird. Ausgehend von der Prämisse, dass ein solcher Strategiewechsel nicht ohne Kenntnisnahme der SED hatte geschehen können, beleuchtet der Beitrag das Denken und Handeln Manfred Gerlachs, eines Akteurs aus der bislang wenig beachteten zweiten Reihe von DDR-Politfunktionären und argumentiert, dass der Wunsch nach Eigenständigkeit und Mitbestimmung einen – zugestanden, auf den ersten Blick paradoxen – Anteil an der Stabilität der SED-Diktatur bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre hatte.
1. Vom Narrativ der Liberalisierung Dass der reale Sozialismus ohne das Mitentscheiden und Mitwirken der Werktätigen in allen großen und kleinen Fragen des Lebens nicht denkbar sei, hatte Manfred Gerlach Ende 1981 erklärt und im Anschluss daran gefolgert, dass es daher das Grundanliegen des politischen Wirkens der LDPD sei, diesen Prozess aktiv und in voller Breite zu unterstützen und mitzugestalten.2 Er setzte diesen Kurs im folgenden Jahr fort und formulierte in einer programmatischen Rede vor dem Politischen Ausschuss (PA) des Zentralvorstandes der LDPD ebenso 1 2
Manfred Gerlach (1928–2011). 1945 Eintritt in die LDPD, seit 1954 Generalsekretär der LDPD, von 1963 bis 1990 Vorsitzender. Daneben seit 1960 stellvertretender Staatsratsvorsitzender der DDR und 1989/90 letzter Staatsratsvorsitzender der DDR. Vgl. Unser Beitrag zur weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie. Eröffnungsrede Manfred Gerlachs zur Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD vom 10.11.1981 (ADL, LDPD, L2-426, Bl. 5–23, hier 22).
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unmissverständlich: »Sozialistische Demokratie ist keine Demokratie der leeren Worte, kein Wettbewerb in Demagogie, bedeutet keine Inflation von Versprechungen, Proklamationen und Vertröstungen und verlegt Mitbestimmung der Bürger nicht in eine ferne Zukunft. Nein.«3 Dieser von Gerlach angeregte Kurs strebte an, dass die Parteimitglieder in die Beteiligung und Gestaltung auf dem Feld der Kommunalpolitik drängen. Dass der langjährige Vorsitzende der LDPD die Politik im Land mitgestalten wollte, war der SED seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt. Neu war für sie die Offenheit, mit der er diesen Wunsch verkündete und sein damit verbundener Versuch, die LDPD-Mitglieder bewusst zu diesem Zweck einzuspannen. Mit dem Parteitag der LDPD in Weimar 1982 wurde diese neue Strategie dann parteiöffentlich gemacht und zur offiziellen LDPD-Position, an die man von da an programmatisch anknüpfte: Ab sofort wolle man die Kraft der LDPD nun überall da wirkungsvoll einsetzen, wo es eine Grundeinheit gebe, man sei nunmehr staatstragend.4 In der Folge fasste man unter anderem den Parteibeschluss »Zur Förderung der bürgernahen Arbeit der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen« (1983) und arbeitete bis 1985 gemeinsam mit der SED am »Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen in der Deutschen Demokratischen Republik«.5 Keine drei Jahre nach dem Strategiewechsel überschlug sich die Parteispitze mit Erfolgsmeldungen. Die aktive Teilnahme an der Machtausübung in ihrer B reite, Qualität und Effektivität sei neu in der Parteigeschichte, so der Vorsitzende.6 Oder, immer mehr Vorschläge an staatliche Organe, vor allem auf kommunaler Ebene, würden die Unterschrift von LDPD-Mitgliedern tragen.7 Und Zentralvorstandsmitglied und Minister der Justiz Hans-Joachim Heusinger ergänzte bei Gelegenheit, man habe nicht nur den Einfluss der LDPD erweitert, sondern auch den des Bürgers, für den man in der Kommunalpolitik eine Plattform zur Teilnahme an Entscheidungsfindungen geschaffen habe.8 Der größte Erfolg aber wäre, so Manfred Gerlach, dass sogar der Generalsekretär der SED, Erich Honecker, nun in »völliger Übereinstimmung mit dem LDPD-Kurs seit dem 13. Parteitag (1982) im großen und kleinen« den Druck auf SED-Funktionäre erhöhen 3 4 5 6 7 8
Einschätzung des Standes der Vorbereitung des 13. Parteitages der LDPD. Konzeptpapier Manfred Gerlachs für die Sitzung des PA vom 23.2.1982 (ADL, LDPD, L2-315, Bl. 15). Einschätzung des 13. Parteitages. Konzeptpapier Manfred Gerlachs für die Sitzung des PA vom 10.5.1982 (ADL, LDPD, L2-317, Bl. 26–35, hier 26). Vgl. Referat Manfred Gerlachs, 10. Sitzung des Zentralvorstandes der LDPD (ZV) vom 22.4.1985 (ADL, LDPD, L4-334, Bl. 1–52, hier 37). Festansprache Manfred Gerlachs zum 40-jährigen Jubiläum der LDPD vom 5.7.1985 (ADL, LDPD, L4-493, Bl. 52–70(a), hier 68 f.). Referat Manfred Gerlachs, 10. Sitzung des ZV der LDPD vom 22.4.1985 (ADL, LDPD, L4-334, Bl. 1–52, hier 37). Referat Hans-Joachim Heusingers, 11. Sitzung des ZV vom 12.12.1985 (ADL, LDPD, L4-336, Bl. 9–52, hier 46).
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würde, die Vorschläge, Hinweise etc. der LDPD ernsthaft anzunehmen.9 Die LDPD hielt weiter Kurs und der Parteitag 1987 wurde zum Triumph eines neu gewonnenen Selbstbewusstseins. Als »Kampfgefährte der SED«, »Bündnispartner« und »staatstragende Partei« sei man unverzichtbar. Und man werde auch künftig die »eigenständige Weise« der Mitarbeit der LDPD bezeugen, schließlich trage man »Mitverantwortung«.10 Von den LDPD-eigenen propagandagleichen Statements abgesehen kommentierte selbst der auf dem Parteitag anwesende westdeutsche Korrespondent Peter Joachim Lapp, dass die LDPD die vergleichsweise interessanteste der vier Parteien neben der führenden SED wäre, und die Süddeutsche Zeitung meinte sogar »versteckte, indirekte und verhaltene« Kritik vernommen zu haben.11 Den LDPD-eigenen Erfolgsmeldungen und wohlwollend zeitgenössischen Beobachtungen steht das heutige Bild der Forschung eines von Liberalisierungstendenzen geprägten Profilierungskurses der LDPD in den 1980er-Jahren nicht fern. Sollte sich die LDPD unter Führung Gerlachs von der SED unbemerkt freigeschwommen haben, eventuell sogar gegen deren Willen? Die Verflechtung von LDPD und SED hatte sich nach 1982 nicht verändert. Weiterhin gab es im Vorfeld von Veranstaltungen und Arbeitsplanungen Besprechungen zwischen LDPD-Verantwortlichen und den Mitarbeitern der »Abteilung befreundete Parteien beim ZK [Zentralkomitee] der SED« (im Folgenden kurz »Abteilung«12). Jedes Referat, jedes Dokument und jede noch so kleine Erklärung wurde vorher mit der »Abteilung« abgesprochen. Dazu wurden entsprechende Konzeptpapiere von der LDPD eingereicht, begutachtet, mit Kritik versehen, zurückgesendet, zum Referat ausgearbeitet, wiederum eingereicht, begutachtet, mit Kritik versehen und zurückgesendet, um nochmals überarbeitet und zur abschließenden Genehmigung, die auch in diesem Stadium noch ohne weiteres seitens der SED hat versagt werden können, wieder eingereicht zu werden. Dann, nach jeder Veranstaltung und nach jeder Sitzung, wurde die LDPD- Führung von der »Abteilung« zum Kritikgespräch geladen. Wenn Gerlach dabei nicht persönlich vorstellig werden konnte, so informierte ihn ein vertretendes Sekretariatsmitglied über den Verlauf schriftlich.13 Die Kritik der SED konnte lobend sein, wenn die LDPD sich an die »Hinweise« der »Abteilung« gehalten hatte 9 10 11 12 13
Darlegung des Vorsitzenden [Manfred Gerlachs] der Partei im PA vom 12.2.1985 (ADL, LDPD, L2-342, Bl. 10–27, hier 14). Zur inhaltlichen Vorbereitung des 14. Parteitages, Sitzung des PA vom 11.3.1987 (ADL, LDPD, L2-362, Bl. 11–14). Dossier des MfS [Ministeriums für Staatssicherheit] zum Parteitag der LDPD 1987 (BStU, MfS, HA XX 6994, hier Bl. 296, 301). Einen knappen Überblick über Umbenennung und Positionsverschiebung der »Abteilung« im SED-Apparat seit ihrer Gründung 1952 bietet: Peter Joachim Lapp, Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR. Eine politische Biografie, Aachen 2011, S. 108. Vgl. Brief Klaus-Peter Weichenhains (Sekr. B) an Manfred Gerlach, betreffend ein Gespräch mit der »Abteilung« vom 29.12.1983 (ADL, LDPD, L4-329, Bl. 85–88).
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und Th emen »auf der Grundlage der objektiven Anforderungen an die politisch- ideologische Arbeit der LDPD« behandelt hatte.14 Und so waren die Sitzungen des Zentralvorstandes (ZV) dann »erfolgreich«, wenn SED-Beschlüsse berücksichtigt worden waren oder, wenn eine Pressemitteilung ein positives Echo in der Öffentlichkeit erfahren h atte.15 Wenn die »Abteilung« von sich aus keine Hinweise erteilte, so holte sich die LDPD selbstständig Rat bei ihr ein. Sei es im Vorfeld von Großveranstaltungen, wie der Feier zum 35-jährigen Bestehen der DDR oder auch, wenn es sich lediglich um parteiinterne Listen für Parteiauszeichnungen handelte.16 Teils in noch laufenden Sitzungen wurde auf LDPD-Führungsebene mit dem ZK telefoniert, wie man sich in diesem oder jenem Punkt verhalten solle, da die Diskussion einen solchen oder solchen Verlauf nähme.17 Detailfragen konnten durchaus die Ebene des Generalsekretärs der SED erreichen.18 Daneben wurde seitens der ZK-Abteilung an der Praxis der Überwachungseinsätze zu Kontrollzwecken festgehalten und man legte umfangreiche Zustands- und Entwicklungsanalysen der Blockparteien an.19 Auch die Personalstruktur der LDPD stand nach wie vor unter der Kontrolle von »Abteilung« und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Diese Kontrolle umfasste nicht nur die Bestätigung von Kaderlisten, sondern auch direkte Eingriffe, sei es bei der Besetzung der Stellen der hauptamtlichen Kreis- oder Stadtbezirkssekretäre oder der ehrenamtlichen Kreis-und Stadtbezirksvorsitzenden.20 Die Verflechtung ging soweit, dass sich 1983 ein Führungsmitglied der LDPD und gleichzeitig Inoffizieller Mitarbeiter des MfS an seinen Kontaktoffizier des MfS wandte, es würde in der LDPD »kadermäßig« in absehbarer Zeit Probleme geben, man möge seitens des MfS zu den Parteiwahlen garantieren, dass die
14 Zusammenfassung der Information über die Vorbereitung und Durchführung der 6. Sitzung des Zentralvorstandes der LDPD am 27.9.1983. Anlage zum Protokoll der Abteilungsberatung [der »Abteilung«] des 20.10.1983 vom 26.10.1983 (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36257(1)). 15 Vgl. Brief Klaus-Peter Weichenhains (Sekr. B) an Manfred Gerlach, betreffend ein Gespräch mit der »Abteilung« vom 29.12.1983 (ADL, LDPD, L4-329, Bl. 85–88, hier 85). 16 Ebd., Bl. 86. 17 Manfred Bogisch. In: Regina General, Ansätze zu einem Paradigmenwechsel bei Künstlern, Schriftstellern und in den Blockparteien? Expertenrunde mit Manfred Bogisch, Leonore Krenzlin und Peter Arlt. In: Siegfried Prokop (Hg.), Der versäumte Paradigmenwechsel. »Spiegel- Manifest« und »Erster Deutscher im All« – die DDR im Jahr 1978, Schkeuditz 2008, S. 187–199, hier 190. 18 Vgl. Joachim Herrmann an Erich Honecker vom 19.2.1982 (SAPMO, BArch, DY 30/ IV 2/2.037/6). 19 Konzeption der »Abteilung« für einen Einsatz im Bezirk Leipzig vom 31.5.1983 (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36257(1)); Protokoll der Arbeitsberatung der »Abteilung« des 18.10.1985 vom 30.10.1985 (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36259). 20 Hartmut Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 322–358, hier 345.
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»richtigen« Kader der Partei auch die entsprechenden Funktionen besetzen würden.21 Erst 1988 konnte Gerlach fordern, die Kader zumindest auf kommunaler Ebene selbst und ohne ein Vetorecht der SED bestimmen zu dürfen.22 Zuletzt war die Abhängigkeit der LDPD von der SED durch die Form der Finanzierung gewährleistet. Offiziell nannte man seitens der LDPD als Finanzquellen der Partei die Mitgliedsbeiträge und die Gewinnabführungen der Be triebe der parteieigenen VOB Aufwärts, also der LDPD-eigenen Verlage und Druckereien.23 Man verschwieg bewusst die SED als die dritte und eigentliche Quelle, die auch nach 1982 die finanzielle Hauptlast trug. Eine dahingehende Transparenz hätte selbst für DDR-Verhältnisse politische Sprengkraft geborgen. 24 Unausweichliche Absprachen, strenge Überwachung und eine finanzielle Abhängigkeit der LDPD schlossen ihre Profilierung ohne Kenntnisnahme der SED oder gar gegen ihren Willen aus. Jederzeit hätte die SED entsprechende Vorstöße unterbinden können. Im Kontrast zu den Erfolgsmeldungen der LDPD-Führung standen dann auch die Erfahrungen oder vielmehr Beschwerden der in der Kommunalpolitik engagierten LDPD-Mitglieder. Entgegen den Meldungen ihrer Parteiführung sahen sie nämlich keine Möglichkeiten der Beteiligung. Frustriert schoben sie die von ihnen erwünschte Mitarbeit auf ihre örtlichen Funktionäre ab.25 Doch selbst diese örtlichen Parteivorstände, Abgeordnete und Ratsmitglieder mussten ständig von der Parteiführung aufgefordert werden, »langfristig an der Vorbereitung« von Beschlüssen mitzuarbeiten und »an deren Erfüllung mitzuwirken«.26 Deren Engagement war nach dem Strategiewechsel kaum zu aktivieren gewesen und wenn, dann schnell wieder abgeklungen, wie sich die Parteiführung im geschlossenen Kreis des PA 1987 eingestehen musste.27 21 22 23 24 25 26 27
Bericht zum Treffen mit dem IM [Inoffiziellen Mitarbeiter] »Joachim« am 12.8.1983, 14.00 Uhr in der KW [Konspirativen Wohnung] »Kurt Ahrendts«, unterzeichnet Oberst Dallmann vom 16.8. 1983 (BStU, MfS, Ast Magdeburg 1797/88, Bl. 265–268, hier 268). Vgl. Manfred Gerlach, Parteienbündnis und sozialistische Kommunalpolitik. Über Verantwortung, Engagement und Erfahrung der LDPD. Vortrag an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Potsdam-Babelsberg vom 28.4.1988 (ADL, LDPD, L7-704). Die Vereinigung Organisationseigener Betriebe (VOB) war eine besondere Form gesellschaft lichen Eigentums in der DDR. Vgl. Material zur Beantwortung von Fragen auf Pressekonferenzen vom 18.6.1975 (ADL, LDPD, L2-410b, Bl. 120 f., hier 121). Vgl. Manfred Gerlach, Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat, Berlin 1991, S. 89; »Alles wurde mit Zahlen codiert«. Wie die alten Blockparteien in der DDR vom Staat geschmiert wurden. Der Spiegel vom 20.8.1990, S. 34 f.; Lapp, Gerald Götting, S. 19. Vorlage für die Sitzung des PA am 16.6.1987, (Sekr. A.) vom 9.6.1987 (ADL, LDPD, L2-364, Bl. 8–19, hier 12). Referat Hans-Joachim Heusingers, 11. Sitzung des ZV vom 12.12.1985 (ADL, LDPD, L4-336, Bl. 9–52, hier 47f.). Vorlage für die Sitzung des PA am 16.6.1987, (Sekr. A.) vom 9.6.1987 (ADL, LDPD, L2-364, Bl. 8–19, hier 12).
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Die Ursachen für die fehlenden Beteiligungsmöglichkeiten und damit Quelle der Enttäuschung für die engagierten LDPD-Mitglieder und ihrer Funktionäre lagen zweifellos im Wesentlichen aufseiten der SED. Doch bereits die LDPD-Führung hatte in ihrer SED-Treue die Beteiligungsmöglichkeiten für ihre Mitglieder vorab eingeschränkt. Eine eigenständige Themensetzung etwa war gar nicht erst vorgesehen. Kommunalpolitische Aktivitäten, so der stellvertretende Parteivorsitzende Heusinger im ZV, seien konsequent aus den Volkswirtschaftsplänen abzuleiten und auf deren Erfüllung und Übererfüllung zu richten.28 Im Anschluss barg das Einreichen von Vorschlägen enormes Frustrationspotenzial. Nicht nur machte die Erarbeitung viel Arbeit, die in der Freizeit geleistet werden musste, sondern die LDPD-Mitglieder erhielten auf ihre Vorschläge, die zu ihrer Enttäuschung nicht einmal von entsprechenden SED-Fachabteilungen durchgesehen worden waren, nur »lapidare Antworten«, gespickt mit unverbindlichen Floskeln: man danke für den Hinweis, würde gegebenenfalls darauf zurückkommen, habe selbst daran gedacht, das Problem sei derzeit nicht aktuell.29 Die LDPD-Führung bezeichnete die Antworten dagegen als angemessen und »Ausdruck der engen Verbundenheit«.30 Fortschritt, verstanden im Sinne einer gestaltenden Beteiligung der Mitglieder auf dem Feld der Kommunalpolitik, war ausgeblieben. Dabei hatte die »breiteste Einbeziehung [der Mitglieder] in die staatliche Arbeit zur Lösung der gesamtgesellschaftlichen […] Aufgaben« zur Schlüsselfrage der 1980er-Jahre werden sollen, so Gerlach 1981.31 Nur dürftig kaschierten diesbezügliche Erfolgsmeldungen der LDPD-Spitze während der 1980er-Jahre einen unveränderten politischen »top-down«-Prozess. Die Anfang der 1980er-Jahre vollmundig in Aussicht gestellte Einbeziehung in »vielfältigen Formen der sozialistischen Demokratie«32 erwies sich aus Perspektive der Mitglieder als Makulatur. Der LDPD-Führung war es nach 1982 nicht gelungen, ihre Mitglieder in den politischen Prozess eigenständig gestaltend einzubringen. Dagegen gilt ein in den 1980er-Jahren beobachtbarer Zustrom an Neumitgliedern in die LDPD als indirekter Beleg für einen Erfolg des Strategiewechsels 1982 und somit als Nachweis für einen Liberalisierungskurs mit entsprechen28 Referat Hans-Joachim Heusingers, 11. Sitzung des ZV vom 12.12.1985 (ADL, LDPD, L4-336, Bl. 9–52, hier 48). 29 Tonbandbericht zur Haltung der LDPD in Fragen der Durchsetzung der sozialistischen Demokratie, IMS [Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches] »Schröder«, verschriftlicht am 30.6.1987, OLtn [Oberleutnant] Melzer (BStU, MfS, BV Pdm AKG 1177, Bl. 9–14, hier 10). 30 Ebd. 31 Unser Beitrag zur weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie. Eröffnungsrede Manfred Gerlachs zur Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD vom 10.11.1981 (ADL, LDPD, L2-426, Bl. 5–23, hier 10). 32 Ebd.
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den Partizipationsangeboten. Der »vorsichtige Öffnungskurs«, so ließe sich die Argumentation zusammenfassen, habe mit seinen erweiterten Mitgestaltungschancen die Attraktivität der LDPD erhöht und auf diese Weise zum Mitgliederzuwachs geführt.33 Zweifel an einer solchen Interpretation sind berechtigt. Denn wie könnte ein »Öffnungskurs« der LDPD in den 1980er-Jahren einen Zustrom erklären, der bereits in den 1970er-Jahren eingesetzt hatte und den alle Blockparteien, sogar die SED, zu verzeichnen hatte?34 Eine zweite These mit vertauschter »Ursache-Wirkung« deutet sich an: Hatte die LDPD mit den im Rahmen einer »Liberalisierungstendenz« in Aussicht gestellten Partizipationsmöglichkeiten eher auf gesellschaftlichen Druck reagiert, als dass sie ihn erzeugte? Schon die LDPD-Führung hatte sich Mitte der 1980er-Jahre angesichts des Zustromes für die Beitrittsmotive der Mitglieder interessiert. Man sprach mit Neumitgliedern offen über ihre Motive, erhob Daten und ließ sich schließlich vom engen Gerlach-Mitarbeiter und habilitierten Historiker Manfred Bogisch eine detaillierte Analyse erstellen.35 Man fand heraus, dass Handwerker und Gewerbetreibende ihren Eintritt in die LDPD vornehmlich mit einer Hoffnung auf Hilfe und Vorteile im Beruf verbanden, auf die Beschaffung von Material, Ausrüstung und Gewerberäumen, auf Unterstützung in Rechts- und Steuerfragen, auf Erfahrungsaustausch mit Berufskollegen und Angehörigen der technischen Intelligenz zu Rationalisierungsfragen, aber auch auf die Bekanntmachung von Geschäftseröffnungen und die Erweiterung von Geschäftsbeziehungen. H äufig äußerten sie den Wunsch, in solche Grundeinheiten eingeordnet oder überwiesen zu werden, in denen besonders geachtete oder auch mehrere Berufskollegen wirkten. Zur Übernahme von Funktionen aber zeigten sie nur eine geringe Bereitschaft, wobei berufstypische Funktionen oder solche, die mit h ohem 33 Vgl. Jürgen Frölich, Regierungspartei und Opposition zugleich? Zur Politik der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) in der Wendezeit 1988–1990. In: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre, Berlin 2001, S. 255–268, hier 261; Christoph Wunnicke, Die Blockparteien der DDR. Kontinuitäten und Transformation 1945– 1990, Berlin 2014, S. 84; Jürgen Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD). In: Gerd-Rüdiger Stephan, (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 311–342, hier 327; Michael Walter, »Es ist Frühling, und wir sind (so) frei«. LDP(D), NDPD, DFP und FDP der DDR 1989/90, Würzburg 1998, S. 10; Peter Joachim Lapp, Die Blockparteien und ihre Mitglieder. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band II/1, Frankfurt a. M. 1995, S. 290–300, hier 291. 34 Dass der Zustrom bereits in den 1970er-Jahren eingesetzt hatte, war auch der LDPD nicht entgangen. Vgl. Manfred Bogisch, Wachstum der LDPD seit dem 13. Parteitag. Fortschritte, Probleme, Aufgaben, 1985 (ADL, LDPD, L6-320). Vgl. auch die Stichwortkonzeption für die Abschlußvorlesung des Parteivorsitzenden an der ZPS [Zentralen Parteischule] vom 4.6.1980 (ADL, LDPD, L7-697). Für die Entwicklung der Mitgliederzahlen aller Blockparteien vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990, München 1998, S. 414. 35 Vgl. Manfred Bogisch, Wachstum der LDPD seit dem 13. Parteitag. Fortschritte, Probleme, Aufgaben, 1985 (ADL, LDPD, L6-320).
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nsehen im Territorium verbunden waren, eine Ausnahme bildeten. Die AngeA hörigen der »Intelligenz« erwarteten dagegen in der Regel Auseinandersetzungen und Informationen auf hohem politischen Niveau und übernahmen zur »Anreicherung der Kaderakte« nachgeordnete Funktionen ohne Verantwortung.36 Vor allem aber fanden sich solche Neumitglieder, die einem Drängen der SED, ihr beizutreten, aus »tiefsitzenden politischen Vorbehalten« durch einen Beitritt in eine Blockpartei auszuweichen versuchten, und deren Wahl der »LDPD« dabei eher zweitrangig, häufig einfach zufällig gewesen wäre.37 Fasst man die Motive zusammen, lassen sich unter den Neumitgliedern drei Gruppen unterscheiden: Die große Gruppe derjenigen Neumitglieder, die einem Werben der SED auszuweichen versuchten, die Gruppe mit beruflich-pragmatischen Gründen und diejenigen, die im weitesten Sinne ein politisches Interesse angaben. Alle wurden im Rückblick zu Gewährsmännern eines Liberalisierungskurses. Doch aufschlussreich, ob oder inwieweit ein Liberalisierungskurs stattgefunden hat, ist nun nicht eine Untersuchung des quantitativen Gewichtes der Gruppen zueinander, sondern eine über die Gruppen hinwegreichende Gemeinsamkeit. Gemeinsam war nämlich den Neumitgliedern, dass sie der LDPD beigetreten waren, weil Handwerker meinten, die LDPD würde ihre Interessen vertreten, Künstler der Überzeugung waren, dass man dort Probleme offen diskutieren würde, Angestellte dachten, »wichtige Informationen« zu erhalten, weil sie hofften, ihre Karrierechancen ohne SED-Mitgliedschaft verbessern zu können und weil »Intelligenzler« der Meinung waren, »Mitbestimmung und Mitarbeit« im politischen Entscheidungs- (nicht Verwaltungs-)prozess zu finden. Übergreifend hatte man den Wunsch, Interessen zu artikulieren und zum Tragen zu bringen.38 Den Neumitgliedern war demnach vor allem gemeinsam, dass sie einem Bild der »LDPD« gefolgt waren, einem Bild, an dem die LDPD-Führung eifrig arbeitete. In der Realität dagegen stellte sich schnell heraus, dass eine LDPD-Mitgliedschaft das berufliche Fortkommen nicht wie erhofft beförderte, nicht selten sogar behinderte, dass sich das Niveau der Mitgliederversammlungen als nicht so hoch wie erwartet herausstellte und Informationen auch hier nur unvollständig und verspätet an die Mitglieder weitergegeben wurden. Vor allem aber blieb der erhoffte – und in der Mitgliederwerbung von LDPD-Funktionären bewusst versprochene39 – Einfluss auf die »große« und »kleine« Politik gering. Schnell 36 Zur Arbeit der Parteivorstände mit neuaufgenommenen Mitgliedern – Ergebnisse, Erfahrungen, Probleme und Schlußfolgerungen (Problemdiskussion). Vorlage für die Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes am 11. September 1984 vom 31.8.1984 (ADL, LDPD, L2-338, Bl. 44–61, hier 50). 37 Manfred Bogisch, Wachstum der LDPD seit dem 13. Parteitag. Fortschritte, Probleme, Auf gaben, 1985 (ADL, LDPD, L6-320). 38 Vgl. ebd.; Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), S. 328. 39 Vgl. Zur Arbeit der Parteivorstände mit neuaufgenommenen Mitgliedern – Ergebnisse, Erfahrungen, Probleme und Schlußfolgerungen (Problemdiskussion). Vorlage für die Sitzung
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warf man seitens der Mitglieder daher der Parteiführung vor, die LDPD würde im Ganzen zu wenig bewegen. Es kam eine Unruhe auf, die die LDPD-Spitze zu beschäftigen begann.40 Gerade also die Mitglieder, die in ihrem Wunsch nach politischer Gestaltung der LDPD beigetreten waren, belegen mit ihrem Beitritt eben nicht das Vorhandensein einer Liberalisierung, sondern mit ihrer Enttäuschung das Fehlen politischer Mitbestimmungsmöglichkeiten. Doch trotz der begründeten Vorwürfe der Mitglieder wegen der fehlenden Mitgestaltungsmöglichkeiten hielt Gerlach an seinem Kurs fest, möglichst viele für ein Engagement im Namen der LDPD in der Kommunalpolitik zu gewinnen. Darin ließ ihn die SED gewähren. Dann initiierte er daneben aber noch eine Mitgliederwerbung, die schon wenig später solche Ausmaße annahm, dass die »Abteilung« 1986 besorgt notierte, die ganze politisch-ideologische Arbeit würde unter dem Drang, neue Mitglieder zu gewinnen, leiden.41 So hatte etwa Suhl 1985 in der Mitgliederwerbung schon den Plan von 1990 erfüllt und von den 1 483 neuen Blockparteimitgliedern in Dresden im gleichen Jahr waren allein die Hälfte der LDPD beigetreten. In einzelnen Kreisen hatte die Steigerung bis zu 400 Prozent gegenüber den Vorjahren betragen. Die »Abteilung« war alarmiert. Denn als sei die Planübererfüllung nicht genug, führte die LDPD in ihren Rechenschaftsberichten die Mitgliederwerbung von nun an sogar ausdrücklich als Unterpunkt »Wettbewerbsposition« – ein Affront gegenüber der ausgeklügelten und ausbalancierten Blockparteimitgliederpolitik der SED. Umgehend beschwerten sich die Kreissekretäre der SED bei ihren Führungskadern, die Mitgliederwerbung würde nicht mehr mit der jeweiligen SED-Kreisleitung abgestimmt, mittelfristig würde damit sogar die soziale Struktur der LDPD in Gefahr geraten. Und, berichteten SED-Funktionäre ihren Vorgesetzten entgeistert, dieser Kurs solle nach Plänen der LDPD (!) auch noch wenigstens bis zum 14. Parteitag (1987) fortgeführt werden.42 Doch die höchste SED-Parteiführung reagierte auf die Warnhinweise nicht, das heißt, sie bremste den umtriebigen Blockparteivorsitzenden nicht.43
des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes am 11. September 1984 vom 31.8.1984, (ADL, LDPD, L2-338, Bl. 44–61, hier 49). 40 Vgl. ebd., Bl. 58. 41 Zur weiteren Auswertung der Beratung am 16.1.1986 mit den Mitarbeitern der BL [Bezirksleitung] der SED, die für die Zusammenarbeit mit den befreundeten Parteien verantwortlich sind. Fragen, Probleme, Erfahrungen vom 21.1.1986 (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36259). 42 Ebd. 43 Offenbar herrschte innerhalb der SED Uneinigkeit über die Bewertung des LDPD-Kurses. Siegfried Suckut weist auf eine grundsätzlichen Billigung »erheblicher Werbeanstrengungen« seitens der SED-Spitze seit den 1970er-Jahren hin. Vgl. Siegfried Suckut, Die DDR-Blockparteien im Lichte neuer Quellen. In: Jürgen Weber (Hg.), Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur, München 1994, S. 99–197, hier 112.
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2. Der Selbsterhaltungstrieb der Macht Mit den Neumitgliedern war der LDPD auch ein merklicher Anteil einer selbstbewussten Jugend beigetreten, die sich seit Ende der 1970er-Jahre einerseits vom Staat abwandte – sie würde die Qualität der gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR nicht begreifen, weil sie den Beginn der sozialistischen Revolution nicht erlebt hätte, kommentierte Gerlach, und andererseits an die Politik anders heranging. »Pragmatischer«, nannte es Gerlach, denn sie würde fragen, was die LDPD für eine Partei sei, was sie bewirke, und sie wolle weltanschauliche Pro bleme diskutieren usw.44 Und auch unter den Bestandsmitgliedern hatte man Anfang der 1980er-Jahre etwa über Solidarność in Polen gesprochen, um damit zwischen den Zeilen auf die Probleme im eigenen Land zu verweisen: Ursache dort wären politische Versäumnisse der Vergangenheit, eine verfehlte Investitionspolitik, die Verschuldung gegenüber dem Kapitalismus, Misswirtschaft und Korruption, die Planund Preisgestaltung. Man forderte »Ehrlichkeit«, »Offenheit« und Aufhebung der Widersprüchlichkeit von »Wort und Tat«. Man begrüßte offiziell Honeckers Plan von der Fortführung der Wirtschafts- und Sozialpolitik für die 1980er-Jahre und bezweifelte zugleich, dass die Wirtschaft in der Lage sei, diese anspruchsvolle Kombination zu tragen. Überhaupt wuchsen bei den Mitgliedern die »Zweifel an der Überlegenheit der sozialistischen Demokratie aus zeitweilig auftretenden hemmenden Erscheinungen des Alltags«, wie die Führungskader feststellten. Immer offener stellten Mitglieder die führende Rolle der SED infrage. Die »Diktatur des Proletariats« war schon Anfang der 1980er-Jahre ein ausgesprochenes »Reizwort«. In der LDPD-Zentrale versuchte man den Unmut als »Einzelfälle« kleinzureden und ergriff Partei für die Vorherrschaft der SED.45 44
Unser Beitrag zur weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie. Eröffnungsrede Manfred Gerlachs zur Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD vom 10.11.1981 (ADL, LDPD, L2-426, Bl. 5–23, hier 8); »Auswertung der Konferenz des Sekretariats des Zentralkomitees der SED mit den 1. Kreissekretären.«, Rede Manfred Gerlachs im PA vom 8.3.1983 (ADL, LDPD, L2-325, Bl. 9–22, hier 20 f.); Zur »selbstbewussten Jugend« vgl. Andreas Malycha, Die SED in der Ära Honecker: Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989, München 2014, S. 292 f.; Thomas Lindenberger, zit. nach: Protokoll der 32. Sitzung der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« am Montag, dem 28. und am Dienstag, dem 29. April 1997. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, Band V, Alltagsleben in der DDR und in den neuen Ländern, Baden-Baden 1999, S. 32 f. 45 Zitate entnommen: Gruppengespräch des Vorsitzenden der LDPD mit Vorsitzenden des BV Berlin am 14.7.1981, Stichwortnotiz (ADL, LDPD, L7-699); Unser Beitrag zur weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie. Eröffnungsrede Manfred Gerlachs zur Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes der LDPD vom 10.11.1981 (ADL, LDPD, L2-426, Bl. 5–23).
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Die zuströmenden kritischen Neumitglieder trafen also auf Bestandsmitglieder, denen man auch nach Jahren der Überzeugungsarbeit noch die »historische Entscheidung der LDPD für den Sozialismus« an der Parteischule erklären musste.46 Sie trafen auf Mitglieder, die sich, mit den Worten Jürgen Frölichs, über die Jahre eine gewisse Liberalität bewahrt hatten und bei denen sich Reste liberaler Denkungsart und antisozialistische, vor allem aber Anti-SED-Ressentiments hielten.47 Zur begrifflichen Fassung dieses Phänomens hat Frölich »Liberalismus in den Köpfen« und auch »krypto-liberal« vorgeschlagen.48 Da es dazu noch zum erklärten und mit der SED abgestimmten Profil der LDPD gehörte, eine »kritische Atmosphäre« zu pflegen, war mit der forcierten Mitgliederwerbung nahezu abzusehen gewesen, dass die Diskussionen an der Basis immer widerspruchs bereiter werden würden.49 Doch diese Liberalisierungsorientierung der Basis mit ihrer, wie die LDPD- Führung meinte, »falschen« Vorstellung von »liberal« gerade unter den Neumitgliedern, löste bei der LDPD-Führung Bedenken aus. Man fragte sich selbstkritisch, ob man nicht selbst daran Schuld hätte. Denn wären die Erwartungen der (Neu-)Mitglieder nicht eine Reflexion des Bildes einer Partei, die keine Tabus kenne, die eine offene Aussprache praktiziere und eine kritische Atmosphäre pflege? Hätten die Ortsvorsitzenden in den Werbegesprächen nicht sogar ausdrücklich diese Erwartungen geweckt, fragte etwa Bogisch in seiner bereits erwähnten Analyse. Und er kam zu der Empfehlung, dass eine offene Erörterung der Beweggründe für den Parteieintritt nötig wäre und es keine Werbung um jeden Preis geben dürfe.50 Man fragte sich in der Parteiführung nicht – auch Gerlach nicht – wie man das kritische Potenzial der Basis im Rahmen eines Liberalisierungs- oder Profilierungskurses politisch nutzen könnte. Es wurde nur gefragt, ob die Vorstände dem Diskussions- und Auseinandersetzungswillen der Mitglieder ideologisch gewachsen seien.51 Das kritische Potenzial in der Bevölkerung, das die LDPD-Führung hier nicht zuletzt durch den Mitgliederzuwachs verstärkt zu spüren bekam, war ein seit 46
Aktennotiz für Pfrd. [Parteifreund] Dr. Gerlach. Betr. PA-Sitzung am 10.5.1983. Zirkelthemen. Dr. Agsten. Persönlich vom 9.5.1983.« (ADL, LDPD, L2-326, Bl. 45). 47 Frölich, Regierungspartei und Opposition zugleich?, S. 259. 48 Vgl. Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), S. 338 f. 49 Vgl. Manfred Bogisch, Wachstum der LDPD seit dem 13. Parteitag. Fortschritte, Probleme, Aufgaben, 1985 (ADL, LDPD, L6-320). 50 Ebd.; vgl. auch »Zur Arbeit der Parteivorstände mit neuaufgenommenen Mitgliedern – Ergebnisse, Erfahrungen, Probleme und Schlußfolgerungen (Problemdiskussion). Vorlage für die Sitzung des Politischen Ausschusses des Zentralvorstandes am 11. September 1984 vom 31.8.1984 (ADL, LDPD, L2-338, Bl. 44–61, hier 49). 51 Vgl. Auswertung der Konferenz des Sekretariats des Zentralkomitees der SED mit den 1. Kreissekretären. Rede Manfred Gerlachs im PA vom 8.3.1983 (ADL, LDPD, L2-325, Bl. 9–22, hier 20 f.).
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den 1970er-Jahren gesamtgesellschaftliches Phänomen, was unter anderem auf die innerdeutschen Verträge und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zurückgeführt wird, als sich aufgrund deren Auswirkung das »Verhalten relevanter Teile der Gesellschaft gegenüber den Herrschenden« zu ändern begonnen hat.52 Eine bis dahin nur latent vorhandene Kritik am undemokratischen Paternalismus der SED wurde immer deutlicher öffentlich artikuliert und man begann sich zu organisieren.53 Das Selbstbewusstsein der Bevölkerung gegenüber den Behörden und auch die halböffentliche Kritik in Einzelfragen nahmen zu. Die Bürger betonten ihre Ansprüche und ließen sich weniger als zuvor »einfach alles gefallen«.54 Ende der 1970er-Jahre war dann ein Großteil der Bürger von der Politik entfremdet und das Interesse am öffentlichen Leben nahm mit der Kluft zwischen Erfolgspropaganda und Alltagserfahrung immer mehr ab. Hinzukam der erhebliche Arbeitsaufwand für gewünschtes politisches Engagement, Sitzungen fanden am Wochenende statt und die Aufgabe, zwischen den Sorgen der Bürger und den Beschlüssen der SED zu vermitteln, war wegen des geringen Einflusses undankbar und frustrierend. Diesbezügliche Beschwerden der LDPD-Mitglieder waren keine Ausnahmen. Infolgedessen sank die Bereitschaft zu politischem Engagement in den vorhandenen Institutionen im besten Falle noch auf ein Loyalitäts- und Karriereminimum.55 Dadurch aber gelang es der SED kaum noch, die Anteile anderer Parteien in der Nationalen Front neben ihr zu füllen, selbst ihre eigenen Mitglieder mussten nicht anders als die der befreundeten Parteien und der Massenorganisationen eher in die Volksvertretung gedrängt werden, als dass großer Andrang geherrscht hätte.56 Diese Situation aber war für die SED Anfang der 1980er-Jahre zu einem ernsthaften Problem geworden. Denn zum einen nahm durch das sichtbare Abwenden der Bürger die demokratische Fassade Schaden, zum anderen ging man mit dem Marxismus-Leninismus davon aus, dass der Grad der Einbeziehung der Bevölkerung positiv mit der Effizienz staatlichen Handelns korreliere und man daher staatlicherseits auf das Wissen und die Erfahrung der Massen zugreifen müsste. Drittens stieg schlicht und schwer eindämmbar das kritische Potenzial in der Bevölkerung – das Trauma von 1953 hatte die SED-Spitze nie verwunden. Die SED hatte somit mehrfachen Grund, die Ausweitung politischer Par52 Siegfried Suckut, Seismographische Aufzeichnungen. Der Blick des MfS auf Staat und Gesellschaft in der DDR am Beispiel der Berichte an die SED-Führung 1976. In: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft, Göttingen 2007, S. 99–128, hier 100. 53 Gerd Meyer, Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991, S. 385. 54 Ebd., S. 339. 55 Ebd., S. 374. 56 Werner Kirchhoff, Das Verhältnis der SED zu den anderen Blockparteien. Die »Nationale Front« der DDR unter dem Kommando des Generalsekretärs. In: Hans Modrow (Hg.), Das Große Haus, Berlin 1995, S. 196–207, hier 204; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn 1999, S. 119.
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tizipation anzustreben und die »umfassende Einbeziehung der Bürger in den politisch-staatlichen Entscheidungsprozess« zur »Grundfrage der weiteren Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie« zu erheben.57 Doch erreichte sie die Bevölkerung immer schlechter. Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann, warum die SED zum LDPD-Parteitag 1982 ihren Vertreter Erich Mückenberger mit einem Grußwort entsandt hatte, in dem dieser erstmalig von »Gleichberechtigung« gesprochen hatte.58 Und damit erklärt sich, warum die SED Gerlachs Strategiewechselparteitag bescheinigte, sich programmatisch ganz im Einklang mit Honecker zu befinden.59 Denn es war ein SED-eigenes Interesse Anfang der 1980er-Jahre, die Bündnispolitik und die Blockparteien zu reaktivieren und deren Möglichkeiten zur Diskussion und Partizipation begrenzt auszuweiten.60 Das hieß dann aber auch nicht, dass die LDPD infolgedessen über »Integrations- und Effektivitätsgesichtspunkten« hinaus für die SED relevant geworden wäre.61 Wie auch die übrigen befreundeten Parteien verzeichnete die LDPD in den 1980er-Jahren letztlich einen Bedeutungsgewinn, ohne den eigenen Einfluss ausgebaut zu haben.62 Oder mit den Worten Hans Michael Kloths, es handelte sich dabei um ein »bewusstes an der längeren Leine Führen der Blockparteien«.63
3. Schluss: Emanzipation, lat. emancipatio Nach Václav Havel ist es der »Selbsterhaltungstrieb der Macht«, der die Machthaber zwinge, die Veränderung im Denken der Bevölkerung, in der g eistigen und gesellschaftlichen Atmosphäre zu beachten und auf diese V eränderungen
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Hans-Michael Kloth, Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«, Berlin 2000, S. 60 f. 58 Vgl. Gerhard Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien – Die LDPD. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band II/4, Baden-Baden 1995, S. 2399–2463, hier 2408. 59 Vgl. Information über den 13. Parteitag der LDPD am 5.–7.4.1982 in Weimar 8.4.1982, als Anlage zu: Protokoll der Beratung der Abteilung vom 12.4.1982, »Abteilung«, Berlin, vom 13.4.1982 (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36256/2). 60 Vgl. Meyer, Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, S. 38, 320, 331; Peter Joachim Lapp, Die Blockparteien und ihre Mitglieder. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band II/1, Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Frankfurt a. M. 1995, S. 290–300, hier 291. 61 Vgl. Kloth, »Zettelfalten«, S. 162. 62 Vgl. ebd., S. 169. 63 Ebd., S. 172.
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elastisch zu reagieren.64 Ganz in diesem Sinne war die »Liberalisierung« der Ära Honecker ein durch äußere Umstände erzwungener Schwenk der SED-Spitze gewesen, kein immanent-ideologischer. »Eine in jedem Augenblick aufhaltsame, widerrufliche ›Liberalisierung‹, die dem Regime gegen den Strich ging«, so Gilbert Merlio.65 Die Duldung des Strategiewechsels Gerlachs durch die SED-Spitze war also ein Symptom dieses Selbsterhaltungstriebes der Macht und bedeutete im Herrschaftskonzept der SED nicht einmal einen Umbruch, im Gegenteil: Nach wie vor war und blieb es der Auftrag der LDPD (und der übrigen Blockparteien), die von der SED nicht erreichbaren Bevölkerungsteile an sich zu binden und für die Teilnahme am SED-geführten gesellschaftspolitischen Prozess zu aktivieren.66 Da kam es ihr ganz recht, dass der bislang stets treue Funktionär Manfred Gerlach eine massive Mitgliederwerbung betreiben ließ, die das SED-abgewandte und kritische Bürgerpotenzial abzuschöpfen und für ein Engagement in der Kommunalpolitik zu gewinnen versprach. Dass er damit womöglich eigene Interessen verfolgte, spielte für die SED vor dem Hintergrund ihrer Sicherheit durch umfassende Absprachen und Kontrollen der LDPD keine Rolle. Aus SED-Perspektive hatte sein Strategiewechsel letztlich ganz seinem Auftrag als Funktionär entsprochen, die Aktivität der Mitglieder zur gesellschaftlichen Mitverantwortung zu erhöhen und Beiträge zur Stärkung der ökonomischen Leistungskraft und Mitwirkung innerhalb der sozialistischen Demokratie zu leisten, etwas, was der SED selbst immer schlechter gelang.67 Der »Freiraum«, in den Gerlach Anfang der 1980er-Jahre mit seinem Strategiewechsel in Richtung »Bürgerbeteiligung« gestoßen war, war der SED nicht abgerungen gewesen, sondern aus gutem Grund gewährt worden.68 Die »Profilierungsstrategie« (Jürgen Frölich)69, »Selbstbefreiung der LDPD« (Manfred Bogisch)70, »die eigenständigen Strategien zur Mitwirkung der LDPD« (Peter Joachim Lapp)71, »der Versuch der Wiedergewinnung eines eigenen politischen Profils« (Hartmut
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Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 76. Gilbert Merlio, Opposition und Resistenz im Nationalsozialismus und in der DDR: Überlegungen zur Begrifflichkeit in vergleichender Absicht. In: Totalitarismus und Demokratie, 2 (2005) 1, S. 61–70, hier 64. 66 Vgl. Manfred Gerlach, Redemanuskript, 2. Sitzung des ZV vom 17.9.1987 (ADL, LDPD, L4-344, Bl. 8–15, hier 9). 67 Vgl. Zur Zusammenarbeit mit den befreundeten Parteien, [Frühjahr 1986] (SAPMO, BArch, DY 30/vorl. SED/36259). 68 Vgl. Lutz Kirschner, Gesellschaftskonzeptionelle Vorstellungen der SED-Reformer in den 1980er-Jahren. In: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre, Berlin 2001, S. 477–493, hier 485. 69 Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), S. 320. 70 Manfred Bogisch, Die LDPD und das Ende der DDR, Berlin 2009, S. 20. 71 Lapp, Die Blockparteien und ihre Mitglieder, S. 296.
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Zimmerman)72, die »angestrebte Eigenständigkeit« (Hans Michael Kloth)73 der frühen 1980er-Jahre bezeichnen somit Facetten eines Strategiewechsels, der sich am Ende als »Emanzipation« im ursprünglichen Wortsinn entpuppt: »emancipatio« (lat.) bezeichnet dabei den römischen Rechtsakt der Freilassung – nicht der Selbstbefreiung.74 Doch die Konsequenzen des Strategiewechsels trugen weiter. Denn die Kommunalpolitik, das Kernstück des Gerlach’schen Strategiewechsels, war und blieb ein von der SED autoritär verfügtes System lokal begrenzter Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, die im sozialen Nahbereich das »Arbeite mit, plane mit, regiere mit« als demokratische Substanz des Staatssozialismus verbürgen sollte.75 Mit seinem Drängen der Mitglieder in die Kommunalpolitik hatte Manfred Gerlach die der LDPD im Herrschaftssystem zugewiesene Einbindungsund Disziplinierungsfunktion aufrecht gehalten – und nicht liberalisiert.76 Er hatte durch eine forcierte Werbung von Neumitgliedern und der Orientierung der Mitglieder auf die Kommunalpolitik geholfen, das seit den 1970er-Jahren wachsende kritische Potenzial der Bevölkerung aufzunehmen und auf dem eng umgrenzten Feld der Kommunalpolitik zu kanalisieren. Dorthin nämlich, wo es die SED mit ihrem Anleitungsprinzip zur bloßen Teilnahme am Konsultationsvorgang degradieren und absorbieren konnte. Stephan Merl spricht in diesem Zusammenhang von »Scheinpartizipation«, Stefan Wolle nennt ihn die »Aktivitätsfalle« und Thomas Lindenberger den dazugehörigen SED-Slogan »Arbeite mit, plane mit, regiere mit« schlicht eine »zynische Lüge«.77
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Vgl. Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/ DDR, S. 347. 73 Vgl. Kloth, »Zettelfalten«, S. 162. 74 »emancipatio«. In: Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Band 1, Hannover 1913 (Nachdruck Darmstadt 1998), Sp. 2396. Vgl. Gottfried Schiemann, »emancipatio«. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hg.), Der Neue Pauly, Band III, Stuttgart 1997. Vgl. die Auffassung einer »liberal-emanzipatorischen« Tendenz der LDPD, die genau diesen Aspekt der Freilassung nicht bezeichnet: Frölich, Regierungspartei und Opposition zugleich?, S. 259 f. 75 Vgl. Thomas Lindenberger, zit. nach: Protokoll der 32. Sitzung der Enquete-Kommission, S. 28 f. 76 Vgl. Kloth, »Zettelfalten«, S. 164, 408. Vgl. die Einlassung Bogischs, die SED-Führung habe aus ideologischer Verblendung und politischer Verunsicherung nicht begriffen, dass Gerlach durch die Erschließung von Bürgerressourcen die DDR habe stabilisieren und den Sozialismus attraktiver machen wollen. Manfred Bogisch, Blockpartei strebt nach Eigenständigkeit. Zur Politik der LDPD Ende der siebziger Jahre. In: Prokop (Hg.), Der versäumte Paradigmenwechsel, S. 334–350, hier 349. 77 Stephan Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 138–140; Wolle, Heile Welt der Diktatur, S. 111; Thomas Lindenberger, SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«: Problemstellung und Begriffe. In: Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 23–47, hier 38.
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Gerlachs Strategiewechsel, mit dem er Anfang der 1980er-Jahre gemeint hatte, den Stachel wider die SED zu löcken und sein Gewicht zu erhöhen, brachte nicht nur dahingehend keinen Erfolg, er erwies sich sogar als von der SED einkalkuliertes und willkommenes Element ihrer Herrschaftssicherung – »Tragik« nennt man seit Aristoteles die gleichzeitige Empfindung von Mitleid und Furcht.78
78 Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, (Kap. 6) 1449b24–28.
Alexander Koch »Erbe« und »Tradition« der Liberaldemokraten. Zum Geschichtsbild einer »bürgerlichen« Blockpartei in den 1970er- und 1980er-Jahren
In der Regel stehen die Machthaber in Diktaturen unter größerem Legitimierungsdruck1 als jene in demokratischen Staaten, zumal sie ihren Herrschaftsanspruch häufig gegen den Willen breiter Bevölkerungskreise durchzusetzen suchen. Solange die außenpolitische Stabilität, die volkswirtschaftliche Prosperität sowie die wohlfahrtsstaatliche Versorgung hinreichend gewahrt bleiben, lässt sich die systemimmanente »Legitimitätslücke«2 zumindest behelfsmäßig kompensieren. Sollte sich jedoch die Leistungsbilanz der politischen Führungsschicht in einem oder gar mehreren dieser Bereiche verschlechtern und mithin der Legitimitätsglauben der Bürger gegenüber der aufgezwungenen Herrschaftsund Gesellschaftsordnung noch weiter zu sinken drohen, ist ein zusätzliches Maß an Legitimation erforderlich. Hierauf abzielende Bemühungen der herrschenden Eliten schlagen sich vorwiegend in einer verstärkten Propagandaarbeit nieder, in deren Rahmen nicht selten einzelne Bestandteile der offiziellen Herrschaftsideologie einer grundlegenden Revision unterzogen werden.3 1
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Der vorliegende Beitrag folgt der in den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen weithin gebräuchlichen Begriffsdifferenzierung, der zufolge »Legitimität« die Anerkennung der Rechtmäßigkeit eines politischen Systems durch die Bevölkerung und »Legitimation« bzw. »Legitimierung« die seitens der Herrschaftseliten angewendeten Strategien zur Generierung eben jener Legitimität sowie der damit verbundenen politischen Unterstützung kennzeichnet. Vgl. Bettina Westle, Legitimation. In: Everhard Holtmann (Hg.), Politik-Lexikon, 3. Auflage München 2000, S. 341–346. Manfred G. Schmidt, Legitimation durch Performanz? Zur Output-Legitimität in Autokratien. In: Uwe Backes/Steffen Kailitz (Hg.), Ideokratien im Vergleich. Legitimation – Kooptation – Repression, Göttingen 2014, S. 297–312, hier 298 f. Vgl. Günther Heydemann, Geschichtsbild und Geschichtspropaganda in der Ära Honecker. Die »Erbe-und-Tradition«-Konzeption der DDR. In: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–1989, Frankfurt a. M. 1994, S. 161–171, hier 161. Zum Komplex der Herrschaftslegitimation in nicht-demokratischen Staaten allgemein vgl. ferner Uwe Backes, Vier Grundtypen der Autokratie und ihre Legitimierungsstrategien. In: Steffen Kailitz/Patrick Köllner (Hg.), Autokratien im Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 157–175; Julia Grauvogel/Christian von Soest, Legitimationsstrategien von Autokratien im Vergleich. Ergebnisse einer neuen Expertenumfrage. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 11 (2017) 2, S. 153–180.
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Auch das staatssozialistische Regime in der DDR bildete diesbezüglich keine Ausnahme. Seit den 1970er-Jahren sahen sich die Sozialistische Einheits partei Deutschland (SED) und die übrigen Blockparteien4 mit zunehmenden Legitimitätsproblemen konfrontiert. Zwar hatte die Honecker-Regierung mit hilfe von massiven Investitionen in sozialpolitische Programme für einige Erleichterungen des Alltagslebens – etwa durch die Verbesserung der Wohnbedingungen oder den Ausbau der Kinderbetreuung – gesorgt, jedoch wuchs angesichts der stagnierenden volkswirtschaftlichen Entwicklung sowie der daraus resultierenden Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung und Konsumgüterproduktion die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Leistungen liten immer mehr.5 Infolgedessen entwickelte die Partei- und der politischen E Staatsführung neue Legitimierungsstrategien, um die politische Integration der ihr unterworfenen Gesellschaft dauerhaft zu sichern. Darunter fielen vor allem die vermehrten Anstrengungen, ein sozialistisches Nationalbewusstsein in der DDR zu stiften. Ein wesentliches Element dieser politisch-ideologischen Kurskorrektur war ein gewandeltes Geschichtsbild, das nun nicht mehr ausgewählte, als progressiv eingestufte Epochen, Klassenkräfte und Persönlichkeiten in der Vergangenheit fokussierte, sondern auf die gesamte deutsche Geschichte rekurrierte. Den theoretischen Bezugsrahmen hierfür bildete die seit Mitte der 1970er-Jahre von der DDR-Historikerschaft vorangetriebene Diskussion über »Erbe« und »Tradition«.6 4
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Der Begriff »Blockpartei« leitet sich von der Mitgliedschaft entsprechender Vereinigungen im Demokratischen Block der Parteien und Massenorganisationen ab. Obwohl auch die SED formal diesem Bündnis angehörte, wird sie aufgrund ihrer hegemonialen Stellung gemeinhin nicht zu den Blockparteien gezählt. Daher findet der Begriff im Folgenden ausschließlich als Sammelbezeichnung für die vier übrigen Parteien – Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDUD), Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) – Verwendung. Vgl. »Blockpolitik«. In: Andreas Herbst/Winfried Ranke/Jürgen Winkler, So funktionierte die DDR, Band 1: Lexikon der Organisationen und Institutionen (A–L), Reinbek 1994, S. 123–129; Siegfried Suckut, Blockpolitik. In: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/ Dorothee Wilms (Hg.), Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderborn 1996, S. 125–131. Zum Typus der Hegemonialpartei bzw. hegemonialer Parteiensysteme vgl. ferner Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Reprint, Colchester 2005, S. 204–211. Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, 3. Auflage, Köln 2013, S. 253–257, 288–290; Dierk Hoffmann, Von Ulbricht zu Honecker. Die Geschichte der DDR 1949–1989, Berlin 2013, S. 112–118, 136–140; Andreas Malycha, Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989, München 2014, S. 177–182, 289–291. Vgl. Sigrid Meuschel, Auf der Suche nach Madame L’Identité? Zur Konzeption der Nation und Nationalgeschichte. In: Gert-Joachim Glaeßner (Hg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik, Kultur, Gesellschaft, Opladen 1988, S. 77–93; Ilko-Sascha Kowalczuk, Die DDR-Historiker und die deutsche Nation. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 46 (1996) 39, S. 22–30. Die
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Wenngleich die »Erbe-und-Tradition«-Thematik in der historischen Forschung bereits hinlänglich untersucht worden ist,7 hat deren Rezeption durch die unterschiedlichen politischen Akteure in der DDR bislang kaum Beachtung gefunden. Das ist umso bemerkenswerter, als die unter dem Dach der Nationalen Front zusammengefassten Blockparteien und Massenorganisationen in erster Linie dafür zuständig waren, den ihnen jeweils als Zielgruppen zugewiesenen gesellschaftlichen Schichten die herrschaftsleitende Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sowie die daraus abgeleiteten programmatischen Z iele der hegemonialen SED nahezubringen. Vor diesem Hintergrund widmet sich der vorliegende Beitrag den Bestrebungen der Liberaldemokraten, mittels Erarbeitung und Vermittlung eines die »Erbe-und-Tradition«-Konzeption aufgreifenden Geschichtsbildes zur »sozialistischen Bewusstseinsbildung« der Parteimitglieder beizutragen. Zunächst werden Verlauf und Ergebnisse der geschichtstheoretischen Debatte um »Erbe« und »Tradition« rekapituliert, um den Entstehungskontext des modifizierten Geschichtsverständnisses sowie die ihm zugrunde liegenden Begrifflichkeiten zu klären. Ausgehend davon richtet sich der Fokus auf die konstitutiven Elemente des von der LDPD-Führung propagierten Geschichtsbildes. Hier gilt es vor allem, die parteispezifische Berufung auf die – nach Maßgabe der marxistisch-leninistischen Ideologie – fortschrittlichen Errungenschaften des deutschen Bürgertums näher zu beleuchten. Schließlich wird der Frage nachgegangen, inwieweit es im Rahmen der umfangreichen geschichtspropagandistischen Aktivitäten tatsächlich gelang, ein sozialistisches Geschichtsbewusstsein bei der liberaldemokratischen Parteibasis herauszubilden.
Die »Erbe-und-Tradition«-Diskussion in der DDR-Geschichtswissenschaft Während die historische Forschung in pluralistisch-demokratischen Gesellschaften prinzipiell auf akademischer Freiheit beruht und – zumindest dem Anspruch nach – politisch ungebunden ist, wurde ihr in der diktatorisch verfassten DDR von vornherein eine herrschaftslegitimierende und systemstabilisierende Funktion
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wichtigsten Beiträge zur »Erbe-und-Tradition«-Konzeption sind abgedruckt in Helmut Meier/ Walter Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker, Berlin (Ost) 1988. Vgl. Heydemann, Geschichtsbild und Geschichtspropaganda in der Ära Honecker; Ulrich Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR. Zum gewandelten Geschichtsbild der SED. In: Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Band I: Historische Entwicklung, Theoriediskussion und Geschichtsdidaktik, Berlin (West) 1988, S. 129–153.
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zugewiesen.8 Gemäß dem Parteiauftrag der SED oblag es der Disziplin, auf dem weltanschaulichen Fundament des Marxismus-Leninismus ein einheitliches Geschichtsbild9 bereitzustellen, um dergestalt ein DDR-spezifisches Geschichtsbewusstsein10 in der Bevölkerung zu erzeugen. Damit sollte ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung eines eigenständigen Staatsbewusstseins geleistet werden, das die Bürger sowohl zur aktiven Mitarbeit beim Aufbau des Sozialismus motiviert als auch gegen geistige Einflüsse aus dem westlichen Ausland immunisiert.11 Gleichwohl den marxistisch-leninistischen Historikern demnach eine klar definierte Aufgabe zugedacht war, mussten sie fortwährend die Veränderungen im 8 Zu den divergierenden geschichtswissenschaftlichen Fachverständnissen in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs und der »freien Welt« vgl. ausführlich Günther Heydemann, Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland. Entwicklungsgeschichte, Organisationsstruktur, Funktionen, Theorie- und Methodenprobleme in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, Frankfurt a. M. 1980, S. 56–64, 189–199; Horst Möller, Geschichte im demokratischen Pluralismus und im Marxismus-Leninismus. In: Fischer/Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Band I, S. 33–43. 9 Unter dem »Geschichtsbild« verstand man im Rahmen der DDR-typischen marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie das durch die Geschichtswissenschaft in »praktischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der dialektisch-materialistischen Erforschung der Geschichte« zu erarbeitende »Gesamtbild vom tatsächlichen Ablauf der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft«. Es setze sich aus »konkreten Tatsachen, historisch-materialistischen Verallgemeinerungen und ideologisch-theoretischen Positionen« zusammen und solle vor allem Verständnis für die »den einzelnen [historischen] Ereignissen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten« vermitteln. Die konkrete Ausgestaltung des Geschichtsbildes sei indes vom jeweils »historisch gegebenen Stand der Gesellschafts- und Wissenschaftsentwicklung« abhängig, sodass es mit »Fortschreiten des Geschichtsprozesses« ständig erweitert werden müsse. Insgesamt bilde das Geschichtsbild eine wichtige Grundlage für die »Ausarbeitung und Begründung der Politik der Partei der Arbeiterklasse bei der Verwirklichung ihrer historischen Mission« sowie die »Auseinandersetzung mit dem Imperialismus«. »Geschichtsbild«. In: Manfred Berger/Helmut Hanke/ Franz Hentschel/Hans Koch/Werner Kühn/Heinz Sallmon (Hg.), Kulturpolitisches Wörterbuch, 2. Auflage, Berlin (Ost) 1978, S. 239 f. 10 »Geschichtsbewusstsein« wurde seitens der Historikerschaft in der DDR definiert als »Teil des gesellschaftlichen und individuellen Bewusstseins«, in dem sich »die Erfahrungen und Kenntnisse über die historische Entwicklung der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Lehren für die Gegenwart« widerspiegelten. Es beruhe auf dem wissenschaftlichen Geschichtsbild und erzeuge »konkret-historische Wertungen zum gesellschaftlichen und individuellen Geschehen und Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart«, die aufgrund ihrer »außerordentlich starken emotionalen Wirksamkeit« von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die »ideologisch-politische Haltung der Menschen« seien. Insofern habe das Geschichtsbewusstsein »wesentlichen Anteil an der Formierung sozialistischer Persönlichkeiten [und] insbesondere an der Herausbildung sozialistischer Grundüberzeugungen«. »Geschichtsbewußtsein«. In: Horst Bartel/Dieter Fricke/Joachim Herrmann/Werner Horn/Heinz Hümmler/Walter Schmidt/Günter Vogler (Hg.), Wörterbuch der Geschichte, Band 1: A–K, Berlin (Ost) 1983, S. 394. 11 Vgl. Alexander Fischer/Günther Heydemann, Weg und Wandel der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsverständnisses in der SBZ/DDR seit 1945. In: Dies. (Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Band I, S. 3–30, hier 6 f., 12 f.; Johannes Kuppe, Die Geschichtsschreibung der SED. In: Fischer/Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Band I, S. 103–128, hier 106 f.
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politisch-ideologischen Selbstverständnis der Staatspartei reflektieren. Folglich unterlag das von ihnen produzierte Geschichtsbild selbst historischen Wandlungen. So markierte auch der Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker am Anfang der 1970er-Jahre eine Zäsur in der Geschichtsforschung der DDR, unter deren Vertretern sich in der Folgezeit eine intensive Debatte über Konzepte einer neuartigen Geschichtsperspektive und -propaganda entspannte.12 Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung bildeten die Beschlüsse des VIII. Parteitags der SED vom Juni 1971, mit denen nicht nur – wie gemeinhin bekannt – die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« proklamiert, sondern auch eine radikale Abkehr von der bis dahin vertretenen deutschlandpolitischen Doktrin vollzogen wurde. Anstelle des gesamtdeutschen Bezugsrahmens trat jetzt eine internationalistische Generallinie, welche die »Wesensgleichheit« der historischen Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR mit jener in den anderen »sozialistischen Bruderländern« unter der Ägide der Sowjetunion propagierte. Während das revolutionäre Moment in der eigenen Staatsgeschichte fortan wieder stärker betont wurde, trat die nationale Komponente zunächst völlig in den Hintergrund.13 Diese Politik fand unter anderem darin seinen Ausdruck, dass die Partei- und Staatsführung das Adjektiv »deutsch« aus fast allen Organisations- und Institutionsbezeichnungen tilgen oder die Charakterisierung der DDR als »sozialistischer Staat deutscher Nation« durch die Verfassungsrevision von 1974 eliminieren ließ. Gekoppelt mit einer verstärkten Abgrenzungskampagne gegenüber der Bundesrepublik wurde nun unter der Formel »revolutionärer Weltprozess« eine Ostorientierung forciert, um herauszustellen, dass sich – wie der »Zentrale Forschungsplan für die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften bis 1975« postulierte – das »um die Sowjetunion zusammengeschlossene sozialistische Weltsystem als gesetzmäßiges Ergebnis des gesamten Verlaufs der Weltgeschichte herausgebildet« habe.14 Allerdings war der seit den frühen 1970er-Jahren rein sozialistisch attribuierte Nationsbegriff so abstrakt und wirkte die Propagierung einer vermeintlich gleichmäßigen Entwicklung der SBZ/DDR mit den anderen sozialistischen Staaten des unmittelbaren sowjetischen Einflussbereichs derart künstlich, dass man beides um die Mitte des Jahrzehnts allmählich wieder revidierte.15 Angesichts der von der SED vorgenommenen politisch-ideologischen Kursmodifikationen war auch eine Neukonzeption des verbindlichen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes notwendig, zumal immer offensichtlicher wurde, 12 13 14 15
Vgl. Heydemann, Geschichtsbild und Geschichtspropaganda in der Ära Honecker, S. 162. Vgl. Fischer/Heydemann, Weg und Wandel, S. 17; Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR, S. 138. Zit. nach Kuppe, Die Geschichtsschreibung der SED, S. 111. Vgl. Fischer/Heydemann, Weg und Wandel, S. 17 f.; Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR, S. 139.
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dass sich mit einem Nationsbegriff, der jeglichen deutschen Bezugs entbehrte, nicht überzeugend argumentieren ließ. Um die gewünschte Identifikation der Bürger mit den bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in der DDR nicht zu gefährden, konnte zudem die bisherige Fokussierung auf die deklarierten »Freiheits- und Kampftraditionen des deutschen Volkes« – namentlich die Bauernkriege, der Mainzer Konvent, die Befreiungskriege, die Revolution von 1848/49, die Entwicklung der Arbeiterbewegung, die Revolution von 1918/19, die Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) sowie der antifaschistische Widerstand – nicht länger beibehalten werden.16 Insofern schien ein Rückgriff auf die gesamte deutsche Geschichte dringend erforderlich, ebenso die politisch-historische Einbettung der zunehmend offensiver proklamierten These von der Herausbildung einer eigenständigen »sozialistischen deutschen Nation« in deren Verlauf. Eine solche Umprofilierung wurde nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass sich der Handlungsspielraum der politisch verantwortlichen Akteure im Laufe der 1970er-Jahre mit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch zahlreiche Staaten der westlichen Welt erheblich erweitert hatte.17 Die Umrisse eines modifizierten marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes begannen sich erstmals im offiziellen Aufruf zur Vorbereitung des 30. Jahrestags der DDR-Gründung vom November 1977 für eine breitere Öffentlichkeit abzuzeichnen. Hierin wurde nicht nur betont, dass die DDR die »Erfüllung des mehr als hundertjährigen Kampfes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung« sei, sondern unter anderem auch das »Erbe aller humanistischen Kräfte des deutschen Bürgertums« hüte.18 Damit hatte die Partei- und Staatsführung nunmehr explizit nichtproletarische Traditionen in das allgemein propagierte Geschichtsbild integriert. Quasi zur ideologisch-theoretischen Fundierung der sich bereits angedeuteten Neuausrichtung veröffentlichte zu Beginn der 1980er-Jahre der damalige Leiter des Instituts für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED, Walter Schmidt, mehrere Grundsatzbeiträge in einschlägigen Fachzeitschriften, in denen er die erweiterte Aufgabenstellung für die Geschichtsforschung der nächsten Jahre skizzierte. Demnach dürfe die »von der Warte des siegreichen Sozialismus auf deutschem Boden« zu schreibende »Nationalgeschichte der DDR« keinen chronologischen, räumlichen oder sozialstrukturellen Beschränkungen unterliegen. Vielmehr müsse man sich »der ganzen deutschen Geschichte« stellen. Das bedeute, »zeitlich die deutsche Geschichte seit dem Formierungsprozess des deutschen Volkes« zu betrachten, »territorial alle deutschen 16 Vgl. Fischer/Heydemann, Weg und Wandel, S. 18. 17 Vgl. ebd.; Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR, S. 139. 18 Aufruf zum 30. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. In: Neues Deutschland vom 18.11.1977, S. 1.
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Gebiete, soweit sie im Deutschen Reich und vorher im Deutschen Bund bzw. im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor 1806 zusammengeschlossen waren«, einzubeziehen und »sozial […] das historische Wirken aller Klassen und Schichten des deutschen Volkes, […] auch das der Ausbeuterklassen und ihrer Repräsentanten« zu erfassen.19 Mit der Ausweitung der Forschungsgegenstände in der Geschichtswissenschaft der DDR ging auch eine Intensivierung der seit Mitte der 1970er-Jahre geführten Diskussion über das Verhältnis der sich formierenden »sozialistischen deutschen Nation« zu ihrem geschichtlichen Erbe und ihren Traditionen einher, da es nun galt, den vergrößerten historischen Themenbereich im Hinblick auf seine Eignung für die »sozialistische Bewusstseinsbildung« zu systematisieren. Außerdem wollte man verhindern, dass aus der Fülle des zu behandelnden Stoffes ideologisch zweifelhafte Werte in die Bevölkerung transportiert würden, die dem übergeordneten Ziel der Herausbildung eines eigenständigen Nationalbewusstseins eher abträglich gewesen wären.20 So erschien etwa zeitgleich mit den angesprochenen Schmidt-Beiträgen in der »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« ein grundlegender Aufsatz von Horst Bartel, seinerzeit Direktor des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, der auf eine schärfere Abgrenzung der bislang weitgehend synonym gebrauchten Begriffe »Erbe« und »Tradition« abzielte. Demzufolge beinhalte das historische Erbe »alles in der Geschichte Existierende, die gesamte Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit«. Dieses Erbe sei objektiv gegeben, man könne »es nicht ungeschehen machen«, sondern habe es »im kritischen Sinne zu bewältigen«. Worauf eine solche »kritische Bewältigung« hinauslief, wird deutlich, wenn Bartel hervorhebt, dass die DDR »das Ergebnis des konsequenten Bruchs mit der reaktionären Klassenlinie in der deutschen Geschichte« verkörpere. Im Unterschied dazu umfassten die historischen Traditionen »nur einen Teil des gesamten Erbes«, nämlich »diejenigen historischen Entwicklungslinien, Erscheinungen und Tatsachen, auf denen die [DDR] beruht, deren Verkörperung sie darstellt, die sie bewahrt und fortführt«. Das betreffe als »Kernstück« des vertieften Traditionsbildes der DDR die von der »Arbeiterklasse, ihrer Bewegung und ihrer revolutionären Partei« hervorgebrachten »revolutionären historischen Werte und Erscheinungen«, des Weiteren alle »im Laufe der Geschichte unseres Volkes« entstandenen »revolutionären, demokratischen, progressiven und humanistischen Erscheinungen, Entwicklungen, Persönlichkeiten und Tatsachen« sowie nun interessanterweise auch die dem Wirken der »herrschenden 19 Walter Schmidt, Deutsche Geschichte als Nationalgeschichte der DDR. In: Meier/Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR, S. 240–251, hier 241, 245. Hervorhebung im Original. 20 Vgl. Kuppe, Die Geschichtsschreibung der SED, S. 115 f.; Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradi tion in der DDR, S. 147.
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usbeuterklassen« entsprungenen »positiven Resultate«, das heißt »Leistungen A [und] Werte, die dem historischen Fortschritt« gedient hätten und deshalb »volle Aufmerksamkeit und Pflege« verdienen würden.21 Im Zuge der »Erbe-und-Tradition«-Debatte bewerteten die Historiker in der DDR schließlich auch gewisse Teilaspekte des nichtproletarischen Erbes neu, sodass einige Repräsentanten der »herrschenden Ausbeuterklassen« jetzt unvermittelt zu bedeutenden Persönlichkeiten der eigenen Nationalgeschichte erklärt wurden.22 Große Aufmerksamkeit erfuhren dabei insbesondere die vorgenommenen Rehabilitierungen von Martin Luther, Friedrich II. von Preußen und Otto von Bismarck. So wies man dem zuvor als »Fürstenknecht« und »Bauernschlächter« verschmähten Luther nun die Rolle des geistigen Wegbereiters der »frühbürgerlichen Revolution« zu. Friedrich II., der lange Zeit als »aggressiver Despot« verschrien war, wurde jetzt wegen des – wenn auch unbeabsichtigten – Beitrags seiner dynastischen Machtpolitik zum historischen Fortschritt gewürdigt. Und selbst dem bislang als »reaktionärer Junker« und »brutaler Sozialistenverfolger« gescholtenen Bismarck rechnete man nun sowohl seine Bemühungen um die Herstellung eines guten Verhältnisses zu Russland als auch seine Verdienste um die Schaffung des einheitlichen deutschen Nationalstaates positiv an.23 Abgesehen von diesen besonders stark rezipierten Erträgen der neuen »DDR-Nationalgeschichtsschreibung« erschien Anfang der 1980er-Jahre auch eine Überblicksdarstellung, die den »langwierigen und komplizierten Weg« der bürgerlich-demokratischen Kräfte beim »Kampf um die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts« sowie der »Annäherung an die Positionen der revolutionären Arbeiterklasse« nachzuzeichnen suchte.24 Mit der Erschließung und Popularisierung dieser progressiven Traditionslinie trug die Geschichtsforschung nicht nur zur Erweiterung des offiziellen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes bei, sondern gab zugleich den »bürgerlichen« Blockparteien wichtiges Rüstzeug für die »sozialistische Bewusstseinsbildung« ihrer Mitglieder bzw. der jeweiligen Adressatenkreise an die Hand.
21 Horst Bartel, Erbe und Tradition in Geschichtsbild und Geschichtsforschung der DDR. In: Meier/Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition in der DDR, S. 129–140, hier 132–134. 22 Vgl. Andrea Rögner-Francke, Die SED und die deutsche Geschichte. Erbeaneignung und Traditionspflege in der DDR, Melle 1987, S. 8 f. 23 Vgl. ebd., S. 18–32; Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR, S. 141–146. Grund legende Werke für diese Neubewertungen waren Gerhard Brendler, Martin Luther. Theologie und Revolution, Berlin (Ost) 1983; Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1979; Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin (Ost) 1985. 24 Dieter Fricke/Manfred Bogisch/Werner Fritsch/Siegfried Schmidt/Herbert Schwab/Gustav Seeber/Manfred Weißbecker, Deutsche Demokraten. Die nichtproletarischen demokratischen Kräfte in Deutschland 1830 bis 1945, Berlin (Ost) 1981, S. XII f., XVI. Mit Bogisch steuerte unter anderem ein hauptamtlicher LDPD-Mitarbeiter das auf die Zeit nach 1945 ausblickende Kapitel »Am historischen Wendepunkt« (S. 381–386) zu diesem Band bei.
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Das Geschichtsbild der LDPD-Führung Im Gegensatz zu Parteien in parlamentarisch-pluralistischen Demokratien, die gemeinhin bestimmte gesellschaftliche Interessen repräsentieren und dementsprechend politische Entscheidungen zu beeinflussen suchen, mussten sich die »gleichgeschalteten« Blockparteien innerhalb des diktatorischen Herrschaftssystems der DDR dem allumfassenden Führungsanspruch der SED unterordnen. Anstelle von Parteipolitik im eigentlichen Sinne nahmen sie im Rahmen der »sozialistischen Bündnispolitik« bestimmte Aufgaben zur Legitimierung und Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse wahr.25 Hierzu zählte vorrangig der Auftrag, gleichsam als »Transmissionsriemen« die Herrschaftsideologie des Marxismus-Leninismus sowie die darauf basierende politische Konzeption der hegemonialen SED bei den ihnen jeweils zugeteilten Bevölkerungskreisen zu verbreiten.26 In Anbetracht dieser bewusstseinsbildenden Funktion sollte es wenig überraschen, dass sich aus der mit der »Erbe-und-Tradition«-Diskussion einhergegangenen Modifikation des verbindlichen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes weitreichende Konsequenzen für die »politisch-ideologische Überzeugungsarbeit« der Blockparteien ergaben. Das galt besonders für die LDPD, die schon frühzeitig ihre geschichtspropagandistischen Bemühungen
25 Zu den unterschiedlichen Parteienverständnissen in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs und der »freien Welt« vgl. ausführlich Heinz Hofmann, Mehrparteiensystem ohne Opposition. Die nichtkommunistischen Parteien in der DDR, Polen, der Tschechoslowakei und Bulgarien, Frankfurt a. M. 1976, S. 3–11; Karl G. Tempel, Die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle der Parteien in der DDR. Grundlagen, Funktionen, Geschichte, Programmatik, Organisation, Opladen 1987, S. 23–29, 213–215; Gero Neugebauer, SED und Blockparteien als Gegenstand und Problem der empirischen Parteienforschung in der DDR-Forschung. In: Heiner Timmermann (Hg.), DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven, Berlin 1995, S. 167–182, hier 173 f. Die Problematik der Anwendung des der nationalsozialistischen Terminologie entlehnten Gleichschaltungsbegriffs auf die Blockparteien in der SBZ/DDR diskutiert Carsten Tessmer, Gleichgeschaltet? Der Wandel des ostdeutschen Parteiensystems und die deutschlandpolitischen Anstrengungen von CDUD, LDPD, DBD und NDPD. Ein Beitrag zur Untersuchung von Rolle und Funktionen der Blockparteien im politischen System der SBZ/ DDR, Mannheim 2002, S. 365–370. Er plädiert dafür, anstelle dessen von »penetrierten Organisationen« zu sprechen. 26 Zu den Funktionen der Blockparteien in der SBZ/DDR vgl. grundlegend John A. Wortman, The Minor Parties in the Soviet Zone of Germany. The Communist Preparation and Use of »Transmission-Belts« to the East German Middle Class, Diss. phil. Minnesota 1958, S. 293–330. Weiterführende Kategorisierungsvorschläge finden sich unter anderem bei Roderich Kulbach/Helmut Weber, Parteien im Blocksystem der DDR. Funktion und Aufbau der LDPD und der NDPD, Köln 1969, S. 15–22; Peter Joachim Lapp, Die Blockparteien im politischen System der DDR, Melle 1988, S. 21 f.; Hermann Weber, Herausbildung und Entwicklung des Parteiensystems der SBZ/ DDR. In: APuZ, 46 (1996) 16–17, S. 3–11, hier 8; Kurt Schneider/Detlef Nakath, Demokratischer Block, Nationale Front und die Rolle und Funktion der Blockparteien. In: Gerd-Rüdiger Stephan/
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forciert hatte, um auf diese Weise die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins bei der ihr anvertrauten Zielgruppe des »Mittelstandes«27 zu befördern. Die verstärkte Hinwendung der Liberaldemokraten zu historischen Themen stand in einem engen Zusammenhang mit der 5. Parteibeauftragtenkonferenz im April 1959, durch deren Beschlüsse die »Voraussetzungen für eine noch größere Wirksamkeit« auf die politisch-ideologischen Einstellungen der eigenen Klientel geschaffen werden sollten.28 Mit welchen Mitteln und Methoden man dieses Ziel künftig zu verwirklichen suchte, erläuterte der Leipziger Bezirksverbandsvorsitzende Günter Schneider in seinem Konferenzbeitrag: »Wenn wir von der allseitigen Verbesserung der Überzeugungsarbeit in der Partei sprechen, dann meinen wir die Art und Weise des Ansprechens der Angehörigen des Mittelstandes und der uns nahestehenden Kreise der Intelligenz durch unsere Parteifreunde, […] das Erkennen der richtigen Anknüpfungspunkte, das richtige Einstellen auf die Vorstellungswelt der aus dem Bürgertum kommenden Menschen.«29 Vor diesem Hintergrund wurde alsbald beim Zentralvorstand eine »Kommission für die Weiterentwicklung der Überzeugungsarbeit« eingerichtet, deren vordringliche Aufgabe darin bestand, die »Gedanken und Bemühungen des fortschrittlichen Bürgertums aus der zurückliegenden Zeit« zu erschließen und »in der Andreas Herbst/Christine Krauss/Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 78–102, hier 97–100; sowie Tilman Pohlmann, »Zusammenarbeit« als Gefolgschaft. Über Herrschaftsansprüche der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 28 (2016), S. 361–373, hier 364–366. Die im Wesentlichen gleich gelagerten Aufgaben der Massenorganisationen systematisiert Hartmut Zimmermann, Machtverteilung und Partizipationschancen. Zu einigen Aspekten des politisch-sozialen Systems in der DDR. In: Glaeßner (Hg.), Die DDR in der Ära Honecker, S. 214–283, hier 265–268. 27 Die den Liberaldemokraten als Klientel zugewiesenen Gesellschaftssegmente – namentlich Unternehmer, Gewerbetreibende, Handwerker, Freiberufler, Angestellte sowie Teile der »Intelligenz« – werden in der in der soziologischen Forschung für gewöhnlich unter die Kategorie des »Mittelstandes« subsumiert. Folgerichtig bezeichnete man sich seit Mitte der 1950er-Jahre offiziell als »Partei des deutschen Mittelstandes«. Satzung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. Vom 7. Parteitag am 8. Juli 1957 beschlossen, Berlin (Ost) 1957, S. 3. Vor dem Hintergrund des marxistisch-leninistischen Postulats von der »Annäherung der Klassen und Schichten« beim allmählichen Übergang zum Kommunismus legte die LDPD dieses Attribut jedoch bald wieder ab. Stattdessen wies sie fortan diejenigen »mit der Arbeiterklasse verbündeten werktätigen Schichten«, die »vorwiegend aus mittelständischen und bürgerlichen Kreisen hervorgegangen« sind, als ihr primäres gesellschaftliches Wirkungsfeld aus. Satzung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom 11. Parteitag am 19. Februar 1972, Berlin (Ost) 1972, S. 2. Zur historischen Entwicklung des Mittelstandes allgemein vgl. ferner Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln 2009, S 89–92, 105–107. 28 Manfred Gerlach, Schlußwort. In: Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Unser Beitrag zur Sicherung des Friedens. Materialien der 5. Konferenz der Parteibeauftragten der LDPD in Leipzig (14.–16. April 1959), Berlin (Ost) 1959, S. 154–171, hier 165. 29 Günter Schneider, Lebendige Überzeugungsarbeit leisten. In: Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Unser Beitrag zur Sicherung des Friedens, S. 79–81, hier 79 f.
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politisch-ideologischen Überzeugungsarbeit [als] Helfer« zu nutzen.30 Zur weltanschaulich-theoretischen Absicherung des Vorhabens nahmen LDPD-Funktionäre darüber hinaus Kontakt zu geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen auf und führten Aussprachen mit Historikern durch.31 Erste Ergebnisse dieser Bestrebungen flossen in die von 1961 bis 1965 im parteieigenen Buchverlag »Der Morgen« herausgegebene Schriftenreihe »Humanistische und revolutionär-demokratische Traditionen des Bürgertums« ein.32 Die einseitige Fokussierung auf die vorgeblich progressiven nichtproletarischen Traditionen hatte jedoch zur Folge, dass – wie der hauptverantwortliche Parteihistoriograf Manfred Bogisch rückblickend auf einer Veranstaltung des Zentralvorstandes im Juni 1987 resümierte – in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck entstand, »es gebe in der Traditionspflege gleichsam eine Zweiteilung: Während die LDPD das fortschrittliche bürgerliche Vermächtnis lebendig erhält, versteht sich die SED in erster Linie als Bewahrerin und Fortsetzerin des Erbes der Arbeiterbewegung.«33 Als Mitte der 1970er-Jahre die »Erbe-und-Tradition«-Debatte allmählich Konturen gewann, begann man sich auch innerhalb der LDPD mit grundlegenden Aspekten eines erweiterten Geschichtsbildes auseinanderzusetzen. So erklärte etwa der Parteivorsitzende Manfred Gerlach in seinem Rechenschaftsbericht an den 12. Parteitag im März 1977: »Die LDPD bekennt sich zum Erbe aller fortschrittlichen Kräfte des deutschen Volkes. Dieses Erbe bildet eine Einheit, in dem gemeinsam mit dem Vermächtnis der revolutionären Arbeiterbewegung auch die progressiven Traditionen des Bürgertums und kleinbürgerlicher Schichten einbegriffen sind.«34 Allerdings war das nunmehr proklamierte Bekenntnis 30
Sekretariat des Zentralvorstandes (SdZV) der LDPD, Tätigkeit der Kommission für die Weiterentwicklung der Überzeugungsarbeit. Vorlage für den Politischen Ausschuss (PA) der LDPD vom 22.5.1959 (ADL, LDPD, L6-568, Bl. 62–68, hier 62 f.). 31 Vgl. Manfred Bogisch, Aktennotiz über Verbindungen zu geschichtswissenschaftlichen Institutionen vom 24.2.1965 (ADL, LDPD, L6-448, Bl. 92–95); Abteilung (Abt.) Agitation und Schulung der LDPD, Durchführung einer Historikeraussprache zur Bedeutung der humanistischen und revolutionär-demokratischen Traditionen des Bürgertums für die Herausbildung des sozialistischen Bewusstseins bei den uns nahestehenden Bevölkerungsschichten. Vorlage für das SdZV der LDPD vom 17.4.1963 (ADL, LDPD, L6-444, Bl. 201–204). 32 Vgl. Abt. Agitation und Schulung der LDPD, Herausgabe einer Schriftenreihe »Humanistische und revolutionär-demokratische Traditionen des Bürgertums«. Vorlage für das SdZV der LDPD vom 12.4.1960 (ADL, LDPD, L3-79, Bl. 106–112); Abt. Agitation und Schulung der LDPD, Beendigung der HTB-Schriftenreihe. Umlaufvorlage für das SdZV der LDPD, undatiert (ADL, LDPD, L8-255, Bl. 1–5). Ein Verzeichnis der erschienen Bände ist enthalten in Eckhard Petersohn (Bearb.), Buchverlag Der Morgen 1958–1988. Bibliographie, Berlin (Ost) 1988, S. 191. 33 Manfred Bogisch, Referat auf der Festveranstaltung der LDPD anläßlich des 750-jährigen Bestehens von Berlin am 25.6.1987 (ADL, LDPD, L2-442, Bl. 1–24, hier 22). 34 Manfred Gerlach, Referat des Zentralvorstandes. In: Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), 12. Parteitag der LDPD. 2.–4. März 1977 in Weimar, Band 1, Berlin (Ost) 1977, S. 10–89, hier 19.
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zur »Kontinuität alles Guten […] in der deutschen Geschichte« – wie die offizielle Sprachregelung im bereits erwähnten Aufruf zum 30. Jahrestag der DDR lautete35 – keine Besonderheit der Liberaldemokraten, da sie es sowohl mit der SED als auch mit den übrigen Parteien und Organisationen in der Nationalen Front teilten. Nichtsdestoweniger wurde später in einem einschlägigen Begleitheft der »Politischen Bildungszirkel« – die neben den Parteischullehrgängen einen wichtigen Bestandteil der politisch-ideologischen Arbeit bildeten – ausdrücklich betont, dass die Aufarbeitung und Aneignung dieser progressiven Traditionen »für das Selbstverständnis der LDPD und damit für die Ausprägung der Fähigkeit, alle Mitglieder und die der Partei nahestehenden sozialen Schichten zu motivieren und zu mobilisieren von außerordentlicher Bedeutung« sei.36 Was das modifizierte Geschichtsbild der Liberaldemokraten indes weiterhin von demjenigen der anderen Blockparteien und Massenorganisationen in der DDR unterschied, machte ihr Vorsitzender Gerlach in seinem Hauptreferat auf der Kreissekretärkonferenz im April 1975 deutlich: »Die LDPD [befindet sich] in einer Traditionslinie, die sich über ihren Gründungstag am 5. Juli 1945 in die Geschichte zurückverfolgen lässt. Wir Liberaldemokraten betrachten uns als Fortsetzer der Traditionen, die durch das Wirken fortschrittlicher Kräfte aus dem Kleinbürgertum und Bürgertum in mehreren Generationen geprägt wurden.«37 In den Folgejahren konkretisierten die Liberaldemokraten diese grundsätzliche Bestimmung der eigenen historischen Referenzen noch einmal insofern, als sie vom 13. Parteitag im April 1982 an postulierten, »objektiv in der Tradition nichtproletarischer demokratischer Kräfte und Bewegungen der deutschen Geschichte vor 1945« zu stehen.38 Diese Feststellung bezog sich jedoch bei Weitem nicht auf das gesamte historische Vermächtnis des deutschen Bürgertums, denn zum entscheidenden Kriterium für die Bewertung der einzelnen, im Laufe der Jahrhunderte ihm entsprungenen politischen Bewegungen und Persönlichkeiten wurde »ihr Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt [und] vor allem ihre
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Aufruf zum 30. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Geschichte – Erbe – Tradition, Berlin (Ost) 1987, S. 4. Zur Organisation der »Überzeugungsarbeit« in der LDPD vgl. Gerhard Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien – Die LDPD. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band II/4, Baden-Baden 1995, S. 2399–2463, hier 2431–2435; Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter der Führung der SED, Münster 1996, S. 246–252. 37 Manfred Gerlach, Referat auf der Kreissekretärkonferenz der LDPD am 18./19.4.1975 (ADL, LDPD, L4-442, Bl. 1–115, hier 9). 38 Manfred Gerlach, Bericht des Zentralvorstandes. In: Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), 13. Parteitag der LDPD. 5.–7. März 1982 in Weimar, Band 1, Berlin (Ost) 1982, S. 10–94, hier 83.
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Haltung gegenüber den werktätigen Massen und deren Kampf« deklariert.39 In diesem Zusammenhang differenzierte man allgemein zwischen humanistischen und revolutionär-demokratischen Traditionen, wenngleich beide Kategorien auch übereinstimmende Momente aufweisen konnten. Die begriffliche Trennung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich der »revolutionäre Demokratismus […] durch die Bereitschaft seiner Vertreter zu revolutionärer Aktion« auszeichne, während »Humanisten […] den revolutionären Massenaktionen mit großem Vorbehalt oder ablehnend« gegenüberstünden.40 Unter die humanistischen Traditionen subsumierte die LDPD sämtliche Bestrebungen bürgerlicher Kräfte »nach Menschlichkeit (Humanität) und menschenwürdiger Daseinsgestaltung«.41 Der geschichtspropagandistischen Darstellung zufolge reiche diese Traditionslinie zurück bis zur »frühbürgerlichen Entwicklung« vom 14. bis 16. Jahrhundert. Die von den Vertretern des hier angesprochenen »Renaissance-Humanismus« wie Rudolf Agricola oder Ulrich von Hutten praktizierte Wiederbelebung und Pflege der Kultur des klassischen Altertums habe jedoch keinen Selbstzweck dargestellt, sondern sollte den »Kampf gegen die Unterjochung und Entwertung des Menschen durch die weltlichen und klerikalen Mächte der Feudalgesellschaft« ideologisch vorbereiten.42 Diese geistige Strömung sei dann auf der Grundlage des »immer mächtiger anwachsenden revolutionären Kampfes der Bourgeoisie und der Volksmassen gegen den Feudalismus« während des 18. und 19. Jahrhunderts in der Philosophie und Literatur der Aufklärung und der deutschen Klassik sowie letztlich im utopischen Sozialismus und Kommunismus wiederbelebt und weitergebildet worden.43 Zwar hätten – wie der Zentralvorstandssekretär und maßgebende Parteiideo loge Rudolf Agsten auf einer Veranstaltung des Bezirksvorstandes Erfurt im Juni 1978 klarstellte – »weder Lessing, Goethe oder Schiller noch Kant, Fichte, Hegel oder Feuerbach […] mit Bezug auf den Sozialismus gedichtet, gearbeitet, nachgedacht«, jedoch dürfe nicht übersehen werden, dass die »klassische bürgerliche Philosophie […] zu einer theoretischen Quelle des Marxismus wurde« und dass
39
Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Nichtproletarische Demokraten. Vermächtnis und Erfüllung, Berlin (Ost) 1982, S. 10. 40 SdZV der LDPD, Thesen zur Einbeziehung der revolutionär-demokratischen und humanistischen Traditionen in die politische Arbeit. Vorlage für den PA der LDPD vom 27.8.1974 (ADL, LDPD, L2-232, Bl. 50–63, hier 58 f.). 41 Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Unser realer Humanismus und seine Grundlagen, Berlin (Ost) 1978, S. 3. 42 Rudolf Agsten, Die Deutsche Demokratische Republik – Ergebnis und Krönung von jahrhundertelangen Kämpfen. In: Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Über unsere Traditionen, Berlin (Ost) 1979, S. 13–58, hier 33. 43 Ebd., S. 34.
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das »humanistische Persönlichkeitsideal der Weimarer Klassiker in der marxistischen Theorie der sozialistischen Persönlichkeit fortlebt«.44 In besonderem Maße pflegten die Liberaldemokraten in diesem Kontext das ideelle Vermächtnis des »bürgerlichen Humanisten« Johann Gottfried Herder. Hier hob man vor allem auf dessen Humanitätsideal ab, das sich »am Dienst am Volk, an der Nation, an der Menschheit« messe.45 Ferner stehe nach Herders Auffassung prinzipiell allen Menschen das »Recht auf Persönlichkeitsentwicklung« zu, weshalb er auch dafür eingetreten sei, den »Zugang zur Bildung, zu geistigen und künstlerischen Berufen und natürlich […] zur Mitarbeit im staatlichen Leben« nicht bloß den »Angehörigen der höheren Stände«, sondern auch denjenigen der »unteren Volksschichten« zu ermöglichen. Demzufolge habe Herder »gleiche Bildungsmöglichkeiten, gleiches Recht und gleiche Freiheit« für alle angestrebt46 – also jene universellen Menschenrechte, die man im »realen Humanismus« der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR verwirklicht sah. In diesem Sinne wurde in einer betreffenden Lektion der »Politischen Bildungszirkel« proklamiert: »Seit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ist der sozialistische Humanismus nicht mehr nur eine theoretische Vorstellung, sondern in Gestalt des ersten sozialistischen Staates der Welt zugleich geschichtliche Realität. […] Sozialistischer Humanismus manifestiert sich auch in unserer Republik in Errungenschaften, Eigenschaften und Werten, die eigentlich schon zu Selbstverständlichkeiten unseres Lebens geworden sind. […] Die reale Möglichkeit, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des Staates umfassend mitzugestalten, zählt zu den bedeutendsten Errungenschaften des Sozialismus.«47
Im Unterschied dazu ordnete die LDPD den revolutionär-demokratischen Traditionen alle Beiträge bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher Strömungen und Bewegungen zum »jahrhundertelangen Kampf des deutschen Volkes gegen Ausbeutung und Unterdrückung [sowie] für Freiheit und Fortschritt« zu.48 Nach parteioffizieller Auslegung ließe sich diesbezüglich eine im Ganzen ungebrochene Kontinuitätslinie von den deutschen Jakobinern um Georg Forster in der Mainzer Republik von 1793, über die kleinbürgerlichen Demokraten des 19. Jahrhunderts wie Robert Blum oder Rudolf Virchow, bis hin zum antifaschistischen Widerstand bürgerlicher Kreise – etwa in Gestalt der »Roten Kapelle« um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack – ausmachen.49 Dabei war man
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Ebd., S. 30. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Unser realer Humanismus und seine Grundlagen, S. 9 f. Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Geschichte – Erbe – Tradition, S. 3. Vgl. Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Nichtproletarische Demokraten, S. 10.
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vor allem bestrebt, die von den Repräsentanten des hier thematisierten »nichtproletarischen Demokratismus« beständig erhobene »Forderung nach Frieden«, ihr andauerndes Streben, »der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen«, sowie deren sukzessive »Annährung an die Positionen der revolutionären Arbeiterbewegung« als grundlegende Charakteristika herauszustellen.50 Als herausragende Persönlichkeit in dieser Hinsicht würdigten die Liberaldemokraten den »kleinbürgerlichen Demokraten« Johann Jacoby, der sein gesamtes politisches Denken und Wirken »in den Dienst des Fortschritts« gestellt habe.51 So sei er als einer der ersten Vertreter des progressiven Bürgertums zu der Erkenntnis gelangt, dass sich das »Problem der Einheit unseres Landes« nur lösen ließe, wenn die »deutsche Reaktion vernichtend« geschlagen werde. Folgerichtig habe Jacoby »dem Gottesgnadentum der deutschen Fürsten die Idee von der Volkssouveränität« entgegengestellt und die »demokratische Republik [als] die für das Volk günstigste Staatsform« erachtet.52 Außerdem sei für ihn der »Volkswille […] nicht nur ein Ideal, sondern ein Politikum ersten Ranges« gewesen, was unter anderem sein vehementer Kampf gegen den Fortbestand der stehenden Heere als »Hauptstütze des Absolutismus« sowie die damit einhergegangene Forderung nach »Demokratisierung der Armee« mittels allgemeiner Volksbewaffnung bezeugen würden.53 Davon abgesehen habe Jacoby beharrlich für ein enges Bündnis von kleinbürgerlicher Demokratie und Arbeiterbewegung geworben und letztlich sogar seinen »bürgerlichen Schatten« übersprungen, indem er sich der revolutionären Sozialdemokratie anschloss. Insgesamt sei sein politisches Lebenswerk ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass in der Vergangenheit auch »bürgerlich-demokratische Kräfte […] mutig gegen Militarismus und Nationalismus« gekämpft hätten und dass dieser »Kampf […] den besten Traditionen des deutschen Bürgertums« entspreche.54 Was die nichtproletarischen demokratischen Kräfte in der Weimarer Republik und damit die quasi nächstverwandten Vorfahren anbelangte, beanspruchte die LDPD, die Traditionen vier verschiedener geistig-politischer Strömungen fortzusetzen. Hierzu zählten zum einen »bourgeoise Kreise«, die zwar die »Gesamtinteressen der herrschenden Klasse zu realisieren« gesucht hätten, aber – wie der spätere Liberaldemokrat Eugen Schiffer – den Kapp-Putsch und die Errichtung der NS-Diktatur missbilligten. In diesem Zusammenhang wurde auch Walter Rathenau hervorgehoben, der als einer der wenigen »Vertreter des deutschen
50 Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Geschichte – Erbe – Tradition, S. 9 f. 51 Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Die humanistischen und revolutionär- demokratischen Traditionen des deutschen Bürgertums, Berlin (Ost) 1962, S. 47. 52 Ebd., S. 44. 53 Ebd., S. 46 f. 54 Ebd., S. 47 f.
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onopolkapitals« letztendlich »gegenüber der Sowjetunion [zu] einem realistiM scheren Standpunkt« gelangt sei.55 Darüber hinaus berief man sich auf die bürgerlichen Parteien – allen voran die Deutsche Demokratische Partei –, von deren Politikern zumindest einige »objektiv in der progressiven Traditionslinie des Bürgertums« stünden, da sie sich sowohl gegen das »Junkertum« und den »Militarismus« wandten als auch für den Ausbau demokratischer und sozialer Rechte einsetzten. Hier wurde besonders auf Hellmut von Gerlach verwiesen, den man zum »bürgerlich-demokratischen Wegbereiter der antifaschistischen deutschen Volksfront« erklärte.56 Außerdem nahm die LDPD Bezug auf den bürgerlichen Pazifismus, dessen Repräsentanten »der deutschen Reaktion eine Zeit lang schwer zu schaffen« gemacht hätten, indem sie einerseits »geheime Aufrüstungspläne« enthüllten und »rechte Untergrundaktivitäten« anprangerten und andererseits einer gewaltsamen Revision des Versailler Vertrags entschieden entgegentraten. In diesem Kontext wurde unter anderem Helene Stöcker angeführt, die sich wie nur wenige »bürgerliche Kriegsgegner« neben ihr in relevanten Fragen »partiell [den] Standpunkten der KPD« angenähert habe.57 Schließlich bekannte man sich zu gewissen »antiimperialistischen Gruppen« aus dem Bürgertum, die gegen Ende der 1920er-Jahre »immer offenkundiger auf die KPD und ihre antifaschistische Politik« zugegangen seien. Das betraf beispielsweise den Herausgeber der »Weltbühne« Carl von Ossietzky und andere international angesehene Intellektuelle wie Heinrich Mann, der später im Pariser Exil an die Spitze des Deutschen Volksfrontkomitees treten sollte.58 Gemäß der offiziellen Geschichtspropaganda der Liberaldemokraten habe mit der Gründung der DDR sowie dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung der jahrhundertelange Kampf humanistischer und revolutionär-demokratischer Kräfte aus dem Bürgertum »gegen die politische Reaktion und für die […] Durchsetzung der Rechte des Volkes« schlussendlich seine Erfüllung gefunden.59 Insofern drücke sich auch im Wandlungsprozess der LDPD und ihrer Mitglieder sowie in der Gewinnung eines neuen Verhältnisses bürgerlicher Schichten zur Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei die progressive Traditionslinie der deutschen Geschichte aus.60 Vor diesem Hintergrund betonte der Parteivorsitzende Gerlach auf dem 13. Parteitag im April 1982: »Unsere Partei [hat] durch ihre Rolle in der sozialistischen Revolution auch ihr Traditionsver55 Agsten, Die Deutsche Demokratische Republik, S. 47. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 47 f. 58 Ebd., S. 48. 59 Sekretariat des Zentralvorstandes der LDPD (Hg.), Geschichte – Erbe – Tradition, S. 8. 60 Vgl. SdZV der LDPD, Thesen zur Einbeziehung der revolutionär-demokratischen und humanistischen Traditionen in die politische Arbeit. Vorlage für den PA der LDPD vom 27.8.1974 (ADL, LDPD, L2-232, Bl. 50–63, hier 60).
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ständnis zu einer neuen Qualität geführt. Sie ist sich dessen bewusst, dass wir die progressiven Überlieferungen kleinbürgerlicher Demokraten und kämpferischer Humanisten heute durch unsere Taten für Frieden und Sozialismus fortsetzen.«61
Das Geschichtsbewusstsein der LDPD-Basis Wie bereits eingehend dargelegt worden ist, zielte die gesamte geschichtswissenschaftliche und -propagandistische Arbeit in der DDR darauf ab, einen Beitrag zur »sozialistischen Bewusstseinsbildung« in der Bevölkerung zu leisten und mithin das etablierte Herrschafts- und Gesellschaftssystem zu legitimieren. Daher schien es nur konsequent, dass die Partei- und Staatsführung umfangreiche Untersuchungen zur Entwicklung des Geschichtsverständnisses initiierte. Unter anderem erhob die Ende der 1960er-Jahre am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED eingerichtete Forschungsgruppe »Sozialistisches Geschichtsbewusstsein« kontinuierlich demoskopisches Datenmaterial, um »Einblicke in Meinungen und Standpunkte der Bürger zu wichtigen politischen Fragen« zu gewinnen und darauf aufbauend »eine wirksamere Vermittlung von Geschichte und eine vollständigere Identifikation […] mit der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Perspektive« zu erreichen.62 Die Ergebnisse dieser Studien deuteten darauf hin, dass es – wie der langjährige ZK-Forschungsgruppenleiter Helmut Meier in seiner nach der »Wende« veröffentlichten Sekundäranalyse resümierte – durchaus »nachweisbare Wirkungen der offiziellen Propaganda« gegeben habe. So seien die Befragten in ihrer Mehrheit stets von einem »letztlich erfolgreichen Entwicklungsweg des Sozialismus« ausgegangen und hätten auch die »staatliche Eigenständigkeit der DDR als für lange Zeit gegeben« akzeptiert. Allerdings ließen sich aus solchen Äußerungen kaum Rückschlüsse auf den »Grad der Überzeugtheit bei den Befragten« ziehen, da »von vielen einfach die damals gängigen Darstellungen wiedergegeben« worden seien.63 Dass die intendierte Herausbildung eines sozialistischen Geschichtsbewusstseins in der Bevölkerung insgesamt – und besonders bei den aufgrund ihrer sozialen Herkunft und mentalen Prägung sowohl dem Marxismus-Leninismus als auch der SED-Politik gegenüber kritisch bis ablehnend eingestellten »mittelständischen« Schichten – 61 Gerlach, Bericht des Zentralvorstandes, S. 85. 62 Helmut Meier, Geschichtsbewußtsein und historische Identität in der DDR. Versuch einer kritischen Bilanz, Berlin 1996, S. 5 f. Zur Arbeit der ZK-Forschungsgruppe vgl. ausführlich Marko Demantowsky, Der Beginn demoskopischer Geschichtsbewusstseins-Forschung in Deutschland. Die Forschungsgruppe ›Sozialistisches Geschichtsbewusstsein‹ am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 4 (2005), S. 146–175. 63 Meier, Geschichtsbewußtsein und historische Identität in der DDR, S. 22, 29 f.
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alles in allem nur von mäßigem Erfolg gekrönt war, ging auch aus diversen Berichterstattungen der Liberaldemokraten hervor. Um die Wirksamkeit der »Überzeugungsarbeit« und damit auch Fortschritte bei der Aneignung des propagierten Geschichtsbildes seitens der Mitglieder zu überprüfen, holte sich die LDPD-Führung immer wieder »Situationsberichte« bei den Gliederungen ein. Ungeachtet ihrer oft schönfärberischen Tendenz wurden in diesen Stellungnahmen zuweilen auch vermeintlich besorgniserregende Entwicklungen an der Parteibasis angesprochen.64 So teilte etwa der Bezirksvorstand Potsdam im Oktober 1977 mit, dass das wenige Monate zuvor »vom 12. Parteitag weiterentwickelte Verhältnis unserer Partei zu den fortschrittlichen Traditionen unseres Volkes […] in seiner neuen Qualität im Verständnis der Mitglieder zu wenig sichtbar« werde. Ferner könne man gerade im Hinblick auf die »Traditionen der LDPD [nicht] von einem ausgeprägten Traditionsbewusstsein […] sprechen«.65 Nachdem in der Folgezeit noch eine Reihe weiterer Gliederungen über ähnliche Probleme bei der Vermittlung des erweiterten Geschichtsbildes berichtet hatte, musste das SdZV im April 1979 einräumen, dass es »noch großer Arbeit bedürfe, den Mitgliedern die DDR als Krönung und gesetzmäßiges Ergebnis der deutschen Geschichte nahezubringen«. Hierfür sei nicht nur eine »umfassende Kenntnis der progressiven Traditionslinie« erforderlich, sondern es müssten auch »emotionale Bindungen dazu« aufgebaut werden.66 An dieser offenkundigen Unempfänglichkeit eines Großteils der LDPD-Basis gegenüber den weltanschaulichen Beeinflussungsversuchen der Parteifunktio näre vermochten auch die infolge der einschlägigen Festlegungen des 13. Parteitags vom April 1982 nochmals verstärkten geschichtspropagandistischen Aktivitäten nichts Grundlegendes zu ändern. Zwar nehme – wie der Karl-Marx-Städter Bezirksvorstand im September 1984 bei einer großflächig durchgeführten Befragung zu Protokoll gab – das »Interesse, sich […] mit Fragen der Geschichte und progressiven Traditionen auseinanderzusetzen […] auch weiterhin zu«, jedoch sei das »Geschichts- und Traditionsverständnis bei [den] Mitgliedern […] recht differenziert ausgeprägt«. Dementsprechend würden »in Abhängigkeit ihres Alters, ihrer persönlichen Entwicklung und ihres Bildungsweges […] unterschiedliche
64
Zur quellenkritischen Einordnung dieser Schriftstücke vgl. ausführlich Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten, S. 2401 f., 2416 f., 2449 f.; Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, S. 65–69. 65 Bezirksvorstand (BV) Potsdam der LDPD, Abrechnung des Arbeitsauftrags zur Vorbereitung der Konferenz zu den weiteren Aufgaben der politisch-ideologischen Arbeit. Bericht an das SdZV der LDPD vom 3.10.1977 (ADL, LDPD, L2-415, Bl. 95–100, hier 97 f.). 66 SdZV der LDPD, Stellungnahme zum Bericht des BV Erfurt zur Entwicklung des Geschichtsbewußtseins der Mitglieder. Vorlage für den PA der LDPD vom 5.4.1979 (ADL, LDPD, L2-283, Bl. 26–29, hier 27).
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Betrachtungsweisen und Positionen« auftreten.67 Für kontroversen Gesprächsstoff sorgte insbesondere die seit den späten 1970er-Jahren vorangetriebene Neukonzeption des parteioffiziellen Geschichtsbildes. Diesbezüglich merkte beispielsweise der Bezirksvorstand Schwerin an, dass viele Mitglieder hierhinter eine »gewollte und planmäßige Korrektur der Geschichte« vermuteten, »um in der Geschichtsbewertung den bürgerlichen Massenmedien [der Bundesrepublik] mit einem sozialistisch geprägten Geschichtsbild zuvorzukommen«.68 In Anbetracht dessen war auch die Berufung auf die autoritativ als progressiv ausgewiesenen nichtproletarischen Traditionen nicht ganz unumstritten. Während zahlreiche Mitglieder – wie der Leipziger Bezirksvorstand monierte – die Bezugnahme auf betreffende »Bewegungen und Persönlichkeiten vergangener Jahrhunderte […] als ›zu weit hergeholt‹« bezeichneten, seien laut den Ausführungen des Bezirksvorstands Schwerin etliche andere der Auffassung, dass »besonders die CDU[D], aber auch die NDPD in ihrem jetzigen politischen Profil, […] zu Recht derartige Traditionslinien« vertreten würden.69 Angesichts dieser kritischen Wortmeldungen wirkte die Gesamteinschätzung des SdZV vom November 1984, der zufolge »[Fortschritte] bei der Entwicklung des sozialistischen Geschichtsbewusstseins [der] Mitglieder […] unverkennbar« seien,70 doch sehr euphemistisch.
Schlussbetrachtung Nachdem die Liberaldemokraten ihren politischen Gestaltungsanspruch gezwungenermaßen aufgegeben hatten und im Wesentlichen zu einem Transmissionsorgan der hegemonialen SED degeneriert waren, verwendeten sie große Anstrengungen darauf, die ihnen anvertraute Zielgruppe des »Mittelstandes« für die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus bzw. die Generallinie der Staatspartei zu gewinnen und somit zur Legitimierung und Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse in der DDR beizutragen. In diesem Bestreben folgte die Parteiführung bereitwillig den SED-Vorgaben und vollzog alle poli67
BV Karl-Marx-Stadt der LDPD, Beurteilung des Geschichts- und Traditionsverständnisses der Mitglieder. Bericht an das SdZV der LDPD vom 21.9.1984 (ADL, LDPD, L2-340, Bl. 46–53, hier 47). 68 BV Schwerin der LDPD, Beurteilung des Geschichts- und Traditionsverständnisses der Mitglieder. Bericht an das SdZV der LDPD vom 27.9.1984 (ADL, LDPD, L2-340, Bl. 77–83, hier 79). 69 BV Leipzig der LDPD, Beurteilung des Geschichts- und Traditionsverständnisses der Mitglieder. Bericht an das SdZV der LDPD vom 25.9.1984 (ADL, LDPD, L2-340, Bl. 54–59, hier 58); BV Schwerin der LDPD, Beurteilung des Geschichts- und Traditionsverständnisses der Mitglieder. Bericht an das SdZV der LDPD vom 27.9.1984 (ADL, LDPD, L2-340, Bl. 77–83, hier 81). 70 SdZV der LDPD, Gesamteinschätzung des Geschichts- und Traditionsverständnisses der Mitglieder und sich daraus ergebende Schlußfolgerungen für die politisch-ideologische Arbeit. Vorlage für den PA der LDPD vom 1.11.1984 (ADL, LDPD, L2-340, Bl. 34–41, hier 35).
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tisch-ideologischen Kurskorrekturen unverzüglich mit. Das galt besonders für die seit den 1970er-Jahren verfochtene These von der Formierung einer eigenständigen »sozialistischen deutschen Nation« auf dem Boden der DDR sowie die damit einhergegangene Erweiterung des verbindlichen marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. So griff man auch die zum Zweck der ideologisch-theoretischen Konsolidierung des nunmehr erhobenen Anspruchs auf die gesamte deutsche Geschichte von der DDR-Historikerschaft entwickelte »Erbe-und-Tradition«-Konzeption auf und suchte sie für die »sozialistische Bewusstseinsbildung« der Parteimitglieder nutzbar zu machen. Dass sich das daraus abgeleitete Geschichtsbild strikt am vorgegebenen SED-Kurs orientierte, zeigte nicht zuletzt das mit sämtlichen Blockparteien und Massenorganisationen der Nationalen Front geteilte Bekenntnis zum Erbe aller progressiven, humanistischen und revolutionären Kräfte des deutschen Volkes. LDPD-spezifisch war indes der Versuch, mittels Berufung auf die laut offizieller Parteiauslegung bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgbare fortschrittliche Traditionslinie des deutschen Bürgertums gezielt an die angenommenen mentalen Dispositionen der eigenen Klientel anzuknüpfen, um dergestalt ein sozialistisches Geschichtsbewusstsein als Grundlage eines ebensolchen Nationalbewusstseins zu generieren. Diese subtile Strategie sagt jedoch noch nichts über die tatsächlichen Erfolge der politisch-ideologischen Parteiarbeit aus. Abgesehen von den ersten Jahren des Bestehens der LDPD herrschte eine große Diskrepanz zwischen der SED-loyalen Parteiführung und der überwiegend systemkritischen Basis. Viele der einfachen Mitglieder betrachteten die Funktionärskader als integralen Bestandteil des DDR-Herrschaftsapparates und schenkten daher den parteioffiziellen Verlautbarungen nur bedingt Beachtung. Zudem ließen sich diese, nicht unbeträchtlichen Teile der Basis aufgrund ihrer weltanschaulichen Distanz kaum für die politisch-ideologischen Parteiveranstaltungen mobilisieren, sodass die im Rahmen dessen vermittelte marxistisch-leninistische Propaganda auf relativ geringe Resonanz stieß.71 Vor diesem Hintergrund sollte auch die weit verbreitete Skepsis gegenüber dem in Anknüpfung an die »Erbe-und-Tradition«-Diskussion modifizierten Geschichtsbild nicht sonderlich überraschen. Während etliche Basismitglieder die veränderte Darstellung der deutschen Geschichte vor allem auf politisch-taktische Motive zurückführten, hielten zahlreiche andere die proklamierte Fortführung der angeblich mehrere Jahrhunderte zurückreichenden progressiven Traditionen nichtproletarischer Bewegungen und Persönlichkeiten für augenscheinlich konstruiert und wenig identifikationsstiftend. Diese recht starken Vorbehalte deuten darauf hin, dass
71 Vgl. Papke, Rolle, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten, S. 2438–2441, 2449–2452, 2461– 2463.
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die geschichtspropagandistischen Bemühungen der Parteifunktionäre alles in allem ihre intendierte Wirkung verfehlten. Darüber hinaus erscheint es sehr fraglich, ob die umfangreiche »Überzeugungsarbeit« überhaupt einen signifikanten Beitrag zur »sozialistischen Bewusstseinsbildung« der Parteimitglieder zu leisten vermochte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass an der Basis über die gesamte Existenzdauer der DDR hinweg gewisse »liberale« Orientierungsmuster erhalten blieben, die schließlich im Zuge der fundamentalen Umwälzungsprozesse des »Wendejahres« 1989/90 innerparteilich auch wieder Fuß fassen konnten.72
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Vgl. ebd., S. 2431–2435, 2449–2452, 2461–2463.
Franz-Joseph Hille Die LDPD und das Ende des SED-Staates. Der Umgang mit der Vergangenheit am Beispiel der Affäre um Justizminister Kurt Wünsche
Die LDPD und das Amt des Justizministers Die Duldung von Parteien abseits der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zeitigte in der DDR ein Mehrparteiensystem, dessen Existenz in einem außen- sowie innenpolitisch wirksamen Beitrag zur Machtlegitimierung und -sicherung der Staatspartei begründet lag. Eine wichtige Funktion des sozialistischen Parteienbündnisses bestand darin, einen politischen Pluralismus nach außen vorzutäuschen. Darüber hinaus galt es, mithilfe der Blockparteien1 den für die SED schwer erreichbaren Bevölkerungsschichten die Politik der Staatspartei zu vermitteln. Auf dieser Grundlage erfolgte eine Integration der »befreundeten Parteien« ins politische System der DDR, die auch die Vergabe von Ministerposten und anderen hohen Ämtern an Funktionäre der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDUD), der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) oder der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) umfasste. Nachdem bereits 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bedeutende staatliche Stellen bisweilen bürgerlichen Kräften überlassen worden waren,2 setzten die kommunistischen Machthaber diese Praxis auch in den folgenden Jahrzehnten fort. In den Zentralverwaltungen der SBZ und den späteren Ministerien der DDR diente die Vergabe von Ministerposten an Blockparteien fortan der Demonstration
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Der Begriff Blockparteien leitet sich vom Demokratischen Block ab, einem Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der DDR. Somit zählte korrekterweise auch die SED zu den Blockparteien. In der Folge bezieht sich die Bezeichnung jedoch stets auf alle Parteien außer der SED. Die Besetzung von Spitzenposten mit bürgerlichen Kräften diente der Verschleierung der kommunistischen Führungsrolle. Stellvertreterposten, die eigentlichen Schaltzentralen und Entscheidungsebenen, lagen in der Hand von Genossen. Vgl. dazu Wolfgang Leonhard, Das kurze Leben der DDR. Berichte und Kommentare aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1990, S. 24.
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vermeintlicher machtpolitischer Teilhabe. Denn während die Ämterverteilung zwischen Blockparteien und SED in der ersten DDR-Regierung noch paritätisch erfolgte, verschob sich das Gewicht im Laufe der 1950er-Jahre zugunsten der Staatspartei, die rasch eine absolute Dominanz im Ministerrat erlangte. Die LDPD zeichnete in den frühen DDR-Regierungen vornehmlich für die Ressorts Finanzen sowie Handel und Versorgung verantwortlich, bis sie 1958 zunächst ganz aus dem Ministerrat verschwand. Nach neun Jahren Absenz war es das Justizministerium, durch das die LDPD wieder ins Kabinett gelangte – es sollte fortan auch das einzige Ministerium der Partei bleiben. Das Justizressort gilt gemeinhin als ein von Liberalen bevorzugtes,3 und auch der erste Präsident der Deutschen Zentralverwaltung der Justiz, der Vorläuferorganisation des DDR-Justizministeriums, war mit Eugen Schiffer (LDPD) ein liberaler Politiker. Der seinerzeit 85-jährige Schiffer verlor sein Amt jedoch an Max Fechner (SED), der 1949 der erste Justizminister der DDR wurde. Fechners Amtszeit wiederum endete nur vier Jahre später, woraufhin die Leitung an Hilde Benjamin (SED) ging, die heute sinnbildlich für die Terrorjustiz der frühen DDR steht. Da die Übernahme eines von einer Blockpartei geleiteten Ressorts durch die SED im DDR-Staatsgefüge der 1950er-Jahre eine kaderpolitische Alltäglichkeit darstellte, erscheint die anschließende personelle Entscheidung umso bemerkenswerter: Die Genossin Hilde Benjamin wurde 1967 durch Kurt Wünsche, einen hohen Funktionär der LDPD, ersetzt.4 Dieser in der Form einmalige Ministerwechsel etablierte ein Modell im Justizressort, das bis zum Ende der DDR Bestand haben sollte; denn auf Wünsche folgte 1972 mit Hans-Joachim Heusinger abermals ein LDPD-Funktionär an der Ministeriumsspitze. Mithin war die LDPD über Jahrzehnte an repräsentativer staatlicher Stelle vertreten – und dies in einem Bereich, in dem wesentliche Grundlagen für Unterdrückung und Verfolgung politisch Andersdenkender in der DDR gelegt wurden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das lange Kapitel justizpolitischer Mitverantwortung in den Monaten der Friedlichen Revolution innerhalb einer im Wandel begriffenen LDPD zum Gegenstand von Auseinandersetzungen mit der eigenen Rolle im SED-Staat wurde. Darüber hinaus sollte der 1989/90 in der LDPD mehr oder weniger konsequent vollzogene personelle Austausch der
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Bereits in der Weimarer Republik und später etwa auf DDR-Länderebene wurden Justizministerien oftmals von liberalen Politikern geleitet. Zu nennen sind hier Minister wie Eugen Schiffer (Deutsche Demokratische Partei [DDP]/LDPD), Hermann Kastner (DDP/LDPD) oder Johannes Dieckmann (Deutsche Volkspartei/LDPD). Auf Hintergründe und mögliche Motive für die Einsetzung Wünsches soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Eine ausführliche Analyse des Wechsels wird der Autor in seiner Dissertation mit dem vorläufigen Titel »Das DDR-Justizministerium unter der Leitung der LDPDMinister Kurt Wünsche und Hans-Joachim Heusinger 1967–1990« vornehmen.
Die LDPD und das Ende des SED-Staates
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ohnehin heiklen Justizproblematik eine weitere Dimension verleihen. Denn Anfang 1990 folgte auf Heusinger der frühere Justizminister Wünsche, was alsbald in Medien, Öffentlichkeit und nicht zuletzt innerhalb der LDPD für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Mit Blick auf seine erste Amtszeit galt Wünsche vielen als Repräsentant einer instrumentalisierten, repressiven Justiz und als Mitverantwortlicher für das Strafgesetzbuch von 1968, das eine Verschärfung der politischen Straftatbestände aufwies. Die Affäre um den LDPD-Minister, die hier nachgezeichnet werden soll, entfaltete sich zu einer Zeit, in der der Blick zurück entscheidenden Einfluss auf die Zukunft der politischen Protagonisten haben konnte. Langjährige Repräsentanten des SED-Staates hatten sich in der Regel für das, was auch immer auf den politischen Wandel folgen sollte, disqualifiziert. Nach Möglichkeit wurden »unbelastete« Personen eingesetzt, die einem neuen politischen Kurs die nötige Glaubwürdigkeit verleihen sollten. Entgegen dieser Personalpolitik rekrutierte die LDPD mit Wünsche jedoch einen Protagonisten aus der Ära Ulbricht, der sich nun anschickte, das Justizwesen für einen freiheitlich-demokratischen Staat auf Vordermann zu bringen. Vor diesem Hintergrund bietet die Untersuchung der Umstände rund um die Personalie Kurt Wünsche aufschlussreiche Erkenntnisse über den Umgang der LDPD mit ihrer problematischen Vergangenheit. Ausgehend von Heusingers Abberufung finden im Folgenden vor allem Handlungsmotive der LDPD-Führung für die Personalentscheidungen sowie Reflexionen der beiden Justizminister über die zurückliegende Tätigkeit im Justizressort Berücksichtigung.
Das Ende der Amtszeit Hans-Joachim Heusingers Nachdem am 4. Januar 1990 der von der LDPD-Führung initiierte »Beschluss über die Veränderung in der Besetzung der Funktion Minister der Justiz« im Ministerrat bestätigt und eine Woche später von der Volkskammer abgesegnet worden war,5 endete die Ära Heusinger nach über 15 Jahren. Der 1972 ins Ministeramt berufene Heusinger gehörte noch Mitte November 1989 als einer von nunmehr vier LDPD-Ministern der neu gebildeten Regierung unter Hans Modrow an.6 Diese letztmalige Verpflichtung Heusingers erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die alten Strukturen sichtbar auseinanderbrachen und sich verschiedene politische Kräfte zu profilieren suchten. Dazu gehörte auch die LDPD, die zunehmend auf
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Vgl. Beschlussprotokoll der 8. Sitzung des Ministerrates vom 4.1.1990 (BArch, DC 20/I/3-2891, unpag.); und Niederschrift der 14. Tagung der Volkskammer vom 11./12.1.1990 (BArch, DA 1/18664, unpag.). Vgl. Michael Walter, »Es ist Frühling, und wir sind (so) frei«. LDP(D), NDPD, DFP und FDP der DDR 1989/90, Würzburg 1998, S. 21.
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Distanz zur SED ging und sich als führende Partei der Reform verstanden wissen wollte. Vor diesem Hintergrund strich die LDPD das Bekenntnis zur führenden Rolle der Arbeiterpartei aus der Satzung und verließ den Demokratischen Block. Neben solchen Schritten war es eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, einen Wandel auch auf personalpolitischer Ebene anzugehen. Folglich rückte der für die DDR-Justiz jahrelang mitverantwortliche Minister aus den eigenen Reihen in den Blickpunkt. Bereits Heusingers Berufung durch Modrow war in der LDPD auf massive Kritik gestoßen – etwa, weil er einst ein Berufsverbot gegen Götz Berger, den Rechtsanwalt Robert Havemanns, ausgesprochen hatte.7 Auf der Zentralvorstandssitzung am 24. November 1989 äußerte einer der anwesenden Parteifreunde über die erneute Berufung Heusingers deutlich seinen Unmut: »Wir hätten auch zu unseren Ministerposten gerne vorher etwas gesagt, uns dazu geäußert und uns eingebracht. Wissen Sie, was Leipziger Parteifreunde und Sympathisanten unserer Partei darüber sagen, dass in diesem Rechtsstaat DDR – und es kommt mir bitter über die Lippen, dieses Wort in diesem Herbst – derselbe Justizminister durch uns wieder benannt wurde, instinktlos, falsch.«8 Heusinger selbst kam in jener Sitzung, in der die Parteivergangenheit einen inhaltlichen Schwerpunkt bildete, ausführlich zu Wort. Im kritischen Geschichtsrückblick, wie er den laufenden Prozess wiederholt bezeichnete, erblickte er eine Möglichkeit, über Bewahrenswertes aus der Geschichte der LDPD nachzudenken – räumte aber auch Fehler ein.9 Er führte persönliche Gewissenskonflikte angesichts der Parteientwicklung an und stellte zur Tätigkeit als Justizminister ohne Umschweife fest: »Ich stehe natürlich auch als Minister für Justiz dieser Republik zu meiner Verantwortung.«10 Die von ihm federführend verantwortete Gesetz gebung benannte er anschließend genauso wie die politischen Straftatbestände, die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre entstanden. Die kritische Auseinandersetzung mit seiner Tätigkeit und der damit einhergehenden Verantwortung endete jedoch auf halber Strecke, da Heusinger umgehend die angeführten Aspekte mit Positivem aufzurechnen suchte. So stellte er durchgeführte Reformen heraus,11 wies darauf hin, dass einige Straftatbestände keine Anwendung mehr fänden, und ging alsbald zur Tagesordnung über. Nüchtern betrachtet
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Vgl. ebd., S. 21 f. sowie Sorgenicht an Honecker vom 4.12.1976 (SAPMO-BArch, DY 30/22274, unpag.); vgl. zu Protesten ferner Manfred Gerlach, Mitverantwortlich. Als Liberaler im SEDStaat, Berlin 1991, S. 343. Auch das Neue Forum hatte vehement den Rücktritt Heusingers gefordert. Vgl. dazu Walter, Es ist Frühling, S. 30 f. Sitzung des LDPD-Zentralvorstandes [ZV] vom 24.11.1989 (ADL, LDPD, L4-356, Bl. 24). Vgl. ebd., Bl. 63 f. Ebd., Bl. 65. Er erläuterte, dass man inzwischen Verschiedenes differenziert, die Todesstrafe abgeschafft und eine Amnestie durchgeführt hätte. Vgl. dazu ebd., Bl. 66 f.
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erscheint die Verantwortungsübernahme allein deshalb nicht bemerkenswert, da auch ein Justizminister der DDR qua Statut des Ministeriums die Verantwortung für die gesamte Tätigkeit des Ressorts besaß.12 Darüber hinaus beschränkten sich Heusingers Ausführungen auf den normativen Bereich strafrechtlicher Wirklichkeit und blendeten die aus den Gesetzen folgende Repressionspraxis aus. Die Verantwortungsübernahme wirkt daher wie ein rein formaler Akt, der eher aus politischer Notwendigkeit als aus einer tatsächlichen Läuterung resultierte. Deutliche Kritik an der SED-(Justiz-)Politik hätte wohl auch kaum Heusingers politischer Überzeugung entsprochen, galt er doch innerhalb der LDPD-Führung als Mitglied der sogenannten SED-Fraktion.13 Tatsächlich unterschied sich der LDPD-Funktionär von einem Genossen in erster Linie durch sein Parteibuch. In einer Einschätzung seiner Person durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von 1955, die zur Anwerbung Heusingers als Geheimen Informator (GI) führte, heißt es, er habe eigenen Angaben zufolge innerlich keine Bindung mehr zur LDPD und betrachte sein Verbleiben in der Partei als eine politische Notwendigkeit.14 Von 1955 bis 1962 war er unter dem Decknamen »Knebel« inoffiziell für das MfS tätig, lieferte zahlreiche Berichte und avancierte nach Beendigung dieser Verbindung zum wichtigen offiziellen Kontaktmann für die Staatssicherheit.15 Als Justizminister verkehrte er im höheren Funktionärszirkel und erhielt neben diversen Auszeichnungen 1987 die Ehrendoktorwürde der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften. Unter Berücksichtigung dieser auf Loyalität gegenüber der Staatspartei beruhenden politischen Karriere hätte eine Distanzierung vom SED-Staat einem Wandel entsprochen, der weder zu erwarten noch nachvollziehbar gewesen wäre. Für die Bewertung der Verantwortungsübernahme ist allerdings nicht zuletzt die Frage nach den Konsequenzen von Relevanz, die Heusinger angesichts seiner zurückliegenden Tätigkeit ziehen wollte. Dass er einen Rücktritt nicht von sich aus vollzog, sondern sein politisches Schicksal in die Hände der LDPD legte,16 offenbart seine Einlassungen zur Verantwortung abermals als eher zweckmäßig denn aufrichtig. Die Partei indes konnte sich geräuschlos von ihm trennen, leitete die Ablösung auch umgehend ein und segnete diese am 19. Dezember 1989 im ZV
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Vgl. Mario Frank, Das Justizministerium der DDR, Univ.-Diss., Regensburg 1988, S. 189. Vgl. Walter, Es ist Frühling, S. 21. Heusinger habe zudem in der Gunst Erich Honeckers gestanden. Vgl. dazu Rudi Beckert, Glücklicher Sklave. Eine Justizkarriere in der DDR, Berlin 2011, S. 100. Vgl. BV [Bezirksverwaltung] Leipzig, Abt. V/3, Vorschlag zur Anwerbung eines GI Linie LDPD vom 26.10.1955 (BStU, ZA, AIM 346/63, Band P, Bl. 9). Vgl. HA XX/3/II, Stellungnahme zum Sachstandsbericht der BV Potsdam vom 21.9.1967 (BStU, HA XX 6529, Teil 2, Bl. 479). Zu den inoffiziellen Berichten vgl. BStU, ZA, AIM 346/63, Band 1 und 2. Vgl. Sitzung des LDPD-ZV vom 24.11.1989 (ADL, LDPD, L4-356, Bl. 68 f.).
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ab.17 In dieser Sitzung übte Udo Weigelt, Gründungsmitglied der Jungliberalen Aktion (JuliA), mit Blick auf das angeschlagene Erscheinungsbild der LDPD am inkonsequenten Auftreten der Partei und ihrer unbedarften Personalpolitik deutlich Kritik: »Sie bekennt sich nur halbherzig zum Kainsmal des Stalinismus, mit dem auch wir belastet sind. In der Öffentlichkeit werden wir als ehemalige Erfüllungsgehilfen und Steigbügelhalter der SED und jetzige Wendehälse bezeichnet. Wie kann eine Partei heute glaubhaft den Rechtsstaat fordern, deren Justizminister die jahrzehntelange systematische Rechtsbeugung mitgetragen hat und sich heute noch im Amt befindet.«18 So unmissverständlich Weigelt hier sein Verständnis von konsequenter Aufarbeitung der Parteigeschichte darlegt, so befremdlich erscheint der wenig später von ihm geäußerte Vorschlag, den LDPD-Vorsitzenden Manfred Gerlach auf dem geplanten Außerordentlichen Parteitag zum Ehrenvorsitzenden zu wählen, da dieser »die Partei durch die Nacht des Stalinismus bewahrt [habe], ohne sich zu beflecken.«19 Diese Sichtweise zeugt von einer gewissen Verklärung der Person Gerlachs und lässt erahnen, dass Funktionäre nicht zwingend allein nach ihrem Wirken in der Vergangenheit beurteilt wurden.20 Während Heusinger aufgrund seiner jahrelangen Ministertätigkeit für die meisten untragbar geworden war, begegnete man Wünsche ungeachtet seiner ganz ähnlichen Vergangenheit als Justizminister bisweilen mit Hochachtung, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Mit Heusingers Entpflichtung hatte die LDPD auf den wachsenden Druck von außen reagiert und sich eines unangenehmen Teils der Parteigeschichte entledigt. Doch mit der gleichzeitigen Verpflichtung Wünsches zum Stellvertretenden Parteivorsitzenden sowie ab Januar 1990 zum Justizminister lud sich die Partei unmittelbar neuen Ballast auf – und schuf damit die Grundlage für die Wochen später folgende Kontroverse.
Die Gründe für Kurt Wünsches Wiederkehr Nachdem Kurt Wünsche 1972 unter anderem kritischer Äußerungen über die Verstaatlichung privater und halbstaatlicher Betriebe sein Ministeramt verloren hatte, bedeutete dies vorerst das Ende seiner justizpolitischen Karriere. Durch die noch im selben Jahr erfolgte Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin (HU) als ordentlicher Professor für Gerichtsverfassungsrecht landete der
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Vgl. Sitzung des LDPD-ZV vom 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-359, Bl. 88 f.). Ebd., Bl. 8. Ebd., Bl. 17. Gerlach hatte die JuliA nicht zuletzt auf seiner Seite, weil er sie unterstützte und ihr etwa ein Gastrecht in LDPD-Einrichtungen einräumte. Vgl. dazu Walter, Es ist Frühling, S. 28.
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geschasste M inister jedoch vergleichsweise weich. Über Wünsches 17-jähriges Wirken an der Universität ist wenig bekannt,21 aber augenscheinlich trug die Professorentätigkeit zur erneuten Berufung in hohe Partei- und Staatsämter bei. Der Jurist hatte sich durch die politisch eher unproblematische und zugleich respektable Stellung ein hohes Ansehen verschafft, und im Rahmen seiner Wiederwahl bescheinigten ihm Parteikollegen unentwegt eine hohe Sachkompetenz. Gerlach, der Wünsche zur politischen Rückkehr bewegte, beschrieb ihn als »starke, politische, kluge, parteibekannte und anerkannte Persönlichkeit«, was ihn unter anderem zu dessen erneuter Berufung veranlasste.22 Dass beide langjährige Weggefährten waren und einst gemeinsam promoviert hatten, bildete sicher eine für die Verpflichtung günstige Grundlage. Das Wirken des HU-Professors lässt sich in Teilen auch über seine Tätigkeit innerhalb der LDPD nachvollziehen, der Wünsche auch nach 1972 als Mitglied des ZV angehörte. An der Beratung des Politischen Ausschusses 1979 zu Fragen der sozialistischen Rechtsordnung beteiligte sich Wünsche mit einem Beitrag über die deutsch-deutsche Justiz, in dem er das »zutiefst humanistische Wesen des sozialistischen Rechts«23 herausstellte. Daneben würdigte er die DDR als freie Gesellschaft und übte umfassend Kritik am bürgerlichen Recht. Indem Wünsche abschließend den »Kontrast, die im eigentlichen Sinne epochale Verschiedenheit von Recht und Justiz in beiden deutschen Staaten«24 betonte, demonstrierte er seine grundsätzliche Distanz zur Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik. Später, auf dem Außerordentlichen Parteitag 1990, sollte er wiederum behaupten, im Lehramt an der HU bemüht gewesen zu sein, »das, was in diesem Lande auch gegen Widerstand möglich war, an Rechtsstaat, an rechtsstaatlichen Ansätzen zu pflegen und, soweit wie möglich, auf den Weg zu bringen«.25 Außerdem habe er 1974 begonnen, sich »gegen heftigste Widerstände für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR einzusetzen«.26 Die im Nachhinein von Wünsche kolportierte kritische Haltung hinterfragte keiner, auch war die frühere Ministertätigkeit zunächst nicht von Interesse – zu weit lag wohl jener Abschnitt zurück, der zudem von der Professorentätigkeit überstrahlt wurde. Fragen zur damaligen Ausübung des Ministeramtes kamen wohl auch deshalb nicht auf, weil die Erwähnung des Namens Wünsche beinahe reflexartig das Ende der Amtszeit 1972 hervorrief. Es
21 Betreffende Bestände sind im Universitätsarchiv noch nicht verzeichnet und damit nicht auffindbar. Die Personalakte Wünsches liegt im Archiv, kann jedoch nur mit seinem Einverständnis eingesehen werden. 22 Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 387. 23 Beratung des Politischen Ausschusses vom 18.4.1979 (ADL, LDPD, L2-421, Bl. 110). 24 Ebd., Bl. 117. 25 Außerordentlicher Parteitag der LDPD am 10.2.1990 (ADL, LDPD, L6-334, Bl. 66). 26 Ebd., Bl. 67.
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bedurfte seinerzeit sicher einigen Mutes, sich im Kontext der Verstaatlichung kritisch zu äußern. Dass er jedoch nicht die Zielstellung der wirtschaftlichen Umwälzung selbst infrage gestellt, sondern Kritik an dem in seinen Augen zu rasch vonstatten gehenden Prozess und der rein administrativen Vorgehensweise geübt hatte,27 fand 1989/90 keine Erwähnung. Im Mittelpunkt stand das durch die Staatspartei erzwungene Ausscheiden, und Gerlach erblickte in diesem Vorgang einen weiteren Grund, sich für eine Wiederkehr seines Parteifreundes auf die große politische Bühne auszusprechen.28 Tatsächlich erwies sich der einstige Rauswurf Wünsches, beziehungsweise das, wozu dieses Ereignis stilisiert wurde, für die Partei als politisch durchaus nützlich. Da die LDPD an der Verstaatlichung 1972 selbst mitgewirkt hatte,29 stellte dieses Kapitel einen besonders »dunklen Fleck« in der Parteigeschichte dar. Auf der Suche nach einer neuen Identität strebte die Partei eine selbstkritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte an und beschloss im Dezember 1989 eine Erklärung zur Mitwirkung an der Verstaatlichung, in der man sich zu Mitverantwortung und Mitschuld bekannte.30 Dass sich hierbei ein einst mit der SED in Konflikt geratener Vertreter aus den eigenen Reihen zur Relativierung des Eingeständnisses instrumentalisieren ließe, war der ob ihrer Vergangenheit kritisierten LDPD durchaus bewusst. So verwies Parteifreund Gunter Krüger während der Besprechung zu besagter Erklärung auf jene Stelle, »wo von dem Vertreter der Regierung die Rede war, und zwar, ob es nicht gut wäre, den Namen Prof. Dr. Wünsche einzufügen, im Hinblick auf künftiges Wollen. Wir haben auch Parteifreunde, die in irgendeiner Weise in der Geschichte einen Schlag wegbekommen haben. Da sollten wir nicht so zimperlich sein.«31 In der ersten in den Akten überlieferten Version der Erklärung zur Verstaatlichung ist zu lesen, dass die Führung der LDPD »warnend ihre Stimme erhoben und durch ihr Mitglied im Ministerrat, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats und Minister der Justiz, Dr. Kurt Wünsche, Einspruch gegen die Art und Weise, das Tempo und den Umfang der Durchführung der Maßnahmen zur Umwandlung
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Vgl. Monika Kaiser, 1972 – Knockout für den Mittelstand. Zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1990, S. 14 und 113 f. Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 387. Auf dem 11. LDPD-Parteitag 1972 bekräftigten im Anschluss an das Referat des Vorsitzenden einige Komplementäre den Wunsch, ihre Unternehmensanteile an den Staat abtreten zu wollen. Auf diese Weise wurde der zuvor im Demokratischen Block gefasste Beschluss zur Verstaatlichung öffentlich. Vgl. dazu Jürgen Frölich, Die LDPD zwischen Prager Frühling und Grundlagenvertrag (1968–1972). In: liberal, 35 (1993) 2, S. 53–61, hier S. 59. Vgl. Vorlage für die 8. Sitzung des ZV am 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-360, Bl. 2–4.); und »Wie steht die LDPD zu ihrer Mitwirkung an der Umwandlung der BSB [Betriebe mit staatlicher Beteiligung] in VEB [Volkseigene Betriebe] im Jahre 1972«, o. D. (ebd., Bl. 20–24). Sitzung des LDPD-ZV vom 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-359, Bl. 80).
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eingelegt«32 habe. Neben dem offensichtlichen Bemühen der LDPD, die eingestandene Mitschuld an der Verstaatlichung ein Stück weit zu relativieren, wird hier die Absicht der Parteispitze erkennbar, den Protest des Justizministers als gesamtparteilichen, kollektiven Widerstandsakt zu kommunizieren. Damit fand an dieser Stelle der Wille zur kritischen Aufarbeitung in der Pflege des Parteiselbstbildes seine Grenzen. Dieses war gekennzeichnet durch die Erzählung von einer zwar gleichgeschalteten, aber durchaus unangepassten Partei, die in Wünsches einstigem Rausschmiss einen gewichtigen Beweis für die eigene Widerständigkeit gefunden zu haben glaubte. Die LDPD schien weniger bestrebt, Vergangenes tatsächlich kritisch aufzuarbeiten, als vielmehr aus den vorangegangenen Jahrzehnten jene Aspekte hervorzuheben, die der politisch ambitionierten Partei das ramponierte Image aufzubessern halfen. Der Parteivorsitzende stellte bezeichnenderweise fest: »Es scheint mir nicht in erster Linie notwendig zu sein, jetzt in breiten Dokumenten zurückzublicken, sozusagen aufzuarbeiten. Auch das muss sein. Viel wichtiger ist, dass wir uns aus uns selbst heraus erneuern in der Arbeit für das Volk unter den jetzt gegebenen revolutionären Bedingungen.«33 Wenn das leidige Thema der Parteivergangenheit doch Diskussionsgegenstand wurde, konnte Wünsches Werdegang angeführt werden, der sich zudem um das authentische Moment der MfS-Untersuchungshaft ergänzen ließ, in die er Ende 1953 für drei Monate unschuldig geraten war. Dieses Ereignis bildete einen weiteren Aspekt, durch den Gerlach die politische Führungsrolle seines Parteifreundes im Jahr 1990 legitimiert sah.34 Die ohne Frage unangenehme Erfahrung politischer Untersuchungshaft hielt den unberechtigt Inhaftierten allerdings nicht davon ab, anschließend als GI »Wendler« für die Staatssicherheit tätig zu werden. Dass er von 1954 bis 1965 unzählige, mitunter sehr detaillierte Berichte aus der LDPD-Parteiführung lieferte,35 war den Protagonisten 1989/90 noch nicht bekannt. Wünsche selbst schwieg dazu und half auf diese Weise, das Bild vom Unangepassten zu festigen. Neben dem Widerstandsnarrativ resultierte die Zustimmung, die der neue Justizminister durch weite Teile der LDPD erfuhr, auch wesentlich aus seinem Auftreten als treibende Kraft der Partei, die dem Erneuerungsprozess immer wieder Akzente verlieh. Durch Reformvorschläge oder Ermahnungen zur Forcierung der konzeptionellen Arbeit36 demonstrierte Wünsche überzeugend seinen
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Wie steht die LDPD zu ihrer Mitwirkung an der Umwandlung der BSB in VEB im Jahre 1972 (ADL, LDPD, L4-360, Bl. 22). Sitzung des LDPD-ZV vom 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-358, Bl. 56). Vgl. Gerlach, Mitverantwortlich, S. 387. Vgl. BStU, ZA, AIM 12982/63, Band A/1–3. Vgl. Sitzung des LDPD-ZV vom 24.11.1989 (ADL, LDPD, L4-356, Bl. 51).
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Willen zur politischen Umgestaltung und bildete gleichsam einen Gegenpart zu Gerlach, der noch bis in den Dezember 1989 an der Reformierung des Sozialismus festhielt.37 Wünsche schien geradezu prädestiniert dafür, die Lücke zu füllen, die der scheidende Vorsitzende Gerlach hinterlassen würde,38 und avancierte zum politischen »Heilsbringer«, der auf dem Sonderparteitag Anfang Februar 1990 in Dresden seinen großen Moment haben sollte.
Der Außerordentliche Parteitag der LDPD Im Angesicht der stetigen Anschuldigungen, denen sich die LDPD ausgesetzt sah, gab man sich demonstrativ selbstbewusst, was Gerlach im Dezember 1989 zum Ausdruck brachte: »Wir lassen uns […] nicht in ein Büßerhemd stecken und uns abhängig machen von Gnadenerweisen selbsternannter politischer Moralapostel. Wir nutzen jede Gelegenheit, um den Einfluss unserer Partei zu wahren und zu verstärken und auch der Öffentlichkeit bewusst zu machen.«39 Dabei drohte die Partei zunehmend an Bedeutung zu verlieren, denn erst im Dezember, und damit verhältnismäßig spät, erfolgte durch die offizielle Abkehr vom Sozialismus eine klare politische Positionierung. Die Einberufung des programmatischen Parteitages hatte sich infolgedessen bis Februar 1990 hinausgezögert, worüber die Freie Demokratische Partei Deutschlands (FDP) in Westdeutschland, die bezüglich der Klärung von Sach- und Personalfragen Druck ausübte, ihr Bedauern äußerte.40 Es drängte außerdem bald die Zeit, da der ursprüngliche Termin für die Volkskammerwahl von Anfang Mai auf den 18. März vorverlegt worden war. Gute Voraussetzungen, den Reformprozess anzuführen, hatte sich indes die CDUD verschafft, die wie auch die SED-PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) noch 1989 einen Sonderparteitag ausrichtete. Gerlach, der später die verschenkte Zeit einräumte, war seinerzeit hinsichtlich des eigenen Parteitages noch optimistisch: »Bis dahin haben die anderen Parteien, Organisationen, neuen Kräfte, die sich bilden, alle ihre Parteitage, Konferenzen usw. bis kurz vor uns, Ende Januar, durchgeführt, und wir setzen eins drauf.«41
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Die Leitsätze der LDPD aus dem November zeugen von jenem Kurs, der noch große Unterstützung im ZV erfuhr. Vgl. dazu Walter, Es ist Frühling, S. 22. 38 Wünsche wurde zwischenzeitlich als Vorsitzender ins Gespräch gebracht. Er selbst erachtete zwei hohe Positionen in dieser Phase als problematisch. Vgl. dazu Sitzung des LDPD-ZV vom 19.1.1990 (ADL, LDPD, L4-362, Bl. 18). 39 Sitzung des LDPD-ZV vom 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-358, Bl. 56). 40 Vgl. Walter, Es ist Frühling, S. 33. 41 Sitzung des LDPD-ZV vom 19.12.1989 (ADL, LDPD, L4-358, Bl. 57).
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Es war nun allemal nötig, ein überzeugendes Programm zu präsentieren, um nicht vollends ins politische Abseits zu geraten. Die Ehre, auf dem anstehenden Parteitag die programmatische Grundsatzrede halten zu dürfen, wurde ausgerechnet Wünsche zuteil.42 Einen Tag vorher, am 8. Februar 1990, informierte er die Mitglieder des Zentralvorstandes über den Inhalt seines Referates. Wünsche plante einleitend einen kritischen Blick auf die Vergangenheit, bei dem es ihm »nicht nur um eine knappe Abrechnung mit düsteren Kapiteln dieser Vergangenheit« ging, »sondern auch […] um eine angemessene Würdigung der Haltung vor allem der Parteibasis in dieser Vergangenheit einschließlich auch der Leistungen, die von dieser Parteibasis in den Jahrzehnten trotz aller Widrigkeiten für das Volk erbracht worden sind«.43 Er schien einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn die anschließende Diskussion drehte sich wiederholt um die Fragen nach Schuld und Verantwortung. Mehrere Parteifreunde erklärten sich mit dem Schuldbekenntnis nicht einverstanden und erblickten darin ein Kollektivurteil, das eine in ihren Augen standhafte Basis unberechtigterweise diskreditieren würde. Gleichsam als ein Beweis wurde das liberale Gedankengut angeführt, das auch während der stalinistisch geprägten Zeit »weiter im Gespräch, im Denken, im Fühlen und im Leben dieses Landes blieb«,44 was ein Verdienst der LDPD-Mitglieder bleibe. Parteifreund Reinhard Klein hingegen warnte vor einer Selbstgefälligkeit und konstatierte, dass »wir […] zwar Andersdenkende [waren], aber nicht Andershandelnde, und das ist unsere Schuld, und auch dazu müssen wir uns bekennen«.45 Um Ausgleich bemüht empfahl ein Parteifreund ferner die Trennung zwischen Schuld und Verantwortung: »Es gibt keine Kollektivschuld, es gibt nur eine persönliche Schuld. So gesehen trage ich Mitverantwortung, aber keine Schuld.«46 Der Formel von der Mitverantwortung schloss sich Gerlach in seinem Fazit an und fügte entsprechend seinen Prioritäten hinzu, dass eine Aufarbeitung der Parteigeschichte nicht Aufgabe des Parteitages sei, da es nach vorn gehen müsse.47 Die Diskussion offenbarte eine verbreitete Abwehrreaktion, sobald die Partei in die Nähe der SED-Politik gerückt wurde, daneben aber auch vereinzelt differenzierte Sichtweisen auf das Wirken in der Vergangenheit. Schwierigkeiten bei der Bewertung der eigenen Rolle im politischen System der DDR und
42 Nachdem der zunächst angedachte Parteitagsredner und potentielle Nachfolger Gerlachs, Hans-Dieter Raspe, infolge seiner Beteiligung mit einer Rede auf einer von der SED-PDS dominierten Massenkundgebung stark in die Kritik geraten war, fiel die Wahl auf Wünsche. Vgl. dazu Gerlach, Mitverantwortlich, S. 381 f. 43 Sitzung des LDPD-ZV vom 8.2.1990 (ADL, LDPD, L4-363, Bl. 31). 44 Sitzung des LDPD-ZV vom 8.2.1990 (ADL, LDPD, L4-364, Bl. 2). 45 Ebd., Bl. 3. 46 Ebd., Bl. 7. 47 Ebd., Bl. 26.
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Meinungsverschiedenheiten bei der Frage nach den zu ziehenden Konsequenzen blieben virulent und traten später in der Affäre um Wünsche deutlich zutage. Als es auf dem Parteitag darauf ankam, machte Wünsche offenbar vieles richtig, wofür der anhaltende Applaus der Mitglieder im Dresdner Kulturpalast sprach. Er bediente sich der Begrifflichkeit der Mitverantwortung, stellte die dunkle Vergangenheit heraus, schenkte dann den Verdiensten der Partei und einzelnen Persönlichkeiten Beachtung und sprach schließlich vom »Verzicht Zehntausender Bürger auf Vorteile und Privilegien durch den Beitritt zu unserer Partei«.48 Hatte er hiermit bereits viele Sympathien gewonnen, so überzeugte er im Anschluss mit der programmatischen Konzeption, die sich durch einen freiheitlich-demokratischen Charakter auszeichnete. Nur sehr verhalten wurde Kritik an Wünsches Person laut, als ein Parteifreund fragte, ob jene, die das sozialistische Recht mitgetragen, vertreten und durchgesetzt hätten, »sich nicht vorstellen könnten, eine gewisse Karenzzeit in der Parteiarbeit in führender Position einzulegen«.49 Gewissermaßen als Antwort erwähnte Wünsche den Rauswurf 1972 und seinen stetigen Kampf für den Rechtsstaat, womit ihm der anschließende Beifall sicher war. Die Authentizität eines selbst von Repressionen Betroffenen sowie seine Fähigkeit, die LDPD als eine selbstbewusste Partei zu verkörpern, trugen dazu bei, dass er zum »Liebling«50 des Parteitags avancierte – ein Erfolg, der ihn immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte.
Volkskammerwahl und erste Proteste Kurz nach dem Parteitag gründete sich das Wahlbündnis Bund Freier Demokraten (BFD),51 das nach der ersten freien Volkskammerwahl der Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière angehörte. Mitglied des neuen Kabinetts war auch wiederum Justizminister Wünsche – nur handelte es sich jetzt um eine Regierung mit demokratischer Legitimation, die für einen Neuanfang stehen und Reformen herbeiführen sollte. Vor diesem Hintergrund geriet Wünsches Vergangenheit fortan genauer in den Blick. Bereits am 11. April 1990, einen Tag bevor die Regierung mit großer Mehrheit in der Volkskammer bestätigt wurde, protestierte die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) bei Lothar de Maizière gegen die erneute Berufung Wünsches.
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Außerordentlicher Parteitag der LDPD am 9.2.1990 (ADL, LDPD, L6-333, Bl. 25). Außerordentlicher Parteitag der LDPD am 10.2.1990 (ADL, LDPD, L6-334, Bl. 65). Manfred Bogisch, Die LDPD und die Staatskrise 1989/90, Berlin 2004, S. 58. In diesem liberalen Bündnis waren LDPD, die FDP der DDR und die Deutsche Forumpartei zusammengeschlossen.
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Aufgrund seiner früheren Tätigkeit unter Walter Ulbricht und Erich Honecker sei eine Aufarbeitung der Justizverbrechen nicht gewährleistet, so die Begründung.52 Auch beim Vorsitzenden des BFD, Rainer Ortleb, ging ein Protestschreiben der VOS ein, in dem eine befürchtete Vertuschung durch den Minister geäußert wurde.53 Schließlich wandte sich der Opferverband direkt an Wünsche und forderte unter Verweis auf politische Verbrechen, von denen der Minister gewusst, aber geschwiegen hätte, und mit dem Appell an Anstand und Ehre den unverzüglichen Rücktritt. Nachdem dieses Schreiben auch der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl zugesandt worden war und sich in der Angelegenheit nichts getan hatte, drohte die VOS gar mit einer Strafanzeige wegen Rechtsbeugung und Menschenrechtsverletzungen.54 Neben dem Protest, der naheliegend von einem Opferverband ausging, wurde im Laufe des Mai weitere Kritik von verschiedenen Seiten laut, sodass der BFD bald die Notwendigkeit sah, sich der personellen Problematik zu stellen. Wünsche selbst bezeichnete in der Vorstandssitzung am 29. Mai die Angriffe gegen ihn als Versuche, die Regierung auszuhebeln, und meinte weiter: »Es wird schon dabei bleiben müssen, dass wir uns mit Entschiedenheit gegen solche Dinge zur Wehr setzen und auch nun mal bitteschön [sic] konkret nachweisen, wie es denn mit der politischen Vergangenheit derjenigen sich verhält, die heute mit dem spitzen Finger auf die Angehörigen ehemaliger Blockparteien zeigen.«55 Auf diesen Versuch, die Aufmerksamkeit auf andere ehemalige Verantwortungsträger und ihre Vergangenheit zu lenken, folgte ein Appell, der einer Flucht nach vorn gleichkam: »Ich glaube es ist an der Zeit, nicht zu beklagen, dass wir solche Vorwürfe entgegennehmen müssen, sondern dann bitte auch in die Offensive zu gehen und wir müssen das schon auch lokal aufdecken und nutzen.«56 Westliche Medien hatten nach Wünsches Auskunft seine aktuelle Amtsführung kritisiert, indem sie das Verzögern der Justizreform oder die geplante Weiterverwendung von DDR-Juristen in einem Gesamtdeutschland anführten. Richter wiederum hätten die mangelnde Vertretung ihrer Interessen moniert.57 Überwiegend jedoch bezogen sich Angriffe offenbar auf die frühere Tätigkeit als Justizminister. Dem begegnete Wünsche mit dem Verweis auf die erlittene Untersuchungshaft und schilderte, dass er Minister gewesen sei »zu einer Zeit, als diesem Ministerium keinerlei Aufgaben auf dem Gebiet der Leitung der
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Vgl. Wolfgang Jochims, Die DDR im Umbruch. Tagebuch der Ereignisse, Berlin 2013, S. 93. Vgl. Knöchel (VOS) an Ortleb vom 12.4.1990 (ADL, BFD, L1-54, Bl. 25). Vgl. Anger (VOS) an Bergmann-Pohl vom 19.4.1990; Knöchel und Pieper (VOS) an Wünsche vom 17.4.1990; und VOS-Pressemitteilung vom 24.4.1990 (BArch, DA 1/16638, unpag.). 55 Sitzung des BFD-Vorstandes vom 29.5.1990 (ADL, BFD, L1-74, Bl. 67). 56 Ebd. 57 Vgl. ebd., Bl. 68.
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echtsprechung oblagen, sich dieses Ministerium zu konzentrieren hatte auf R Fragen der Justizverwaltung, der Gesetzgebungsvorbereitung und der internationalen Beziehungen. Aber ich habe meine Tätigkeit damals verstanden als den Versuch, das vorhandene System, wo immer möglich, im Sinne auch liberaldemokratischer Auffassungen zu reformieren. Das hat sich als ein Kampf gegen Windmühlenflügel herausgestellt.«58 Die Erzählung von Einflusslosigkeit bei gleichzeitigem Widerstand und Reformwillen blieb seine Version der Vergangenheit, die er in Interviews wiederholte und aus der er den Standpunkt ableitete, sich nichts vorwerfen zu müssen.
Auslöser und Entwicklung der Protestwelle Am selben Tag, an dem Wünsche sich gegen Vorwürfe zur Wehr setzte, wurde ein zehnminütiger Beitrag von Roland Jahn und Werner Thies über die Vergangenheit des Justizministers im ARD-Magazin Kontraste ausgestrahlt.59 Darin eingebettet war ein Interview mit Wünsche, in dem er damalige Kompetenzen in der Rechtsprechung negiert und eine Beteiligung an der Entstehung des Strafgesetzbuches von 1968 von sich weist. Nachdem er mehrmals betont hat, das Strafrecht auch nicht propagiert zu haben, wird dem Fernsehzuschauer ein kurzer Ausschnitt aus dem DDR-Fernsehen von 1968 präsentiert, der Wünsche zwischen Generalstaatsanwalt Josef Streit und seiner Vorgängerin Hilde Benjamin zeigt. Der Justizminister verteidigt hier das Strafrecht und erklärt unter der Zustimmung Benjamins: »Genau dieselben Leute, die sich jetzt am meisten erregen, zwingen uns praktisch dazu, auch mit solchen drastischen Maßnahmen die Souveränität unseres Staates zu schützen. […] Wenn sie sich jetzt so erregen, dann zeigt das eigentlich, dass wir auch insofern ein sehr gutes Gesetz geschaffen haben: Denn genau die Leute, die sich getroffen fühlen sollen, fühlen sich getroffen.«60 In der Folge werden weitere Aussagen Wünsches angeführt, um dessen Zustimmung zur SED-Politik auch in den letzten Jahrzehnten zu belegen. Ungeachtet des für die Zeit wohl typischen Aufklärungseifers, von dem die Berichterstattung geprägt ist, sprachen die präsentierten Dokumente für sich und zeichneten ein Bild des Ministers, das von dem bisher kommunizierten bisweilen stark abwich und für weitreichende Reaktionen sorgen sollte.
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Ebd., 69 f. Roland Jahn/Werner Thies, Den Bock zum Gärtner? Der neue Justizminister Wünsche (1990), ARD, Kontraste, 29.5.1990. Ebd., 06:10–06:34 Minuten.
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Nach der Ausstrahlung des Kostraste-Beitrags, auf die diverse Zeitungsberichte folgten,61 verging kaum ein Tag, an dem nicht eine Rücktrittsforderung die Parteiführung erreichte.62 Zuvorderst waren es Ortsgruppen und Kreisverbände des BFD, daneben auch Einzelpersonen, die mal sachlich, mal emotional, aber stets unmissverständlich auf eine Abdankung Wünsches drängten. Wiederholt äußerte sich in den Schreiben ein Befremden dahingehend, dass Wünsche sich nicht zurückgehalten und auf das Amt verzichtet hatte. Die Mehrheit der Protestler empfand die Personalie als so unerträglich, dass die Sachkompetenz als Argument längst nicht mehr überzeugen konnte: »Sachkompetenz und persönliche Integrität ersetzen nicht moralische Verantwortung«63, hieß es aus der BFD-Stadtgruppe Bad Langensalza. Außerdem, so verlautete es aus dem Kreisverband Wernigerode, gebe es genügend kompetente, integere Kandidaten in der eigenen Partei, wobei man auf das Amt auch verzichten könne.64 Die Notwendigkeit, umgehend zu handeln, erblickten viele zudem im drohenden Verlust des Ansehens der Partei. Durch die mangelhafte Distanzierung von der Vergangenheit stand in den Augen der meisten Parteifreunde die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Der Protest speiste sich demnach auch aus der Angst um das eigene politische Überleben, das man durch die auf die Partei ausstrahlende Negativpresse zu Wünsche zunehmend gefährdet sah. Mittlerweile war die Causa Wünsche ein ernsthaftes Problem auch für die BFD-Führung geworden, die sich ihrerseits Attacken ausgesetzt sah. Der Kreisparteitag Suhl war der Meinung, dass jene Verantwortlichen im BFD, die halfen, die »Reizproblematik« Wünsche eskalieren zu lassen, »ebenfalls persönliche Konsequenzen ziehen sollten«.65 Beispielhaft spiegelt sich der Stimmungsumschwung im Schreiben eines Parteimitgliedes, das noch bis Ende Mai stolz auf den Justizminister aus der eigenen Partei gewesen war. Darin heißt es, der Inhalt der ARD-Sendung habe ihn jedoch zum Nachdenken gebracht, und er finde, dass es Wünsches Pflicht gewesen wäre, auf das Amt zu verzichten. Das Schreiben endet mit den Worten: »Entweder er oder ich! Wenn er Ende Juni noch Minister ist, trete ich aus der LDP aus!«66 Bereits der Streit um die künftige Ausrichtung der LDPD in den Wochen vor dem Sonderparteitag hatte zahlreiche Abgänge aus der Partei zur Folge, die durch Neueintritte nicht ausgeglichen werden konnten.67 Die Affäre um
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Vgl. etwa Klaus Pokatzky, Den Bock zum Gärtner gemacht. In: Die Zeit vom 8.6.1990, S. 7; oder [o. V.,] Gehorsamer Diener. In: Der Spiegel vom 11.6.1990, S. 27–29. Zu den Protestbriefen vgl. vor allem ADL, BFD, L1-53, L1-55-60; und L1-84-87. Schreiben der Stadtgruppe des BFD Langensalza vom 15.6.1990 (ADL, BFD, L1-56, Bl. 12). Vgl. KV [Kreisvorstand] Wernigerode an Ortleb vom 7.6.1990 (ADL, BFD, L1-55, Bl. 34). Kreisvorsitzende Suhl an Hauptgeschäftsführer BFD vom 22.6.1990 (ADL, BFD, L1-22, Bl. 28). Privates Schreiben an den Parteivorsitzenden Ortleb vom 2.6.1990 (ADL, BFD, L1-55, Bl. 35). Vgl. Walter, Es ist Frühling, S. 35.
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den Justizminister schien diesen Trend noch verschärft zu haben, wie einige der Briefe erahnen lassen. Da bekanntlich Ausnahmen die Regel bestätigen, findet sich auch ein Schreiben an die Kontraste-Redaktion,68 das Wünsche ausdrücklich in Schutz nimmt und ein Ende der Kampagne sowie eine Entschuldigung beim Minister fordert. Einer der Absender war damals Präsidiumsmitglied des BFD-Landesverbands Berlin – bezeichnenderweise jener Verband, dem Wünsche selbst angehörte. Die im Brief ausführlich dargelegte apologetische Sichtweise auf die Vergangenheit des Justizministers nahm gleichsam die wenig später bekanntgegebene Haltung der Parteiführung zur Personalie Wünsche vorweg.
Reaktion der Partei Das BFD-Präsidium und die Volkskammerfraktion ließen sich von der mitunter massiven Kritik nicht beirren. Nach »Anhörung und eingehender Debatte« sprach sich die liberale Volkskammerfraktion am 12. Juni 1990 mehrheitlich für einen Verbleib des Ministers im Amt aus. Das Ziel sei die schnelle Einheit und Wünsche, der selbst erklärt hatte, nach der Vereinigung für höhere Staats- oder Parteiämter nicht mehr zur Verfügung zu stehen, ein »Minister mit bemessener Amtszeit«.69 Am selben Tag und ebenfalls nach eingehender Erörterung und Anhörung des Betroffenen forderte das Präsidium selbigen einstimmig auf, seine Arbeit als Minister fortzusetzen.70 Mit der Betonung des baldigen Endes der Amtszeit hoffte die BFD-Führung wohl, die Kritiker besänftigen zu können – doch das Gegenteil war der Fall. Das klare Bekenntnis zu Wünsche rief nur noch mehr Unverständnis hervor, und Protestschreiben gingen auch weiterhin in der Parteizentrale ein. Obwohl der Fall vorerst geklärt schien, kam auch in der nächsten Präsidiumssitzung, fünf Tage später, das Thema in Abwesenheit Wünsches zur Sprache.71 Mittlerweile, so erfuhren die Anwesenden hatte ein Gespräch bei de Maizière stattgefunden, in dessen Folge alles beim Alten blieb. Für Verunsicherung unter den Parteimitgliedern sorgten Gerüchte über die Handlungsmotive des Ministerpräsidenten: De Maizière, so hätte Cornelia Schmalz-Jacobsen geäußert, stütze Wünsche nur, um ihn zu einem geeigneten Zeitpunkt zu entlassen. Da die 68 69 70
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Vgl. Manning an Redaktion »Kontraste« vom 30.5.1990 (ADL, BFD, L1-64, Bl. 38–40). Fraktion Die Liberalen, Pressedienst 15/90 vom 12.6.1990 (ADL, BFD, L1-27, Bl. 78); und Fraktion Die Liberalen vom 12.6.1990 (ADL, BFD, L1-84, Bl. 91). Vgl. [o. V., o. T., o. D.] [vermutlich Teil der Sitzung des BFD-Präsidiums vom 12.6.1990] (ADL, BFD, L1-84, Bl. 90); vgl. dazu auch die Auseinandersetzung über Wünsche und die Bezugnahme auf die Präsidiumssitzung am 12.6.1990 auf der Sitzung des BFD-Präsidiums vom 17.6.1990 (ADL, BFD, L1-73, ab Bl. 21). Sitzung des BFD-Präsidiums vom 17.6.1990 (ADL, BFD, L1-73, ab Bl. 21).
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iberalen zur Lösung der Angelegenheit selber nicht in der Lage seien, bedürfe L es des Ministerpräsidenten von der CDUD.72 Ein solches Szenario wäre für den BFD zweifellos eine Blamage gewesen. So war man einmal mehr alarmiert, als angeführte Gerüchte durch einen weiteren Parteifreund untermauert wurden: In der Bundeszentrale der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (West), so wurde unter Berufung auf mitgehörte Gespräche berichtet, kursiere der Entlassungstermin Anfang Juli. Als ahnte er bereits, wie es enden würde, äußerte jener Parteifreund abschließend: »Nicht dass nachher die Diskussion entsteht, hätte es jemand gesagt, hätten wir anders gehandelt.«73 In dieser ohnehin angespannten Lage wurde ein Vorgang bekannt, der all jenen recht zu geben schien, die von einem Vertreter des »alten« Systems Vertuschungen befürchteten. Wünsche ermöglichte Richtern unter Bezugnahme auf die Verordnung zur Arbeit mit Personalunterlagen vom 22. Februar 1990, Personalakten eigenhändig um Auszeichnungen oder Belobigungen zu bereinigen. Die Regelung war noch von der Modrow-Regierung auf Druck des Runden Tisches mit der gegenteiligen Absicht verabschiedet worden, früher Verfolgten und Diskriminierten das Recht einzuräumen, aus Personalakten etwa abträgliche Unterlagen wie Disziplinarmaßnahmen zu entfernen.74 Mit Blick auf die damalige Situation, als eine nachgewiesene Nähe zum sozialistischen System den Fortgang der Karriere gefährden konnte, scheint der Missbrauch jener Verordnung beinahe vorprogrammiert; doch dass ausgerechnet der höchstselbst wegen seiner Vergangenheit stark in die Kritik geratene Justizminister das Frisieren von Lebensläufen im Justizsektor zuließ und ferner gegen jede Kritik verteidigte, erschütterte insbesondere das Vertrauen der eigenen Fraktion in seine Amtsführung.75
Wünsches Parteiaustritt Infolge neuer Vorwürfe und anhaltender Kritik wurde schließlich die Personal frage auf die Tagesordnung der Präsidiumssitzung am 3. Juli 1990 gesetzt. Indem Ortleb hier gleich zu Beginn die »enthüllungsjournalistischen Veröffentlichungen«76 für die Proteste verantwortlich machte, gab er bereits die Richtung vor, wie die Partei die zurückliegenden Ereignisse interpretiert wissen wollte. Seine einführenden Worte ließen darüber hinaus erahnen, dass die folgende Sitzung 72 Vgl. ebd., Bl. 22. 73 Ebd., Bl. 24. 74 Vgl. Klaus Pokatzky, Die Urteils-Maschine. In: Die Zeit vom 13.7.1990, S. 11–14; [o. V.], Alles oder nichts. In: Der Spiegel vom 2.7.1990, S. 53–58. Die Regelung galt etwa für Beschäftigte bei Staatsorganen, Kombinaten, Betrieben oder Genossenschaften. 75 Vgl. Fraktion Die Liberalen, Pressedienst 20/90 vom 21.6.1990 (ADL, BFD, L1-27, Bl. 52 f.). 76 Sitzung des BFD-Präsidiums vom 3.7.1990 (ADL, BFD, L1-72, Bl. 7).
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auf einen Parteiaustritt Wünsches hinauslaufen würde – zumal Gleichlautendes vorher zur Presse durchgesickert war.77 Offenbar um die Stimmung im Präsidium gegenüber seiner Person auszuloten, regte Wünsche einen Meinungsaustausch an, bevor er Konsequenzen ziehen wollte. Die folgenden Redebeiträge ließen ein klares Bekenntnis zum Präsidiumsstandpunkt vom Juni und damit pro Wünsche erkennen, wobei wie üblich mit der Sachlichkeit oder der Fachkompetenz des Juristen argumentiert wurde.78 Damit ging in der Parteiführung ungeachtet der laufenden Berichterstattung die Debatte zur Ministerpersonalie über eine bloße Verteidigung des Parteifreundes gegen die Vorwürfe nicht hinaus. Eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Kritikpunkten fand zu keiner Zeit statt, was Wünsche freilich entgegenkam. Er machte keinen Hehl daraus, dass es ihm wichtig sei, »wie und dass die Äußerungen, die zur Person, zur Vergangenheit und zu der dort bescheinigten Integrität erhalten bleiben«.79 Ebenso einhellig, wie sich die Mitglieder hinter Wünsche stellten, erblickten sie die Ursachen für die missliche Situation vor allem in den Medien. Diese hätten, so der Tenor, durch ihre Berichte jenen Druck herbeigeführt, der es nunmehr notwendig mache, handeln zu müssen. Doch sich nun von Wünsche, der schließlich der Partei längst mehr schadete als nützte, einfach abzuwenden, barg gewisse Risiken, wie Christian Renatus bemerkte: »Aber ich glaube, eine andere Stellungnahme des Präsidiums heute würde von unserer Seite eines Schuldbekenntnisses [sic] gegenüber Kurt Wünsche gleichkommen, davor möchte ich warnen.«80 Ein Einlenken – gerade nach der Bekräftigung des Bekenntnisses zu Wünsche – konnte darüber hinaus nur auf Kosten der eigenen Glaubwürdigkeit vonstattengehen. Und so endete beinahe jeder Redebeitrag mit dem Hinweis, dass ein Ausscheiden aus der Partei, so bedauerlich dieses auch sei, von Wünsche selbst ausgehen müsse. Dass dieser Weg für die Partei der beste sei, wurde immer wieder mit der Floskel untermauert, dass man andernfalls das Gesicht verlieren würde. Der sich nunmehr abzeichnende Austritt aus dem BFD war nicht zuletzt Ergebnis des stetigen Drucks vonseiten der West-FDP, die mit Blick auf den geplanten Zusammenschluss mit der Ostpartei die Entlassung »belasteter« Mitglieder forderte. Mit Wünsche wäre eine Vereinigung, auf die große Teile der BFD-Basis drängten, gewiss nicht möglich gewesen.81 Allein deshalb wünschten 77
Vgl. dazu [o. V.], Hält Wünsche sich an Absprachen? In: Der Morgen vom 30.6./1.7.1990, S. 2; vgl. auch die Bemerkungen von Wünsche und Ortleb zu besagtem Artikel in der Sitzung des BFD-Präsidiums vom 3.7.1990 (ADL, BFD, L1-72, Bl. 9 f. und 15 f.). 78 Vgl. Sitzung des BFD-Präsidiums vom 3.7.1990 (ADL L1-72, BFD, Bl. 25 und 33). 79 Ebd., Bl. 28. 80 Ebd., Bl. 18. 81 Vgl. ebd., Bl. 14 f. Exemplarisch für den Unmut in der West-FDP angesichts der Personalie Wünsche sei auf die scharfe Kritik durch den FDP-Abgeordneten Burkhard Hirsch verwiesen. Vgl. dazu Jahn/Thies, Den Bock zum Gärtner? und [o. V.], Gehorsamer Diener, S. 27.
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sich wohl viele das Thema nun endlich vom Tisch, und nach den vielfältigen Sympathiebekundungen entsprach Wünsche mit seinem Parteiaustritt den Erwartungen. Dass abseits des wiederholt geäußerten Bedauerns und der Respektsbekundungen im Anschluss an diese Entscheidung vor allem Erleichterung herrschte, spiegelt Ortlebs Dank an Wünsche, der mit seinem Schritt die Partei »hinübergerettet« habe.82 Die in den meisten Protestschreiben gestellte Forderung erfüllte sich mit dem Parteiaustritt allerdings nicht – schließlich war es das Ministeramt, das im Mittelpunkt der Kritik stand. Parteifreund Reinhard Nissel äußerte denn auch Verwunderung über die an die Partei gerichtete Rücktrittsforderung als Minister: »Geht es eigentlich hier gegen die Regierung tatsächlich oder gegen die Partei, frage ich mich nach wie vor.«83 Unabhängig davon lag es nicht in der Macht des BFD, den von der Volkskammer gewählten Minister zu entlassen; dies musste vom Ministerpräsidenten ausgehen. Nachdem der BFD beim Regierungschef anfangs mit Nachdruck auf die Einsetzung des Juristen bestanden hatte, dachte de Maizière verständlicherweise vorerst nicht daran, den Minister auf Wunsch der gleichen Personen nur kurze Zeit später wieder abzuziehen.84 So wie der BFD um ein positives Image bemüht war, hatte gewiss auch der Ministerpräsident die Außenwirkung einer stabilen und verlässlichen Regierung stets im Blick. Am 24. Juli 1990 entzog der BFD der Regierung de Maizière seine Unterstützung, was sich jedoch nicht auf die Tätigkeit der eigenen Minister auswirkte und den mittlerweile parteilosen Wünsche ohnehin nicht mehr betraf. Die Amtszeit des Justizministers endete schließlich Mitte August, nur wenige Wochen vor der Wiedervereinigung, als er zusammen mit drei weiteren Ministern abberufen wurde. Für den BFD indes war mit dem Parteiaustritt das Kapitel Justizminister abgeschlossen – ohne dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sich in dieser Debatte geradezu aufgedrängt hatte, stattgefunden hätte. Der Blick zurück hatte gerade in den oberen Parteikreisen oft der Verklärung zur unangepassten Partei gedient, und in dieser Tradition versuchte man sich auch 1990 zu verorten. Wünsche erblickte im aktuellen Geschehen mit Blick auf das Jahr 1972 »fast eine Groteske, Duplizität [sic] der Ereignisse und Vorgänge«85 – ein Vergleich, bei dessen Erläuterung er sich verrannte, da er beinahe ausschließlich Unterschiede anzuführen vermochte. Der wiederholte Rückgriff auf das Jahr 1972 hielt einerseits die Widerstandsgeschichte wach, manifestierte
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Vgl. Sitzung des BFD-Präsidiums vom 3.7.1990 (ADL, BFD, L1-72, Bl. 41). Ebd., Bl. 24. Vgl. Lothar de Maizière, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg i. Brsg. 2012, S. 264; vgl. auch Sitzung des BFD-Präsidiums vom 3.7.1990 (ADL, BFD, L1-72, Bl. 30 f. und 34 f.). Ebd., Bl. 11.
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andererseits aber auch die eigene Opferrolle. Als Opfer wähnte sich die Partei auch jetzt und beklagte den Umfang der Kritik, die nicht mal bei den Richtigen ankommen würde.86 Bezeichnend ist die Konsequenz, die Parteifreund Renatus aus Wünsches Parteiaustritt zog: Es sei nun notwendig, »wesentlich deutlicher unsere Positionen gegen diese Altlastkampagne, die Blockparteikampagne zum Ausdruck [zu] bringen«.87 Zuvor hatte er die Einstellung der Partei zur eigenen Vergangenheit mustergültig auf den Punkt gebracht und nochmals unter Beweis gestellt, dass ein Schuldeingeständnis ohne umgehende Relativierung offenbar nicht auskam: »Noch sind wir der Bund Freier Demokraten, der sich aus zwei ehemaligen Parteien rekrutiert, die nicht nur Schuld auf sich geladen haben, jawohl auch Schuld, aber die auch liberale Politik durch ein düsteres Kapitel unserer Geschichte bewahrt haben.«88
Fazit Die Handlungsmotive von LDPD-Führung und Hans-Joachim Heusinger hinsichtlich der Entpflichtung des langjährigen Justizministers stellen sich vergleichsweise einfach dar. Der Partei war rasch klargeworden, dass Heusinger nicht mehr tragbar sein und durch seine Vergangenheit der Partei schaden würde. Bei Heusinger handelte es sich um einen im Sinne der SED-Politik linientreuen Funktionär, der im Fahrwasser der Revolution Verantwortung soweit übernahm, wie es dem Fortkommen der Partei, die ihn ohne großes Aufsehen aus Partei- und Staatsämtern zurückziehen konnte, dienlich war. Seine Einlassungen zur Vergangenheit spiegeln anschaulich, wie äußerer Druck eine Verantwortungsübernahme herbeiführte, die sich allerdings über die Ebene bürokratischer Ministerialpraxis nicht hinausbewegte und folglich die daraus resultierende jahrelange Repressionspraxis ignorierte. Die Beurteilung der Personalie Kurt Wünsche hingegen gestaltet sich vielschichtiger, erweist sich aber hinsichtlich des Selbstverständnisses der LDPD als äußert aufschlussreich. Obwohl die letzte Amtszeit Heusingers bereits deutlich den Unmut vor Augen geführt hatte, den ein in die DDR-Justizpolitik verstrickter Minister hervorrufen konnte, entschied sich die Parteiführung für einen Nachfolger mit einer nicht weniger heiklen Vergangenheit im Justizapparat. Neben der stets angeführten Sachkompetenz des HU-Professors zeigte sich die LDPD-Führung besonders für die Widerstandsgeschichte, die sich mit Wünsches Person
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Vgl. ebd., Bl. 36. Ebd., Bl. 38. Ebd., Bl. 37.
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verband, als sehr empfänglich. Schließlich mangelte es der Partei, die nach jahrelanger politischer Abhängigkeit und Unterordnung nun endlich mitgestalten wollte, angesichts ihrer Vergangenheit als Blockpartei an Glaubwürdigkeit. Die anhaltende Konfrontation mit der Tätigkeit als SED-Handlanger in den mitunter dunklen Kapiteln der vorangegangenen Jahrzehnte bildete den Nährboden für eine positiv konnotierte Erzählung, wie sie die Biografie Wünsches hergab. Der seinerzeit geschasste Justizminister lieferte gleichsam das Narrativ des unangepassten Angepassten, der sich während der SED-Diktatur weitgehend unbescholten gehalten, sich seine politisch-moralische Integrität bewahrt hatte und schließlich gestärkt aus dieser Epoche hervorgegangen war. Damit traf der Werdegang Wünsches den Kern des Selbstbildes der LDPD – zwar grundsätzlich angepasst, aber irgendwie auch immer eigensinnig. Die Strategie, gerade positive Aspekte aus der Vergangenheit besonders zu betonen, ist freilich nichts Außergewöhnliches und angesichts stetiger Anschuldigungen nur allzu nachvollziehbar. Doch dieser oft geschönte Rückblick, der nicht zuletzt der politischen Profilierung diente, verhinderte die kritische Auseinandersetzung mit dem vergangenen Wirken als Blockpartei. Niemand aus der LDPD-Führung ließ ein ernsthaftes Bemühen erkennen, Näheres über Wünsches Tätigkeit als Nachfolger von Hilde Benjamin in Erfahrung zu bringen. Die gerade vonseiten der Parteiführung ausbleibende Tiefenbohrung war sicher weniger Ausdruck höflicher Zurückhaltung als vielmehr mit der Intention verbunden, nicht unnötig Staub aufzuwirbeln. Eine größere Debatte über Schuld und Verantwortung, die in diesem Zusammenhang hätte angestoßen werden können, war wohl kaum im Sinne jener hohen Funktionäre, die das politische System der DDR selbst mitgetragen hatten. Der LDPD kam sicher entgegen, dass sich ein eingehender Diskurs alsbald erübrigt hatte, da sich sowohl Bevölkerung als auch politische Kräfte schnell auf den DDR-Staatssicherheitsdienst als Hauptschuldigen für all die Verwerfungen der Vergangenheit geeinigt hatten. Außerdem verstand es die LDPD immer wieder, die Aufmerksamkeit auf Funktionäre anderer Parteien zu lenken, die ebenso Schuld auf sich geladen hätten. Mit der Berufung Wünsches in höchste Partei- und Staatsämter beging die LDPD den Kardinalfehler, den sie bis zum Schluss nicht als solchen verstanden wissen wollte. Die Ernennung ist insofern nachvollziehbar, als dass Wünsche nicht nur das »gute Gewissen« der Partei repräsentierte, sondern auch Sachverstand, Kompetenz und vor allem den glaubhaften Willen zu Reformen mitbrachte. Somit avancierte er für einige Zeit zur Projektionsfläche für Unangepasstheit in der Vergangenheit und politischen Erneuerungswillen in der Gegenwart. Doch nachdem sich das Bild vom Minister infolge kritischer Berichterstattung über dessen frühere Tätigkeit sowie die gegenwärtige Amtsführung differenzierter dargestellt hatte und Proteste immer mehr zugenommen hatten, zog sich die Parteiführung auf eine Opferrolle zurück. In völliger Unterschätzung der mit der
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Personalie verbundenen Brisanz hielt sie trotz Kritik aus der eigenen Partei und vermehrter Austritte unbeirrt an Wünsche fest. Gewiss war es nicht einfach, einen langjährigen, kompetenten Parteifreund, den man noch auf dem Dresdner Parteitag gefeiert und zum Inbegriff von Unangepasstheit erhoben hatte, plötzlich fallen zu lassen. Auch mag man mit Blick auf die anstehende Wiedervereinigung jedes Ministerium lediglich als »Konkursverwaltung«89 und mithin deren Leiter als Minister mit begrenzter Amtszeit betrachtet haben. Die Führung verkannte jedoch, dass es sich bei ihrem Justizminister nicht um eine Personalie von vielen handelte, sondern vor allem in den Augen der Opfer von politischer Justiz um eine moralische Instinktlosigkeit. So führte spätestens die Verpflichtung unter de Maizière in ein selbstverschuldetes und unauflösbares Dilemma: Entlassen oder festhalten – beide Optionen konnten den Liberalen von politischen Konkurrenten und der Öffentlichkeit gleichermaßen negativ ausgelegt werden. An dieser Stelle besaß der unbedingte Wille, am politischen Gestaltungsprozess zu partizipieren, Vorrang vor dem Bemühen, die Vergangenheit der Partei und einzelner Protagonisten kritisch zu beleuchten und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das ungeachtet aller Proteste einhellige Bekenntnis zu Wünsche, von dem bis zum Schluss nicht abgewichen wurde, zeugt nicht zuletzt von einer ausgeprägten Trotzhaltung, die sich mit der Attitüde einer unbeirrbaren, konsequent handelnden Partei verband. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass für eine umfassende Vergangenheitsaufarbeitung in den wenigen Monaten der Revolution verständlicherweise schlicht die Zeit fehlte – der für eine differenzierte Betrachtung des Zurückliegenden nötige Abstand ohnehin. Woran es der Parteiführung aber in erster Linie mangelte, war zum einen die Bereitschaft, die eigene Rolle im SED-Staat ernsthaft zu hinterfragen, und zum anderen das nötige Feingefühl gegenüber den von der DDR-Justiz Betroffenen. Auf der Suche nach einer politischen Identität unterschätzte die LDPD den hohen Stellenwert der Glaubwürdigkeit – einer Glaubwürdigkeit, die dieser Tage nicht allein an politischen Konzepten, sondern insbesondere an personellen Konsequenzen gemessen wurde. Diese Lektion lernte die Parteiführung erst infolge einer Protestwelle und blieb dennoch uneinsichtig. Dabei steht es gewiss außer Frage, dass sich der Großteil der Parteimitglieder tatsächlich von der Vergangenheit lösen wollte und positiv gegenüber einem freiheitlich-demokratischen Erneuerungsprozess eingestellt war. Doch mangelte es vor allem in der Führungsebene an Fähigkeit und Willen zur Selbstreflexion. Die Auseinandersetzung mit dem Wirken als Blockpartei ging in der Regel über das
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Mit dieser Begrifflichkeit begründete Ortleb unter anderem den Rückgriff auf Wünsche als Justizminister. Vgl. dazu Sitzung des BFD-Vorstandes vom 9.7.1990 (ADL, BFD, L1-75, Bl. 21).
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Herausstellen von Eigensinn vor allem in der stalinistischen Zeit und des Protests von 1972 nicht hinaus und endete nicht selten in der Feststellung der eigenen Opferrolle. Aus dieser Haltung resultierte wohl auch der Mangel an Empathie gegenüber den politisch Verfolgten, für die die personalpolitische Aufarbeitung von zentraler Bedeutung war. Im Fall Wünsche liegt eine gewisse Tragik, erhoffte sich die LDPD durch seine Rekrutierung doch einen Beitrag zur Wiederherstellung ihrer politischen Integrität – im Festhalten an eben dieser Personalie erreichte sie schließlich das Gegenteil. Denn in der Einsetzung Wünsches und dem wenigstens ungeschickten Agieren der Verantwortlichen im Angesicht der Proteste sahen viele ihre gehegten Vorurteile gegenüber der ehemaligen Blockpartei bestätigt. Am Ende hatte der BFD den Schaden und musste auf den Spott nicht lange warten. In der parteieigenen Zeitschrift »Der Morgen« hieß es zwei Tage nach Wünsches Parteiaustritt in einem kurzen Kommentar unter dem Titel »Die Erleuchtung der Liberalen«: »Irgendwer muss dem Bund Freier Demokraten in den letzten Tagen gesteckt haben, dass Justizminister Wünsche früher schon einmal Justizminister war, dass er seinerzeit die Hilde Benjamin ablöste und fest an den Sozialismus glaubte. Jetzt haben die Liberalen bestürzt erkannt, welches schwarze Schaf sich in ihrer blassen Herde verborgen hielt.«90
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Ausschnitt aus Der Morgen vom 6.6.1990 (ADL, BFD, L1-27, Bl. 116).
II. Biografie, Basis und Kader
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Zwischen Staats- und Parteiapparat. Zum politischen Wirken des LDPD-Funktionärs Horst Lösler
Einleitung In einem Artikel über nötige Pflegearbeiten an historischen Gräbern auf dem Friedhof der Kleinstadt Wriezen im Oderbruch berichtete die Märkische Oderzeitung im Dezember 2009 über die Absicht, die letzte Ruhestätte des langjährigen Bürgermeistes Horst Lösler (1926–1982) zum Ehrengrab zu erklären.1 Bei ihm handelt es sich um einen der wenigen städtischen Bürgermeister aus der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) in der DDR. Er bekleidete dieses Amt von 1954 bis 1960 und von 1969 bis zu seinem Tod 1982. Daneben hatte er auch innerhalb des weiteren LDPD-Parteiapparates Funktionen auf verschiedenen Ebenen inne und war seit 1950 ununterbrochen als Abgeordneter in Bezirks- bzw. Kreistagen tätig. Wie andere wichtige Persönlichkeiten der LDPD, etwa Manfred Gerlach, entstammte Lösler der »Aufbaugeneration«, deren Angehörige seit den 1950er-Jahren eine steile Karriere in der Partei machten. Warum war er als Bürgermeister so erfolgreich, dass man ihm gut 30 Jahre nach seinem Tod eine derartige Ehre erweisen wollte? Wie kam Horst Lösler in dieses Amt zu den vielen Funktionen, die er im Laufe seiner Karriere bekleidete? Welche Möglichkeiten bot ihm das Bürgermeisteramt bei der Verwirklichung eigener politischer Ideen? Wo waren die Grenzen seines Wirkens und welche Hindernisse galt es zu überwinden? Dieser Aufsatz verfolgt nicht die Absicht, das Leben Horst Löslers biografisch möglichst genau nachzuzeichnen. Vielmehr soll neben dem wichtigen Aspekt der Kaderpolitik der LDPD in Bezug auf die »Aufbaugeneration« auch die Arbeit Löslers als stellvertretender Bezirksvorsitzender in den 1960er-Jahren näher beleuchtet werden. Darüber hinaus werden anhand des Beispiels von Lösler vor
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[O. V.,] Pflegebedarf an Grabstätten. In: Märkische Online Zeitung vom 28.12.2009 (http://www. moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/117934/; 29.8.2019).
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dem Hintergrund der normativen Aufgaben und Kompetenzen eines Bürgermeisters in der DDR Handlungsspielräume und deren Grenzen ausgelotet. In welcher Weise nutzte Lösler diese Optionen zur Verwirklichung eigenständiger Ideen? Der letzte Abschnitt untersucht, wie Löslers Arbeit in Partei und Staatsapparat mit seiner Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Verbindung standen.2
Biografischer Abriss Horst Lösler verbrachte seine Kindheit und Jugend im Sudetenland. Er wurde am 26. Februar 19263 in Pihanken, heute ein Ortsteil von Dubí/Eichwald, als Sohn eines selbständigen Kaufmanns geboren. Nach dem Umzug seiner Familie nach Schönau bei Karlsbad besuchte er dort die Grundschule und von 1932 bis 1941 die Oberschule. Lösler gehörte als Kind in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) sowohl dem Deutschen Jungvolk als auch später der Hitlerjugend an, in der er die Funktion eines Fähnleinführers bekleidete. Seine begonnene Ausbildung als Industriekaufmann konnte er aufgrund seiner Einberufung zur Wehrmacht im Herbst 1943 nicht mehr abschließen. Nach der Grundausbildung und dem Besuch der Unteroffiziersschule erfolgte seine Abkommandierung an die Front, wo er im Mai 1945 im Range eines Leutnants in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Von dort aus wurde er zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft nach Tábor/Tabor in Südböhmen in die Tschechoslowakei überwiesen. Nach seiner Entlassung im Herbst 1946 fand er seine Eltern in Dodow, Kreis Hagenow, 20 Kilometer südlich von Schwerin, wieder. Sie hatten dort nach ihrer Vertreibung aus dem Sudetenland eine Neubauernstelle erworben. Lösler arbeitete in ihrem landwirtschaftlichen Betrieb bis zur Eröffnung seiner eigenen Gastwirtschaft im Jahre 1949 mit. Bereits ein Jahr zuvor war er der LDPD beigetreten. Aufgrund seines hohen gesellschaftlichen Engagements im Kreis Hagenow wählten ihn die Mitglieder seiner LDPD-Ortsgruppe 1950 zu ihrem Vorsitzenden. Im Zuge der Wahlen 1950 nominierte die Partei Lösler als Kandidaten für das Amt
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Eine Klassifizierung der verschiedenen IM bei Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Band 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996, S. 314–320. Biografische Daten im Folgenden in: MfS-BV [MfS-Bezirksverwaltung] Frankfurt(Oder), Abt. V/3, Auskunftsbericht zum GI »Kunze« vom 15.2.1961 (BStU, BV FfO [Frankfurt (Oder)], AIM 641/82, Teil I, Band 1, Bl. 43–47); MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS [Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches] »Kunze« zum IME [Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz] vom 18.12.1969 (ebd., Bl. 67–77); sowie Personalakte Horst Lösler (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV [Bezirksverband] Frankfurt (Oder), 31091, unpag.).
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des hauptamtlichen Bürgermeisters. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) stimmte zu, und er gelangte somit auf die neu eingeführte Einheitsliste, die seine Wahl zur reinen Formsache machte. Wegen seiner vielfältigen Verpflichtungen als hauptamtlicher Bürgermeister, Abgeordneter des Kreistages, später des Bezirkstages, Vorsitzender der Ortsgruppe der LDPD in Dodow, als Mitglied des Kreisvorstands in Hagenow und als Leiter der Ortsgruppe der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) in Dodow musste Lösler seine Tätigkeit als Gastwirt im Juli 1951 aufgeben. Sein politisches Wirken in den verschiedensten lokalen Ämtern blieb freilich auch dem MfS nicht verborgen, das auf der Suche nach politisch zuverlässigen Kadern innerhalb der LDPD war. Nach der Verbindungsaufnahme und einem Werbungsgespräch im Februar 1954 konnte Horst Lösler auf der Grundlage der politischen Überzeugung als Geheimer Informator (GI) auf dem Gebiet der bürgerlichen Parteien gewonnen werden.4 Diese Zusammenarbeit dauerte bis zu Löslers Tod im Jahre 1982 an.5 Angesichts seiner zuverlässigen Arbeit als Bürgermeister und Ortsgruppenvorsitzender in Dodow, versetze ihn die LDPD Ende 1954 auf den gerade vakant gewordenen Posten des hauptamtlichen Bürgermeisters in der politisch als »schwierig«6 geltenden Stadt Wriezen im Kreis Bad Freienwalde im Bezirk Frankfurt (Oder). Dort machte er sich vor allem in der sogenannten politisch-ideologischen Arbeit einen guten Namen. 1960 holte ihn der Bezirksvorsitzende der LDPD, Günter Steinhöfel, als seinen hauptamtlichen Stellvertreter nach Frankfurt (Oder). Dieser hatte seit 1956 das Amt des hauptamtlichen Bezirkssekretärs bekleidet und im Zuge der Umstrukturierung der hauptamtlichen Stellen in den Bezirksvorständen 1959 die Funktion als hauptamtlicher Bezirksvorsitzender übernommen. Bis 1968 gehörte Lösler nun dem Politischen Ausschuss des Bezirksverbandes bzw. dem Sekretariat des Bezirksvorstandes an und war vor allem für die parteiinternen Angelegenheiten des Bezirksvorstandes zuständig. Zum 1. Januar 1969 wechselte er auf eigenen Wunsch wieder zurück in das Bürgermeisteramt in Wriezen, das er bis zu seinem Tod 1982 bekleiden sollte. Neben dieser Funktion blieb Lösler bis 1976 noch Mitglied des Vorstands des Bezirksverbandes Frankfurt (Oder) und Abgeordneter des Bezirkstages. Nach seinem Ausscheiden auf Bezirksebene engagierte er sich weiterhin im Vorstand des Kreisverbandes Bad Freienwalde und
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MfS-BV Frankfurt (Oder), Verpflichtungserklärung GI »Kunze« vom 25.2.1954 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Band 1, Bl. 26). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Aktenvermerk zum Abschluss des IM Vorganges »Kunze« vom 22.3.1982 (ebd., Bl. 136). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Auskunftsbericht zum GI »Kunze« vom 15.2.1961 (ebd., Bl. 45).
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im dortigen Kreistag. Als Mitglied des Zentralvorstandes der LDPD arbeite er in den 1970er-Jahren auch einige Zeit in der Zentralen Revisionskommission. Zudem fungierte er als Vizepräsident des Städte- und Gemeindetages der DDR. Das MfS beurteilte Horst Lösler in einer internen Einschätzung von 1969 als einen »aufgeschlossen[en]«, »sehr intelligenten« und »geistig sehr wendig[en]« Mann mit »überdurchschnittliche[m] Allgemeinwissen«. Aufgrund seines »offenen Wesens« und seiner Redegewandtheit finde er »sehr schnell Kontakt zu anderen Personen aus allen Bevölkerungskreisen«. Insbesondere habe er in den Kreisen der Intelligenz »Achtung und Autorität«.7
Horst Lösler als Mitglied der »Aufbaugeneration« und deren Bedeutung für die Partei Anhand des Karriereweges von Horst Lösler soll nun ein wichtiger Aspekt der Kaderpolitik der LDPD genauer beleuchtet werden. Es war gerade seine Generation, die Generation der zwischen 1919 und 1929 Geborenen, die seit Mitte/Ende der 1950er-Jahre das Erscheinungsbild des hauptamtlichen Apparates der Partei bis Ende der 1970er-Jahre, zum Teil sogar bis zum Fall der Mauer 1989 prägen sollte. Neben Horst Lösler gehörten auch Manfred Gerlach, viele der Sekretäre im LDPD Zentralvorstand, alle seit 1959 neu ins Amt gekommenen Bezirksvorsitzenden, ein großer Teil ihrer Stellvertreter sowie eine stetig anwachsende Anzahl von LDPD-Kreissekretären zu diesen Geburtsjahrgängen. Die Sozialisierung dieser Alterskohorte fand während der NS-Zeit statt. Wie Horst Lösler waren viele den Jugendorganisationen der Nationalsozialisten beigetreten. Einige hatten dort genau wie Lösler auch besondere Funktionen übernommen. Später dienten sie als Wehrpflichtige oder Freiwillige in der Wehrmacht. Zwar galt diese Sozialisation nach Kriegsende als problematisch, aber aufgrund ihrer Jugend galten sie eher als »Verführte«, weshalb sie nicht unter den Befehl Nr. 201/47 der Sowjetischen Militäradministration zur »Durchführung der Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone« fielen.8 Wie Tilman Pohlmann in seiner Dissertation zu den 1. Kreissekretären der SED in Sachsen während der Ära Ulbricht herausgearbeitet hat, erwartete man vonseiten der SED, die ja bei der Besetzung aller hauptamtlicher Funktionen der LDPD das letzte Wort hatte, nicht nur von den eigenen Kandidaten, sondern auch von jenen der LDPD im Gegenzug für die Bestätigung für das Amt das 7 8
MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (ebd., Bl. 60 f.). Vgl. Tilman Pohlmann, Die Ersten im Kreis. Herrschaftsstrukturen und Generationen in der SED (1946–1971), Göttingen 2017, S. 192 f.
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»Versprechen eines grundsätzlichen Neuanfangs«.9 Dies bedeutete nichts weniger als »übergroße Anstrengungen zur Integration in die ›neue Ordnung‹« und »bedingungslose Unterordnung« unter die »führende Rolle der SED«.10 Das politische Rüstzeug dazu erhielt Lösler unter anderem auf verschiedenen Lehrgängen der Zentralen Parteischule der LDPD, die er seit 1950 wiederholt besuchte. Sein Führungsoffizier beim MfS beurteilte seine politische Einstellung 1969 folgendermaßen: »Auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus besitzt er […] ein sehr gutes theoretisches Grundwissen, was andererseits in seiner Tätigkeit auch Anwendung findet. Es kann hierzu eingeschätzt werden, dass bei ihm Wort und Tat in einer Übereinstimmung vorhanden ist. In seinen Argumentationen zu politischen Grund- und Tagesfragen tritt er offen und überzeugend auf.«11 Dieses politische Grundwissen habe dazu geführt, dass er »konsequent die führende Rolle der SED anerkennt und sich für die Durchsetzung der Grundaufgabe der Politik der SED sowie der Regierung innerhalb seiner Partei einsetzt. In den politisch angespannten Situationen im Verlauf der inoffiziellen Arbeit traten bei IMS ›Kunze‹ keine Schwankungen auf.«12 Zudem sei zu erkennen, dass er »von der Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus überzeugt ist«.13 Genau das konnte man über viele der älteren Kader und Mitglieder der Partei eben nicht sagen. Im Gegensatz zu den Genossen der SED handelte es sich bei ihnen nicht überwiegend um alte Kommunisten aus der Arbeiterklasse, sondern meist um liberal eingestellte Mitglieder der Mittelschicht, die zu großem Teil während der Weimarer Republik in den bürgerlichen Parteien organisiert waren oder zumindest mit ihnen sympathisiert hatten. All jene »Traditions vorstände«14, die sich nicht über die Methode der politisch-ideologischen Erziehung zur Anerkennung der »führenden Rolle der SED« und der Richtigkeit ihrer Politik bewegen ließen, standen der Erfüllung des oben genannten »Versprechens eines Neuanfangs« im Wege und wurden seit Mitte der 1950er-Jahre sukzessive durch jüngere »progressive« Kader ersetzt. In einem Rundschreiben der SED-Bezirksleitung (BL) Frankfurt (Oder) an ihre Kreisleitungen (KL) zur Einschätzung der Situation in den »befreundeten Parteien« wies diese ausdrücklich darauf hin, dass es bei der LDPD besonders 9 Jens Gieseke/Ralph Jessen, Die SED in der staatssozialistischen Gesellschaft. In: Hermann Wentker (Hg.), Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2011, S. 16–60, hier 48, zit. nach Pohlmann, Herrschaftsstrukturen, S. 193. 10 Ebd. 11 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Band 1, Bl. 58.). 12 Ebd., Bl. 60. 13 Ebd., Bl. 63. 14 Mucker, Beauftragter des LDPD-ZV [Zentralvorstand] an Heusinger, SdZV [Sekretariat des Zentralvorstandes], Abt. Parteivorstände, Btr. Bericht über den Einsatz als Beauftragter des ZV im KV [Kreisverband] Bad Freienwalde vom 23.6.1962 (ADL, L8-843, unpag.).
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darauf ankäme, »die alten sogenannten Traditionsvorsitzenden zu beseitigen und in die Leitungen der Parteieinheiten solche Freunde zu wählen, die sich aktiv für die Durchsetzung unserer gemeinsamen Ziele einsetzten«.15 Besonders deutlich lässt sich dieser Vorgang anhand der Umstrukturierung der Bezirksvorstände belegen. Bis Ende 1958 wurden die Bezirksverbände wie auch die Kreisverbände durch Vorstände mit ehrenamtlichen Vorsitzenden und hauptamtlichen Bezirks- bzw. Kreissekretären geleitet. Zum 1. Januar 1959 wurde der hauptamtliche Apparat der Bezirksverbände erweitert.16 Die Vorsitzenden und deren Stellvertreter übten ihre Funktion nun hauptamtlich aus und wurden dabei von einer unterschiedlichen Zahl von ebenfalls hauptamtlichen politischen Mitarbeitern unterstützt. Auf die neu geschaffene Position des hauptamtlichen Bezirksvorsitzenden gelangten infolge dieser Umstrukturierung zwischen 1959 und 1963 ausschließlich Kader eben jener Aufbaugeneration. Einige von ihnen, etwa Günter Steinhöfel (Frankfurt [Oder]), Hans-Georg Lehmann (Potsdam), Reinhold Heinicke (Erfurt), waren bereits seit Mitte der 1950er-Jahre als hauptamtliche Bezirkssekretäre tätig und sollten auch bis 1989 die höchsten LDPD-Funktionäre ihres Bezirkes bleiben. Eine derartige Verjüngung des Parteiapparates zielte aber nicht nur auf die Bezirksvorstände, sondern sollte auch in den Kreisvorständen und Vorständen der Grundeinheiten sowie im Staatsapparat vollzogen werden. Konnte dieser Prozess auf Bezirksebene relativ schnell abgeschlossen werden, sollte es auf Kreisebene und vor allem in den Grundeinheiten sehr viel länger dauern. Die Ursache hierfür ist in der starken Überalterung der Mitgliederschaft und der sehr überschaubaren Zahl neuer und vor allem junger Mitglieder zu suchen. Zudem nutzten die Bezirksvorstände dieses an sich schon kleine Reservoir junger Kader, um daraus erst einmal die hauptamtlichen Stellen auf Kreisebene und im Staatsapparat zu besetzen. So war es Anfang der 1970er-Jahre keine Seltenheit, dass Grundeinheiten – vor allem im ländlichen Raum – von Vorsitzenden jenseits des Rentenalters geleitet wurden.
Horst Lösler als stellvertretender Bezirksvorsitzender Im Zuge der Verjüngung der hauptamtlichen Apparate plante man den politisch zuverlässigen und in der Partei höchst aktiven Bürgermeister aus Wriezen mit der Funktion des stellvertretenden Bezirksvorsitzenden zu betrauen. Nachdem 15 16
SED-BL Frankfurt (Oder) an die SED-KL des Bezirkes, Btr. Einschätzung der Situation in den befreundeten Parteien vom 2.2.1961 (BLHA, Rep. 731 SED-KL Angermünde, 417, unpag.). Vgl. SdZV, Sek. A, Vorlage für die Sitzung des SdZV am 24.11.1958, Btr. Strukturveränderung in den Leitungen der BVo vom 21.11.1958 (ADL, L3-47, Bl. 16–18).
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in der Partei ein Nachfolger als Bürgermeister gefunden und Lösler auf dem Bezirksparteitag erneut in den Bezirksvorstand gewählt worden waren, konnte dieser dann im Juni 1960 sein neues Amt antreten. Als stellvertretendem Vorsitzender oblag ihm in erster Linie die Planung und Organisation der Arbeit des Bezirksvorstandes und dessen Politischen Ausschusses bzw. des Sekretariats ab 196717. Dazu gehörte etwa die Aufstellung der Arbeitspläne des Bezirksvorstandes und deren organisatorische Umsetzung, vor allem die Vorbereitung von Sitzungen des Bezirksvorstandes (Einladungen, Erarbeitung von Beschlussvorlagen, Protokollführung usw.), aber auch die Erstellung der monatlichen Situationsberichte für das SdZV.18 Die Betreuung, Anleitung und Qualifizierung der Volksvertreter und der Staats- und Wirtschaftsfunktionäre stellte ein weiteres Aufgabengebiet des stellvertretenden Bezirksvorsitzenden dar, in dem er häufig mit den entsprechenden Kadern der SED, etwa der SED-Kreisleitungen und der Räte der Kreise, interagieren musste. Er fungierte damit als Bindeglied zwischen den LDPD-Mitgliedern im Staatsapparat, der SED und seiner eigenen Partei. Ebenfalls hatte er für die regelmäßige Rechenschaftslegung der Volksvertreter vor den Parteimitgliedern Sorge zu tragen und die Abgeordneten sowie Staats- und Wirtschaftsfunktionäre in die Leitungstätigkeit des Vorstandes einzubinden. Dies geschah beispielsweise durch Einladungen zu Vorstandssitzungen und durch die Organisation regelmäßiger gemeinsamer Erfahrungsaustausche. Zudem musste er auch die politische und fachliche Qualifizierung der Funktionsträger im Auge behalten. Somit fielen die Delegierungen der Volksvertreter sowie der Staats- und Wirtschaftskader an die Zentrale Parteischule bzw. die der Bezirke ebenso in seinen Aufgabenbereich wie auch die Unterbreitung von Vorschlägen an die staatlichen Organe für spezielle fachliche Qualifizierungsmaßnahmen entsprechender LDPD-Kader.19
17 Mit Beschluss des 10. Parteitages der LDPD 1967 erfolgte eine weitere Umstrukturierung der Parteiapparate auf Bezirks- und Kreisebene. So wurden die dortigen Politischen Ausschüsse der Bezirks- bzw. Kreisvorstände durch Sekretariate ersetzt. Vgl. SdZV, Abt. Parteivorstände, Gedanken zur Veränderung der Struktur und Arbeitsweise der Bezirks- und Kreisvorstände und der Stadtbezirksvorstände in den 6 Großstadtkreisverbänden vom 20.5.1966 (ADL, L7-133/1, Bl. 66–73, hier 68–70); sowie LDPD-ZV, Satzung der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem 10. Parteitag, Berlin 1967, S. 10 f. 18 Zu den Aufgaben des stellvertretenden hauptamtlichen Bezirksvorsitzenden vgl. LDPD-Bezirksvorstand Frankfurt (Oder), Beschluss Nr. 1/74 vom 2.12.1974 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 31099, unpag.). 19 Studium an der Akademie für Staat und Recht usw. Vgl. SdZV, Sekretariat D, Vorlage für die Sitzung des SdZV am 23.10.1962, Btr. Arbeitsanleitung für die Arbeit der Parteivorstände mit Volksvertretern, Staats- und Wirtschaftsfunktionären der LDPD vom 20.10.1962 (ADL, L3-122, Bl. 13–16).
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Aber auch Löslers eigene Qualifikation wurde nicht vernachlässigt. Ihrem Anspruch folgend, dass die leitenden Funktionäre auf Bezirksebene möglichst über einen Fach- bzw. Hochschulabschluss verfügen sollten, delegierte die Parteileitung Lösler 1960 zu einem kombinierten Fernstudium an der Hochschule für Agrarökonomie in Bernburg, welches er 1964 als Diplomlandwirt erfolgreich abschloss.20 Im Vorfeld von Wahlen in den mitgliederschwachen und oft überalterten Kreisverbänden bereitete es Lösler immer wieder Probleme, entsprechend viele Mitglieder zu finden, die sich bereit erklärten, das Ehrenamt eines Abgeordneten der LDPD zu bekleiden. Wo es ihm nicht gelang, schlug er, sehr zum Missfallen der Partei, zum Teil auch parteilose Bürger vor.21 Die wichtigste Aufgabe der Leitungstätigkeit des Bezirksvorstandes lag in der Anleitung der ihm untergeordneten Parteieinheiten auf Kreisebene. Dazu bediente man sich verschiedener »Leitungsmethoden«. Neben gemeinsamen Vorstandssitzungen mit Vorsitzenden und Sekretären der Kreisverbände und speziell auf deren Probleme hin konzipierten Kreisarbeitstagungen übernahmen die Mitglieder des Bezirksvorstandes die Patenschaft für einen der Kreisverbände. Besondere Beachtung schenkte man dabei den sogenannten Schwerpunkten – also Parteieinheiten, deren Arbeit als stark verbesserungswürdig galt. Da Lösler in seiner Zeit als Bürgermeister in Wriezen und als Mitglied des Vorstands der dortigen Grundeinheit zur erheblichen Verbesserung der politisch-ideologischen Situation in der als »schwierig«22 geltenden Ortgruppe beigetragen hatte, sollte er nun die Patenschaft für einen solchen »Schwerpunkt«, den Kreisverband Eberswalde, übernehmen.23 Die Ausgangslage in diesem Verband war denkbar schlecht. Ein arbeitsfähiger Kreisvorstand existierte so gut wie nicht. Der LDPD-Kreissekretär, Dietrich Werner, war noch sehr unerfahren und erst wenige Monate im Amt.24 Bereits 1955 hatte die SED-Kreisleitung in einer Einschätzung über die Arbeit der Blockparteien festgestellt: »Die LDPD ist nicht als geschlossene Parteiorganisation anzusehen, da die Arbeit nur von einzelnen Mitgliedern geleistet wird.«25 Auch in
20 Personalakte Horst Lösler (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 31091, unpag.). 21 MfS-BV Frankfurt (Oder), Bericht des GHI [Geheimen Hauptinformators] »Rose« über die Arbeit mit dem GI »Kunze« (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Bl. 135 f., hier 135). 22 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Auskunftsbericht zum GI »Kunze« vom 15.2.1961 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Band 1, Bl. 45). 23 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Einschätzung des GI »Emil« zur Situation im BV Frankfurt (Oder) der LDPD vom 15.2.1962 (BStU, BV FfO, TA 96/79, Band I, Bl. 79–84, hier 79). 24 BV Frankfurt (Oder), Einschätzung der Leitungstätigkeit im KV Eberswalde vom 17.12.1961 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 31090, unpag.). 25 SED-KL Eberswalde, Einschätzung der Blockparteien vom 5.2.1955 (BLHA, Rep. 731 SED-KL Eberswalde, 308, unpag.).
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der Stadt Joachimsthal, wo die LDPD den Bürgermeister stellte, entwickle die Partei keinerlei politische Aktivität, weshalb die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDUD) anstrebe, diesen Bürgermeisterposten zu übernehmen.26 Außerdem gebe es »falsche Auffassungen« der Mitglieder bezüglich der »Maßnahmen der Verteidigungsbereitschaft« und der Anerkennung der »führenden Rolle der Arbeiterklasse«.27 Die SED verortete die Ursache hierfür vor allem in der völlig überalterten Mitgliederschaft und der mangelnden Leitungstätigkeit des Kreisvorstandes.28Aufgrund der Verurteilung einiger Bürger aus Joachims thal wegen Spionage und Wirtschaftsverbrechen, darunter auch des Vorsitzenden der LDPD-Ortsgruppe,29 dem sektiererischen Auftreten einiger SED-Funktionäre,30 den immer schärfer werdenden Maßnahmen zur weiteren Kollektivierung der Landwirtschaft, der steigenden Abwanderung von LDPD-Mitgliedern gen Westen und schließlich des Mauerbaus sollte sich die Situation im Kreisverband noch weiter verschärfen. So hatten nach dem 13. August 1961 einige Mitglieder ihren Austritt aus der Partei erklärt,31 andere verweigerten, sowohl in der Ortsgruppe Joachimsthal32 als auch in anderen Grundeinheiten im Bezirk,33 auf den Jahreshauptversammlungen 1962 ihre Unterschrift auf den Arbeitsprogrammen ihrer Grundeinheiten. Diese enthielten eine Präambel, in der die Mitglieder der Grundeinheiten erklären sollten, dass sie sowohl auf das Hören von Sendern aus dem Westen als auch auf Reisen dorthin in Zukunft verzichten würden. Löslers Aufgabe bestand nun darin, in Abstimmung mit der SED-Kreisleitung den Kreissekretär bei der Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Kreisvorstandes und der Grundeinheiten anzuleiten und zu unterstützen, um so die schwierige
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SED-KL Eberswalde, Analyse über die Arbeit der CDU im Kreis Eberswalde, o. D. [1956] (ebd.). SED-KL Eberswalde, Einschätzung des Kreisparteitages der LDPD vom 2.5.1955 (ebd.). SED-KL Eberswalde an SED-BL Frankfurt (Oder), Btr. Bericht über die befreundeten Parteien vom 24.7.1956 (ebd.). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Bericht des GI »Kunze« über einige Bürger aus Joachimsthal vom 28.9.1962 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 3, Bl. 75–77) sowie MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Bericht des GI »Kunze« über die Parteiarbeit im KV Eberswalde und besonders in der Ortsgruppe Joachimsthal vom 15.2.1963 (ebd., Bl. 93–98, hier 97). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Bericht des GI »Kunze« über den Vorsitzenden des Rates des Kreises vom 31.2.1962 (ebd., Bl. 65 f.); Mückenberger, 1. Sekretär SED-BL Frankfurt (Oder) an Sydow, 1. Sekretär SED-KL Eberswalde, Btr. Mangelhafte Arbeit mit den Blockparteien vom 17.10.1966 (BLHA, Rep. 731 SED-KL Eberswalde, 591, unpag.). Anclam, SdZV, Bericht über die Bezirksarbeitstagung des BV Frankfurt (Oder) am 9.10.1961, o. D. (ADL, L8-1578, unpag.). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Bericht des GI »Kunze« über die Jahreshauptversammlung der Ortsgruppe Joachimsthal vom 19.1.1962 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 3, Bl. 61–64, hier 61 f.). LDPD-Bezirksvorstand Frankfurt (Oder), Einschätzung der Jahreshauptversammlungen 1962 vom 18.4.1962 (ADL, L8-1289, unpag.).
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»politisch-ideologische« Lage an der Basis in den Griff zu bekommen. So half er ihm bei der Vorbereitung und Durchführung der Jahreshauptversammlungen, den Mitgliederversammlungen und den politischen Bildungszirkeln. In vielen persönlichen Gesprächen mit den Mitgliedern oder durch Auftritte auf Mitgliederversammlungen versuchte Lösler, seine Parteifreunde von der Richtigkeit der Beschlüsse der LDPD und der SED zu überzeugen, sie zur aktiven Teilnahme an den Parteiveranstaltungen, zur Mitarbeit in der Nationalen Front, zur Übernahme von individuellen Verpflichtungen für die Arbeitsprogramme der Grundeinheiten zu bewegen oder auch, wie bereits erwähnt, sie dazu zu bringen, die Präambel zu unterschreiben.34 Des Weiteren musste die sogenannte »politisch-ideologische Arbeit«, also die Erziehung der Mitglieder und der der Partei nahestehenden Bevölkerungsschichten in den Mitgliederversammlungen verbessert werden. Zur »Überwindung« der »politisch-ideologischen Unklarheiten« vor allem bei den vielen älteren Mitgliedern waren einige Kreisverbände des Bezirksverbandes Frankfurt (Oder) dazu übergegangen, in Grundeinheiten getrennte Mitgliederversammlungen für jüngere und ältere Parteifreunde durchzuführen. Sie verfolgten damit das Ziel, dem »Nachholbedarf« bei der Klärung von »politischen Grundfragen« gerecht zu werden, ohne dabei die »progressiven«, vor allem jüngeren Mitglieder zu langweilen und diese in ihrer »Persönlichkeitsentwicklung« zu bremsen.35 Bei einer durchschnittlichen Beteiligungsrate bei Mitgliederversammlungen im Kreis Eberswalde von nur 35 Prozent36 und dem mittels dieser Maßnahme an die älteren Parteifreunde ausgesandten Signal ihres erforderlichen »Nachholbedarfes« war dieses Vorhaben ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Ein weiteres Problem, vor dem Lösler in seiner »Schwerpunktarbeit« im Kreis Eberwalde stand, war die völlig unzulängliche Durchführung der politischen Bildungszirkel. Wenn überhaupt fanden diese nur sehr sporadisch in den beiden größeren städtischen Grundeinheiten des Kreises statt. Eine wie seit der Einführung dieser Zirkel 1956 von der Parteileitung geforderte planmäßige Arbeit hatte im Kreisverband Eberswalde bis 1962 nicht durchgesetzt werden können. Das lag vor allem daran, dass sich kaum Mitglieder in den Grundeinheiten fanden, die sich bereiterklärten, das Ehrenamt des Schulungsbeauftragten zu übernehmen.37
34 BV Frankfurt (Oder), Einschätzung der Leitungstätigkeit im KV Eberswalde vom 17.12.1961 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 31090, unpag.). 35 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Informationsbericht des GI »Kunze« vom 21.11.1961 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 3, Bl. 39 f., hier 39). 36 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Bericht des GI »Kunze« über die Parteiarbeit im KV Eberswalde und besonders in der Ortsgruppe Joachimsthal vom 15.2.1963 (ebd., Bl. 93–98, hier 95). 37 Ebd., Bl. 94.
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Dies ist aufgrund der angespannten Stimmung in dieser Zeit und der Unterzahl der »progressiven Mitglieder« durchaus nachvollziehbar. Lösler setzte jedoch sehr viel daran, diesen Zustand zu ändern. So gelang es ihm bis zum Ende seiner Amtszeit als stellvertretender Bezirksvorsitzendender die politischen Bildungszirkel zumindest in den städtischen Grundeinheiten einigermaßen zu etablieren. Mit der Konsolidierung der Machtverhältnisse in der DDR in den Jahren nach dem Mauerbau setzte eine gewisse Beruhigung der Lage im Kreisverband Eberswalde und der Ortsgruppe Joachimsthal ein. Zwar war die Mitgliederschaft immer noch überaltert und hegte eine gewisse Skepsis gegenüber den »Grundfragen« der Partei, jedoch wurde diese nicht mehr so offen geäußert. Dies führte dazu, dass sich die Diskussionen bis zum August 1968 vor allem auf den Probleme der Versorgung der Bevölkerung verlagerten. Durch die Verbesserung der sogenannten Leitungstätigkeit konnte sich der Kreisverband Eberswalde im internen Parteiwettbewerb des Bezirksverbandes vom letzten Platz auf einen mittleren Platz verbessern.38 Lösler musste jedoch auch einige herbe Rückschläge in der Parteiarbeit einstecken. So verlor die LDPD beispielsweise trotz der verbesserten Ergebnisse das Bürgermeisteramt in Joachimsthal. Aufgrund seines herrischen Auftretens39 und eines damit zusammenhängenden Disziplinarverfahrens wegen Eigenmächtigkeit40 wurde der damalige Bürgermeister Horst Schulz dazu gedrängt, seine Funktion zur Verfügung zu stellen. Das Kuriose an diesem Vorgang war, dass es die MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) selbst war, die aufgrund »operativer Erwägungen« ihren Geheimen Informator »Emil«, den LDPD-Bezirksvorsitzenden Günter Steinhöfel, angewiesen hatte, den aus ihrer Sicht politisch sehr zuverlässigen Geheimen Informator »Berg«, Horst Schulz, 1960 für das Bürgermeisteramt in Joachimsthal vorzuschlagen.41 Schulz war es jedoch nicht gelungen, sich bei den zuständigen Funktionären im Rat des Kreises und in der SED-Kreisleitung das entsprechende Vertrauen zu erarbeiten. Dies führte dazu, dass ihm schon eine kleine Eigenmächtigkeit in Form einer persönlichen Baugenehmigungserteilung zum politischen Verhängnis wurde. Im Zuge der Neubesetzung des Bürgermeisteramtes lehnte der Vorsitzende des Rates des Kreises mehrere K adervorschläge
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Gerhard Koch, Abt.-Ltr. Wohnungspolitik, RdS Eberswalde, an SdZV, Btr. Nicht Wiederausstellung Kochs bei der Wahl 1965 für dessen Ratsfunktion und aus der STAVO in Eberswalde vom 22.7.1965 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 32508, unpag.). 39 LDPD-Bezirksvorstand Frankfurt (Oder), Protokoll der 30. Bezirksvorstandssitzung am 3.8.1964 in Bad Freienwalde vom 8.8.1964 (ADL, L8-1292, unpag.). 40 MfS-BV Frankfurt (Oder), Bericht des IM »Burg« über die Angelegenheit Morgenstern vom 6.12.1966 (BStU, BV FfO, AIM 1273/85, Teil II, Band 4, Bl. 68). 41 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Einschätzung des GI »Burg« vom 24.10.1961 (ebd., Teil I, Bl. 57–60, hier 58).
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des Bezirksvorsitzenden der LDPD für die Funktion des hauptamtlichen Bürgermeisters und auch für die des zweiten ehrenamtlichen Bürgermeisters42 unter Hinweis auf die vermeintlich zu geringe Qualifikation ab.43 Steinhöfels Protest dagegen blieb jedoch ohne Erfolg.44 Die Funktion sollte von nun an ein SEDKader bekleiden. Neben seinen Tätigkeiten in der Partei war Lösler auch Mitglied des Bezirks ausschusses der Nationalen Front, Arbeitsgruppe Mittelstand,45 und seit Jahren Mitglied des Bezirkstages, wo er der »ständigen Kommission für Arbeit und Berufsberatung« angehörte.46 Die recht eintönig-formale, eng an Vorschriften der Parteileitung gebundene Arbeit als stellvertretender Bezirksvorsitzender, in der er kaum über eigene Handlungsspielräume verfügte, schien Lösler aber nur wenig zu befriedigen. Daher hatte er 1968 den Wunsch geäußert, doch wieder in sein altes Amt als hauptamtlicher Bürgermeister in Wriezen zurückkehren zu wollen.47 Vielleicht motivierte ihn auch die neue, 1968 in Kraft getretene Verfassung, die in Artikel 85 zumindest formal eine Erweiterung der Kompetenzen der örtlichen Staatsorgane andeutete.48 Seiner Bitte wurde vom LDPD-Bezirksvorsitzenden und von der SED-Kreisleitung Bad Freienwalde entsprochen. Nachdem für den bis dahin amtierenden Bürgermeister Horst Rinnert eine neue Stelle als Ratsmitglied für Finanzen und Preise beim Rat des Kreises Fürstenwalde und mit Heinz-Dietrich Konik ein adäquat qualifizierter Nachfolger für die Funktion als stellvertretenden hauptamtlichen Bezirksvorsitzender gefunden war, durfte Lösler zum 1. Januar 1969 auf seinen alten Posten zurückkehren. 42 43 44
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Steinhöfel, LDPD-Bezirksvorsitzender Frankfurt (Oder), an Krause, Vorsitzender Rat des Kreises Eberswalde, Btr. Vorschläge für Besetzung der Bürgermeisterfunktion in Joachimsthal vom 29.5.1967 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt (Oder), 32508, unpag.). Krause, Vorsitzender Rat des Kreises Eberswalde, an Steinhöfel, LDPD-Bezirksvorsitzender Frankfurt (Oder), Btr. Besetzung der Bürgermeisterfunktion in Joachimsthal vom 6.6.1967 (ebd.). Steinhöfel, LDPD-Bezirksvorsitzender Frankfurt (Oder), an Krause, Vorsitzender Rat des Kreises Eberswalde, Btr. Widerspruch gegen die im Schreiben vom 6.6. gemachten Aussagen zur Qualifikation des Karl Erdmann für den Posten des 2. Bürgermeisters in Joachimsthal vom 22.6.1967 (ebd.). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Einschätzung des GI »Kunze« zur Arbeit der AG Mittelstand vom 2.1.1962 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 3, Bl. 57 f.). Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder), Sekretariat des Vorsitzenden, Übersicht über die Vorsitzenden Mitglieder der ständigen Kommissionen des Bezirkstages Frankfurt (Oder) vom 14.8.1963 (BLHA, Rep. 601, 10369, unpag.). MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Band 1, Bl. 67–77, hier 68). Günter Püttner/Albrecht Rösler, Gemeinden und Gemeindereform in der ehemaligen DDR. Zur staatsrechtlichen Stellung und Aufgabenstruktur der DDR-Gemeinden seit Beginn der siebziger Jahre. Zugleich ein Beitrag zu den territorialen Veränderungen der Gemeinde- und Kreisgrenzen in der DDR, Baden-Baden 1997, S. 67.
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Die Handlungsspielräume eines Bürgermeisters: Das politische Wirken Horst Löslers in Wriezen 1969–1982 Durch ihre enge Bindung an die überaus detailreichen Beschlüsse und die straffe Anleitung der Parteiorgane boten die Funktionen innerhalb des Parteiapparates so gut wie keine Entfaltungsmöglichkeiten für eigene Ideen der Kader. In der staatlichen Verwaltung sah es ähnlich aus. Auch hier ließen die Pläne, Beschlüsse und Verordnungen sowohl der übergeordneten Organe als auch der jeweiligen SED-Parteileitungen sowie die Praxis der doppelten Unterstellung kaum Spielräume für persönliche Impulse der Amtsinhaber. Eigentlich gab es nur ein Amt für LDPD-Mitglieder, das zumindest kleinere Handlungsspielräume eröffnete: das des Bürgermeisters. Da der Bürgermeister als Vorsitzender des Rates der Stadt bzw. der Gemeinde das höchste Amt in dieser Verwaltungseinheit innehatte, unterstand er im Gegensatz zu den Ratsmitgliedern, die ihm und den jeweiligen Abteilungsleitern im Rat des Kreises unterstellt waren, nur dessen Vorsitzendem. Somit entfaltete an dieser Stelle das Prinzip der doppelten Unterstellung keine Wirkung. Der Bürgermeister war weniger für Verwaltungsaufgaben an sich zuständig. Vielmehr oblag ihm als »Funktionär der Arbeiter- und Bauernmacht« die ideologische und programmatische Ausrichtung der Ratsarbeit. Jedoch hatte er gegenüber allen Ratsmitgliedern und den dem Rat unterstellten Betrieben ein Weisungs- und Entscheidungsrecht. Er konnte die Bearbeitung jeglicher Einzelfragen jederzeit an sich ziehen.49 Zwar sollten die Entscheidungen des Rates im Kollektiv gefällt werden, jedoch lag die letzte Entscheidungskompetenz immer beim Bürgermeister.50 Diese formal umfangreiche Kompetenzausstattung scheint ein Grund dafür zu sein, dass die SED Mitgliedern der »befreundeten Parteien« lediglich Bürgermeisterstellen in Gemeinden und kreisangehörigen Städten zugestand. Ämter als Oberbürgermeister in kreisfreien oder Bezirksstädten blieben für die befreundeten Parteien tabu, da diese Funktionsträger immer auch den dazugehörigen Kreisräten vorstanden und ihre Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse auch in für die SED machtrelevante Bereiche hineinreichten. So etwa in die Abteilung Inneres, der etwa die Polizeiorgane unterstanden, die Abteilung Volksbildung oder die Kreisplanungskommissionen. Außerdem gehörten die Vorsitzenden der Räte der Kreise automatisch auch den Kreiseinsatzleitungen an – einem militärischen Organ des Filialsytems des Nationalen Verteidigungsrates zur Abwehr
49 50
Ebd., S. 99 f. Ebd., S. 118.
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innerer Unruhen und zur Vorbereitung auf den Verteidigungszustand im Falle einer Kriegsgefahr.51 Derartige sicherheitsrelevante Bereiche sollten ausschließlich SED-Mitgliedern vorbehalten bleiben. Welche Aufgaben hatte nun ein Bürgermeister zu erfüllen? Als Vorsitzender des Stadtrates hatte Horst Lösler in erste Linie dafür Sorge zu tragen, dass die Daseinsvorsorge für die Bürger seiner Stadt gewährleistet war und ständig verbessert wurde.52 Mittels Durchsetzung der vom Rat der Stadt beschlossenen »Stadtordnung« oblag es jenem, für »Ordnung und Sicherheit« zu sorgen.53 Da die Bürger auf der Ebene der Städte und Gemeinden am ehesten in Kontakt mit den staatlichen Organen kamen, sollten diese dann auch die Bevölkerung zur Mitwirkung an den Teilhabeangeboten des Staates und der Massenorganisationen aktivieren.54 Die oben beschriebenen Kompetenzen eines Bürgermeisters implizieren auf den ersten Blick große Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten für Horst Lösler. Sie wurden jedoch durch die strikte Unterordnung sowohl unter die Beschlüsse und Planungen der übergeordneten staatlichen Organe der Kreis- und Bezirksräte, als auch unter die Beschlüsse der SED und ihrer Territorialleitungen enorm eingeschränkt. Wie für alle Angestellten in den staatlichen Verwaltungseinrichtungen galt auch für Horst Lösler die Verordnung für die Mitarbeiter in den örtlichen Staatsorganen. Diese verpflichtete alle Beschäftigten der Räte unabhängig ihrer Stellung zur »politisch-ideologischen Ergebenheit zu den Entscheidungsträgern in Partei und Staatsverwaltung«.55 Das bedeutete für Lösler formal, dass er als Aufgabenträger des Staates an der Verwirklichung der »sozialistischen Gesetzlichkeit« mitzuwirken hatte, »was nicht nur die Loyalität gegenüber den Dienstvorgesetzten und den Gehorsam gegenüber den gesetzlichen Bestimmungen beinhaltete, sondern auch [dessen] strikte Unterwerfung unter die Vorgaben des Parteiapparates bedeutete«. So unterlag der Bürgermeister nicht nur der Anleitung des Rates des Kreises, auch der Sekretär der SED-Ortsparteileitung bzw. der SED-Kreisleitung konnte ihn zur Berichterstattung einbestellen oder eine Ortsbegehung anberaumen.56 Zudem war die SED immer darauf bedacht, ihren Parteieinfluss auch in der kleinsten Verwaltungseinheit zu wahren. Infolgedessen versuchten die Leiter der Kaderabteilungen der Räte eine Konzentration von Mitgliedern einer Blockpartei in einer Abteilung oder in untergeordneten Räten zu vermeiden und einen bestimmten Prozentsatz von SED-Mitgliedern in
51 Andrea Bahr, Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg 1961–1989, Berlin 2016, S. 61 f. 52 Vgl. Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 35–42. 53 Vgl. ebd., S. 42 f. 54 Vgl. ebd., S. 49–51. 55 Ebd., S. 123. 56 Ebd., S. 101.
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den einzelnen Verwaltungseinheiten zu gewährleisten.57 Sollte also eine Abteilung oder gar ein Rat von einem Mitglied der »befreundeten Parteien« geleitet werden, kamen sein Stellvertreter und ein großer Teil seiner Mitarbeiter von der SED. Diese waren nach deren Organisationsprinzip natürlich Mitglied in der SED-Grundorganisation des jeweiligen Rates. Diese hatte vor allem die Aufgabe, »die Beschlüsse des hauptamtlichen Apparates als verbindliches Handlungsmuster der Verwaltungstätigkeit in den örtlichen Staatsorganen zu etablieren«.58 Um sich ein Mindestmaß an Eigenständigkeit zu bewahren, musste Horst Lösler versuchen, sich diesem massiven Einfluss der SED zu entziehen. Er tat dies, indem er etwa das Leitungsprinzip der Kollektivität der Entscheidungsfindung umging und so viele Entscheidungen zu relevanten Einzelfragen wie möglich an sich zog. Seinen SED-Stellvertreter ließ er dabei weitestgehend außen vor. Ein IM im Rat der Stadt Wriezen berichtete 1977 über ein solches Vorgehen Löslers. Er schrieb, dass sich Lösler als »Einzelherrscher« aufführe und sich nicht von seinen Mitarbeitern in die Karten schauen lasse. »Schon gar nicht von seinem Stellvertreter, dem Gen. B.« Dieser erhalte nur wenig Einblick in die Arbeit Löslers und auch nur sehr wenige Aufträge, »sodass er quasi überflüssig ist, eben ein notwendiges Übel«. Dies sei bedauerlich, »zumal dadurch die führende Rolle unserer Partei in keiner Weise gesichert ist«.59 Über den kleinsten Entscheidungsspielraum verfügte Lösler im Bereich der volkswirtschaftlichen Aufgaben der Stadt. Deren Planung und Leitung oblag ausschließlich dem Kreis- bzw. Bezirksrat. So besaß ein Bürgermeister zwar ein gewisses Informationsrecht gegenüber ortsansässigen Betrieben, sofern es sich um Angelegenheiten handelte, die die Stadt betrafen. Jedoch hatte er keinerlei Einfluss auf deren Entscheidungen.60 Es bestand die Möglichkeit, im Rahmen der »sozialistischen Gemeinschaftsarbeit« durch horizontale Kooperation in Form von Kommunalverträgen Betriebe zur der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Bevölkerung mit ins Boot zu holen und sie zur Bereitstellung von Mitteln oder Arbeitsleistungen zu bewegen. Die Betriebe waren aber zu einer derartigen Kooperation nicht verpflichtet. Es lag demzufolge an
57
Vgl. etwa Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder), 1. Stellv. des Vorsitzenden, Programm zu weiteren klassenmäßigen Entwicklung des Rates des Kreises Seelow, der Abteilungsleiter, Bürgermeister und der Nachwuchskandidaten sowie Hochschul- und Fachschulkader der örtlichen Staatsorgane und der Leitungskader unterstellter Betriebe und Einrichtungen für die Zeit von 1976–1980, o. D. [1975/76] (BLHA, Rep. 601, 21350, unpag.); Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder), Abt. Kader und Bildung, Einige Entwicklungstendenzen der Mitarbeiter der örtlichen Staatsorgane im Kreis Bad Freienwalde vom 23.8.1982 (BLHA, Rep 601, 25192, unpag.). 58 Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 109. 59 MfS-KD Freienwalde, Informationsbericht des FIM [Führungs-IM] »Renate« vom 2.3.1977 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil 1, Bl. 118). 60 Vgl. Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 43–49.
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den Beziehungen und dem Verhandlungsgeschick des Bürgermeisters, sie von einer Mitarbeit zu überzeugen. Diesbezügliche Fähigkeiten schienen bei Horst Lösler recht ausgeprägt gewesen zu sein. Oben genannter IM berichtete über derartige Verhandlungen. Lösler solle sich des Öfteren mit örtlichen Betriebsleitern getroffen haben. Bei diesen Zusammenkünften habe auch der Alkohol eine gewisse Rolle gespielt. Sie seien »Ausgangslage für verschiedene Abmachungen und Festlegungen gewesen […] allerdings zum Wohle der Stadt. Die Betriebe entwickeln große Initiative bezüglich der Hilfe für die Stadt. Koll.[ege] Lösler spielt dabei eine koordinierende Rolle«.61 Eine solche Kooperation auf Basis eines Kommunalvertrages konnte er auch mit einem Eisenbahnbaubetrieb aufbauen, der 1978 in der Nähe von Wriezen produzierte. Lösler gelang es, den Betriebsleiter davon zu überzeugen, Mittel und Arbeitskräfte zum Bau einer Tankstelle in Wriezen bereitzustellen, die dann 1979 eröffnet wurde. Das Unternehmen war so erfolgreich, dass der Abteilungsleiter für Verkehrswesen beim Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder), seinen Parteifreund Hartmut Ammer, und dessen Stellvertreter Gorski von der SED mit der Bitte bei ihm vorstellig wurden, dass Lösler doch einmal beim Eisenbahnbaubetrieb vorfühlen solle, ob dieser sich auch am Bau einer Tankstelle in Bad Freienwalde beteiligen würde.62 Natürlich durfte ein Bürgermeister, der solcherart Kooperationen mit Betrieben pflegte, deren Leiter in der Regel der SED angehörten, an seiner Anerkennung der führenden Rolle keinen Zweifel lassen. Außerdem begab er sich bei dieser Form der lokalen Wirtschaftspolitik auch in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis. War der Bürgermeister daran interessiert, auch künftig ökonomische Beziehungen – zum Beispiel in Form von Kommunalvertretungen – mit Betrieben oder Genossenschaften zu unterhalten, kam eine zwangsweise Durchsetzung der Stadtordnung, etwa durch Auflagen oder durch die Verhängung von Ordnungsstrafen, etwa bei Verstößen, gegenüber deren Leitungen kaum mehr in Betracht.63 Auch auf finanzpolitischem Gebiet boten sich nur kleine Gestaltungsspielräume. Da die Haushalte der territorialen Leitungsebenen integraler Bestandteil des einheitlichen Staatshaushaltes waren, schrieben zum einen Rechtsvorschriften wie etwa die Staatshaushaltsordnung und zum anderen die übergeordneten Finanzplanungen der Kreise und Bezirke die Quellen der Einnahmen und Ausgaben, z. B. Gemeindeabgaben und andere Gebühren und deren zweckbezogene
61 MfS-KD Freienwalde, Informationsbericht des FIM »Renate« vom 2.3.1977 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil 1, Bl. 118). 62 Gräfrath, Sekretär SED-KL Bad Freienwalde, Information vom 1.12.1978 (BLHA, Rep. 731 SED-KL Bad Freienwalde, 1439, unpag.). 63 Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 111.
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Verwendung, vor. Die finanziellen Zuwendungen, die die Städte direkt aus dem Staatshaushalt erhielten, machten den größten Teil der Finanzmittel des Stadthaushaltes aus und waren vollständig zweckgebunden. »Ein finanzpolitischer Spielraum entstand erst dann, wenn […] bei der Erfüllung der Pflichtaufgaben nicht sämtliche Mittel verbraucht« worden waren. Diese Mittel konnten dann in den »Fonds der Volksvertretung« übernommen und nach Beschluss der Stadtverordnetenversammlung frei verwendet werden.64 Es lag also im Geschick des Bürgermeisters, zum einen seinen Rat so anzuleiten, dass dieser durch geschickte finanzpolitische Maßnahmen solche Überschüsse generierte, und zum anderen die Stadtverordnetenversammlung von seiner Vorstellung der Verwendung dieser Mittel zu überzeugen. Da Lösler als Bürgermeister koordinierende Aufgaben auch gegenüber den Ausschüssen der Nationalen Front zufielen, war mit seinem Amt eine automatische Mitgliedschaft im Ortsauschuss Wriezen verbunden. Dieser stellte vor allem in ökonomischer Hinsicht – die Nationale Front war Träger der »Mach mit!«-Wettbewerbe – ein weiteres Feld dar, auf dem sich kleinere Gestaltungsspielräume schaffen ließen. So konnte Lösler die Mitglieder des Ortsausschusses für sein Vorhaben, die Gaststättenkultur in Wriezen zu verbessern,65 gewinnen. Im Rahmen des »Mach mit!«-Wettbewerbs wurden unter Beteiligung verschiedener Handwerker – auch aus der LDPD – das Volkshaus und eine aufgegebene Gaststätte66 renoviert, die von einem Parteifreund Löslers übernommen wurde. Auch im Zuge der »Volkswahlen« arbeitete der Wriezener Bürgermeister eng mit der Nationalen Front und der Staatsmacht zusammen. Die ihm hier zugewiesene Rolle beweist einerseits exemplarisch, wie weit er im System verwurzelt war und andererseits, wie sehr ihm die SED trotz seiner kleineren Eigenmächtigkeiten vertraute. Als Vorsitzender des Rates der Stadt oblag es ihm, sowohl die Wahlergebnisse als auch die Namen und Adressen derjenigen an den Rat des Kreises zu übermitteln, die ihre Stimme nicht für die Kandidaten der Nationalen Front abgeben wollten. In einem Informationsbericht vom Juni 1981 berichtete Lösler dem MfS, dass ihn der Sekretär der SED-Kreisleitung Bad Freienwalde im Zuge der Vorbereitungen zu den Wahlen zur Volkskammer und der Bezirkstage
64 65
Ebd., S. 50 f. SED-OPL [Ortsparteileitung] Wriezen an SED-KL Bad Freienwalde, Abt. Agit./Prop. [Agitation/ Propaganda], Btr. Informationsbericht der OPL Wriezen »Welche Erfahrungen und Probleme gibt es bei der planmäßigen Führung der Prozesse der kulturellen Freizeitgestaltung, insbesondere des geistig-kulturellen Lebens in den Wohngebieten« vom 16.10.1969 (BLHA, Rep. 732 OPL Wriezen, 3976, unpag.). 66 SED-OPL Wriezen an 1. Sekretär SED-KL Bad Freienwalde, Btr. Information über die Jahreshauptversammlung der GE [Grundeinheit] Wriezen der LDPD am 24.2.1978, vom 28.2.1978 (ebd.).
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zu einem Vieraugengespräch in sein Büro einbestellt habe. Hier erhielt Lösler unter dem Euphemismus der »Sicherstellung einer hohen Wahlbeteiligung« eine klare Anleitung zum Wahlbetrug. Der Sekretär der SED-Kreisleitung habe ihm die Anweisung gegeben, dass er für Personen »die in seinem Wirkungsbereich seit langem nicht anzutreffen oder als permanente Nichtwähler aufgefallen« seien, etwa Zeugen Jehovas, einen Wahlzettel ausfüllen und diese nach 18 Uhr, »falls die entsprechenden Personen nicht zu Wahl erschienen seien«, der Wahlkommission übergeben solle.67
Im besonderen Einsatz: Horst Lösler als IM des MfS Das in ihn gesetzte Vertrauen seitens der SED verdankte Lösler nicht nur seiner zuverlässigen Arbeit als Bürgermeister und seinen vielfältigen Beziehungen, die bis in die Leitungsebenen der SED-Bezirksleitung und in verschiedene Kreisleitungen reichten, sondern wahrscheinlich auch dem Umstand, dass er seine politische Zuverlässigkeit und Verbundenheit zur SED als IM über Jahrzehnte immer wieder unter Beweis gestellt hatte. So bescheinigte ihm sein Führungsoffizier in seinen Einschätzungen eine positive Einstellung zur Politik und zur Führungsrolle der SED.68 Auch bei »politisch angespannten Situationen, wie z. B. der 17. Juni 1953 oder der 13. August 1961 o. 21. August 1968 traten bei dem Kandidaten in keiner Hinsicht irgendwelche Schwankungen auf, sondern gerade an diesen politisch angespannten Tagen setzte er sich mit aller Kraft für die Erläuterung der Ziele der Politik unserer Regierung ein. Er stand in diesen Tagen zur Politik der Regierung und wirkte in dieser Hinsicht positiv innerhalb der LDPD aufklärend auf andere Parteimitglieder.«69 Bereits während seiner Zeit im Bezirk Schwerin wurde die Staatsicherheit auf den jungen dynamischen Bürgermeister von Dodow im Kreis Hagenow aufmerksam und warb ihn im Februar 1954 auf Grundlage der politischen Überzeugung als GI an. Er sollte für das MfS Informationen auf dem Gebiet »bürgerlichen Parteien« erarbeiten. In seiner Verpflichtungserklärung stimmte Lösler zu, unter dem selbstgewählten Decknamen »Kunze« mit dem MfS zusammenzuarbeiten
67 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Information des IME »Kunze« zu einem Gespräch der Bürgermeister des Kreises Bad Freienwalde mit dem Sekretär der SED-KL über die Sicherstellung einer hohen Wahlbeteiligung vom 10.6.1981 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 2, Bl. 335). 68 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/3, Einschätzung des GI »Kunze« vom 15.2.1966 (ebd., Teil I, Bl. 37). 69 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (ebd., Bl. 67–77, hier 69).
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und darüber Stillschweigen zu bewahren.70 In einer ersten Einschätzung seiner Tätigkeit bemängelte der Führungsoffizier noch Löslers Zurückhaltung bei Berichten über »negative Elemente« in der LDPD.71 Diese schien aber im Laufe der Jahre zunehmend zu verfliegen. So vermerkte sein Führungsoffizier fünfzehn Jahre später im Jahr 1969, dass Lösler sich mittlerweile auch nicht mehr scheue, »über Personen zu berichten, die seinem engeren Bekanntenkreis angehörten.«72 Entscheidend an Bedeutung gewann seine Tätigkeit als IM mit der Übernahme der Funktion des stellvertretenden Bezirksvorsitzenden in Frankfurt (Oder), wo man ihn zur »Absicherung der LDPD und zur Überwachung der negativen Kräfte in seinem Aufgabengebiet« beauftragte.73 In diesem Zusammenhang erhielt Lösler 1961 den Auftrag, die Einstellung und die Arbeit der Mitglieder des Politischen Ausschusses seines Bezirksverbandes einzuschätzen. Zum Ende seiner Berichte gab Lösler eine Empfehlung, ob der jeweilige Kader im Politischen Ausschuss verbleiben könne oder abgelöst werden solle.74 Mit »Absicherung« waren aber nicht nur die Aufklärung sogenannter ›negativer Kräfte‹ und die Einschätzung der Lage in den Kreisverbänden und Ortsgruppen der LDPD gemeint. Das MfS hatte durchaus auch ein Interesse daran, dass diese Parteieinheiten zuverlässig arbeiteten. So briefte ihn sein Führungsoffizier, »die Auseinandersetzungen in den Ortsgruppen bis zum letzten Parteimitglied zu führen, die negativen Kräfte einzuschätzen, im BA [Bezirksausschuss] der NF [Nationalen Front] die Linie der Partei [der SED] durchzusetzen und damit dazu beizutragen, dass alle OA [Ortsausschüsse] der NF arbeitsfähig werden«.75 So erfolgten auch einige Einsätze Löslers im Schwerpunktkreis Eberswalde und vor allem in Joachimsthal im Auftrag des MfS.76 Diese dienten zwar auch der Aufklärung »negativer Kräfte«, vor allem aber der Stabilisierung der politisch ideologischen Lage und der Parteiarbeit in der Ortsgruppe. So sollte Lösler mit allen Mitgliedern persönliche Gespräche führen, dabei die progressiven Mitglieder bestärken sowie die passiven und skeptischen Kräfte für die Partei zurückgewinnen und zu verstärkter Mitwirkung motivieren.77
70 MfS-BV Frankfurt (Oder), Verpflichtungserklärung GI »Kunze« vom 25.2.1954 (ebd., Bl. 26). 71 MfS-BV Frankfurt (Oder), Beurteilung des GI »Kunze« vom 16.10.1954 (ebd., Bl. 27). 72 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (ebd., Bl. 67–77, hier 76). 73 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Einschätzung des GI »Kunze« vom 3.11.1961 (ebd., Bl. 29 f., hier 29). 74 Einschätzungen des GI »Kunze« zu verschiedenen Mitgliedern des Politischen Ausschusses des BV Frankfurt (Oder) der LDPD (ebd., Bl. 41–49). 75 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. V/3, Einschätzung des GI »Kunze« vom 3.11.1961 (ebd., Bl. 29 f., hier 30). 76 Vgl. MfS-BV Frankfurt (Oder), Auftrag für GI »Kunze« vom 31.10.1961 (ebd., Bl. 80–82). 77 Ebd., Bl. 81.
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In einem anderen Auftrag forderte ihn das MfS 1964 auf, bei seinen Einsätzen im ländlichen Bereich seine Parteifreunden vom Übergang vom Typ I der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zum LPG Typ III zu überzeugen und eventuelle »negative Gruppen«, die die gesellschaftliche Entwicklung ablehnen, aufzuklären und Beweise gegen sie zu erarbeiten.78 Auch nach seinem Amtsantritt als Bürgermeister in Wriezen ebbte das Interesse des MfS an ihm nicht ab. Im Gegenteil: Als Staatsfunktionär konnte er bei der Absicherung der Tätigkeit des Rates der Stadt, bei der Aufklärung »negativer Personen« oder von Westkontakten in Wriezen sowie auch »bei der Beschaffung eines Einfamilienhauses für konspirative Zwecke« behilflich sein.79 Da er weiterhin Mitglied des Sekretariats des Bezirksvorstandes war, konnte er auch über die dortige Situation berichten und weitere Aufträge in anderen Kreisverbänden erfüllen.80 Aufgrund dieser universellen Einsetzbarkeit des IM »Kunze« entschlossen sich 1969 die Verantwortlichen in der Bezirksverwaltung des MfS in Frankfurt (Oder), ihn für die mit der neuen Richtlinie 1/68 eingeführte Kategorie eines IME weiterzuqualifizieren. Die IM dieser Kategorie sollten zur Lösung spezieller »politisch-operativer Aufgaben« eingesetzt werden. Es handelte sich dabei zum Teil um Personen »in verantwortlichen Positionen in staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben, Kombinaten und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen«, sogenannte IM in Schlüsselpositionen, die »zur Herausarbeitung und Durchsetzung bedeutsamer Sicherheitserfordernisse, zum Erarbeiten operativ bedeutsamer Informationen über die Lage im Verantwortungsbereich sowie zur Legendierung operativer Kräfte, Mittel und Methoden des MfS wirksam werden«.81 Neben der oben genannten Schlüsselposition mit den entsprechenden »Verbindungen und Einflussmöglichkeiten« setzte das MfS auch »gefestigte ideologische Positionen, Treue und Ergebenheit gegenüber der Partei der Arbeiterklasse und dem sozialistischen Staat, […] eine feste Bindung an das MfS, […] unbedingte Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit […] ein hohes Maß an Erfahrung in der konspirativen Arbeit [sowie] fachspezifische Kenntnisse und politisch operative Fähigkeiten« voraus.82 Als Bürgermeister erarbeitete Lösler für das MfS relevante Informationen zur politischen Lage in der Stadt oder über kritische Einstellungen und W estkontakte
78 MfS-BV Frankfurt (Oder), Auftrag für GI »Kunze« vom 8.7.1964 (ebd., Bl. 107–109). 79 MfS-BV Frankfurt (Oder), Einschätzung des IMS »Kunze« vom 23.4.1969 (ebd., Bl. 38 f.). 80 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Vorschlag zur Umgruppierung des IMS »Kunze« zum IME vom 18.12.1969 (ebd., Bl. 67–77, hier 75). 81 Müller-Enbergs (Hg.), Informelle Mitarbeiter, S. 320. 82 Ebd.
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seiner Mitarbeiter oder bestimmter Wriezener Bürger.83 Da er als Vizepräsident des Städte- und Gemeindetages die Privilegien eines Reisekaders84 genoss, setzte man ihn auch auf für das MfS relevante Personen in Westdeutschland an.85 Natürlich berichtete Horst Lösler auch weiterhin aus dem Bezirksvorstand der LDPD, dem er noch bis 1976 angehörte,86 etwa über bestimmte Funktionäre oder zur Stimmungslage in der Partei in Verbindung mit aktuellen Vorkommnissen wie beispielsweise der Verstaatlichung der Betriebe mit staatlicher Beteiligung,87 oder der Ausbürgerung von Wolf Biermann88. In diesem Zusammenhang informierte er seinen Führungsoffizier über seine Gespräche mit einem ehrgeizigen, jungen politischen Mitarbeiter des LDPD-Bezirksvorstandes, der mit Lösler befreundet war und in ihm so etwas wie einen Mentor sah. Dieser berichtete ihm über die alltäglichen Vorkommnisse im Sekretariat des Bezirksvorstandes, zum Beispiel über die Unfähigkeit des derzeitigen Stellvertretenden Bezirksvorsitzenden, oder die Auseinandersetzungen des politischen Mitarbeiters mit dem Bezirksvorsitzenden Günter Steinhöfel. Da dieser, so erzählte Löslers dynamischer Mentee 1971, sein Amt aus gesundheitlichen Gründen höchstens noch fünf Jahre ausüben könne, strebe er an, erst den in seinen Augen unfähigen stellvertretenden Vorsitzenden zu ersetzen und danach Steinhöfel als Bezirksvorsitzenden zu beerben.89 Dieser Plan scheiterte allerdings, da Steinhöfel sich wieder erholte und sein Amt noch bis 1989 bekleiden sollte. Der ehrgeizige Kader erreichte sein Ziel dennoch, jedoch in einem anderen Bezirksverband.
83
MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Vorschlag zur Prämierung vom 23.11.1973 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Bl. 108). 84 Steinhöfel, LDPD-Bezirksvorsitzender Frankfurt (Oder), an Buchholz, 1. Sekretär SED-KL Bad Freienwalde, Vorschlag Horst Löslers für den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze vom 12.1.1976 (BLHA, Rep. 731 SED-KL Bad Freienwalde, 1219, unpag.); MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Einschätzung des IMS »Emil« [aka. Günter Steinhöfel] über ein Mitglied des LDPD-Bezirksvorstandes und des Bürgermeisters Horst Lösler als Reisekader vom 18.5.1972 (BStU, BV FfO, TA 96/79, Teil II, Band 1, Bl. 248–251). 85 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/6, Möglichkeiten des GI »Kunze« vom 19.8.1964 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil I, Bl. 36). 86 SdBV [Sekretariat des LDPD-Bezirksvorstandes] Frankfurt (Oder), Einschätzung der Bezirksdelegiertenkonferenz vom 15.10.1974 (ADL, LDPD-Eingangslisten, BV Frankfurt [Oder], 31096, unpag.). 87 Vgl. MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Bericht des IME »Kunze« zu den Problemen der Übergabe der privaten Anteile von Komplementären an den Staat während des 11. Parteitages der LDPD vom 23.2.1972 (BStU, BV FfO, AIM 641/82, Teil II, Band 1, Bl. 201–212). 88 Vgl. MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Berichte des IME »Kunze« über einige Meinungen und Diskussionen zum Problem Biermann vom 24.11.1976 und vom 21.11977 (ebd., Bl. 186 und 195). 89 Vgl. MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Bericht des IME »Kunze« über einen politischen Mitarbeiter des Bezirksvorstandes der LDPD in Frankfurt (Oder) vom 12.5.1971 und vom 4.6.1971 (ebd., Bl. 175–178 und 181 f.).
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1973 hatte der Leiter der Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) Horst Lösler aufgrund seiner erfolgreichen Arbeit für das MfS für die Verleihung der Medaille »für treue Dienste« der Nationalen Volksarmee (NVA) in Silber und die Auszahlung einer Prämie von 200 Mark90 vorgeschlagen. Lösler versuchte seine Kontakte zum MfS auch für persönliche Zwecke zu nutzen. So bat er seinen Führungsoffizier während eines Treffens im Herbst 1970, ob ihn das MfS bezüglich der Zulassung seines Sohnes zum Studium unterstützen könne.91 Über eine Einflussnahme des MfS auf den Erfolg der Immatrikulation des Sohnes gibt es in den Akten jedoch keine Hinweise. Seit seinem Wechsel aus dem Bezirksvorstand in den Vorstand des Kreises Bad Freienwalde 1976 nahmen Löslers Berichte zu den Entwicklungen innerhalb der LDPD ab. Sie konzentrierten sich nur noch auf wenige Personen und Vorkommnisse im Kreisgebiet. Bis zum Ausbruch einer schweren Krankheit Anfang 1981, an der er 1982 verstarb, erhielt Lösler auch weiterhin konkrete Aufträge vom MfS, die er stets gewissenhaft erfüllte.
Fazit Der Multifunktionär Horst Lösler ist ein typisches Beispiel eines LDPD-Kaders der Aufbaugeneration. Diese Generation hatte das Gesicht der LDPD bis in die 1980er-Jahre hinein maßgeblich geprägt und die Entwicklung der Liberaldemokraten vom Eisenacher Programm hin zum treuen Bündnispartner der SED konsequent vorangetrieben. Wie seine Altersgenossen kam Lösler schon in sehr jungen Jahren aufgrund seiner »progressiven« Haltung in eine verantwortungsvolle Position als Bürgermeister und stieg dann rasch zum stellvertretenden Bezirksvorsitzenden auf. Gerade in dieser Funktion konnte er sich durch seine Bemühungen zur Stabilisierung und Verbesserung der Parteiarbeit der LDPD in den Kreisen sowie durch sein hohes Engagement im Staatsapparat und der Nationalen Front nicht nur bei der Führungsspitze in der LDPD, sondern auch bei den Genossen der SED im Bezirk und in den Kreisen als vertrauenswürdiger Kader beweisen und etablieren. In der Ausübung seiner vielen Ämter und Funktionen in Partei und Staatsapparat bekam er aufgrund seiner Kontaktfreudigkeit schnell Verbindungen zu
90 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Vorschlag zur Auszeichnung mit der Medaille »Für treue Dienste« der NVA in Silber vom 14.6.1973 bzw. MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX, Vorschlag zur Prämierung vom 23.11.1973 (ebd., Teil I, Bl. 117 bzw. 108). 91 MfS-BV Frankfurt (Oder), Abt. XX/1, Treffauswertung des Treffs mit IME »Kunze« am 4.9.1970 vom 5.9.1970 (ebd., Teil II, Band 1, Bl. 8 f., hier 8).
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v ielen wichtigen SED-Funktionären aller Ebenen. Diese schätzten ihn wegen seiner Verlässlichkeit und seiner ehrlichen »parteilichen Haltung«. So gelang es ihm, sich in den Jahren seiner politischen Laufbahn ein Netzwerk ihm wohlgesonnener Personen aufzubauen, das sich über alle Ebenen seiner eigenen Partei bis hin zu entscheidungsmächtigen wichtigen SED-Funktionären in den Betriebs-, Orts-, Kreis- und Bezirksleitungen der SED erstreckte. Zusätzlichen Rückhalt erhielt Lösler vom MfS, das ihn wegen seiner zuverlässigen Arbeit als IM schätzte und ihm immer wieder seine Verbundenheit zur SED und seine Treue zum Staat bescheinigte. Die Kontakte aus seinem Netzwerk stellten dann die Grundlage für sein erfolgreiches Wirken als Bürgermeister in Wriezen dar. In Kombination mit seinem Verhandlungsgeschick eröffneten sie ihm Handlungsspielräume, über die ein politisch weniger erfahrener und anerkannter Funktionär nicht verfügen hätte können. Lösler wusste, mit wem er wie zu sprechen hatte, um bestimmte Dinge zu erreichen. Egal ob es sich dabei um Funktionäre aus dem Rat des Kreises oder um Leiter von Betrieben handelte, die Genossen kannten ihn und wussten, dass man sich in jeder Hinsicht auf ihn verlassen konnte. Der daraus resultierende Rückhalt war es wohl auch, der die staatlichen und parteilichen Amtsträger veranlasste, über kleinere Eigenmächtigkeiten des Bürgermeisters hinwegzusehen, zumal diese zum Vorteil für die Stadt und somit auch im Sinne der Staatspartei waren. Klar ist jedoch auch, dass dieser vermeintlichen Handlungsfreiheit enge Grenzen gesetzt waren. So durften die Aktionen des LDPD-Bürgermeisters weder die Pläne der übergeordneten staatlichen Organe konterkarieren noch die »führenden Rolle« der Staatspartei infrage stellen. Eine gewisse liberaldemokratische Spezifik im Wirken Horst Löslers als Bürgermeister ist jedoch nicht erkennbar. Sein Handeln unterscheidet sich nicht wesentlich von dem anderer engagierter Bürgermeister der übrigen Parteien. Zur Verwirklichung kleinerer eigner Projekte bedurfte es eines gewissen Maßes an Eigensinn, gutem Verhandlungsgeschick und eines Netzwerkes an Unterstützern innerhalb des Staatsapparates und der SED. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Amtskollegen aus der SED über etwas bessere Voraussetzungen verfügten, als jene aus den »befreundeten Parteien«. Zum einen hatten sie ihren »festen Klassenstandpunkt« während ihrer Zeit als Beitrittskandidat schon unter Beweis gestellt, und ihr Parteibuch attestierte ihnen die Zugehörigkeit zur »führenden Arbeiterklasse und ihrer Partei«. Somit mussten sie ihre ideologische Integrität nicht immer wieder aufs Neue beweisen. Zum anderen dürfte es ihnen als Genossen leichter gefallen sein, ein entsprechendes Unterstützernetzwerk auszubauen, da die entscheidenden Personen ja ihrer eigenen Partei angehörten. Außerdem waren sie im Gegensatz zu den Bürgermeistern der anderen Parteien auch M itglied der entsprechenden Grundorganisationen der SED in den Räten der Städte und hatten somit auch Einblick und Einfluss auf die dortigen Vorgänge.
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Alles in Allem schien das Engagement Horst Löslers für die Stadt Wriezen den Bürgern positiv in Erinnerung geblieben zu sein. Von dessen enger Zusammenarbeit mit dem MfS und Löslers Manipulationen im Zusammenhang mit den Volkskammerwahlen dürften die vorschlagenden Gremien wohl kaum Kenntnis gehabt haben.
Marlene Heihsel
Die Gotha-LDPD: Politische Basisarbeit – eine Quellenstudie
I. Einleitung »Entsprechend dem gesellschaftlichen Auftrag unserer Partei haben wir unsere besonderen Anstrengungen auf die Einbeziehung der fortschrittlichen Kräfte des Bürgertums in den Aufbau des Sozialismus konzentriert«,1 schrieb der Vorsitzende des Kreisverbandes Gotha der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) 1964 an die Kreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Damit war die LDPD Gotha im offiziellen Duktus des Sozialismus und damit in der Politik der SED angekommen. In der LDPD insgesamt wurden bis Ende der 1950er-Jahre rebellische Parteimitglieder sehr radikal diszipliniert.2 Ebenso wie die anderen Blockparteien erfüllte sie danach ihre vorgegebene Funktion, im Zuge der sogenannten Bündnispolitik die Ziele der SED-Politik in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur ihrer Klientel – im Falle der LDPD war das insbesondere der Mittelstand3 – nahezubringen. Doch wie genau lief dies auf der unteren politischen4 Ebene ab, wenn Parteifunktionäre5 1 2
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Vorsitzender KV [Kreisverband] Gotha an SED-KL [Kreisleitung] vom 30.5.1964 (ADL, L DPD, KV Gotha, 24640, unpag.). Das letzte wirklich liberale Parteiprogramm der LDPD war das Eisenacher Programm, das 1953 abgeschafft wurde Vgl. Tilman Pohlmann, »Zusammenarbeit« als Gefolgschaft. Über Herrschaftsansprüche der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 28 (2016), S. 361–374, hier 363. Zu den Hintergründen der LDPD- Disziplinierung vgl. Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter der Führung der SED, Münster 1996. Dieser Begriff wird aus Gründen der einfachen Beschreibung der LDPD-Klientel gewählt. Offiziell durfte es in der DDR aufgrund der Klassenannäherung allerdings keinen Mittelstand geben. Vgl. dazu Pohlmann, Zusammenarbeit, S. 363. Der Begriff »politisch« wird in dieser Arbeit in seiner modernen Definition verwendet, um den politischen Bereich bzw. das die Politik betreffende Gebiet von den übrigen Gesellschafts feldern abzugrenzen. Im Gegensatz dazu ist der Begriff im DDR-Vokabular viel weiter gefasst und beinhaltet weite Felder in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Im Folgenden wird bei Personengruppen vereinfacht das generische Maskulinum verwendet. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im KV Gotha auch einige (wenige) Frauen
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auf einfache Parteimitglieder trafen? Dafür ist zunächst eine Analyse der Parteistruktur notwendig. Welcher Instrumente bediente sich der Kreisverband, seine und damit eigentlich die Forderungen der SED umzusetzen? Möglicherweise lassen sich bei der Betrachtung der Art und Weise, wie in diesem lokalen, abgegrenzten Bereich Politik gemacht wurde, auch Konflikte und Abweichungen zur Parteilinie ausmachen. Kann abgesehen von den offiziellen Aussagen auch tatsächliche Systemtreue abgeleitet werden? Gab es Spielraum für eigene Ideen oder Eigensinn bzw. wurde er genutzt? Wer waren die einfachen Mitglieder und unteren Funktionäre, lässt sich hier eine durchgehende gesellschaftliche Struktur ausmachen und was bedeutete dies für die politische Arbeit und thematische Ausrichtung? Diesen Fragen möchte sich die vorliegende Untersuchung nähern und damit einen Beitrag zur Mikro- und Alltagsgeschichte der DDR-Politik liefern. Dazu wurden die im Archiv des Liberalismus (ADL) in Gummersbach aufbewahrten, zugänglichen Akten des Kreisverbandes Gotha der LDPD sowie die Akten des LDPD-Bezirksverbandes (BV) Erfurt über den KV Gotha ausgewertet. Sichtung und Auswertung des sehr umfangreichen Aktenmaterials wurde auf Akten aus dem Zeitraum von 1963 bis 1982 beschränkt. Umbruchphasen wie der Mauerbau sowie die sich immer stärker abwärts drehende Spirale in der DDR-Wirtschaft im Laufe der 1980er-Jahre wurden somit bewusst nicht behandelt; die Studie fokussiert auf die Zeit der Etablierung und Verfestigung der SED-Herrschaft in der DDR. Die Auswahl des Kreises Gotha als Fallbeispiel erfolgte nach einem ausführ lichen Vergleich der Darstellung aller Kreise des Bezirks Erfurt in den Akten des Bezirksverbandes Erfurt. Im Gegensatz zu den größeren Stadtkreisen Erfurt und Weimar herrschte in Gotha eine ausgewogene Mischung zwischen städtischen und ländlichen Grundeinheiten, der untersten Organisationsstufe der Partei, vor. Darüber hinaus ist in Gotha eine größere Aktivität und Interaktion mit dem Bezirksverband festzustellen. Bei einem inaktiven Kreisverband wurde eine Analyse der politischen Arbeit als unergiebig eingeschätzt. Ferner besaß der Kreis Gotha einen großen Anteil an Leicht-, Textil- und Lebensmittelindustrie – er war also traditionell von mittelständischer Prägung. Vor 1930 war die ehemalige Residenzstadt Gotha durch ihre gutbürgerliche soziale Zusammensetzung politisch liberal gefärbt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Einfluss der LDP durch die Gründung der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) und der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) zurückgedrängt, trotzdem stellte die LDP(D) bis 1958 die Bürgermeister Gothas.6
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aktiv an der Parteiarbeit teilnahmen. Ist die Geschlechterverteilung punktuell für einen Zusammenhang wichtig, so wird dies an der betreffenden Stelle berücksichtigt. Vgl. zur Geschichte der Stadt Gotha Helmut Roob, Kleine Geschichte der Residenzstadt Gotha. Ereignisse und Persönlichkeiten von den Anfängen bis 2000, Bad Langensalza 2011. Die Abkürzung »LDPD« wurde im Oktober 1951 eingeführt (Anm. der Redaktion).
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II. Kommissionen, Resolutionen und Nationale Front: Politische Arbeit auf unterer Ebene in der Praxis Formal organisiert wurden Parteiarbeit und Parteileben auf Kreisebene (analog zu den oberen Gliederungsebenen) über Kreisdelegiertenkonferenzen und Kreisarbeitstagungen, insbesondere aber über die obligatorischen Jahreshauptversammlungen (JHV) der Grundeinheiten. Hier wurden die Vorschlagslisten der Delegierten für die Konferenzen und Tagungen sowie die Vorstands- und Nachfolgekandidaten für die Vorstände gewählt. Oft wurden die Veranstaltungen von SED-Mitgliedern aus dem Kreis Gotha und LDPD-Mitgliedern höherer Partei ebenen7 besucht, zudem gab es theoretische Grundsatzreden über die Vorteile des Sozialismus; konkrete, inhaltliche Arbeit an aktuellen Themen gab es dort nicht.8 Die Veranstaltungen dienten damit hauptsächlich der innerparteilichen Organisation sowie zur ideologischen Festigung und Kontrolle. Zwar wurden in den Jahreshauptversammlungen der Grundeinheiten jeweils Arbeitsprogramme aufgestellt, die die Aktivität der Einheiten zielführend kanalisieren sollten. Dennoch muss deren Umsetzung nicht sehr konsequent verfolgt worden sein, wenn 1972 ein Beobachter der Jahreshauptversammlungen im Kreis Gotha lobend hervorhob, dass die beschlossenen Arbeitsprogramme nicht nur als Stück Papier, sondern als Handelsanleitung betrachtet würden.9 Wesentlich bei diesen Parteiveranstaltungen war die Einflussnahme der Parteifunktionäre auf die ein fachen Mitglieder mit dem Ziel, sich aktiver am Partei- und Gesellschaftsleben zu beteiligen.10 Dies war insbesondere in den Grundeinheiten stets ein g roßes Thema, da hier die Parteiarbeit durch die gesamte Zeitspanne hinweg als zu inaktiv bemängelt wurde.11
7 Zur Kreisdelegiertenkonferenz am 19.6.1976 wurde z. B. der LDPD-Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Rudolf Agsten, eingeladen. Vgl. KV Gotha, Einladung Agsten vom 9.6.1976 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV [Zentralvorstand], L7-1155, Bl. 1). Sogar zur Jahreshauptversammlung der Grundeinheiten kam nicht selten ein Zentralvorstandsmitglied, z. B. 1966 bei der Ortsgruppe Finsterbergen. Vgl. die Akte Ortsgruppe Finsterbergen, JHV 1965/66 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24636). 8 Vgl. Kellner, Bericht über JHV 1972 (ADL, LDPD, ZV, L4-227, Bl. 45–53). 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. Arbeitsplan Kommission ÖVW/H [Öffentliche Versorgungswirtschaft/Handwerk] des KV Gotha vom 23.6.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 11 Vgl. Winkler, Bericht über den Einsatz im KV Gotha vom 31.3.1964 (ADL, LDPD. BV Erfurt, 25529, unpag.); Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzentrationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.); KV Gotha, Situationsbericht vom 11.5.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.); BV Erfurt, Situationsbericht 19/71 vom 19.8.1971 (ADL, LDPD, Abt. Parteivorstände, L8-1260, Bl. 47–52).
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Die inhaltliche Arbeit zu Themen aus dem Kreisgebiet fand in Kommissionen und Arbeitsgruppen statt. Die Gremien setzten sich meist aus Angehörigen aus den jeweiligen betroffenen Berufsgruppen zusammen. Aktiv war dabei namentlich die Kommission Örtliche Versorgungswirtschaft (ÖVW), die hier als Beispiel herangezogen wird. Die aktive Arbeit der Kommission ÖVW/Handwerk im Kreis Gotha war keineswegs die Regel – ausdrücklich wurde die mangel hafte ÖVW-Arbeit in allen Kreisen außer Gotha, Weimar und Erfurt-Stadt vom Bezirksverband kritisiert. Die inhaltliche Arbeit in der Kommission basierte häufig auf dem Erfahrungsaustausch mit Parteimitgliedern aus dem Bereich der ÖVW, Reparatur- und Dienstleistungen.12 Sie richtete sich mit Verbesserungsvorschlägen sowohl direkt an Betriebe und Unternehmen im Kreis als auch an den SED-dominierten Rat des Kreises sowie die SED selbst:13 So schickte man beispielsweise im Vorfeld des IX. Parteitages der SED inhaltliche Anregungen zum »Entwurf der Konzeption zur Entwicklung der Dienstleistungen, Reparaturen und stadtwirtschaftlichen Leistungen« an die Kreisleitung der SED Gotha. Die Ausführlichkeit, Detailliertheit und konkrete Ausarbeitung der Vorschläge weist dabei auf eine tiefe Kenntnis der allgemeinen Versorgungslage hin.14 Dergestalt konnte sich die LDPD aktiv in kommunalpolitische Entwicklungen einbringen – allerdings ist bei konkreter Kritik keine dahinterliegende, politisch abweichende Grundhaltung zu erkennen. Alle Lösungs- und Änderungsvorschläge beruhten auf dem von der LDPD längst anerkannten sozialistischen System.15 Auch die Ziele bewegten sich ausschließlich im sozialistischen Rahmen: So setzte man sich
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Vgl. Arbeitsplan Kommission ÖVW/H des KV Gotha vom 23.6.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 13 Vgl. dazu die Akte Vorschläge ÖVW an SED-BL [Bezirksleitung] u. Rat des Bezirks 1968–1989 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 27358). 14 Es finden sich z. B. Vorschläge zur Einsparung von Arbeitskräften in der Stadtreinigung und Hinweise zum drohenden Lehrlingsmangel im Friseur- und Kosmetikgeschäft im eingereichten Konzept. Vgl. KV Gotha an KL Gotha der SED vom 8.12.1975 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1155, Bl. 7–12). Vgl. darüber hinaus auch Konzeption des KV Gotha der LDPD und seiner Kommission ÖVW/H zur Einflußnahme und Mitwirkung auf dem Gebiet der ÖVW und des Handels in den von Parteifreunden geleiteten Betrieben und Einzelhandelsgeschäften, wie Gaststätten vom November 1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.); Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzentrationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 15 Z. B. wurde das Ziel gelobt, private Handwerker möglichst zu einem PGH-Beitritt zu bewegen. Vgl. KV Gotha an KL Gotha der SED vom 8.12.1975 (ADL, LDPD, Sekretariate, ZV L7-1155, Bl. 7–12). Dieses offizielle klare Bekenntnis zum Sozialismus zeigt sich auch am Titel des Berichts des KV Gotha an den BV Erfurt: Betr. Wirksamkeit der Vorstände unserer Partei zur Förderung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit in der ÖVW vom 21.3.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.).
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beispielsweise für die »Weiterentwicklung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit«, (z. B. Bildung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks [PGH], Versorgungsgruppenbildung etc.), oder für die »ordnungsgemäße Führung des sozialistischen Wettbewerbs in den von Parteifreunden geleiteten PGH« ein.16 Zusätzlich nahm in der Kommissionsarbeit die politisch-ideologische Arbeit, also die Lehre über die Unfehlbarkeit des Sozialismus, einen großen Raum ein.17 Zuarbeit zu Gremien des Kreises und der Nationalen Front
Ein wichtiges Instrument in der LDPD-Basisarbeit war (insbesondere im Bereich der lokalen Versorgungs- und Reparaturwirtschaft) die Zuarbeit zu den R äten der Gemeinden sowie zur Nationalen Front18 des Kreises. Beispielhaft soll hier die Ermittlung des Reparaturbedarfs in den Gemeinden aus dem Jahr 1964 eingebracht werden. In enger Zusammenarbeit wurden mit den Hauseigentümern »Aussprachen über den Umfang der Reparaturen sowie über Möglichkeiten der Finanzierung« geführt. Dabei wurde die Bereitschaft zu umfangreichen Eigenleistungen erzielt; somit konnte das komplexe Reparaturprogramm schließlich trotz geringer Finanzierungskapazität des Kreises Gotha durchgeführt werden.19 Diese Art von Politik erforderte eine Kooperation der verschiedenen Kräfte. Die LDPD allein hätte im Reparaturprogramm keine politischen Gestaltungsmöglichkeiten innegehabt, wenn sie nicht durch ihre Funktion als Klientelpartei für Handwerker und Eigentümer einen Zugang zu diesen Personengruppen gehabt hätte und diese nicht zu den für den Kreis vorteilhaften Eigenleistungen hätte bewegen können.
16 Arbeitsplan Kommission ÖVW/H des KV Gotha vom 23.6.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.); Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzentrationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Der Wettbewerb zwischen den Betrieben und den »Werktätigen« war ein vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund organisierter Konkurrenzkampf um hohe Arbeitsleistungen. Vgl. »Sozialistischer Wettbewerb«. In: Birgit Wolf, Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch, Berlin 2000, S. 212. Vgl. zum Wettbewerb in Gotha z. B. KV Gotha an BV Erfurt, Ökonomische Verpflichtungen und Leistungen im Wettbewerb zur Erfüllung der Aufgaben des 9. Parteitages der LDPD vom 31.3.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22391, unpag.). 17 Vgl. Arbeitsplan Kommission ÖVW/H des KV Gotha vom 23.6.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Vgl. zum Begriff »politisch-ideologisch«. In: Wolf, Sprache, S. 177. 18 In der Nationalen Front bearbeiteten Volksvertreter, Vertreter von Parteien und Massenorganisationen gemeinsam politische Themen. Es gab auch thematische Ausschüsse. Das Ziel war die Demonstration der »Einheit aller politischen Kräfte«. Insgesamt handelte es sich um eine eher lose Form der Zusammenarbeit. Vgl. »Nationale Front«. In: Wolf, Sprache, S. 150. 19 KV Gotha an BV Erfurt, Bericht über Operativen Einsatz vom 29.5.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.).
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Interaktion mit den Mitgliedern
Neben der Beteiligung an staatlichen Gremien waren insbesondere Gespräche mit der offiziellen Klientel der LDPD20, den Handwerkern und Gewerbetreibenden, ein Schwerpunkt der LDPD-Arbeit. Ziel dieser Gespräche war es, die Handwerker zu mehr Leistungsbereitschaft zu animieren oder deren Betriebe durch Verbesserungsvorschläge leistungsstärker zu gestalten, um die beständige Versorgungsnotlage abzumildern. So heißt es in einem Bericht über die Jahreshauptversammlung im Jahr 1972: »Jetzt kommt es darauf an, auch den letzten Genossenschaftshandwerker und privaten Handwerker für die Erfüllung der Hauptaufgabe des Fünfjahresplans zu gewinnen.«21 Diese »Wünsche« an ihr Klientel änderten sich im Laufe der Zeit, jeweils gemäß der aktuellen SED-Politik: So sollten 1972 kleinere Betriebe zur Gemeinschaftsarbeit überzeugt und Handwerkern die PGH schmackhaft gemacht werden,22 wohingegen 1964 und 1976 insbesondere das individuelle Handwerk gefördert wurde.23 Die Art und Weise (durch persönliche Gespräche sowie ideologisch gefärbte Reden auf den Mitgliederversammlungen) wie auch das Ziel (Steigerung der handwerklichen Leistungsbereitschaft und Aktivität) blieben gleich. Derartige persönliche Gespräche wurden auch im Rahmen der »Operativen Einsätze« geführt. Dabei wurden Parteimitglieder, meist aus dem Kreisvorstand, zu ausgewählten von LDPD-Mitgliedern geführten Unternehmen und PGH geschickt, um sich dort einen Überblick zu verschaffen. Aufgesucht wurden diejenigen Betriebe, deren Kennzahlen nicht stimmten, wo die Planerfüllung gefährdet war oder sonstige Beschwerden und Probleme auftauchten.24 Damit war das Instrument des Operativen Einsatzes vor allem ein Kontrollinstrument. In den dazugehörigen Aussprachen wurde versucht, eine Lösung zu finden. Der Ablauf war genau definiert, die Fragen vorgegeben. Zur Kontrolle der Arbeit in den Grundeinheiten gab es das Instrument der Patenschaft: Jedes Mitglied des Kreisvorstands war Pate für eine Grundeinheit, nahm in dieser Funktion an den Versammlungen sowie Kommissionssitzun20
Vgl. Jürgen Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD). In: Gerd R. Stephan/ Andreas Herbst/Christine Krauss (Hg.), Parteien und Organisationen der DDR, Berlin 2002, S. 311–342, hier 328. 21 Kellner, Bericht über JHV 1972 (ADL, LDPD, ZV, L4-227, Bl. 45–53). 22 Vgl. zur Werbung für die Mitarbeit in den PGH: Kommission ÖWV/H des BV Erfurt, Bericht von 1970 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32803, unpag.). 23 Vgl. Kreisrevisionskommission des KV Gotha, Bericht zur Kreisdelegiertenkonferenz vom 19.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). Die unterschiedlichen Zielsetzungen korrelierten mit denjenigen der SED-Wirtschaftspolitik. Vgl. dazu insgesamt André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Berlin 2007. 24 1964 wurde z. B. ein Operativer Einsatz in der PGH »Bau« in Sonneborn durchgeführt. Hier stimmten die Kennzahlen für Teilbereiche nicht, obwohl der Plan insgesamt übererfüllt wurde. Vgl. KV Gotha an BV Erfurt, Bericht über Operativen Einsatz vom 29.5.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.).
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gen teil und gab Meldung sowohl an Kreis- als auch Bezirksverband. Es wurde detailliert aufgezeichnet, welche Mitglieder aktiv, inaktiv oder anderweitig »problematisch« waren und wie die inhaltliche und organisatorische Durchführung der Versammlungen ablief.25 In die Kommissionen der Kreisverbände wurden »Schrittmacher« aus dem Bezirksvorstand geschickt, um dort die Arbeit zu verbessern.26 Öffentliche Arbeit und Multiplikatoren
Die politische Beteiligung der Parteimitglieder fand im Rahmen von Stellungnahmen, Resolutionen oder Willenserklärungen statt. Diese konnten aus dem Kreisverband, dem Kreisvorstand wie auch den Grundeinheiten kommen. Sie dienten der Verdeutlichung der politischen Meinung und wurden häufig in der Lokalpresse veröffentlicht. Auch entsprachen sie vollständig der SED-Ideologie bzw. einer sozialistischen Denkweise.27 Insgesamt können bezüglich der LDPD-Basisarbeit zwei Arten von Mitarbeit ausgemacht werden: auf der einen Seite die parteipolitische Arbeit in den Grundeinheiten und im Kreisverband der LDPD wie auch der Nationalen Front; auf der anderen die Beteiligung an gesellschaftlichen Aufgaben durch die Mitglieder. Innerhalb der LDPD wurde dementsprechend auch die Führung einer PGH durch ein LDPD-Mitglied als politische Arbeit erachtet und als solche genau beobachtet – beispielsweise mithilfe der Operativen Einsätze. Die Beteiligung der Mitglieder an Gemeindewettbewerben (z. B. die Mach-Mit-Wettbewerbe), Arbeitsprogrammen, an Feierabendbrigaden oder in den Massenorganisationen wurden aktiv gefordert.28 Durch obligatorische persönliche Erklärungen über den eigenen Anteil an der Erfüllung der Arbeitsprogramme wurde der tatsächliche Arbeitseinsatz abgeprüft und gegebenenfalls angemahnt. Diese Leistungsberichte wurden von allen Mitgliedern der Grundeinheiten erwartet.29 Innerhalb 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Kommission ÖWV/H des BV Erfurt, Bericht von 1970 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32803, unpag.). 27 Es gab z. B. viele Meinungen zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen der DDR zur BRD aus dem Jahr 1972 – von LDPD-Bürgermeistern, von Betriebsleitern eines Volkseigenen Betriebs (VEB) oder PGH-Mitgliedern. Auch zu anderen außenpolitischen Themen wie der Freilassung von Angela Davis oder dem Vietnamkrieg gab es zahlreiche Resolutionen. Vgl. insgesamt Berichte u. a. aus den KV Gotha 1959–1974 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529). Zur Veröffentlichung in der Lokalpresse vgl. z. B. die Willenserklärung aus dem Kreisverband Gotha zum Volksentscheid Vietnam sowie zur neuen Verfassung. OG Wahlwinkel, Willenserklärung vom 27.3.1968 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24626, unpag.). 28 Vgl. Kommission ÖWV/H des BV Erfurt, Bericht von 1970 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32803, unpag.); KV Gotha an BV Erfurt, Bericht über Operativen Einsatz vom 29.5.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.). 29 Vgl. Unterlagen zur JHV Finsterbergen 1965 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24636, unpag.).
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des Verbandes wurde die Wirksamkeit der Parteimitglieder als Multiplikator in die Gesellschaft als hoch eingeschätzt und als solche genau beobachtet und gelobt.30 Allerdings kam diese Aktivität nicht von selbst, sondern wurde meist durch Kritik aus dem Bezirksverband ausgelöst.31 Selbstbeschäftigung und Kontrolle
Betrachtet man die politische Arbeit der LDPD im Kreis Gotha, so fällt sofort der hohe Grad an »Selbstbeschäftigung« auf. Im Vergleich zur politischen inhaltlichen Arbeit kümmerte man sich auffallend viel um parteiinterne Vorgänge, die sich vorrangig um Zustand und Erfolg der Partei drehten. Durch den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch dominieren Protokolle, Berichte und Sitzungen des Kreisvorstandes sowie der Grundeinheiten, die sich ausschließlich mit internen Vorgängen wie beispielsweise der Planung, Durchführung und Bewertung von Parteiversammlungen beschäftigten.32 Ein Beispiel unter vielen ist die »Einschätzung der Kreisparteitage 1971«33 des Vorsitzenden des LDPD-Bezirksvorstandes Erfurt, der außerordentlich kleinteilig die einzelnen Referate, Diskussionsbeiträge sowie kulturelle Untermalungen der Kreisparteitage diskutierte. Dabei ging es nicht um inhaltliche Fragen, sondern lediglich um das Wesen von Referaten und Diskussionsbeiträgen, darum, wie die Referate vorbereitet und vorgetragen wurden. Da alle Beiträge im Voraus geplant und mehrmals durchgesprochen wurden, ergaben sich inhaltlich auch kaum Überraschungen. Über die Selbstbeschäftigung mit eigenen Veranstaltungen hinaus war zudem die genaue Beobachtung und Kritik der Aktivität oder Inaktivität der (Vorstands-)Mitglieder zentral. In den Protokollen der Vorstandssitzungen wurde sehr genau festgehalten, wer entschuldigt und unentschuldigt fehlte. Schriftstücke wie zur »Wirk-
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Vgl. Konzeption des KV Gotha der LDPD und seiner Kommission ÖVW/H zur Einflußnahme und Mitwirkung auf dem Gebiet der ÖVW und des Handels in den von Parteifreunden geleiteten Betrieben und Einzelhandelsgeschäften, wie Gaststätten vom November 1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 31 Vgl. z. B. Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzentrationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.); BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 6/68 vom 29.3.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 32 Vgl. z. B. BV Erfurt, Situationsbericht 19/71 vom 19.8.1971 (ADL, LDPD, Abt. Parteivorstände L8-1260, Bl. 47–52). Berichte über Jahreshauptversammlungen und Kreisdelegiertenkonferenzen füllen ganze Aktenordner. Vgl. z. B. JHV Gotha 1957–1966 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22390). 33 Vorsitzender BV Erfurt, Einschätzung der Kreisparteitage 1971 vom 17.6.1971 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 27360, unpag.); siehe auch Winkler, Schreiben vom 13.6.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.); Zur Einschätzung der JHV 1972 vom 14.6.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.).
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samkeit der Vorstände unserer Partei […] in der ÖVW«34 veranschaulichen den Stellenwert der Selbstreflexion im Verband. Insgesamt muss in größeren Organisationen selbstredend ein gewisses Maß an organisatorischen Tätigkeiten sowie Evaluationen bzw. »Manöverkritik« auf der Tagesordnung stehen. Auch in modernen Parteien wollen die Verantwortlichen wissen, wie die Parteiarbeit läuft, welche Haltung die Parteimitglieder grundsätzlich haben, und wo eventuell falschen Entwicklungen entgegengesteuert werden muss. Hier werden große Veranstaltungen ebenfalls gut vorbereitet und im Nachgang evaluiert sowie Statistiken geführt. Allerdings geht die genannte Selbst beschäftigung der LDPD weit darüber hinaus, was für eine gut geführte Organisa tion notwendig ist, um aus Fehlern zu lernen und sich dadurch weiterzuentwickeln. Regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen von hauptamtlich a rbeitenden Parteimitgliedern und darauffolgende Vorschläge, Kuren zu besuchen, prophylaktisch mit dem Rauchen aufzuhören oder vieles mehr35 veranschaulicht den Drang der Partei, alles zu kontrollieren und zu bestimmen. Die Grenzen zum Privatleben sind dabei kaum noch zu entdecken. Mithilfe der Mitglieder eine Programmatik zu bestimmten Themen zu entwickeln, war nicht Ziel der Frage nach Meinungsbildern unter den Parteimitgliedern. Der Anteil an wirklich politischer inhalt licher Arbeit war im Vergleich zur Selbstbeschäftigung gering.36 Die Selbstbeschäftigung innerhalb der LDPD Gotha änderte sich auch im gesamten Untersuchungszeitraum nicht. Als hauptsächlicher Grund dafür kann der fehlende Handlungsspielraum im politischen Bereich vermutet werden.37 Zwar gestand die SED der LDPD Handwerker und Gewerbetreibende als ihre Klientel zu, für die sie sich einsetzen durfte, dennoch war eine eigenständige politische Agenda unmöglich. Ohne tatsächliche politische Arbeit gab es innerparteilich 34 Betr. Wirksamkeit der Vorstände unserer Partei zur Förderung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit in der ÖVW vom 21.3.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Vgl. auch Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzentrationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 35 Vgl. Durchführung ärztlicher Untersuchungen der politischen Mitarbeiter lt. Stabilisierungsbeschluß des SdZV [Sekretariat des Zentralvorstands] vom 3.5.1965 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32808, unpag.). 36 Dies stellt auch Luise Güth für die späten 1980er-Jahre im Bezirksverband Rostock fest. Vgl. Luise Güth, War die LDPD liberaler als die anderen Blockparteien? Eine Untersuchung des Bezirksverbandes Rostock 1985–1989. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 28 (2016), S. 375–392, hier 389. Recht ähnlich beschreibt auch Christian Rau die Beschaffenheit des DDR-Verwaltungsapparates, der sich, ohnehin viel zu aufgebläht, darüber hinaus auch viel mehr mit Interna als mit tatsächlichen politischen Themen beschäftigte. Gründe können in den geringen Handlungsspielräumen und der massiven Durchherrschung gesehen werden. Christian Rau, Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957–1989), Stuttgart, 2017, S. 376. 37 Vgl. ebd.
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wenig zu tun für engagierte Mitglieder. So mussten diese anderweitig beschäftigt werden – beispielsweise durch akribische Planungen und Berichterstattungen. Auch die massive Ausrichtung der Parteiarbeit auf die Kontrolle von aktiven und inaktiven Parteimitgliedern führte zu diesem Maß an Selbstbeschäftigung. Damit stärkte die LDPD durch ihre auf den ersten Blick sehr egozentrische Vorgehensweise die Herrschaft der SED, indem sie deren Kontrollvorgaben umsetzten und keine eigenständigen programmpolitischen Ziele verfolgten.
III. Netzwerke, Funktionen, Ämter: Die Mitglieder der LDPD Gotha Die wichtigsten Akteure bei der Frage, wie die LDPD auf Kreisebene Politik für ihre Mitglieder gemacht hat, sind die Parteimitglieder. Hier ist zunächst eine Charakterisierung der (aktiven) »Parteifreunde«, wie sie offiziell genannt wurden, notwendig. Welche gesellschaftliche Stellung nahmen sie ein, kann mög licherweise eine Motivation abgeleitet werden, weshalb eine Mitgliedschaft abgeschlossen wurde? Darüber hinaus geben auch die Themen, die im Mittelpunkt der Versammlungen und Aktionen standen, Auskunft über eine mögliche Interessenspolitik. Außerdem ist zentral, mit wem sich die Mitglieder vernetzten sowie welche Funktionen sie in staatlichen Behörden oder der (volkseigenen) Wirtschaft einnahmen. Inaktive Rentner und aktive Handwerker: Wer waren die Mitglieder der LDPD Gotha?
Die soziale Zusammensetzung der LDPD-Mitglieder im Kreis Gotha unterschied sich allenfalls geringfügig von der durchschnittlichen sozialen Zusammen setzung der gesamten LDPD38 und veränderte sich auch über den Untersuchungs zeitraum hinweg nur wenig.39 Die größte Gruppe bildeten die Angestellten40 mit
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Vgl. Peter Joachim Lapp, Die »befreundeten Parteien« der SED. DDR-Blockparteien heute, Köln 1988, S. 37. 39 Für die folgenden Absätze wurden die Angaben aus den Berichtsbögen J für Gotha der Jahre 1964 (Etablierung des NÖSPL [Neues ökonomisches System der Planung und Leitung]), 1972 (Verstaatlichungswelle bei Betrieben), 1976 (Liberalisierungen im Handwerk) und 1982 (beginnende Erkenntnis des wirtschaftlichen Niedergangs) ausgewertet. Die Daten wurden an wichtige politische Umbrüche in der DDR, die insbesondere die Klientel der LDPD betrafen, angelehnt. Die Auswahl dieser Jahre soll eine gleichmäßige Analyse ermöglichen. Die Berichtsbögen mussten jährlich zur Ermittlung der Mitgliederstatistik eingereicht werden. Vgl. Mitgliederstatistik der Kreisverbände im Bezirk Erfurt, Gotha-Nordhausen 1963–1989 (ADL, LDPD, Abt. der Parteivorstände, L8-1130). 40 Die Gruppe der Angestellten setzte sich aus dem Personenkreis zusammen, der »außerhalb der unmittelbaren Produktion«, also insbesondere in der Verwaltung von Betrieben, in Be-
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einem durchschnittlichen Anteil an der gesamten Mitgliederzahl in Gotha von 36 Prozent.41 Zur zweitgrößten Gruppe (im Durchschnitt 23 Prozent der Gesamtmitgliederzahl) zählten die nicht berufstätigen Mitglieder, darunter fallen Hausfrauen, Rentner und Schüler. Mit durchschnittlich 15 Prozent stellten die Handwerker, Gewerbetreibenden, Händler und Gastwirte die dritte größere Gruppe. Der Einfachheit halber wird im weiteren Verlauf jedoch nur von der Handwerker-Gruppe gesprochen. Sie setzte sich zu knapp zwei Dritteln aus individuell Tätigen, zu einem Drittel aus Handwerkern sowie Gewerbetreibenden aus den PGH und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), und zu einem sehr marginalen Teil aus Komplementären bzw. Kommissionshändlern42 zusammen. Einen eher geringen Anteil an den LDPD-Mitgliedern besaßen mit jeweils ca. sieben Prozent die Gruppen aus Landwirtschaft, Arbeiterschaft und den Angehörigen der Intelligenz43. Im Schnitt die kleinste Gruppe bildeten die Lehrer mit vier Prozent.44 Die größten Gruppen in der Mitgliederschaft stellten also Angestellte sowie Hausfrauen und Rentner. Interessant ist dies besonders im Vergleich zu den wirklich aktiven Mitgliedern der LDPD Gotha. Hier muss zunächst geklärt werden, was »aktiv« im Konkreten heißt. Diese Arbeit definiert – angelehnt an die Interpretation von aktiver Parteiarbeit, die aus den Akten hervorgeht – diejenigen Parteimitglieder als aktiv, die mehr für die Partei tun als Mitgliedsbeiträge zu zahlen und gelegentlich an Parteiveranstaltungen als Gast teilzunehmen. Aktive Parteiarbeit umfasst die Mitgliedschaft in einem Vorstand aus den Ebenen des Bezirks, der Kreise und der Grundeinheiten, die Mitarbeit als Delegierter für Parteitage oder Konferenzen, die Auseinandersetzung mit Dokumenten
hörden, im Gesundheitswesen, Handel und Dienstleistungssektor angestellt war, vgl. dazu »Angestellter«. In: Wolf, Sprache, S. 8. 41 Von 1964 bis 1982 schwankte der Anteil nur geringfügig zwischen 34 % und 39 %. 42 Ein Komplementär war der ehemalige Eigentümer eines privaten Unternehmens, das eine staatliche Beteiligung eingegangen ist. Der Komplementär behielt dabei in der Regel den Posten des Geschäftsführers. Vor der kompletten Verstaatlichungspolitik der DDR ab 1972 wurden Unternehmer vom Staat zur Umgestaltung ihrer Unternehmen zu einem »Betrieb mit staatlicher Beteiligung« (BSB) gedrängt. Ein Kommissionshändler war ebenfalls ein privater Unternehmer mit staatlicher Beteiligung, im Bereich des Handels. In: ebd., S. 126. 43 Angehörige der Intelligenz waren Personen, die außerhalb der direkten Produktion »aufgrund einer akademischen Ausbildung eine vorwiegend geistige Tätigkeit« ausübten. Man fand sie im Bereich der Medizin, Technik und Ökonomie, Kunst und in höheren Positionen in der staatlichen Verwaltung, in der Verwaltung von Betrieben, Einrichtungen oder Parteien. Die Abgrenzung zu den Angestellten erfolgte durch eine höhere Qualifikation. Vgl. dazu »Angehöriger der Intelligenz« und »sozialistische Intelligenz«. In: ebd., S. 8, 209. 44 Lehrer gehören streng genommen auch zur Gruppe der Intelligenz. Da sie jedoch in den Berichtsbögen J als gesonderte Gruppe aufgeführt wurden, soll das hier beibehalten werden.
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und politischen Entscheidungen,45 die Mitarbeit in wirtschaftlichen Gremien der Partei, oder aber eine führende Rolle in der gesellschaftlichen Arbeit.46 Um diese aktiven Mitglieder auszumachen, wurden Situationsberichte und Protokolle des Kreisverbandes Gotha sowie des Bezirksverbandes Erfurt bezüglich Gotha vorrangig aus den Jahren 1964, 1972, 1976 und 1982, analog zur Auswahl der Berichtsbögen J, nach Namen ausgewertet:47Alle in Verbindung mit aktiver Parteiarbeit – zugrunde liegt die oben genannte Definition – namentlich erwähnten Mitglieder wurden mit Angabe des Berufes aufgelistet und sortiert. Nach Auswertung dieser Tabelle steht fest, dass insbesondere die recht große Gruppe der Hausfrauen, Rentner und Schüler kaum aktiv war – trotz mutmaßlich etwas mehr freier Zeit als die Berufstätigen. Auch die Gruppe der Angestellten schrumpft drastisch, wenn man ihre politische Aktivität betrachtet. Ebenso ist aus den Bereichen der Landwirtschaft, der Lehrer und der Arbeiter kaum Aktivität zu verzeichnen. Hier greift der sehr pragmatische Grund, in die LDPD einzutreten, um nicht der SED beitreten zu müssen. Diese Mitgliedergruppen wollten vom Staat in Ruhe gelassen werden, ohne in die Mühlen der SED zu geraten. Dies war mit einer Mitgliedschaft in einer Blockpartei möglich: Hierdurch waren bei gleichzeitiger Erfüllung der gesellschaftlich-moralischen Konvention, sich am gesellschaftlichen bzw. politischen Leben zu beteiligen,48 berufliche Aufstiege in gewissem Maße realisierbar. Damit erschöpfte sich der Anspruch, der an die Partei gestellt wurde, dementsprechend war auch die aktive, freiwillige Beteiligung gering. Die aktivsten Gruppen unter den Mitgliedern waren die Handwerker-Gruppe und insbesondere die Gruppe der Angehörigen der Intelligenz. Bei g enauerer Betrachtung der Mitglieder, die den Angehörigen der Intelligenz zugeordnet 45 Ganz konkret bezüglich der Auseinandersetzung mit Dokumenten und politischen Entscheidungen als Merkmal von aktiver Mitarbeit vgl. KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 4.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 46 Darunter fällt u. a. die Errichtung von Feierabendbrigaden oder die Tätigkeit als Agitator in den Hausgemeinschaften der Nationalen Front. Vgl. z. B. KV Gotha, Arbeitsbericht vom 15.1.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.). Weitere Aktivitäten vgl. BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 14. Unsere Mitwirkung bei der bedarfsgerechten Entwicklung der Dienst-, Reparatur- und Versorgungsleistungen vom 8.8.1977 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1168, unpag.). Auch Mach-Mit-Wettbewerbe oder kulturelle Initiativen (Chor, Museum, etc.) gehörten dazu. 47 Insgesamt umfasste dies Akten aus über 30 Fundstellen. Natürlich bietet dies nur eine Auswahl an aktiven Mitgliedern und erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch kann aufgrund des umfassenden Materials eine allgemeine Tendenz abgeleitet werden. Siehe zu den Berichtsbögen J auch Anm. 39. 48 Dies folgte der Maxime aus dem Marxismus-Leninismus, der Mensch sei ein »gesellschaftliches Wesen«. Vgl. Heinz Mestrup, Zwischen zentralistischem Einheitsstaat und regionalen Eigen interessen. Ein Plädoyer für die Erforschung des »sozialistischen Herrschaftsalltags«. In: Monika Gibas/Rüdiger Stutz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag, Jena 2007, S. 77–93, hier 77.
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werden können, fällt auf, dass ein sehr großer Teil davon eine leitende P osition etrieb in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) oder einem anderen staatlichen B innehatte und weitere vier Personen einen Bürgermeisterposten in einer Gemeinde einnahmen, also eine leitende Position in der staatlichen Verwaltung besaßen. Auch die aktiven LDPD-Mitglieder aus dem Bereich der PGH bekleideten eine leitende Position im Vorstand ihrer PGH, meist als Vorsitzender. In vielen offiziellen Zielformulierungen der LDPD auf Kreis- wie auf Bezirksebene wurde gebetsmühlenartig auf die besondere Verantwortung der LDPD für den Bereich der ÖVW und der Handwerker hingewiesen.49 Damit stieg auch die Erwartungshaltung der Angehörigen dieser gesellschaftlichen Schicht, in der LDPD gut aufgehoben zu sein. Hier gab es Netzwerke, Experten und Gleichgesinnte. Darüber hinaus war bekanntermaßen ein sehr großer Bestandteil der LDPD- Basisarbeit die Unterstützung der kreisansässigen Betriebe und Unternehmen bzw. insbesondere der PGH bei deren Jahreshauptversammlungen.50 Damit kann eine große Motivation der Mitglieder zum Eintritt in die LDPD bzw. in eine Partei im Allgemeinen vermutet werden. Zentrale Themen der LDPD Gotha
Aus der Verteilung der Aktivität lassen sich auch Rückschlüsse auf die zentralen Themen in der lokalen Parteiarbeit schließen. Neben der oben bereits erwähnten obligatorischen Beschäftigung mit sich selbst lag der Fokus auf dem Bereich der lokalen Wirtschaft bzw. auf Reparatur- und Dienstleistungen und den damit zusammenhängenden Material-, Liefer- und Versorgungsschwierigkeiten.51 Dieser Fokus fällt bei der Akteneinsicht zur Basisarbeit der LDPD sofort ins Auge. Es gibt kaum einen Bericht aus den Kreisverbänden und dem Bezirksverband, der
49 Vgl. z. B. AG ÖVW des BV Erfurt, Einschätzung der bisherigen Arbeit zur Unterstützung der ÖVW durch die Parteivorstände von 1966 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.); BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 13/75 vom 30.9.1975 (ThHStAW, Zusammenarbeit des Bezirkssekretariats mit den Parteien im Bezirk Erfurt Nr. 195, Bl. 129–132). 50 Vgl. z. B. BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 6/68 vom 29.3.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Hier kann jedoch fast jeder Situations- und Informationsbericht über die Kreisarbeit herangezogen werden, denn annähernd immer werden die Jahreshauptversammlungen in den PGH thematisiert. 51 Vgl. z. B. BV Erfurt, Situationsbericht 19/71 vom 19.8.1971 (ADL, LDPD, Abt. Parteivorstände, L8-1260, Bl. 47–52). Um das Verstaatlichungsjahr 1972 herum wurde gelegentlich auch die Bündnispolitik der SED und die Rolle der LDPD darin thematisiert. Dies wurde jedoch nicht ausgiebig diskutiert und im Laufe der 1970er-Jahre durch die Diskussion über die Material- und Dienstleistungsversorgung abgelöst. Vgl. dazu BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 14. Unsere Mitwirkung bei der bedarfsgerechten Entwicklung der Dienst-, Reparatur- und Versorgungsleistungen vom 8.8.1977 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1168, unpag.); KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 4.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.).
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nicht mehrheitlich Themen aus der lokalen Wirtschaft beinhaltete. Dazu legte man im Kreisverband Gotha mit der Serie »Wirtschaftsprobleme« sogar ganze Aktenbestände an.52 Dieser thematische Fokus wurde auch durch das offizielle Selbstverständnis der LDPD in ihrer »Mitverantwortung für die bedarfsgerechte Entwicklung der Dienst-, Reparatur- und unmittelbaren Versorgungsleistungen«53 forciert. Das Selbstverständnis der Handwerker und deren Einordnung in das sozialistische Wirtschaftsgefüge sowie mögliche Steigerungen des Leistungsanteils an der sozialistischen Wirtschaft waren sehr häufig ein Thema. Hier wird auch deutlich, dass keine individuelle eigenständige Politiklinie gefahren wurde, sondern lediglich die SED-Vorgaben umgesetzt wurden. Anstatt einer unabhängigen Unterstützung der Belange von Handwerkern und Gewerbetreibenden drängte die Partei ihre Mitglieder vielmehr in die Umsetzung der SED-Politik: Individuellen Handwerkern wurde der Beitritt in PGHs nahegelegt, Unternehmer und später Komplementäre nicht darin unterstützt, ihre Unternehmen zu behalten, sondern in die Verstaatlichung gedrängt.54 Nicht nur die allgemeine Unterstützung des sozialistischen Systems, sondern auch die Fokussierung der LDPD auf wirtschaftliche Themen und Klientel wurde von der SED festgelegt; und die LDPD folgte dieser Festlegung. Netzwerke, Funktionen, Ämter
»Netze sind, funktional betrachtet, Medien der Mobilisierung und Verteilung vom Planmechanismus nicht genutzter Ressourcen für Investitionen und Konsum: Netze sind Motoren der Innovation. Netze organisieren Machtbeziehungen«,55 definiert Christoph Boyer Netzwerke in der DDR. Die persönlichen Netzwerke waren geprägt durch Tauschgeschäfte mit knappen Ressourcen und Informationen, mit flachen Hierarchien auch über Statusgrenzen hinweg.56 Sie 52
Vgl. Wirtschaftsprobleme 1958–1961 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22392) und Wirtschaftsprobleme 1958–1968 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22388). 53 BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 13/75 vom 30.9.1975 (ThHStAW, Zusammenarbeit des Bezirkssekretariats mit den Parteien im Bezirk Erfurt Nr. 195, Bl. 129–132). 54 Vgl. u. a. KV Gotha an KL Gotha der SED vom 8.12.1975 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L71155, Bl. 7–12); Korrespondenz zum Fall Firma Hartung 1977 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1168, unpag.). 55 Christoph Boyer, Ausblicke. In: Annette Schuhmann (Hg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln 2008, S. 217–225, hier 222. 56 Vgl. Arnd Bauerkämper, Lokale Netzwerke und Betriebe in der DDR. Theoretische Ansätze, Untersuchungsdimensionen und methodische Probleme der historischen Forschung. In: Schuhmann, Vernetzte Improvisationen, S. 179–191, hier 183; Peter Hübner, Personale Netzwerke im lokalhistorischen Kontext. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR. In: ebd., S. 193–216, hier 201; Christoph Bernhardt/Heinz Reif, Zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Ambivalenzen sozialistischer Stadtpolitik und Urbanität. In: dies. (Hg.), Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag
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glichen also strukturelle Defizite im System aus, blieben jedoch ohne »Ausbrechen aus der Plandisziplin«57 innerhalb der »staatssozialistischen« Grenzen und förderten die gegenseitige soziale Kontrolle,58 sodass davon ausgegangen werden kann, dass sie von der SED wohlwollend geduldet wurden. Netzwerke sind im untersuchten Fall informelle soziale Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren, von denen sich die Akteure außerhalb der vertikalen hierarchischen Leitungsstrukturen konkrete, langfristige oder kurzfristige Vorteile erwarten.59 In den Sozialwissenschaften werden Netzwerke hauptsächlich über die sogenannte Social Network Analysis strukturell und quantitativ untersucht.60 Die Geschichtswissenschaft hat teilweise einen anderen Ansatz gewählt: Hier liegt das Augenmerk nicht auf der Struktur der Netzwerke, sondern auf den einzelnen Akteuren sowie deren konkreter Verbindung miteinander. Es wird nach den Handlungsformen und -optionen gefragt, nach den Hintergründen und individuellen Zielen der Akteure.61 Dieser Ansatz wird in der vorliegenden Untersuchung verfolgt. Die Personennetzwerke in der DDR auf kommunaler Ebene setzten sich aus Akteuren aus Betrieb, Verwaltungen und Parteien zusammen. »Innerhalb staat sozialistischer Gesellschaften war die Einbindung informeller Arrangements und Netzwerke in wirtschaftliche Planungs- und Leitungsprozesse eine Realität«,62
in der DDR, Stuttgart 2009, S. 299–317, hier 314. Boris Holzer macht bezüglich persönlicher Netzwerke bzw. sozialer Beziehungen zwei unterschiedliche Arten aus: Er definiert die »expressive Beziehung«, die persönliche, emotionale Beziehungen beinhaltet, im Gegensatz zur »instrumentellen Beziehung«, die »zur Erreichung bestimmter Ziele« dient. Die hier untersuchten Beziehungen fallen damit in die Art der instrumentellen Beziehung, Boris Holzer, Netzwerke, Bielefeld 2006, S. 14. 57 Boyer, Ausblicke, S. 225. Vgl. auch Annette Schuhmann, Netzwerke lokaler Eliten in der DDR. In: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien, 36/37 (2006), S. 53–56. 58 Vgl. dazu Martin Diewald, »Kollektiv«, »Vitamin B« oder »Nische«? Persönliche Netzwerke in der DDR. In: Johannes Huinink/Karl Ulrich Mayer/Martin Diewald/Heike Solga/Annemette Sorensen/Heike Trappe (Hg.), Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995, S. 223–260, hier 224. 59 Vgl. dazu Bauerkämper, Lokale Netzwerke und Betriebe in der DDR, insb. S. 183 f. 60 Näheres dazu in Holzer, Netzwerke. 61 Vgl. dazu auch Bauerkämper, Lokale Netzwerke und Betriebe in der DDR, S. 183 f.; Verena Mayr-Kleffel, Netzwerkforschung. Analyse von Beziehungskonstellationen. In: Ruth Becker/ Beate Kortendiek/Barbara Budrich (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2008, S. 343–350; Morten Reitmayer/Christian Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft. In: Christian Stegbauer/Roger Häußling (Hg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 869–880, hier 870. Weiterführend vgl. auch Marten Düring/Linda von Keyserlingk, Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften. Historische Netzwerkanalyse als Methode für die Erforschung von historischen Prozessen. In: Rudolf Schützeichel (Hg.), Prozesse. Formen, Dynamiken, Erklärungen, Wiesbaden 2015, S. 337–350; Marten Düring/Ulrich Eumann/Martin Stark (Hg.), Handbuch historische Netzwerkforschung, Berlin 2016. 62 Schuhmann, Netzwerke lokaler Eliten, S. 53.
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stellt Annette Schuhmann fest, die umfassend die Netzwerke lokaler Eliten n eben der offiziellen Hierarchie in der DDR untersucht hat. Das korrespondiert mit den Erkenntnissen aus den Akten der LDPD Gotha. Als logische Konsequenz aus der oben genannten wirtschaftszentrierten Themensetzung der Parteigliederung und auch aufgrund des Tätigkeitsbereichs der aktiven Mitglieder insbesondere im Handwerk und der ÖVW erstreckten sich auch die Verbindungen der lokalen LDPD meist auf den Bereich der (Versorgungs-)Wirtschaft. Parteimitglieder konnten als Multiplikatoren eingesetzt werden, ihre Erfahrungen in ihrem jeweiligen Bereich, beruflich oder gesellschaftlich, wurden geschätzt und für die politische Arbeit gern eingesetzt. So heißt es in einem Bericht der Kommission ÖVW/ Handwerk beim Bezirksvorstand Erfurt unter anderem über den Kreisverband Gotha: »Eine Reihe von Verbänden [darunter auch Gotha] halten zu den aktiv in den Versorgungsgruppen und -gemeinschaften mitarbeitenden Parteifreunden engen Kontakt und nutzen deren Erfahrungen für die politische Arbeit der Vorstände«.63 Auf dieser einfachen Netzwerkbasis in die Betriebe hinein konnten Ziele der LDPD, wie beispielsweise die Unterstützung des sogenannten sozialistischen Massenwettbewerbs, die Leistungssteigerung in der Bevölkerungsversorgung oder die Gewinnung neuer Mitglieder aus dem Bereich des Handwerks und Gewerbes, vorangetrieben werden.64 Ein Bäckermeister aus Gotha gab d arüber hinaus ein gutes Beispiel bezüglich der erwünschten Leistungssteigerung: Er unterstützte mit seinem Betrieb die Schaffung einer Brotreserve, organisierte eine kontinuierliche Umverteilung für ein ganztägiges Angebot und bot Unterstützung an für neue Berufskollegen.65 Eine für die Mitglieder selbst sehr wichtige Funktion dieser Kooperationen war der Erfahrungsaustausch zwischen den Gewerbetreibenden, hauptsächlich zur Versorgungssituation im Kreisgebiet.66 Des Weiteren bestanden Möglichkeiten der Verflechtung mit dem Staat oder gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen. Diese Verbindungen wurden aktiv gefördert und bei Zustandekommen gelobt.67 Schon 1969 wurde in einem Bericht konstatiert, dass die Wirksamkeit der LDPD im Gebiet der ÖVW vor allem durch einzelne Parteimitglieder in den entsprechenden staatlichen
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Kommission ÖWV/H des BV Erfurt, Bericht von 1970 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32803, unpag.). Vgl. z. B. KV Gotha an BV Erfurt, Endauswertung der Wettbewerbe vom 5.5.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.). Vgl. auch KV Gotha an BV Erfurt, Kurzeinschätzung der KAT vom 9.3.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.); Kreisrevisionskommission des KV Gotha, Bericht zur Kreisdelegiertenkonferenz vom 19.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 65 Vgl. BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 14. Unsere Mitwirkung bei der bedarfsgerechten Entwicklung der Dienst-, Reparatur- und Versorgungsleistungen vom 8.8.1977 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1168, unpag.). 66 Vgl. dazu z. B. Arbeitsplan Kommission ÖVW/H des KV Gotha vom 23.6.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 67 Kommission ÖWV/H des BV Erfurt, Bericht von 1970 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32803, unpag.).
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oder wirtschaftsleitenden Funktionen gegeben war. Dazu wurden als Beispiele die Funktionen als Staats- und Wirtschaftsfunktionäre, Volksvertreter oder Betriebsleiter genannt.68 Ein konkretes Beispiel für eine gute Verflechtung war die PGH »Bau« Sonneborn, die ein Patenbetrieb des Kreisbauamtes und deren Vorsitzender ein Parteimitglied war; die Zusammenarbeit lief laut Bericht »gut«.69 Eine ebenso gute Zusammenarbeit wurde im selben Bericht einem anderen Parteimitglied nachgesagt, das als Mitglied des PGH-Rates der PGH »Ausbau« Finsterbergen häufig mit dem Referat Handwerk des Rats des Kreises sowie mit dem Kreisbauamt und der Handwerkskammer kooperierte. Zusätzlich waren im Untersuchungszeitraum 1964 bis 1982 in den betrachteten Akten rund ein Viertel der aktiven Mitglieder in staatlichen Funktionen tätig; darunter fallen Abgeordnete und Nachfolgekandidaten im Bezirkstag Erfurt, Mitglieder in Ständigen Kommissionen des Bezirkstags Erfurt (in den Kommissionen ÖVW, Bau- und Wohnungswesen, Finanzen und Preise sowie Jugendfragen/Körperkultur/Sport, darunter auch ein Kommissionsvorsitzender), mehrere Funktionen im Rat des Kreises Gotha sowie sechs Bürgermeister, darüber hinaus Ratsmitglieder im Rat der Stadt. Dadurch konnten die oben erwähnten lokalpolitischen Themen der LDPD in die staatlichen Einrichtungen getragen werden,70 umgekehrt wurde die staatliche Ideologie in die LDPD-Einheiten hineingetragen. Die Verbindungen in die Gruppen der Nationalen Front wurden bereits erwähnt. Allein die Zusammenarbeit mit der Kreisleitung der SED scheint erst gegen Ende der 1970er-Jahre enger und besser geworden zu sein. Jedenfalls wird in einem Situationsbericht von 1977 noch bemängelt, dass bezüglich der »Wirksamkeit der Parteivorstände« die »Zusammenarbeit mit den Kreisleitungen der SED« z. B. im Kreis Gotha noch Nachholbedarf hätte.71 Hier ging es jedoch nur um die persönliche Verbindung zu den SED-Mitgliedern bzw. der Kreisleitung. Der obligatorische Informationsfluss von LDPD zu SED war immer gegeben. Zudem 68
Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzen trationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Ein weiterer Bericht bestätigte »ernsthafte Versuche des verbesserten Zusammenwirkens von Nationaler Front, örtlichen Staatsorganen und Betrieben« durch Betriebsleiter aus der LDPD. Winkler, Arbeitsauftrag Nr. 3 für den KV Gotha vom 27.12.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.). 69 KV Gotha an BV Erfurt, Bericht über Operativen Einsatz vom 29.5.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 22393, unpag.). 70 Vgl. z. B. Winkler, Bericht über den Operativen Einsatz im KV Gotha vom 17.1.1964 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.). 71 BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 14. Unsere Mitwirkung bei der bedarfsgerechten Entwicklung der Dienst-, Reparatur- und Versorgungsleistungen vom 8.8.1977 (ADL, LDPD, Sekretariate ZV, L7-1168, unpag.). Vgl. zudem BV Erfurt, Situationsbericht 19/71 vom 19.8.1971 (ADL, LDPD, Abt. Parteivorstände, L8-1260, Bl. 47–52); BV Erfurt, Situationsbericht Nr. 6/68 vom 29.3.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.).
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durfte auch die Verbindung zur MfS-Kreisdienststelle Gotha nicht fehlen – sie stand des Öfteren auf dem Abschriftenverteiler etwa von Protokollen und war damit stets informiert.72 Die Verbindungen zu den staatlichen Behörden und zur SED waren durch das vorhandene Machtgefälle von Systempartei zu Blockpartei asymmetrisch geprägt.73 Durch die starke Verflechtung der LDPD in das Milieu der individuellen Gewerbetreibenden hinein konnte sie jedoch trotz schwächerer Position mutmaßlich noch ausreichend Vorteile – Informationsbeschaffung und -verbreitung – für staatliche Behörden und die SED generieren.74 Ein großer Teil der persönlichen Verbindungen in verschiedene Richtungen lief bei der Kommission ÖVW/H des Kreisvorstandes zusammen. Sie war die einzige Kommission mit relativ kontinuierlicher Arbeit. Diese gute Arbeit b edingte das wachsende Netzwerk, was wiederum eine ausgeprägte Nutzung des Netzwerkes nach sich zog. 1976 etwa waren alle Mitglieder der Kommission gleichzeitig Mitglieder der Arbeitsgruppe Handwerk/Gewerbe im Kreisausschuss der N ationalen Front Gotha. Zusätzlich war der Kommissionsvorsitzende Mitglied im Bezirksvorstand, ein weiteres Mitglied sogar Angehöriger des Z entralvorstandes der LDPD. Beide hatten, einer als Leiter der PGH »Modezentrum« Gotha und der andere als Vorsitzender der PGH des Kraftfahrzeug-(Kfz-)Handwerks Gotha sowie als Obermeister der Versorgungsgruppe Kfz Gotha, gute Verbindungen zu anderen Handwerkern und PGH-Vorsitzenden.75 Insgesamt wurden die Verbindungen sehr aktiv und akkurat gepflegt. Waren Mitglieder einer Arbeitsgruppe oder Kommission nicht nützlich für die oben genannten Ziele, wurden Vorkehrungen getroffen, diese Kader »neu zu ordnen«. Ein Beispiel sind die Parteibeauftragten der LDPD für den Kreisausschuss der Nationalen Front Gotha: Hier wurde deren Inaktivität sogar vom Kreissekretariat der Nationalen Front gerügt. Daraufhin wurde eine neue Liste an Parteibeauftragten zusammengestellt und umgesetzt.76
72 Vgl. z. B. KV Gotha, Bericht an Kreissekretariat der NF [Nationalen Front] vom 14.9.1964 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24626, unpag.). 73 Alf Lüdtke spricht deshalb auch von einem »Kräftefeld«, das eine »einfache Zweipoligkeit« vermeidet. Zwar gibt es Beherrschte und Herrschende, aber auch viele weiteren Ebenen, Abstufungen und Abhängigkeiten. Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis. In: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63, hier 13. 74 Vgl. insgesamt zum Herrschaftsverhältnis zwischen LDPD und SED auf Bezirksebene Pohlmann, Zusammenarbeit. 75 Vgl. Kreisrevisionskommission des KV Gotha, Bericht zur Kreisdelegiertenkonferenz vom 19.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 76 Vgl. dazu Kreissekretär KV Gotha, Brief-Vorlage vom 4.6.1968 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24626, unpag.); Kreissekretär KV Gotha, Bekanntgabe vom 30.5.1968 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24626, unpag.).
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IV. »Opposition« und Eigensinn Aktives widerständisches Verhalten der Mitgliederschaft der LDPD Gotha ist in den Parteiakten nicht zu finden. Es gibt keine Anzeichen, die darauf schließen lassen, dass in der LDPD nach der Gleichschaltung zu Beginn der 1950er-Jahre oppositionelle Ansätze im Sinne von Widerstand gegen das System der DDR77 existierten. Nichtsdestotrotz sind – trotz der zahlreichen und engmaschigen parteiinternen Kontrollen – an einigen Stellen Konflikte bzw. Abweichungen zu den Vorgaben erkennbar, die man unter dem Begriff des Eigensinns f assen kann. »Eigensinn« bezeichnet einen Komplex von Verhaltensstrukturen von Menschen, sich in einem totalitären System zurechtzufinden, ohne sich bipolar in eine der beiden extremen Gruppen der totalen Unterwerfung und der Opposition einzuordnen.78 Es geht dabei nicht darum, die Herrschaftsstrukturen zu überwinden, sondern sie sich ein Stück weit anzueignen und dem Alltag anzupassen. Bezogen auf die DDR formuliert Andreas Ludwig, es ginge um Verhaltensweisen wie »›Durchwurschteln‹ und Ausnutzen, Anpassen und Verweigern«, mit denen »die Normierung des alltäglichen Lebens geduldet oder ausgehebelt wurde, ohne dass darüber eine Übereinkunft über grundsätzliche Ziele der Gesellschaft notwendig scheitern musste«.79 Bei der LDPD Gotha fallen also verschiedene Arten der Kritik auf, die nicht in den radikalen Bereich der Opposition bzw. des Widerstands fallen, sondern in den breiten Bereich des Eigensinns eingegliedert werden müssen. Dies traf zum einen auf die offene, nicht versteckte Kritik der Parteimitglieder an Staat oder SED zu. So wurden der Rat der Kreises Gotha und seine wirtschaftsleitenden Organe 1969 recht ungeschönt für ihre »quantitativen Versäumnisse in der Anleitung«80 bezüglich der Jahreshauptversammlungen im Handwerk sowie 77 Damit folgt die vorliegende Untersuchung der engeren Definition des Begriffs »Opposition«, die nur »aktive, bewusste und organisierte Versuche zur Unterminierung des Regimes« beinhaltet. Vgl. dazu und zum allgemein problematischen Begriff der »Opposition« Corey Ross, Grundmerkmal oder Randerscheinung? Überlegungen zu Dissens und Opposition in der DDR. In: Deutschland Archiv, 35 (2002) 5, S. 747–760 und Ehrhart Neubert/Peter Eisenfeld (Hg.), Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001. 78 Der Begriff wurde maßgeblich von Alf Lüdtke geprägt und von Ralph Jessen sowie Thomas Lindenberger aufgegriffen. Vgl. Alf Lüdtke, Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153; Ralph Jessen, DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie. In: Berliner Debatte Initial, 5 (1995) 4, S. 17–24; Thomas Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. 79 Andreas Ludwig, Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999, S. 8. 80 Kommission ÖVW/H im BV Erfurt, Anteil unserer Vorstände an der Förderung des Konzen trationsprozesses in der ÖVW durch die Bildung von Versorgungsgruppen unter Einbeziehung
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egen mangelhafter Lösungsansätze bezüglich des Aufbaus von Versorgungsw gruppen im Handwerk kritisiert – in einem Bericht, auf dessen Verteiler auch die Bezirksleitung der SED Erfurt sowie der Rat des Bezirks Erfurt standen. Hier wird allerdings deutlich, was sich durch alle Kritik der LDPD Gotha zog und was sie von einer tatsächlichen Opposition abgrenzt: Zwar wurden einzelne Aspekte im sozialistischen Staat gerügt (hier: die administrative Organisation und schlechte Argumentation), jedoch niemals das sozialistische System an sich angezweifelt. So wurde also nicht kritisiert, dass die Organisation der Handwerker überhaupt staatlich begleitet und vorgegeben wurde, sondern lediglich die schlechte Arbeit der staatlichen Behörden.81 Zwar tauchen durch den Untersuchungszeitraum hindurch immer wieder kritische Diskussionen auf Parteiveranstaltungen auf, die zumeist die mangelhafte Versorgungslage oder Probleme bei der Produk tivitätssteigerung zum Inhalt hatten,82 doch auch hier gilt wieder: keine allumfassende, direkte Systemkritik, sondern lediglich die Beschäftigung mit kleineren, lokalen Problemen – und damit Eigensinn. 1976 ging es beispielsweise um eine gerechtere Verteilung des mengenmäßigen Angebots von Getränken oder um die von den LDPD-Mitgliedern als ungerecht empfundene Bevorzugung der Stadt Erfurt bezüglich der Versorgung mit Obst und Gemüse. Trotzdem hätte man diese Diskussionen wohl am liebsten unterbunden, denn in einem Bericht des Kreisverbandes Gotha an den Bezirksverband Erfurt wurde Unwillen darüber ausgedrückt, dass die Diskussionen von Parteifreunden »geschickt eingefädelt«83 – also eigensinnig gegen den eigentlichen Willen der Sitzungsleitung auf den Tisch gebracht wurden. Auch die Verbesserungsvorschläge, die von der LDPD Gotha an die SED geschickt wurden, können vordergründig als Kritik gewertet
des Handwerks in Wettbewerb zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR vom 15.4.1969 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). Der Bericht taucht auch in der Akte Vorschläge ÖVW an BL SED u. Rat des Bezirks 1968–1989 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 27358) auf. Kritik an der Arbeitsmoral in staatlichen Ämtern und Betrieben gab es auch 1976. Vgl. KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 5.3.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 81 So wurden auch 1968 die großen Vorbehalte der LDPD-Handwerker gegenüber der Gemeinschaftsarbeit bzw. Versorgungsgruppenarbeit auf die zu schlechte Werbung für dieselbe zurückgeführt und nicht die Gemeinschaftsarbeit an sich kritisiert. Vgl. Kommission ÖVW/Handwerk des BV Erfurt, Einschätzung unserer Mitwirkung an der weiteren Entwicklung von Kooperationsbeziehungen der Betriebe aller Eigentumsformen und der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit bei der Entwicklung der ÖVW zu einem leistungsfähigen Zweig unserer Volkswirtschaft vom 10.6.1968 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 27358, unpag.). 82 Vgl. z. B. Winkler, Arbeitsauftrag Nr. 3 für den KV Gotha vom 27.12.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.); KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 5.3.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.); KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 4.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 83 KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 4.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 84 Vgl. dazu »Prinzip der Kritik und Selbstkritik«. In: Wolf, Sprache, S. 181.
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werden. Allerdings blieben auch diese Vorschläge, wie bereits genannt, innerhalb der vorgegebenen, sozialistischen Ideologie und waren damit im Rahmen des Prinzips der Kritik und Selbstkritik84 legitim bzw. vielmehr erwünscht. Dieser Freiraum wurde der LDPD wie auch den anderen Blockparteien systematisch zugestanden, um Fehlentwicklungen besser entgegenwirken zu können. Die LDPD wurde somit bewusst als Sprachrohr zur »Weiterleitung von Alltags- und Praxis erfahrungen« genutzt.85 Neben dieser »Kritik« am Staat bzw. an einigen staatlichen Vorgehensweisen gab es vereinzelt auch kritische Stellungnahmen über die eigene Parteistruktur und -arbeit. So waren 1976 bezüglich des Spendenaufrufes in Vorbereitung des 12. LDPD-Parteitages einige Mitglieder der Meinung, dass insgesamt zu v iele verpflichtende Spendenaufrufe in den Massenorganisationen existierten. Sie wollten dagegen selbst entscheiden, wann, wie viel und für welchen Zweck sie spenden.86 Im Jahr 1972 musste sich die LDPD von den Mitgliedern, die Komplementäre waren, die Frage gefallen lassen, wieso ausgerechnet die LDPD die Verstaatlichung vieler Betriebe zur Sprache brachte. Dies ist jedoch nur sporadisch auszumachen. Eine generelle Auflehnung gegen diese Politik ist nicht zu finden und lässt sich auch nicht an den Mitgliederzahlen ablesen.87 Neben der erwähnten Kritik umging man im Kreisverband Gotha teilweise durch einfaches Nichtstun die Vorgaben der Partei und des Staates, sich aktiv für die Verbesserung der Lebensumstände einzusetzen.88 Die recht schlechte Teilnahmemoral bei Mitgliederversammlungen, insbesondere in den Grund einheiten, sowie die häufige Kritik durch den Bezirksverband daran wurden oben bereits erwähnt, ebenso der angemahnte »Nachholbedarf« bei der Zusammen arbeit mit der SED. Die Stagnation in der Aktivität war so gravierend, dass man 1976 von einem allgemeinen Kaderproblem sprach.89 Als Gründe für diese Inaktivität wurde von offizieller Seite zum einen die anstrengenden Berufe der Mitglieder angeführt, weshalb diese Mitglieder abends lieber ihre freie Zeit genossen, anstatt sich dort nochmals mit wirtschaftlichen Themen zu beschäftigen.90
85 Pohlmann, Zusammenarbeit, S. 365. Außerdem erscheint »aus Sicht des Systems die Gewährung von Freiräumen für ›eigensinnige‹, begrenzt partizipatorisch ausgerichtete Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene weniger risikoreich, da räumlich begrenzt und eher beherrschbar«. Bernhardt/Reif, Herrschaft, S. 301. 86 KV Gotha, Situationsbericht vom 6.7.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 87 Vgl. Kellner, Kurzbericht über Kreisarbeitstagung/Jahreshauptversammlung vom 6.3.1972 (ADL, LDPD, BV 25529, unpag.). 88 Vgl. z. B. Kreisrevisionskommission des KV Gotha, Bericht zur Kreisdelegiertenkonferenz vom 19.6.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). 89 Vgl. ebd. 90 Vgl. KV Gotha, Situationsbericht vom 11.5.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.); KV Gotha, Berichterstattung lt. BV-Plan vom 5.1.1976 (Ziff. 3) vom 5.3.1976 (ADL, LDPD, BV
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Mit Sicht auf die Akten kann hier jedoch vor allem auf den Eigensinn geschlossen werden, sich mit einer Mitgliedschaft oder gar einem Amt in einer Blockparteivor der Pflicht zur gesellschaftlichen Beteiligung in der SED oder anderen sozialistischen Initiativen sicher zu fühlen. Ein Indiz für diese fehlende Identifizierung mit der Partei ist das häufige unentschuldigte Fehlen vor allem von Vorstandsmitgliedern.91 Als Folge hing zunächst das (zahnlose) Gespenst der »Parteistrafen« über Kritikern oder Untätigen. Diese Disziplinarmaßnahmen waren in der Parteisatzung festgelegt und beinhalteten je nach Schwere des Verstoßes einen Verweis, eine Rüge oder einen Parteiausschluss.92 Die tatsächliche Verhängung einer Parteistrafe auf ein Mitglied ist jedoch nicht bekannt. Hauptsächlich war eine vermehrte Kontrolle die Folge der oben erwähnten Abweichungen – häufig wurde sie durch den Begriff der »gezielten Unterstützung durch den Bezirksverband« verharmlost.93 Weiterhin konnte insbesondere Untätigkeit eine Neubesetzung der Gremien und Posten nach sich ziehen oder hatte recht uninspiriert »persönliche Gespräche« mit den Inaktiven zur Folge.94 Durch loyale Parteimitglieder (hauptsächlich aus den Vorständen) wurde außerdem versucht, inhaltliche Kritik direkt zu entkräften. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion auf der Mitgliederversammlung einer Grundeinheit 1976 zur Frage, wie lang die staatlichen Subventionen von Preisen und Tarifen noch funktionieren könne. Der Gesprächsleiter versuchte anschließend, die Sorgen der Diskutanten durch die Nennung der allgemeinen sozialistischen Maßnahmen bezüglich dieses Problems (Preisstabilität durch ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität, Qualitätsarbeit und mehr) zu zerstreuen.95 Allerdings werden in Berichten und Protokollen des Kreisverbandes Gotha insgesamt wirtschaftspolitische Entwicklungen und Entscheidungen des SED- Erfurt, 32746, unpag.); Winkler, Bericht über den Einsatz im KV Gotha vom 4.10.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.). 91 Vgl. z. B. Winkler, Bericht über den Einsatz im KV Gotha vom 4.10.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.); Winkler, schematischer Berichtsbogen vom 23.8.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.); Winkler, Bericht über den Operativen Einsatz im KV G otha vom 17.1.1964 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.) sowie allg. Protokolle KV-Sitzungen 1963– 1965 (ADL, LDPD, KV Gotha, 24637). 92 Vgl. Lapp, Parteien, S. 194 f. 93 Vgl. BV Erfurt, Situationsbericht 17/76 vom 10.6.1976 (ThHStAW, Zusammenarbeit des Bezirkssekretariats mit den Parteien im Bezirk Erfurt Nr. 195, Bl. 38–41); Kommission ÖVW/H des BV Erfurt, Stand der Verwirklichung der Parteibeschlüsse zur Unterstützung der Örtlichen Versorgungswirtschaft vom 14.11.1966 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.). 94 Vgl. z. B. Kellner, Kurzbericht über Kreisarbeitstagung/Jahreshauptversammlung vom 6.3.1972 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.). 95 Vgl. KV Gotha, Situationsbericht vom 11.5.1976 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 32746, unpag.). Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1964: Aussprache mit Parteifreund Köster vom 19.8.1964 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 25529, unpag.).
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Staates mehr gelobt als kritisiert96 – ein Indiz dafür, dass ein offensiver, auch von Außenstehenden erkennbarer Eigensinn im LDPD-Kreisverband Gotha nicht vertreten war.
V. Schlussfolgerungen Obwohl nur ein kleinerer Teil der LDPD-Mitglieder im Bereich der ÖVW und des Handwerks sowie Gewerbes tätig war, bewegte sich ein großer Teil der politischen Themen im Kreisverband Gotha auf genau diesen Feldern. Dies lag hauptsächlich an der von der SED vorgegebenen Ausrichtung der LDPD. Nichtsdestotrotz bewirkten auch die persönlichen Interessen der aktiven Parteimitglieder, die größtenteils aus dem Kontext von Handwerk, PGH und VEB und damit aus dem Bereich der Versorgungs- und Reparaturwirtschaft kamen, eine intensive Hinwendung zu diesbezüglichen Themen. Aus dieser Themen- und Personenkonzentration heraus entstand schließlich auch eine dichte Vernetzung im politisch-ökonomischen Bereich, die sehr stark auf persönlichen, inoffiziellen Verbindungen zwischen wirtschaftsleitenden Organen, staatlichen Einrichtungen und Volksvertretungen und des Vorstands der LDPD Gotha sowie seiner Kommission ÖVW/H beruhte. Durch die berufliche Verankerung der meisten aktiven LDPD-Mitglieder im ökonomischen Bereich, sei es als VEB-Betriebsleiter oder PGH-Vorsitzender, konnte eine gewisse Kompetenz in diesen Themenfeldern herausgebildet werden. Diese Kompetenz half der LDPD, sich in politische Prozesse, beispielsweise in die Ausgestaltung des Reparaturwesens, einzumischen, eigene Ideen einzubringen und teilweise umzusetzen. Trotzdem blieb das politische Gewicht der LDPD beschränkt. Zum einen, da die Personenanzahl von LDPD-Mitgliedern in den Gremien der anderen Kräfte im Kreis, etwa die Ausschüsse der Nationalen Front oder den Arbeitsgruppen im Kreistag, für eine wirklich regelmäßige Zusammenarbeit zu gering war. Zum anderen auch, weil die Beschäftigung mit objektiven Lösungen für gesellschaftliche Probleme nur einen Teil der Parteiarbeit ausmachte. Weitaus größere Kapazitäten nahm die massenhafte Kontrolle der Mitglieder, Dokumentation und Bewertung aller Veranstaltungen und Vorgehensweisen der Partei – die Selbstbeschäftigung – im Verband ein. Auch die operative Koordination unzähliger Veranstaltungen, wie die Mitgliederversammlungen allgemein, Jahreshauptversammlungen sowie Jahreshauptversammlungen im Handwerk, Spendensammlungen, Mitgliederwerbung 96
Vgl. z. B. BV Erfurt, Situationsbericht 19/71 vom 19.8.1971 (ADL, LDPD, Abt. Parteivorstände, L8-1260, Bl. 47–52); Kommission ÖVW/H des BV Erfurt, Stand der Verwirklichung der Parteibeschlüsse zur Unterstützung der Örtlichen Versorgungswirtschaft vom 14.11.1966 (ADL, LDPD, BV Erfurt, 30684, unpag.).
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und Kontrollbesuche bei Parteimitgliedern, hielten die Partei – vielleicht sogar hochwillkommen? – von inhaltlicher Arbeit ab. Insgesamt stützte die Kreisverbandsarbeit der LDPD das SED-Regime. Durch die Mitarbeit und Verbesserung der Arbeit im Bereich der ÖVW kümmerte sie sich um Lösungsvorschläge bei den drängendsten Versorgungsproblemen und sorgte mit der aktiven Rekrutierung ihrer Mitglieder für Arbeitsprogramme und Wettbewerbe der Gemeinden für eine Beteiligung der LDPD an der Beseitigung der schlimmsten Mängel im öffentlichen Raum. Damit leistete sie einen Beitrag zur Dämpfung der Unzufriedenheit der Menschen, was wiederum das Herrschaftssystem stärkte. Auch die vollständig fehlenden oppositionellen Ansätze sowie das ausgeprägte Kontrollsystem beförderten den Herrschaftsanspruch der SED. Als einzigen Widerspruch leistete man sich den Rückzug in die Inaktivität. Verbesserungsvorschläge und leichte Kritik bewegten sich innerhalb der Systemgrenzen des Sozialismus. Darüber hinaus sorgten viele aktive Parteimitlieder aus den PGH und VEB in ihren Betrieben für eine akribische Umsetzung der staatlichen Wettbewerbsprogramme und eine Übererfüllung der Volkswirtschaftspläne. Die immer weiter anwachsende Notwendigkeit der lokalen Verwaltung, Politik und Wirtschaft zur Improvisation, insbesondere im Bereich der Versorgungs- und Reparaturleistungen, hätte zwar möglicherweise Handlungsspielräume eröffnen können. Die Nutzung eines solchen Handlungsspielraums für eine eigenständige, nicht nur eigensinnige Politik ist jedoch nicht erkennbar. Gewiss durfte es offiziell keine Gegenposition zum Sozialismus geben, doch auch zwischen den Zeilen ist nichts Derartiges zu konstatieren. Die Parteimitgliedschaft scheint meist aus zwei Gründen abgeschlossen worden zu sein – zum einen aus der Notwendigkeit heraus, einer Partei beizutreten, um der SED zu entgehen (eigensinniges Verhalten), zum anderen aus Hoffnung auf Unterstützung und Vernetzung im wirtschaftlichen Bereich. Die Maßregelung oder der Ausschluss von Parteimitgliedern aus Gründen einer oppositionellen Haltung heraus findet sich nicht in den Akten. Für eine weitergehende Untersuchung des Themas wäre ein Vergleich mit anderen Kreisverbänden der LDPD sowie mit der Verbandsarbeit in der SED und den anderen Blockparteien zentral. Nur so können belastbare Aussagen über LDPD-spezifische Verhaltensweisen und Politikstile getroffen werden und somit mögliche Alleinstellungsmerkmale oder deren Nichtexistenz festgestellt werden. Auch eine detaillierte methodisch-vergleichende Analyse und abstufende Bewertung von Eigensinn im Kreis Gotha ist notwendig.
Thomas Widera
Zentralismus und Disziplinierung: Die Kaderarbeit in der LDPD
Personalpolitik betrieb die LDPD wie die SED als Kaderpolitik zu dem Zweck, ideologisch zuverlässige Personen in verantwortliche Positionen zu bringen. Ganz im Sinne Stalins ging es in der Kaderarbeit um die Rekrutierung und Ausbildung von »Menschen, die die politische Linie der Partei verstehen, die diese Linie als ihre eigene betrachten, die bereit sind, sie in die Tat umzusetzen, […] für sie zu kämpfen«.1 Anfänglich kannte die Kaderarbeit der LDPD ein einziges Instrument zur Durchsetzung der Kaderpolitik: die Säuberung. Die Unter-Druck-Setzung und Entfernung politisch nicht konformer Funktionäre besorgte zunächst die sowjetische Besatzungsmacht und, wie die Verhaftungen von Karl Hamann 1952 und Kurt Wünsche 1953 zeigten, nach ihr die SED in gleicher Art und Weise.2 Insbesondere die Verhaftung des bekannten und unbescholtenen Parteivorsitzenden Hamann unter absurden Anschuldigungen wirkte als Fanal für die in den 1950er-Jahren forcierte Selbstgleichschaltung der Partei.3 Der Verhaftung Hamanns im Dezember 1952 folgte am 15. Januar 1953 die Inhaftierung des DDR-Außenministers Georg Dertinger von der CDU;4 die z eitliche Nähe des Vorgehens gegen ranghohe Politiker der Blockparteien mag Zufall sein, 1 2
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Wolfgang-Uwe Friedrich, Kaderpolitik als totalitäres Herrschaftsinstrument – Das Nomenklatursystem der DDR. In: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.), Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis, Berlin 1998, S. 169–185, hier 174 f. Ende 1952 wurde der LDPD-Vorsitzende Karl Hamann unter falschen Anschuldigungen festgenommen, unter Hinweis darauf wird in der Forschung von einer seitdem angepassten LDPD-Führung, »ein willfähriges Instrument der kommunistischen Machthaber«, gesprochen. Vgl. Gerhard Papke, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Blockparteien – Die LDPD. In: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band II/4, Frankfurt a. M. 1995, S. 2399–2463, hier 2423 f. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Opfer der eigenen Politik? Zu den Hintergründen der Verurteilung von Minister Karl Hamann (LDPD). In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 16 (2004), S. 221–271. Vgl. Peter Joachim Lapp, Georg Dertinger. Journalist – Außenminister – Staatsfeind, Freiburg i. Brsg. 2005.
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in der LDPD und in der CDU wurde dies als gezielter innenpolitischer Terror wahrgenommen. Verfolgung und Verleumdung von außen, Einwirkung von SED-Instanzen, nicht zuletzt Opportunismus, Ehrgeiz und Machtstreben von LDPD-Funktionären bewirkten die Ausschaltung widerstrebender Mitglieder aus den Führungsgremien. Schließlich etablierte sich in der LDPD zur Durchsetzung zentralistischer Prinzipien5 und innerparteilicher Disziplinierung die parteieigene Kaderarbeit. Oft und eingehend wurde die in den 1950er-Jahren wachsende Kluft zwischen Basis und Führung der LDPD beschrieben.6 Den gegenläufigen Prozess der inneren Transformation und Einbindung weiterer Parteikreise in die auf den Kurs der SED verpflichtete LDPD-Politik nahm die Forschung indessen wahr, ohne den kausalen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stufen und Schritten herzustellen. Die Einschwörung auf die Parteilinie bewerkstelligten die von der Parteizentrale in ständig wachsender Zahl entsandten Kontrolleure und Instrukteure. Zwar missglückte die Mission der 1952 noch vor der Verhaftung Hamanns etablierten »Zentralen Überprüfungskommission« der LDPD, doch auch andere Versuche der zentralen Kontrollgremien, systematisch ihren Wirkungsbereich zu erweitern, kamen nicht im gewünschten Tempo voran. 1953 musste sogar der Parteitag der LDPD verschoben werden, weil sich die Überprüfung der Delegierten und Kandidaten länger als geplant hinzog. Die in den 15 Bezirken der DDR eingesetzten Kommissionen scheiterten an der schieren Zahl von 2 000 Kandidaten für die Vorstände in diesen unteren Einheiten.7 Die unter Führung der SED in der DDR existierenden Parteien sollten bei ihren Mitgliedern und Zielgruppen das sozialistische Bewusstsein stärken, sie zu praktischen ökonomischen und gesellschaftlichen Leistungen anspornen und in das politische System einbinden. Deswegen stand im Vordergrund der LDPD-Kaderarbeit die ideologische Fixierung ihrer Mitglieder auf die Führungsrolle der SED.8 Doch ab wann entwickelte sich der LDPD-Parteiapparat
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Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Der demokratische Zentralismus. Herrschaftsprinzip der DDR, Bonn 1984. Vgl. Jürgen Frölich, Zur Verfolgung von Liberaldemokraten in der SBZ und DDR bis 1961. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 12 (2000), S. 215–228; Ekkehart Krippendorf, Die Liberaldemokratische Partei Deutschlands in der sowjetischen Besatzungszone 1945/48, Düsseldorf o. J. [1961]; Jürgen Louis, Die Liberal-Demokratische Partei in Thüringen 1945–1952, Köln 1996; Ines Soldwisch, »Etwas für das ganze Volk zu leisten und nicht nur den Zielen einer Partei dienen …«. Geschichte der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in Mecklenburg 1946– 1952, Berlin 2007; Johannes Zeller, Pluralismusfiktion mit unpolitischer Parteienexistenz. Drei Etappen der Gleichschaltung der LDP in den Jahren 1948 bis 1950, dargestellt am Beispiel des Landesverbandes Sachsen-Anhalt, Hamburg 2014. Vgl. Ulf Sommer, Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter Führung der SED, Münster 1996, S. 140–148. Vgl. Papke, Die LDPD, S. 2461.
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zu einem wirkungsvollen Anleitungs- und Kontrollinstrument? Begann mit dem Austausch zahlreicher Bezirks- und Kreisfunktionäre, mit den Brigadeeinsätzen in den Bezirken und mit dem 1958 abgeschlossenen Umtausch der Mitgliedsausweise die Umgestaltung?9 Diese Maßnahmen bewirkten keine Ruhigstellung der Parteibasis, die sich die SED-Führung wünschte, sondern nur das Niederhalten und die Unterdrückung des Protests. Die LDPD-Führung verfehlte die Transformationsziele, weitere Anläufe folgten. Die Kaderrichtlinie von 1958 veranlasste eine erste umfassende Kaderanalyse mit einem verheerenden Befund. Sie legte in aller Deutlichkeit die desolate politisch-ideologische Verfassung an der Parteibasis offen.10 Die daraufhin vorgenommene Implementierung der kaderpolitischen Regularien, die den stalinistischen Prinzipien der SED entsprachen, erfolgte ohne intervenierende Diskussion und ohne jeden Einspruch vonseiten der liberaldemokratischen Parteiführung. Der Politische Ausschuss bestätigte den vorgelegten Entwurf zur Kaderarbeit und erhob die Vorlage zur Norm. Eine durchschlagende Änderung blieb abermals aus. Das Durchsetzungsvermögen zentraler Direktiven schwächte sich in Richtung der Parteibasis weiterhin erheblich ab. Mitgliedschaft und periphere Apparate verfügten über Beharrungskräfte. Insofern bildete die Übernahme der Bezirksvorsitzenden in den hauptamtlichen Parteidienst 1959 und die Schaffung weiterer bezahlter Mitarbeiterstellen in den folgenden Jahren ein wichtiges Element der Zentralisierung von Parteistrukturen. Festzuhalten bleibt, dass die LDPD-Kaderabteilung 1958 mit Inkrafttreten der Richtlinie zur Kaderarbeit11 die zentralistischen Ansprüche der Parteiführung durchsetzen wollte und danach strebte, in der Kaderpolitik wirkungsvolle Instrumente zur ideologisch-linientreuen Ausrichtung des Parteiapparates und zur Disziplinierung der Mitglieder auszuformen. Erstmals wurde die Notwendigkeit einer systematischen Kaderarbeit, die von da langsam ins Bewusstsein der leitenden Parteifunktionäre vorrückte, anerkannt. Das Resultat aber war nur eine Bestandsaufnahme. Die aus den Bezirksverbänden eingehenden Berichte lieferten das Material für den konzentrierten Vorstoß 1959: Beschlüsse der V. Konferenz der LDPD-Parteibeauftragten im April autorisierten die weitere Initiative der Kaderabteilung im Sekretariat des Zentralvorstandes.12 9 10 11 12
Vgl. Sommer, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, S. 209–224. Vgl. Die kaderpolitische Arbeit der Partei in Auswertung der V. Konferenz der Parteibeauftragten, Referat Geys in der Sitzung des Politischen Ausschusses am 7.7.1959 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-68, Bl. 5–39, hier 19, 21–27 und 39). Vgl. Beschluss des PA zur Richtlinie für die Arbeit mit den Kadern der LDPD, Sitzung des Politischen Ausschusses am 4.3.1958 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-54, Bl. 21 f.). Vgl. Entschließungsentwurf zur Verbesserung der Kaderarbeit in Auswertung der V. Konferenz der Parteibeauftragten, Vorlage für die Sitzung des Politischen Ausschusses am 7.7.1959 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-68, Bl. 45–48).
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Mit der Einrichtung von Bezirksparteischullehrgängen führte die Konferenz eine wegweisende Neuerung der Kaderschulung herbei.13 Zur ideologischen Formierung waren freilich neben dem Schulungsmaterial gut ausgebildete und rhetorisch überzeugende Funktionäre erforderlich. Darin zeigte sich das entscheidende Problem der LDPD-Kaderpolitik: Politische Mitarbeiter standen absehbar, solange die dramatische Fluchtbewegung von DDR-Bürgern in den Westen anhielt, nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Um die Zäsur des Mauerbaus 1961, die sich deutlich in der Kaderarbeit abzeichnete, geht es zunächst; anschließend um die kaderpolitische Wende 1963/64 – die Systematisierung der Kaderarbeit – sowie kursorisch um ihre anhaltende Wirkung bis 1989. In dieser Konzentration auf das Wesentliche müssen andere wichtige Elemente der Kaderarbeit wie die Ordnung der Nomenklatur, das innerparteiliche Schulungssystem, Bildungszirkel und Bezirksparteischulen, die Zentrale Parteischule der LDPD in Bantikow oder die Mobilisierungsaktionen der Jahreshauptversammlungen und der Umtausch der Mitgliedsbücher ausgespart bleiben.14
Der 13. August 1961 als Zäsur für die LDPD Angesichts der Bedeutung der Kaderpolitik für die SED15 ist es bemerkenswert, dass in der LDPD die zielgerichtete Arbeit mit den Kadern vergleichsweise spät einsetzte. 1961 verfügte die SED über ein profiliertes System von Kaderarbeit und Kaderschulung,16 um ihre Funktionäre in die Lage zu versetzen, politische Auseinandersetzungen zu führen. Ideologische Überzeugungsarbeit erforderte von den Parteileitungen gefestigte politische Einstellungen, um diese Gewissheiten plausibel an die Mitglieder in den Grundorganisationen weiterzugeben und
13 Vgl. Referat des Generalsekretärs Manfred Gerlach auf dem 8. Parteitag der LDPD. In: Liberal-Demokratische Partei Deutschlands: 8. Parteitag der LDPD, 5.–8. Juli 1960 in Weimar, Berlin 1960, S. 3–66. 14 Zum LDPD-Forschungsprojekt vgl. Thomas Widera, Die LDPD in der DDR als Blockpartei der SED – ein Problemaufriss. In: Ewald Grothe/Jürgen Frölich/Wolther von Kieseritzky (Hg.), Liberalismus-Forschung nach 25 Jahren. Bilanz und Perspektiven, Baden-Baden 2016, S. 97–120. 15 Vgl. Christoph Boyer, Die Kader entscheiden alles … Kaderpolitik und Kaderentwicklung in der zentralen Staatsverwaltung der SBZ und der frühen DDR (1945–1952), Dresden 1997; Gert-Joachim Glaeßner, Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates, Opladen 1977; Rudolf Schwarzenbach, Die Kader politik der SED in der Staatsverwaltung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat in der DDR (1945–1975), Köln 1976. 16 Vgl. Thekla Kluttig, Parteischulung und Kaderauslese in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1946–1961, Berlin 1997.
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öffentlich zu vertreten. Die Bekräftigung und Verfestigung politischer Überzeugungen der Führungskader erfolgte in der politischen Schulung, einem wichtigen Teil der Arbeit mit den Kadern: Kaderarbeit in den Parteien war im Unterschied zur Kaderpolitik, die von der SED-Führung vorgegeben wurde, die »Angelegenheit der jeweils untergeordneten hauptamtlichen Funktionärsapparate«.17 Bis zum Mauerbau bestand die Kaderarbeit der LDPD-Führung aus Anläufen und Absichtserklärungen. Unmittelbar danach entfaltete sie kaderpolitische Aktivitäten in einer zuvor nicht dagewesenen Intensität – eine nicht zu übersehende Radikalisierung der bisherigen Strategie gegenüber dem nachgeordneten Apparat. Doch in der bisherigen Geschichtsschreibung zur LDPD wurde der 13. August 1961 nicht als Einschnitt wahrgenommen.18 Lediglich indirekt trägt die Gesamtdarstellung Ulf Sommers zur Geschichte der LDPD diesem entscheidenden Datum Rechnung. Sein Buch endet mit den Begebenheiten bei der Abriegelung der Berliner Sektorengrenze, ohne das historische Gewicht zu thematisieren, und als ob sich die Entwicklung der LDPD über einen Zeitraum von annähernd 30 Jahren hinweg in einem kurzen Abriss abhandeln ließe.19 Auch eine Darstellung zur Kaderschulung und Personalrekrutierung in der CDU übergeht die politische Bedeutung dieser Zäsur.20 Umgehend ergriff die LDPD-Führung die sich bietende Chance und legte bisherige Hemmungen ab. Das kündigte sich in strukturellen und personellen Veränderungen an. Der Stellvertreter und Vertraute von Generalsekretär Manfred Gerlach, Kurt Wünsche, erhielt umfassende Vollmachten und Weisungsrechte als General-Koordinator aller Aufgaben bei der Gleichschaltung des Apparats. Sein Aufgabengebiet Koordinierung, herausgelöst aus der Abteilung Arbeit der Parteivorstände und direkt in das übergeordnete Büro des Sekretariats des Zentralvorstandes eingegliedert, bekam einen erheblichen Machtzuwachs.21 Zusätzlich zu dem bereits bestehenden Patenschaftssystem in den Bezirksverbänden22 erhielten acht Bezirke aufgrund ihrer als bedenklich eingestuften
17 Kaderpolitik. In: Dieter Dowe/Karlheinz Kuba/Manfred Wilke (Hg.), bearbeitet von Michael Kubina, FDGB-Lexikon. Funktion, Struktur, Kader und Entwicklung einer Massenorganisation der SED (1945–1990), Berlin 2009 (http://library.fes.de/FDGB-Lexikon/; 29.3.2016). 18 Vgl. Jürgen Frölich, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. In: Andreas Herbst/Gerd- Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 311–342, hier 315–321. 19 Vgl. Sommer, Liberal-Demokratische Partei, S. 274–292. 20 Vgl. Martin Rißmann, Kaderschulung in der Ost-CDU 1949–1971. Zur geistigen Formierung einer Blockpartei, Düsseldorf 1995, S. 223–233. 21 Vgl. Strukturveränderung im SdZV, Vorlage vom 14.9.1961 für die Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 19.9.1961 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 32). 22 Vgl. Beschluss 37/60 des Politischen Ausschusses zur ständigen Anleitung der Bezirksvorstände vom 25./26.10.1960 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-83, Bl. 17–19.).
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olitisch-ideologischen Lage ständige Beauftragte des Parteivorstands zugewiep sen. Ihnen sollten jeweils wöchentlich in den gemeinsamen Sitzungen von Sekretär Hans-Joachim Heusinger, der Abteilung Arbeit der Parteivorstände und der Kaderabteilung neue Aufträge erteilt werden.23 Heusinger hatte sich gleich dem späteren Justizminister Wünsche kaderpolitisch profiliert. Er war seit dem 1. August 1959 Sekretär für die Aufgabenbereiche Wirtschaft/Staat, Arbeit der Parteivorstände und Finanzen24 beim Zentralsekretariat der LDPD in Berlin.25 Weitere Beauftragte setzte der Zentralvorstand in sämtlichen Kreisverbänden und in den Stadtbezirksgruppen der Großstadt-Kreisverbände ein.26 Das erklärte Ziel von Inspektionen sowie anderen Maßnahmen bestand darin, den Personalaustausch zu forcieren und Funktionen neu zu besetzen in der Absicht, Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft in den Bezirksvorständen herzustellen.27 Die Abriegelung der Fluchtwege aus der DDR veranlasste eine Abkehr vom weichen Kurs in der Kaderarbeit, als Konsequenzen verbal angedroht, aber oft nicht umgesetzt wurden. Am 19. September 1961 fasste das Sekretariat des Zentralvorstandes einen Beschluss zur »Festigung des Kaderstammes der Partei«, mit dem die LDPD eine personalpolitische Offensive startete. Vorrangig solle es darum gehen, erstmalig eine »gründliche und umfassende Einschätzung des bisher in der Erziehungsarbeit erreichten Standes« vorzunehmen.28 Dabei handelte es sich um eine Überprüfung der politischen Einstellung im Apparat und um einen Schulterschluss mit der SED – ein neuerlicher Versuch, zentralistische Prinzipien im Apparat durchzusetzen und diesen zu mobilisieren. An den Überprüfungsergebnissen von 1962 fallen zwei Punkte auf. Zum Ersten schienen an der politischen Zuverlässigkeit des Personals im Sekretariat und in den Bezirksverbänden weniger Zweifel zu bestehen als an dessen Bereitwilligkeit zum politischen Einsatz. Die Sekretäre sollten mit allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ihres Zuständigkeitsbereiches sprechen und ihnen bei der »Festigung ihrer politischen Haltung und bei der Erhöhung ihrer Einsatzbereitschaft« helfen: Im Mittelpunkt stand die »Haltung der Mitarbeiter zu den 23
Vgl. Vorlage vom 18.9.1961 über die Verbesserung der Leitungstätigkeit, der massenpolitischen Arbeit und des Informationssystems für die Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 19.9.1961 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 19–24). 24 Vgl. Tonbandabschrift vom 30.3.1961 (BStU AZ, MfS AIM 346/63, Band II, Bl. 104–115). 25 Vgl. Treffbericht vom 3.7.1959 (ebd., Bl. 79 f.). 26 Vgl. Entwurf über den Einsatz von Sonderbeauftragten in den Kreisverbänden, Vorlage vom 18.9.1961 für die Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 19.9.1961 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 15–18). 27 Vgl. Beschluss des Sekretariats des Zentralvorstandes vom 19.9.1961 über die Festigung des Kaderstammes der Partei (ebd., Bl. 7–10). 28 Abschlussbericht zur Festigung des Kaderstammes, vorgelegt auf der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 6.2.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-112, Bl. 78–107, hier 83).
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Maßnahmen vom 13.8.1961« und die Frage ihrer Verbundenheit mit dem Staat. Erwartet wurde, dass sie die Einschränkung des Reiseverkehrs hinnahmen und persönliche Bereitschaft zur militärischen Verteidigung der DDR zeigten.29 Das Ergebnis demonstrierte das hohe Maß an politischer Zuverlässigkeit aller Mitarbeiter des Sekretariats und der Mehrheit auf Bezirks- und Kreisebene.30 Eine von den Sekretären an die Kaderabteilung weiterzureichende handschriftliche Aktennotiz über jedes Gespräch hielt die Staatsverbundenheit der Mitarbeiter im zentralen Apparat fest: keine Zweifel oder Kritik an der SED wegen der Abriegelung der innerdeutschen Grenze. Die Formulierung »Kontrolle des persönlichen Einsatzes seit dem 13.8.1961 in den Parteieinheiten und im Rahmen der Nationalen Front« verdeutlichte das Anliegen der LDPD-Führung, dass die politischen Mitarbeiter des Sekretariats entschieden jedem Widerspruch in den unteren Parteiverbänden entgegentraten. Sanktionsdrohungen fehlten. »Kaderpolitische Veränderungen« hielt die Parteiführung für nicht erforderlich. Allein die offenen Stellen im Sekretariat seien schleunigst zu besetzen und der »Aufbau einer neuen Instrukteurbrigade« auf den Weg zu bringen.31 Denn zum Zweiten zeigte sich bei genauerem Hinsehen, dass die vorangegangenen Anstrengungen zur Verbesserung der ideologischen Linientreue des LDPD-Apparates ohne durchschlagende Wirkung gewesen waren. Stimmungsberichte aus einigen Parteiverbänden sorgten für Beunruhigung im Sekretariat des Zentralvorstandes.32 Erneut sollte eine Inspektion Klarheit erbringen über die Bezirksverbände, die Mitglieder der Politischen Ausschüsse und hauptamtlichen Mitarbeiter, sowie in einem weiteren Schritt über das Personal der Kreisverbände. Ein Qualifizierungsbeschluss für die Kreissekretäre und hauptamtlichen Mitarbeiter33 auf der Agenda des Zentralvorstandes sowie die politische Überprüfung sämtlicher Kader der Kreisvorstände bereits zwei Jahre zuvor hatten nicht zum erhofften Erfolg geführt.34
29 Beschluss des Sekretariats des Zentralvorstandes vom 19.9.1961 über die Festigung des Kaderstammes der Partei (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 7–10). 30 Vgl. Abschlussbericht zur Festigung des Kaderstammes, vorgelegt auf der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 6.2.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-112, Bl. 78–107, hier 83). 31 Beschluss des Sekretariats des Zentralvorstandes vom 19.9.1961 über die Festigung des Kaderstammes der Partei (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 7–10). 32 Vgl. Sommer, Liberal-Demokratische Partei, S. 279–283. 33 Vgl. Qualifizierung der Kreissekretäre, Beschluss des Sekretariats des Zentralvorstandes 229/60 vom 11.10.1960 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-83, Bl. 20–23). 34 Vgl. Entwurf einer Beschlussvorlage vom 8.6.1959 für die 8. Sitzung des Zentralvorstandes über die Festigung der Verbindung zwischen den Vorständen und Mitgliedern in den städtischen Parteieinheiten (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-67, Bl. 196–210, hier 205 f.).
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Die Kommissionen bei den Bezirksvorständen bündelten die Auskünfte und bewerteten Mitarbeiter, Vorstands- und Ausschussmitglieder auf der Basis der ihnen übermittelten Informationen. Sanktionsdrohungen verwiesen hier auf die vorbedachte Absicht der Aktion: die Durchsetzung der Parteidisziplin sowie die »Ausmerzung« von Zweifel und Kritik im mittleren und unteren Parteiapparat. »Die Bezirksvorstände werden beauftragt […] eine gründliche Überprüfung der Politischen Ausschüsse der Kreisvorstände vorzunehmen und umgehend für alle notwendigen kaderpolitischen Veränderungen zu sorgen. Dabei ist den Gesprächen mit den Kreissekretären größte Bedeutung beizumessen. Die Bezirksvorsitzenden tragen kaderpolitisch für die Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft der Kreissekretäre die persönliche Verantwortung.«35 Die Einbindung der Funktionäre in die Säuberungsaktion bezweckte Unterwerfungsgesten der LDPD-Führungsgremien. Ausschließlich auf sie richtete sich das Interesse.36 Der im Parteiapparat erzeugte Anpassungsdruck beschleunigte erheblich den Transformationsprozess in der LDPD, der in den 1950er-Jahren stagnierte oder nur langsam vorangekommen war. Wohlwissend um die fragile Loyalität der Parteibasis lenkten die Verantwortlichen ihre Offensive nach dem Mauerbau 1961 gegen die Funktionäre. An deren Aussagen legten sie kritische Maßstäbe an und wollten nicht jede »zu positive Einschätzung« von ihnen unbesehen übernehmen. Als Prüfstein galt die Selbstverpflichtung, keine westlichen Rundfunkund Fernsehsender zu empfangen und keine Anträge auf Westreisen zu stellen. Rasch zeigte sich, dass einige Mitglieder der Parteivorstände und Politischen Ausschüsse dem nicht nachkamen und ausgewechselt werden mussten, wobei es beschönigend hieß, nur wenige seien wegen absoluter politischer Unzuverlässigkeit zu entfernen. Bei den anderen reiche eben der »Entwicklungsstand« nicht aus. Im Ergebnis erhielten alle politischen Mitarbeiter des Sekretariats, aber auch die Mehrzahl der Vorstände und der Politischen Ausschüsse in den Bezirken und Kreisen das Prädikat »politisch zuverlässig«. Einschränkend hieß es, die politische Zuverlässigkeit sei »graduell sehr unterschiedlich« und die Anzahl derjenigen, »die zu jeder Zeit mit Wort und Tat ihre Treue zur Republik unter Beweis gestellt haben«, noch relativ klein.37 Den zentralistischen Durchgriff des LDPD-Zentralvorstandes auf die Kreis- und Ortsverbände bremsten 1962 die nur geringfügig mobilisierbaren Bezirksvorstände. In den 32 LDPD-Kreisverbänden 35 Beschluss des Sekretariats des Zentralvorstandes vom 19.9.1961 über die Festigung des Kaderstammes der Partei (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-105, Bl. 7–10). 36 Vgl. Vorlage für die 22. Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes vom 19.9.1961 zur Festigung des Kaderstammes (ebd., Bl. 11–14). 37 Abschlussbericht zur Festigung des Kaderstammes, vorgelegt auf der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 6.2.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-112, Bl. 78–107, hier 82–84).
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in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bundesrepublik und zu Westberlin mussten wenig später erneut mehrere Kreisvorsitzende und -sekretäre ausgetauscht werden.38 Trotzdem bestand grundsätzlich kein Anlass für die Führung wegen der Funktionsfähigkeit des Parteiapparates besorgt zu sein, wohl aber in Bezug auf die Funktionstüchtigkeit. Die Feststellung, »dass der Kaderstamm unserer Partei in schwierigen Situationen nicht versagen«, dagegen kaum in die politische Offensive kommen werde, traf den Kern des Personalproblems. Die Mitglieder der Politischen Ausschüsse in Bezirks- und Kreisverbänden seien aufrichtig treu, doch passiv. Daraus schlussfolgerte die Führung eine eingeschränkte Einsatzbereitschaft. »Alle Bezirksverbände kommen in ihrer Analyse zu der Einschätzung, dass bei aller Unterschiedlichkeit Einsatzbereitschaft und Parteiverbundenheit der Mitglieder der Politischen Ausschüsse weniger ausgeprägt sind als ihre politische Zuverlässigkeit.«39 Um der nicht erst nach dem Mauerbau vielerorts unzufriedenen Parteibasis die Kandare der Parteidisziplin anzulegen, mussten die den Kreis- und Ortsgruppenvorständen umgehängten Zügel durch eine intensivere Kaderarbeit gestrafft werden.
Die Systematisierung der Kaderarbeit Nach dem Mauerbau ging die LDPD-Parteiführung in die kaderpolitische Offensive und erklärte die Arbeit mit den Kadern zur vordringlichen innerparteilichen Aufgabe. Von den als »Parteibeauftragte« bezeichneten Parteifunktionären wurde verlangt, die Politik der SED zu befürworten, der Staatsverdrossenheit in den eigenen Reihen entgegenzutreten und sich dazu mit ideologischem Rüstzeug auszustatten. Der 9. Parteitag der LDPD im Februar 1963 forderte alle Vorstände auf, den Mitgliedern zu helfen, die komplexen Probleme beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und bei der Lösung der nationalen Frage zu verstehen. »Nicht allgemeine politische Redensarten, sondern fundiertes Wissen und eine durch keinerlei Schwierigkeiten zu erschütternde, fest verwurzelte Überzeugung von der Gesetzmäßigkeit des Sieges der sozialistischen Gesellschaftsordnung sind erforderlich.«40 38 Vgl. Einschätzung der kaderpolitischen Situation in den Leitungen der Kreisverbände, die an der Staatsgrenze West liegen, vom 22.8.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-119, Bl. 90–99). 39 Abschlussbericht zur Festigung des Kaderstammes, vorgelegt auf der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 6.2.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-112, Bl. 78–107, hier 88 f.). 40 Richtlinie für die Arbeit mit den Kadern der LDPD vom 21.5.1963, Druckschrift (ADL, Bestand LDPD, Parteitage und zentrale Kommissionen L6-531, Bl. 33).
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Zuvor hatte die SED, um die ihr nachgesagten Spaltungsabsichten zu dementieren und ihren nationalstaatlich-gesamtdeutschen Führungsanspruch zu bekräftigen, aber auch wegen der ersehnten internationalen Anerkennung der DDR, eine beispiellose Propagandaoffensive gestartet. Nach ihrer im Herbst 1961 als »Friedenskampf« bezeichneten wehrpolitischen Agitation an Universitäten und Hochschulen zur Verpflichtung der Studenten auf die Verteidigung der Staatsgrenze und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Januar 1962 wollte sie den Eindruck zerstreuen, dass sie den innerdeutschen Konflikt zuspitze. Am 25. März 1963 verabschiedete der Nationalrat der Nationalen Front das Dokument »Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands«. Die von Walter Ulbricht begründete Vorlage stellte den Sieg des Sozialismus als Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage dar.41 Bis zur Verabschiedung der Resolution auf dem Nationalkongress am 17. Juni 1962 in Berlin42 versuchte die SED, die Bevölkerung für ihren Plan einzunehmen und mittels ökonomischer Stärkung der DDR den Westen in die Knie zu zwingen. In diesen Wochen und danach beteiligten sich die Parteien daran, unter ihren Mitgliedern die nationalpolitischen Ziele der SED zu propagieren. Auf die politischen Ereignisse 1962 reagierten die kaderpolitischen Aktivitäten des Sekretariats des LDPD-Zentralvorstandes sowie des Politischen Ausschusses und bereiteten für den kommenden Parteitag eine Entschließung vor. Dem LDPD-Parteitag im Februar 1963 folgte die Richtlinie des Politischen Ausschusses für die Arbeit mit den Kadern der LDPD vom 21. Mai 1963, die wenig später den Vorständen als Druckschrift zugestellt wurde. Ausdrücklich Bezug nehmend auf den Parteitag der LDPD verstand sie sich als Zusammenfassung und Vereinheitlichung bestehender Beschlüsse – um eine Kontinuität herauszustellen, die allerdings nur hinsichtlich der Absichten existierte. Zudem betonten die Regularien der Kaderarbeit deren Zweck: die Weiterentwicklung der Funktionäre zu sozialistischen Persönlichkeiten und die Festigung ihres sozialistischen Bewusstseins. Auch daran hatte sich nichts geändert, obgleich man die Zielrichtung zuvor noch nicht in dieser alle Rücksichtnahme beiseite lassenden Deutlichkeit formuliert hatte. Die Vorstände müssten die Kader überzeugen, dass sie sich ein hohes Maß an beruflich-fachlichen Kenntnissen aneigneten, und den Abschluss entsprechender Qualifizierungsvereinbarungen lenken. Mehr als bisher sollten die vorhandenen Bildungsmöglichkeiten genutzt werden, neben den Lehrgängen an der Zentralen Parteischule die Bezirksparteischulen und die politischen
41 Vgl. Für den Frieden und die Rettung der deutschen Nation. Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands, Dokument des Nationalrates der Nationalen Front. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 10 (1962), S. 753–786. 42 Vgl. Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949–1990, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1996, S. 211.
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Bildungszirkel. Denn nicht zuletzt galt es, die »politisch-ideologische und politisch-moralische Bildungs- und Erziehungsarbeit« unter den Mitgliedern systematisch weiterzuführen. Schließlich maß der Politische Ausschuss dem »Vorhandensein einer realen Kaderreserve«, wovon jedoch zu der Zeit nicht die Rede sein konnte, große Bedeutung bei.43 Wegen der wenig präzisen Formulierungen dieser Richtlinie, die allgemeine Zielvorgaben enthielt und sich nicht klar von den bisherigen Deklarierungen abhob, präzisierte der Zentralvorstand im Januar 1964 die Schwerpunkte der Kaderarbeit. Er erklärte die Qualifizierung der Mitarbeiter des hauptamtlichen Apparates für vorrangig. Der Aufbau einer Kaderreserve sei langfristig für alle Funktionärspositionen flächendeckend zwingend erforderlich, in der Nahpers pektive vorerst für die Funktionäre im Hauptberuf. Außerdem verlangte die Richtlinie die Qualifizierung der Vorstandsmitglieder aller Ebenen. »Die politisch-ideologische und politisch-moralische Bildungs- und Erziehungsarbeit« aller Parteibeauftragten, der hauptberuflichen wie der ehrenamtlichen, müsse dauerhaft weitergeführt werden. Gleichzeitig beschloss das Sekretariat den Perspektivplan zur Entwicklung des Schulungssystems sowie Richtlinien für Bezirksparteischullehrgänge und zur Beschickung der Lehrgänge an der Zentralen Parteischule.44 Im Windschatten der innenpolitischen Entwicklung wurde es möglich, in der LDPD langfristig ein weiteres zentralistisches Prinzip durchzusetzen: das Prinzip der konkret gestellten und terminierten Aufgabe. Bezirks- und Kreisvorsitzende wurden ebenso in die Pflicht genommen wie die Abteilungen Agitation und Schulung im Sekretariat und die für Kader sowie die Kommission für Kader- und Schulungsarbeit des Politischen Ausschusses. Die ausgesprochenen Verpflichtungen zur »Weiterentwicklung der Kollektivität der Leitungen« und zur »weiteren Erhöhung der Qualifikation der Parteibeauftragten«45 veränderten zwar nicht von heute auf morgen auf der nachgeordneten Funktionärsebene die mitunter säumige Einstellung zu den Forderungen aus der Parteizentrale, die Parteibeauftragten konnten aber nicht länger mit stillschweigender Duldung nachlässiger Pflichterfüllung rechnen. Es wurde schwerer, sich der mobilisierenden Wirkung ständiger An- und Aufforderungen, deren Erfüllung mit zunehmend dichteren Kontrollen zunächst angemahnt und schließlich eingefordert wurde, zu entziehen. Und letztendlich übernahmen sie selbst das Axiom, sprachen Verpflichtungen aus, 43
Richtlinie für die Arbeit mit den Kadern der LDPD vom 21.5.1963, Druckschrift (ADL, Bestand LDPD, Parteitage und zentrale Kommissionen L6-531, Bl. 33). 44 Protokoll der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 21.1.1964 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-146, Bl. 50–78). 45 Abschlussbericht zur Festigung des Kaderstammes, vorgelegt auf der Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 6.2.1962 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-112, Bl. 78–107, hier 104 –106).
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erlegten Verantwortlichkeiten auf und setzten in ihrem Zuständigkeitsbereich dieses Grundprinzip des »demokratischen Zentralismus« durch.46 Die veränderte Akzentsetzung in der Kaderarbeit betrachtete die LDPD-Führung nicht als neue kaderpolitische Linie, eher als eine nach dem Wegfall der Zurückhaltung erforderliche Konsequenz. »Bis 1961/62 stand die Entwicklung der kaderpolitischen Zuverlässigkeit und Einsatzbereitschaft der Kader absolut im Vordergrund. Das erforderte die politische Situation. Nach der Sicherung der Staatsgrenze orientierte sich die Partei darauf, die oft gefühlsmäßig bedingte Zuverlässigkeit unserer Parteibeauftragten durch fundierte theoretische Kenntnisse zu stabilisieren.«47 Die schon in den vorangegangenen Jahren stets wiederkehrende Forderung nach Schulung der Parteibeauftragten musste bei den im zentralen Apparat beschäftigten Funktionären wie bei den hauptamtlichen Mitarbeitern der Bezirks- und Kreisverbände ständig angemahnt werden. Weil noch 1964 für die Kreissekretäre und für die von der LDPD im Staatsapparat besetzten Stellen keine Kaderreserve zur Verfügung stand,48 galt der Apparat als potenziell instabil.49 Die »gefühlsmäßig bedingte Zuverlässigkeit« von Parteibeauftragten verdeckte die Defizite einer ungefestigten und wenig wissenschaftlich fundierten Weltanschauung. Ihre Bildungslücken schlossen die Funktionäre nur langsam. Der am Jahresende von Wünsche vorgelegte Bericht monierte, dass die in der »praktischen politischen Arbeit erworbene Qualifikation […] nur ein Teil der an einen Parteibeauftragten zu stellenden Anforderungen« sei, theoretisches Wissen gehöre unabdingbar dazu.50 Der LDPD-Parteitag 1963 leitete eine kaderpolitische Wende ein. Das zeigte sich nicht nur in ersten Ergebnissen, die Wünsche präsentierte, sondern auch darin, dass die Parteiführung die Instrumente der Kaderarbeit, die sie benötigte, gefunden hatte, sie einzusetzen und anzuwenden begann. Das waren Kader gespräche, Kaderakten, Rahmenprogramme und spezielle Kaderentwicklungspläne, regelmäßige Einschätzungen der Kader, Beurteilungen und Berichte, Bildungsmaßnahmen, Qualifizierungsvereinbarungen, der Besuch von Lehrgängen an der parteieigenen Zentralschule und den Bezirksschulen, mitunter auch
46
Vgl. Gerhard Schüßler, Der demokratische Zentralismus. Theorie und Praxis, Berlin (Ost) 1981, S. 155–160. 47 Sekretariatsvorlage zum Stand der Qualifizierungsvereinbarungen für die Sitzung am 29.9.1964 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-154, Bl. 8–14). 48 Vgl. Vorlage der Abteilung Kader zum Stand der Kaderreserve in den Bezirks- und Kreis- verbänden vom 13.2.1964 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariate des Zentralvorstandes L7-715, Bl. 25–28). 49 Vgl. Vorschläge Geys zur weiteren Stabilisierung des hauptamtlichen Parteiapparates vom 26.3.1964 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariate des Zentralvorstandes L7-130, Bl. 49–52). 50 Bericht Wünsches über die Entwicklung der Kaderarbeit vom 8.12.1964 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-208, Bl. 19–42).
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die Teilnahme am SED-Parteilehrjahr und immer wiederkehrend die flächen deckenden Bildungszirkel für alle Mitglieder. Freilich glichen sich die Forderungen der kommenden Jahre: Immer wieder musste gemahnt werden, mussten Termine gesetzt und Rechenschaftsberichte abgefordert, Paten benannt und ganze Instrukteursbrigaden entsandt werden. Kontinuierlich kritisierten die Berichte und Einschätzungen, prangerten Missstände und Nachlässigkeiten an, sammelten Persönlichkeitsprofile und organisierten den vermeintlich effektivsten Einsatz des Funktionärspotenzials. Doch es ging voran. Die Pläne für die perspektivische Kaderarbeit wurden exakter und eindeutiger. Bereits ein im September 1965 von der Kaderabteilung vorgelegter Kaderplan listete auf 20 Seiten die Namen sogenannter Reservekader auf, die für höhere Funktionen im Parteiapparat und in staatlichen Behörden vorgesehen waren.51 Die Richtlinie für die Kaderarbeit der Parteivorstände vom Juli 1966 setzte das Begonnene fort, indem sie erstmals Ansätze für Kaderprogramme des zentralen Parteivorstandes, der Bezirks- und der Kreisvorstände aufstellte.52 Andererseits listeten umfassende Analysen wie die Heusingers 1969 Versäumnisse auf, um die Methoden der Kaderarbeit zu perfektionieren, in der Absicht, die Vorstände intensiver anzuleiten und den Druck aufrechtzuhalten.53 Neuerlich befasste sich 1972 ein LDPD-Parteitag mit der Kaderpolitik, weil erweiterte politische Aufgaben die Ausdehnung der Richtlinien auf die Basis und die Gewinnung neuer Parteimitglieder für die Mitarbeit, noch viel mehr aber für die vorbehalt lose Anerkennung der führenden Rolle der SED verlangten.54 Desgleichen mussten in regelmäßigen Abständen die Qualifikationsmerkmale für die Funktionen angepasst und präzisiert werden.55 Kein anderes Problem als der andauernde Kadermangel im Staats- und Wirtschaftsapparat bereitete dem Parteivorsitzenden Gerlach selbst große Sorge wegen der Reputation der LDPD.56 Bei der Besetzung dieser Positionen mussten die Liberaldemokraten mit den anderen Blockparteien und vor allem mit der SED konkurrieren. Wegen ihrer Zuständigkeit bei der Suche nach geeigneten Personen zur Besetzung der Posten vor Ort standen Kreis- und Stadtbezirksvorstände 51 Vgl. Sekretariatsvorlage btr. Kaderplan Nr. B I 40/65 für die Sitzung des SdZV am 28.9.1965 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-174, Bl. 40–62). 52 Richtlinie für die Kaderarbeit der Parteivorstände, undatiert [Juli 1966] (ADL, Bestand LDPD, Parteitage und zentrale Kommissionen L6-531, Bl. 15–24). 53 Zur Leitungsanalyse: Hauptprobleme auf dem Gebiet der Kaderarbeit, 19.11.1969 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariate des Zentralvorstandes L7-859, unpag.). 54 Richtlinie für die Kaderarbeit der Parteivorstände vom 28.4.1972 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-208, Bl. 76–81). 55 Qualifikationsmerkmale für die hauptamtlich tätigen politischen Mitarbeiter der LDPD, Beschluss vom 1.3.1978 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-377, Bl. 64 f.). 56 Vermerk Gerlachs für Agsten und Lindner, 20.4.1977 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariate des Zentralvorstandes L7-143, Bl. 66).
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bis in das letzte Jahr der DDR im Fokus. Gleiches galt in Vorbereitung von Wahlen für die Aufstellung von Kandidaten auf den regionalen und lokalen Gemeinschaftslisten.57
Die Kader in den Blockparteien und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) In den 1980er-Jahren glaubten SED, MfS und die LDPD-Führung an die Vorstellung, alles im Griff zu haben – eine Ansicht, die vonseiten der SED nicht zuletzt auf den regelmäßigen Berichten und Meldungen des MfS zur Situation in den befreundeten Parteien beruhte, die einen vom MfS intendierten manipulativen Einfluss auf den Wahrnehmungshorizont der SED-Führung ausübten.58 Die Abteilungen XX der MfS-Bezirksverwaltungen trugen akribisch alle für sie erreichbaren Informationen zusammen und erarbeiteten regelmäßige Analysen auf der »Grundlage vorliegender IM-Berichte sowie inoffiziell und offiziell beschaffter Materialien«.59 Von diesen Auskünften und von den Mitteilungen aus der Arbeit der für die befreundeten Parteien zuständigen Abteilung des Zentralkomitees (ZK) fühlte sich die SED-Führung gut informiert. Das MfS verfügte seinerseits über ausreichende Anhaltspunkte dafür, die Lage in den Blockparteien als entspannt einschätzen zu können. Jede MfS-Bezirksverwaltung observierte die Aktivitäten der Parteien im Zuständigkeitsbereich, unterhielt zu den Vorsitzenden der Bezirksverbände der Parteien offizielle Kontakte und versicherte sich ihrer Loyalität teilweise durch eine zusätzliche Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Nichts trübte das »enge Vertrauensverhältnis zur SED«, nichts beeinträchtigte deren »aktive Mitarbeit bei der Verwirklichung der Beschlüsse des X. Parteitages der SED zur weiteren allseitigen Entwicklung des Sozialismus«.60 Die 1980 an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam verfasste Fachschulabschlussarbeit zum Thema »Die Organisierung der inoffiziellen Arbeit zum rechtzeitigen Erkennen, zur Aufklärung und Zurückdrängung/Zersetzung
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Kaderpolitische Vorbereitung der Kommunalwahlen 1984, Vorlage für die Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes am 24.4.1983 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-473, Bl. 12–27). 58 Vgl. Helge Heidemeyer, SED und Ministerium für Staatssicherheit: »Schild und Schwert der Partei«. In: Jens Gieseke/Hermann Wentker (Hg.), Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2011, S. 114–135. 59 Information der BV Dresden zur Situation in den befreundeten Parteien, 6.3.1982 (BStU AZ, HA XX 7629, Bl. 5–9). 60 Politisch-operative Sicherung der 1982 stattfindenden Parteitage von LDPD, DBD, NDPD, CDU vom 20.3.1982 (BStU AZ, MfS-BdL/Dok. 007610, Bl. 1–3).
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feindlich-negativer und oppositioneller Tendenzen in den Bezirksverbänden Suhl der LDPD und CDU« hatte exemplarischen Charakter.61 Der Absolvent legte die Möglichkeiten des MfS dar, Einfluss auf die politische Arbeit der beiden Blockparteien auszuüben, wobei er der Mehrheit aller Parteimitglieder systemkonformes Verhalten attestierte. Nur wenige seien Anhänger »bürgerlicher und revisionistischer Ideologen«. Am Beispiel eines schon Jahre zurückliegenden Einzelfalles demonstrierte er die Notwendigkeit, »Erscheinungsbilder oppositioneller Tendenzen« rechtzeitig zu erkennen, um Widerspruch im Keim ersticken zu können. 1974 habe eine Art Verschwörung im Bezirksvorstand der CDU in Suhl stattgefunden. Bei einem Geheimtreffen seien Zweifel an der politischen L inie des CDU-Hauptvorstandes gehegt und der Verdacht ausgesprochen worden, »dass Spitzenfunktionäre der CDU unter dem Deckmantel ihrer Partei SED-Politik machen«. Die Anwesenden hätten die Einberufung eines Sonderparteitages erwogen mit dem Ziel, die Auflösung der CDU zu beschließen, oder, um Spielraum für eine eigenständige Politik einzufordern, alternativ dazu ein Krisengespräch zwischen der SED-Bezirksleitung und dem LDPD-Bezirksvorstand anzusetzen. Andernfalls solle der Bezirksvorstand drohen, er werde geschlossen zurücktreten. Auch in den folgenden Jahren sei es, allerdings gleichfalls folgenlos, zu solchen und ähnlichen Diskussionen gekommen, behauptete der Absolvent. Die Gespräche drehten sich darum, »Kader für die Besetzung bestimmter Positionen zu gewinnen«, die derzeit die SED besetzte. Obwohl er beteuerte, der von ihm geschilderte Fall eines Ehepaares stelle keinesfalls ein Einzelbeispiel dar, benannte er außer diesen zwei CDU-Mitgliedern keine weiteren Personen. Bei der LDPD bezichtigte er ebenfalls ohne konkrete Anhaltspunkte den ansonsten loyalen Bezirksvorsitzenden. Die allgemeine Anschuldigung, jener trete »des truktiv und negativ-feindlich« auf und toleriere »negativ-feindliche Meinungen von LDPD-Mitgliedern zur Politik der SED und zu ihren Funktionären«, war ohne Beweiskraft. Es dürfte zugetroffen haben, dass sich Mitglieder und Funktionäre beider Parteien in diesen Jahren gelegentlich oder hinter vorgehaltener Hand über die Benachteiligung durch die SED beklagten und eine angemessene Beteiligung an der Machtausübung im Staatsapparat forderten. Doch dafür, dass CDU- und LDPD-Funktionäre versucht hätten, ihre Parteien in Bürgerversammlungen, bei Wahlen oder anderen Anlässen als oppositionelle Alternative zur SED zu präsentieren, blieb der MfS-Oberleutnant den Nachweis schuldig. Ihm und seinen Lehrern lag daran, die Bedeutung der Arbeit des MfS angemessen herauszustellen. 61 Vgl. Fachschulabschlussarbeit: Die Organisierung der inoffiziellen Arbeit zum rechtzeitigen Erkennen, zur Aufklärung und Zurückdrängung/Zersetzung feindlich-negativer und oppositioneller Tendenzen in den Bezirksverbänden Suhl der LDPD und CDU, 18.1.1980 (BStU AZ, JHS MF VVS 1189/79, Bl. 2–36). Die folgenden Ausführungen beruhen auf dieser Quelle.
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Selbstverständlich musste er in der Qualifizierungsarbeit seine tschekistischen Fähigkeiten nachweisen. Schließlich wollte er sich selbst, seinen Vorgesetzten und der Partei, der er diente, das Feindbild bestätigen. Denn er musste seine Vorwürfe relativieren und eingestehen: »Nur in einigen wenigen Einzelfällen […] gehen die Bestrebungen der Vertreter oppositioneller Tendenzen dahin, ihre Partei in echte Opposition, in eine Alternative zur SED zu bringen.«62 Um weiterhin jede Opposition zu unterbinden, werde das MfS bereits im Vorfeld strafrechtlicher Auffälligkeit Schritte einleiten, die den Einfluss dieser Personen zurückdrängen und beseitigen. Das geschehe durch den Einsatz von IMs in Schlüsselpositionen der Parteiverbände, die aktiv den Verlauf von Diskussionen beeinflussten oder auf die Ablösung widersetzlicher Funktionäre hinwirken können.63 Wie 1984 warnten wiederholt Mitteilungen der Hauptabteilung XX (HA XX) des MfS im Hinblick auf die Mitgliederwerbung der Blockparteien davor, dass besonders in der CDU und der LDPD ein Sammelbecken von Personen entstehe, die die führende Rolle der SED ablehnten. Diese Aussage bezog sich jedoch zu keinem Zeitpunkt auf die Gesamtheit aller Parteimitglieder, denn das MfS bearbeitete von den etwa 120 000 CDU-Mitgliedern64 in der DDR anstelle eines Sammelbeckens lediglich 128 Personen. Wenn nur zu einer so geringen Anzahl überhaupt Hinweise auf irgendwelche Verdachtsmomente vorlagen, die operativ geprüft und erhärtet werden mussten, konnte von massivem Widerstand nicht die Rede sein. Zu den Mitgliedern der anderen Parteien lagen noch weniger Anhaltspunkte für oppositionelles Verhalten vor.65 Selbst in der kritischen Situation im ersten Halbjahr 1989 erblickte das MfS in den Blockparteien keine oppositionelle Bedrohung. Im Gegenteil, die HA XX registrierte das vorhandene kritische Potenzial, verwies aber auf die staatstragende Funktion der in zurückhaltender Form vorgetragenen Kritik. Eine besorgte Anfrage zur Parteipolitik der LDPD veranlasste die Abteilung zu einer relati vierenden Interpretation, die der aktuellen Situation Rechnung trug. Die Parteipolitik der LDPD, hieß es, entspreche der von Gerlach im Politischen Ausschuss vertretenen politischen Linie. Offenkundig wurde der artikulierten Kritik eine Ventilfunktion zuerkannt. Wichtig sei die politische Haltung, hob der stellvertretende Leiter der HA XX hervor, die Berufung auf die Politik der SED. Die LDPD-Führung betone stets, dass sie die führende Rolle der SED anerkenne und deren Politik mittrage: »In der Information erfolgt zum Teil eine überbetonte Interpretation der Orientierung auf die eigenständige Rolle der LDPD. So sind 62 63 64
Ebd., Bl. 17. Vgl., Widera, Problemaufriss, S. 107–116. Vgl. Anlage 4, Mitgliederbewegung: Entwicklung und Wirksamkeit der Befreundeten Parteien seit dem X. Parteitag der SED vom 11.11.1985 (BStU AZ, HA XX 7053, Bl. 91–112, hier 109). 65 Vgl. Ergänzung zur Lageeinschätzung der befreundeten Parteien, undatiert [1984] (BStU AZ, HA XX 7053, Bl. 70–77).
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z. B. die Vorschläge an den XII. Parteitag der SED auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bezogen, sie bewegen sich aber innerhalb der Gesellschaftsstrategie der SED. Differenzen gibt es bezogen auf die gegenwärtige Medien politik. Dies wird auch vom Parteivorstand der LDPD zum Ausdruck gebracht. Operativ beachtenswert ist, dass das Auftreten von Funktionären der LDPD bei politisch negativen Kräften und in den Westmedien Zustimmung findet.«66 In der Formulierung deuten sich vorsichtige Überlegungen des MfS an, die Blockparteien zur Kanalisierung von Kritik an der SED in Stellung zu bringen, um damit gesellschaftlichem Druck entgegenzuwirken.67 Das MfS konstatierte die erkennbaren Unterschiede des Offensivpotenzials der verschiedenen Parteien: »In der politischen Tätigkeit einzelner Funktionäre einer Reihe von Bezirks- und Kreisvorständen der LDPD, so u. a. in den Bezirken Berlin, Erfurt und Frankfurt (Oder), sind deutlicher als in anderen Parteien Tendenzen zur Überbetonung der Eigenständigkeit ihrer Partei im System der politischen Kräfte der DDR festzustellen.« Die von Gerlach seit Herbst 1988 in die interne Öffentlichkeit seiner LDPD-Führungskader verstärkt hineingetragene Forderung, eigene Akzente im politischen Alltag zu setzen, fand Anklang, wenngleich nicht ungeteilt. Unsicherheit zeigte das MfS in der Bewertung, die Widersprüchlichkeit der Beobachtungen verwehrte eine eindeutige Einschätzung. »Diese Forderungen nach Eigenständigkeit sind jedoch in der Mehrheit der Fälle nicht unmittelbar mit der Negierung der führenden Rolle der SED in der Gesellschaft verbunden. Besonders deutlich und vielfältig sind diesbezügliche Erwartungshaltungen bei Funktionären der LDPD erkennbar.« Die LDPD-Funktionäre orientierten die Mitglieder auf eine »inhaltsreiche Mitwirkung an der Gestaltung des Sozialismus in der DDR«. Bei der CDU hingegen stünden die Funktionäre trotz der von ihnen betonten Selbstständigkeit in der Kritik der Parteibasis. Obwohl das MfS die gesamte Entwicklung nicht ohne Argwohn verfolgte, gab es Entwarnung und verwies auf die »vollinhaltliche Akzeptanz der führenden R olle der SED und ihrer Gesellschaftsstrategie« durch die Parteimitglieder und die Funktionäre. Das schlösse zwar eine »Reihe von Problemen, Erscheinungen und abweichende Auffassungen innerhalb der befreundeten Parteien nicht aus«, doch das seien Einzelfälle und die Lage bleibe generell stabil.68
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Antwort der HA XX vom 22.3.1989 auf ein Schreiben der BV Rostock (BStU AZ, HA XX 7694, Bl. 6). 67 Vgl. Walter Süß, Politische Taktik und institutioneller Zerfall. MfS und SED in der Schlussphase des Regimes. In: Siegfried Suckut/Walter Süß (Hg.), Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 249–269, hier 251. 68 Bericht der HA XX über aktuelle Aspekte der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und LDPD, vom 3.5.1989 (BStU AZ, HA XX/AKG 6405, Bl. 1–10).
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Die politischen Kräfte in der DDR reagierten 1988/89 auf die Sprachlosigkeit der SED und auf die innenpolitische und wirtschaftliche Krise. Im Hinblick auf die Blockparteien ist die Gleichzeitigkeit von drei unterschiedlichen Faktoren mit Prozesscharakter zu beobachten. Die führenden Funktionäre der Blockparteien bekamen den Druck der Parteibasis stärker zu spüren als die SED-Führung oder das MfS. Die Stimmung in den alljährlich durchzuführenden und jeweils auf das erste Quartal terminierten Jahreshauptversammlungen war 1989 kritischer als in den Jahren zuvor. Mancherorts begannen Funktionäre zu resignieren und das MfS berichtete von wachsenden »Schwierigkeiten bei der Gewährleistung eines erforderlichen Kadernachwuchses in allen Blockparteien«.69 Die Kreissekretäre und Kreisvorsitzenden trugen den Unmut der Basis in die Bezirksvorstände und diese wiederum konfrontierten damit die Zentralvorstände ihrer Parteien. Denen musste in dieser Situation daran gelegen sein, vordringlich die direkt den Fragen ausgesetzten ehrenamtlichen Funktionäre in den Grundeinheiten und Ortsgruppen mit Argumenten zu stärken. Zum Zweiten konkurrierten die Führungskräfte der Blockparteien nicht nur jeweils untereinander, sondern vor allen Dingen in den eigenen Gremien miteinander. Nachdem die Spitzenfunktionäre der LDPD keinen unmittelbaren Gesprächszugang zu den Verantwortlichen im SED-Politbüro fanden, lenkten sie ihre Bemühungen, die Kritik der Basis in moderaten Reformvorschlägen aufzufangen und auf diese Weise stabilisierend zu wirken, über das MfS in den SED-Apparat. Dabei wurde Gerlach nicht müde zu betonen, »dass die LDPD eine im und für den Sozialismus wirkende Partei bleibt, die im Bündnis mit der führenden Partei der Arbeiterklasse staatstragenden Funktion gerecht wird«. In diesem Rahmen wolle die LDPD sich aber stärker als politischer Interessenvertreter ihrer Mitglieder und ihr nahestehender sozialer Schichten profilieren. Deswegen suche sie Möglichkeiten, bereits im Vorfeld politischer Entscheidungen eigene Standpunkte einzubringen und ohne Vorbehalt zu diskutieren, und nicht wie bisher nur vorgefertigte Beschlüsse akzeptieren zu müssen. Gerlach bezeichnete das als »Prozess der weiteren Ausprägung der sozialistischen Demokratie«.70 Auf diese Weise versuchte er, vertraut mit den Mechanismen des politischen Systems, Einfluss zu nehmen und das MfS zu instrumentalisieren. Im LDPD-Vorstand wurde er für seine politischen Positionen kritisiert und von anderen Führungskräften beim MfS denunziert.71 69 Ebd., Bl. 3. 70 Information der HA XX zur aktuellen politisch-ideologischen Situation in der LDPD vom 21.2.1989 (BStU AZ, HA XX 7694, Bl. 1–5). 71 Vgl. David Bordiehn, Die politische Biographie Manfred Gerlachs – Ansätze, Probleme und Potential der Funktionärs-Biographie im SED-Staat. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 24 (2012), S. 245–258; Reiner Marcowitz, Manfred Gerlach – ein Liberaler im SED-Staat? Individuelles und Typisches seiner Biographie. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 15 (2003), S. 243–264.
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Drittens instrumentalisierte das MfS seinerseits die Kritik der Parteien, indem es darüber in einer Weise berichtete, die die Aufmerksamkeit der SED-Führung finden sollte, in der Erwartung, mit den Anstößen zu politischen Reformen beizutragen. Irritiert von der Handlungsunfähigkeit der SED, zeigten die Schlussfolgerungen in dem oben zitierten Bericht, wie groß die Unsicherheit der Staatssicherheit bei der Einschätzung der Lage war. Es folgte das Eingeständnis, dass »die Zielstellungen des Einsatzes gesellschaftlicher Kräfte nicht immer die angestrebte Wirksamkeit erreicht« und die eigene Strategie nicht zum Erfolg geführt hatte. Die Funktionäre in den Parteien seien von der Aufgabe überfordert und, durch das MfS nicht ausreichend vorbereitet, von der »Massivität der Angriffe feindlich-negativer Kräfte überrascht« der Auseinandersetzung nicht gewachsen gewesen. Die Überlegung des MfS, die gegnerischen Kräfte durch bessere Zusammenarbeit mit den Führungsgremien der Blockparteien entschiedener zu bekämpfen,72 kam zu spät – einer von vielen untauglichen Versuchen zur Rettung der SED-Herrschaft.
Resultate Noch im Sommer 1989 kleidete die LDPD-Führung ihre mahnenden Aufforderungen an die SED-Führung, endlich etwas mehr Offenheit zuzulassen, in das Gewand einer devoten Ergebenheitsadresse: »Getreu den Beschlüssen ihres 14. Parteitages bewähren sich Liberaldemokraten überall in unserem Land als Mitglieder einer staatstragenden demokratischen Partei, die ohne Wenn und Aber im und für den Sozialismus wirkt. […] Dieses Handeln beruht auf gefestigten sozialistischen Grundpositionen sowie dem berechtigten Stolz auf das in 40 Jahren gemeinsam Geschaffene.« Sie spielte unbeirrt die Rolle eines standhaften Bündnispartners der »Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei«.73 Aufgrund des durchschlagenden Erfolgs der Kaderarbeit stellte sich die Frage nach einer alternativen Personalpolitik in der LDPD zu keinem Zeitpunkt. Dafür, dass die Kaderauswahl in der LDPD nicht nach Gutdünken erfolgte, sorgten die wachsamen Augen der Abteilung befreundete Parteien im ZK der SED, von SED-Sekretären auf Bezirks- und Kreisebene sowie des MfS. Die Auswahl der Funktionäre entsprach politischen Gesichtspunkten und fachlichen Anforderungen. Zweifellos waren ranghohe LDPD-Kader wie Kurt Wünsche, der Sekretär 72 Bericht der HA XX über aktuelle Aspekte der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und LDPD, vom 3.5.1989 (BStU AZ, HA XX/AKG 6405, Bl. 1–10). 73 Vorschläge an das ZK der SED zur weiteren Entfaltung der sozialistischen Demokratie vom 11.7.1989 (ADL, Bestand LDPD, Politischer Ausschuss L2-386, Bl. 12–40).
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und spätere Minister Hans-Joachim Heusinger sowie der Abteilungsleiter für Kaderfragen im Sekretariat, Hans-Jochem Gey, auf der zentralen Ebene kaderpolitische Erfüllungsgehilfen der SED. Der von ihnen installierte kaderpolitische Apparat funktionierte aus eigenem Antrieb, ein sich selbst regenerierendes »Perpetuum mobile« ohne Energiezufuhr von außen, nahezu reibungslos. Kader arbeit war »demokratischer Zentralismus« in reinster Form, wobei »Beschlüsse und Anweisungen übergeordneter Organe ein differenziertes System der Anleitung und Kontrolle« schufen, dessen bürokratische Unbeweglichkeit jede Mitbestimmung in Bezug auf das Ausführen der Vorgaben reduzierte.74 Aus diesem Grund lag die Systematisierung und Perfektionierung der Kaderarbeit in der Praxis stets weit hinter den theoretischen Ansprüchen von Kaderabteilung und Politischem Ausschuss zurück. Kaderarbeit bewirkte die reale Ausschaltung jeder »Kritik, die sich gegen die SED und deren Führungsrolle richtete«.75 Indem das Sekretariat seit den 1960er-Jahren zunehmend genauere Informationen über das Personal an der Peripherie erhielt und dieses zu umfassenden Analysen verdichtete, erzeugte es bei den Auftraggebern in der SED wie in der eigenen Parteiführung die Vorstellung, alles im Griff zu haben. Regelmäßig wiederkehrende Interventionen auf allen Ebenen und personalpolitische Revisionen, die Wünsche, Heusinger, Gey und andere mit der SED kooperierende LDPD-Funktionäre verantworteten, könnten zwar zur Annahme verleiten, es habe sich in einigen dieser Fälle um Aufbegehren und Widerstreben im Apparat gehandelt. Doch spricht nicht der Umstand, dass jeder gemaßregelte Funktionär sich erst an einem gewissen Punkt der Karriere gegen die Weisungen übergeordneter Gremien stellte, im Gegenteil für seine Linientreue bis dahin? Erfüllten nicht dadurch die LDPD-Politiker an der Kaderfront ihre Pflicht, alles unter Kontrolle zu haben? Indem sie analysierten, kontrollierten und instruierten, Richtlinien erstellten und überarbeiteten, indem sie Personal einsetzten und absetzten, hielten sie den Apparat in Gang, versetzten ihm die Impulse, die er benötigte. Und ein von ihnen ver- oder abgesetzter Kader hatte in der Regel jahrelang die ihm zugedachten Aufgaben erfüllt. Möglicherweise existiert, zugespitzt formuliert, kein glaubhafterer Nachweis für die Erfolge der Kaderarbeit als die Ablösung eines langjährigen Funktionärs. Andere Befunde, von denen hier nur einer erwähnt wird, bestätigen diese Einschätzung. In größeren Abständen, etwa aller zehn Jahre, führte die LDPD gleich der SED eine konzentrierte Aktion zum Umtausch der Mitgliedsbücher durch. In den Berichten dazu sind wesentlich konkretere Informationen als in den regelmäßigen Stimmungsberichten oder der alljährlich bilanzierten Parteiarbeit 74 75
Hans-Jürgen Brandt/Martin Dinges, Kaderpolitik und Kaderarbeit in den bürgerlichen Parteien und den Massenorganisationen in der DDR, Berlin (West) 1984, S. 22. Sommer, Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, S. 290.
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anlässlich der Jahreshauptversammlungen zu finden. Dem jeweiligen Umtausch ging ein individuelles Gespräch voran, wobei anders als in den allgemeinen Versammlungen persönliche Standpunkte direkt abgefragt wurden, um die »Mitglieder zu klaren Positionen zu allen politisch-ideologischen und ökonomischen Fragen zu führen«.76 Wie stets begleiteten den Umtausch der Mitgliedsbücher die konkreten Handlungsanweisungen an die Parteikader: »Der gesamte Komplex von Maßnahmen zur Ausgabe der neuen Mitgliedsbücher ist Schwerpunkt der Leitungstätigkeit der Vorstände bis Jahresende und muss stabsmäßig geleitet und straff kontrolliert werden.«77 Nichts an den 1987 zusammengetragenen Informationen wich ab von sonstigen Berichten, von LDPD-Mitgliedern gab es Tadel für die Planwirtschaft und Zweifel an der Fähigkeit der SED, die Probleme zu bewältigen, und vor dem Hintergrund der sowjetischen Reformansätze Unverständnis für die abwehrende Haltung der SED-Führung. Wie sonst auch bezogen sich die thematisierten Engpässe und die kritisierten Missstände auf eigene und allgemeine Befindlichkeiten. Austrittserklärungen hielten sich in Grenzen. Darum wurden Bedenken, Hinweise und Kritik wie in den Jahren zuvor als Ausdruck der aktiven Teilnahme am Parteileben verstanden. Das traf tatsächlich zu: Die Menschen wollten mit Unterstützung der LDPD ihre eigene Lebenssituation verbessern. Fraglos ist die Erfolgsbilanz der Kaderarbeit ambivalent, denn die Vorstellung, alles unter Kontrolle zu haben, war eine Illusion. SED, MfS und die LDPD-Führung glaubten daran, weil sie annahmen, dass sie in der LDPD-Mitgliederbasis Zugriff auf eine Herde fügsamer Opportunisten hätten. Doch die heutige Analyse damaliger Quellen belegt, dass Unterordnung und Einfügung innerhalb der LDPD nicht im Selbstlauf geschahen. Sie wurden, wie der opportunistische Habitus in der Mehrheit der gesamten DDR-Bevölkerung, unter erheblichen Anstrengungen erzeugt. Das Erziehungsziel der Heranbildung sozialistischer Persönlichkeiten in der Blockpartei verlangte die jederzeit abrufbare Aktivität hauptberuflicher und ehrenamtlicher Parteikader. Die Disziplinierung der Parteibasis erforderte deren ständige Bemühungen und ihren persönlichen Einsatz, Ressourcen, die in permanenter Kaderarbeit der Parteiapparat aus sich selbst hervorbringen musste. Auf dieser Grundlage erbrachten Kader wie Mitglieder über lange Jahrzehnte hinweg die von ihnen erwarteten Anpassungsleistungen: Die Kader betätigten sich als Multiplikatoren der Disziplinierung, die Mitglieder bewegten sich im Rahmen des ihnen zugestandenen Eigensinns.78 76
Referat Heusingers in der Sitzung des Zentralvorstandes am 18.12.1986 (ADL, Bestand LDPD, Zentralvorstand L4-340, Bl. 10–66, hier 65). 77 Vorlage zur Sitzung 29.9.1987, Zwischenbericht zum Stand der persönlichen Gespräche vom 21.9.1987 (ADL, Bestand LDPD, Sekretariat des Zentralvorstandes L3-601, Bl. 43–55, hier 53). 78 Vgl. Thomas Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999.
III. Über den Tellerrand: Fühmann, Quellenkritik und Kontrafaktik
Christoph Schreiber
Soldat, Marxist, Kulturfunktionär: Die Metamorphosen des Franz Fühmann
Das Leben des Schriftstellers Franz Fühmann (1922–1984) war bestimmt von den totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts. Von 1950 bis 1958 war er hauptamtlicher Kulturfunktionär der National-Demokratischen Partei Deutschland (NDPD). In seiner Kindheit und Jugend katholisch und nationalsozialistisch geprägt, wurde Fühmann in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ein Marxist respektive eingeschworener Stalinist. In den 1950er-Jahren entwickelte er sich zu einem gefeierten Autor und erhielt 1956 den Heinrich-Mann-Preis, 1957 den Nationalpreis der DDR. Chruschtschows Abrechnung mit Stalin löste in Fühmann eine Krise aus. Er wurde zunehmend kritischer. 1958 aus dem Hauptausschuss der NDPD ausgeschlossen, verließ er die Partei 1972. Fühmann wurde zu einem widerständigen Schriftsteller, der stets Kritik übte und dennoch am Sozialismus festgehalten hat. Anhand seiner Biografie lassen sich zwei zentrale Forschungsinteressen zur NDPD erläutern: die Herkunft der Gründergeneration der NDPD aus den sowjetischen Antifa-Schulen und die Wandlung vom überzeugten Nationalsozialisten zum neuen sozialistischen Menschen.
Katholische Kindheit und nationalsozialistische Jugend: Das Leben Fühmanns bis 1945 Franz Fühmann wurde am 15. Januar 1922 im tschechoslowakischen Rochlitz an der Iser (Rokytnice nad Jizerou) geboren, einem Dorf im damals mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Teil des Riesengebirges. Sein Vater Josef, ein Apotheker, war Mitglied der rechten Sudetendeutschen Partei. Mit der Angliederung des Sudetenlands an das Deutsche Reich im Jahr 1938 trat er in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ein.1 1
Vgl. Abschrift des Lebenslaufs vom 8.3.1977 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 37).
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Der katholisch erzogene, tiefgläubige Franz Fühmann besuchte nach fünf Jahren Volksschule ab 1932 das Jesuiten-Konvikt in Kalksburg nahe Wien. Es folgten Schulbesuche im nordböhmischen Reichenberg (Liberec) und in Hohenelbe (Vrchlabí).2 1936 trat Fühmann in den nationalsozialistischen »Deutschen Turnbund«, der späteren sudetendeutschen Hitlerjugend, ein, 1938 wurde er Mitglied in der »Reiter-SA«.3 Direkt nach der Matura meldete sich Fühmann als Freiwilliger zur Wehrmacht, wurde aber zum Reichsarbeitsdienst eingezogen.4 Die ersten Monate des Überfalls auf die Sowjetunion erlebte er als Arbeitsdienstmann in Lettland und Estland. Er wurde im Straßenbau eingesetzt, erlitt einen Leistenbruch und wechselte nach einem Lazarettaufenthalt im Oktober 1941 in die Wehrmacht.5 Als Nachrichtensoldat der Luftwaffe wurde Fühmann als Fernschreiber und Telefonist fast zwei Jahre in der Ukraine stationiert, ehe im Herbst 1943 die Versetzung nach Griechenland folgte.6 Er erlebte den Rückzug der Wehrmacht aus Griechenland über Serbien und Kroatien. Vermutlich aus Sarajewo wurde Fühmann, der durch eine Verwundung eine schwere Infektion davongetragen hatte, mit einem Lazarettzug nach Jena gebracht.7 Nach der Genesung und einem Aufenthalt im Heimatort Rochlitz meldete Fühmann sich pflichtbewusst zurück und trat am 7. Mai 1945 den Dienst in einer Flakeinheit an. Nur zwei Tage später geriet er als Obergefreiter in sowjetische Kriegsgefangenschaft.8 Fühmann war in den Kriegsjahren ein überzeugter Nationalsozialist. Während des Besuchs der Fronthochschule in Athen hielt er ein Referat über »Das ethische Leitbild des Germanentums«.9 Erste Gedichte erschienen im Februar 1942 in einer kleinen Anthologie. Einem größeren Publikum präsentierte sich der Soldat Fühmann in der NS-Wochenzeitung »Das Reich«: »Karg und klar ist die Zeit. Ehern waltet die Not. Zucht und Demut vollenden das Leid«,10 so die beispielhaften Verse. Joseph Goebbels lobte den jungen Dichter, »so schreibe der namenlose Soldat des Ostens«,11 und auch der Vater in Rochlitz zeigte die
2 3
Vgl. ebd. Vgl. Gunnar Decker, Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Eine Biographie, Rostock 2009, S. 445; Franz Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Ingrid Prignitz (Hg.), Franz Fühmann. Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlass, Rostock 1991, S. 159. 4 Vgl. Hans Richter, Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben, Berlin 1992, S. 108 f. 5 Vgl. Abschrift des Lebenslaufs, Bl. 37. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. Richter, Franz Fühmann , S. 114 f.; Abschrift des Lebenslaufs, Bl. 37. 8 Vgl. Abschrift des Lebenslaufs, Bl. 38. 9 Vgl. Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 160. 10 Aus dem Gedicht »Das Mass«. Faksimile der Zeitungsausgabe vom 28.1.1945. Abgedruckt bei Barbara Heinze (Hg.), Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen, Rostock 1998, S. 36. 11 Alexander Cammann, Rezension zu Gunnar Deckers Fühmann-Biografie. In: FAZ vom 8.7.2009, S. 28.
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Gedichte des Sohnes stolz umher.12 Dieser soll nach Äußerungen Fühmanns die Gedichte ohne Wissen des Sohnes an die Zeitungsredaktion verschickt haben.13
Gefangenschaft und Wandel: Franz Fühmann in der Sowjetunion 1945 bis 1949 Über die Jahre der Kriegsgefangenschaft Fühmanns existieren nur wenige Quellen. Neben zwei sowjetischen Beurteilungen und einem Brief an die Schwester vom Mai 1949 ist die Einschätzung eines Mitgefangenen erhalten, die dieser allerdings erst 1976 niederschrieb. Zunächst die wenigen Anhaltspunkte, die Fühmann selbst in seinem autobiografischen Erzählband »Das Judenauto – Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten« (1962 erschienen) nennt und auch von seinen Biografen Hans Richter und Gunnar Decker wiedergegeben werden: Über ein Durchgangslager in Brünn (Brno) wurde Fühmann im Sommer 1945 nach Rumänien abtransportiert und bestieg an der dortigen Schwarzmeerküste ein Schiff, das ihn bis nach Noworossijsk, einer im Krieg schwer zerstörten Stadt an den westlichen Ausläufern des Kaukasus, brachte. Von dort ging es für Fühmann und seine Mitgefangenen in ein Arbeitslager im kaukasischen Urwald. Die Lager insassen wurden für Waldarbeiten und den Straßenbau eingesetzt.14 Im Februar 1947 kommandierte man Fühmann an eine Antifa-Schule. Es werden Krasnogorsk und später Noginsk bei Moskau als Schulungsorte genannt. Nach Beendigung des Lehrgangs wurde der Kursant Fühmann zum Assistenten ernannt.15 Von Januar bis Dezember 1949 war er als Oberassistent und Lehrer tätig,16 seine Einsatzorte waren Noginsk, Rjasan und das lettische Ogre.17 Bereits vor seinem Kursbesuch wurde Fühmann von einem sowjetischen Oberleutnant und »Instrukteur für antifaschistische Arbeit« positiv beurteilt: »Während seines Aufenthaltes im Lager offenbarte er seine antifaschistische Haltung. Er führt die antifaschistische Arbeit unter den Kriegsgefangenen, ist Mitglied im Redaktionskollegium der Wandzeitung des Agitationspunktes und 12 13 14
Vgl. Decker, Franz Fühmann, S. 84. Vgl. Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 160. Vgl. Richter, Franz Fühmann, S. 115; Decker, Franz Fühmann, S. 445; Heinze (Hg.), Fühmann, S. 33; Grundlage sind die zwei Erzählungen »Gerüchte« und »Regentag im Kaukasus«, in ihrer Urfassung abgedruckt in der autobiografischen Prosasammlung Franz Fühmann, Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten. Kabelkran und Blauer Peter. Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, Rostock 1979, S. 134–161. 15 Vgl. Einschätzung eines Mitgefangenen vom 14.12.1976 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 63). 16 Vgl. Biographische Datenbanken der Stiftung Aufarbeitung, Stichwort Franz Fühmann (https: //www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographischedatenbanken/franz-fuehmann; 20.6.2016). 17 Vgl. Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 162.
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Vorleser der deutschen Zeitungen. Alle Aufträge, die die antifaschistische Arbeit betreffen, erfüllt er gewissenhaft. Er hat Interesse am Studium von Werken Lenins und Stalins. Er zeigt Interesse für die aktuelle internationale Politik.«18 Diese Bewertung dürfte Fühmann den Weg in eine »Gefangenenschule für Marxismus«19 geebnet haben. In den Antifa-Schulen wurden ausgewählte Kriegsgefangene ideologisch unterrichtet und damit im Sinne der kommunistischen Weltanschauung »umgeschult«. Ferner bildeten die Antifa-Kursanten einen Pool an neuen Kadern, die in der SBZ respektive DDR eingesetzt werden sollten. Entsprechend der seit 1935 verfolgten Dimitroff-These war im Begriff des Antifaschismus »der Kampf gegen die Barbarei des Finanzkapitals, gegen Militarismus, imperialistischen Krieg und Terror […]«20 eingeschlossen. Erklärtes Ziel war es, »weite Kreise der Bevölkerung für die antifaschistische Bewegung zu gewinnen und sie um die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei zu sammeln«.21 Ein Abbild dieser Kreise im Kleinen fand sich in den Kriegsgefangenenlagern. Ein realistisches Bild der »Umerziehung« geben die Erinnerungsberichte dreier Kursteilnehmer, die sich nach ihrer Rückkehr nicht in die SBZ/DDR begaben bzw. nach kurzer Zeit desillusioniert das Land verließen: Heinrich von Einsiedel, Jesco von Puttkamer und Otto Engelbert hatten zeitnah ihre Erlebnisse niedergeschrieben. Heinrich von Einsiedel wurde als Jagdflieger am 30. August 1942 bei Stalingrad abgeschossen. Sein 1950 veröffentlichtes »Tagebuch der Versuchung« ist eine ausgewogene Darstellung seiner Kriegsgefangenschaft.22 Von Einsiedel wurde nach der Freilassung 1947 SED-Mitglied und Redakteur der »Täglichen Rundschau«, einer von der Roten Armee herausgegebenen Tageszeitung. Im Dezember 1948 ging er enttäuscht nach Westdeutschland. Er war jahrzehntelang Mitglied der SPD, nach 1990 trat er in die PDS ein und vertrat die Partei im Bundestag.23 Der Oberleutnant Jesco von Puttkammer war Ordonanzoffizier Arno von Lenskis, jenem Generalleutnant der Wehrmacht, der Generalmajor der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und Funktionär der NDPD werden sollte. Von Puttkamer arbeitete später als langjähriger Chefredakteur des sozialdemokratischen »Vorwärts« und war Botschafter für die Bundesrepublik.24 Über Otto Engelbert ist wenig bekannt: Er wirkte als Propagandist im Umfeld des National-
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Politische Beurteilung des Kriegsgefangenen Fühmann vom 3.7.1946. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 42. 19 Vgl. Jesco von Puttkamer, Irrtum und Schuld. Geschichte des Nationalkomitees »Freies Deutschland«, Neuwied und Berlin 1948, S. 37. 20 Antifaschismus. In: Kleines politisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1967, S. 34. 21 Ebd. 22 Heinrich Graf von Einsiedel, Tagebuch der Versuchung, Berlin und Stuttgart 1948. 23 Vgl. Frank Schumann, Der rote Graf. Heinrich Graf von Einsiedel. Geschichtliche Betrachtungen, Frankfurt (Oder) 1994, S. 7–9. 24 Vgl. Neue Deutsche Biographie, 21 (2003), S. 22.
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komitees »Freies Deutschland« (NKFD), war von November 1945 bis Mai 1946 Antifa-Schüler und hatte nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Anfang 1950 seine Erinnerungen niedergeschrieben.25 Vom Mai 1942 bis zum Frühjahr 1950 wurden Kriegsgefangene in den Antifa-Schulen unterrichtet, die Kurse liefen vier oder sechs Monate. Von Einsiedel war im Sommer 1944 Schüler in Krasnogorsk, Direktor der dortigen Lehranstalt war der spätere Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser. Die Kurse fanden 1944 in Klassen zu je 30 Personen statt. Pro Tag wurden Vorlesungen und Seminare im Umfang von vier bis sechs Stunden gehalten, danach betrieben die Schüler für vier Stunden ein Selbststudium.26 Otto Engelbert hielt die feste Struktur seiner im ersten Halbjahr 1946 durchgeführten Schulung genau fest: Einer vierstündigen Vorlesung, Lektion genannt, schloss sich die mehrstündige Selbstbeschäftigung an. Die Vorlesungsinhalte wurden in Hefte übertragen und in Gruppen besprochen. Es folgte eine zweistündige Konsultation, in der den Lehrkräften Fragen gestellt werden durften. Den Abschluss bildete das zwei- bis vierstündige Seminar, in dem der Lernstoff erneut besprochen und geprüft wurde, flankiert von Kurzreferaten der Kursanten zu ausgewählten Themen.27 Lehrinhalte waren der dialektische und historische Materialismus, das politische System der Sowjetunion, die Geschichte der sowjetischen und der deutschen Arbeiterklasse und die Analyse des Kriegsverlaufs.28 Tonangebend in dieser Zeit war Stalins Aufsatz »Über dialektischen und historischen Materialismus«, der im 1938 erstmals aufgelegten »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)« erschienen war. Dieses Buch, das die Rolle Stalins stark überbewertete und die Kommunistische Partei als alleinige Erkenntnisträgerin propagierte, prägte eine ganze Generation. Bis zum XX. Parteitag der KPdSU 1956 und der Offenlegung der Verbrechen Stalins wurde das Buch in der SBZ/DDR eine Million mal gedruckt.29 Die Lernenden wurden gezwungen, sich aktiv mit ihrer politischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Triebwerk hierfür waren »Kritik und Selbstkritik«. Integriert in die ideologische Lehre – »eine welthistorische Besonderheit der
25 Otto Engelbert, Die Antifa-Schule Talizy. Schule des »Zwiedenkens«. In: Wolfgang Benz/ Angelika Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft. Berichte über das Leben in Gefangenenlagern der Alliierten von Otto Engelbert, Hans Jonitz, Kurt Glaser und Heinz Pust, München 1991, S. 12 f. und 65–83. 26 Vgl. von Einsiedel, Tagebuch der Versuchung, S. 126. 27 Vgl. Engelbert, Die Antifa-Schule Talizy. In: Benz/Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft, S. 75. 28 Vgl. von Einsiedel, Tagebuch der Versuchung, S. 126; von Puttkamer, Irrtum und Schuld, S. 37 f. Ein umfangreicher Lehrplan bestehend aus 44 Kategorien findet sich bei Engelbert, Die Antifa-Schule Talizy. In: Benz/Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft, S. 75–77. 29 Die 18. und letzte Auflage beim Dietz-Verlag: Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B), Berlin (Ost) 1955.
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marxistisch-leninistischen Weltanschauung […] besteht […] darin, dass sie nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst gegenüber revolutionär-kritisch eingestellt ist«30 – wurde Kritik als objektive Bewertungshilfe zur Optimierung der Parteiarbeit angesehen.31 Die Selbstkritik sollte gesellschaftlich wirken, denn eine kommunistische Partei erfülle dann ihre Pflicht, wenn Fehler offen zugegeben und erklärt würden, was sich positiv auf die Erziehung der Massen auswirke.32 Und eben diese »massovaja«, die sowjetische Gesellschaft, sollte aktiv teilnehmen am öffentlichen Dialog, als »loyale Mitglieder, die Probleme der sowjetischen Wirklichkeit aufmerksam betrachten und untereinander das lösungsorientierte Gespräch suchen […]«.33 Offen zugeben bedeutete, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. Es oblag letztendlich der Begabung des Partei- oder Kollektivmitglieds, ob es sich in dieser »panoptischen Kontrollzone«34 bewährte oder aber für politisch untauglich erklärt wurde. In der Realität waren Kritik und Selbstkritik maßgeblich ein Instrument der Machtsicherung und der Aussiebung. Ein Funktionär mit – wirklicher oder inszenierter – opponierender Meinung war gezwungen, in Sitzungen oder auf Parteitagen öffentlich Position zu bekennen, um sie im gleichen Atemzug mit allem Nachdruck zu revidieren.35 »Jeder dieser ›Selbstberichte‹ ist ein merkwürdiges Schauspiel. Der ihn gibt, hat die Wahl: Entweder erniedrigt er sich selbst, durch Schuldbekenntnisse und Selbstanklagen, oder er wird erniedrigt durch die Zuhörer, die sich selbst zu erhöhen und reinzuwaschen versuchen, indem sie Widersprüche in seinen Worten aufdecken, seine Entschuldigungen nicht gelten lassen, absichtliches Verschweigen vorwerfen. Zum Schluss wird abgestimmt, ob dieser Kamerad zur Gemeinschaft gehört oder nicht.«36
So beschreibt Otto Engelbert die Selbstkritiksitzungen in der von ihm besuchten Antifa-Schule Talizy. Franz Fühmann hingegen idealisierte seine Zeit als Antifa-Kursant bis ins mystische: »Bevor wir Brot kriegten, kriegten wir eine Kiste mit Büchern.«37 In der Lagerbibliothek soll der literaturinteressierte Fühmann Texte von Georg Lukács und Lenins Reflexionen über Tolstoi gelesen haben.38 Wie der fast gleichaltrige Heinrich von Einsiedel wurde Fühmann in der Krasnogorsker Schule von Wilhelm Zaisser unterrichtet. Hanna Wolf, die über drei
30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. M. A. Leonow, Kritik und Selbstkritik. Eine dialektische Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der Sowjetgesellschaft, Berlin (Ost) 1950, S. 11. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Lorenz Erren, »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin 1917 bis 1953, München 2008, S. 95. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 132. Engelbert, Die Antifa-Schule Talizy. In: Benz/Schardt (Hg.), Kriegsgefangenschaft, S. 72 f. Zit. in Richter, Franz Fühmann, S. 117. Vgl. ebd., S. 120.
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Jahrzehnte die Parteihochschule »Karl Marx« leiten sollte, hatte als Lehrerin großen Einfluss auf Fühmann ausgeübt.39 Eine Beurteilung des Schülers Fühmann von 1947 charakterisiert ihn als fähigen zukünftigen kommunistischen Kader: »Am Anfang war er geprägt von halbfaschistischen und kleinbürgerlichen Vorurteilen. Er war voll von deutschem, pseudointelligentem Hochmut, Individualismus und missachtete das Kollektiv. Unter dem Einfluss der intensiven Beschäftigung mit dem Lehrgangsprogramm und der politischen Erziehungsarbeit der Gruppe hat Fühmann diese Eigenschaften abgelegt und gewann größere Autorität im Kollektiv, entwickelte sich zu einem klugen Antifaschisten, der die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht, einige theoretische Grundwerke durchstudiert hat und ständig bereit zum Kampf um das neue demokratische Deutschland ist.«40
Am Ende der Beurteilung wird Franz Fühmann für eine Assistenzstelle im Lehrbetrieb empfohlen. Ein Mitschüler beschrieb ihn als sensiblen Schöngeist, der mehr las als sprach und in den Selbstkritik-Veranstaltungen zurückhaltend agierte. Über Fühmanns Delegierung zum Antifa-Assistenten wäre man im Lehrgangskollektiv verwundert gewesen.41 Als Assistent musste Fühmann Eindruck hinterlassen haben. Nachdem er 1963 den Johannes-R.-Becher-Preis gewonnen hatte, schrieb ihm ein ehemaliger Schüler. Fühmann habe dem »Lehrgang 2/1949« geholfen, »die Welt zu begreifen und die Kenntnisse zu erwerben, die uns heute noch helfen, unseren Beitrag zu unserem gemeinsamen Werk zu leisten«.42 Die Gründung der DDR, die er in ihrer Abgrenzung zur Bundesrepublik und als wahren Staat des deutschen Volkes begrüßte,43 erlebte Franz Fühmann in der Ferne der Kriegsgefangenschaft. Dennoch nahm er am politischen Leben teil. Bereits am 27. November 1948 wurde ein Artikel von ihm im »Neuen Deutschland« (ND) abgedruckt, in dem er das Gelernte vorbildlich referieren sollte. Fühmann, der als antifaschistischer Kriegsgefangener vorgestellt wurde, hatte eine Antwort auf einen Beitrag im ND verfasst, der einen Monat zuvor, am 28. Oktober 1948, erschienen war. Dieser Beitrag mit dem Titel »Die Kunst als Aufgabe« wurde von einem Erich Vogt verfasst, über den es keine fassbaren biografischen Daten gibt. Vogts These beruht auf der Annahme, dass Kunst nicht aus sich selbst heraus geschaffen werden könne, sondern untrennbar mit der gesellschaftlichen Entwicklung verknüpft sei. Der Künstler müsse sich immer rückversichern, ob seine Kunst dem gesellschaftlichen Fortschritt diene, denn nur dann habe sie eine Existenzberechtigung.44 Der Fühmann-Biograf Hans Richter setzt Vogts Text in 39 40 41 42 43 44
Vgl. ebd., S. 121. Beurteilung Franz Fühmann vom 10.8.1947. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 42. Einschätzung vom 14.12.1976 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 63). Brief vom 24.5.1963. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 46. Franz Fühmann, Zum ersten Mal: Deutschland. In: ders., Das Judenauto, S. 162. Vgl. Erich Vogt, Die Kunst als Aufgabe. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 179 f.
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den politischen Kontext. In den Tagen des Erscheinens des Artikels hielt Walter Ulbricht auf einer gemeinsamen Tagung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und des Kulturbundes (KB) einen Vortrag, in dem er die Aufgaben der Kunstschaffenden im Zweijahrplan darlegte. Für das Anliegen der SED, Kunst und Kultur für die politische Umgestaltung der ostdeutschen Gesellschaft dienstbar zu machen, warb Erich Vogt im ND und das relativ abgekoppelt vom dialektischen Duktus.45 Es war »ein betont offener Text, der an die Bereitschaft aller Bereitwilligen appellierte, sich für eine antifaschistische Zukunft einzusetzen«.46 In offenbarer Unkenntnis dessen, kanzelte Fühmann in seiner Replik den Text Vogts ab. Der Autor habe nicht im Sinne des historischen Materialismus argumentiert, seine Gedankengänge seien schlicht unmarxistisch. Der Versuch eines grundsätzlichen Artikels beleidigte den in Lettland lehrenden Fühmann: »Von einer politischen Aufgabe im Allgemeinen zu sprechen, ohne auf die Klassenbestimmtheit der Politik auch nur mit einem Wort einzugehen, ist kein Marxismus mehr. Daher ist es auch nur natürlich, dass Vogt kein Wort über die konkreten Aufgaben der Arbeiterklasse in der Kunst sagen konnte. Das aber hätte der Kern und Höhepunkt des Artikels sein müssen.«47 Die »Bekehrung« zum Kommunismus als bloßen Konformismus der deutschen Kriegsgefangenen abzutun, würde für Fühmann zu kurz greifen, das zeigt diese erste Wortmeldung in der Presse seit 1945. Den Kriegsjahren folgten Jahre der Gefangenschaft. Sie gingen einher mit der totalen Isolation des Kriegsgefangenen, mit gebetsmühlenartiger Rezeption der kommunistischen Lehre und gefilterten, eingefärbten Informationen über den Hergang der Welt- und Deutschlandpolitik. Fühmann hatte den Marxismus-Leninismus verinnerlicht und konnte nach Jahren des Studiums dialektisch argumentieren. Hinzu kommen, so Fühmann rückblickend, Schuldgefühle. Man war nicht nur Verlierer des Krieges, sondern Teil seiner Gräuel: »Auschwitz lastete auf uns, alles andere war zweitrangig.«48 In einer Mischung aus Schuld und Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion, die die Möglichkeit der Bewährung gab, schien für Franz Fühmann der Sieg des Kommunismus unvermeidlich. Besonders das Studium des »Kapitals« hatte in ihm einen tief greifenden Wandel ausgelöst. Die Marx’sche Gesellschaftsanalyse wurde auf das eigene, bisherige Dasein angewandt und »alle Stationen meines Lebens waren […] vor meinen Augen gestanden, die nun frei sehen konnten, hindurch bis zum Grund der Zeit«.49
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Vgl. Richter, Franz Fühmann, S. 119. Decker, Franz Fühmann, S. 102. Franz Fühmann, Die Kunst als Aufgabe. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 178. Interview von 1984. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 44. Franz Fühmann, Zum ersten Mal: Deutschland. In: ders., Das Judenauto, S. 162.
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Die Jahre als hauptamtlicher Kulturfunktionär der NDPD 1950 bis 1958 Weihnachten 1949 kehrte Franz Fühmann nach viereinhalb Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland: »Damals besaß ich fünfzig Mark Bargeld, einen Anzug und einen Mantel, beide aus gefärbten Wehrmachtsuniformen geschneidert, ein Paar grobe Schuhe, eine Pelzmütze, etwas Leibwäsche, Seife und Zahnbürste, ein Besteck, drei Broschüren und einen Holzkoffer, gefüllt mit den Schätzen, die ich vor der Abfahrt aus Lettland von meinem Arbeitslohn hatte kaufen können: eine Büchse gemahlenen Mischkaffee, eine Rolle Rauchfleisch, Fischkonserven, Zigaretten, Zucker, Kakao. Meinen größten Schatz aber, den ich mir während der Kriegsgefangenschaft erworben hatte, den trug ich im Kopf: ein neues, ein gültiges Bild der Welt.«50
In einem Brief an die Schwester vom 23. April 1949 lässt Fühmann wenige Monate vor seiner Entlassung die Zeit der Gefangenschaft Revue passieren. Er rühmt die Sowjetunion, die äußerst faire Behandlung seiner Person, die vielen Freizeitangebote im Lager. Nicht zuletzt referiert er seinen politischen Erkenntnisgewinn der vergangenen Jahre. Fühmann war als bekennender Nationalsozialist in die Kriegsgefangenschaft gegangen und kam als Dogmatiker des Marxismus zurück. Am Ende des Briefes offenbart er seinen nächsten Schritt: Er wolle in die SED eintreten. Dort sei sein Platz, dort wolle er auch seine Schwester sehen.51 Und auch seine Wunschpartei ist vom Heimkehrer überzeugt. In einer Auskunft kommt man zu dem Schluss: »Fühmann ist in der Lage, mit Erfolg in leitender Tätigkeit sowohl in der zentralen Presse der SED als auch im Kulturbund oder in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft zu arbeiten.«52 Es sollte anders kommen. Bereits am 28. Dezember 1949 wurde Fühmann Mitglied der NDPD.53 Die 1948 gegründete Partei sollte Entnazifizierte, konservative Kreise und die aus den Kriegsgefangenenlagern zurückströmenden Wehrmachtsangehörigen in ihren Reihen versammeln und ihnen die Integration in die SBZ/DDR erleichtern. Gleichzeitig kam der NDPD gemeinsam mit der fast gleichzeitig gegründeten Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) die Aufgabe zu, die »bürgerlichen Parteien« LDP(D) und CDU(D) zu schwächen. NDPD und DBD waren Produkte der Sowjetunion, der Ideengeber hieß Stalin. Im Januar 1947 waren Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Max Fechner, allesamt Mitglieder des Zentralsekretariats des Parteivorstandes der SED, nach Moskau gereist. Stalin informierte die Einheitssozialisten über sein Vorhaben und gab mit »National-Demokratische Partei« sogar den Namen für 50 51 52 53
Ebd., S. 163 f. Vgl. Brief an die Schwester vom 23.5.1949. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 48 f. Auskunft/Charakteristik vom 20.12.1949. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 51. Abschrift des Lebenslaufs, Bl. 38.
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das anstehende Projekt bekannt.54 Der erste Schritt zur NDPD war die Lizenzierung einer Zeitung im März 1948. Die Rhetorik der »National-Zeitung« sorgte für Aufsehen. Der Aufmacher »Was wir wollen! Ein offenes Wort« gab in seiner Mixtur aus nationalem Gebaren und Verschwörungsglauben die Richtung der künftigen Ausgaben vor: Das besiegte Deutschland solle zerrissen werden, damit Plutokraten und fremde Mächte das deutsche Volk versklaven könnten. Die »National-Zeitung« kämpfe gegen diesen Plan an und sehe sich als Sprachrohr »Abermillionen deutscher Volksgenossen«.55 Die ehemaligen Parteigenossen der NSDAP, kurz Pg genannt, sollten mit dem Artikel »Wer fürchtet den kleinen Pg?« für die »National-Zeitung« eingenommen werden: »Als der kleine Mann von der Straße zur NSDAP stieß, dachte er nicht an seinen Nutzen. […] Er ging zur NSDAP, weil er Gleichmut gegenüber dem Schicksal Deutschlands für ein Verbrechen hielt. Er ging um seines Vaterlandes willen, das nach seiner Meinung in Gefahr stand, im Gestrüpp parlamentarischer Redereien zu ersticken. […] Nun ging er […] den Fahnen nach, von denen man ihm sagte, dass es sozialistische wären. Der Mann von der Straße wurde der kleine Pg.«56
Das Gros der NSDAP-Anhänger als verirrte Sozialisten darzustellen, klang schon in den Ohren der Zeitgenossen äußerst krude.57 Dass nicht mal drei Jahre nach Kriegsende ein solcher Ton in der SBZ möglich sein konnte, war damals für viele Kritiker das erste Indiz einer »Täterschaft« der SMAD und SED. Ein weiteres Indiz war der Umstand, dass die »National-Zeitung« »das Kunststück f ertigbrachte, noch vor ihrem, selbst dem findigsten Zeitungsreporter unerwartetem Erscheinen, Leserbriefe zu erhalten […]«.58 Redaktion und Leserschaft der »National-Zeitung« kamen in kürzester Zeit zu dem Schluss, dass ein gewichtiger Teil des deutschen Volkes im bestehenden Parteiensystem der SBZ keine Interessenvertretung habe. In Artikeln und Leserbriefen forderten sie daher eine neue Partei, die sich ihrer Belange annehmen sollte.59 In den Ländern der SBZ kamen der Reihe nach Gründungsinitiativen zusam-
54 Vgl. Dokument 35, Aufzeichnung einer Unterredung zwischen Gen. I. V. Stalin und den Führern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands am 31. Januar 1947 um 21 Uhr. In: Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 bis 1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Band 3: 6. Oktober 1946 bis 15. Juni 1948, Berlin 2004, S. 142 f. und 144. 55 Was wir wollen! Ein offenes Wort. In: National-Zeitung vom 22.3.1948, S. 1. 56 Wer fürchtet den kleinen Pg? In: National-Zeitung vom 22.3.1948, S. 3. 57 Vgl. Otto Stolz, Die Rattenfängermelodie. In: Horizont. Halbmonatsschrift für junge Menschen vom 6.6. 1948, S. 2 f. 58 Informationen des Berliner Landesverbandes der LDP vom 21.5.1948 (Archiv des Liberalismus [ADL], L5-27, Bl. 3). 59 Vgl. Eine Partei wie ich sie mir wünsche. In: National-Zeitung vom 8.4.1948, S. 3; Neue Partei. In: National-Zeitung vom 12.4.1948, S. 1.
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men, in denen »die führende Rolle eigens zu diesem Zweck ausgesuchter Mitglieder der SED und ihr nahestehender Personen, insbesondere solcher, die kürzlich aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, gewährleistet«60 war. Am 25. Mai 1948 schließlich fanden sich die bis dahin gegründeten Landesausschüsse in Potsdam zusammen, um den vorläufigen Zonenausschuss der NDPD zu gründen.61 Die Gründerväter und wenigen »Gründermütter« bestanden aus Entnazifizierten, kommunistischen Exilanten und ehemaligen Antifa-Schülern. Die Heimkehrer aus der Sowjetunion waren in der NDPD von Beginn an tonangebend. Der Parteivorstand in den 1950er-Jahren, also in der aktiven Zeit Fühmanns als Funktionär, kam geschlossen aus den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Der größere Teil bestand aus ehemaligen gefangen genommenen Antifa-Kursanten, der kleinere Teil, wie beispielsweise der Parteivorsitzende Lothar Bolz, aus kommunistischen Exilanten, die an den Antifa-Schulen unterrichtet hatten. Heinrich Homann, der Bolz 1972 als Parteivorsitzender folgte und diesen Posten bis 1989 bekleidete, wurde bereits in der Kriegsgefangenschaft auf die Tätigkeit in der NDPD vorbereitet.62 Auch der Antifa-Schüler Hans Luthardt, der erst in Brandenburg und Thüringen, dann im Bezirk Erfurt hohe NDPD-Posten innehatte, wurde gezielt in die NDPD gebracht.63 Franz Fühmann zog nach Ostberlin. In den 1950er-Jahren erschienen Artikel und Aufsätze in der »National-Zeitung« – sie war mit der Gründung der NDPD das offizielle Parteiorgan – und in der parteitheoretischen Zeitschrift »Die Nation«.64 1952 wurde er in den Parteivorstand der NDPD gewählt, zuvor arbeitete er als persönlicher Referent von Vincenz Müller. Müller war als Generalleutnant der Wehrmacht in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, hatte die Antifa-Schule in Krasnogorsk besucht und wurde 1952 erneut Generalleutnant, diesmal jedoch für die KVP.65 Der Kulturfunktionär Fühmann wurde zum willfährigen Apologeten des Stalinismus. Der in der jungen DDR kultisch verehrte sowjetische Diktator wurde von Fühmann in theoretischen und auch in lyrischen Texten als Genie gepriesen. Stalins bekannter Ausspruch, dass Schriftsteller die Ingenieure der Seele seien, war für Fühmann »das schönste, treffendste und verpflichtendste Wort, das jemals über Beruf und Berufung des Schriftstellers gesagt wurde«.66 Der Tod des 60 Dokument 159. In: Laufer/Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 bis 1948, S. 603. 61 Protokoll der Hauptausschusstagung, undatiert (SAPMO-BArch, DY 16/2677, unpag.). 62 Vgl. Akte Heinrich Homann (BStU, MfS, AOP 180/55, Bl. 147). 63 Vgl. Akte Hans Luthardt (BStU, MfS, AIM 21137/62, Bl. 81). 64 Vgl. Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 163. 65 Zur Biografie Vincenz Müllers: Peter Joachim Lapp, General bei Hitler und Ulbricht. Vincenz Müller – Eine deutsche Karriere, Berlin 2003. 66 Franz Fühmann, Stalin und die Literatur. In: Die Nation, 4/1953, Berlin (Ost), S. 96.
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Diktators erschütterte ihn. Die Aufständischen des 17. Juni waren für Fühmann vom Westen eingeschleuste faschistische Provokateure, er ist damit ganz auf Parteilinie der NDPD, deren Programm seit 1952 und bis zum Ende der DDR auf ganze zwei Punkte zusammenschrumpft war: das Bekenntnis zur führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei sowie die Freundschaft zur Sowjetunion. Diese recht schmale Ausbeute an Inhalten versuchte die NDPD mit einer verstärkten Fokussierung auf dem historischen Feld wettzumachen: Die II. Parteikonferenz der SED im Juni 1952 hatte nicht nur den planmäßigen Aufbau des Sozialismus zum Inhalt, sondern auch eine Neubewertung der deutschen Geschichte. Besonders die Helden der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 sollten laut Generalsekretär Walter Ulbricht eine Aufwertung erfahren, »eine größere Würdigung, als sie sie von der monarchistischen oder weimarischen Geschichtsschreibung erhielten«.67 Die ideologische Inanspruchnahme der Befreiungskriege wurde ab 1952/53 umfangreich von der NDPD betrieben. Es entstanden dutzende Aufsätze und Zeitungsartikel, man lud zur ersten »Theoretischen Konferenz« der NDPD, die unter dem Titel »Lehren des nationalen Befreiungskampfes« abgehalten wurde. Sie fand vom 30. Oktober bis 1. November 1952 in Berlin statt, die Ergebnisse wurden in einem Sammelband zugänglich gemacht.68 Der Politikwissenschaftler Harald Bluhm sieht darin einen »arbeitsteiligen Kräfteeinsatz, für den die SED der NDPD Spielraum ließ. Stärker als die Kommunisten konnten Politiker dieser Partei die nationale Karte spielen.«69 Ferner stand ein gewichtiges Jubiläum an: 1953 wurde die 140-Jahr-Feier zum Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig begangen. Die NDPD führte mit großem Aufwand ihren 5. Parteitag in Leipzig durch. Sie sah sich und die DDR in der Tradition der antinapoleonischen Befreiungsbewegung, polterte gegen Adenauer als neuen Metternich und Rheinbundfürsten und sah in der Sowjetunion die Nachfolgerin des 1813 mit Preußen verbündeten Zarenreichs Russland. Diese schiefe Analogie schlug sich auch in der Masseninszenierung am Völkerschlachtdenkmal nieder. Die westdeutsche »Zeit« berichtete darüber: »Ende voriger Woche erlebte die Umgebung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig eine seltsame Verwandlung. Überlebensgroße Pappstandbilder wurden längs der Zufahrtstraße aufgepflanzt, Malenkow neben Theodor Körner, Mao neben Blücher, Pieck neben 67 Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Referat und Schlusswort auf der II. Parteikonferenz der SED. Berlin, 9. bis 12. Juli 1952, Berlin (Ost) 1952, S. 110. 68 Lehren unseres nationales Befreiungskampfes 1806 bis 1816 (redigiert von Siegfried Dallmann und Wolfgang Rösser), Berlin (Ost) [1953]. 69 Harald Bluhm, Zu Ikonographie und Bedeutung von Darstellungen des Befreiungskrieges 1813/14 in der Staatsrepräsentation der DDR. In: Dieter Vorsteher (Hg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR. Buch zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 13.12.1996 bis 11.3.1997, Berlin 1996, S. 170.
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Gneisenau. Der Erste, der hinter einem riesigen Kranz durch diese groteske Ahnengalerie der Völkerschlacht schritt, war Dr. Lothar Bolz.«70 Als NDPD-Kulturfunktionär wollte Franz Fühmann auch seinen Beitrag zur Geschichtsrezeption der Befreiungskriege leisten. In einem Schreiben vom 20. Mai 1954 berichtete er den Mitgliedern des Parteivorstandes von seiner Idee zu einem Film. Er bat darum, dass sein Vorhaben im Vorstand oder in einer dafür zu bildenden Kommission besprochen wird, speziell auf den politisch-ideologischen Inhalt des Werks solle geachtet werden.71 Der Film solle nicht bloß den Sieg über Napoleon zum Inhalt haben, sondern auch die preußischen Reformen, die Fühmann als Resultat »innenpolitischer Klassenkämpfe« bezeichnete. Er schreibt vom »nackten Klassengesicht« der »Reaktion«, das in dieser Zeit sichtbar werde und als innerer Feind das Äquivalent zum äußeren Feind Napoleon abgeben würde.72 Fühmann scheint in der zweiten Jahreshälfte 1954 intensiv an seiner Filmidee gearbeitet zu haben, ein auf Februar 1955 datiertes Filmszenario mit dem Titel »1813«73 ist neben der angeführten Anlage für den Parteivorstand der NDPD jedoch das einzige Material zu seinem letztendlich unrealisierten Vorhaben, das der Germanist Dennis Tate vernichtend als »fruitless experiment […], with pseudo-historical subject-matter« und »would-be epic« charakterisiert hat.74 Neben seiner Parteiarbeit etablierte sich Franz Fühmann in den 1950er-Jahren als Schriftsteller. Schon 1950 stellte er Kontakt zu Johannes R. Becher, dem Präsidenten des Kulturbundes der DDR, her, der erste Gedichte veröffentlichten ließ.75 Das Kriegsgeschehen verarbeitete Fühmann im Poem »Die Fahrt nach Stalingrad« (1953) und in der Novelle »Kameraden« (1955), letztere wurde 1957 unter dem Titel »Betrogen bis zum letzten Tag« von der DEFA verfilmt. 1956 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis und ein Jahr später den Nationalpreis der DDR.76 Der XX. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows Abrechnung mit Stalin lösten in Franz Fühmann einen erneuten Wandlungsprozess aus. Das strahlende Vorbild Stalin hatte seine Herrschaft auf Unterdrückung und Massenmord aufgebaut und er, Fühmann, war mit Eifer an der Legitimation der stalinistischen DDR beteiligt gewesen. Nun begann jedoch seine dogmatische Weltsicht zu bröckeln. Die Erkenntnis, gleich zwei gewalttätigen Ideologien begeistert gefolgt zu sein, 70 »Außenminister« Bolz. In: Die Zeit vom 22.10.1953 (http://www.zeit.de/1953/43/aussen minister-bolz; 20.6.2016). 71 Vgl. Beiträge Franz Fühmanns zur Kulturpolitik in der NDPD (SAPMO-BArch, DY 16/728, unpag.). 72 Filmprojekt Franz Fühmann (SAPMO-BArch, DY 16/2325, unpag.). 73 Das Filmszenario findet sich in der Akte SAPMO-BArch, DY 16/1005. 74 Dennis Tate, Franz Fühmann. Innovation and Authenticity. A Study of his Prose-Writing, Amsterdam 1995, S. 35. 75 Vgl. Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 162. 76 Vgl. ebd., S. 164 f.
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traf ihn tief. Zunächst besann sich Fühmann, »er glaubt, dass es auch in der DDR zu einer Entstalinisierung und zu einer Reform des unter Ulbricht erstarrten Sozialismus kommen wird«.77 Der Posener Arbeiteraufstand im Juni 1956 und der Ungarische Volksaufstand Ende desselben Jahres »verfehlten nicht ihre Wirkung auf Fühmann«.78 Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dem Fühmann seit 1954 als IM »Salomon« diente, beäugte ihren Informanten zunehmend kritischer. Auch im Vorstand der NDPD machte man sich besorgte Gedanken um den Parteifreund: »Die klare politische Linie, die er für die Arbeit in der NDPD braucht, fehlt ihm z. Zt., ebenfalls auch die notwendige Härte, sodass die kulturpolitische Arbeit der NDPD keine klare Konzeption hat.«79 Fühmanns Funktionärstätigkeit nahm auf dem 7. Parteitag der NDPD 1958 ihr Ende, Auslöser dafür war ein Brief an den Parteifreund Vilmos Korn. Korns Biografie war mindestens ebenso schillernd wie die Fühmanns: Im Ersten Weltkrieg Soldat, wurde Korn nach Kriegsende erst Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates und ging dann 1928 in die NSDAP. Dort trat er 1930 aus wegen seiner Nähe zum linken Flügel um Otto Strasser und den daraus resultierenden Machtkämpfen. Als er wegen »marxistischer Tendenzen« auch die Strasser-Gruppe verlassen musste, wurde er 1931 Mitglied in der KPD. Nach 1933 lebte Vilmos Korn jahrelang illegal in unterschiedlichen Regionen Deutschlands. 1943 diente er wenige Monate als Luftwaffenoffizier, bis er denunziert und inhaftiert wurde. Nach Kriegsende geriet er zunächst in US-amerikanische Gefangenschaft, nach seiner Entlassung wurde er Leiter der Abteilung Belletristik im sächsischen Ministerium für Volksbildung. Der schriftstellerisch aktive Korn trat 1947 in die SED ein und erhielt 1948 den Parteiauftrag zur Mitgründung der NDPD in Sachsen.80 Korn hatte 1957 mit Blick auf die Tauwetterphase das Romanmanuskript »Wenn die Gestirne wechseln« beim Verlag der Nation, dem NDPD-Parteiverlag, eingereicht. Franz Fühmann oblag als Kulturfunktionär die Aufsicht über die Verlagsarbeit. In einem Brief an Korn vom 16. Oktober 1957 musste Fühmann eingestehen, dass er das Manuskript aus Zeitdruck nur oberflächlich gelesen habe. Er bot Korn ein persönliches Gespräch an, in dem man einige Fragen zur Konzeption des Romans erörtern könne.81 77
Günther Rüther, Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben in zwei Diktaturen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 13/2000, S. 14 f. 78 Bericht über Fühmann vom 4.4.1957 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 65). 79 Gespräch mit den Mitgliedern des Parteivorstandes der NDPD Luthardt, Dallmann und Fühmann (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 55). 80 Vgl. Biographische Datenbanken der Stiftung Aufarbeitung, Stichwort Vilmos Korn (https:// www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographischedatenbanken/vilmos-korn; 20.6.2016). 81 Brief vom 16.10.1957 (SAPMO-BArch, DY 16/801, unpag.).
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In Korns Romanmanuskript wurden diejenigen kommunistischen Funktionäre kritisiert, die verbittert und seelisch kalt die Konzentrationslager verlassen hatten und nun unbeweglich in ihrem Anspruch auf Alleingültigkeit die DDR verwalteten. Diese hartherzigen Befehlsgeber würden das Vorankommen der kommunistischen Idee verhindern, sie hätten sich an ihre Macht gewöhnt.82 Bedenkt man die kulturpolitischen Auseinandersetzungen in der DDR des Jahres 1956, die zwischen »Intelligenzlern« wie Ernst Bloch, Erich Loest oder Wolfgang Harich auf der einen Seite und der SED-Führung auf der anderen Seite gärten,83 musste so ein Manuskript für die politbürotreue Leitung der NDPD ein schwerwiegendes Problem dargestellt haben. So kam es dann auch, dass Parteichef Lothar Bolz Korns Werk erbost angriff und als »Aufruf zum Pogrom« bezeichnete, denn »wenn sie [die im KZ inhaftierten Kommunisten] 1945 nicht vernichtet worden sind, muss man sie endlich vernichten«.84 Fühmann habe die unerhörte Tendenz des Manuskripts nicht erkannt und Vilmos Korn einen wohlwollenden und nur in Stilfragen kritischen Brief geschrieben. Dieses Verhalten erklärte sich Lothar Bolz mit der Arroganz abgehobener Schriftsteller: »Wir Schriftsteller haben uns ja mit Dingen zu befassen, die höher liegen als die Aufgaben gewöhnlicher Sterblicher, und hier treffen wir uns gemeinsam. Das ist der Brief, den Fühmann schreibt, das ist der Brief, mit dem er also an Korns Seite tritt […].«85 Die Parteiarbeit Fühmanns in engerem Sinne griff der stellvertretende Parteivorsitzende Heinrich Homann an. Fühmann wären schwerwiegende Fehler unterlaufen, er habe als Leiter der Kulturabteilung der NDPD versagt und wäre unaufrichtig gegenüber dem Parteivorstand gewesen. Dabei wog schwer, dass Fühmann sein Fehlverhalten nicht habe einsehen wollen und nur nach mehreren Sitzungen langsam um Schadensbegrenzung bemüht gewesen sei.86 Fühmann reagierte auf der Tagung des Hauptausschusses der NDPD Anfang Juli 1958 mit einer umfassenden Selbstkritik: »Dann kam mir dieses Manuskript von Vilmos Korn in die Hände. Ich muss Ihnen hier sagen: Ich habe das, was es ist, nämlich eine Pogromhetze gegen die Konzentrationshäftlinge, gegen die politischen Gefangenen, nicht erkannt. […] Dieser Brief war so unangebracht hochmütig, wie meine Haltung in dieser Frage gewesen ist. […] Ich habe durch meine Schuld das Vertrauen aufs Spiel gesetzt und mir, das ist mir völlig klar und kann auch nicht anders sein, sehr viel an Vertrauen verscherzt.
82 Das Manuskript findet sich im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde (SAPMO-BArch, DY 16/5769). 83 Vgl. Guntolf Herzberg, Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006. 84 Aus dem Protokoll der Tagung des Hauptausschusses der NDPD vom 5.7.1958 (SAPMO-BArch, DY 16/1481, unpag.). 85 Ebd., unpag. 86 Vgl. Aus dem Protokoll der Tagung des Hauptausschusses der NDPD vom 5.7.1958 (SAPMO-BArch, DY 16/3093, unpag.).
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Ich weiß auch, dass es schwer ist, Vertrauen wiederzugewinnen. Ich möchte jetzt keine großen Versprechungen für die Zukunft machen. […] Ich kann Sie nur darum bitten, mir die Gelegenheit im Rahmen der Partei zu geben, meine Fehler wiedergutzumachen.«87
Der Parteitag endete für Franz Fühmann mit dem Ausschluss aus dem Parteivorstand und einem strengen Verweis.88 Fortan blieb er – trotz der Beteuerung sich bewähren zu wollen – der Parteiarbeit fern. Da Fühmann nicht mehr zu Treffen erschien, keine Informationen ablieferte und eine generell ablehnende Haltung an den Tag legte, entpflichtete ihn auch das MfS. 1961 charakterisierte ihn der Geheimdienst als oppositionellen Schriftsteller, der zurückgezogenen an seiner Verweigerungshaltung arbeite.89
Rückzug aus der NDPD und Kritiker am »Realsozialismus« Mit dem Sozialismus hatte Franz Fühmann in den Jahren nach seinem Ausschluss keineswegs gebrochen. Er machte sich auf den »Bitterfelder Weg«,90 wurde für einige Monate Schichtarbeiter auf der Warnemünder Warnowwerft und veröffentlichte seine Erlebnisse im beachteten Reportageroman »Kabelkran und Blauer Peter« (1961). Die Arbeit als freier Schriftsteller und die Entbindung aus dem Funktionsapparat der Partei erinnerte Fühmann später als Befreiung, besonders von der Mittelstandsorientierung der NDPD: »Ich wollte immer daraus ausbrechen und bin dafür immer, ich kann sagen: verhöhnt worden. Man empfahl mir, Gedichte auf den Kommissionshändler zu schreiben oder das Lob des Handwerks anzustimmen; Arbeiter und Bauern wurden von anderen Parteien und ihren Dichtern betreut. – Es wurde schließlich unerträglich. Na ja, da flog ich eben aus dem Apparat und stand nun in dem, was man ›Leben‹ nennt. Gleichzeitig kam die Proklamierung des Bitterfelder Weges. Aber den brauchte man mir nicht zu proklamieren, dahin drängte es mich.«91
Den Mauerbau verteidigte er in der »National-Zeitung« noch als notwendige Maßnahme.92 Es sollten von da an noch fünf Jahre vergehen, bis sich der Schrift-
87 Ebd. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. Auskunftsbericht über Franz Fühmann vom 17.4.1961 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 72 f.). 90 Zu Fühmanns Beitrag in der Bewegung des Bitterfelder Weges vgl. Barbara Wiesener, Franz Fühmann auf seinem Bitterfelder Weg. Briefe, Dokumente, Fotos. In: Simone Barck/Stefanie Wahl (Hg.), Bitterfelder Nachlese. Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen. Mit unveröffentlichten Briefen von Franz Fühmann, Berlin 2007, S. 173–194. 91 Franz Fühmann im Gespräch mit Wilfried F. Schoeller, 1982. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 105. 92 Vgl. Franz Fühmann, Panzer gegen Ungeist. In: National-Zeitung vom 3.9.1961. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 110.
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steller Fühmann zu einem Schritt mit weitreichenden Folgen entschied: 1966 trat er aus dem Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes aus. Das 11. Plenum des ZK der SED, das als »Kahlschlag-Plenum« eine umfangreiche Verbotswelle lostrat und alle Hoffnung auf eine freiere Kulturentfaltung in der DDR been dete,93 wurde von Fühmann als Grund für seinen Austritt angegeben. Er gab sich desillusioniert, wollte aber seine persönliche Maßnahme nicht als generelle Kritik an der DDR verstanden wissen.94 Diese Beteuerung nutzte nichts, Fühmann wurde besonders vonseiten der NDPD angegriffen, er würde sich nicht genügend von regimekritischen Persönlichkeiten wie Robert Havemann, Stefan Heym oder Wolf Biermann distanzieren.95 Die Parteiführung der NDPD versuchte 1966 beharrlich auf Fühmann einzuwirken. Telefonaten und Briefen folgte eine missglückte Aussprache, in der Fühmann kühl und distanziert gewirkt habe.96 Diese attestierte Kühle spricht auch aus Fühmanns letztem Brief an den Kulturfunktionär Siegfried Dallmann. Entgegen der national-demokratischen Gepflogenheit siezt Fühmann den Parteifreund und ersucht die NDPD, endlich von ihm abzulassen: »Ich möchte Sie nunmehr bitten, unsere Angelegenheiten und unseren Briefwechsel als abgeschlossen zu betrachten; ich jedenfalls kann mir eine andere Wahl einfach nicht mehr leisten. […] Bitte zeigen Sie dafür Verständnis und lassen Sie mich ungestört arbeiten; es wäre wirklich für mich die wirksamste Förderung.«97 Im Februar 1968 hielt Fühmann die Eröffnungsrede für eine Ernst-Barlach-Ausstellung in Prag.98 Die Niederschlagung des Prager Frühlings stürzte Fühmann erneut in eine Existenzkrise. Hinzu kamen eine schwere, vermutlich seit den 1950er-Jahren bestehende Alkoholsucht und psychisch bedingtes Übergewicht, denen Zeiten als Abstinenzler und Rohkostverfechter folgten, sowie die Selbstisolierung: Er lebte in einer 60 Kilometer von Berlin gelegenen kleinen Hütte, deren Garage als Bibliotheks- und Arbeitszimmer diente. Fühmann ging erneut und eindringlicher auf Distanz zum DDR-Sozialismus und überdachte seine Position als politischer Schriftsteller. Der Großteil seiner Literatur der vergangenen Jahre wurde ihm mehr und mehr unangenehm. Fühmann entfernte sich von didaktischen Literaturkonzepten, sein Ungarn-Reisetagebuch
93 Vgl. Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000, Berlin 2003. 94 Vgl. Briefe Fühmanns an Willi Lewin vom 5.1.1966 und an Hans Koch vom 10.1.1966. Zit. in Heinze (Hg.), Fühmann, S. 131. 95 Vgl. NDPD über Fühmann (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 85 f.). 96 Vgl. Aktennotiz der Kulturabteilung der NDPD über eine Besprechung mit Franz Fühmann vom 23.3.1966 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 118). 97 Brief Franz Fühmann an Siegfried Dallmann vom 31.3.1966 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 1, Bl. 132 f.). 98 Fühmann, Lebensdaten 1971. In: Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 168.
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»22 Tage oder die Hälfte des Lebens« (1973) sah er als eigentlichen Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit. Fortan bewegte ihn »zum einen die existenzielle Frage, ob er vor der Gaskammer in Auschwitz genau so funktioniert hätte wie als Soldat der Wehrmacht, zum anderen seine Aufgabe als Schriftsteller in der zunehmend konfliktgeladenen sozialistischen Gesellschaft«.99 1972 verließ Fühmann ohne viel Aufhebens die NDPD. In einem Brief bat er, zum Jahresende gestrichen zu werden.100 1976 gehörte er zu den zwölf Schriftstellern und Künstlern, die mit einer Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten. Im selben Jahr begann ihn das MfS im Operativen-Vorgang »Filou« zu beobachten.101 Fühmann förderte in seinen letzten Lebensjahren oppositionelle Schriftsteller, stand der Friedensbewegung nahe, schrieb Kinderbücher und unterhielt mit deren Lesern Brieffreundschaften. Bemerkenswert ist auch seine Arbeit mit geistig und körperlich behinderten Menschen, mit denen er über Literatur sprach.102 Im Zuge der Martin-Luther-Ehrung in der DDR 1983 befasste er sich mit biblischen Themen und steuerte einen Essay zur Faksimile-Ausgabe der Lutherbibel bei.103 Lesereisen in der Bundesrepublik, bei denen er offen die Zustände in der DDR angriff, machten ihn auch im »anderen« Deutschland bekannt. Noch zu Lebzeiten achtete man ihn dort als »ehrenwerten Konvertiten«,104 während das MfS in seinem Abschlussbericht vom 21. April 1989 Fühmann eine »verfestigte feindlich-negative Grundhaltung«105 attestierte und ihm vorwarf, »einen offenen Dialog mit Partei und Regierung über Fragen der Macht sowie der Freiheit und Menschlichkeit im Sozialismus [anzustreben]«.106 Die wenige Monate später stattfindende Friedliche Revolution erlebte er nicht mehr. Durch eine schwere Rückenmarkserkrankung konnte er sich nur noch mithilfe eines Stahlkorsetts aufrechthalten. Trotz mehrerer Operationen starb Franz Fühmann am 8. Juli 1984 in der Berliner Charité an Krebs.107 In seinem Testament bat er die Schriftstellerfunktionäre Hermann Kant und Dieter Noll sowie die Vertreter des DDR-Schriftstellerverbandes von seiner Beerdigung fernzubleiben. In diesem Testament zog Fühmann sein bitteres Lebens-
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Rüther, Franz Fühmann. In: APuZ, B 13/2000, S. 17. Heinze (Hg.), Fühmann, S. 160. Vgl. Auskunftsbericht vom 30.6.1978 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 3, Bl. 283). Vgl. Heinze (Hg.), Fühmann, S. 162. Vgl. Richter, Franz Fühmann, S. 369 f. Vgl. Kopie des Zeitungsartikels von Sabine Brandt, Der ehrenwerte Konvertit. Der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann wird sechzig. In: FAZ vom 15.1.1982 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 5, Bl. 37). 105 Abschlussbericht vom 21.4.1989 (BStU, MfS, AOP 3764/89, Band 6, Bl. 239). 106 Ebd. 107 Vgl. Decker, Franz Fühmann, S. 406 f.
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fazit: »Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumt haben.«108
108 Auszug aus dem Testament vom 26. Juli 1983. Zit. in Prignitz (Hg.), Fühmann, S. 307.
Ines Soldwisch Vom dienstlichen Dokument zur historischen Quelle? Parteimitgliederstatistiken als Forschungsproblem am Beispiel der LDP(D) im Norden der DDR
I. Vorüberlegungen Politische Dokumente der DDR, und seien es wie in unserem Fall Mitgliederstatistiken, waren nie nur dienstliche Dokumente zum internen Verwaltungsgebrauch. Dienten sie auf den ersten Blick im jeweiligen Kontext vornehmlich statistischen Zwecken, sind sie auf den zweiten Blick politisiertes Schriftgut. Sie sind somit von unschätzbarem Wert für die Kontextualisierung der Entwicklung von Parteien, da sie Aufschluss über die jeweilige ideologische Verfasstheit einer Blockpartei im Herrschaftssystem der DDR geben können. Die vorliegende Untersuchung stützt sich bei der Frage nach der Aussagekraft dienstlicher Dokumente für die historische Forschung auf die sogenannten Berichtsbögen Q und J, die die Mitgliederbewegung der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) quartalsweise aufschlüsselten. Diese Dokumente lagern heute im Archiv des Liberalismus (ADL). Das zentrale Parteiarchiv der LDPD der DDR ist Anfang der 1990er-Jahre in das ADL übernommen und inzwischen mit einem vollständigen Findbuch versehen worden. Da das zentrale Parteiarchiv der LDPD jedoch erst 1960 aufgebaut worden ist1, ist der Dokumentenbestand, gerade die unteren Gliederungen der Orts- und Kreisverbände betreffend, für die 1950er-Jahre sehr lückenhaft. Daran schließt sich eine gute Überlieferung der 1960er- und 1970er-Jahre an, natürlich immer mit Ausnahmen versehen. Das Ende der 1980er-Jahre wiederum ist nur lückenhaft überliefert, nicht alle Quartalszahlen für alle drei Bezirksverbände sind gesichert. Um sich der obigen zentralen Frage zu nähern, sollen folgende Teilfragen den Gang der Untersuchung leiten: Wie sind die Mitgliederstatistiken aufgebaut und was kann aus ihnen rein statistisch gefolgert werden? Inwiefern kann von einer 1
Vgl. zu den Beständen des Zentralen Parteiarchivs der LDPD Hans-Georg Wachtel, Das Zentrale Parteiarchiv der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. In: Archivmitteilungen, 17 (1967) 3, S. 105–107.
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Politisierung einer doch eigentlich rein statistischen Quelle gesprochen werden? Welche Motive könnten hinter Zu- und Abgang von Parteimitgliedern gelegen haben? Wie müssen die Mitgliederstatistiken quellenkritisch kontextualisiert werden, um hinter die reine Abbildfunktion zu schauen? Hier stößt der Historiker bei der Quellengattung »dienstliches Dokument«, in diesem Fall den Statistiken, schnell an seine Grenzen. Gerade bei der Erforschung quasi mikrohistorischer Gesichtspunkte der Parteigeschichte der LDPD, die ja die Mitgliederstatistiken der drei hier zu betrachtenden Bezirksverbände darstellen, muss von Beginn an deutlich gemacht werden, dass rein aus Mangel an Begleitquellen für einen so kleinen Bereich der DDR-Geschichte keine abschließenden und befriedigenden Aussagen gemacht werden können. Gleichwohl lohnt eine Analyse, da sie die Schwierigkeiten des Historikers offenbart, mit diesen Dokumenten umzugehen, sie praktisch mit wenigen Instrumenten zu dechiffrieren, und gleichzeitig zeigt, dass vollständige Antworten nicht immer möglich sind. Als für sich genommene Dokumente ist der Aussagewert von Statistiken und damit die Erkenntnis über mögliche Hintergründe für den Historiker begrenzt. Dienstliche Dokumente müssen, besonders im Bereich der DDR-Geschichte, kontextualisiert werden. Im speziellen Fall natürlich durch Sekundärliteratur, aber auch durch andere Quellen, etwa durch Zeitzeugenbefragungen, Ego dokumente (Briefe, autobiografische Schriften etc.), Parteivorstandsprotokolle oder Parteizeitungen, um nur einige einführend zu benennen. Methodisch kann hier auf kein festes »Gerüst« zurückgegriffen werden. Hilfreich sind für die Einzelanalyse und für generelle quellenkritische Überlegungen zum Thema unter anderem die Arbeiten von Gunter Holzweißig2 zu DDR-Akten aus medienhistorischer Perspektive, von Jochen Hecht3 zu den Unterlagen der Staatssicherheit als Quellen für die Gesellschaftsgeschichte der DDR oder auch die Ausführungen von Wolfgang Buschfort4 zu den Akten der Ostbüros. Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich drei Punkte, denen zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen nachgespürt werden soll. 1. Die Mitgliederstatistiken zeigen ein Abbild der Parteibewegung der LDPD in Mecklenburg, die der inneren Parteiorganisationen und der Meldung an übergeordnete Stellen dienten. Interessant ist dabei der Befund, dass gerade in den letzten zwei Jahren vor dem Umbruch 1989/90 der Anteil der Arbeiter 2 3 4
Gunter Holzweißig, DDR-Mediengeschichte: Problematik der Quellenkritik und der Zeitzeugenbefragung. In: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999, S. 178–185. Jochen Hecht, Die Stasi-Unterlagen als Quellen für die Gesellschaftsgeschichte der DDR (http:// www.bstu.bund.de/DE/Archive/Fachbeitraege/gesellschaftsgeschichte.html; 6.1.2014). Wolfgang Buschfort, Parteien im Kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000.
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erkennbar sinkt, der der Akademiker, der »Intelligenz«, dagegen erkennbar ansteigt. Diese statistisch ablesbaren Ergebnisse eröffnen Fragen nach dem Grund für die Attraktivität der Ostliberalen für Akademiker und Fragen nach dem Grund für das Abwenden der Arbeiter. 2. Die Abbildfunktion der Statistiken können nur durch Begleitdokumente richtig kontextualisiert werden. Deutlich wird somit unter anderem der Zusammenhang zwischen dem zugegebenermaßen 1987/ 88 noch geringen Austausch der Mitglieder und dem programmatischen Wandel der LDPD Ende der 1980er-Jahre, der sich in kritischen Äußerungen gegenüber der DDR-Führung und in einer Absatzbewegung vom jahrzehntelang getragenen Einheitskurs mit der SED äußerte. 3. Das Lösen der statistischen Quellen von ihrer reinen Abbildfunktion zeigt erfahrungsgemäß einen deutlichen interpretatorischen Mehrwert durch das Heranziehen von anderen Quellen. Gerade diese anderen Quellen (zum Beispiel politische Anweisungen, Mitteilungen, Vorstandsprotokolle) zeigen jedoch auch, dass ein besonderer Umgang mit DDR-Quellen allgemein und im Speziellen mit dienstlichen Dokumenten der verschiedenen Parteien unbedingt notwendig ist.
II. Die Mitgliederstatistiken als statistische Quellen Durch den Bestand »LDPD – Abteilung Parteivorstände« lassen sich Angaben über die Mitgliedszahlen machen. Die Bezirksverbände waren verpflichtet, der Zentralebene quartalsweise Aufstellungen ihrer Mitglieder, der Zu- und Abgänge, der sozialen Schichtung und des Engagements in Gremien zu machen. Qualitativ können diese Zahlenangaben für das Ende der 1980er-Jahre nur als allgemeiner Richtwert angesehen werden5, betrachtet man die Umbruchsituation gerade in der Zeit vor 1989. Die Fragebögen, die neu eintretende Mitglieder auszufüllen hatten, sind nur noch in Einzelfällen in sehr geringer Anzahl vorhanden. Fragebögen bei Parteiaustritten sind gar nicht überliefert. Die Zahlenlisten der Berichtsbögen Q und J folgten stets einem genauen Muster von dem nur geringfügig abgewichen wurde. Bei Parteieintritten wurden die Mitglieder nach sozialer Schichtung kategorisiert. Diese Einteilung bei den Sozialstatistiken erfuhr bis zum Ende der DDR eine s ystematische Konzentration. In den 1950er-Jahren hingegen waren sie noch oftmals sehr weit gefasst. Betrachtet man zum Beispiel die Kategorien
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Zahlenangaben sind also generell als Circa-Angaben zu verstehen.
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» verschiedene Berufe« und »freie Berufe «,6 erfolgte eine Konkretisierung bis zum Ende der DDR. Parteiabgänge wurden zunächst nicht nach sozialer Schichtung, sondern nach Gründen für den Abgang aus dem Landesverband dokumentiert. Erst seit Mitte der 1950er-Jahre gab es neben der Kategorie der Gründe des Abgangs auch eine K ategorie, welche die soziale Schichtung der Abgänge berücksichtigte. Der Berichtbogen Q wurde als »parteiinternes Material« und als »vertrauliche Dienstsache« eingestuft. Die Mitgliederzahl wurde in den Kategorien männlich / weiblich, nach Bezirksverband/Kreisverbände und Stadtbezirksverbände aufgeschlüsselt. Eine altersgemäße Aufgliederung nach Aufnahmen und Austritten wurde vorgenommen. Im Berichtsbogen Q erfolgte dann eine Aufschlüsselung der Abgänge nach Austritten und Überweisungen in andere Bezirksverbände. Die Austritte waren durch Ausschlüsse, Streichungen, politische Gründe, persönliche Gründe, legales Verlassen der DDR und Todesfälle aufgelöst. Die im Quartalsbericht aufgeführte Gesamtmitgliederzahl des Bezirksverbandes wurde durch das Engagement der LDPD-Mitglieder in »Funktionen der Nationalen Front« kontextualisiert. Die der Aufnahmen wurde nach Berufsgruppen vorgenommen. Hier erfolgte die Einteilung in drei Großgruppen: Gewerbe /Einzelhandel oder Gastwirtschaft, Angehörige der Intelligenz und Angestellte. Diese drei Großgruppen wurden weiter spezifiziert.7 Der Berichtsbogen J erfasste wiederum die soziale Schichtung der ausgewiesenen Mitglieder und beinhaltete wiederum Angaben zur Berufsstruktur, Mitglieder mit Hochschulabschluss, Mitglieder mit Fachhochschulabschluss, Zu- und Abgänge der kleineren Untergliederungen, eine altersgemäße Aufgliederung, Angaben zur Mitgliedschaft in Massenorganisationen wie Kulturbund der DDR, Freie Deutsche Jugend, Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund und Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft.8
6 7 8
Vgl. stellvertretend für dieses Erhebungen die Statistiken von 1949–1952 (ADL, L5 242, 243). Vgl. z. B. Berichtsbogen Q, IV. Quartal 1987 des Bezirksverbandes Rostock (ADL, L8-1095), S. 49 f. Vgl. z. B. Berichtsbogen J für das Jahr 1987, Soziale Schichtung der im Q-Bericht vom 31.12.1987 ausgewiesenen Mitglieder für den Bezirk Neubrandenburg (ADL, L8-1095), S. 11 RS.
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III. Von Abbildfunktion zu historischer Quelle Generell sind Statistiken schwierige Quellen, da ihrer Erfassung, Erarbeitung und Verarbeitung ein Fehlerfaktor intendiert ist. Daraus folgt, dass sie immer nur ein Richtwert sein können, um quantitative Aussagen machen zu können. Abbild einer historischen Realität sind sie jedoch, analysiert man neben den gewonnenen Zahlen auch die Analysekategorien, nach denen Statistiken erstellt werden. Natürlich besteht das große Problem in der Anonymität von statistischen Quellen. Die Daten der Parteiabgänge zu personalisieren, ist nur in ganz wenigen Fällen möglich. Allenfalls können allgemeine Beweggründe für die Motivation des Parteiabgangs angeführt werden, die wiederum jedoch für den historischen Kontext und die exakte Einordnung der Zahlen enorm wichtig sind. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Sind ergänzende Quellen, wie die oben aufgeführten, schon auf DDR-Ebene zahlenmäßig gering und schwer zu finden, gleicht die Suche auf der kleineren Bezirksebene einer Sisyphusarbeit. Parteidokumente der LDPD, zum Beispiel Sitzungsprotokolle der Bezirksverbände, können zumindest Aufschluss über die interne politische Situation der Bezirksverbände in der Umbruchszeit Ende der 1980er-Jahre geben. Persönliche Anmerkungen von Zeitzeugen können innerparteiliche – nicht offiziell dokumentierte – Vorgänge erhellen. Doch wie sind nun die Berichtsbögen als eigene Quellen und durch Zunahme weiterer Begleitdokumente näher zu erklären? Gerade bei den Zu- und Abgängen der LDPD in den drei Nordbezirken als statistische Quellen ist neben der Frage, wie viele Mitglieder die LDPD dazugewann und einbüßte, wichtig, in welchen Kategorien diese Parteizu- und abgänge gezählt und wie konkret diese Kate gorien gewählt worden sind.
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Mitgliederstruktur der LDPD Rostock, 1988 (n=3654)9
Gewerbetreibende 26 % Angehörige der Intelligenz 18 % Angestellte 39 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 18 %
Mitgliederstruktur der LDPD Neubrandenburg, 1988 (n=3836)10
Gewerbetreibende 19 % Angehörige der Intelligenz 12 % Angestellte 44 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 25 %
9 Berichtsbogen J für das Jahr 1988 (ADL, L8-1095), S. 13. Hier und in den folgenden Diagrammen sind die Werte zur besseren Lesbarkeit auf- bzw. abgerundet. 10 Berichtsbogen J für das Jahr 1988 (ADL, L8-1096), S. 26.
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Mitgliederstruktur der LDPD Schwerin, 1988 (n=4544)11
Gewerbetreibende 22 % Angehörige der Intelligenz 13 % Angestellte 42 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 23 %
Zum 31. Dezember 1988, am Ende der zwei Berichtsjahre dieser ersten Überlegungen zu Mitgliederstatistiken als historischer Quelle, hatte der Bezirksverband Schwerin die meisten Mitglieder, gefolgt von Rostock und Neubrandenburg. Den größten Anteil innerhalb der Mitgliedschaft machte die Gruppe der Angestellten aus (Rostock: 38 %, Neubrandenburg: 44 %, Schwerin: 42 %) die noch einmal nach ihrem Tätigkeitsfeld unterschieden wurden: a) in der volkseigenen Wirtschaft bzw. im genossenschaftlichen Sektor, b) in staatlichen Verwaltungen oder Einrichtungen in Partei oder Organisationen und c) im privaten Sektor. In allen drei Bezirken war der Anteil der Angestellten im Bereich a) mit Abstand am größten, gefolgt von Bereich b) und c). Bei den anderen Gruppen gab es zwischen den Bezirksverbänden Unter schiede. Die zweitstärkste Gruppierung war in Rostock die der Gewerbetreibenden mit 26 Prozent; in Neubrandenburg und Schwerin dagegen war mit 25 Prozent bzw. 23 Prozent die Gruppe der »Arbeiter, in Ausbildung oder Rente oder nicht Berufstätigen« auf dem zweiten Rang. Angehörige der »Intelligenz«, unter denen Akademiker zusammengefasst wurden, bildeten in Rostock mit 18 Prozent knapp die drittgrößte Gruppe innerhalb der Mitgliedschaft, während diese Gruppe in Neubrandenburg und Schwerin mit 12 Prozent und 13 Prozent nur die viertgrößte Mitgliedergruppe bildete. Die Angehörigen der Intelligenz wiederum wurden unterteilt in: Technik / Ökonomie, Medizin, Wissenschaftler oder Lehrer an Hochschulen oder Fachschulen, Wissenschaftler oder Lehrer an sonstigen Schulen oder Einrichtungen,
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Berichtsbogen J für das Jahr 1988 (ADL, L8-1096), S. 35.
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Kunst, in staatlichen Verwaltungen oder Einrichtungen, in Partei oder Organisationen und Sonstige. Auch hier wird eine Gemeinsamkeit deutlich: Die meisten Mitglieder der Kategorie waren mit Abstand dem Bereich »Technik /Ökonomie« und »Akademikern an sonstigen Schulen oder Einrichtungen« (vermutlich Lehrer) zuzuordnen. Die Gewerbetreibenden waren innerhalb ihrer Gruppe unterteilt in Mitglieder in Produktionsgenossenschaften des Handwerks, private Handwerker, Einzelhandel oder Gastwirte mit Kommissionshandelsvertrag oder staatlicher Beteiligung oder privat, sonstige Gewerbetreibende und mithelfende Ehepartner in Handwerks-, Handels- bzw. Gewerbebetrieben. Hier wundert es wenig, dass die stärksten Gruppen in allen drei Bezirksverbänden die privaten Handwerker und ihre mitarbeitenden Familienangehörigen waren. Nimmt man die Gesamtgrafiken und die Einzelzählwerte verstärkt in den Blick, kann für den Bezirksverband Rostock konstatiert worden, dass Ende 1988 bei 3 654 Mitgliedern vier Gruppen hervorstechen: mit 951 Mitgliedern die Gruppe der Angestellten in der volkseigenen Wirtschaft bzw. im genossenschaftlichen Sektor, mit 388 Mitgliedern die Arbeiter, in Ausbildung oder Rente oder nicht Berufstätigen, mit 380 Mitgliedern die Gruppe der Angestellten in staatlichen Verwaltungen oder Einrichtungen, in Partei und Organisationen und mit 375 Mitgliedern die Gruppe der privaten Handwerker. Im Bezirk Neubrandenburg ergibt sich ein ähnliches Bild: Die meisten der insgesamt 3 836 Mitglieder kamen aus dem Bereich Angestellte in der volkeigenen Wirtschaft bzw. im genossenschaftlichen Sektor (1 217), gefolgt von der Gruppe der Arbeiter, in Ausbildung oder Rente oder nicht berufstätig (543), der Gruppe der Angestellten in staatlichen Verwaltungen oder Einrichtungen, in Partei oder Organisationen (442) und der Gruppe der privaten Handwerker (331). Schwerin mit der höchsten Mitgliederzahl von 4 544 Mitgliedern hatte mit 1 346 den größten Anteil an Angestellten in der volkseigenen Wirtschaft bzw. im genossenschaftlichen Sektor im Vergleich der drei Bezirksverbände. Die zweitgrößte Gruppe waren Arbeiter, in Ausbildung oder Rente oder nicht berufstätig (518), gefolgt von der Gruppe der privaten Handwerker (468) und der Angestellten in staatlichen Verwaltungen oder Einrichtungen, in Partei oder Organisationen (477), dicht gefolgt von Mitgliedern der Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Gärtnerische Produktionsgenossenschaft und Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer (423).
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IV. Parteizugänge Im Folgenden werden Aufnahmen und Abgänge bzw. Austritte von Parteimitgliedern der drei Bezirke besonders betrachtet. Hierzu liegen jeweils Quartalsberichte aus den Quartalen IV/1987 und III/1988 vor. Sie stellen jeweils Momentaufnahmen dar, die begrenzte Auswertungen und Vergleiche zwischen den drei Bezirken und jeweils zwei Quartalen zulassen. Aufnahmen in die LDPD Rostock, IV/1987 (n=91)12
Gewerbetreibende 26 % Angehörige der Intelligenz 18 % Angestellte 43 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 13 %
Aufnahmen in die LDPD Rostock, III/1988 (n=71)13
Gewerbetreibende 21 % Angehörige der Intelligenz 20 % Angestellte 49 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 10 %
12 13
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 69 RS.
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In Rostock rekrutierte sich in beiden betrachteten Quartalen die größte Gruppe der Neumitglieder aus Angestellten (43 % bzw. 49 %). Daneben waren Gewerbetreibende mit 26 Prozent und 21 Prozent stark vertreten; zum Dritten speisten sich neue Mitglieder wesentlich aus der Intelligenz (18 % bzw. 20 %). Die Zusammensetzung der Neumitglieder weicht dabei nicht sehr stark von der oben dargestellten Zusammensetzung der bestehenden Mitgliedschaft ab. Aufnahmen in die LDPD Neubrandenburg, IV/1987 (n=62)14
Gewerbetreibende 18 % Angehörige der Intelligenz 26 % Angestellte 42 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 15 %
Aufnahmen in die LDPD Neubrandenburg, III/1988 (n=43)15
Gewerbetreibende 28 % Angehörige der Intelligenz 14 % Angestellte 49 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 9%
14 15
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1099), S. 47 RS. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 67 RS.
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Im Bezirk Neubrandenburg ergibt sich ein ähnliches Bild: Auch hier gehört der größte Teil der in den beiden Quartalen aufgenommenen Mitglieder der Gruppe der Angestellten an (42 % und 49 %), während die Gewerbetreibenden (18 % und 28 %) sowie die Intelligenz (26 % bzw. 14 %) die jeweils nächstwichtigen Berufsgruppen darstellen. Aufnahmen in die LDPD Schwerin, IV/1987 (n=75)16
Gewerbetreibende 17 % Angehörige der Intelligenz 16 % Angestellte 55 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 12 %
Aufnahmen in die LDPD Schwerin, III/1988 (n=84)17
Gewerbetreibende 26 % Angehörige der Intelligenz 8% Angestellte 53 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 13 %
16 17
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50 RS. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 70 RS.
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Im Bezirk Schwerin zeigt sich die Struktur der Neumitglieder in ähnlicher Weise; wobei hier die Gruppe der Angestellten sogar über die Hälfte der Parteieintritte stellt (55 % und 53 %). Wie in den anderen Bezirken rekrutiert sich die zweitstärkste Gruppe der Eintritte aus den Gewerbetreibenden (17 % und 26 %). Die Intelligenz stellt in Schwerin ebenfalls eine wichtige Gruppe von neuen Mitgliedern (16 % in IV/1987); im Quartal III/1988 liegt der Anteil deutlich niedriger (8 %), was jedoch durchaus eine zufällige Schwankung sein kann.
V. Parteiabgänge Die Quartalsstatistiken geben ebenfalls Auskunft über die Gründe und die so ziale Struktur der Abgänge von Parteimitgliedern. Betrachtet man die vorliegenden Berichte aus je zwei Quartalen für drei Bezirke, so kann die Gesamtzahl aller hier erfassten Abgänge stichprobenartig ausgewertet werden. Abgänge insgesamt (Bezirke HRO, NB, SN / Quartale IV/87 und III/88)18
267
nach Grund: Ausschlüsse
9
Streichungen
13
Austritte politische Gründe
2
Austritte persönliche Gründe
86
legales Verlassen der DDR
6
Todesfälle
100
Überweisung in andere Bezirksverbände
51
18 Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50; Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 69; Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L81099), S. 47; Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 67; Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50; Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 70.
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Abgänge der Quartale IV/1987 und III/1988 aller Bezirksverbände19 Überweisungen in andere Bezirksverbände 19 %
Ausschlüsse 3%
Streichungen 5% Austritte aus politischen Gründen 1%
Austritte aus persönlichen Gründen 32 % Todesfälle 37 % legales Verlassen der DDR 2 %
Betrachten wir die Parteiabgänge näher: Hier interessieren uns in einem ersten Zugriff die Gründe für die Abgänge, die im Berichtsbogen Q mit Kategorien versehen sind: (1) Ausschlüsse, (2) Streichungen, (3) Austritte politische Gründe, (4) Austritte persönliche Gründe, (5) legales Verlassen der DDR, (6) Todesfälle, (7) Überweisungen in andere Bezirksverbände. Die Kategorie »Parteiausschluss« war mit Abstand die Kategorie mit den wenigsten Parteiabgängen. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass Karteibereinigungen nur in großen Abständen durchgeführt wurden und somit alle Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren sind.
19 Ebd.
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Politische Gründe wurden in Begleitdokumenten nicht weiter dokumentiert. Es ist anzunehmen, dass hier besonders Mitglieder die Partei verließen, die sich politisch durch den Reformkurs der LDPD, der Ende der 1980er-Jahre betrieben wurde, nicht mehr vertreten sahen. Im Bezirksverband Rostock verließen in den beiden betrachteten Quartalen 112 Mitglieder die Partei, darunter waren ein Parteiausschluss, sechs Streichungen, 24 Austritte aus persönlichen Gründen, vier Parteimitglieder hatten die DDR verlassen. 45 Todesfälle und 32 Überweisungen in andere Bezirksverbände machten einen großen Anteil innerhalb der Abgänge aus. In Neubrandenburg verließen weniger Mitglieder die Partei, insgesamt 73. Davon entfielen vier auf Streichungen in der Kartei, zwei Mitglieder traten aus politischen Gründen aus, 30 verließen die Partei wegen persönlicher Gründe, zwei verließen die DDR, 26 Parteimitglieder verstarben und neun verzogen in andere Bezirksverbände. Schwerin hatte ähnliche Abgangszahlen wie Neubrandenburg: 82 Mitglieder verließen die Partei. Acht Mitglieder wurden ausgeschlossen, drei aus der Kartei gestrichen, 32 traten aus persönlichen Gründen aus, 29 waren verstorben und zehn Mitglieder waren in andere Bezirksverbände verzogen. Austritte machten in der Gesamtzahl aller drei Bezirke und in Summe der beiden betrachteten Quartale recht genau ein Drittel der gesamten Abgänge aus (88 von 267). Statistisch gesehen gab die große Mehrheit (98 %) der austretenden LDPD-Parteimitglieder in Mecklenburg persönliche Gründe für den Austritt an. Dass dies nicht immer nur persönliche Beweggründe waren, kann als sicher angenommen werden. Dazu kommt, dass diese Kategorie die weitgefassteste von allen war, denn auch politische Gründe können zu persönlichen Gründen werden. Zudem war es weniger gefährlich, persönlich statt politisch anzugeben. Besonders hier kann der Historiker an der Statistik etwas über die politische Realität aussagen, die geprägt war von Überwachung, Druck, Mitwirkung, Anpassung und Unsicherheit und daraus folgend Angst und der Bereitschaft, zur eigenen Sicherheit und der der Familie den »sichereren Weg« zu gehen und sei es beim Ausfüllen des Fragebogens »persönliche Gründe« anzugeben. Die Fortzüge aus den Bezirksverbänden unterschieden sich nicht in eklatanter Weise von denen anderer Landesverbände. Die in den Statistiken genannten Zuund Fortzüge stellen dabei nur diejenigen dar, die über die Bezirksgrenzen hinweg erfolgten und mithin den Mitgliederbestand änderten. In den Statistiken der Stadtbezirks- und Kreisverbände wurden entsprechend Zu- und Fortzüge über deren Grenzen erfasst. Erfolgten diese in einen Verband innerhalb desselben Bezirks, blieben sie in den untersuchten Statistiken der Bezirksverbände unberücksichtigt. Die Todesfälle sind »natürliche« Abgänge aus den Bezirksverbänden, die der normalen Altersentwicklung der Mitgliederzahl entsprachen, aber trotzdem besonders in den Jahren 1987/88 einen großen Anteil ausmachten.
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Hinsichtlich ihrer Sozialstruktur wurden die Austritte nach den gleichen Kriterien statistisch erfasst, die auch beim Mitgliederbestand und bei den Aufnahmen Verwendung fanden. Austritte LDPD Rostock, IV/1987 (n=16)20
Angehörige der Intelligenz 6% Gewerbetreibende 13 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 25 % Angestellte 56 %
Austritte LDPD Rostock, III/1988 (n=8)21
Gewerbetreibende 37 % Angestellte 63 %
20 21
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 69.
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Im Bezirk Rostock stellt in den beiden betrachteten Quartalen jeweils die Gruppe der Angestellten den größten Anteil der Parteiaustritte (56 % und 63 %). Er liegt auch deutlich über dem Anteil der Angestellten im Mitgliederbestand des Bezirks (38 %). Ferner sind es einmal die Gruppe »Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig« (25 %) und einmal die Gewerbetreibenden (37 %), die nennenswerten Anteil an den Austritten haben. Bei den Prozentangaben ist allerdings zu beachten, dass die Parteiaustritte in absoluten Zahlen nur 16 (IV/87) bzw. 8 (III/88) betragen. Austritte LDPD Neubrandenburg, IV/1987 (n=28)22
Gewerbetreibende 14 % Angestellte 57 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 29 %
Austritte LDPD Neubrandenburg, III/1988 (n=4)23
Gewerbetreibende 25 % Angestellte 25 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 50 %
22 23
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1099), S. 47. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 67.
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Auch in Neubrandenburg zeigt sich bei den Austritten ein Bild, dass die Rangfolge der Mitgliederstruktur von Angestellten, Arbeitern und anderen sowie Gewerbetreibenden widerspiegelt. Da es im Quartal III/1988 insgesamt jedoch nur vier Austritte gab, lässt sich diese Darstellung kaum sinnvoll interpretieren. Austritte LDPD Schwerin, IV/1987 (n=23)24
Gewerbetreibende 13 % Angehörige der Intelligenz 4% Angestellte 61 % Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 22 %
Austritte LDPD Schwerin, III/1988 (n=9)25
Gewerbetreibende 22 % Angestellte 67% Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig 11 %
24 25
Berichtsbogen Q für das IV. Quartal 1987 (ADL, L8-1095), S. 50. Berichtsbogen Q für das III. Quartal 1988 (ADL, L8-1096), S. 70.
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In den dargestellten Austritten des Bezirks Schwerin der LDPD stellen erneut die Gruppen Angestellte, Arbeiter und andere sowie Gewerbetreibende die größten Anteile entsprechend ihrer Rangfolge an Anteilen in der bestehenden Mitgliedschaft. Während also die Anteile der sozialen Gruppen bei den Aufnahmen und Austritten im Gesamtbild keine große Überraschung bereithält, da die Gruppen in etwa auch so in der Bestandsmitgliedschaft vertreten sind, lohnt doch der Blick auf eine Besonderheit: Bei den Austritten liegt die Gruppe »Arbeiter, in Ausbildung, Rente oder nicht berufstätig« regelmäßig über dem Vergleichswert aus dem Mitgliederbestand. Die Austrittszahlen der Gruppe »Intelligenz« liegen dagegen jeweils unter dem entsprechenden Mitgliederanteil. Bei den Neumitgliedern verhält es sich dagegen fast durchgängig umgekehrt: Bis auf eine Ausnahme gehören die Neumitglieder überproportional (verglichen mit dem Bestand) der Gruppe der Intelligenz und unterproportional der Gruppe der Arbeiter und anderen an. Diese Erkenntnis aus den Auswertungen der Mitgliederstatistiken kann nun Anlass sein, der Frage vertieft nachzugehen, ob die LDPD in Mecklenburg in den letzten Jahren der DDR verstärkt für Akademiker interessant wurde und gleichzeitig an Attraktivität für Arbeiter, Rentner und ähnliche Gruppen verlor.
VI. Statistische politische DDR-Dokumente und der Umgang des Historikers mit ihnen Bei der Analyse von statistischen Dokumenten stößt der Historiker schnell an die Grenzen des Erkenntnisgewinns, weil nicht alle einzelnen Elemente der Statistik kontextualisiert werden können und Gründe für Parteieintritt und Parteiabgang nicht personell nachvollzogen werden können. Dies ist immer ein Problem bei statistischem Datenmaterial, aber besonders im Falle von DDR-Dokumenten zu beachten. DDR-Dokumente sind nie nur rein dienstliche Dokumente, sondern immer Ideologie-Dokumente. Sie können nur bedingt als Repräsentation einer historischen Realität dienen. Unzureichend wäre es zu behaupten, Quellen aus der DDR, gerade politische, seien generell falsch. Sie sagen eine Menge über die Verfasstheit des mit ihnen agierenden Partei- und Staatsapparates aus und helfen dem Historiker so, sie zu rekonstruieren und hinter ihre Strukturen zu schauen. Im vorliegenden Fall – und das dürfte generell die unteren Ebenen der LDPD DDR-weit betreffen, kommt erschwerend hinzu, dass die Fragebögen, die zur Erstellung der Mitgliederstatistiken geführt haben, nicht überliefert sind, somit auch intendierte ideologische Motive nicht exakt nachvollzogen werden können. Hier geben nur die Kategorien an sich Aufschluss und etwaige Äußerungen, die über die Mitgliederbewegung im Zentralvorstand oder im Bezirksvorstand der LDPD gefallen sind. Gleichwohl kann nach der Analyse behauptet werden, dass
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die veränderte Programmatik der Liberaldemokraten, spätestens die Reformbemühungen ab Ende der 1980er-Jahre, sehr wohl von Mitgliedern der LDPD gesehen wurde und sie als Konsequenz aus ihrer Partei austraten. Diejenigen, die diesen Kurs mittragen wollten, verblieben in ihr oder traten ihr bei. Dieser Schluss wäre ohne das Verbinden der programmatischen Grundausrichtung der Partei mit den Mitgliederstatistiken nicht möglich gewesen. Sämtliche offizielle Protokolle auf Bezirksebene sprachen eben eine andere Sprache, wenn sie beinhalteten, dass der neue Kurs von den meisten Mitgliedern für gut befunden wurde und nur vereinzelt Kritik aufgetreten sei.
Luise Güth
Was wäre, wenn? Die Blockparteien in einer DDR des Jahres 1991
1. Einleitung Was wäre, wenn? Diese Frage stellte sich mir insbesondere gegen Ende der Arbeiten an meiner Dissertation über die Blockparteien in der späten DDR häufiger.1 Denn die Entwicklungen, die maßgeblich durch die Reformen Michail Gorbatschows innerhalb der Blockparteien ausgelöst wurden und in den Jahren 1988/89 immer deutlichere Strukturen annahmen, wurden durch die immense Dimension des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 entweder überlagert oder nachhaltig beeinflusst. Die Neugierde, welchen Verlauf die ab dem Jahr 1986 zu beobachtenden Veränderungen in den nächsten Jahren ohne die »Wende« hätten nehmen können, gab den Anstoß für die folgenden Ausführungen. Kontrafaktische Überlegungen sind von Natur aus spekulativ. Obwohl sie daher leicht dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sind, bergen sie meines Erachtens ein großes Potenzial, sofern man die zugrundeliegenden Prämissen deutlich macht.2 Die Möglichkeiten kontrafaktischer Zukunfts szenarien sind groß: Sie können Prozesse, die in ihrer Gegenwart erst in Ansätzen zu erkennen waren, durch die utopische Antizipation verdeutlichen und – aus gehend von einer fundierten Quellengrundlage – Prognosen über eine mögliche alternative Weiterentwicklung und deren Auswirkungen entwerfen. Die Grenzen kontrafaktischer Szenarien sind jedoch nicht minder groß: Das höchst komplexe Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren muss auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Allein deswegen kann das hier zu 1
2
Meine Ausführungen basieren auf den Erkenntnissen meiner Dissertation mit dem Titel »Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre. Partizipation und Wahrnehmung«, die im Jahr 2018 im Tectum-Verlag veröffentlicht wurde. Darin wird die Erosion des SED-Herrschaftsapparates in den späten 1980er-Jahren am Beispiel der Blockparteien des ehemaligen Bezirks Rostock untersucht. Während die Szenariotechnik in anderen Disziplinen wie beispielsweise der Geografie üblich und auch methodisch untermauert ist, hinkt die Geschichtswissenschaft hier noch etwas hinterher.
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Luise Güth
entwerfende Szenario nicht den Anspruch haben, eine komplexe alternative Wirklichkeitsmöglichkeit darzustellen. Die Unschärfe solcher Zukunftsszenarien wächst sowohl mit dem betrachteten Wirklichkeitsausschnitt als auch mit dem zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen der historischen Gegenwart und der antizipierten Zukunft. Auch aus diesem Grund wurde als Kristallisationspunkt das Jahr 1991 gewählt. Dieser Zukunftsort liegt in einer mittelfristigen Entfernung zur Gegenwart des Sommers 1989 und damit nah genug an seiner historischen Gegenwart. Doch nun zum eigentlichen Gegenstand: In dem Wissen um die methodischen Einwände wird im Folgenden versucht, ein anschauliches und belastbares Modell einer alternativen Vergangenheit der DDR-Blockparteien zu entwerfen. Im Wesentlichen besteht dieser Beitrag aus der Analyse der maßgeblichen Entwicklungstendenzen innerhalb der DDR-Blockparteien in den Jahren 1986 bis 1989, die durch intensive Quellenauswertung der Bestände der Rostocker Bezirksverbände herausgearbeitet wurden und damit die faktischen Prämissen des hier schließlich entworfenen kontrafaktischen Szenarios sind. Relevante hier vorzustellende Veränderungen fanden auf den Gebieten der Kritikäußerung und Kritikdurchlässigkeit, der Beziehungen der verschiedenen Parteiebenen zueinander, der Lenkung und Eingriffe durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), der Inszenierung durch die SED und den Beziehungen der vier kleineren Blockparteien zueinander statt. Die antizipatorische und kontrafaktische Fortführung der Entwicklungen auf diesen fünf Teilgebieten bis in eine mögliche DDR des Jahres 1991 macht dann einen kleineren Teil meiner Ausführungen aus. Alle zutreffenden Aussagen über die Entwicklung der Blockparteien basieren auf quellenfundiertem Wissen über Entwicklungsprozesse, die vor dem Ausbruch der Friedlichen Revolution bereits eingesetzt hatten und die durch diese Bewegung entweder nachhaltig beeinflusst oder unter- bzw. abgebrochen wurden. Was ohne den »Katalysator Fried liche Revolution« hätte werden können, wird über das Szenario dann schließlich gebündelt dargestellt.
2. Entwicklungen innerhalb der Parteien ab 1986 Als Ausgangspunkt soll schlaglichtartig umrissen werden, welche Prozesse u nter dem maßgeblichen Einfluss von Glasnost und Perestroika ab dem Jahr 1986 innerhalb der Blockparteien ausgelöst wurden.
Was wäre, wenn? Die Blockparteien in einer DDR des Jahres 1991
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2.1 Kritikäußerung und Kritikdurchlässigkeit
Kritik äußerten die Mitglieder aller Blockparteien, jedoch in unterschiedlichem Umfang und vor allem auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Die kritischen Äußerungen bezogen sich hauptsächlich auf die materielle Versorgung, das Dienstleistungsangebot, die Bereitstellung von Wohnraum, ineffiziente Produktionsmethoden und das Verhältnis von Löhnen und Preisen. Im ideellen Bereich unterlagen vor allem das von Beschönigungen und politischer Opportunität geprägte Informationswesen, der bevormundende Umgang der staatlichen Behörden mit den Bürgern, der Mangel an Rechtssicherheit sowie die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten der Kritik der Blockparteimitglieder. Bei allen Parteien schlug dieser Unmut – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – in eine generelle Kritik an der Politik der SED um und ging mit Forderungen nach einer größeren Profilierung der Blockparteien und nach größerer Eigenständigkeit einher. In der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD) und der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) gab es im Sommer 1989 oppositionelle Einstellungen, die auch von einzelnen Kreisfunktionären geteilt wurden. In der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDUD) gab es sogar einen konspirativen Zirkel, der aus hochrangigen Parteifunktionären um den stellvertretenden Vorsitzenden Wolfgang Heyl bestand. Eine Absetzung des Parteivorsitzenden Gerald Götting gegen dessen Willen wurde im August 1989 diskutiert. In allen Parteien außer der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) lässt sich ab 1986 beobachten, dass die Berichterstattungsstrukturen – vermutlich nach Vorgaben der SED3 – verändert worden sind: Statt der stark normativen Abfrage von konformem Verhalten standen nach der Reform Fragen nach offenen Meinungen und Problemen im Vordergrund. Diese Basisorientierung ist als ein Versuch der Kanalisierung des Mitgliederunmutes zu verstehen und war für die Mitglieder wiederum ein Zeichen dafür, dass sie in ihrer Partei das geeignete Forum für Unmutsäußerungen hatten. Bis zu der desillusionierenden Erkenntnis, dass auch das Wissen um die Missstände nicht zu deren Behebung führte bzw. diese gar nicht intendiert war, sorgte die veränderte Berichterstattungsstruktur zumindest für eine kurzzeitige Eindämmung der Unzufriedenheit innerhalb der Blockparteimitgliederschaft.
3
Der Bestand in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) der Abteilung des Zentralkomitees (ZK) Befreundete Parteien ab dem Jahr 1986 war zum Zeitpunkt der Tagung noch nicht für die Nutzung freigegeben, daher handelt es sich hier um eine bisher nicht bestätigte Vermutung der Verfasserin.
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Luise Güth
2.2 Beziehungen der verschiedenen Parteiebenen
Die jeweiligen Bezirksleitungen hatten einen erheblichen Einfluss auf die Weitergabe von Informationen und entschieden über die Handhabung von kritischen Meinungsäußerungen und den Umgang mit weniger angepassten Kreisfunk tionären. Der CDUD-Bezirksvorstand Rostock gab die Kritik, Anregungen, Fragen, Sorgen und Nöte der Kreise in seinen monatlichen Berichten zum Teil wortwörtlich, zumeist aber treffend zusammengefasst an den Hauptvorstand weiter. Dabei erkannte der Bezirksvorsitzende Dieter Klemm in der Kritik und dem Widerspruch der Mitglieder eine Berechtigung, wenngleich einzelne Bezirksvorstandsmitglieder häufig eine vermittelnde Position einnahmen und die Politik der SED rechtfertigten. Ein größeres Profil und eine deutlichere Eigenständigkeit abseits der Vorschlagstätigkeit wünschte sich im Spätsommer 1989 auch der Bezirksverband, forderte aber keine neuen Wege der Partizipation ein. Jegliche oppositionellen Bestrebungen innerhalb der Partei wies die Bezirksleitung zurück. Entsprechend gab sie die Anweisung, den Brief aus Weimar4 – wenn überhaupt – nur gegenüber dem Hauptvorstand zu kommentieren, an die Kreisverbände weiter. Insgesamt wirkte der Bezirksverband der CDUD aber wenig restriktiv auf die Kreisfunktionäre ein. Politisch motivierte Personalwechsel oder Sanktionierungen von unliebsamen Meinungen lassen sich nicht nachweisen. Der LDPD-Bezirksvorstand, allen voran dessen Vorsitzender Günter Krüger, zeigte sich im Untersuchungszeitraum als tatsächliches Sprachrohr der Mitglieder: Informationen, Meinungen und Stimmungen wurden sachgemäß und zutreffend weitergegeben. Resignative Tendenzen wurden ebenso wie die Forderung nach stärkerer Profilierung kommuniziert. Auch die eigene Position der Bezirksfunktionäre war deutlich reformorientiert: Kritik an der SED und der Ausgestaltung der sozialistischen Demokratie hielten sie nicht zurück. Die Sprache des Bezirksvorstands war ebenso authentisch und sachlich wie die der Mitglieder, was sich in dem zum Teil hohen Anteil der als auffällig markierten Passagen in den Berichten des Bezirksvorsitzenden widerspiegelte.5 Auf der Kreisebene der LDPD fallen dennoch häufigere Personalwechsel auf (z. B. Kreisverband Rügen), für die sich keine offizielle Erklärung in den Akten finden lässt. Wie die Mitglie-
4
5
Der Brief aus Weimar war ein reformsozialistischer Appell aus dem September 1989 von vier Parteimitgliedern, die in enger Verbindung zur evangelischen Kirche standen. Die CDUD-Parteiführung wertete den Brief als Vertrauensbruch, weil er als Initiative der Parteibasis in Anwesenheit bundesdeutscher Medien verlesen wurde und durch die Öffentlichkeit Druck auf die Parteileitung ausgeübt wurde. Vgl. z. B. Kurzeinschätzung der durchgeführten zentralen Mitgliederversammlung vom 3.11.1988 (ADL, Bestand LDPD, Nr. L8-1551). Etwa 75 % der Kurzeinschätzung wurden von den Mitarbeitern der LDPD-Abteilung Parteivorstände als auffällig markiert.
Was wäre, wenn? Die Blockparteien in einer DDR des Jahres 1991
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der hielt auch der Vorstand des Küstenbezirks noch im Sommer 1989 an dem Wunsch nach einer Veränderung der DDR gemeinsam mit der SED fest. Der NDPD-Bezirksvorstand hatte schon im Jahr 1988 mit dem zum Teil mangelhaften Organisationsgrad einzelner Kreisverbände und deren Personalproblemen zu kämpfen. Dabei erweckte er insgesamt den Eindruck, die widerständigen Stimmen der Basis und einzelner Kreisfunktionäre unterdrücken zu wollen. Die ohnehin in geringerem Umfang geäußerte Kritik der Mitglieder gab die Bezirksebene zudem nur selektiv an die Parteileitung weiter und drohte gegenüber hauptamtlichen Mitarbeitern berufliche Konsequenzen als Reaktion auf unliebsames Verhalten an (z. B. in Bad Doberan).6 Der NDPD-Bezirksvorstand Rostock war ebenso wie der Parteivorstand bemüht, die Deutungshoheit über die Fragen der Zeit zu wahren. Die Abweichungen in tagespolitischen Einschätzungen und politisch-ideellen Fragen innerhalb der Mitgliederschaft und zwischen Mitgliederschaft und Führung waren aber seit Juni 1989 immens und nicht mehr zu überbrücken. Insgesamt hat der NDPD-Bezirksverband am restriktivsten auf die eigenen Parteimitglieder- und Mitarbeiter eingewirkt. Obwohl der Rostocker DBD-Bezirksvorstand die Stimmung an der Basis treffend diskutierte und Probleme ungefiltert an die Parteiführung weiterleitete, nahm das Führungsgremium selbst in der Öffentlichkeit durchgehend linientreue Positionen ein, in denen kein Loyalitätskonflikt mit der SED erkennbar wurde. Trotz der sachgerechten Weitergabe der Stimmung an der Basis finden sich auch bei der DBD Kaderentscheidungen, die politisch motiviert zu sein scheinen (z. B. Kreisverband Bad Doberan) und auf einen restriktiven Umgang mit abweichenden Meinungen hindeuten.7 2.3 Lenkung und Eingriffe durch das MfS
Zusätzlich zu der offiziellen Kommunikation mit der SED und der Anleitungstätigkeit durch deren Organe ließ das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) alle Ebenen der Blockparteien operativ beobachten, sammelte gezielt Informationen, leitete Personenkontrollen zu »auffälligen« Mitgliedern und Kadern ein und war bemüht, die Stimmung in den Parteigliederungen nach ihrer Direktive zu beeinflussen.8 Eine besonders hohe Aufklärungsnotwendigkeit erkannte das MfS bei
6 7 8
Vgl. Bericht an Pommerenke über den Kreissekretär Bad Doberans vom 6.1.1989 (SAPMO BArch, DY 16/5237, Bl. 1 f.). Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung vom 21.3.1989 (SAPMO BArch, DY 60/2768, S. 2). So z. B. über den Kreisfunktionär und Inoffiziellen Mitarbeiter zur politischen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches (IMS) Heinrich, der die Politik der SED Ende Oktober 1989 gegenüber den Mitgliedern verteidigte. Information des IMS Heinrich vom 27.10.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, KD Rostock, Nr. 90, Bl. 8).
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den beiden eigenständigen Gründungen CDUD und LDPD, wie allein die Titel vieler MfS-Berichte, die sie explizit aufführen, zeigen. Das »rechtzeitige Erkennen von Störfaktoren« erachtete das MfS als notwendigen, ständigen »Prozess zur Unterstützung der Bündnispolitik unserer Partei«.9 Obwohl die Lagebeherrschung, das Informationsaufkommen und die Zusammenarbeit mit den meisten Funktionären auch auf der Bezirksebene als zufriedenstellend, vertrauensvoll und ausreichend eingeschätzt worden waren,10 wurde im Frühjahr des Jahres 1989 als direkte Reaktion auf die steigende Unruhe in den Blockparteien eine Intensivierung der Tätigkeit von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in den Parteien beschlossen.11 Dabei war »der Einsatz von IM […] auf die Funktionäre und auf Personen mit Einflussmöglichkeiten auszurichten«, da sie »im Zuge von Glasnost und Perestroika vermehrt den Wunsch nach Eigenständigkeit und gewisser Opposition zur SED« erwarten ließen.12 Zusätzlich wurden »Operative Personenkontrollen« (OPK) nach Bedarf in allen Parteien durchgeführt, die aber nur vereinzelt hauptamtliche Mitarbeiter trafen, da diese ohnehin strengen Kaderauswahlkriterien unterlagen.13 Stattdessen standen hier neben funktionslosen Mitgliedern insbesondere ehrenamtliche Ortsgruppenvorsitzende,14 Ratsmitglieder und weitere Personen auf kommunalen Wahlposten im Blickfeld der Staatssicherheit.15 Mit zunehmender Abkehr einzelner 9 Einschätzung über die aktuellen Aspekte der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien vom 8.5.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 130, Bl. 15). 10 Vgl. Über aktuelle Aspekte der polit-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbeson dere CDU und LDP(D) unter besonderer Beachtung gegnerischer Aktivitäten zur Herausbildung eines »kritischen Potentials« an der Basis der Parteien gegen die Bündnispolitik der SED und von Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion vom 3.5.1989 (BStU, MfS, HA XX, AKG, Nr. 6405, S. 10). 11 Vgl. Jahresplan 1989 vom 20.1.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, KD Rostock, Nr. 271, Bl. 18). 12 Protokoll über die Leitungsberatung Rostock vom 13.4.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 130, Bl. 8). 13 Eine dieser Ausnahmen war der Bad Doberaner CDUD-Kreissekretär, der durch das MfS intensiv beobachtet wurde. BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 130, Bl. 31; Einschätzung über aktuelle Aspekte der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und der LDP(D), unter Beachtung von gezielten gegnerischen Aktivitäten zur Herausbildung und Formierung eines »kritischen Potentials« an der Basis der Parteien gegen die Bündnispolitik der SED und von Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion vom 27.3.1989 (BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 2588, Bl. 7). 14 Z. B. die OPK »Nörgler« gegen einen NDPD-Ortsgruppenvorsitzenden aus Wolgast. Vgl. Einschätzung der politisch operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere CDU und LDP(D), unter besonderer Beachtung von gezielten gegnerischen Aktivitäten zur Herausbildung und Formierung eines »kritischen Potentials« an der Basis dieser Parteien gegen die Politik der SED sowie Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversionvom 23.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Nr. 10, Bl. 147). 15 Vgl. Erkenntnisse über Versuche zur Ausprägung eines Kurses der Eigenständigkeit und Selbständigkeit der befreundeten Parteien, Frühjahr 1989 (BStU, MfS, BV Rostock, HA XX, AKG, Nr. 6406, Bl. 8).
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Kreisverbände von der Linie ihrer Vorstände und der Etablierung und Ausweitung oppositioneller Kräfte im Umfeld von CDUD, LDPD und NDPD im Sommer 1989 wurde die erneute Erhöhung des Informationsaufkommens, die deutlichere Einflussnahme auf Einzelpersonen, die Erweiterung des Einsatzgebietes bestehender IM,16 die Reaktivierung ehemaliger und Neugewinnung künftiger IM als notwendig erachtet.17 Das MfS erkannte in der LDPD das größte kritische Potenzial aller Blockparteien und rückte die Anwerbung von Parteimitgliedern für die inoffizielle Informationstätigkeit in den Fokus. Der Grimmener LDPD-Kreisverband ist der ein zige Verband aller Parteien im Bezirk Rostock, in dem kein einziger IM tätig war.18 Im Bezirksverband stellte sich die Situation ähnlich dar: Zum Leidwesen des MfS war bis zum August 198919 keines der Bezirksvorstandsmitglieder für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS zu bewegen.20 Im LDPD-Jugendbeirat, dessen Gründung erhebliches Aufsehen erregt hatte, konnte das MfS dagegen einen Informanten installieren.21 Im Bezirksvorstand der NDPD gab es einen Informanten,22 der die ungenügende Zusammenarbeit mit dem Bezirksvorsitzenden Artur Pommerenke kompensieren sollte.23 Die Aktenlage legt allerdings den Schluss nahe, dass die meisten hauptamtlichen Kreisfunktionäre, die das MfS für eine inoffizielle 16 So erhielt etwa der IM AIM Asta am 15.9.1989 den Auftrag, zusätzlich Informationen über den NDPD-KV (Kreisverband) Rostock-Stadt zu erarbeiten. Vgl. Aktenvermerk vom 15.9.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, AIM 1300/90, Bl. 201). 17 Vgl. Einschätzung über aktuelle Aspekte der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere LDP(D) und CDU vom 24.8.1989 (BStU, MfS, BV Rostock/Rügen, Abt. XX, Nr. 887, Bl. 8). 18 Vgl. IM-Dislozierung BV [Bezirksverband] Rostock vom 13.4.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 621, Bl. 166). 19 Vgl. Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Kräfte und Mittel zur politisch-operativen Sicherung der befreundeten Parteien vom 15.8.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 621, Bl. 64). 20 Vgl. Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Kräfte und Mittel zur politisch-operativen Sicherung der befreundeten Parteien vom 6.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 659, Bl. 69). 21 Vgl. Akte des IM Richard Weisenberg (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1672). 22 Vgl. Einschätzung der Wirksamkeit der politisch-operativen Kräfte und Mittel der politisch-operativen Sicherung der befreundeten Parteien vom 6.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 659, Bl. 71). 23 Pommerenke informierte nur in Sicherheits- und Kaderfragen, in anderen bedeutsamen Fragen reagierte er nur auf Anfragen des MfS. Vgl. Einschätzung zu aktuellen Aspekten der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und der LDP(D), unter gesonderter Beachtung von gezielten gegnerischen Aktivitäten zur Herausbildung und Formierung eines »kritischen Potentials« an der Basis der Parteien gegen die Bündnispolitik der SED und von Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion vom 27.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1684, Bl. 10) und Lageeinschätzung in den befreundeten Parteien vom 22.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 621, Bl. 181).
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Zusammenarbeit gewinnen konnte, aus den Reihen der Nationaldemokraten stammten. Abgesehen von diesen Anwerbungserfolgen verlief die Kommunikation zwischen MfS und einzelnen NDPD-Kreisfunktionären nicht zur Zufriedenheit des Ministeriums: So wurde häufiger die Zusammenarbeit mit einzelnen Kreisvorsitzenden kritisiert. Die DBD hielt sich auch im Jahr 1989 – abgesehen von Vorbehalten gegen die Kaderpolitik und die Absicherung der landwirtschaftlichen Produktion – scheinbar vorbildlich an die bündnispolitischen Vorgaben der SED. In vielen Lageeinschätzungen der Kreisdienststellen des MfS wurde die DBD entweder nur lobend oder gar nicht erwähnt.24 Dass das MfS auch hier leitende Kader für eine Zusammenarbeit gewinnen konnte, zeigen mehrere hauptamtliche Mitarbeiter im Bezirk, Mitglieder des Rostocker Bezirksvorstandes und ein Minister in der Regierung um Hans Modrow, zu dem das MfS den Kontakt nach eigenen Angaben aber mit dessen Ernennung Mitte November 1989 einstellte.25 Über die Informationsabschöpfung hinaus haben die IM – teilweise überzeugt und freiwillig, teilweise im Auftrag – versucht, die Stimmungsbildung in ihrem Einflussbereich zu lenken.26 Das MfS griff auch direkt ein und lehnte Kandidaturen oder Berufungen in Parteiämter ab27 oder ließ unliebsame Kader intensiv beobachten, um sie zu einem geeigneten Zeitpunkt aus ihren Ämtern zu entfernen.28 24
Vgl. z. B. Einschätzung zu aktuellen Aspekten der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und der LDP(D), unter gesonderter Beachtung von gezielten gegnerischen Aktivitäten zur Herausbildung und Formierung eines »kritischen Potentials« an der Basis der Parteien gegen die Bündnispolitik der SED und von Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion vom 27.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1684, Bl. 9). 25 Vgl. Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem IME Klaus Sommer vom 24.11.1989 (BStU Neubrandenburg, Abteilung X07I, Nr. 03 113/83, Bl. 17). 26 So berichtete der Minister für Post- und Fernmeldewesen, er habe sich in einer kontroversen Volkskammerfraktionssitzung am 1.11.1989 »leidenschaftlich für Krenz ausgesprochen« und konnte dadurch das Abstimmungsergebnis wesentlich beeinflussen. Persönliche Information des Ministers für Post- und Fernmeldewesen vom 1.11.1989 (BStU, MfS, HA XX, Nr. 4836, Bl. 39). 27 So zum Beispiel im Falle eines Greifswalder Pfarrers, der auf Bestreben des MfS im Vorfeld der Kommunalwahl 1989 von der Kandidatenliste für die Stadtverordnetenversammlung gestrichen wurde. Vgl. Einschätzung der politisch-operativen Lage und wesentlicher Entwicklungstendenzen in den befreundeten Parteien sowie der Ergebnisse politisch-operativen Wirksamwerdens seit der Analyse der Abteilung XX am 29.3.1989 vom 16.9.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 621, Bl. 93). 28 Vgl. Einschätzung zu aktuellen Aspekten der politisch-operativen Lage in den befreundeten Parteien, insbesondere der CDU und der LDP(D), unter gesonderter Beachtung von gezielten gegnerischen Aktivitäten zur Herausbildung und Formierung eines »kritischen Potentials« an der Basis der Parteien gegen die Bündnispolitik der SED und von Wirkungserscheinungen der politisch-ideologischen Diversion vom 27.3.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr.1684, Bl. 8).
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2.4 Inszenierung durch die SED
Die Blockparteien unterlagen spätestens seit der vorbehaltlosen Anerkennung der SED-Führungsrolle zu Beginn der 1950er-Jahre einer strengen Anleitung und Kontrolle durch die SED. Die Konzeption der Bündnispolitik im Sozialismus wurde in den frühen 1980er-Jahren über ihre eigentliche Transmissionsauf gabe hinaus verändert und den Blockparteien wurde eine langfristige Perspektive garantiert: Unter der Leitung der SED sollten sie eigenständige Beiträge einbringen sowie Partikularinteressen ihrer spezifischen Wählerklientel vertreten und auch durchsetzen dürfen, sofern diese mit dem Welt- und Menschenbild der SED-Führung zu vereinbaren waren. Denn nur, wenn die Blockparteien sich in Teilfragen von der SED unterschieden und nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die klientel- und mitgliederspezifischen Unterschiede betont wurden, konnten sie ihre Interessenvertretungs- und Ventilfunktion erfüllen. Diese neue Rolle der Blockparteien ist als Reaktion auf die zunehmende Legitimitätskrise der SED-Herrschaft in der DDR-Bevölkerung zu verstehen und stellte die Funktionäre der Blockparteien vor neue Herausforderungen: Wie viel Abweichung war gewollt? Wie groß waren die neuen Spielräume tatsächlich? Die Vorsitzenden von CDUD, NDPD und DBD waren nicht im Stande oder gewillt, die neue Schwerpunktsetzung in ihren Aufgabentableaus umzusetzen und blieben bei der alten Linie, was die SED-Führung dazu veranlasste, sie selbst zu mehr Eigenständigkeit und Profilierung aufzufordern.29 Auch im Sommer 1989 forcierte die Staatspartei die Profilierung der Blockparteien als Reaktion auf die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft und die entstehende Bürgerbewegung.30 Die Personifizierung der gewollten und geforderten systemloyalen Kritik war Manfred Gerlach. Er war in den 1980er-Jahren der reformorientierteste und politisch auffälligste Vorsitzende aller Blockparteien und hat das SED-Regime mit dem Erfüllen seiner Rolle als systemloyaler Kritiker und Hoffnungsträger vielleicht sogar mehr stabilisiert, als die linientreuen Vorsitzenden der anderen drei Blockparteien. Die SED war auf das Mitwirken der Blockparteien angewiesen und gestal tete deren Handlungsspielräume entsprechend den politischen Gegebenheiten. Dem Führungspersonal aller Blockparteien wäre es aber zumindest bis zum Sommer 1989 nicht in den Sinn gekommen, sich durch eine Verweigerung in eine Machtposition zu bringen, geschweige denn, diese zur Destabilisierung des SED-Herrschaftssystems zu nutzen. 29
Vgl. dazu ausführlich David Bordiehn, Manfred Gerlach. LDP(D). Eine Funktionärsbiographie. Diss. masch. Berlin 2017 oder den Brief von Klaus-Peter Weichenhain an Manfred Gerlach über ein Gespräch mit der ZK-Abteilung Befreundete Parteien vom 29.12.1983 (ADL, Bestand LDPD, L-4, Nr. 329). 30 Protokoll der Dienstberatung des Bezirksvorstandes vom 10.7.1989 (ACDP 03–043–049/3). Zit. nach Güth, Resignation, S. 81. Zit. nach Luise Güth, »Resignation ist unchristlich!« Der Rostocker Bezirksverband der CDU(D) in den Jahren 1985–1989. In: Historisch-Politische Mitteilungen, 21 (2014), S. 65–84, hier 81.
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2.5 Beziehungen zwischen den Blockparteien
Die SED war seit den Gründungsjahren der vier kleinen Blockparteien bemüht, diese in eine konstruierte Konkurrenzsituation um Posten, Mandate, Neu werbungen und Ämter zu bringen, sie gegeneinander auszuspielen und jedwede eigenständige Kooperation zwischen den Blockparteien zu unterbinden. Dadurch wollte sie ihre Vormachtstellung sichern. Gemäß der Intention hinter der NDPD-Gründung und ihrer ähnlichen inhaltlichen und strukturellen Ausrichtung war die gewollte Rivalität zwischen den Liberaldemokraten und den Nationaldemokraten am stärksten.31 Diese Strukturen brachen in den späten 1980er-Jahren auf und die Wahrnehmung der Blockparteien untereinander veränderte sich. Zaghaft entstand eine zunehmende Kooperation. Die Quellen belegen, dass CDUD und LDPD auch nach 40 Jahren des kleinen blockparteilichen Quartetts und trotz des inszenierten Konkurrenzkampfes ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl verband. Die Mitglieder von NDPD und DBD orientierten sich nicht aneinander, sondern an der CDUD und der LDPD. Der Fixpunkt der intra- und interparteilichen Auseinandersetzung innerhalb der CDUD war – neben der SED – die LDPD. Die beiden ursprünglich auf sowjetische Initiative hin installierten Parteien wurden von den Christ- und Liberaldemokraten dagegen kaum wahrgenommen. Für die Liberaldemokraten selbst war keine der anderen Parteien eine orientierungsgebende Bezugsgröße, auch die SED nicht uneingeschränkt. Ab dem Jahr 1989 gibt es Hinweise auf gemeinsames Agieren von CDUD, LDPD und NDPD.32 Alle drei attestierten sich gegenseitig ein kritisches Hinterfragen von SED-Beschlüssen und -Vorlagen in den Sitzungen des Blocks und der Nationalen Front.33 Die DBD wurde dagegen von allen dreien als wesentlich konformer wahrgenommen und blieb bei Ansprachen in kommunalen Gremien zumeist außen vor. In den späten 1980er-Jahren wurde die LDPD von vielen NDPD- und CDUD-Mitgliedern ob ihres reformorientierten Denkens und Handelns geschätzt.34 Im Sommer 1989 scheinen CDUD und NDPD regelrecht auf ein Fanal der LDPD gewartet zu haben.35 31 Vgl. z. B. das Referat des stellv. LDPD-Bezirksvorsitzenden Frank Richter auf der Bezirksvorstandssitzung vom 11.5.1989. Hier lobte er den Mitgliederzuwachs im Bezirksvorstand und ergänzte, man könne nun stolz sein, damit vor der NDPD zu liegen (ADL, Bestand LDPD, Nr. 33751, S. 17). 32 Vgl. z. B. Protokoll der Sekretariatssitzung Wismar vom 10.4.1989 (ADL, Bestand LDPD, Nr. 33806, S. 2). 33 Vgl. z. B. Information über die Blocksitzung Bad Doberan vom 12.10.1989 (ADL, Bestand LDPD, Nr. 33775, S. 1 f.). 34 Dennoch gab es auch Mitte Oktober noch gegenteilige Meinungen, die die »Taktiken der LDP(D) und CDU« ablehnten. Wortmeldung aus Grimmen in Aktuelle Informationen Nr. 80 vom 16.10.1989 (SAPMO BArch, DY 16/2313, S. 5). 35 Vgl. Bericht IM Schröder vom 18.8.1989 (BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 621, Bl. 2).
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3. Prämissen des Szenarios Zusammenfassend werden nun kurz die Prämissen des folgenden Szenarios festgehalten. Abschließend beschreibt ein fiktiver Beobachter die weitere Entwicklung der Blockparteien bis in das Jahr 1991 hinein. 1) Die Kritik der Mitglieder der Blockparteien wurde ab 1986 massiver und griff die Politik der SED sowie deren Vormachtstellung an. Die Kritikdurchlässigkeit innerhalb der Parteien wurde größer, der Unmut über die Stagnation wuchs bei Mitgliedern und Funktionären gleichermaßen. In LDPD und NDPD gab es oppositionelle Bestrebungen, in der CDUD sogar »konspirative Treffen« hochrangiger Funktionäre. 2) Während sich die Bezirksvorstände der LDPD und der CDUD überwiegend hinter die Mitgliederschaft stellten, verhielt sich die Bezirksleitung der DBD ambivalent. In der NDPD betrieb der Bezirksvorstand großen Aufwand, um den linientreuen Anschein zu wahren. 3) Das MfS hat im Frühjahr und Sommer 1989 auf die zunehmende Unruhe in den Blockparteien reagiert und die IM-Tätigkeit intensiviert. Die Anwerbung von IM und die Informationsbeschaffung sowie die Einleitung von »Operativen Personenkontrollen« wurden verstärkt. Vereinzelt wurden Funktionäre abgesetzt oder Kandidaten für Wahlpositionen gezielt nicht zugelassen. 4) Die veränderte Bündniskonzeption der SED und damit einhergehend die veränderte Funktion der Blockparteien wurde nur von Manfred Gerlach erkannt und umgesetzt. Gerade wegen ihrer Linientreue und Profilarmut erregten die übrigen drei Parteivorsitzenden den Unmut ihrer Mitgliederschaft und gefährdeten damit zunehmend die Stabilität ihrer Parteien. Es gibt mehrfache Belege für Bemühungen der SED, die Profile der Blockparteien zu schärfen und damit ihre Integrationsfunktion zu erhöhen. 5) Nach Jahrzehnten des Konkurrenzdenkens zeichnete sich eine Annäherung zwischen den Blockparteien ab. Teile der CDUD warteten förmlich drauf, dass die LDPD tatsächlich eigenständige reformsozialistische Impulse setzt. Für kritisches Nachfragen schätzten sich CDUD, LDPD und NDPD gegenseitig, wenngleich die LDPD den größten Einfluss auf die anderen Blockparteien ausübte. Die DBD wurde von den anderen drei Blockparteien als SED-näher wahrgenommen.
4. Die Blockparteien in einer DDR des Jahres 1991 Heute ist der 31. März 1991. Ab heute besteht der Demokratische Block nur noch aus vier Parteien, denn die NDPD hat heute ihre Auflösung bekannt gegeben. Es war absehbar, dass es darauf hinauslaufen würde. Der schon länger gärende Unmut der Mitglieder, die oppositionelle Haltung einiger Kreisfunktionäre, die starre Haltung der höheren Parteifunktionäre, das hat nicht gut gehen können.
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Vor über einem Jahr, im Frühjahr 1990, setzte der Massenaustritt ein und die Partei konnte kaum noch organisiert werden, daran hat auch die Amtsenthebung Heinrich Homanns durch die SED nichts mehr ändern können. Homann war wohl schon zu alt, um die neuen Forderungen der SED-Führung nach mehr Profil der Blockparteien umzusetzen. Daran, was der wesentlich jüngere Gerlach schon seit Jahren praktizierte, war Homann gescheitert: Integration durch begrenzte Vielfalt. Homann hatte wohl auch keine Lust mehr auf den Dialog mit der Parteibasis, die Berichte seiner Parteigremien las er ohnehin seit Monaten nicht mehr. Auf seine Absetzung folgte eine kurze Stabilisierungsphase unter Günter Hartmann, das war dann aber auch alles. Günther Maleuda, dem Vorsitzenden der Bauernpartei, erging es ähnlich. Um dem noch relativ geringen Unmut der Mitgliederschaft und erster Funktionäre entgegenzuwirken, hatte die SED ihn vorsorglich gemeinsam mit Homann des Amtes enthoben und durch einen jüngeren Kandidaten ersetzt. Ulrich Junghanns gelang es zwar, die Treue der bäuerlichen Wählerschaft zu erhalten, in den Städten war der Wählerzuspruch für die DBD aber marginal geworden. Diese Diskrepanz führte letztlich dazu, dass sie ab Ende 1990 begann, zu einer Regionalpartei der agrarwirtschaftlichen Gebiete zu zerfallen. Im Norden der Republik war die Bauernpartei auch im Jahr 1990 nach wie vor stark und organisatorisch gefestigt, im industriell geprägten Süden trat sie kaum noch in Erscheinung. Den anderen Parteien waren die neuen Freiheiten offensichtlich besser bekommen, sie hatten sie ja auch eingefordert. Seitdem Gerlach seine Reformvorstellungen zunehmend auch gegen den Willen der SED artikuliert hatte, bekam die LDPD immensen Zulauf durch die Bevölkerung. Das konnte er jedoch nur, weil er sowohl die Parteimitglieder als auch viele Funktionäre hinter sich wusste. Schnell waren die Liberaldemokraten auf Mitgliederzahlen jenseits der 300 000 gestiegen. Der SED war eine starke reformsozialistische LDPD wesentlich lieber als eine unkontrollierbare Bevölkerungsmasse, daher ließ sie Gerlach nicht nur gewähren, sondern ermutigte ihn geradezu. Auch die drei anderen Parteien wurden zu einer stärkeren Profilierung angehalten. Seitdem die CDUD das Götting-Problem im Frühjahr 1990 allein gelöst hatte und Heyl ihr neuer Vorsitzender geworden war, gab es auch hier weniger Probleme und die Partei wirkte gefestigt. Auch ihre enge Anbindung an die Kirchen ließ die SED nach ihrem Paradigmenwechsel zu. Was anderes blieb ihr auch kaum noch übrig, denn ihre intensiven Bemühungen während des Jahres 1990, den Einfluss der SED über die Mitarbeiter des MfS zu behaupten und im Sinne des DDR-Staatssozialismus nutzbar zu machen, blieben in beiden bürgerlichen Parteien erfolglos. In der NDPD war die IM-Werbungsoffensive zwar erfolgreicher, zur Restabilisierung der Partei konnte sie aber nichts beitragen. Seit Jahren hatte die Kluft zwischen Basis und Führung nur noch übertüncht und die Deutungshoheit der Parteiführung nur mit restriktiven Mitteln durchgesetzt werden können. Dafür
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war der Unmut der noch verbliebenen Mitgliederschaft aber schon zu groß geworden. Überhaupt waren Zehntausende schon gegangen. Homann war nicht mehr dazu zu bewegen, die eingetretenen Pfade zu verlassen und stand den Stabilisierungsversuchen der SED nur im Wege. Darum musste er weg. Im Sommer 1990 wurde er abgesetzt und durch Hartmann ersetzt. Hartmann war ohnehin der eigentliche »Macher« in der Partei. Schon seit Jahren hatte Homann eher die repräsentativen Aufgaben nach außen übernommen, nach innen arbeitete Hartmann. Für die Mitgliederschaft kam dieser Schritt wohl schon zu spät oder Hartmann war doch der falsche Mann. Jedenfalls setzten sich die Auflösungserscheinungen nach einer kurzen Phase des Abwartens wieder fort. Die Belebung der politischen Landschaft der DDR verlief im Jahr 1990 im Wesentlichen in den Bahnen, die die SED dafür vorsah und die Blockparteien gewannen durch ihre stärkere Profilierung wieder an Integrationskraft. Ab Ende 1990 wurde die wirtschaftliche Situation in der DDR immer dramatischer, was zu einer nachhaltigen Legitimationskrise der SED-Herrschaft führte. In deren Gefolge musste die SED ihre »Primus inter Pares«-Stellung zugunsten einer Regierungskoalition zwischen SED-LDPD und CDUD aufgeben und den Forderungen der Blockparteien nach Wahlen ohne vorherigen Verteilungsschlüssel und einer Stärkung aller so legitimierten Gremien im Sommer 1990 nachkommen. Im Zuge des neuen Parteiengesetzes entstanden auch neue, nichtsozialistische Parteien, die wegen der anhaltenden Versorgungskrise, für die man die sozialistische Planwirtschaft schuldig erachtete, großen Wählerzuspruch fanden. Der Block existiert noch, wird aber nach dem Ausscheiden der NDPD und den guten Wahlergebnissen für die neuen Parteien aber entweder drastisch reformiert oder aufgelöst werden müssen. Die Beziehung der Blockparteien zur SED hielt dem Versuch einer tatsäch lichen Gleichberechtigung nicht stand. Zu groß war die wütende Ablehnung oder desillusionierte Enttäuschung in den Blockparteimitgliederschaften. Die Aus einandersetzung mit der SED und der eigenen Parteiengeschichte fand im frühen Jahr 1990 ihren Höhepunkt. Teilweise wurde die scharfkantige Abgrenzung gegenüber der vermeintlichen Partei der Arbeiterklasse so massiv geführt, dass sie die eigenen Programmdiskussionen zu überlagern schien. Nur die LDPD machte hier eine Ausnahme und beschäftigte sich vordergründig mit parteieigenen Themen und ihrer Neuprofilierung. Auf der politischen Ebene ist in den letzten zwei Jahren kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Es lag der Mehrheit der Blockparteimitglieder nicht daran, ihre Position zur Destabilisierung des SED-Systems zu nutzen. Insbesondere in »der« Reformpartei LDPD konzentrierte sich die Diskussion darauf, das System gemeinsam mit der SED umzugestalten. Vielleicht war das einer der größten Erfolge der sozialistischen Bündnispolitik: Die Kritik der lange Zeit über lautesten systemimmanenten Kritiker war systemloyal und damit stabilisierend.
IV. Anhang
Abkürzungsverzeichnis Abt. ADL Agit. AIM AOPK BA BArch BDK BFD BL BLHA BSB BStU Btr. BV BVo CDU CDUD DBD DDP DDR FDGB FDP FfO FIM FNS GE GHI GI GMS GST HA HAIT HRO HStAD HU IM IME IMS
Abteilung Archiv des Liberalismus Agitation archivierter IM-Vorgang Archivierte Operative Personenkontrolle Bezirksausschuss Bundesarchiv Bezirksdelegiertenkonferenz Bund Freier Demokraten Bezirksleitung Brandenburgisches Landeshauptarchiv Betrieb mit staatlicher Beteiligung Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Betreff Bezirksverwaltung, Bezirksverband Bezirksvorsitzender Christlich Demokratische Union Deutschlands (West) Christlich Demokratische Union Deutschlands (Ost) Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Demokratische Partei Frankfurt (Oder) Führungs-IM Friedrich-Naumann-Stiftung (prüfen ob mehrmals auftaucht, in Pohlmann gestrichen) Grundeinheit Geheimer Hauptinformator Geheimer Informator Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gesellschaft für Sport und Technik Hauptabteilung Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden Hansestadt Rostock Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Humboldt- Universität zu Berlin Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches
236 JHV JuliA KB KD Kfz KL KPD KPdSU KV KVP KW LDPD LHSA LPG Ltr. MfS NB ND NDPD NF NKFD NÖSPL OA OLtn OPK OPL o. D. o. T. o. V. ÖVW/H PA PDS Pfrd. Pg. PGH Prop. PT RdS SAPMO SBZ SdBV SdZV SED Sek.
Anhang
Jahreshauptversammlung Jungliberale Aktion Kulturbund Kreisdienststelle Kraftfahrzeug Kreisleitung Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kreisverband Kasernierte Volkspolizei Konspirative Wohnung Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landeshauptstaatsarchiv Schwerin Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Leiter Ministerium für Staatssicherheit Neubrandenburg Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschland Nationale Front Nationalkomitee Freies Deutschland Neues Ökonomisches System der Planung und Leistung Ortsausschüsse Oberleutnant Operative Personenkontrolle Ortsparteileitung ohne Datum ohne Titel ohne Verfasser Örtliche Versorgungswirtschaft/Handwerk Politischer Ausschuss Partei des Demokratischen Sozialismus Parteifreund Parteigenosse Produktionsgenossenschaften des Handwerks Propaganda Parteitag Rat der Stadt Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Sowjetische Besatzungszone Sekretariat des (LDPD-)Bezirksvorstandes Sekretariat des Zentralvorstandes Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sektion
Abkürzungsverzeichnis
SN Stasi STAVO ThHStAW VEB VOS ZK ZPS ZV
Schwerin umgangssprachlich Staatssicherheit Stadtverordnung Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar Volkseigene Betriebe Vereinigung der Opfer des Stalinismus Zentralkomitee Zentrale Parteischule Zentralvorstand
237
Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Agricola, Rudolf 71 Agsten, Rudolf 71, 133* Albrecht, Hans 38 Ammer, Hartmut 122 Bartel, Horst 65 Becher, Johannes R. 191 Benjamin, Hilde 82, 94, 101, 103 Berger, Götz 84 Bergmann-Pohl, Sabine 93 Biermann, Wolf 127, 195 Bloch, Ernst 193 Blücher, Gebhard Leberecht von 190 Bluhm, Harald 190 Blum, Robert 72 Bogisch, Manfred 49, 53, 56, 57*, 69 Bolz, Lothar 189, 191, 193 Bonaparte, Napoleon 191 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 179, 191 Dallmann, Siegfried 195 Davis, Angela 137* Decker, Gunnar 181, Dertinger, Georg 155 Dieckmann, Johannes 82* Einsiedel, Heinrich von 182–184 Eißner, Manfred 33–35 Engelbert, Otto 182–184 Fechner, Max 82, 187 Feuerbach, Ludwig 71 Fichte, Johann Gottlieb 71 Forster, Georg 72 Frölich, Jürgen 16*, 53, 56, Fühmann, Franz 14 f., 179–197 Gerlach, Hellmut von 74 Gerlach, Manfred 12, 18, 34, 43–45, 47 f., 51–53, 55–58, 69 f., 74, 86–91, 107, 110, 159, 167, 170–172, 227, 229 f.,
Gey, Hans-Joachim 174 Gneisenau, August Neidhardt von 191 Goebbels, Joseph 180 Goethe, Johann Wolfgang von 71 Gorbatschow, Michail 219 Gorski, 122 Götting, Gerald 221 Grotewohl, Otto 187 Grothe, Ewald 16* Hamann, Karl 155 f. Harich, Wolfgang 193 Harnack, Arvid 72 Hartmann, Günter 230 f. Havel, Václav 55 Havemann, Robert 84, 195 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71 Heinicke, Reinhold 112 Herder, Johann Gottfried 72 Heusinger, Hans-Joachim 10, 44, 48, 82–86, 100, 160, 167, 174 Heyl, Wolfgang 221, 230 Heym, Stefan 195 Hirsch, Burghard 98* Homann, Heinrich 189, 193, 230 f. Honecker, Erich 33 f., 52, 55 f., 60, 63, 85*, 93 Hutten, Ulrich von 71 Jacoby, Johann 73 Jagow, Joachim von 21–23, 25–27 Jahn, Roland 94 Junghanns, Ulrich 230 Kant, Hermann 196 Kant, Immanuel 71 Kastner, Hermann 82* Klein, Reinhard 91 Klemm, Dieter 222 Kloth, Hans Michael 55, 57 Kolbe, Raimund 24 Konik, Heinz-Dietrich 118
240
Anhang
Korn, Vilmos 192 f. Körner, Theodor 190 Kreissig, Hans-Karl 32 Krüger, Gunter (88), Günter (222) 88, 222
Rathenau, Walter 73 Renatus, Christian 98, 100 Richter, Frank 228 Richter, Hans 181, 185 Rinnert, Horst 118
Lapp, Peter Joachim 20, 45, 56 Lehmann, Hans-Georg 112 Lenin, Wladimir Iljitsch 182, 184 Lenski, Arno von 182 Lessing, Gotthold Ephraim 71 Lindenberger, Thomas 57, 149* Loest, Erich 193 Lösler, Horst 13, 107–130 Lüdtke, Alf 30*, 148 f.* Ludwig, Andreas 149 Lukács, Georg 184 Luthardt, Hans 189
Schiffer, Eugen 73, 82 Schiller, Friedrich 71 Schmalz-Jacobsen, Cornelia 96 Schmidt, Hartmut 36 f. Schmidt, Walter 64 f. Schneider, Günter 68 Schulz, Horst 117 Schulze-Boysen, Harro 72 Sommer, Ulf 159 Stalin, Josef 155, 179, 182 f., 187, 189–191, Staritz, Dietrich 19 Steinhöfel, Günter 109, 112, 117 f., 127 Stöcker, Helene 74 Streit, Josef 94 Suckut, Siegfried 51*
Maizière, Lothar de 92, 96, 99, 102 Malenkow, Georgi 190 Maleuda, Günther 230 Mann, Heinrich 74 Mao Tse-tung 190 Meier, Helmut 75 Merl, Stephan 57 Merlio, Gilbert 56 Modrow, Hans 23, 27, 83 f., 97, 226 Mückenberger, Erich 55 Müller, Vincenz 189 Nissel, Reinhard 99 Noll, Dieter 196 Ortleb, Rainer 93, 97, 99, 102* Ossietzky, Carl von 74 Palmowski, Jan 30 Papke, Gerhard 18 Pieck, Wilhelm 187, 190 Pohlmann, Tilman 110 Pommerenke, Artur 225 Puttkammer, Jesco von 182 Quandt, Gerhard 19
Tate, Dennis 191 Thies, Werner 94 Ulbricht, Walter 33, 63, 83, 93, 110, 164, 186 f., 190, 192 Unger, Rolf 31 f. Virchow, Rudolf 72 Vogt, Erich 185 f. Weichenhain, Klaus-Peter 16–18, 26 f., 36–38 Weigelt, Udo 86 Werner, Dietrich 114 Wolf, Hanna 184 Wolle, Stefan 57 Wünsche, Kurt 10, 13, 81–83, 86–103, 155, 159 f., 166, 173 f. Zaisser, Wilhelm 183 f.
Autorinnen und Autoren David Bordiehn, Dr. des., geb. 1980 in Berlin, Veröffentlichungen u. a.: Die politische Biographie Manfred Gerlachs – Ansätze, Probleme und Potential der Funktionärs-Biographie im SED-Staat. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 24 (2012), S. 245–258; Herakles am Scheideweg. Nuancen in der frühen politischen Biographie und ihre Auswirkungen auf das Lebenswerk am Beispiel Arno Eschs und Manfred Gerlachs. In: Liberale Perspektiven, (2010) 3, S. 4. Luise Güth, Dr. phil., geb. 1984 in Berlin, Historikerin, beschäftigt für das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig- Holstein. Veröffentlichungen u. a.: Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre, Baden-Baden 2018; »Resignation ist unchristlich!« Der R ostocker Bezirksverband der Ost-CDU in den letzten Jahren der DDR. In: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (Hg.), Historisch-Politische Mitteilungen, (2014) 21, S. 65–84. Marlene Heihsel, M. A., geb. 1989 in Bad Urach, Historikerin, Wissenschaftliche Referentin im Deutschen Bundestag für Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann MdB. Franz-Joseph Hille, M. A., geb. 1984 in Dresden, affiliierter Doktorand am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Alexander Koch, M. Ed., geb. 1986 in Lutherstadt Eisleben, Historiker, affiliierter Doktorand am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Tilman Pohlmann, Dr. phil., geb. 1979 in Osnabrück, Historiker und Lehrer am Landesamt für Schule und Bildung Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Die Ersten im Kreis. Herrschaftsstrukturen und Generationen in der SED (1946–1971), Göttingen 2017; »Zusammenarbeit« als Gefolgschaft. Über Herrschaftsansprüche der SED an die LDPD in den Bezirken der DDR. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 28, Baden-Baden 2016, S. 361–375. Christoph Schreiber, Dr. phil., geb. 1986 in Berlin-Lichtenberg, Historiker, Projektmitarbeiter beim Caritasverband Leipzig e. V., Veröffentlichungen u. a.: »Deutsche auf die wir stolz sind.« Untersuchungen zur NDPD, Hamburg 2018.
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Ines Soldwisch, PD Dr. phil., geb. 1976 in Malchin, Vertretungsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen University. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (mit Armin Heinen), Das Studium der Geschichte – Vorlesungsgeschichte und autobiografische Erzählungen 1945–2017, Kassel 2019, Parteien im U mbruch: Zur Geschichte der Liberalen und Christdemokraten 1989/90. In: Stefan Creuzberger/ Fred Mrotzek/Mario Niemann (Hg.), Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem Ende der DDR, Berlin 2018, S. 70–87; »… etwas für das ganze Volk zu leisten und nicht nur den Zielen e iner Partei dienen …«. Geschichte der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in Mecklenburg 1946–1952, Berlin 2007. Michael Thoß, (Staatsexamen), geb. 1977 in Plauen/Vogtl., derzeit wissenschaftliche Hilfskraft am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Reaktionen auf oppositionelle Tendenzen in der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) am Ende der 1980er Jahre. Der Fall des Bernauer Kreissekretärs Reimar Clausnitzer. In: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 29 (2017), S. 283–302; Einzelbeiträge in: Dieter Daniels/Torsten Hattenkerl (Hg.), Orte, die man kennen sollte. Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit in Leipzig, Leipzig 2013. Thomas Widera, Dr. phil., geb. 1958 in Karl-Marx-Stadt, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Serbski institut/Sorbischen Institut in Bautzen. Veröffentlichungen u. a.: Die LDPD in der DDR als Blockpartei der SED – ein Problemaufriss. In: Ewald Grothe/Jürgen Frölich/Wolther von Kieseritzky (Hg.), Liberalismus-Forschung nach 25 Jahren. Bilanz und Perspektiven, Baden-Baden 2016, S. 97–120.