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German Pages 343 [344] Year 2019
Lateinamerika-Studien Band 31
Lateinamerika-Studien Herausgegeben von Walther L. Bernecker Titus Heydenreich Gustav Siebenmann
Hanns-Albert Steger Franz Tichy Hermann Kellenbenz t
Schriftleitung: Titus Heydenreich Band 31
Die Lateinamerikanistik in der Schweiz Herausgegeben von Walther L. Bernecker und José Manuel Lopez de Abiada
Redaktion: Linda Shepard
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1993
Anschrift der Schriftleitung:
Universität Erlangen-Nürnberg Zentralinstitut (06) Sektion Lateinamerika Bismarckstr. 1 D-8520 Erlangen
Gedruckt mit Unterstützung der Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung und mit Mitteln der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Lateinamerikanistik in der Schweiz: / hrsg. von Walther L.Bernecker lind José Manuel Lopez de Abiada. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1993 (Lateinamerika-Studien ; Bd. 31)
ISBN 3-89354-731-2 NE: Bemecker, Walther L. [Hrsg.]; GT
© by the Editors 1993 Alle Rechte vorbehalten Druck: difo druck, 8600 Bamberg Printed in Germany
Inhalt Walther L. BerneckerlJosé Manuel Lopez de Abiada: Einleitung Markus Baumann/Peter Gneist: Vorkoloniale Geschichte und Ethnologie Lateinamerikas . . . . Walther L. Berneckerl Markus GlatzJLinda Shepard: Die historische Lateinamerikaforschung Peter Fleer. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung über Lateinamerika Martin Grosjean: Lateinamerikaforschung im Bereich Geographie Christian Suter: Die soziologische Lateinamerikaforschung Jakob Baumgartner: Evangelisation - Kirche - Theologie in Lateinamerika José Manuel Lopez de Abiada : Die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerikanistik . Andreas Münch: Die Rezeption der modernen lateinamerikanischen Kunst und Architektur Die Autoren
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Einleitung
Walther L. Bernecker/José Manuel López de Abiada
Einleitung Wer den Roman Ich der Allmächtige des paraguayischen Erzählers Augusto Roa Bastos gelesen hat, der weiß, daß die Lateinamerikanistik in der Schweiz sehr früh angefangen hat. In diesem Roman wird nämlich erzählt, daß die gebürtigen Schweizer Arzte Johann Rengger und Marcelin Longchamp im Jahre 1827 das erste Buch über die "ewige Diktatur" des paraguayischen Präsidenten José Gaspar Rodríguez de Francia veröffentlichten. Die französisch geschriebene Darstellung erschien zwar bei Cotta in Stuttgart-Tübingen unter dem deutschen Titel Historischer Versuch über die Revolution von Paraguay und die Dictatorial-Regierung von Dr. Francia. Ein Abschnitt der Reise nach Paraguay, 1835 jedoch folgte in Aarau eine erweiterte, von Johann Rengger ins Deutsche übersetzte Ausgabe, die sein Onkel und Vormund Albrecht Rengger, der Innenminister während der Helvetischen Republik gewesen war, herausgab. Die bibliographischen Angaben zu diesem Werk erscheinen zwar im Roman von Roa Bastos unvollständig; der Verfasser ist jedoch über die Rezeption des Werks bestens orientiert. Er weist darauf hin, daß das Buch "in verschiedene Sprachen übersetzt" wurde und "einen großen Erfolg im Ausland" hatte. Weiter führt er aus: "Doch in Paraguay selbst ließ es der Allmächtige unter Androhung schwerster Strafe verbieten, da er es für eine tückische Schmähschrift gegen seine Regierung und für ein 'Bündel Lügen' hielt. Man kann sagen, daß das Buch von Rengger und Longchamp, dessen erster Teil auf französisch und dessen zweiter Teil auf deutsch geschrieben wurde, der 'Klassiker' par excellence für diesen historischen Abschnitt der paraguayischen Geschichte ist; es ist ein unerläßlicher 'Schlüssel', eine unumgängliche 'Laterne', um in die geheimnisvolle Realität einer Epoche ohnegleichen auf dem amerikanischen Kontinent sowie in die noch rätselhaftere Persönlichkeit jenes Mannes einzudringen". (S. 124) Rengger und Longchamp kamen 1818 in Buenos Aires an, wo sie sich mit dem französischen Naturforscher Bonpland anfreundeten. Da die politische Lage am Río de la Plata unsicher war, riet Bonpland den jungen Schweizern, nach Paraguay zu gehen. Sie nahmen den Rat gerne an, denn ihrer Meinung nach war die Francia-Diktatur eine Art "Oase des Friedens inmitten seiner
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vollkommen wilden Abgeschiedenheit". Die beiden wurden vom Diktator freundlich empfangen, sie erfuhren bei ihren wissenschaftlichen Untersuchungen Unterstützung und erhielten die Erlaubnis, ihren Beruf auszuüben. Francia ernannte sie schließlich zu Militär- und Gerichtsärzten auf Lebenszeit, Rengger wurde sogar Leibarzt des Diktators. Allerdings fielen die beiden Schweizer bald in Ungnade, da der mißtrauische und argwöhnische Diktator sie verdächtigte, geheime Beziehungen zu den der Diktatur feindlich gesinnten "zwanzig oberen Familien" zu pflegen. Sie konnten schließlich Paraguay im Jahre 1825 verlassen. Von diesem wohl ersten Werk über Lateinamerika aus Schweizerfeder bis hin zu einem der vorerst letzten, dem von der Schweizerischen Stiftung FUNDES (Fundación para el Desarrollo Económico Sostenido) geförderten und vom Schweizer Großindustriellen Stephan Schmidheiny zusammen mit dem ehemaligen Fujimori-Berater Hernando de Soto herausgegebenen Sammelband Las nuevas reglas del juego. Hacia un desarrollo sostenible en América Latina (Bogotá 1991) war ein weiter Weg. Zahlreiche Personen und Disziplinen beteiligten sich an der Erforschung des lateinamerikanischen Subkontinents. Das Interesse hat vor allem in den letzten Jahren deutlich zugenommen und sowohl quantitativ als auch qualitativ zu einer deutlichen Steigerung der lateinamerikanistischen Publikationen in der Schweiz geführt. Es hat nicht nur bedeutende lateinamerikanische Autoren gegeben, die schweizerischer Abstammung waren (etwa Alfonsina Storni, die "Nationaldichterin" Argentiniens, oder den uruguayischen Erzähler Juan José Morosoli); die schweizerischen Verbindungen mit Lateinamerika lassen sich in der einen oder anderen Form auf nahezu allen Gebieten nachweisen: Die schweizerische Auswanderung nach Argentinien, Brasilien und in andere Länder war beträchtlich und von nicht zu unterschätzender Bedeutung; die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Schweiz haben bereits im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt; schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Lateinamerika ein wichtiger Absatzmarkt für schweizerische Industrieprodukte. Ökonomisch und politisch gab es somit schon früh enge Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Schweiz. Weniger sichtbar, aber nicht weniger bedeutsam für die Beziehungsgeschichte sind die Literatur, die Kunst und die Wissenschaften. Gerade bei der Betrachtung der literarischen Rezeption und des kulturellen Austausches über längere Zeit hinweg findet man deutliche Indikatoren für den "Zeitgeist", die Besorgnisse, die Vorzüge und die kulturellen Interessen der verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten. Im Falle Lateinamerikas und der Schweiz war die Rezeption bis Mitte des 20. Jahrhunderts
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vorwiegend einseitig; erst danach zeichnete sich langsam eine expansive Tendenz und ein Trend zu gegenseitiger Rezeption ab: Zwischen 1955 und 1964 wurden 145 neue Titel lateinamerikanischer Autoren ins Deutsche übersetzt. Diese Zahl übertraf die 140 Titel, die zwischen 1753 - der ersten Ubersetzung eines lateinamerikanischen Werkes ins Deutsche, Florida vom Inca Garcilaso de la Vega - und 1955 erschienen waren. Seit Mitte der 1970er Jahre kann man sagen, daß die lateinamerikanische Literatur im deutschen Sprachraum deutlich präsent ist. In den folgenden Abschnitten wird ein Uberblick zu Gang und Stand der schweizerischen Lateinamerikaforschung gegeben. Berücksichtigt werden die Bereiche vorkoloniale Geschichte und Ethnologie, Geschichte, Wirtschaft, Geographie, Soziologie, Theologie, Literatur und Kunstgeschichte. Nicht aufgenommen werden konnten die Disziplinen Recht und Biologie, da hierfür keine kompetenten Mitarbeiter zu finden waren.
Zur vorkolonialen Geschichte und Ethnologie Der Schweizer Beitrag zur vorkolonialen Geschichte und Ethnologie Lateinamerikas wird zusammen vorgestellt, da (1.) die Entstehungsgeschichte der Fächer viele Gemeinsamkeiten aufweist und (2.) bis heute personell und institutionell zahlreiche Verknüpfungselemente vorhanden sind. Die vorkoloniale Geschichte bildet in der Schweiz - im Gegensatz zur Ethnologie - keine eigene Universitätsdisziplin; die meisten präkolumbischen Studien wurden und werden deshalb im Rahmen der Ethnologie geschrieben. Eine wichtige Integrationsfunktion für beide Fächer übernimmt die 1949 gegründete Schweizerische Amerikanistengesellschaft mit Sitz in Genf. Das systematischere Interesse Europas an den vor- und nachkolumbischen Kulturen Amerikas entwickelte sich vor allem im 18. Jahrhundert. Es begann mit Handelsreisenden, Diplomaten und Missionaren - unter ihnen auch Schweizer -, deren Beobachtungen sich in Reiseberichten und Tagebüchern niederschlugen. Mit der vermehrten Erschließung der Handelswege zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Entstehung erster Schweizer Kolonien in den unabhängig gewordenen Staaten wuchs auch das wissenschaftliche und ökonomische Interesse an der "Neuen Welt". In diesem Zusammenhang wurden von Europa aus eigentliche Expeditionen zur Erforschung von Flora und Fauna Amerikas organisiert und durchgeführt. Die Teilnehmer waren Naturwissenschaftler wie Zoologen, Biologen, Geologen und Ärzte, die sich
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zwar vorwiegend der Naturbeobachtung und der Beschreibung der entstehenden Kolonien widmeten, die während ihrer Reisen aber auch die indianische Bevölkerung und die Überreste vergangener Kulturen kennenlernten, über die sie in ihren Aufzeichnungen berichteten. Außerdem brachten diese Reisenden viele Informationen in Form von ethnographischen Sammlungen nach Europa, die einen Teil des Grundstocks der später entstehenden Völkerkundemuseen bildeten. Bedeutende Forscher dieser ersten Erforschungsphase waren Louis Jean Rodolphe Agassiz (1807-1873), der Brasilien bereiste, Johann Jakob von Tschudi (1818-1889), welcher mehrere längere Reisen in den Andenraum unternahm, Adolph Francis Alphonse Bandelier (1840-1915), der sich in Peru, Bolivien und Mexiko aufhielt (vgl. Hodge 1914), Moisés Santiago Bertoni (1857-1929), der sich in Paraguay niederließ (vgl. Ramella 1985), Adolf-Niklaus Schuster (1875-?), der ebenfalls Paraguay und Argentinien bereiste, Emil August Göldi (1859-1917), der sich im Amazonasgebiet aufhielt, Gustav Bemoulli (1834-1878) und Otto Stoll (1849-1952), die Studien in Guatemala durchführten. 1 Mit dem Entstehen der Völkerkundemuseen, die ab 1900 aufgrund der Sammlungen von Forschungsreisenden geschaffen wurden, bekamen die amerikanistischen Studien mehr und mehr einen wissenschaftlichen Charakter. In diese Zeit fallen auch die ersten Bemühungen, Studien über lateinamerikanische Kulturen auf universitärer Ebene zu betreiben. So entstanden mit der Zeit auf Initiative der Konservatoren der neugegründeten Völkerkundemuseen, die an den verschiedenen Universitäten Vorträge hielten, eigenständige ethnologische Hochschulabteilungen. Die ethnologischen Institute von Genf, Neuenburg, Zürich und Basel stehen bis heute in enger Verbindung mit den Museen. Im Gegensatz zur Ethnologie konnte sich die vorkoloniale Geschichte Lateinamerikas nicht an den Universitäten etablieren. Trotzdem haben sich in den letzten hundert Jahren durchgehend Schweizer der Altamerikanistik gewidmet. Wichtige Altamerikanisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts waren Eugène Pittard (1867-1962), Initiant und Mitbegründer der "Schweizerischen Amerikanistengesellschaft", Georges Lobsiger (19031987), René Naville (1905-1978) (vgl. Naville 1973), die Ethnologen Hans Dietschy (1912-1991) und Alfred Métraux (1902-1963), dessen regionale Schwerpunkte in bezug auf altamerikanistische Studien das Amazonasgebiet, der Chaco und das Andenhochland waren (vgl. Bastide 1964). Größere Bedeutung erhielt die Schweizer Altamerikanistik ab den 40er Jah1
Vgl. die vollständigen bibliographischen Angaben zu allen in dieser Einleitung erwähnten Titeln in den Bibliographien der entsprechenden Kapitel in diesem Sammelband.
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ren; in den 60er und 70er Jahren erreichte sie einen vorläufigen Höhepunkt. Ab 1940 nahm die Zahl der Forschenden stetig zu; einzelne von ihnen begannen, sich fast ausschließlich mit dem vorkolonialen Amerika zu beschäftigen. Der bedeutendste unter ihnen war Raphael Girard (18981982), der einen großen Teil seines Lebens in Zentralamerika verbrachte, wo er sich dem Studium der alten Mayakulturen widmete (vgl. Polo Sifontes/Villacorta 1980). Seine zahlreichen Arbeiten, vor allem über die präklassische Periode, haben zu einem großen Teil heute noch Gültigkeit. Andere Schweizer Altamerikanisten, die sich ausschließlich mit den alten Kulturen beschäftigten und heute noch beschäftigen, sind Jorge Guillemin, der in Guatemala tätig war, Juan Schobinger, der im Nordwesten von Argentinien wohnt und arbeitet, und Henri Reichlen, dessen regionale Spezialisierung das alte Peru ist. In die Zeit der 50er, 60er und beginnenden 70er Jahre fallen die meisten Altamerika-Ausstellungen in verschiedenen Museen und Galerien. Wichtigste Vertreter der jüngsten Schweizer Altamerikanistengeneration sind Gerhard Baer (Mexiko, Peru), Christian Spahni (Chile, Peru), Henri Stierlin, Armin Bollinger, Annemarie Seiler-Baldinger und Theres Gähwiler-Walder (Kolumbien). Was die Inhalte der Arbeiten der Schweizer Altamerikanistik angeht, stehen deutlich Themen im Vordergrund, die ohne eine Reise nach und durch Lateinamerika bearbeitet werden konnten. Es handelt sich vor allem um zwei Arten von Arbeiten: einerseits allgemeine Ubersichtswerke zu Kunst, Archäologie und Geschichte des ganzen präkolonialen Lateinamerika oder zu einzelnen (Hoch-)Kulturen, andererseits ethnographische, archäologische oder kunsthistorische Beschreibungen und Deutungen einzelner Objekte oder ganzer Sammlungen, die im Rahmen der Völkerkundemuseen, häufig im Zusammenhang mit Ausstellungen, realisiert wurden. Daneben entstanden (seltener) auch Forschungsarbeiten aufgrund von Besuchen, Grabungen oder gar Entdeckungen präkolonialer Stätten. Viele Arbeiten dieser Art stammen denn auch aus der Feder von zeitweise in Lateinamerika selber wohnhaften Schweizer Altamerikanisten (Girard, Guillemin, Reichlen, Schobinger, Spahni). Arbeiten, in denen aufgrund von archäologischen Daten und unter Bezugnahme auf die heutigen Indianer Aspekte der Religion, der sozialen Organisation und das Alltagsleben der Präkolumbianer rekonstruiert werden, sind vor allem von Ethnologen (Girard, Dietschy, Spahni, Baer) geschrieben worden. Weniger intensiv erforscht wurden Themen wie die Entzifferung von Petroglyphen (Naville, Baer), die Interpretation und Ubersetzung frühkolonialer Quellentexte (Girard, Lobsiger) oder die Deutung prähistorischer Felsmalereien (Schobinger, Spahni). Einige Stu-
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dien betreffen die möglichen Besiedlungsarten von Amerika und dessen vorkoloniale Beziehungen zu anderen Kontinenten (Bandelier, Bandi, Forrer, Metraux, Marschall). Obschon an den verschiedenen ethnologischen Instituten der Universitäten Basel, Bern, Freiburg, Neuchätel, Genf und Zürich regelmäßig Lehrveranstaltungen zu lateinamerikanischen Themenbereichen angeboten werden, gibt es bis heute keinen einzigen Lateinamerikalehrstuhl. Nichstdestoweniger beschäftigten sich aber seit der Gründung universitärer Abteilungen ausgebildete Ethnologinnen und Ethnologen immer wieder mit Lateinamerika. Seit Anfang der 30er Jahre hat die Beschäftigung mit diesem Raum kontinuierlich zugenommen; dieser Trend hält unvermindert an. Die wichtigsten regionalen und thematischen Forschungsschwerpunkte von 1850 bis heute lassen sich folgendermaßen beschreiben: Das Kulturareal des ost-südamerikanischen Waldlandes, Teile des angrenzenden ostbrasilianischen Berglandes und Guyanas bilden - gemessen an der Anzahl geschriebener Arbeiten - seit den 40er Jahren bis heute den herausragenden regionalen Schwerpunkt der Schweizer Ethnologie. Besonders Ethnien im Einzugsgebiet des Amazonasstromes sind des öfteren beschrieben worden. In den 70er Jahren wurde das Kulturareal des Andenostrandes zu einem zweiten Schwerpunkt. Diesem folgten in den 80er Jahren zusätzlich der Raum Mexiko und Kulturen des zirkumkaribischen Raumes, darunter besonders Nicaragua. Thematisch standen zwischen 1850 und 1930 sowohl ethnographische als auch linguistische Aspekte im Vordergrund ethnologischer Forschung. Später gewannen neben Monographien zu einzelnen Ethnien Beschreibungen von Handwerksbereichen - im weiteren Sinne somit die materielle Kultur -, das religiöse Wissen, damit verbundene mythische Vorstellungen und ethnohistorische Themen an Bedeutung. Diese inhaltlichen Gewichtungen wurden in den 50er Jahren durch Beschreibungen der sozialen und politischen Organisation der untersuchten Ethnien ergänzt. Die erste Generation meist im Ausland ausgebildeter und in Lateinamerika tätiger Ethnologen führte ihre Forschungen ethnienzentriert und auf eine Region beschränkt durch. Im Mittelpunkt ihres Interesses stand somit eine Kultur, die sie beschreiben wollten. Die Lebensweise der zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich verschwindenden Ethnien und deren Wissen sollten der Nachwelt erhalten bleiben. Der bekannteste und bedeutendste Ethnologe unter den eigentlichen Schweizer Amerikanisten ist sicher Alfred Metraux, der zugleich Mitherausgeber und Autor des wichtigen Handbook of South American Indians (Washington D.C. 1946-1948) ist. Er bearbeitete so unter-
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schiedliche Themen wie transpazifische Beziehungen am Beispiel der Osterinseln, die Ethnohistorie der Tupi-Guarani oder die afroamerikanische Religion Voodoo auf Haiti (vgl. Wagley 1964). Ebenfalls in Lateinamerika forschten bzw. forschen Franz Caspar (1966-1977) in Westbrasilien bei Tupari-Indianern, Hans Dieschy in Zentralbrasilien bei Karajà-Indianern, Gerhard Baer in Ost-Peru bei Matsigenka- und Piro-Indianern, Pierre Yves Jacopin im kolumbianischen Amazonas bei Yukuna-Indianern, Louis Necker über Franziskaner und Guarani-Indianer in Paraguay, Jürg U. Gasché im Amazonas bei Huitoto- und Secoya-Indianern und Catherine Saugy de Kliauga in Argentinien bei Mapuche-Indianern (vgl. Seiler-Baldinger 1988). Seit den späten 60er Jahren ist eine methodische und thematische Vielfalt der ethnologischen Beschäftigung mit Lateinamerika konstatierbar. Neben den bereits erwähnten Inhalten wird die aktuelle Situation der Indianer in Lateinamerika zu einem außerordentlich wichtigen Arbeitsfeld. Die aktuellen Forschungsrichtungen lehnen sich weitgehend an internationale Forschungstrends an, wie etwa die angewandte Ethnologie (Hans-Rudolf Wicker), die neuere Peasani-Forschung (Jean Louis Christinat), die Stadtethnologie, die ethnologische Frauenforschung oder die Ethnopsychoanalyse (Maya Nadig, Mario Erdheim). Bis heute aktuell bleibt die an materiellen Erzeugnissen interessierte Museumsarbeit (Annemarie Seiler-Baldinger, René Fuerst, Daniel Schoepf)-
Zur Geschichte Die historische Lateinamerikaforschung kam in der Schweiz - sieht man von gewissen, eher marginalen Vorläufern ab - erst in den 1960er Jahren auf; auch heute noch ist sie nirgends institutionalisiert. Zwar wird an der ETH Zürich (Hans Wemer Tobler) und an der Universität Bern (Walther L. Bernecker) schwerpunktmäßig Forschung zu Lateinamerika betrieben; beide Dozenten setzen jedoch in der Lehre auch andere Schwerpunkte. Rudolf von Albertini behandelte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Zürich mitunter ebenfalls lateinamerikanische Themen. Bisher lassen sich weder deutliche Schulen oder geographische Schwerpunkte noch dominierende Forschungstrends oder methodisch eindeutig definierte Ausrichtungen erkennen. Vielmehr dominiert eine gewisse Heterogenität, wobei häufig auch fließende Ubergänge zu Nachbardisziplinen zu konstatieren sind.
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Über zwei Bereiche wurde verstärkt gearbeitet: Der eine ist die schweizerische Auswanderung nach Lateinamerika, der andere betrifft die Wirtschaftsbeziehungen und schweizerischen Finanzinvestitionen. Die Bibliographie von André Herrmann und Gustav Siebenmann (1987) ist für den Bereich Geschichte die maßgebende. Im Zeitschriftenbereich gibt es in der Schweiz keine rein historisch ausgerichtete Publikation. Die Zeitschriften Cahiers latino-américains, Condor (beide Lausanne) und die Lateinamerika-Nachrichten (Lateinamerikanisches Institut, St. Gallen) publizieren unterschiedliche Artikel aus dem Bereich der schweizerischen Lateinamerikaforschung, mitunter auch zur Geschichte. Im 19. Jahrhundert entstanden in der Schweiz nur wenige Werke zu Lateinamerika. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden an der Universität Bern mehrere Dissertationen zu lateinamerikanischen Themen angefertigt. In der Zeitspanne zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg finden sich (mit einigen Ausnahmen) fast jährlich ein bis zwei Werke aus Schweizerfeder, die historiographischen Kriterien mehr oder minder gerecht werden. Unter regionalen Gesichtspunkten läßt sich festhalten, daß die meisten Studien zu Brasilien, Argentinien und Paraguay verfaßt wurden. Thematisch überwogen bei weitem missionsgeschichtliche Untersuchungen. In den siebziger Jahren bemerkt man auch in der historischen Lateinamerikaforschung der Schweiz einen starken Einfluß der Dependenztheorien. Ein besonderes Interesse erfuhren damals die Guerrillabewegungen. In den letzten zwanzig Jahren wurden wirtschaftshistorische Ansätze und Fragen zur Entwicklungsproblematik zunehmend wichtig. Hans Werner Tobler war der erste schweizerische Lehrstuhlinhaber, dessen Forschungen sich auf Lateinamerika konzentrierten. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt in der mexikanischen Geschichte der Neuzeit. Seine Studie über die mexikanische Revolution (Tobler 1984) gilt, auch im internationalen Vergleich, als Standardwerk. Urs Bitterli, der an der Universität Zürich Kolonialgeschichte lehrt, hat intensiv die verschiedenen Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert untersucht (Bitterli 1986). Jörg Fisch (Universität Zürich ) behandelt Lateinamerika im Zusammenhang mit der europäischen Expansion sowie die völkerrechtlichen Aspekte des Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Fisch 1984). 1988 wurde Walther L. Bernecker auf den Lehrstuhl für Neue Geschichte an der Universität Bern berufen. Berneckers Forschungsschwerpunkt liegt in der mexikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei den
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europäisch-mexikanischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen (Bernecker 1988). An der Universität Genf sind die Themen der zu Lateinamerika verfaßten Arbeiten wegen der Ausrichtung der dortigen Universitätsinstitute eher politologisch als historisch orientiert. Mit Ricardo Antonio Silva Seitenfus ist neuerdings ein Lateinamerikanist am Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) tätig. Im Bereich der Kirchengeschichte ist vor allem auf Jean-Pierre Bastian zu verweisen, der sich schwerpunktmäßig mit dem Protestantismus in Lateinamerika, besonders in Mexiko, von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart beschäftigt hat (Bastian 1992). Die Themenwahl der Lizentiatsarbeiten erscheint häufig durch die in Europa politisch diskutierten Fragen beeinflußt. So waren etwa Kuba, Nicaragua, Chile oder Argentinien überdurchschnittlich oft gewählte Staaten. Auch läßt sich in diesen Arbeiten ein klarer Trend zu neuerer und neuester Geschichte erkennen. Bevorzugt wurden Themen zu Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika. Neuerdings ist für zukünftige historische Arbeiten zu Lateinamerika ein wichtiges Hilfsmittel publiziert worden: Ein Inventar zu den im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern aufbewahrten Akten (Bestand E 2001) über Lateinamerika für die Jahre 1896-1965 (Bernecker u.a. 1991). Das Inventar dokumentiert Vorgänge bzw. Akteneinheiten des 20. Jahrhunderts, von denen ein großer Teil in der Nachkriegszeit entstanden ist und von denen viele bis in die 60er Jahre und damit sogar in die geltende 35jährige Sperrfrist hineinreichen. Es handelt sich um ein sog. sachthematisches Inventar, das zwar nicht alle Latinoamericana des Bundesarchivs, aber auch nicht einen einzelnen ganzen Bestand dokumentiert, sondern die einschlägigen Akten aus dem für diese Fragestellung zweifellos wichtigsten und außerordentlich umfangreichen Provenienzbestand des früheren Eidgenössischen Politischen Departements und heutigen Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten. Zur Historiographie über die schweizerische Wanderungsforschung nach Lateinamerika liegen drei in Inhalt und Methode weitgehend ähnliche Berichte vor. Der erste stammt aus der Feder von Martin Nicoulin und Béatrice Ziegler (1975). Er umfaßt, nach thematischen Schwerpunkten geordnet und in Länder unterteilt, eine Liste von knapp 400 Titeln, wobei sowohl Werbebroschüren und edierte Tagebücher von schweizerischen Auswanderern als auch die für die Auswanderungsforschung wichtigen Monographien und Aufsätze aufgeführt werden. Erstmals wird zudem ein ausführliches Inventar über die ungedruckten Quellen präsentiert, die in ver-
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schiedenen schweizerischen Archiven liegen. Vier Jahre später erschien ein in spanischer Sprache von Gérald Arlettaz und anderen geschriebener Artikel (Arlettaz u.a. 1979). Der dritte, von Klaus Anderegg und anderen verfaßte Beitrag, erschien 1987. Ein für die Auswanderungsforschung besonders wichtiges, Handbuchcharakter aufweisendes Gesamtwerk zur schweizerischen Emigration der Neuzeit (u.a. nach Lateinamerika) verfaßte der heute in den USA lehrende Historiker Leo Schelbert (1976). Die bisherigen Arbeiten zur Auswanderung nach Lateinamerika wurden einerseits auf der Basis der in der Schweiz vorhandenen Quellen gefertigt, d.h. mit Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs in Bern, der verschiedenen Kantons- und Gemeindearchive sowie des Wirtschaftsarchivs Basel. Andererseits wurden im letzten Jahrzehnt vermehrt auch öffentliche und private Quellenbestände des jeweiligen Empfängerstaates (v.a. Brasilien) berücksichtigt. Als wichtige sekundäre Quellengattung kann die schweizerische und deutsche Auslandspresse in den jeweiligen lateinamerikanischen Empfängerstaaten gelten. Mentalitäts- und kulturgeschichtliche Fragen in Zusammenhang mit Akkulturations- und Assimilationsproblemen der schweizerischen Immigranten in Lateinamerika wurden u.a. in den Untersuchungen von Zita Motschi (1982) und Béatrice Ziegler-Witschi (1983) diskutiert. Zeitlich konzentriert sich die schweizerische Forschung zur Auswanderung nach Lateinamerika, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf das 19. Jahrhundert, geographisch auf die Cono Sur-Region sowie auf Brasilien. Bahnbrechend für die geschichtswissenschaftlich orientierte Wanderungsforschung in bezug auf Lateinamerika war die Dissertation von Karl Zbinden aus dem Jahre 1931, die wegen ihres komparatistischen Ansatzes für die damalige Auswanderungsforschung der Schweiz wissenschaftliches Neuland betrat, wenn sie inzwischen auch inhaltlich und methodisch längst überholt ist. Quantitativ betrachtet spielte die Argentinien-Auswanderung in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert insgesamt eine größere Rolle als die brasilianische in den ersten 70 Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Martin Nicoulins Studie (1972) weckte jedoch das Interesse der Migrationsforscher, so daß bald weitere Untersuchungen zur schweizerischen Brasilien-Auswanderung folgten. In diesem Zusammenhang ist besonders das Werk von Béatrice Ziegler, mit dem Titel "Schweizer statt Sklaven" (1985), zu beachten. Insgesamt liegen zu Brasilien zurzeit eindeutig die umfassendsten schweizerischen Auswanderungsstudien vor. Zu Argentinien, dem wichtigsten
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Empfängerland von Schweizern in Lateinamerika, gibt es, im Gegensatz zu Brasilien, keine breitangelegte historische Analyse der schweizerischen Einwanderung. Vielmehr dominieren regional begrenzte Einzelstudien. Diese Forschungen konzentrieren sich zeitlich vor allem auf das 19. Jahrhundert, schwerpunktmäßig auf die frühe schweizerische Kolonisation in den Provinzen Santa Fé und Entre Ríos. Eingehende Studien liegen dank Klaus Anderegg zur Emigration großer Teile der Walliser Bevölkerung im letzten Jahrhundert nach Argentinien vor (Anderegg 1991).
Zur
Wirtschaft
Bei den Beziehungen der Schweiz zu Lateinamerika spielten neben gesellschaftlichen und kulturellen Elementen wirtschaftliche Zusammenhänge und Sachverhalte stets eine wichtige Rolle. Ermöglichte im 19. Jahrhundert die Auswanderung nach Lateinamerika zahlreichen Schweizern, der drückenden Arbeitslosigkeit im Heimatland zu entfliehen, so wurde Lateinamerika in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem umworbenen Absatzmarkt für schweizerische Industrieprodukte. In der Nachkriegszeit stellten schweizerische Direktinvestitionen ein wesentliches Element in den Beziehungen zu Lateinamerika dar. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme und der gespannten sozialen und politischen Lage Lateinamerikas begannen seit den 1960er Jahren vermehrt staatliche Entwicklungshilfegelder zu fließen. Die Hilfswerke verstärkten ihre Tätigkeit im Kampf gegen die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsteile. Während der 1970er Jahre wuchs das Engagement der Schweizer Banken als Kreditgeber auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Das offensichtliche Versagen der staatlichen Entwicklungshilfe und der Entwicklungsstrategien der internationalen Institutionen gab in den 1980er Jahren nicht-staatlichen privatwirtschaftlich orientierten Organisationen Auftrieb. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung über Lateinamerika in der Schweiz zu sehen. Der wissenschaftliche Diskurs folgte dabei den Linien, die von der jeweiligen Problemlage der lateinamerikanischen Länder, den politischen Lösungsversuchen und der theoretischen Reflexion darüber vorgegeben wurden. Dies gilt allerdings erst für die Zeit nach 1960. Arbeiten mit ökonomischen Fragestellungen wurden zwar bereits im 19. Jahrhundert verfaßt. In den 1860er Jahren etwa publizierten Johann Heusser und Georg Claraz eine Arbeit über die Fleischproduktion in Argentinien. Insgesamt jedoch blieben
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ökonomische Arbeiten von Schweizern über Lateinamerika selten. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts studierte Julius Meili das brasilianische Geldwesen, und von Heinrich Bär liegen einige Publikationen über die La Plata-Staaten vor. In der Zwischenkriegszeit wurden an verschiedenen Universitäten zehn Dissertationen mit wirtschaftlicher Fragestellung über lateinamerikanische Staaten verfaßt, drei davon an der Universität Zürich. Angesichts der geringen Zahl an Arbeiten ist es jedoch nicht gerechtfertigt, von einem lateinamerikanischen Schwerpunkt in Zürich zu sprechen. Auch thematisch lassen sich kaum klare Tendenzen erkennen. Die Themen reichen von der brasilianischen Kaffeevalorisation über die Entwicklung der mexikanischen Währung bis zu einer Untersuchung der GmbHs in Argentinien. Immerhin läßt sich sagen, daß die Themenwahl insofern nicht zufällig ist, als sie sich auf Fragen bezieht, die schweizerische Interessen in Lateinamerika berühren. Dies gilt insbesondere für die Arbeiten von Ernst Bader über die argentinische Devisenbewirtschaftung (1938) und die Untersuchung von Joseph Mirelman über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Argentinien und der Schweiz (1926). Es liegt auf der Hand, daß diejenigen lateinamerikanischen Staaten im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses standen, mit denen die Schweiz die intensivsten Beziehungen unterhielt: Brasilien, Argentinien, Mexiko und Kolumbien. Der Zweite Weltkrieg rückte Lateinamerika fast vollständig aus dem Blickfeld der Schweizer Ökonomen. Ihr Augenmerk richtete sich in den 1950er Jahren auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas und den Konkurrenzkampf zwischen Markt- und Planwirtschaft. Erst die kubanische Revolution rückte Lateinamerika schlagartig wieder ins Blickfeld. Wurden zwischen 1945 und 1959 nur vier wirtschaftswissenschaftliche Dissertationen zu Lateinamerika an Schweizer Universitäten eingereicht, so waren es allein in den Jahren 1960 bis 1962 sechs. Der quantitative Vergleich läßt deutlich werden, daß zu Beginn der 1960er Jahre auch ein qualitativer Sprung in der schweizerischen Wirtschaftswissenschaft stattgefunden hat. Noch deutlicher wird dies, wenn man auch die übrigen Publikationen mit wirtschaftlichem Inhalt in den Vergleich mit einbezieht. In den fünfzehn Jahren zwischen 1945 und 1959 sind ungefähr 30 größere und kleinere Publikationen auszumachen, im gleichen Zeitraum zwischen 1960 und 1974 sind es über 200. Ein Blick auf die seit 1960 verfaßten Dissertationen und Lizentiatsarbeiten läßt einen breiten Fächer an Themen und Fragestellungen erkennen. In den 1960er und 1970er Jahren ist eine leichte Dominanz der Problemfelder Industrialisierung und wirtschaftliche Integration festzustellen. Die 1980er Jahre sind durch eine Verschiebung der Forschungsschwerpunkte auf Fragen
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der wirtschaftlichen Entwicklung, der Außenhandelsbeziehungen sowie der Finanzmärkte und Wechselkursbewegungen gekennzeichnet. Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre findet zudem die Inflationsproblematik zunehmend Interesse. Neben diesen Haupttendenzen sind drei weitere Themenkreise zu erwähnen, die einen überdurchschnittlichen Niederschlag in den schweizerischen Hochschularbeiten gefunden haben. Während der 1970er Jahre schien die Forschung der Wirtschaftspolitik der lateinamerikanischen Staaten ein gewisses Interesse entgegenzubringen. Im gleichen Zeitraum und bis in die erste Hälfte der 1980er Jahre wurden zudem immer wieder Arbeiten zu den Themenbereichen Direktinvestitionen und Agrarsektor vorgelegt. Im Hinblick auf die Methoden und theoretischen Ansätze gilt, daß diese Trendbeschreibung nur ein stark gerastertes Bild der Forschung ergibt, das der Vielfalt der verschiedenen Fragestellungen nicht gerecht werden kann. Ökonomische Lateinamerikaforschung stellt in der Schweiz - gemessen am gesamten Output wirtschaftswissenschaftlicher Literatur - nach wie vor eine Randerscheinung dar. Dennoch ist für die Zeit nach 1960 eine klare Schwerpunktbildung auszumachen. Die Universitäten, an denen mehr oder weniger schwerpunktmäßig über Lateinamerika geforscht wurde oder wird, sind die Hochschule St. Gallen, die Universitäten Genf, Basel, Freiburg und Lausanne. Diese Aufreihung entspricht dem Institutionalisierungsgrad und der Bedeutung der wirtschaftswissenschaftlichen Lateinamerikaforschung in der entsprechenden Institution. Auffällig ist, daß an den Universitäten Bern und Zürich keine Institutionalisierung festzustellen ist. Die Lateinamerikaforschung wurde in der Schweiz erst spät institutionalisiert. 1961 wurde das Lateinamerikanische Institut an der Hochschule St. Gallen (LAI) gegründet. Die Gründung stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Willen, die schweizerischen Kapitalanlagen auf dem lateinamerikanischen Kontinent auszubauen und mit der unbefriedigenden Entwicklung des Handelsverkehrs zwischen der Schweiz und Lateinamerika (Baumer 1986). Auch die zunehmend kommunistische Orientierung der kubanischen Revolution und das soziale Unruhepotential Lateinamerikas (Dominotheorie) dürften das Interesse der Schweizer Verantwortlichen aus Wirtschaft, Politik und Forschung an diesem Kontinent verstärkt haben. Organisatorisch wurde das Lateinamerikanische Institut zwar der Hochschule St. Gallen angegliedert, die langfristige Finanzierung blieb jedoch Sache der Privatwirtschaft. Die ersten Publikationen des LAI deckten ein weites Spektrum von kulturellen, historischen und politischen Aspekten Lateinamerikas ab, wenn auch wirtschaftliche Themen dominierten. Erst in den 1970er Jahren war eine spezifischere Ausrichtung auf ökonomische Fragestellungen festzustellen. 1979 wurde dem Institut die Schweizerische
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Kontaktstelle für Angepasste Technologie (SKAT) angegliedert. Das Institut wurde daraufhin umstrukturiert und erhielt einen neuen Namen: Institut fiir Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit (ILE). Organisatorisch wurden den beiden Tätigkeitsgebieten die Bereiche Lateinamerikaforschung (LAF) bzw. SKAT zugeordnet. - Die Aktivitäten des ILE umfassen insgesamt fünf Bereiche: Grundlagenforschung, Angewandte Forschung, Auftragsforschung, Organisation von Symposien und Kursen sowie Aufbau der logistischen Grundlagen. Hinzu kommt die Lehrtätigkeit der leitenden Angestellten des ILE. Die meisten aus dem ILE hervorgegangenen Dissertationen streben nach anwendbaren Resultaten. Nicht selten werden konkrete Vorschläge zur Lösung bestimmter Probleme gemacht. Aus dieser Interessenlage ergibt sich eine stark empirische Ausrichtung der Forschung. Außerdem ist ein gewisser theoretischer Eklektizismus in dem Sinne festzustellen, daß verschiedene theoretische Modelle aus dem Rüstzeug der Ökonomen auf die unterschiedlichen Themen angewendet werden. Verallgemeinernd kann gesagt werden, daß das ILE der klassischen Ökonomie verpflichtet ist. In der entwicklungspolitischen Auseinandersetzung stellt sich das ILE klar gegen dependenztheoretische Erklärungsansätze. Die Unterentwicklung Lateinamerikas wird vor allem auf innere Ursachen zurückgeführt. Konkret mündet dieser Ansatz in eine strukturalistische Sichtweise. Zur Überwindung der Stagnation Lateinamerikas wird die Verbesserung der bestehenden Wirtschaftsstruktur vorgeschlagen, die unter sektoraler Inkohärenz und ungenügender Diversifizierung der Endproduktion leidet. Korruption und Bürokratie sowie der eingeschränkte Zugang zu den Faktormärkten werden als größte Hindernisse einer beschleunigten Entwicklung Lateinamerikas angesehen (Baumer 1983). Auf zwei thematische Schwerpunkte der Forschung am ILE sei abschließend noch hingewiesen. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre versuchte der damalige Mitarbeiter am LAI, Dr. Max Link, die Industrialisierung der Länder Lateinamerikas systematisch zu untersuchen; nach seinem Weggang wurde diese Arbeit jedoch nicht weitergeführt. In Zusammenhang mit der Angliederung des SKAT ist seit den 1980er Jahren eine verstärkte Ausrichtung auf das Studium von Mikroindustrie und Angepasster Technologie zu beobachten. Die Universität Genf stellt in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall dar. Obschon die wirtschaftswissenschaftliche Lateinamerikaforschung nicht in Form eines Lehrstuhls institutionalisiert ist, ist die Bedeutung der in Genf verfaßten Arbeiten über Lateinamerika im Vergleich zu den übrigen Schweizer Universitäten außerordentlich groß. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem das Département de l'économie politique der
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Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät sowie die der Universität angegliederten Institute Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) und Institut universitaire d'étude du développement (IUED). Lateinamerika stellt in keinem dieser Institute einen Forschungsschwerpunkt dar. Seit jeher richtete sich deren Dritte Welt-Interesse mehr auf Afrika. Hinzu kommt, daß ihre Betonung der Interdisziplinarität den Rahmen der Ökonomie sprengt. Insbesondere in den Forschungen des IUHEI überschneiden sich nicht selten juristische und wirtschaftliche Fragestellungen. Vom IUED sei Claude Auroi erwähnt, der über Agrarreform und -struktur in Kuba und Peru gearbeitet hat. Entwicklungspolitisch sieht er ein Grundproblem der lateinamerikanischen Staaten im Fehlen einer verwurzelten nationalen Bourgeoisie. Die führende Schicht in den meisten dieser Staaten stammt von europäischen Einwanderern ab, die ihre kulturellen, gefühlsmäßigen und nicht selten familiären Bindungen an den alten Erdteil beibehielten und an ihre Nachkommen weitergaben. Daraus ergibt sich ein Verhalten, das die Umstände in Lateinamerika nur am Rande berücksichtigt und das Wohl der anderen gesellschaftlichen Klassen außer acht läßt. Um die Entwicklung und Modernisierung der lateinamerikanischen Länder voranzutreiben, bedarf es unter anderem einer Reform der staatlichen Institutionen, einer umfassenden Agrarreform, einer Öffnung der Binnenmärkte und einer progressiven Besteuerung der Einkommen und Vermögen (Auroi 1990). Methodisch zeichnen sich sowohl IUHEI als auch IUED durch eine große Vielfalt von theoretischen Zugängen zu den einzelnen Fragestellungen aus. Im Bereich der Ökonomie sind Arbeiten mit modernisierungstheoretischem Hintergrund ebenso zu finden wie dependenztheoretische Ansätze. Eine Charakterisierung der Genfer Forschung kann daher nur in der Betonung der Interdisziplinarität und der Vielfalt der methodischen Ansätze bestehen. Damit sind die beiden wichtigsten institutionellen Schwerpunkte der ökonomischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz vorgestellt. Schon hinsichtlich der Zahl von Publikationen und Dissertationen folgen die übrigen Universitäten mit großem Abstand. An der Universität Lausanne wurden von Prof. Charles Iffland verschiedene Arbeiten zu den schweizerischen Direktinvestitionen in Brasilien und Mexiko veröffentlicht. Der Autor wägt deren Kosten und Nutzen für das betroffene Land gegeneinander ab. Im Gesamturteil kommt er zu einer positiven Beurteilung von Direktinvestitionen. Trotz dieser Publikationen kann jedoch in Lausanne nicht von einem lateinamerikanischen Forschungsschwerpunkt gesprochen werden. Das gleiche gilt für die Universität Freiburg. Zwar wurden seit den 1960er Jahren immer wieder Dissertationen zu Lateinamerika vorgelegt, von einer
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kontinuierlichen Forschung in diesem Bereich läßt sich jedoch nicht sprechen. Am Institut für Volkswirtschaft am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel (WWZ) arbeitet Prof. Peter Bernholz seit etwa zehn Jahren über die Inflation in Argentinien, Brasilien, Peru und Chile. Die Resultate dieser Forschungsarbeit liegen in Form von Forschungsberichten zuhanden der Volkswagenstiftung vor, sind jedoch nicht veröffentlicht worden. Dagegen liegen einige Publikationen von Prof. Bernholz über Inflation und Verschuldung sowie Währungsreform in Argentinien und Bolivien vor. Seit etwa drei Jahren besteht zudem am selben Institut in der Abteilung von Prof. Silvio Borner ein Forschungsschwerpunkt in bezug auf institutionelle Entwicklungshindernisse in Lateinamerika. Die Forschung steht im Zusammenhang mit den Ansätzen der FUNDES-Stiftung, deren Präsident der Industrielle Stephan Schmidheiny ist. Methodisch sind Börner und seine Mitarbeiter Beatrice Weder und Aymo Brunetti der Schule der "Basler Ökonomen" verpflichtet, die sich durch ihre unorthodoxen theoretischen Ansätze auszeichnet. Im Zentrum ihres theoretischen Zuganges stehen Beiträge der "Neuen ökonomischen Theorie der Politik". Von besonderem Interesse dabei ist die Theorie des Public Choice. Bei ihrer Arbeit stützen sich die Basier Forscher insbesondere auf die Arbeiten von Douglass North und Ronald Coase. Dabei nehmen sie Bezug auf die Untersuchungen und Vorschläge von Hernando de Soto, der die einzige Chance, die Unterentwicklung Lateinamerikas zu überwinden, in tiefgreifenden institutionellen Reformen in Wirtschaft und Staat der lateinamerikanischen Länder sieht. De Soto begreift seinen Ansatz als Paradigmenwechsel gegenüber den Dependenztheorien einerseits und den makroökonomisch ausgerichteten strukturalistischen Ansätzen in IWF und Weltbank andererseits. Insbesondere wendet sich dieser institutionell-klassizistische Ansatz gegen das merkantilistische Wirtschaftssystem, das die Märkte in den lateinamerikanischen Staaten zugunsten einer privilegierten Schicht beschränkt und eine große Zahl von potentiellen Unternehmern in den informellen Sektor abdrängt. Borner und seine Mitarbeiter sehen in den diskretionären und willkürlichen Entscheidungen des Staates, dessen Exekutive eine übergroße Machtfülle besitzt, die Hauptursache einer institutionellen Unsicherheit, die die Transaktionskosten für die Wirtschaftssubjekte unnötig erhöht. Vor allem die kleineren, über keine politische Macht verfügenden Unternehmer haben unter dem institutionellen Risiko zu leiden. Die Autoren schlagen deshalb vor, die Macht der Exekutive zu beschränken. Dazu braucht es Regeln, die das politische Zusammenspiel der Gewalten regeln, d.h. Mega-Regeln, die die Stabilität der Regeln garantieren. Stichworte in diesem Zusammenhang sind die Beachtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Eigentum, die
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Schaffung von Wettbewerb innerhalb des Staatsapparates, Elemente der direkten Demokratie, Föderalismus, Machtbeschränkung durch Bremsmechanismen und Gegengewichte. Im Gegensatz zur Politik des IWF gibt sich dieser Ansatz nicht mit der Erreichung makroökonomischer Stabilität zufrieden, sondern strebt eine institutionelle Reform an. Es sieht im Moment so aus, als ob dieser Basler Ansatz die Zukunft der schweizerischen Lateinamerikaforschung auf dem Gebiet der Ökonomie wesentlich prägen wird. Ein großangelegtes, vom Nationalfonds mitgetragenes Forschungsprojekt, das vergleichend die institutionellen Voraussetzungen für Wachstum untersuchen soll, sorgt für Kontinuität in diesem Forschungsbereich.
Zur Geographie Die geographische Forschung über Lateinamerika besitzt an schweizerischen Hochschulen keine lange Tradition. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, besteht sie aus isolierten und zeitlich begrenzten Einzelprojekten. Nur das Geographische Institut der Universität Zürich kann dank Prof. Kurt Graf auf 20 Jahre kontinuierliche Südamerikaforschung im Bereich der Vegetations- und Klimageschichte der Anden zurückblicken (Graf 1979). Im Rahmen von kultur- und wirtschaftsgeographischen Forschungsprojekten werden Probleme der Stadtentwicklung, der regionalen Strukturpolitik und Landwirtschaft (in Zentralamerika und Kolumbien) sowie Tourismusprobleme (Inseln der kleinen Antillen) aufgegriffen. Im Bereich der physischen Geographie liegen die Schwerpunkte bei Hydrologie und Pedologie im westlichen Amazonas, wobei Helmut Eisenbeer und D.K. Cassel hervorzuheben sind, als auch vor allem in der Vegetationsgeographie und Ökologie von andinen Hochgebirgspflanzen, was u.a. die Basis zu palynologischen, vegetations- und klimageschichtlichen Untersuchungen in den Anden Boliviens und Nordchiles bildet. Geographisch beschränkt sich die Forschung hauptsächlich auf die Andenländer Chile, Bolivien, Peru, Kolumbien sowie auf einige Länder im zentralamerikanisch/karibischen Raum. Große Gebiete (Amazonasbecken in Brasilien, Gran Chaco, Patagonien) bleiben weiße Flecken auf der Forschungslandkarte der Schweizer Geographen. Zahlreiche Projekte (Diplomarbeiten, Dissertationen) wurden durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaft unterstützt. An der Forschung sind im wesentlichen die Geographischen Institute der
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Universitäten Basel, Bern und Zürich beteiligt. Keine Aktivitäten bestehen zur Zeit an den entsprechenden Instituten der Universitäten Lausanne und Neuchätel und der ETH Zürich.
Zur
Soziologie
Die Soziologie Lateinamerikas wird in der Schweiz als Teilgebiet im Rahmen der Entwicklungssoziologie behandelt. An allen Schweizer Universitäten werden regelmäßig Veranstaltungen zur Entwicklungsthematik angeboten. Forschungsprojekte werden in diesem Bereich jedoch vergleichsweise wenige realisiert. Die regionalen Schwerpunktgebiete in der Entwicklungsländersoziologie bilden Afrika und Asien, während Lateinamerika im Gegensatz zu seiner politischen und wirtschaftlichen Stellung innerhalb der Dritten Welt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Diese regionalen Prioritäten decken sich mit den entwicklungspolitischen Aktivitäten der Schweiz. Die ohnehin seltenen soziologischen Arbeiten finden in den wenigen Forschungsüberblicken und Bibliographien (Siebenmann 1988), die im Bereich der Lateinamerikanistik existieren, kaum Erwähnung. Die soziologische Lateinamerikaforschung setzte in den späten 1950er Jahren ein. Die erste Phase, die als "paradigmatisch" charakterisiert werden könnte, währte bis in die frühen 1970er Jahre. Geprägt von charismatischen Forscher- und Lehrerpersönlichkeiten (Richard F. Behrendt, Peter Heintz) ist sie durch den Versuch gekennzeichnet, allgemeine und umfassende Theorien der Gesellschaft und des sozialen Wandels zu formulieren. Der deutsch-amerikanische Ökonom und Soziologe Richard F. Behrendt (1941, 1949, 1954, 1965, 1971) war, nachdem er in den dreißiger und vierziger Jahren unter anderem an diversen lateinamerikanischen Universitäten tätig gewesen war, 1953-1965 Ordinarius für Soziologie und 1960-1965 auch Leiter des Instituts für Soziologie und sozio-ökonomische Entwicklungsfragen an der Universität Bern. Im Mittelpunkt von Behrendts Arbeiten stand die Entwicklungsproblematik und die damit verbundene Entwicklungsförderung. Er orientierte sich am modernisierungstheoretischen Paradigma der 1950er und 1960er Jahre und wollte Entwicklung, verstanden als "gezielter Kulturwandel", im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses "sozialer Entwicklungsstrategie" erreichen. Peter Heintz, wie Behrendt Soziologe und Ökonom, gründete 1966 das Soziologische Institut der Universität Zürich. Zuvor war Heintz während
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mehrerer Jahre an Universitäten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern tätig gewesen. Wie bei Behrendt, bildete die Entwicklungsproblematik den thematischen Schwerpunkt seines Schaffens (Heintz 1969, 1972). Während seine frühen entwicklungstheoretischen Arbeiten noch teilweise im modernisierungstheoretischen Paradigma wurzelten, haben seine Studien als 'Theorie sozietaler Systeme" im Verlauf der 1970er Jahre einen eigenständigen Charakter angenommen, der außerdem durch eine starke Schulbildung geprägt ist. Der hohe Abstraktionsgrad dürfte jedoch für seine relativ geringe Rezeption verantwortlich sein. Die soziologische Lateinamerikaforschung der 1970er und 1980er Jahre zeichnete sich - bei nach wie vor fehlender Institutionalisierung und Auflösung der Paradigmen aus der Frühphase - durch ein beträchtliches quantitatives Wachstum aus. Die Forschungsbemühungen blieben dementsprechend stark fragmentiert. In Zürich wandte sich das Interesse der Entwicklungssoziologie von Lateinamerika ab. Auch die institutionellen Kontakte, die unter Heintz aufgebaut worden waren, brachen u.a. infolge der Machtübernahme autoritärer Militärregime in den Ländern der Partnerinstitute (Argentinien und Chile) ab. Die Bereiche, die fortan die schweizerische Soziologie beschäftigten, lassen sich in sechs größeren Themenkreisen zusammenfassen: Entwicklungsproblematik, Stadtsoziologie, Migration, Religionssoziologie, politische Soziologie, Agrarsoziologie. Dabei wurden sowohl makro- als auch mikrosoziologische Themenbereiche untersucht. Die Entwicklungssoziologie, die stark durch die von lateinamerikanischen Soziologen und Ökonomen formulierte Dependencia-Theorie beeinflußt wurde, untersuchte insbesondere die Behinderung nationaler Entwicklung durch externe Faktoren, wobei die Staaten der Dritten Welt als abhängige Peripherien und die hochindustrialisierten Länder als die dominierenden Zentrumsregionen verstanden werden. Neben theoretischen Arbeiten wurden auch Fallstudien angefertigt (Bornschier/Chase-Dunn 1985). Unter der Leitung von Volker Bornschier hat ein Forscherteam an der Universität Zürich den Einfluß transnationaler Wirtschaftsunternehmen auf die Entwicklung der Gastländer in den späten 1960er und in den 1970er Jahren untersucht. Dabei stellten sich Auslandsinvestitionen transnationaler Konzerne langfristig als stark entwicklungshemmend heraus. Die Auswirkungen der gegenwärtigen Verschuldungs- und Wachstumskrise auf die Sozialstruktur und das politische System sind Themen weiterer Arbeiten.
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Eine zweite Gruppe von Studien befaßt sich mit sozialen Auswirkungen der Urbanisierung. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei der informelle Sektor. Hier sind insbesondere die jugendsoziologischen Arbeiten von Riccardo Lucchini (1988, 1989) zu erwähnen, der an der Universität Freiburg lehrt. Verknüpft mit der Thematik der Verstädterung ist die Migrationsproblematik, die ein drittes soziologisches Forschungsgebiet darstellt (Bolay 1986). Verschiedene Forschungsarbeiten zur politischen Soziologie Lateinamerikas können einem vierten Themenkreis zugeordnet werden (Ziegler 1983). Die in diesem Zusammenhang untersuchten Fragestellungen umfassen Klassenkonflikte und nationale Befreiungsbewegungen, Ausmaß und Auswirkungen politischer Konflikte, Staatsentwicklung und Wandel politischer Regime sowie soziale und politische Mobilisierungsprozesse. Als fünfter Themenbereich sind kultur- und religionssoziologische Studien zu nennen. Agrarsoziologische Fragen bilden einen sechsten Themenbereich, wobei die Studien von Büchler (1975) und Rapold (1989) besonders hervorzuheben sind. Insgesamt nimmt innerhalb der Schweizer Soziologie die Lateinamerikaforschung eine nur marginale Stellung ein. Zwar war in der Anfangsphase während der 1950er und 1960er Jahre eine vielversprechende Entwicklung zu beobachten, und in den 1970er und 1980er Jahren entstanden zahlreiche Einzelforschungen, die ein breites thematisches Spektrum abdecken. Die Lateinamerikaforschung vermochte jedoch nicht, sich als eigenständige Teildisziplin innerhalb der Soziologie zu etablieren. An den Hochschulen blieb die soziologische Lateinamerikaforschung institutionell nur schwach verankert - es existiert kein Zentrum für soziologische Lateinamerikastudien, die Finanzierungsmöglichkeiten für solche Studien sind äußerst beschränkt -, was die Kontinuität der Forschung beeinträchtigt. Außerdem ist die soziologische Lateinamerikanistik stark spezialisiert. Ein wesentlicher Teil der Forschung beruht auf Dissertationen. Soziologisch relevante Fragestellungen werden auch von verschiedenen anderen Fachdisziplinen behandelt. Darüber hinaus entstanden im außeruniversitären Bereich zahlreiche Arbeiten.
Zur
Theologie
Zum Themenbereich Evangelisation, Kirche und Theologie in Lateinamerika lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Grundsätzlich sind drei Ver-
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öffentlichungswellen zu unterscheiden. Eine erste reichte bis in die 1950er Jahre; damals wurde lateinamerikanischen Themen wenig Platz eingeräumt. In einer zweiten stieg die Produktion von wissenschaftlichen Studien sprunghaft an, die Schweiz erreichte in der Religionshistoriographie eine respektable Position. Eine dritte Phase begann mit den Medellin-PueblaEreignissen; allmählich nahm das Interesse an Lateinamerika allerdings wieder ab. Aus der ersten Phase stammt die 1945 von J. Beckmann gegründete und noch heute bestehende Neue Zeitschrift fiir Missionswissenschaft. Sie räumt lateinamerikanischen Themen einen großen Platz ein. Nach Kriegsende verschwanden auch die zahlreichen Hindernisse, die der 1935 gegründeten Bibliographia Missionata im Wege standen, so daß sie einen großen Aufschwung erleben konnte. Auch das Katholische Missionsjahrbuch der Schweiz ist von Bedeutung; es weist eine vollständige Bibliographie von Schweizer Publikationen auf. Pius XII. richtete nach Kriegsende die Aufmerksamkeit Europas auf die Priester- und gesellschaftliche Not in Lateinamerika. Angespornt durch diesen Aufruf, begannen zahlreiche Schweizer, sich mit jenem Kontinent zu beschäftigen. Dies war der Anfang der zweiten Phase Schweizer Publikationen. Den Beginn dieses Aufschwungs bilden der Missionshistoriker und Benediktiner Laurenz Kilger, weiter Karl Boxler und der Jesuit Felix Plattner. Kilger, ein Spezialist des 16. Jahrhunderts, analysierte die Missionstätigkeit der Jesuiten in Peru anhand von José Acostas Jahresbericht (1576) und Felipe Poma de Ayalas Bilderchronik, die die missionarische Wirksamkeit unter den Indios in der Frühzeit darstellt (Kilger 1945, 1946, 1947). Karl Boxler befaßte sich mit Kolumbien und mit der von Schwester Charitas Brader aus Kaltbrunn/SG gegründeten Kongregation, die sich auch über Ecuador, Panama und die USA verbreitete. Boxler verfaßte allerdings nur Reiseberichte, somit keine wissenschaftlichen Arbeiten. Plattner untersuchte die Einwanderungswelle ausländischer Missionare im 17. und 18. Jahrhundert, nachdem Spanier und Portugiesen das Einwanderungsverbot für Missionare aufgehoben hatten. Er deckte auch geistesgeschichtliche Hintergründe und spirituelle Strömungen auf (Plattner 1944, 1945, 1960). Die wichtigsten Beiträge stammen von J. Beckmann und B. Biermann; sie bilden den Höhepunkt der im religiös-theologischen Bereich angefertigten Schweizer Lateinamerikapublikationen. Beckmann, der zugleich Gründer der NZM ist, untersuchte die Mission zur Zeit des Absolutismus und der Aufklärung und erforschte die Chinabegeisterung der spanischen Bettelmönche, die mit dem Traum der Gewinnung neuer Anhänger für Christus begann. Er studierte auch die Arbeit mehrerer Missionare des 16. Jahrhunderts wie
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Bartolomé de Las Casas, Alonso Maldonado de Buendía und Alonso de la Veracruz, die sich der Menschenrechte der Indios annahmen. Außerdem untersuchte er den Einfluß des Dominikaners Luis de Granada in Lateinamerika und die religiöse Bedeutung der Kakaobohne in diesem Kontinent (Beckmann 1954, 1961, 1964, 1966). Biermann veröffentlichte zahlreiche Studien zu Themen wie die dominikanische Evangelisierungstätigkeit (er geht auch auf das Requerimiento ein, die zwangsweise Annahme des Christentums, bei deren Verweigerung die Versklavung folgte), zu Juan López Vélaseos Geografía y descripción universal de las Indias (eine Analyse der Missionstätigkeit in verschiedenen Landesteilen) und zu Antonio Vieira, einem Sklavereibekämpfer (Biermann 1960, 1961). Vor allem Beckmanns Arbeiten spornten verschiedene Schweizer an, sein Werk zu vertiefen. Johann Specker (SMB) etwa untersuchte den Prozeß der Bekehrung von Indianern, die Diskussionen um die Heranbildung eines landeseigenen Klerus, den Kampf zur Ausrottung der einheimischen Religionen, die Motivation Spaniens und Portugals bei der Evangelisierung, den Konflikt hinsichtlich der Akzeptanz der Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen, die interessenorientierte Siedlungspolitik der Kolonisatoren. Anton Pott untersuchte in einem Werk über José de Acostas (SJ) Aussagen das Sprachenproblem und das Verbot gegenüber den Einheimischen, sich zu Priestern weihen lassen zu dürfen (Pott 1959). Venantius Willeke studierte das Schicksal der Kirche in Brasilien und den Widerstand, den sie gegen die Versklavung der Indianer leistete (Willeke 1967-1973). Den Einsatz des Augustinermönchs F. Romero um die Verbesserung der Situation der Tames-Indianer (er wurde schließlich vertrieben, doch erfolgte dank seines Einsatzes eine Verbesserung der Lage) erforschte J. Metzler. Zu dieser zweiten Phase gehört auch die Sondernummer, die die Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 1966 zum 400. Todestag des wichtigsten Indio-Verteidigers Bartolomé de Las Casas publizierte. In ihr widerspricht Specker der These Ramón Menéndez Pidais, der Indianerprotektor sei geisteskrank gewesen. Auch Henkel äußert sich in dieser Richtung. Benno Biermann, Lewis Hanke und Beckmann leisteten weitere Beiträge zum gewaltablehnenden Theologen. E.J. Burrus bezieht in seinen Aufsatz auch den fast in Vergessenheit geratenen Augustinermönch Alonso de la Veracruz (1507-1584) ein, einen Hochschullehrer, der sich mit den Menschenrechten befaßte. Mit dem Protestantismus in Lateinamerika, einem wenig beachteten Thema, beschäftigten sich Damboriena-Dussel und Bastian, der in seiner Arbeit unbequeme Fragen aufwirft (Bastian 1983).
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Vier Doktorarbeiten, die an der Theologischen Fakultät in Fribourg geschrieben wurden und die schon der dritten Phase angehören, befassen sich mit vier verschiedenen Aspekten der Religion in Lateinamerika: eine erste geht über den brasilianischen Bischof Helder Cámara und seine Option für die Armen (Eigenmann 1984), eine zweite über den Mischkult zwischen Maria und Iemanja, zwei verschiedene kollektive Mutterfiguren in der brasilianischen Volksfrömmigkeit (Kuniharu Iwashita 1987), eine weitere beschreibt die Problematik Frau-Kirche neu (Porcile Santiso 1989), die letzte analysiert die Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung (Kern 1991). Diese Studien gehören bereits zur dritten Periode, die mit den Ereignissen in Puebla-Medellin und der damit verbundenen Option des Episkopats für die Armen beginnt. Die Zweite Plenarversammlung des Episkopats 1968 und der peruanische Priester Gustavo Gutiérrez stehen am Ursprung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Sie gibt der Kirche praktische Leitlinien zum Handeln. Nach der Dritten Plenarversammlung in Puebla 1979 sollte das Handeln bereits politische Dimensionen annehmen. Die Volksreligiosität und die Religion haben neue Dimensionen erreicht, eine kulturelle und gesellschaftliche Mobilisierung der indianischen Völker hat stattgefunden, an deren Spitze Bischof Leonidas Proaño und Erzbischof Oscar Arnulfo Romero standen. Die 1982 in Fribourg/Luzern gegründete Genossenschaft Exodus ist ein wichtiges Organ für die Information, die die lateinamerikanische Befreiungstheologie betrifft. Sie befaßt sich auch mit anderen Themen, etwa der feministischen Theologie. - Zwei weitere Studien aus dieser dritten Epoche sind nennenswert: eine über den Luxemburger Missionar Bettendorf, der sich in Brasilien engagierte (Ebner 1975), eine weitere über die verschiedenen Epochen der Mission bei den Araukanerindianern (Noggler 1973). Die Welle der Veröffentlichungen hat in der dritten Phase deutlich abgenommen. Gegenüber wissenschaftlichen dominieren inzwischen eindeutig journalistische Publikationen. Die Zukunft der wissenschaftlichen Schweizer Lateinamerikanistik in den Bereichen Kirche, Religion und Theologie zeigt sich ungewiß.
Zur
Literatur
Man kann behaupten, daß die deutsche literaturwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerikanistik bis Ende der 60er Jahre keine systematische Form annimmt. Seit 1968 ist sodann kein Jahr vergangen, ohne daß minde-
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stens ein bedeutender Titel von einem deutschen Lateinamerikanisten erschienen wäre. Bis zu diesem Senkrechtstart Ende der 60er Jahre gab es nur wenige bedeutende Titel. Im folgenden werden die schweizerischen Studien zur literaturwissenschaftlich ausgerichteten Lateinamerikanistik vorgestellt. Die Lateinamerikanistik in der Deutschschweiz entstand langsam im Fahrwasser der deutschen. Sie hat ihren Ursprung 1947 in St. Gallen, als der Spanischlehrstuhl Johann Anton Doerig übertragen wurde. Damals wurde Doerig zum Professor für spanische und kurze Zeit später auch für portugiesische und lateinamerikanische Sprache und Literatur ernannt. Der Initiative von Prof. Doerig ist die 1961 erfolgte Gründung des Instituts flir Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit der Hochschule St. Gallen zu verdanken. Nach seiner Emeritierung 1976 folgte Gustav Siebenmann, der zuvor Lehrstuhlinhaber für Romanische Philologie mit hispanistischer Ausrichtung an der Universität Erlangen-Nürnberg (1966-1977) gewesen war. Ein flüchtiger Blick auf Siebenmanns Publikationen über allgemein kulturelle und literarische Themen Lateinamerikas läßt erkennen, daß er der schweizerische Spezialist für Lateinamerikanistik ist. Seine Beschäftigung mit der Hispanistik beruht nicht nur auf seinem persönlichen Lebenslauf (er lebte 15 Jahre in Lima), sondern ist vor allem auch Folge einer schmerzhaften Feststellung: Die hispanischen Kulturen waren bis weit in die 60er Jahre beim "großen Publikum" deutscher Kultur wenig bekannt, oft mißverstanden, und vor allem war ihre Rezeption erschwert durch das Gewicht überholter Vorurteile und Stereotype. Neben seiner akademischen Forschung und den alltäglichen LehrstuhlArbeiten wandte Gustav Siebenmann als Kulturvermittler zwei weitere wirksame Mittel an: den Wissenschaftsjournalismus und Vorträge. Durch seine Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung brachte er die hispanische Kultur einem größeren Publikum näher und wühlte gleichzeitig mit Nachdruck dessen bequeme und festgesessene Vorurteile auf: zunächst mit spanischen Themen; später erlangten die Literaturen und Kulturen der Neuen Welt eindeutigen Vorrang. Ein anderer großer Förderer der hispanoamerikanischen Literatur in der Schweiz ist Jean-Paul Borel, dem 1963 der Lehrstuhl für Spanische Sprache und Literatur an der Universität Neuchätel übertragen wurde. Seiner Initiative sind die "Grandes Seminarios de Travers" zu verdanken, wo sich zum ersten Mal die doppelte Richtung der schweizerischen Hispanistik zeigte, die
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ihr Interesse sowohl auf die Iberische Halbinsel als auch auf den amerikanischen Kontinent richtete. Das erste 'Große Seminar' fand im Juni 1975 statt, seitdem werden die 'Großen Seminare' alle Jahre abgehalten. Auch am Lehrstuhl für iberische Sprachen und Literaturen an der Universität Fribourg hat das Studium der lateinamerikanischen Literaturen eine lange Tradition. Sein erster Förderer war Prof. Ramön Sugranyes, seit seiner Emeritierung 1983 führt der heutige Lehrstuhlinhaber Pere Ramirez die alte Tradition weiter. Die Universität Genf war die erste, die einen Lehrstuhl für lateinamerikanische Literaturen schuf (1983). Er wurde Prof. Luis Inigo Madrigal, einem Chilenen spanischer Herkunft, übertragen. Der zweite und vorerst letzte Lehrstuhl speziell für lateinamerikanische Literaturen wurde 1989 an der Universität Zürich eingerichtet und mit dem Schweizer Hispanisten Martin Lienhard besetzt. Im Frühjahr 1989 änderte der Berner Lehrstuhl seinen Namen und nennt sich nun Lehrstuhl für Spanische Sprache und Literatur, unter Einschluß der lateinamerikanischen Literatur. Die lateinamerikanische Literatur weist somit eine konstante Präsenz an fast allen Universitäten der Schweiz auf. Zwei Lehrstühle sind zudem ausschließlich der lateinamerikanischen Literatur gewidmet. Trotzdem finden nur unregelmäßig Vorlesungen zur brasilianischen Literatur statt, was, angesichts der Tatsache, daß Prof. Siebenmann vor seiner Pensionierung alle zwei Semester eine Vorlesung mit begleitender Lektüre über brasilianische Autoren veranstaltete, eine neuartige Situation darstellt. Ferner fehlen Forschungsarbeiten und Publikationen zur brasilianischen Literatur und Linguistik fast gänzlich. Zur Zeit ist es in der Schweiz nur an zwei Universitäten - Genf und Zürich - möglich, lateinamerikanische Literatur als Hauptfach zu belegen. Da aber diese Lehrstühle erst seit kurzem existieren, steht die Forschung hier erst am Anfang: Zwar sind momentan verschiedene Lizentiatsarbeiten und einige Dissertationen in Bearbeitung, erstere werden in der Regel jedoch nicht publiziert, und letztere wurden zum Teil noch nicht abgeschlossen. In den letzten drei Jahren konnten erst drei Dissertationen fertiggestellt werden. Gegenwärtig arbeiten acht Doktoranden über lateinamerikanische Autoren. Obschon nur zwei Lehrstühle für lateinamerikanische Literatur bestehen, bieten doch alle Schweizer Universitäten regelmäßig Veranstaltungen zu lateinamerikanischen Themen an. Es überwiegen die Veranstaltungen zu literarischen Themen. Zudem finden Einführungen in die lateinamerikanische Landeskunde und Kulturen statt. Dennoch ist das Lehrangebot ungenügend. Ein großer Teil der Lehrkräfte versucht den Bereich der Lateinameri-
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kanistik nebenher abzudecken, da sie eigentlich einen Lehrstuhl in Spanischer Literatur innehaben. Hinzu kommt, daß nur einer von zwölf Professoren lateinamerikanischer Herkunft (Chilene) ist und daß von den übrigen Professoren sieben Spanier und vier Schweizer sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, lateinamerikanische Literatur als ein Gebiet differenzierter, aber in sich geschlossener Strömungen kenntlich zu machen, und sie nicht einfach als Summe der Produkte isolierter Individuen oder in einer Gliederung formal verwandter Werkgruppen (Roman, Poesie, Theater) darzustellen. Obwohl die Lateinamerikanistik in der Schweiz noch jung und schwach dotiert ist, kann dieser Fachzweig auf Forschungsergebnisse von internationaler Bedeutung verweisen. Einzigartig und wegweisend sind in dieser Hinsicht die Studien von Siebenmann zu folgenden Themen: die lateinamerikanische Hacienda, die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im deutschen Sprachraum, das Lateinamerikabild im deutschen Sprachraum, die lateinamerikanische Avantgarde sowie die Essays über C. Alegría, M. Azuela, Borges, Sábato, Vallejo und andere Autoren in seinen Ensayos de literatura hispanoamericana (Siebenmann 1972, 1977, 1979, 1980, 1984, 1985, 1988, 1989). Weiter gilt es, die Arbeiten von Borel über Fuentes, Galeano und andere Autoren und seine Beiträge zur Literatursoziologie und zum Projekt der "Asociación de estudios, literaturas y sociedades de América latina" zu erwähnen (Borel 1981, 1984, 1988). Iñigo Madrigal weist sich, nebst seiner Verlagsarbeit und Förderung lateinamerikanischer Themen in der Historia de la literatura hispanoamericana und seiner aktiven Mitarbeit als Präsident der Fundación Simón I. Patiño, als Spezialist des Werkes von Guillén aus (Iñigo Madrigal 1982, 1986, 1989, 1990, 1991). Des weiteren seien hier die aufschlußreichen und wegweisenden Arbeiten von Martin Lienhard über Arguedas, die Kultur der Anden, die Chronik der Mestizen in Mexiko und Peru, die mündliche Uberlieferung der alten Kulturen der Ureinwohner und Mestizen in der schriftlichen Literatur Lateinamerikas genannt (Lienhard 1981, 1983, 1984, 1985, 1987, 1991). Als weitere verbindliche Referenzen müssen zudem folgende Werke erwähnt werden: das Buch und die Artikel von Américo Ferrari über Vallejo (Ferrari 1974, 1988), der Beitrag von Pedro Ramírez über Aspekte der Temporalität im Werk von Borges, Carpentier, Cortázar und García Márquez (Ramírez 1978), die Studien von Helena Araújo über die Frauenliteratur in Lateinamerika (Araújo 1989), das Buch von Maya Schaerer, das sie der Poesie von Octavio Paz gewidmet hat (Schaerer-Nussbaumer 1989) und die
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Arbeiten von López de Abiada über Neruda, Vallejo und Mororoli (López de Abiada 1982, 1983, 1986, 1989). Ebenfalls vielversprechend sind die gegenwärtig laufenden Untersuchungen von Siebenmann zur lateinamerikanischen Poesie, von Lienhard zu den Darstellungen von Seiten der Einheimischen der Conquista und der Kolonie, von Iñigo Madrigal zur kolonialen Erzählkunst. Ramírez arbeitet zur Zeit über die "Novela indigenista"; López de Abiada über Fuentes, Neruda, Vallejo und Isabel Allende; Schaerer über die Poesie von Octavio Paz.
Zur
Kunstgeschichte
Auf dem Gebiet der Kunstgeschichte konnte sich eine Tradition der Lateinamerikaforschung in der Schweiz bisher nicht etablieren. Dies ist unter anderem an der Tatsache ersichtlich, daß es im universitären Bereich bis heute an Publikationen (Lizentiatsarbeiten, Dissertationen, Habilitationen etc.) zur neuzeitlichen, d.h. nachkolumbischen Kunst oder Architektur fehlt. Der weitaus größte Teil der kunsthistorischen Publikationen auf diesem Gebiet entsprang einem momentanen und auf ein spezielles Thema beschränkten Interesse einzelner Fachleute, wobei es sich vorwiegend um Präsentationen bzw. kritische Rezeptionen gerade aktueller, international beachteter Tendenzen innerhalb der lateinamerikanischen Kunst und Architektur handelte. Den Anfang machten zu Beginn der 1950er Jahre Publikationen über die "Werkstatt für graphische Volkskunst" {Taller de gráfica popular) in Mexiko (Haab 1957, Meyer 1950) und über die moderne Architektur in Brasilien (Giedion 1954). Insbesondere der Zürcher Architekturprofessor Siegfried Giedion veröffentlichte über einige Jahre hinweg regelmäßig Essays zur brasilianischen Architektur, die durch den Bau Brasilias auch international starke Aufmerksamkeit auf sich zog. Während der 1960er und frühen 1970er Jahre galt das Schweizer Interesse lateinamerikanischen Künstlern und Künstlerinnen der geometrisch-konstruktiven Richtung, wie Jesús Rafael Soto, Almir Mavignier und Mary Vieira (Joray/Soto 1984; Rotzler 1988; Zehmisch 1974). Erst in jüngster Zeit wurde diese Bewegung durch Ausstellungen im "Haus für konstruktive Kunst" in Zürich und durch einen Aufsatz von Margit Weinberg Staber (1991) erneut in Erinnerung gerufen. Besonders zu erwähnen ist für die 1960er Jahre ein Buch des damaligen Konservators des Musée des Beaux-Arts in Genf, Maurice Pianzola, das die barocke Kunst und Architektur Brasiliens vorstellte (Pianzola 1964). Es handelt sich um die bisher einzige Publikation in
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der Schweiz, die sich der älteren, vormodernen Kunstproduktion eines lateinamerikanischen Landes annimmt. Muß man für die späten 1970er und die frühen 1980er Jahre im allgemeinen ein eher spärliches Interesse an lateinamerikanischer Kunst konstatieren - dies drückt sich vor allem in der zurückgegangenen Ausstellungstätigkeit aus -, so können für die 1980er Jahre doch zwei Namen gesondert erwähnt werden: Zum einen ist dies der Essayist und Filmemacher Erwin Leiser, der seit 1980 drei Filme und mehrere Aufsätze zum Kolumbianer Fernando Botero produziert hat (Leiser 1986). Zum anderen muß die ehemalige Direktorin des Musée des BeauxArts in Lausanne, Erika Billeter, genannt werden. Frau Billeter hat seit 1981 mehrere Aufsätze und Bücher zur lateinamerikanischen Fotografie und zur mexikanischen Kunst veröffentlicht (Billeter 1985, 1987, 1988). Zu diesen beiden Bereichen organisierte sie zudem zwei große, für Europa bisher einmalige Ausstellungen: "Fotografie Lateinamerika von 1860 bis heute" 1981 im Kunsthaus Zürich und "Imagen de México. Der Beitrag Mexikos zur Kunst des 20. Jahrhunderts" 1987 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Ihre intensive und anhaltende Beschäftigung mit diesen beiden Themen weisen Erika Billeter als die bisher bedeutendste (um nicht zu sagen: die einzige) Kunsthistorikerin auf dem Gebiet der Lateinamerikaforschung in der Schweiz aus.
Schluß Der vorangegangene Überblick sollte deutlich gemacht haben, daß die schweizerische Lateinamerikanistik beachtliche Leistungen erbracht hat, obwohl sie bis vor kurzem an Universitäten kaum institutionalisiert war - für die meisten Teildisziplinen gilt diese Aussage bis heute -, obwohl sie somit nicht über größere Mittel zu Forschungszwecken verfügte. Dessenungeachtet ist es der Leistung einiger Wissenschaftler zu verdanken, daß ihre lateinamerikanistischen Publikationen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurden und einen internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Die Aussichten der schweizerischen Lateinamerikanistik sind insgesamt nicht schlecht, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, daß mehrere der aufgeführten Forscher noch relativ jung sind und allmählich eine Schule bilden; zunehmende Zahlen von Lizentiatsarbeiten und Dissertationen legen Rechenschaft davon ab. Es ist erfreulich, daß inzwischen zwei Lehrstühle für lateinamerikanische Literatur eingerichtet wurden und auch die anderen Disziplinen (Ethnologie, Geschichte, Theologie, Wirtschaftswissenschaft) eini-
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Einleitung
germaßen regelmäßig Veranstaltungen zu lateinamerikanischen Themen anbieten. Der Schweizer Beitrag zur Lateinamerikanistik sollte auch in Zukunft auf sich aufmerksam machen.
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Zum Abschluß einige Worte des Dankes: Dank sagen wir vor allem den Autoren der Beiträge, die die mühevolle Arbeit des Bibliographierens und Zusammenstellens auf sich genommen haben. Die relativ lange Entstehungszeit des Bandes hat dazu geführt, daß zwischen den Abgabeterminen einzelner Beiträge ein erheblicher Zeitraum lag, so daß nicht immer (beispielsweise im Bereich Wirtschaft) Publikationen des letzten Jahres aufgenommen werden konnten. Dank sagen wir der Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung für ihre finanzielle Hilfe bei der Erstellung der Arbeit und für den Druckkostenzuschuß. Dank sagen wir sodann Frau Linda Shepard, die den Band von Anfang an redaktionell betreute, den Kontakt zu den Autoren hielt, Vereinheitlichungen vornahm und auf Kohärenz der Darstellungen achtete. Dank sagen wir schließlich Frau Regine Zürcher, die in vorbildlicher Weise das Layout des reproduktionsfähigen Manuskriptes erstellte und - zusammen mit Linda Shepard - die Endkontrolle des Bandes durchführte.
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Lateinamerikas
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Vorkoloniale Geschichte und Ethnologie Lateinamerikas Einleitung In diesem Kapitel wird sowohl der Schweizer Beitrag zur Ethnologie als auch zur vorkolonialen Geschichte Lateinamerikas vorgestellt. Eine getrennte Darstellung der Geschichte, der aktuellen Situation und der Bibliographie der beiden Fächer ist nicht sinnvoll; sie waren institutionell, personell und thematisch stets eng miteinander verflochten. Dies gilt bereits für ihre Entstehung im 18. Jahrhundert, als sich zum ersten Mal Schweizer, die als Handelsreisende, Diplomaten, Missionare oder Naturforscher nach Lateinamerika kamen, für die indigenen Kulturen zu interessieren begannen. Ihre Tagebücher, Reiseberichte und Sammlungen von ethnographischen Objekten beinhalten sowohl Material über die vorkoloniale als auch über ihre eigene Zeit. Immer noch ohne institutionelle Trennung war die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit den vor- und den nachkolonialen Kulturen Lateinamerikas zur Zeit der Entstehung der verschiedenen Völkerkundemuseen ab 1900. Trennungserscheinungen machten sich erst bemerkbar, als Museumsbeschäftigte - unter ihnen auch Amerikanisten - an den verschiedenen Universitäten Vorträge zu halten begannen. Daraus entstanden mit der Zeit eigenständige ethnologische Hochschulabteilungen. Die universitären Institute von Basel, Genf, Neuenburg und Zürich stehen bis heute in enger Verbindung mit den dortigen ethnographischen Museen. Seiner regionalen Einschränkung wegen gelang es der Altamerikanistik nicht, sich als eigenständiges Fach an den Schweizer Universitäten zu etablieren. Doch sie fand eine akademische Nische in der Ethnologie, die bis heute die meisten Altamerikaforscherinnen und -forscher hervorgebracht hat. Charakteristisch für diese Situation ist, daß bisher oft die gleichen Personen sowohl ethnologisch als auch historisch-archäologisch arbeiteten. Dies ist
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ein weiterer Grund dafür, daß in der Schweiz die Ethnologie und die vorkoloniale Geschichte Lateinamerikas kaum personell aufteilbar sind. Für beide Fächer übernahm die 1949 gegründete Schweizerische Amerikanistengesellschaft eine wichtige Integrationsfunktion. Sie hat Sitz im Genfer Musée d'Ethnographie, wo sich auch ihre Bibliothek befindet. Ihr Publikationsorgan, das Bulletin de la Société suisse des Américanistes, ist die einzige amerikanistische Zeitschrift in der Schweiz, wobei der größte Teil der Artikel aus dem Bereich der Ethnologie stammt.
Beginn der Erforschung der Kulturen
Lateinamerikas1
Mit der vermehrten Erschließung der Handelswege nach Lateinamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Entstehung erster Schweizer Kolonien in den unabhängig gewordenen Staaten wuchs das wissenschaftliche und ökonomische Interesse an der "Neuen Welt". Die Folge war, daß von Europa aus eigentliche Expeditionen zur Erforschung von Flora und Fauna organisiert und durchgeführt wurden. Die Teilnehmer waren Naturwissenschaftler wie Zoologen, Biologen, Geologen und Arzte, die sich vorwiegend der Naturbeobachtung und der Beschreibung der entstehenden Kolonien widmeten. Sie kamen aber während ihren Reisen auch mit der indianischen Bevölkerung und den Uberresten vergangener Kulturen in Kontakt, über die sie in ihren Aufzeichnungen berichteten. Diese Beobachtungen sind das einzige, was an expliziten ethnologischen und archäologischen Informationen aus der Zeit vor dem Entstehen der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung an den Universitäten existiert. Zusätzlich gelangten viele implizite Informationen in Form von ethnographischen Sammlungen nach Europa, die einen Teil des Grundstocks der später entstehenden Völkerkundemuseen bildeten. Einer der bedeutendsten Schweizer Naturwissenschaftler dieser Zeit ist der in Mötier geborene Louis Jean Rodolphe Agassiz (1807-1873). Neben seinen Theorien über die Entstehung der Gletscher und zoologischen Arbeiten über südamerikanische Fische formulierte er - von zahlreichen Reisen in Lateinamerika inspiriert - verschiedene philosophische und wissenschaftliche Konzepte. Seine Annahmen über den Ursprung der Menschen in Ame1
Siehe vor allem auch Annemarie Seiler-Baldinger: "Zur Schweizer Südamerika-Forschung", in: dies. (Hg.): Unter dem Kreuz des Südens. Neue Schweizer Ethnologische Forschungen in Südamerika. Bern 1988, S. 1-14.
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rika wurden heftig diskutiert. Er glaubte nicht an einen gemeinsamen Ursprungsort der Menschheit, sondern vertrat die Meinung, die Entwicklung des Menschen sei von mehreren Zentren aus erfolgt, also auch von Amerika. Geprägt durch die Rassentheorien seiner Zeit, studierte er auf einer Reise durch Brasilien, die ihn den Amazonasstrom entlang bis zur Grenze Perus führte, den Einfluß von Indianern, Schwarzen und Weißen auf Mischlingskulturen. Im Gegensatz zu Darwin glaubte Agassiz an die Unwandelbarkeit der verschiedenen Spezies und war deshalb strikte gegen eine Vermischung der Kulturen, welche er als Entartung der menschlichen Rassen betrachtete. Andererseits vertrat er erstaunlich egalitäre Ideen zur Gleichstellung der Schwarzen in Amerika. Der Naturforscher und Schüler von Agassiz, Johann Jakob von Tschudi (1818-1889), unternahm mehrere längere Reisen in den Andenraum. Seine Studien befaßten sich zu einem großen Teil mit den alten peruanischen Hochkulturen und ihren Vorläufern. Von Bedeutung sind seine Arbeiten im linguistischen Bereich. So war er einer der ersten, der sich mit dem Aufbau und Vokabular der Quechua-Sprache befaßte und außerdem das alte InkaDrama "Ollanta" ins Deutsche übersetzte. Der in Bern geborene Adolph Francis Alphonse Bandelier (1840-1915) kam bereits als Kind in die USA, wo er zuerst im Bankenwesen tätig war. Doch seine wahre Neigung galt den Kulturen der Urbewohner, über deren Bräuche und Sprachen er forschte und publizierte. Zuerst wandte er sich vor allem den Pueblo-Indianern im Südwesten der USA zu. Ab 1881 machte er mehrere Forschungsreisen durch Peru, Bolivien und Mexiko, während denen er sich auch dem präkolumbischen Erbe widmete. Daraus resultierte eine Serie von Arbeiten über die Lebensweise der Altmexikaner, die er mit Hilfe von Studien der alten spanischen Chronisten verfassen konnte. Neben den Schweizer Naturforschern, die nur zu Forschungszwecken Expeditionen nach Amerika unternahmen, gab es auch einzelne, die Europa den Rücken kehrten und ihr ganzes Leben in der Neuen Welt verbrachten. Zu diesen Personen zählt der Tessiner Moisés Santiago Bertoni (1857-1929). Beeinflußt durch die aufkommenden sozialistischen und anarchistischen Ideen, wanderte er 1884 mit seiner Familie nach Argentinien aus, um dort seine Utopien, eine landwirtschaftliche Kolonie und ein biologisch-ethnologisches Forschungszentrum zu verwirklichen. Nach einem ersten fehlgeschlagenen Versuch im Norden Argentiniens zog er weiter nach Paraguay, wo er die Kolonie "Puerto Bertoni" gründete. Neben seiner landwirtschaftlichen Aufbauarbeit, die dort besser florierte, widmete er sich intensiv dem wissenschaftlichen Studium Paraguays in den veschiedensten Disziplinen. Daraus entstand eine Fülle von Artikeln, Broschüren und Büchern, die er
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zum Teil in seinem eigenen Verlag und Druckerei "Ediciones Ex Sylvis" herausgab. Neben den vielen Arbeiten über landwirtschaftliche Aspekte, über die Flora und Fauna Paraguays sind vor allem seine archäologischethnologischen Arbeiten von Bedeutung. So beschrieb Bertoni in mehreren Bänden die Zivilisation der Guarani-Indianer und ging darin näher auf ihre Geschichte, Medizin, Religion und Moral ein. Ein anderer, der sich für die Länder Argentinien und Paraguay interessierte, war der Solothurner Adolf-Niklaus Schuster (1875-?). Er bereiste diese Länder mehrmals und studierte deren Wirtschaft, Geographie und Ethnographie, worüber er diverse Bände veröffentlichte. Seine volkswirtschaftlich-staatskundlichen Monographien über die beiden Länder gehören zu den ersten Uberblickswerken dieser Art und haben heute noch Gültigkeit. Schuster sammelte während seiner Reisen auch zahlreiche Gebrauchs- und Kunstgegenstände der Indianer Paraguays. Die Sammlung befindet sich heute im Historischen Museum Bern. Im Amazonasgebiet sammelte der Zoologe Emil August Göldi (18591917) Keramik und andere Objekte aus der vor- und nachkolonialen Zeit, schaffte diese aber nicht nach Europa, sondern vermachte sie dem naturgeschichtlichen Museum von Belém, dessen Direktor er wurde, nachdem er eine Zeitlang als Konservator im Naturmuseum von Rio de Janeiro gearbeitet hatte. Das Museum in Belém wurde nach dem Tod Göldis nach seinem Namen benannt und ist heute noch eine der führenden Forschungsstätten Brasiliens. Eine große Sammlung hinterließ auch der Basler Arzt Gustav Bernoulli (1834-1878). Der Ort seiner Aktivitäten war Guatemala, und sein Interesse galt neben der indianischen Bevölkerung den bis dahin noch wenig bekannten oder noch nie von Weißen besuchten Maya-Kultstätten. Seine wertvollen Aufzeichnungen von Tempeln und Skulpturen der Maya bewirkten vermehrte europäische Forschungsreisen nach Guatemala. Im selben Land hielt sich auch der Zürcher Arzt Otto Stoll (1849-1952) auf. Der Mitbegründer der "Ethnographischen Gesellschaft Zürich" veröffentlichte mehrere Werke zur Ethnographie Guatemalas, die umfassende Angaben zur Lebensweise und Linguistik der guatemaltekischen Mayagemeinschaften beinhalten. Stoll brachte auch eine Sammlung von Gegenständen mit in die Schweiz. Die Sammlung befindet sich heute im Völkerkundemuseum der Universität Zürich, dessen erster Direktor er war.
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Der Schweizer Beitrag zur vorkolonialen Geschichte Lateinamerikas Altamerikanistik heißt in Deutschland das Fach, das sich mit den Kulturen des vorkolumbischen Amerika und deren Geschichte befaßt. Wie bereits erwähnt, existiert dieses Fach an den Schweizer Universitäten nicht als eigenständige Disziplin. Obwohl dadurch die Bezeichnung "Altamerikanistik" weniger gebräuchlich ist, soll sie im folgenden Text der Einfachheit halber als Sammelbegriff für alle Studien, die in den verschiedenen Disziplinen wie Ethnologie, Archäologie, Geschichte, Psychologie, Geographie, Kunstgeschichte usw. zum vorkolonialen Lateinamerika angefertigt worden sind, verwendet werden. Rund dreihundert Arbeiten über die alten Kulturen Amerikas sind bis heute in der Schweiz oder von Schweizern veröffentlicht worden. Darunter gibt es einige, die ihren Autorinnen und Autoren internationalen Ruf einbrachten. Stellenwert
der Altamerikanistik
in der
Schweiz
Das Studium der vorkolumbischen Kulturen als eigenständige Forschungsrichtung hatte bis etwa zur Jahrhundertwende eine geringe Bedeutung. Die wenigen interessierten Lateinamerikareisenden (Vischer 2 , von Tschudi, de Saussure, Bernoulli) waren mit einer Fülle von für sie zumeist unverständlichem Material konfrontiert, so daß sie sich mehr dem Sammeln und Horten von Objekten als dem Interpretieren von kulturellen Phänomenen widmeten. Mit dem Entstehen der Völkerkundemuseen, die aufgrund dieser Sammlungen geschaffen wurden, entwickelte sich mehr und mehr ein Bewußtsein für die vorkoloniale Zeit und dadurch ein systematischeres Interesse. Das erste Drittel dieses Jahrhunderts brachte eine Reihe von Schweizern (Bandelier, Göldi, Staub, Bertoni, Metraux) hervor, deren Altamerika-Arbeiten durchaus wissenschaftlicher Charakter zugestanden werden kann. Größere Bedeutung erhielt die Schweizer Altamerikanistik erst ab den 40er Jahren; sie erreichte einen vorläufigen Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren. Ab 1940 vermehrte sich die Zahl der Forschenden stetig, und einzelne von ihnen begannen, sich fast ausschließlich mit dem vorkolonialen Amerika zu beschäftigen (Girard, Reichlen, Schobinger). In die Zeit der 50er, 60er und beginnenden 70er Jahre fallen auch die meisten Altamerika2
Kursiv geschriebene Namen: die jeweils wichtigsten Vertreterinnen und Vertreter der Schweizer Altamerikanistik der betreffenden Epoche, Thema oder Region.
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Ausstellungen in verschiedenen Museen und Galerien. In den 80er Jahren waren die Aktivitäten der Schweizer Altamerikanistik (Baer, Spahni, Gähwiler) konstant oder gingen leicht zurück. Dies läßt sich etwa dadurch erklären, daß aufgrund des rapide wachsenden Interesses der Öffentlichkeit an der aktuellen Situation Lateinamerikas und dadurch an der Ethnologie, viele Ethnologen, die auch über vorkolumbische Themen gearbeitet haben, sich vermehrt Themen des heutigen Lateinamerika zuwenden. Die thematischen
Schwerpunkte
Eine Durchsicht der Schweizer Beiträge zur Altamerikanistik erlaubt nicht nur, gewisse Schlüsse über deren Präsenz und Bedeutung zu ziehen. Ebenso ist ersichtlich, welche Schweizer Forscherinnen und Forscher in welchen Gegenden Lateinamerikas welche Forschungsinteressen verfolgten und welche Themen bearbeiteten. Was die Inhalte angeht, stehen deutlich Themen im Vordergrund, die ohne eine Lateinamerikareise angegangen werden konnten. Es fallen vor allem zwei Arten von Arbeiten auf: Einerseits sind es allgemeine Übersichtswerke zu Kunst, Archäologie und Geschichte des ganzen präkolonialen Lateinamerika oder zu einzelnen (Hoch-)Kulturen (u.a. Bollinger, Stierlin). Andererseits stellen die Völkerkundemuseen den Rahmen eines großen Teils der Arbeiten. Hier stehen ethnographische, archäologische oder kunsthistorische Beschreibungen und Deutungen einzelner Objekte oder ganzer Sammlungen sowie Kataloge, die anläßlich von Ausstellungen entstanden sind, im Vordergrund. Neben diesen objektbezogenen oder allgemein einführenden Arbeiten entstanden seltener auch Forschungsarbeiten aufgrund von Besuchen, Grabungen oder gar Entdeckungen präkolonialer Stätten. Viele Arbeiten dieser Art stammen denn auch aus der Feder von in Lateinamerika selber wohnhaften Schweizer Altamerikanisten (Girard, Guillemin, Reichlen, Schobinger, Spahni). Eine ganze Reihe von Arbeiten, in denen aufgrund von archäologischem Material Interpretationen über vorkolumbische Kulturen vorgenommen wurden, sind vor allem von Ethnologen (Girard, Dietschy, Spahni, Baer) realisiert worden. Themen sind etwa die Religion, die soziale Organisation und das Leben im Alltag, wobei nicht selten ein Bezug zu den heutigen Nachkommen hergestellt wird. Weniger behandelt werden Themen wie die Entzifferung von Petroglyphen (Naville, Baer), die Interpretation und Ubersetzung frühkolonialer Quellentexte (Girard, Lobsiger) oder die Deutung prähistorischer Felsmalereien (Schobinger, Spahni). Auch betreffen einige Studien die mögli-
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chen Besiedlungsarten von Amerika und dessen vorkoloniale Beziehungen zu anderen Kontinenten (Bandelier, Bandi, Forrer, Metraux, Marschall). Die regionalen
Schwerpunkte
Im Zentrum des Interesses der Altamerikaforschung standen weltweit immer schon die alten Hochkulturen. So hat auch der überwiegende Teil der Schweizer Beiträge die Hochkulturen von Mexiko, Zentralamerika und dem Andenhochland zum Thema. Dabei fällt auf, daß viele dieser Arbeiten nicht eine einzelne Hochkultur in einer bestimmten zeitlichen Epoche behandeln, sondern mehr allgemein über ihre geographische Lage, Geschichte und Kultur berichten. Die einzige Hochkultur, die von einigen Schweizern als Spezialgebiet ausgewählt wurde, ist diejenige der Maya. Der prominenteste Schweizer Mayaforscher war der in Guatemala wohnhafte Schweizer Archäologe Rafael Girard, der weltweit zu den besten Mayakennern gezählt wird. Andere auf die Maya spezialisierte Schweizer waren Bernoulli, Stoll und Guillemin. Viel Interesse bekundeten im Verlauf der Zeit verschiedene Schweizer auch gegenüber den alten Inka und ihren Vorläufern (Bandelier, von Tschudi, Naville, Reichlen, Spahni, Baer). Der bedeutendste Schweizer Altperuforscher ist der in Argentinien wohnhafte Juan Schobinger, der über die Spuren der Inka im Norden Argentiniens forschte. Auffallend wenig wurde über die nahuasprachigen Hochkulturen Mexikos gearbeitet (Dietschy, Zavalä). Mehr als die alten Azteken standen verschiedene, in vorkolonialer Zeit weniger hoch entwickelte Kulturen in Kolumbien (Gähwiler), Venezuela, Guyana (Paranhos da Silva3), Amazonasgebiet {Paranhos da Silva, Metraux) und im Cono Sur (Bertoni, Metraux, Schobinger) im Vordergrund des Interesses. Geschichte Die Geschichte der Schweizer Altamerikanistik begann im letzten Jahrhundert mit dem Basler Lukas Vischer (1780-1840), der mehrere Jahre in 3
Brasilianischer Diplomat, lebte zusammen mit seiner Frau Marguerite ab 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1973 zeitweilig in Genf, w o er maßgeblich an der Gründung der Schweizerischen Amerikanistengesellschaft beteiligt war. Neben den verschiedenen Sammlungen, die er dem Genfer Musée d'Ethnographie vermachte, verfaßte er eine Reihe von Artikeln für das Bulletin de la Société suisse des Américanistes.
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den USA und in Mexiko verbrachte, von wo er eine ansehnliche Sammlung von Gegenständen aus vorkolumbischer Zeit mitbrachte. Neben Vischer, dessen Sammlung sich heute im Basler Völkerkundemuseum befindet und bereits Gegenstand verschiedenster Arbeiten geworden ist, gehört der Genfer Henri de Saussure (1829-1905) zu den ersten Schweizern mit Interessen am vorkolonialen Amerika. Er brachte von seiner Mexikoreise im Jahre 1852 die Kopie eines Mixteken-Kodex in seine Heimatstadt Genf mit und suchte sie zu entziffern. Weitere Pioniere der Schweizer Altamerikanistik des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts sind die bereits vorgestellten Indianerforscher Johann Jakob von Tschudi, Gustav Bernoulli, Emil Göldi und Adolph Bandelier. Mit der Ankunft von Sammlungen ethnographischer Objekte in der Schweiz entstanden im Verlauf der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die verschiedenen Völkerkundemuseen und völkerkundlichen Sammlungen. 4 Die wichtigsten Altamerika-Sammlungen befinden sich in Basel, Bern, Genf, Neuenburg und Zürich. Sie haben bewirkt, daß die Völkerkundemuseen vor allem diejenigen von Basel und Genf - bis zu einem gewissen Grad die Rolle als altamerikanische Forschungszentren übernommen haben. Die Ankunft vorkolumbischer Objekte in den Museen setzte zum ersten Mal eine altamerikanistische Forschungstätigkeit in der Schweiz selber in Gang. Ab 1900 begannen eine ganze Reihe den Museen nahestehende Personen diese Sammlungen aufzuarbeiten. Repräsentativ für diese erste Generation Schweizer Amerikanistinnen und Amerikanisten sind etwa die Genfer Pittard, Lobsiger, Naville und der Basler Dietschy. Eugène Pittard (1867-1962), Zoologe, Anthropologe und Urgeschichtler, war lange Zeit Direktor des Genfer Musée d'Ethnographie und bearbeitete dessen Altamerikabestände. Für die Schweizer Amerikanistik bedeutend war auch sein Bestreben, die Forschungsaktivitäten auf nationaler Ebene zu koordinieren. Er war der Hauptinitiant und Mitbegründer der Schweizerischen Amerikanistengesellschaft im Jahre 1949, deren erster Präsident er war. Die Amerikanistik nahm auch im wissenschaftlichen Schaffen des Geographen Georges Lobsiger (1903-1987) einen wichtigen Platz ein. Sein wichtigstes Arbeitsfeld war die Interpretation des peruanischen Chronisten
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Die Sammlungsbestände der Schweizer Völkerkundemuseen sind zusammengestellt in: Museumskommission der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft (Hg.): Völkerkundliche Sammlungen in der Schweiz. Collections ethnographiques en Suisse. Ethnographical collections in Switzerland. 2 Bde. Bern 1979/1984.
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Poma de Ayala. Zusammen mit seiner Frau Marguerite LobsigerDellenbach war er stark im Genfer Museum engagiert, dem Frau Lobsiger nach dem Tod Pittards als Direktorin vorstand. Beide gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Schweizerischen Amerikanistengesellschaft. Ein anderes Gründungsmitglied der Schweizerischen Amerikanistengesellschaft war der Rechtsgelehrte René Naville (1905-1978), der während mehrerer Jahre in verschiedenen Ländern Lateinamerikas als Diplomat tätig war. Aufgrund seiner ethnologischen, historischen und archäologischen Interessen entstanden diverse Arbeiten. Für die Geschichte der Schweizer Amerikanistik wichtig sind seine Biographien über deren Pioniere im letzten Jahrhundert. Einen wichtigen Beitrag leistete in den 40er und 50er Jahren dieses Jahrhunderts auch der Basler Ethnologe Hans Dietschy (1912-1991). Seine verschiedenartigen Arbeiten basieren größtenteils auf den Altamerika-Sammlungen des Basler Völkerkundemuseums, in dem er von 1940 bis 1952 die Abteilung Amerika betreute. Sein Forschungsschwerpunkt war das präkolumbische Mexiko. Neben der Ethnologie als wichtigstem Schweizer Universitätsfach mit altamerikanistischer Forschungstätigkeit wären eigentlich wesentliche Beiträge auch aus der Archäologie zu erwarten, sind doch gerade archäologische Erhebungen die hauptsächliche Basis für jegliche altamerikanistische Studien. Dies ist leider, was die archäologischen und urgeschichtlichen Abteilungen der Schweizer Universitäten anbelangt, kaum der Fall. Es gibt aber Schweizer Archäologen mit altamerikanischem Spezialgebiet, die außerhalb der Schweiz ausgebildet wurden und ihr Leben lang mehr oder weniger im Ausland, meist in Lateinamerika selber, tätig und wohnhaft waren. Die wichtigsten Vertreter dieser Auslandschweizer Altamerikanisten sind Rafael Girard, Juan Schobinger, Jorge Guillemin und das Ehepaar Paulette und Henri Reichten. Sie genießen in ihrem Fach internationalen Ruf und haben zu den Themen, die sie bearbeiteten, mit ihrem reichhaltigen Werk Wesentliches beigetragen. Als einer der größten Schweizer Altamerikanisten gilt Rafael Girard (1898-1982). Aus Martigny stammend, begann er seine Studien in Genf bei Eugène Pittard, der ihm - infolge des fehlenden Angebotes an den Schweizer Universitäten - Privatunterricht in Ethnographie und Anthropologie erteilte. Girard setzte seine Studien später in Paris fort. 1919 reiste Girard nach Honduras mit dem Ziel, an Ort und Stelle die Erforschung der vergangenen und aktuellen Kulturen Zentralamerikas weiterzutreiben. Von den Zentralamerikanern gut aufgenommen und in seiner Arbeit von Anfang an erfolgreich, kehrte Girard der Schweiz den Rücken und nahm für sein gan-
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zes Leben Wohnsitz in Zentralamerika, vor allem in Honduras und Guatemala. Sein erstes Verdienst war die Gründung und der Aufbau der honduranischen Geographisch-Historischen Gesellschaft, die sich zum Ziel setzte, die damals kaum bekannte kulturelle Vielfalt von Honduras zu erforschen und publik zu machen. Sogleich machte sich Girard selber an die Forschungsarbeit, die er während sechzig Jahren in diesem Gebiet weiterführte. 5 Auf zahlreichen Exkursionen in Honduras und Guatemala besuchte er die verschiedenen Indianergruppen, wobei er bei einigen, insbesondere bei den honduranischen Chortis, längere Zeit verweilte. So war Girard einer der ersten Ethnologen, dessen Studien auf wirklicher Feldforschung basierten. Ebenfalls bahnbrechende Resultate brachten Girards Besuche, Entdeckungen und Ausgrabungen von archäologischen Stätten aus verschiedenen Epochen der Geschichte der Maya. Für die Amerikanistik neu war Girards interdisziplinäre Arbeitsweise. Die Verbindung von Resultaten seiner ethnologischen Feldstudien bei den heutigen Mayagruppen, von Erkenntnissen seiner archäologischen Forschungen und von ethnohistorischen Quellen wie der heiligen Schrift Popol-Vuh der Maya-QuicheIndianer führten zu einer Neuschreibung der vorkolonialen Geschichte Lateinamerikas von einer vorher nie dagewesenen Detailliertheit. 6 Girard revolutionierte mit seinem Werk nicht nur die Daten rein archäologischer Natur, sondern auch die damit verbundene, damals vorherrschende Meinung, Amerika sei ein Kontinent ohne Geschichte. Girards langjähriger Forschungstätigkeit über die alten Maya in Guatemala und Honduras sind eine Fülle von Büchern, Artikeln und Referaten entsprungen, die zu einem großen Teil bis heute ihre Gültigkeit behalten. Ein anderer ebenfalls in Guatemala wohnhafter und in der archäologischen Forschung tätiger Schweizer ist Jorge Guillemin. Seine vor allem in den 60er Jahren durchgeführten Arbeiten galten in erster Linie der Ausgrabung und archäologischen Erforschung der alten Cakchiquel-Hauptstadt Iximche in Guatemala. Juan Schobinger, 1928 in Lausanne geboren, wanderte schon in seiner frühen Kindheit zusammen mit seinen Eltern nach Argentinien aus, wo er heute noch lebt. An der Nationalen Universität von Buenos Aires studierte er Geschichte und prähistorische Archäologie und doktorierte mit einer 5
Einzig 1957 machte Girard eine ethnographische Forschungsreise in das peruanische Amazonasgebiet, deren Resultate, niedergeschrieben im Band Les indiens de l'Amazonie péruvienne, Paris 1963, allerdings mit Vorsicht zu genießen sind.
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Siehe insbesondere sein wichtigstes Werk: R. Girard (1976).
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archäologischen Arbeit über die Provinz Neuquén im argentinischen Westen. Bis heute ist die prähistorische Archäologie des westlichen und nordwestlichen Argentinien hauptsächliches Tätigkeitsfeld Schobingers geblieben, der seit über dreißig Jahren an der Universität von Cuyo (Mendoza) als Professor für Archäologie, Anthropologie und Ethnologie unterrichtet. Die thematischen Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Felsmalerei, die archäologischen Spuren der vorkeramischen Zeit und der andinischen Hochkulturen auf argentinischem Gebiet. Forschungen zum präkolonialen Peru machte auch der am Institut français d'études andines in Paris tätige Archäologe und Anthroploge Henri Reichten zusammen mit seiner Frau Paulette, deren Ergebnisse sie in zahlreichen Artikeln veröffentlichten. Ein verdienstvoller Schweizer Altamerikanist, der fast sein ganzes Leben im Ausland verbrachte, war der renommierte Ethnologe Alfred Métraux (1902-1963). Innerhalb seiner mannigfaltigen ethnologischen Forschertätigkeit (siehe nächstes Kapitel) wandte sich Métraux immer wieder präkolumbischen Themen zu. Dabei widerspiegeln seine Arbeiten zur vorkolonialen Geschichte Lateinamerikas regionale Schwerpunkte seiner ethnologischen Forschung: das Amazonasgebiet, den Chaco und das Andenhochland. Spezielles Interesse hegte Métraux für Migrationsbewegungen vor der Ankunft der Spanier. Einerseits interessierten ihn Wanderungen innerhalb des Kontinentes, andererseits veranlaßte ihn sein Forschungsaufenthalt auf der Osterinsel, sich zu Migrationen zwischen den pazifischen Inseln und Südamerika und dadurch auch zur Besiedlung des Kontinents Gedanken zu machen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hat sich in der Schweiz eine neue Generation von Schweizer Forscherinnen und Forschern herausgebildet, die sich unterschiedlich stark mit präkolumbischen Themen auseinandergesetzt haben oder auseinandersetzen. Zu erwähnen ist der Genfer Ethnologe und Urgeschichtler Jean-Christian Spahni, der 1960-1962 als Professor an der Universität von Santiago de Chile wirkte und von dort aus mehrere prähistorische Forschungsarbeiten im Gebiet der Atacama-Wüste durchführte. Aus seinen späteren Reisen durch ganz Lateinamerika, die er zusammen mit dem Photographen Maximilien Bruggmann unternahm, gingen verschiedene Bildbände hervor. Spahni nutzte diese Reisen aber auch, um sich längere Zeit im Andenhochland aufzuhalten, wo er sich vor allem dem Studium vorkolonialer und heutiger Kalebassen- und Keramikbehälter widmete.
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Zwei andere Schweizer, die sich eher auf globale Art mit den Kulturen des präkolumbischen Lateinamerika auseinandersetzen, sind der Genfer Kunsthistoriker und Journalist Henri Stierlin und der ehemalige Leiter der Kulturabteilung am Institut für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit der Hochschule St.Gallen, Armin Bollinger. Aus ihren verschiedentlichen Forschungsreisen nach Lateinamerika und dem intensiven Studium der präkolumbischen Hochkulturen sind eine Anzahl von Büchern hervorgegangen, die mehrheitlich einführenden und resümierenden Charakter haben. In den letzten vierzig Jahren hat sich das Basler Museum für Völkerkunde in Verbindung mit dem Institut für Ethnologie der Universität Basel als eine Art Zentrum Schweizer altamerikanistischer Forschung etabliert. War es Hans Dietschy, der mit dem Aufarbeiten der altamerikanistischen Sammlungen begann, so ist es bis heute der seit 1967 als Museumsdirektor amtierende Ethnologe Gerhard Baer, der zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese Arbeit fortsetzt und vervollständigt. 7 Baer ist Autor verschiedener Werke zur präkolumbischen Geschichte und Kunst und schrieb anläßlich seiner ethnologischen Forschungsaufenthalte in Ostperu eine Studie über vorkolumbische Petroglyphen. Außer Baer haben bis heute die Basler Ethnologinnen Annemarie Seiler-Baldinger und Theres GähwilerWalder über altamerikanische Themen gearbeitet: Frau Seiler-Baldinger in mehr allgemeiner Art über handwerkliche Aspekte wie die Metallverarbeitung und Frau Gähwiler-Walder über vorkoloniale Kulturen im Südwesten von Kolumbien. Auch in der übrigen Schweiz sind in den letzten Jahren hin und wieder Arbeiten zu altamerikanistischen Themen verfaßt worden. 8 Im Rahmen dieser Themen sind die Arbeiten des Zürcher Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim und des am C.G. Jung-Institut in Zürich tätigen mexikanischen Arztes und Psychologen José F. Zavala zu erwähnen. Ihr mehr gesellschaftstheoretischer bzw. psychoanalytischer Zugang zu den Kulturen Altamerikas - in ihrem Fall zu den alten Mexikanern - ist für die Schweizer Altamerikanistik neuartig und geht Hand in Hand mit den neueren Tendenzen der Ethnologie, die im nächsten Kapitel vorgestellt werden.
7
Auch eine ganze Reihe deutscher Altamerikanistinnen und Altamerikanisten haben sich mit Objekten der präkolumbischen Sammlungen des Völkerkundemuseums Basel befaßt: Beyer (1943), Brack-Bernsen (1977), Bankmann (1981, 1984, 1990) und MeyerHoldampf (1985).
8
Siehe v.a. Necker (1984, 1991), Christinat (1975, 1979) und Eveline Dürt (1990).
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Die Bedeutung der Amerikanistik
innerhalb der
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Ethnologie
Obschon an den verschiedenen ethnologischen Instituten der Universitäten Basel, Bern, Freiburg, Genf, Neuchätel und Zürich regelmäßig Lehrveranstaltungen zu lateinamerikanischen Sachbereichen angeboten werden, gibt es bis heute keinen einzigen Lateinamerikalehrstuhl. Nichtsdestoweniger beschäftigten sich aber seit der Gründung universitärer Abteilungen immer wieder ausgebildete Ethnologinnen und Ethnologen mit Lateinamerika. Seit Anfang der 30er Jahre hat die Beschäftigung mit diesem Raum kontinuierlich zugenommen, und dieser Trend hält bis Ende der 80er Jahre unverändert stark an. Die wichtigsten Forschungsschwerpunkte von 1850 bis heute werden im folgenden Kapitel aufgeführt. Anschließend folgt die Beschreibung der ersten (von Anfang 1900-1960) und zweiten Forschergeneration (von 1960 bis heute) und ihrer Tätigkeiten. Regionale
und thematische
Forschungsschwerpunkte
In diesem Kapitel werden die schriftlichen Beiträge der Ethnologinnen und Ethnologen zu Lateinamerika untereinander verglichen. Die in der Bibliographie aufgelisteten Bücher und Artikel wurden nach den gängigen Kulturarealen Mittel- und Südamerikas (vgl. Lindig/Münzel 1976) und, wo es sich anbot, nach Ländern unterteilt und nach den am häufigsten behandelten Themenkreisen aufgegliedert. Regionale
Interessen
Das Kulturareal des ost-südamerikanischen Waldlandes, Teile des angrenzenden ostbrasilianischen Berglandes und Guyanas bilden, gemessen an der Anzahl geschriebener Arbeiten seit den 40er Jahren, bis heute den herausragendsten regionalen Schwerpunkt der Schweizer Ethnologie. Besonders Ethnien im Einzugsgebiet des Amazonas sind des öfteren beschrieben worden (Caspar, Dietschy, Girard, Metraux). Dieser Trend hielt lange an und wurde in den 80er Jahren verstärkt sichtbar (Baer, BirrauxZiegler, Fuerst, Gasche, Jacopin, Marin, Schoepf, Seiler-Baldinger). Peru wird in den 70er und 80er Jahren zum zweiten Schwerpunktthema Schweizer ethnologischer Publikationen {Baer, Christinat, Dürr-Spinnler). In den letzten 20 Jahren trat ein vermehrtes Interesse von Forschern für den Raum Mexiko zutage, woraus eine ganze Serie von Studien über mexikanische rurale Gemeinschaften und städtische Randzonen entstand (u.a. Albrecht, Boege, Frey, Nadig). Der Kulturraum der Maya in Mexiko und
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Guatemala wurde bereits um 1870-1890 (Bernoulli, Stoll) und 1940-1960 (Girard) erforscht. Mit Studien über Kulturen des zirkumkaribischen Raumes rückte in den 80er Jahren noch ein weiteres Gebiet ins Blickfeld von Ethnologinnen und Ethnologen (sehen wir einmal von Metraux' Arbeiten über Haiti in den 50er Jahren und von Pittiers Arbeiten über Costa Rica Ende des letzten Jahrhunderts ab). Größtenteils Studierende richteten ihr Interesse auf das sozialistische Nicaragua und die dadurch in Gang gekommenen Veränderungen (.Albrecht, Brenner, Busslinger, Hillmann, Keller, Mühlberger). Uber die Kulturen der Zentralanden Perus, Boliviens und über Argentinien wurden seit der Mitte des letzten Jahrhunderts immer wieder verschiedene Arbeiten geschrieben (Baer, Bandelier, Spahni, Saugy de Kliauga, Tschudi). In kleinerem Maße ist dies auch über die Bewohner des Chaco und Paraguays der Fall (Bertoni, Metraux, Necker, Regehr, Wicker). Die Südanden und Patagonien wurden bis heute ethnologisch kaum bearbeitet (Metraux, Saugy de Kliauga). Thematische
Schwerpunkte
Die Schweizer, die zwischen 1850 und 1930 an der Ethnologie indigener Kulturen interessiert waren, behandelten in ihren Publikationen sowohl ethnologische wie linguistische Aspekte. Viele dieser Publikationen hatten den Charakter von Reiseberichten. Später gewannen neben Monographien zu den einzelnen Ethnien Beschreibungen von Handwerksbereichen, das heißt im weiteren Sinne die materielle Kultur, das religiöse Wissen, damit verbundene mythische Vorstellungen und ethnohistorische Themen (durch die Arbeiten von Metraux) an Bedeutung. Diese inhaltlichen Gewichtungen wurden in den 50er Jahren durch Beschreibungen der Sozialorganisation der untersuchten Ethnien ergänzt. Eine Pluralisierung der Forschungsthemen, die in den 60er Jahren eingesetzt hat, hält bis heute an. Neben den bereits erwähnten Inhalten wurde in den 70er Jahren die aktuelle Situation der Indianer in Lateinamerika zu einem wichtigen Arbeitsfeld. Anläßlich eines vom Ethnologischen Institut Bern organisierten Symposiums auf Barbados entstanden kritische Situationsanalysen zur Lage der Indianer in Südamerika, die zu den wichtigsten dieser Zeit gehören. 9 Zahlenmäßig stellten die Beiträge zu diesem Bereich in den 80er Jahren sogar den mit Abstand größten Anteil an schriftlichen Arbeiten dar, wenn auch keine größeren Werke darüber geschrieben wurden. 9
Vgl. W. Dostal/World Council of Churches (1972).
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An zweiter Stelle wurden Aspekte der Rolle der Frau innerhalb einer Kultur behandelt. Ebenso häufig wurden Analysen von Peasant-Gesellschaften vorgenommen, die die Landwirtschaft, die innere Sozialstruktur, Patron-Client-Beziehungen und die Abhängigkeit der ruralen Gemeinschaften nach außen behandeln. Dazu kommen in neuester Zeit Arbeiten über das medizinische Wissen einer Gesellschaft, die ethnische Identität von Gruppen und marginale Lebensformen in Urbanen Räumen.
Vertreter der klassischen Schweizer Ethnologischen Forschung in Lateinamerika Die erste Generation meist im Ausland ausgebildeter und in Lateinamerika tätiger Ethnologen führte ihre Forschungen ethnienzentriert und auf eine Region beschränkt durch. Das heißt, im Mittelpunkt ihres Interesses stand eine Kultur, die sie beschreiben wollten. Die Lebensweise der zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich verschwindenden Ethnien und ihr Wissen sollten der Nachwelt in Form von möglichst umfassenden Monographien erhalten bleiben. Der erste wissenschaftlich ausgebildete Ethnologe, der 1924 nach Südamerika kam, war Felix Speiser (1880-1949) aus Basel, der vor allem als Erforscher der Südseekulturen berühmt wurde. Von einem Aufenthalt bei Aparai-Indianern brachte er eine Sammlung von Gegenständen ins Völkerkundemuseum Basel mit und drehte den ersten ethnographischen Film (Yopi). Der bekannteste und bedeutendste Ethnologe unter den eigentlichen Schweizer Amerikanisten dieses Jahrhunderts ist sicher der Lausanner Alfred Metraux (1902-1963). Trotz seinen breit gefächerten Interessen und seiner über 250 Titel umfassenden Literaturliste lassen sich drei Schwerpunkte in seiner Forschertätigkeit ausmachen. Ein erstes Interesse gilt transpazifischen Beziehungen am Beispiel der Osterinsel. Metraux nahm mit seinen Arbeiten über die Osterinsel engagiert an der diffusionistisch orientierten Diskussion teil, ob zuerst Polynesier oder Amerikaner die Insel bevölkert haben. Ein zweites Interesse gilt der Ethnohistorie der Tupi-Guarani. Metraux kommt das Verdienst zu, als erster in systematischer Art und Weise viele Berichte der alten Chronisten des 15. und 16. Jahrhunderts über die Tupinambä und Guarani-Indianer erfaßt und mit aktuellem ethnologischem Material in Verbindung gebracht zu haben. Die historische Analyse der Wanderungen der vorkolonialen Tupi-Guarani, die tribale Aufteilung der Ethnie und die Arbeit über die Religion der Tupinambä werden als die wichtigsten Studien Metraux' betrachtet, mit welchen er einen wesentlichen Beitrag zur Kon-
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struktion einer Ethnologie der Guarani geleistet hat. Métraux' drittes Interesse gilt der afroamerikanischen Religion Voodoo auf Haiti. Seine Betrachtung der synkretistischen Religionen auf Haiti rückte die zahlreichen Rituale ins Zentrum der Analyse. Métraux wertete die Feldethnographie höher als die ethnologische Theorienbildung und vertrat deshalb auch die Meinung, Fakten für sich selber sprechen zu lassen. Als einer der hauptsächlichen Herausgeber und Autoren des Handbook of South American Indians (Washington D.C. 1946-1948) trug Métraux Wesentliches zur Aufarbeitung historischer und aktueller Daten über zahlreiche Indianer Südamerikas bei. Diese Arbeit zeigt seine wichtigste Grundmotivation, die im Festhalten der im Verschwinden begriffenen Zivilisationen bestand. Ebenfalls in Lateinamerika forschte der ursprünglich für Nestlé Milk Products Inc. dort tätige St. Galler Franz Caspar (1916-1977). Von seinen Expeditionen bei den Tupari-Indianern in Westbrasilien brachte er eine Sammlung von Tauschobjekten nach Europa zurück. In Hamburg, in dessen Völkerkundemuseum sich diese Sammlung befindet, studierte Caspar zur Vervollständigung seines Wissens nachträglich Völkerkunde und führte in der Folge eine zweite Feldexpedition zu den Tupari durch, aus welcher eine umfassende Monographie über die Brandrodungsfeldbauern hervorging. Die zahlreichen ethnologischen Publikationen des am Basler Völkerkundemuseum beschäftigten Amerikanisten Hans Dietschy (1912-1990) handeln überwiegend von den Karajà-Indianern, die er während einer Feldforschung zwischen 1954 und 1955 in Zentralbrasilien besuchte. Seine Sammlung mitgebrachter Objekte befindet sich heute im Basler Museum für Völkerkunde. Von 1964 bis 1970 war er Métraux' Nachfolger als Directeur d'études an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris. Gerhard Baer, seit 1967 Direktor am Museum für Völkerkunde Basel, hat zahlreiche Museumsaustellungen konzipiert und dazugehörende Kataloge verfaßt bzw. herausgegeben, welche sich beide neben ethnologischen Themen auch mit präkolumbischen Kulturen beschäftigten (vgl. Kapitel Altamerikanistik). Die materielle Kultur, d.h. die Beschreibung der Gegenstände und Erzeugnisse und ihre Einordnung in eine Gesellschaft bilden denn auch einen eindeutigen Schwerpunkt seiner Arbeit. Baers ethnologische Feldforschungstätigkeit führte ihn nach Brasilien, ins Xingu-Quellengebiet zu den Kalapalo-Indianern und später nach Ost-Peru zu Matsigenka- und PiroIndianern. Bei der Erforschung der beiden letzteren richtete der Ethnologe seine Aufmerksamkeit auf die materielle Ausrüstung und die religiösen Vorstellungen und Praktiken. Fortgesetzte Feldexpeditionen zu den sich immer rasanter akkulturierenden Matsigenka ermöglichten ihm eine ausführliche
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Würdigung ihrer Religion und der damit verbundenen Mythentexte (Baer 1984). Pierre Yves Jacopin aus Neuchätel war 1977-1988 an der Universität von Brandeis, Boston in den USA als außerordentlicher Professor für Anthropologie tätig. Wesentlich beeinflußt durch die soziolinguistische Theorie und Methode des französischen Strukturalisten Claude Lévi-Strauss, beschäftigt sich der Neuenburger bis heute mit der Deutung der Mythen einer Gesellschaft. In seiner Arbeit, entstanden durch mehrere Feldforschungsaufenthalte bei den Yukuna-Indianern des kolumbianischen Amazonas, wendete Jacopin das strukturalistische Analyseverfahren in abgeänderter Form an (Jacopin 1981). Der in den USA ausgebildete Ethnologe und Historiker Louis Necker lehrt zur Zeit als Professor an der Universität von Genf. Der Direktor des dortigen Musée d'Ethnographie und damit gleichzeitig auch Präsident der Schweizerischen Amerikanistengesellschaft setzte sich bisher ausschließlich mit der ethnohistorischen Aufarbeitung der autochthonen Gesellschaften Amerikas auseinander. Im besonderen untersuchte Necker die Umstände und Bedingungen der Entstehung der ersten franziskanischen Reduktionen in Paraguay und der damit zusammenhängenden Reaktionen der Guarani-Indianer (Necker 1979). Als weiterer Ethnologe muß der seit 1980 in Iquitos, Peru, wohnende Jürg U. Gasché erwähnt werden. Der in Paris ausgebildete Forscher leitete während mehrerer Jahre ein pluridisziplinäres Projekt über Pflanzenanbausysteme der Indianer des peruanischen Amazonas, welches er mit zwei Feldforschungen bei den Huitoto-Indianern in Kolumbien und den SecoyaIndianern in Peru begleitete (Gasché 1976). Danach begann Gasché sich mit der Ausbildung von zweisprachigen Lehrern innerhalb eines Entwicklungsprojekts der Selva Peruana zu befassen. Für den Lebensraum der Mapuche in Argentinien interessiert sich seit längerem Catherine Saugy de Kliauga. Neben ethnologischen Arbeiten über das Handwerk der Mapuche setzte sich die in Buenos Aires ausgebildete Ethnologin in ihren Publikationen mit der traditionell mobilen Lebensweise der Reservat-Indianer auseinander. Seit 1989 ist Saugy de Kliauga am Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales (CLACSO) beschäftigt, welcher sich bemüht, Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung in Lateinamerika zu sammeln und international zugänglich zu machen.
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Von der angewandten
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Ethnologie
zur
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Ethnopsychoanalyse
Seit Beginn der 70er Jahre werden in der Schweizer Ethnologie nur noch wenige klassische Monographien über indianische Gemeinschaften in Lateinamerika geschrieben. Vermehrt analysieren Ethnologinnen und Ethnologen Teilbereiche von Kulturen, die in zunehmendem Maße von externen Faktoren, wie z.B. der nationalen Ökonomie eines Landes, mitgeprägt werden. Die einzelnen Kulturbereiche werden gleichzeitig mit sehr unterschiedlichen Methoden und Theorien angegangen. Als Folge davon ist heute sowohl eine methodische als auch eine thematische Vielfalt der ethnologischen Beschäftigung mit Lateinamerika konstatierbar. Die jeweiligen Forschungsrichtungen lehnen sich weitgehend an internationale, aktuelle Forschungstrends an, wie etwa die angewandte Ethnologie, die neuere Peasant-Forschung, die Stadtethnologie, die ethnologische Frauenforschung oder die Ethnopsychoanalyse. Einen ersten Zugang bildet die angewandte Ethnologie, die sich heute für die Stärkung lokaler Traditionen einsetzt. In dieser Richtung tätig ist HansRudolf Wicker, Professor für Ethnologie an der Universität Bern, der während sechs Jahren als Leiter eines Entwicklungsprojekts bei GuaraniIndianern in Paraguay wirkte. Ziel des Projekts war die Absicherung der traditionell besiedelten Gemeinschaftsländereien der Guarani-Indianer. Zu diesem Zweck studierte Wicker die Strukturen der Subsistenz und der sozialen und politischen Organisation der Guarani. Innerhalb der Peasant-Forschung sind die Arbeiten von Jean Louis Christinat, am Institut d'ethnologie in Neuchätel tätig, zu erwähnen. Er führte in einer Gemeinschaft der südperuanischen Anden Untersuchungen zum Phänomen ritueller Verwandtschaften durch. Neben seinem Interesse an Riten und Zeremonien erforschte Christinat die Strategien, die innerhalb der Patron-Klientenbeziehungen der Dorfgemeinschaften eine wichtige Rolle spielten (Christina 1989). Eine dritte Richtung ist die Ethnopsychoanalyse, die sich vor allem durch ihren methodischen Zugang von den beiden anderen unterscheidet. Gemeint sind ethnopsychoanalytische Arbeiten, die bisher vorwiegend von Mario Erdheim, Maya Nadig oder von durch sie betreuten Studierenden verfaßt wurden. Mario Erdheim erforschte den Kulturwandel bei den Azteken und gehört damit eigentlich ins Fachgebiet der Altamerikanistik (vgl. vorheriges Kapitel). Maya Nadigs Forschungsgebiet sind die Bereiche der Frau innerhalb einer Kultur. Ihre Studie in einer mexikanischen ruralen Gemeinschaft macht das Zusammenspiel von objektiven gesellschaftlichen Strukturen und der weiblichen Subjektivität sichtbar. Das Aufdecken komplexer und wider-
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sprüchlicher Kulturmuster gibt einen Einblick in den Umgang mit Geschlechterbeziehungen und der Ökonomie innerhalb des Dorfes (Nadig 1986). Eine heute noch aktuelle Richtung bildet auch die in erster Linie an materiellen Erzeugnissen interessierte Museumsarbeit. Die Leiterin der Abteilung Amerika am Museum für Völkerkunde Basel, Annemarie Seiler-Baldinger, führte Feldforschungen in Nordwestamazonien durch, während denen sie vornehmlich Maschenstoffe, Hängematten-Kunst und deren Veränderung unter dem Einfluß des Tourismus untersuchte (Seiler-Baldinger 1988). Am Musée d'ethnographie von Genf beschäftigen sich die beiden Ethnologen Daniel Schoepf und René Fürst mit indianischen Kulturgütern Lateinamerikas. Während sich Fürst, seit 1985 Präsident der IWGIA (International Workgroup for Indigenous Affairs), der aktuellen Situation der Indianer Brasiliens und der audiovisuellen Ethnographie über Indianer widmete (Fürst 1992), beschäftigte sich Schoepf, heute Leiter der Amerika-Abteilung des Museums, mit der materiellen Kultur und der Religion der WayanaIndianer Brasiliens und Französisch-Guyanas (Schoepf 1985). Ein abschließender Ausblick auf künftige Forschungstrends und ein dazu erstellter Vergleich der zwischen Ende der 70er Jahre und Anfang der 90er Jahre geschriebenen Abschlußarbeiten von Schweizer Ethnologie-Studierenden über Lateinamerika lassen folgende Tendenzen sichtbar werden: Eindeutig an Bedeutung gewinnen Arbeiten, die sich mit Bereichen der Frau innerhalb einer Gemeinschaft beschäftigen. Von Haushaltuntersuchungen ausgehend, werden die persönliche Eigenständigkeit und damit zusammenhängende Beziehungs- und Machtstrukturen der Frauen betrachtet. Gefolgt wird dieser Schwerpunkt vom Thema sozialer Wandel, der aber oft in Verbindung mit Bereichen der Frau, der Ökonomie oder Entwicklungsprojekten behandelt wird. So werden Einflüsse von Industrialisierungsprozessen, von einer zunehmenden Kapitalisierung der Landwirtschaft oder des Tourismus genannt. Ebenfalls gewählte Themen sind sozio-ökonomische Peasant-Studien und Evaluationen von Entwicklungsprojekten.
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Geographische
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Gneist
Geographische
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Die
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in einem ecua-
Liz. Zürich 1989
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Feldstudie mit Jugendlichen
aus einem städtischen
Eine
Randquartier
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Wochenschrift,
Nr. 28 (Wien)
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Kirchenzeitung
ders.: Die Kechua-Sprache. 3 Abtheilungen in 2 Bden. (Bd. I, 1. Abt. "Sprachlehre"; 2. Abt. "Sprachproben"; Bd. 2, 3. Abt. "Wörterbuch") Wien 1853 ders.: "Reisebriefe", in: Allgemeine Zeitung 36, 37, 57, 58, 146, 148, 151, 153, 208, 209, 216, 221, 224, 308, 313, 314 (Augsburg) 1858
Vorkoloniale
Geschichte
und Ethnologie
Lateinamerikas
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ders.: "Reisebriefe", in: Allgemeine Zeitung 32, 35, 37, 39 (Augsburg) 1859 ders.: "Reise durch die Andes von Süd-Amerika von Cordova nach Cobija im Jahre 1858", in: Ergänzungsheft zu Petermann's Geographischen Mitteilungen (Gotha) 1860 ders.: Bericht des schweizer ausserordentlichen Gesandten in Brasilien Herrn von Tschudi an den Bundesrath über die dortigen Verhältnisse der Kolonisten. Bern 1860 ders.: Bericht des schweizer ausserordentlichen Gesandten in Brasilien Herrn von Tschudi an den Bundesrath über 1 ) die Kolonien der Provinzen Sao Paulo, vom 6. Oktober 1860, 2) die Kolonien der Provinzen Santa Isabel, Santa Leopoldina und Rio Novo, vom 20. Dezember 1860, 3) die Kolonien der Provinzen Santa Catharina und San Pedro do Rio Grande do Sul, vom 18. Juni 1861. Bern 1861 ders.: 'Die Brasilianische Provinz Minas Gérais. [Originalkarte nach den offiziellen Aufnahmen des Civil-Ingenieurs H.G.F. Halfeid, unter Benutzung älterer Vermessungen und Karten gezeichnet von Friedrich Wagner. Beschreibender Text von J.J. von Tschudi]", in: Ergänzungsheft Nr. 9 zu Petermann's Geographischen Mitteilungen (Gotha) 1862 ders.: Organismus der Khetsuasprache.
Leipzig 1884
ders.: "Culturhistorische und sprachliche Beiträge zur Kenntnis des alten Peru", in: Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschften in Wien. Philosophisch-historische Classe 39 (Wien) 1891 ders.: Ollanta. Ein Altperuanisches Drama. Aus der Kechuasprache. commentiert von JJ. von Tschudi. Wien 1897
Uebersetzt und
ders.: Peru. Reiseskizzen aus den Jahren ¡838-1842. Graz 1963 (Nachdr. der Ausg. St. Gallen 1846) ders.: Reisen durch Südamerika. Stuttgart 1971 (unveränderter Neudr. der Ausg. Leipzig 1866-1869) ders.: Reiseskizzen aus Peru. Leipzig 1988 (Nachdr.) Johann Jakob von Tschudi/Mariano Eduardo de Rivero: Antigüedades Peruanas. 2 Bde. Wien 1851 W. Fr. Tschudin: "Alteste Papierbereitungsverfahren in Mittelamerika", in: Textilrundschau 12 (Basel?) 1961 Jean-Albert Vellard: "La médecine indigène sud-américaine", in: Bulletin de la Société suisse des Américanistes, Nr. 31 (Genève) 1967, S. 3-16 Gioia Weber-Pazmiño: Caciquismo
und dessen Bekämpfung
in einem
mexikani-
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sehen Dorf. Liz. Zürich 1978 dies.: "Interpretationen von Klientelismus, aufgezeigt an einem Beispiel aus Ecuador", in: Annemarie Seiler-Baldinger (Hg.): Unter dem Kreuz des Südens. Neue Schweizer ethnologische Forschungen in Südamerika. (Bern) 1988, S. 93-114 Hans-Rudolf Wicker: "Mbya, Pai-Tavytera und Chiripa in Ostparaguay. Zur Guarani-Sammlung A.N. Schuster im Bernischen Historischen Museum", in: Jahrbuch des Bernischen Historischen Museums (Bern) 1981/82, S. 99-208 ders.: "Subsistenzorientierte Entwicklung am Beispiel der Pai-Tavytera in Ostparaguay", in: Annemarie Seiler-Baldinger (Hg.): Unter dem Kreuz des Südens. Neue Schweizer ethnologische Forschungen in Südamerika. (Bern) 1988, S. 157-184 Robert Wildhaber/Valentin Jaquet: Lateinamerikanische Brauchtums. Basel 1965
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Objekte
des
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Kolonisation
Rückvon
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de la naturaleza
en el
pensamiento
José F. Zavala: El Coyote y la Serpiente. Ensayo de una Interpretación de un Cuento Mexicano. Durango 1973
Psicológica
ders.: Die psychische Entwicklung in altmexikanischer Symbolik, dargestellt an einem altmexikanischen Gesang im Lichte der Psychologie C.G. Jungs. Stuttgart 1977 ders.: "Quelques aspects de la synchronicité en relation avec le calendrier divinat o l e mexicain Tonalamatl", in: Science et Conscience. Les deux lectures de l'univers. Paris 1980 ders.: "Einige Aspekte der Synchronizität anhand des mexikanischen, divinatorischen Kalenders «Tonalamatl»", in: Bulletin de la Société suisse des América-
Vorkoloniale
Geschichte
und Ethnologie
Lateinamerikas
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Marie-
ders.: "Psychologische Betrachtungen über das religiöse Leben Altmexikos", in: Beiträge zur Jung'schen Psychologie, Festschrift zum 75. Geburtstag von MarieLouise von Franz. Valencia 1990 ders.: Psychologische Lehren aus der mexikanischen Geschichte. Der Untergang Mexikos im Lichte der Analythischen Psychologie C.G. Jungs. Zürich (im Druck) Rudolf Zeller: "Beiträge zur Ethnographie der Feuerländer", in: Jahresbericht die ethnographische Sammlung in Bern pro 1908. Bern 1909 ders.: "Uber Keramik aus Kolumbien", in: Jahrbuch Museums (Bern) 1914, S. 12-15
des Bernischen
über
Historischen
ders.: "Beiträge zur Ethnographie de Cainguas, Lenguas und Tobas in Paraguay", in: Jahrbuch des Bernischen Historischen Museums (Bern) 1930, S. 23-37 Jean Ziegler: "Une Anthropologie de la mort: le 'tambor de choro' du Maragnan", in: Cahiers internationaux de sociologie, Jg. 21, Bd. 57 1974, S. 297-310 Volkmar Ziegler: Yanomami de la rivière du miel. (Film) 1984, 56' ders.: Eté indien à Genève. Peuples indigènes des Amériques (Film) Genève 1986, 52'
aux Nations
Unies.
ders.: Yanomami au temps de l'or. (Film) (in Vorbereitung), 50' Peter Zihlmann: "El municipio de Orica" - wirtschaftliche Aspekte im Leben der Bewohner einer ruralen Gemeinde Uz. Zürich 1991
und soziopolitische in Zentralhonduras.
Enrico Zoppelli: Bauern- oder Lohnarbeiter auf eigenem Boden. Wirtschaftlicher Wandel und soziale Differenzierung in einem mexikanischen Bauerndorf. Liz. Zürich 1985
126
Markus Baumann/Peter
Gneist
Jürg Zürcher: Ein afro-brasilianischer Kampf-Tanz als Technik der Lebensbewältigung. Liz. Zürich 1989 Hugo Zumbühl: "Die Bandweberinnen von Viques, Peru", in: Annemarie SeilerBaldinger (Hg.): Unter dem Kreuz des Südens. Neue Schweizer ethnologische Forschungen in Südamerika. (Bern) 1988, S. 15-52 José Zurrón: 'Rewe' bei den Araukanern. Eine begriffsgeschichtliche Liz. Freiburg (CH) 1973
Untersuchung.
Die historische
Lateinamerikaforschung
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Walther L. Bernecker/Markus Glatz/Linda Shepard
Die historische Lateinamerikaforschung Die historische Lateinamerikaforschung kam in der Schweiz - sieht man von gewissen, eher marginalen Vorläufern ab - erst in den 1960er Jahren auf; auch heute noch ist sie nirgends institutionalisiert. Zwar wird am Lehrstuhl für Geschichte der ETH Zürich (Hans Werner Tobler) und (bis 1992) am Lehrstuhl für Neue Geschichte der Universität Bern (Walther L. Bernecker) schwerpunktmäßig Forschung zu Lateinamerika betrieben; die jeweiligen Lehrstuhlbezeichnungen sind aber allgemein gehalten, und ihre Inhaber setzen in der Lehre auch andere Schwerpunkte. Rudolf von Albertini behandelte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Zürich mitunter ebenfalls lateinamerikanische Themen; dort hat in der Frühen Neuzeit auch Urs Bitterli einen Schwerpunkt in lateinamerikanischer Geschichte. Die fehlende Institutionalisierung des Teilfaches lateinamerikanische Geschichte spiegelt sich in der historischen Lateinamerikaforschung der Schweiz deutlich wider: Bisher lassen sich weder deutliche Schulen oder geographische Schwerpunkte noch dominierende Forschungstrends oder methodisch eindeutig definierte Ausrichtungen erkennen. Vielmehr dominiert eine gewisse Heterogenität, wobei häufig auch fließende Ubergänge zu Nachbardisziplinen wie Ethnologie, Wirtschaftswissenschaften oder Religion zu konstatieren sind. 1 Bei einer synthetisierenden Darstellung kann allenfalls auf zwei Bereiche verwiesen werden, über die verstärkt gearbeitet worden ist: Der eine ist die schweizerische Auswanderung nach Lateinamerika - hierauf wird weiter unten ausführlicher eingegangen -, der andere betrifft die Wirtschaftsbeziehungen und die schweizerischen Finanzinvestitionen. Die meisten dieser Titel werden im Beitrag über Wirtschaft aufgeführt; einleitend (und sehr kursorisch) seien lediglich folgende Aspekte hervorgehoben: Im Hinblick auf Investitionen sind Mexiko und Brasilien die wichtigsten Länder; in Kolumbien ist es relativ spät und auch dann nur in begrenztem Umfang zu 1
Bei der Suche nach bestimmten historischen Titeln empfiehlt es sich daher, auch die Bibliographien der übrigen Beiträge dieses Sammelbandes zu konsultieren.
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schweizerischen Investitionen gekommen. Läßt man einmal die lateinamerikanischen Darlehen auf dem schweizerischen Geldmarkt außer Betracht, so beginnen die Investitionen von schweizerischem Kapital in großem Umfang in den Zwischenkriegsjahren, vor allem durch die Gründung lateinamerikanischer Filialen großer schweizerischer Unternehmen. Zumeist wurde eine unabhängige Agentur eingerichtet, sodann entstand daraus eine Handelsorganisation des eigenen Unternehmens, schließlich ging man zur Produktion selbst über. Von den schweizerischen Investitionen der Zwischenkriegszeit verdienen vor allem die Unternehmen Compañía Italo-Argentina de Electricidad und Lima Light and Power Company Erwähnung, die beide von Motor-Columbus kontrolliert wurden. Zur gleichen Zeit gründete Nestlé seine ersten Produktionsunternehmen in Lateinamerika: 1921 in Brasilien, 1927 in Argentinien und auf Kuba, 1930 in Mexiko. Auch die Gründung von lateinamerikanischen Filialen der schweizerischen Chemieindustrie (Hoffmann-La Roche, Sandoz, Ciba-Geigy) fand in der Zwischenkriegszeit statt. Diese Filialen hatten am Anfang vor allem den Charakter von Verkaufsgesellschaften; erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zu größeren lokalen Produktionsunternehmen. Ahnlich entwickelten sich die Filialen der Maschinenindustrie (BBC, Sulzer u.a.). Was die direkten schweizerischen Investitionen in Lateinamerika betrifft, so hat sich vor allem deren Umfang nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere in den 50er und 60er Jahren vergrößert. Das investierte Schweizerkapital nahm von 286 Millionen sFr im Jahr 1949 auf über eine Milliarde im Jahr 1959 und auf fast 2,2 Milliarden im Jahr 1969 zu. 60% der schweizerischen Privatinvestitionen in Entwicklungsländer gingen im Jahr 1969 nach Lateinamerika. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die schweizerische (temporäre) Auswanderung nach Lateinamerika: Während es im 19. Jahrhundert vor allem Auswanderer aus dem ländlichen Bereich waren, sind es im 20. Jahrhundert Auswanderer, die man qualifizierte Spezialisten in technischen, Verwaltungs- oder Wirtschaftsbereichen nennen kann. Diese Ingenieure, Geologen oder Wirtschaftler übten wichtige Leitungsfunktionen in internationalen Betrieben, ebenso wie in schweizerischen Unternehmen aus. Mitunter ist es diesen Auswanderern gelungen, entweder eigene Betriebe zu errichten oder die Vertretungen, die man ihnen übertragen hatte, zu Handelsbetrieben umzuwandeln. Allerdings müßte man mehr von Managern als von Unternehmern im engeren Sinne des Wortes sprechen. Der eigentliche Beitrag der Schweiz zur Industrialisierung Lateinamerikas im 20. Jahrhundert ist weniger auf Unternehmerimpulse von Schweizern als auf den
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Lateinamerikaforschung
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wachsenden Transfer von schweizerischem Kapital nach Lateinamerika zurückzuführen.
Bibliographien
und
Zeitschriften
Die für den Bereich Geschichte maßgeblichste Bibliographie schweizerischer Lateinamerikanistik haben Andre Herrmann und Gustav Siebenmann 1987 in der Zeitschrift Iberoromania unter dem Titel "Verzeichnis der Spanien, Portugal und Lateinamerika betreffenden Schweizer Hochschulschriften aus dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften (1897-1977)" zusammengestellt. Es existieren noch einzelne themenspezifische Bibliographien, wovon diejenige über die Arbeiterbewegung in Lateinamerika besonders ausführlich ist. Das Bibliotheksverzeichnis des Lateinamerikanischen Instituts der Hochschule St. Gallen ist für wirtschaftswissenschaftliche ebenso wie für wirtschaftsgeschichtliche Forschungsarbeiten von Bedeutung. Im Zeitschriftenbereich gibt es in der Schweiz keine rein historisch ausgerichtete Publikation. Die beiden Lausanner Zeitschriften Condor und Cahiers latino-américains behandeln jedoch auch historische Themen. Die Zeitschrift Condor, die seit 1985 erscheint, will die lateinamerikanische Kultur einem breiteren Publikum in der Schweiz bekannt machen. Die Cahiers latino-américains erscheinen erst seit Anfang der 90er Jahre; sie publizieren unterschiedliche Artikel aus dem Bereich der schweizerischen Lateinamerikaforschung, die sich in erster Linie an einen akademischen Leserkreis richten. Die Lateinamerika-Nachrichten, das Publikationsorgan des Lateinamerikanischen Instituts an der Hochschule St. Gallen, legen das Schwergewicht auf wirtschaftliche Fragestellungen.
Die Anfänge der
Lateinamerikanistik
Von den älteren Werken (bis 1945) ist als chronologisch erstes das Buch von Johann Rudolf Rengger und M. Longchamp aus dem Jahre 1827 zu nennen. Es ist eine Mischung aus Reisebericht und historischer Untersuchung, das die "Revolution" von Paraguay und die nachfolgende diktatorische Regierung Francias beschreibt. Erst dreißig Jahre später erschien als zweite historische Abhandlung eine Interpretation der Geschichte Perus im
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GlatzJLinda Shepard
16. Jahrhundert von Paul Chaix. Er geht bis in die Zeit vor der Ankunft der Spanier zurück und beschreibt sodann die "Entdeckung" und Eroberung Perus sowie die ersten Jahre spanischer Herrschaft. Wieder dreißig Jahre später erschienen die Werke von Paul Biolley und Theodor Jankoff. Letzterer machte 1890 mit seiner Analyse der europäischen Intervention in Mexiko und der Krönung Erzherzog Maximilians von Habsburg zum mexikanischen Kaiser den Anfang einer Reihe früher Berner Dissertationen. Es folgten die Studien von Konrad Erb (1906), Jakob Schefer (1915), Walter Arni (1918) und Walter Schwab (1927). Diese Dissertationen untersuchten in chronologischer Reihenfolge die Behandlung der "Indier" während der ersten siebzig Jahre spanischer Herrschaft, den Reisebericht von Thomas Gage als Beitrag zur Geschichte der spanischen Kolonisation, die Kolonisation Guyanas durch die Niederländer und die Konflikte mit Brasilien im 16. Jahrhundert sowie die Beziehungen Großbritanniens zu den spanischen Kolonien in der Phase der Unabhängigkeitskämpfe (1815-1826). Die einzige Westschweizer Dissertation zu einem lateinamerikanischen Thema aus der Zeit vor 1960 stammt von Alfred Wielopolski. Generell sind Arbeiten zu Lateinamerika aus der französischsprachigen Schweiz aus dieser frühen Periode noch rarer als solche aus der Deutschschweiz. 1952 reichte Werner Uhrenbacher in Basel eine Dissertation zum Wandel Argentiniens zum Industriestaat ein. In der Zeitspanne zwischem dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg finden sich (mit Ausnahme der zwanzig Jahre zwischen 1938 und 1957) fast jährlich ein bis zwei Werke aus Schweizerfeder, die historiographischen Kriterien mehr oder minder gerecht werden. Unter regionalen bzw. themenspezifischen Gesichtspunkten läßt sich festhalten, daß die meisten Studien zu Brasilien 2 , Argentinien 3 und Paraguay 4 verfaßt wurden. Mehrere Arbeiten betrafen auch Mexiko, Panama, Surinam, Bolivien, Chile und die Antillen. Thematisch überwogen bei weitem missionsgeschichtliche Untersuchungen. 5 Auch die Versklavung von Indianern und Schwarzen sowie die Beziehungen der Vereinten Nationen zu Lateinamerika wurden untersucht. Ein 2
W. Arni (1918), O. Reverdin (Diss. Bern 1957), P. Mongour ( 2 1957), M. Frosch (1958).
3
E. Alemann (1915), W. Uhrenbacher (Diss. Staatswiss. Basel 1952) und E.F. Steuss de Studer (1958).
4
J.R. Rengger/M. Longchamp (1827), H. Sandelmann (1936) und C. Lugon (1949).
5
F. Staehelin (1813/1914) und W.R. Vouillaire (1926) befaßten sich mit den Missionen in Surinam im 18. Jh., C. Lugon (1949) behandelte die Republik der Guarani (Jesuitenrepublik in Paraguay), und O. Reverdin (Diss. Bern 1957) untersuchte eine Mission im Brasilien des 16. Jhs.
Die historische
Lateinamerikaforschung
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etwas ausgefalleneres Thema bildete die Musikgeschichte Lateinamerikas von José Subirâ und Antoine-Elisée Cherbuliez (1957).
Die Entwicklung der
Lateinamerikanistik
In den siebziger Jahren bemerkt man auch in der historischen Lateinamerikaforschung der Schweiz einen starken Einfluß der Dependenztheorien. Armin Bollinger verfaßte mehrere dependenztheoretisch orientierte Schriften zur brasilianischen Sklavenbefreiung sowie zur Dekolonisation und zum Übergang in eine erneute, jedoch anders geartete Abhängigkeit. Methodisch ebenso orientiert, analysierte unter anderen 6 auch Tim Guldimann 1975 Lateinamerikas Entwicklung zur Unterentwicklung. Pius Betscharts Arbeit untersuchte 1984 die schweizerische Anerkennung des revolutionären Mexiko im Zusammenhang mit privaten Wirtschaftsinteressen. Generell kann man sagen, daß in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftshistorische Ansätze und Fragen zur Entwicklungsproblematik zunehmend wichtig geworden sind. Anfang der siebziger Jahre fällt ein besonderes Interesse für Guerrillabewegungen 7 auf. In den achtziger Jahren folgten Studien von Théo Buss (1982) und Silvia Rivera (1982) zu Bolivien. Außerdem wurden mehrere Arbeiten publiziert, die nicht nur einzelne lateinamerikanische Staaten, sondern spezifische Aspekte des Kontinents insgesamt zum Thema hatten. 8 Als Beispiele können die von Theo Ginsburg und Monika Osterheider herausgegebenen Sammelbände dienen.
Zur universitären
Lateinamerikanistik
Hans Werner Tobler (ETH Zürich) war der erste schweizerische Lehrstuhlinhaber, dessen Forschungen sich auf Lateinamerika konzentrierten. Seit den 70er Jahren publizierte er mehrere Monographien sowie eine Reihe von Artikeln. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt in der mexikanischen Geschichte der Neuzeit. Seine Studie über die mexikanische Revolution gilt, 6
E. Rauch/H. Stetter( 1975).
7 A. Max (21971 ). 8
O. Fals-Borda (1970/1971); A. Max ( 2 1971); A. Fischer (1979); G. Siebenmann (1979); G. Oberholzer (1983); R. Rey (1983); P. Furter (1988).
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auch im internationalen Vergleich, als Standardwerk. Auch in weiteren Arbeiten widmet er dem gesellschaftlichen und politischen Wandel in den ersten Jahren nach der mexikanischen Revolution sowie der 'Institutionalisierung' der Revolution und der Agrarreform besondere Aufmerksamkeit. Neuerdings hat sich Tobler der Frage zugewandt, inwiefern die zentralamerikanischen Diktaturen der 1930er Jahre als 'Depressionsdiktaturen' bezeichnet werden können, die sich auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise zurückführen lassen. 9 Urs Bitterli, der an der Universität Zürich Kolonialgeschichte lehrt, hat intensiv die verschiedenen Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert untersucht. Der Kontakt der Kulturen wird von Bitterli auf drei Grundformen zurückgeführt: auf Berührung, Zusammenstoß und Beziehung. Früher schon hat sich der Zürcher Historiker mit geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen des europäischen Kolonialismus beschäftigt, neuerdings hat er ein synthetisierendes Werk über die europäischen Entdeckungs-, Eroberungs- und Erkundungsreisen in die 'Neue Welt' vorgelegt. Jörg Fisch (Universität Zürich) behandelt Lateinamerika im Zusammenhang mit der europäischen Expansion sowie die völkerrechtlichen Aspekte des Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In den achtziger Jahren wurde in Zürich eine ganze Reihe von Lizentiatsarbeiten verfaßt. Die meisten entstanden unter der Betreuung Hans Werner Toblers, dessen eigene Forschungsinteressen in der Themenwahl zum Tragen kommen. Fast die Hälfte der Arbeiten handelt von einem Thema, das mit der Geschichte Mexikos um die Jahrhundertwende zusammenhängt. Am zweithäufigsten wurde Brasilien als Untersuchungsland gewählt. Mehrere Autoren gehen auf Probleme der Agrarreform ein. Eine empirisch ebenso wie theoretisch angelegte Arbeit lieferte 1990 Jan Suter, der versuchte, Toblers Kritik am überlieferten Modell der Depressionsdiktatur für die Beurteilung des Trujillo-Regimes in der Dominikanischen Republik heranzuziehen. In seiner Dissertation untersucht Jan Suter die strukturellen Bedingungen, die in El Salvador zur Ablösung einer oligarchisch-konstitutionellen Regierung durch die Militärdiktatur Hernández-Martínez führten (1932) und analysiert in der Folge dessen zwölf Jahre andauernde "Depressionsdiktatur". An der Universität Bern hat in den sechziger Jahren Angela Maria Hauser-Dora Lateinamerika in ihrer Dissertation einen nennenswerten Platz eingeräumt; ihre Studie wurde 1986 unter dem Titel "Die wirtschaftlichen 9
Vgl. seinen Beitrag in H.W. Tobler/P. Waldmann (1991).
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Lateinamerikaforschung
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und handelspolitischen Beziehungen der Schweiz zu überseeischen Gebieten 1873-1913. Unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung" publiziert. 1988 wurde Walther L. Bernecker auf den Lehrstuhl für Neue Geschichte an der Universität Bern berufen. Berneckers Forschungsschwerpunkt liegt in der mexikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei den europäisch-mexikanischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Er untersucht die Art, in der Mexiko nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit in die Weltwirtschaft integriert wurde; sein Hauptinteresse gilt der Frage, wie Mexiko im 19. Jahrhundert in ökonomische Abhängigkeit von den Nordatlantikstaaten geriet. Neuerdings hat Bernecker, in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern und Kollegen, zwei neue Publikationen vorgelegt: zum einen einen Sammelband über Schweizer Rüstungsexporte nach Lateinamerika im 20. Jahrhundert, zum anderen eine Ubersicht über Akten zu Lateinamerika im Schweizerischen Bundesarchiv. Unter der Betreuung Berneckers werden zur Zeit mehrere Dissertationen angefertigt: Thomas Fischer untersucht die Weltmarktintegration Kolumbiens und die europäischen Interessen in der dortigen Region Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Markus Glatz beschäftigt sich mit der schweizerischen Auswanderung nach Argentinien, insbesondere nach Misiones, im 20. Jahrhundert. Die sozialen und politischen Folgen hoher anhaltender Inflation in Argentinien während der Regierungszeit von Raul Alfonsin werden von Antonio Sommavilla analysiert. Rolf Widmer behandelt den strukturellen Wandel der Gesellschaft der mexikanischen Tieflandregionen Costa Chica und Costa de Sotavento im Rahmen der wirtschaftlichen Expansion des 18. Jahrhunderts. Peter Fleer untersucht, im Anschluß an seine Lizentiatsarbeit, Arbeitsmarktprobleme in Guatemala in Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Die Themen für Lizentiatsarbeiten am Berner Lehrstuhl wurden im Bereich der neuesten Geschichte zu Kuba, Guatemala und Peru gewählt. An der Universität Genf sind die Themen der zu Lateinamerika verfaßten Arbeiten wegen der Ausrichtung der dortigen Universitätsinstitute eher politologisch als historisch orientiert. Die meisten dieser Studien entstanden am Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) und am Institut universitaire d'études de développement (IUED). Vereinzelt wurden Arbeiten auch an der Universität selbst verfaßt; bis vor kurzem gab es an keinem dieser Institute einen Lateinamerika-Schwerpunkt. Mit Ricardo Antonio Silva Seitenfus ist neuerdings ein Lateinamerikanist am IUHEI angestellt. Daß an diesem Institut schon früher immer wieder Arbeiten zu Lateinamerika verfaßt wurden, liegt u.a. an der hohen Anzahl latein- und
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nordamerikanischer Studenten, die diesen Themen ein besonderes Interesse entgegenbringen. Stark wirtschaftsgeschichtlich orientiert sind das Werk von Paul Bairoch und Bouda Etamad (1985) sowie die Beiträge von Jean Batou. Dieser lieferte 1990 und 1991 anregende Darstellungen der Industrialisierungsversuche in der Peripherie zwischen 1800 und 1870; im lateinamerikanischen Fall geht er vor allem auf das Verhältnis Staat-Wirtschaft ein. Relativ erfolgreich waren die Industrialisierungsversuche dort, wo eine staatlich dirigierte Wirtschaftsentwicklung auf eine dynamische Elite stieß (Paraguay), während bei Vorhandensein starker alter Oligarchien die Reformen "von oben" zumeist scheiterten (Brasilien). In den siebziger und achtziger Jahren wurden in Genf relativ viele Dissertationen zu lateinamerikanischen Fragestellungen eingereicht, vor allem zu Kuba und Brasilien. Verwiesen sei u.a. auf die Studie von Jeffrey Harrod (1970) zum Einfluß der britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften auf die Außenpolitik Jamaikas, auf die im selben Jahr erschienene Dissertation Arnold Ebels über die Beziehungen des Dritten Reiches zu Argentinien in den Jahren 1933-1939, auf die Dissertation von Silva Seitenfus zur Blockbildung in Brasilien unter Getulio Vargas und zum Eingreifen Brasiliens in den Zweiten Weltkrieg sowie auf die beiden Arbeiten von Frank Taylor (1981) und Roger Reed (1989) zu kubanischen Fragen. An den übrigen Westschweizer Universitäten in Lausanne, Freiburg und Neuenburg wurden nur vereinzelt Lizentiatsarbeiten zu Lateinamerika geschrieben, alle mit Themen aus dem 20. Jahrhundert. Die einzige Dissertation stammt (aus Lausanne) von Maurice Satineau (1985) und handelt von den Wahlen auf den französischen Antillen bzw. der nachfolgenden Rache aus dem nationalistischen Lager. Im Bereich der Kirchengeschichte ist vor allem auf Jean-Pierre Bastian zu verweisen, der sich schwerpunktmäßig mit dem Protestantismus in Lateinamerika, besonders in Mexiko, von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart beschäftigt hat. Bastians Werke werden im Beitrag von J. Baumgartner zur Theologie vorgestellt. Von den zahlreichen weiteren Publikationen im Bereich der Kirchengeschichte seien noch Theo Tschuys Untersuchung zum kubanischen Protestantismus und Gérard Stauffers Analyse der Befreiungstheologie im Zusammenhang mit der Baptistenkirche in Brasilien erwähnt. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß regionale, thematische oder zeitliche Schwerpunkte in der historischen Lateinamerikaforschung der Schweiz nur schwer auszumachen sind. Auffällig ist allenfalls, daß sich sowohl Tobler als auch Bernecker, die als einzige schwerpunktmäßig Lateinameri-
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Lateinamerikaforschung
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kaforschung im universitären Bereich betreiben, auf Mexiko konzentrieren ersterer mehr auf das 20., letzterer mehr auf das 19. Jahrhundert. Die bei ihnen verfaßten Dissertationen und Lizentiatsarbeiten lassen einen klaren Trend zu neuerer und neuester Geschichte erkennen. Seit einiger Zeit arbeiten beide an einem deutschsprachigen Handbuch zur Geschichte Lateinamerikas mit, dessen dritten Band - der dem 20. Jahrhundert gewidmet ist - sie herausgeben. Die lateinamerikanische Kolonialgeschichte wird in der Schweiz nur von Urs Bitterli vertreten. Häufig erscheint die Themenwahl durch die in Europa politisch diskutierten Fragen beeinflußt. So waren etwa Kuba, Nicaragua, Chile oder Argentinien bei Lizentiatsarbeiten überdurchschnittlich oft gewählte Staaten. Vergleichende Studien zwischen lateinamerikanischen Ländern oder zwischen Entwicklungsländern wurden sehr selten angefertigt. Dagegen wurden aufgrund der einfacheren Quellenlage vorzugsweise Themen bearbeitet, die irgendeine Art von Beziehung zwischen Europa und Lateinamerika zum Gegenstand haben. Relativ viele Arbeiten liegen im Grenzbereich von Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaften. Die bisherigen Ausführungen lassen es gerechtfertigt erscheinen, zwei regionalen Schwerpunkten, deren Erforschung vor allem von Zürich aus betreut wurde und wird, gesonderte Einschübe zu widmen: Mexiko und Zentralamerika/Karibik. Mexiko Mehrere bei Hans Werner Tobler verfaßte Arbeiten sind der Entwicklung Mexikos, vornehmlich im 20. Jahrhundert, gewidmet. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Agrargeschichte, wobei vor allem lokale und regionale Besonderheiten untersucht wurden. So behandelt die Dissertation von Walter Egli die Agrarentwicklung im Dorf San Pedro Amuzgos im Staate Oaxaca bis in die späten 1970er Jahre. Die Agrargeschichte eines anderen Dorfes im selben Staat, Santa Gertrudis, ist Gegenstand der Lizentiatsarbeit von Thomas Wüthrich. Die Entwicklung von Agrarpolitik und Agrarstruktur in der Zeit vor den cardenistischen Reformen wird in der Lizentiatsarbeit von Reinhard Gasser herausgearbeitet. Neben der mexikanischen Agrargeschichte wurden u.a. folgende Themen durch Lizentiatsarbeiten behandelt: die vielfältigen Probleme bei der diplomatischen Anerkennung des revolutionären Mexiko durch die Schweiz (Pius Betschart), die Haltung des Instituto Nacional Indigenista gegenüber den mexikanischen Indios (Christiane Derrer) sowie die Probleme des Baus und
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Betriebs einer mexikanischen Eisenbahnlinie von Mexiko nach Oaxaca im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Rahmen des ausschließlich auf Archivquellen beruhenden aufschlußreichen Forschungsbeitrages von Reto Zimmermann. Zentralamerika/Karibik
in den 30er und frühen 40er Jahren
Einige Arbeiten befassen sich mit den autoritären Regimes der 30er und 40er Jahre in Zentralamerika und der Karibik. Dabei wird u.a. die Frage aufgegriffen, ob und wie weit diese Regimes als Ausfluß der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre zu verstehen seien. Stefan Karlen hat - zunächst in seiner Lizentiatsarbeit, dann in seiner umfangreichen und quellenmäßig breit abgestützten Dissertation - die Entwicklung Guatemalas unter Ubico (1931-1944) dargestellt. Michel Gobat hat die Entstehung des zentralen Herrschaftsinstruments des Somoza-Regimes, der Guardia Nacional, in Nicaragua untersucht, und Jan Suter hat die zeitgleiche Entstehung des Trujillo-Regimes in der Dominikanischen Republik zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht.
Die
Migrationsforschung
Ein beträchtlicher Teil der schweizerischen Geschichtsforschung zu Lateinamerika beschäftigt sich mit dem Themenkomplex Migration. Die schweizerische Auswanderung in den iberischen Kulturkreis des amerikanischen Kontinents nahm hinsichtlich ihrer Quantität und Qualität seit Mitte des letzten Jahrhunderts den zweiten Platz hinter der in die nordamerikanischen Länder USA und Kanada und noch vor der Rußland-Auswanderung ein. Zur Historiographie über die schweizerische Wanderungforschung nach Lateinamerika liegen drei in Inhalt und Methode weitgehend ähnliche Berichte vor. Der erste mit dem Titel "L'Emigration suisse en Amérique latine (1815-1939). Un essai bibliographique" erschien 1975; er stammt aus der Feder von Martin Nicoulin und Béatrice Ziegler-Witschi. Er umfaßt, nach thematischen Schwerpunkten geordnet und in Länder unterteilt, eine Liste von knapp 400 Titeln, wobei sowohl Werbebroschüren und edierte Tagebücher von schweizerischen Auswanderern als auch die für die Auswanderungsforschung wichtigen Monographien und Aufsätze aufgeführt werden. Neben der Vorstellung der Hauptforschungsgebiete und dem Hin-
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weis auf verschiedene Statistiken wird erstmals ein ausführliches Inventar über die ungedruckten Quellen präsentiert, die in verschiedenen schweizerischen Archiven liegen. Vier Jahre später erschien ein in spanischer Sprache geschriebener Artikel mit ähnlichem Inhalt. Der von Gérald Arlettaz und anderen verfaßte Aufsatz trägt den Titel: "Emigración europea a América Latina: Suiza"; er wurde im Sammelband La emigración europea a América Latina veröffentlicht. Erneut wird auf die günstige Quellenlage in den schweizerischen Archiven hingewiesen, diese werden detailliert vorgestellt. Des weiteren kommentieren die Autoren die in der Schweiz erschienene Literatur zu den einzelnen lateinamerikanischen Empfängerstaaten. Der dritte, von Klaus Anderegg u.a. verfaßte Beitrag mit dem Titel "Zu Stand und Aufgaben schweizerischer historischer Wanderungsforschung", der auch einen Lateinamerikateil aufweist, erschien 1987 in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte. Vorgestellt werden die seit Anfang der 80er Jahre vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Regionalprojekte "Auswanderung aus der Schweiz nach Rußland und Südamerika" unter der Leitung der beiden Zürcher Historiker Carsten Goerke und Hans Werner Tobler. Neben der Historiographie kommt in diesem Beitrag die Methodik der schweizerischen Wanderungsforschung ausführlich zur Sprache; es wird auch auf Techniken der Quellenerschließung wie die Auswertung von Presseerzeugnissen, den Einsatz der "Oral History" oder auf die Möglichkeiten computertechnischer Verwertung von statistischem Quellenmaterial hingewiesen. Ein für die Auswanderungsforschung besonders wichtiges, Handbuchcharakter aufweisendes Gesamtwerk zur schweizerischen Emigration der Neuzeit verfaßte der heute in den USA lehrende Historiker Leo Schelbert. In seiner Überblicksdarstellung, in der die Überseewanderung (v.a. nach Nordund Südamerika) einen großen Teil ausmacht, wird auf Forschungsschwerpunkte und -desiderate hingewiesen. Ein Teil der Forschungsdefizite dürfte inzwischen behoben sein. Archive und Quellen zur
Lateinamerika-Auswanderung
Die bisherigen Arbeiten zur Auswanderung nach Lateinamerika wurden einerseits auf der Basis der in der Schweiz vorhandenen Quellen angefertigt, d.h. mit Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs in Bern, der verschiedenen Kantons- und Gemeindearchive sowie des Wirtschaftsarchivs Basel. Andererseits wurden im letzten Jahrzehnt vermehrt auch öffentliche und private Quellenbestände des jeweiligen Empfängerstaates (v.a. Brasi-
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lien) berücksichtigt. Die Kantons- und Gemeindearchive verfügen über den größten Quellenfundus für Historiker. Bis 1888 war die Auswanderung Kantons- und Gemeindeangelegenheit; erst danach wurde sie zur Bundessache. In den Staatsarchiven der jeweiligen Auswanderungskantone finden sich deshalb auch die ersten ausführlichen Konsularberichte aus Lateinamerika zur dortigen Situation der schweizerischen Einwanderer. In den Gemeindearchiven lagern Listen, die Aufschluß über die Anzahl der Auswanderer und ihre soziale Stellung zum Zeitpunkt der Emigration geben, ebenso wie Briefe von hilfesuchenden, in Finanznot geratenen Schweizern aus Lateinamerika, die in ihrer alten Heimatgemeinde um Geld nachsuchten. Nach der Zentralisierung des Auswanderungswesens 1888 trafen die Geschäftsberichte der Konsulate und der ersten Gesandtschaften in Lateinamerika ausschließlich im Eidgenössischen Politischen Departement (EPD) in Bern ein. Es handelt sich vorwiegend um Informationen über die Situation der schweizerischen Kolonisten im jeweiligen Aufnahmeland und über die Maßnahmen der dortigen schweizerischen Vertretungen. Die Dokumente sind im Bundesarchiv nach Ländern geordnet und zugänglich. Auch über die vielen privaten Auswanderungsagenturen und das Eidgenössische Auswanderungsamt, das in Zusammenhang mit der Bundeszentralisierung des Wanderungswesens eröffnet worden war, finden sich im Bundesarchiv zahlreiche Quellen. Das Schriftgut des Auswanderungsamtes wurde in einem separaten Bestand archiviert. Zu den privaten Auswanderungsunternehmen gibt es eine ausführliche Dokumentation im Wirtschaftsarchiv Basel, wo Quellenbestände wichtiger Auswanderungsgesellschaften wie etwa Beck & Herzog, Sociedad suiza de Colonización Santa Fé oder von Colón, der Kolonisationsgesellschaft für Misiones, liegen. 10 Als wichtige sekundäre Quellengattung kann die schweizerische und deutsche Auslandspresse in den jeweiligen lateinamerikanischen Empfängerstaaten gelten. Mentalitäts- und kulturgeschichtliche Fragen in Zusammenhang mit Akkulturations- und Assimilationsproblemen der schweizerischen Immigranten in Lateinamerika wurden anhand der deutschsprachigen
10 Vgl. Berthold Wessendorf: "Fuentes relativas a la emigración a América Latina en el Archivo Estatal y en los archivos comunales del cantón de Argovia"; Gérald Arlettaz: "Documentación de los Archivos Federales relativa a la emigración suiza a América Latina (antes de 1914)"; Béatrice Ziegler-Witschi: "Informe sobre las fuentes en el Archivo Económico Suizo". Alle Artikel in: G. Arlettaz u.a. (1979), S. 197-212.
Die historische Lateinamerikaforschung
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Presse im Aufnahmeland u.a. in den Untersuchungen von Zita Motschi und Béatrice Ziegler-Witschi diskutiert. 11
Regionale
Schwerpunkte
Zeitlich konzentriert sich die schweizerische Forschung zur Auswanderung nach Lateinamerika, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf das 19. Jahrhundert, geographisch auf die Cono-Sur-Region sowie auf Brasilien. Diese Regionen wiesen als Folge der rascher erfolgten ökonomischen Integration in den Weltmarkt und ihrer wegen geringer Bevölkerungsdichte hohen Aufnahmekapazität einen größeren "Pull-Faktor" als die restlichen lateinamerikanischen Staaten auf. Bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts erschienen erste Texte zur Auswanderung nach Lateinamerika in Form von gedruckten Tagebüchern, Reisebeschreibungen oder Werbebroschüren. Zahlreiche schweizerische Periodika oder Bulletins privater Auswanderungsgesellschaften, seit 1888 auch der Eidgenössischen Auswanderungsagentur wurden herausgegeben und erfreuten sich bald einer regen Leserschaft. 12 Diese an ein breites Leserpublikum gerichtete Literatur war mehr als Propaganda für auswanderungswillige Schweizerinnen und Schweizer gedacht als daß sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit für sich beansprucht hätte. Bahnbrechend für die geschichtswissenschaftlich orientierte Wanderungsforschung in bezug auf Lateinamerika war die Dissertation von Karl Zbinden aus dem Jahre 1931 zur schweizerischen Auswanderung nach Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay, die wegen ihres komparatistischen Ansatzes für die damalige Auswanderungsforschung der Schweiz wissenschaftliches Neuland betrat, wenn sie inzwischen auch inhaltlich und methodisch längst überholt ist. Die vier von Zbinden untersuchten Länder eignen sich für Forschungszwecke besonders gut, weil sie zusammen mit der ältesten schweizerischen Auswanderungsdestination auf dem iberoamerikanischen 11 Vgl. Z. Motschi (1982); Béatrice Ziegler-Witschi: "Schaffhauser Auswanderer in Joinville, Brasilien", in: Schaffhauser Beiträge fir Geschichte, 60, 1983, S. 138-168. Die wissenschaftliche Debatte zur Akkulturationsproblematik von schweizerischen Einwanderern in Lateinamerika wurde 1965 durch Jürg Müller mit seiner Zürcher Dissertation eröffnet. J. Müller (1965). 12 Als Pionier in Sachen Wegleitung für auswanderungswillige Schweizer nach Lateinamerika gilt der frühere Berner Großrat und spätere Argentinien-Emigrant Hans Alemann, der bereits vor dem von ihm 1889 erstmals herausgegebenen Argentinischen Tageblatt, der ersten deutschsprachigen Zeitung in Argentinien, mehrere Artikel zur Beurteilung der Auswanderung nach Argentinien verfaßt hatte.
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Kontinent, Brasilien, fast 90% der gesamten schweizerischen LateinamerikaAuswanderung aufnahmen. 13 Die eher strukturell und interdisziplinär angelegten Arbeiten zur schweizerischen Auswanderung nach Lateinamerika setzten in größerem Umfang erst in den letzten 25 Jahren ein. Die zeitlich weiter zurückliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen waren entweder aus Eigeninitiative erstellte Einzelstudien (wie die Zbindens) oder von der schweizerischen Regierung in Auftrag gegebene Fallstudien zur Auswanderung in bestimmte lateinamerikanische Regionen. Der seit den 60er Jahren steigenden Zahl regional und einzelstaatlich begrenzter Case Studies zur Emigration nach Lateinamerika steht eine geringe Zahl umfassender Gesamtanalysen der schweizerischen Emigration nach Lateinamerika gegenüber. Einen ersten Schritt zu einer derartigen Gesamtbetrachtung unternahm Thomas Fischer in seinem Aufsatz über die deutsche und schweizerische Emigration nach Lateinamerika 1819-1945. Er zeichnet dabei den schweizerischen Auswanderungsverlauf nach Lateinamerika in fünf Phasen nach und vermag die Unterschiede zur schweizerischen Nordamerika-Emigration im Hinblick auf Phasenverlauf, Intensität und Dauer nachzuzeichnen. 14 Methodisch läßt sich festhalten, daß die Ansätze und Fragestellungen zur schweizerischen Auswanderung im allgemeinen und nach Lateinamerika im besonderen zunehmend interdisziplinär wurden. Die Verbindung von sozialund wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten der Migrationsforschung und der Einbezug von Nachbardisziplinen wie Anthropologie und Soziologie eröffneten der Auswanderungs-Historiographie neue Perspektiven, etwa die Beschäftigung mit der Akkulturationsproblematik. Forschungen
zur
Brasilien-Auswanderung
Einer der ersten, der eine Gruppe von Schweizer Auswanderern nach Lateinamerika zu seinem Untersuchungsgegenstand machte, ist der Westschweizer Martin Nicoulin. Er kann als Initiator einer wirtschafts- und sozialgeschichtlich konzipierten Auswanderungs-Historiographie bezeichnet werden. Nicoulin verfaßte 1971, beeinflußt von der strukturalistischen Sorbonne-Schule des französischen Historikers Pierre Chaunu, eine Mikrostudie zur Genese Nova Friburgos in der Provinz Rio de Janeiro, der ersten, 1819 gegründeten schweizerischen Kolonie auf lateinamerikanischem 13 K. Zbinden (Diss. Affoltern a.A. 1931). 14 T.Fischer (1992).
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Lateinamerikaforschung
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Boden. Er analysierte die sog. Pws/i-Faktoren dieser ersten Emigrationswelle nach Brasilien (Hungersnot 1816/17, demographischer Druck). Die "Fünfte Schweiz", d.h. die Gründung schweizerischer 'Kolonien' außerhalb der Heimat, ist für Nicoulin das Resultat einer zunehmenden geographischen Mobilität der Gesellschaft, die sich infolge der Protoindustrialisierung, der langsamen Integration des schweizerischen Marktes in den vom Freihandel bestimmten Weltmarkt sowie der rasch steigenden Bevölkerungszahlen zunehmend mit veränderten ökonomischen Bedingungen konfrontiert sah. Bei Nicoulins Fallbeispiel Nova Friburgo waren es vor allem katholische Welschschweizer, die als Auswanderergruppe in der Provinz Rio de Janeiro eine Agrarkolonie aufzubauen versuchten. Das ökonomische Scheitern von Nova Friburgo wird von Nicoulin nicht zuletzt mit den im frühen 19. Jahrhundert noch besonders ausgeprägten Unterschieden im wirtschaftlichen und politischen Denken der Kolonisten bzw. der einheimischen Agraroligarchie erklärt. Trotz des gemeinsamen katholischen Glaubens von Geber- und Empfängergesellschaft ließ sich die geistige Diskrepanz zwischen dem von der Französischen Revolution geprägten, ökonomisch zunehmend von kapitalistischen Vorstellungen geleiteten "modernen" Denken der schweizerischen Immigranten und den traditionalen, von der Großgrundbesitzermentalität dominierten Intentionen der politischen Elite von Rio de Janeiro nicht überbrücken. Wegen der deutlichen Distanziertheit der schweizerischen Immigranten von der konservativen Kaffeepflanzer- und Agraroligarchie, die in der ersten Phase der Unabhängigkeit die brasilianische Politik und Wirtschaft besonders stark dominierte, standen die Erfolgsaussichten für eine weitere schweizerische Kolonisation in Brasilien lange Zeit schlecht. Nova Friburgo blieb bis zur Jahrhundertmitte die einzige schweizerische Kolonie von einiger Bedeutung in Lateinamerika. 15 Nicoulins Studie weckte das Interesse der Migrationsforscher. Bald sollten weitere Studien zur schweizerischen Brasilien-Auswanderung folgen, obwohl, quantitativ betrachtet, die Argentinien-Auswanderung in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert insgesamt eine größere Rolle als die brasilianische in den ersten 70 Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielte. Im Rahmen des weiter oben erwähnten Nationalfondsprojektes zur schweizerischen Rußland- und Ubersee-Emigration untersuchte Béatrice Ziegler-Witschi in ihrer Fallstudie aus dem Jahre 1985 unter dem Titel Schweizer statt Sklaven die Bedeutung der schweizerischen Einwanderer für die sog. parce/ra-Kolonisation in der Provinz Sâo Paulo, d.h. den von liberalen brasilianischen Politikern und Latifundisten induzierten Ubergang von der Sklavenwirtschaft mit Afro-Amerikanern zur Halbpacht mit schwei15 M. Nicoulin (1972).
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zerischen Lohnarbeitern auf den Kaffeeplantagen der Paulistas (1852-1866). Frau Ziegler leistete mit ihrer Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über den von den liberalen Kräften im Staat angestrebten Einsatz fremder Arbeitskräfte unter kapitalistischen Bedingungen; sie vermochte aufzuzeigen, daß dieser Einsatz letztlich nur eine partielle Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft Brasiliens zum Ziel hatte. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Debatte unter den politischen Bewegungen Brasiliens; auf der einen Seite standen die der Sklaverei verpflichteten Konservativen, die einer Anwerbung von Lohnarbeitskräften aus der Schweiz ablehnend gegenüberstanden, auf der anderen Seite die Liberalen, die einer modernen arbeitsteiligen Wirtschaftsform den Vorzug gaben und sich deshalb für bezahlte Arbeitskräfte in den Plantagen engagierten. Schließlich setzten sich zwar die Liberalen durch und eine dem Freihandel verpflichtete Wirtschaftsform wurde etabliert, doch die Anstellung von schweizerischen Arbeitskräften auf den Plantagen blieb insofern erfolglos, als die Kaffeeproduktion wegen der Arbeitsunlust der schweizerischen Kolonisten, die ihres faktischen Schuldknechtschaftdaseins bald überdrüssig wurden, nicht gesteigert werden konnte. 16 Zieglers Studie zum staatlich gelenkten Eingliederungsversuch der schweizerischen Brasilienauswanderer in die sich modernisierende Wirtschaft des Empfängerlandes führte in der Schweiz zu neuen Fragestellungen innerhalb der Migrationsforschung. Die Schweizer Auswanderungshistoriographie hatte in der ersten Nachkriegsphase fast ausschließlich die schweizerische Agrar- und Kleingewerbekolonisation im 19. Jahrhundert in Ubersee analysiert. Ziegler leistete mit ihrer brasilianischen Fallstudie erstmals einen Beitrag zur Rolle der schweizerischen Immigranten im Modernisierungsprozeß Lateinamerikas. Im Zusammenhang mit der sich modernisierenden Wirtschaft und Gesellschaft Brasiliens tauchte gezwungenermaßen auch die Frage der sog. Elitewanderung auf. Die individuelle Auswanderung qualifizierter schweizerischer Arbeitskräfte (Handwerker, Intellektuelle, Kaufleute, Künstler usw.) war, im Gegensatz zur Massenauswanderung der agrarisch geprägten Unterschichten, bisher kaum ein Thema der schweizerischen Geschichtswissenschaft. Es war ebenfalls Béatrice Ziegler-Witschi, die in ihrem Aufsatz über schweizerische Unternehmer im Brasilien des 19. Jahrhunderts die schweizerische Elitewanderung nach Brasilien zu analysieren begann. Sie stellte fest, daß nach der Erholung von der Weltwirtschaftskrise 1875 eine zwar quantitativ unbedeutende, aber qualifizierte Wanderung von Schweizern 16 B. Ziegler ( 1 9 8 5 ) .
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nach Brasilien einsetzte. Diese wenigen Einwanderer konnten dank ihres Fachwissens und ihres hohen Investitionspotentials eine gewichtige Rolle im anfänglichen Entwicklungsprozeß Brasiliens spielen. Als geradezu klassisches Beispiel führt sie die rasche ökonomische Entfaltung der von deutschen und schweizerischen Kolonisten Mitte des 19. Jahrhunderts besiedelten brasilianischen Südprovinzen (Rio Grande do Sul, Santa Catarina) auf. Eine ähnliche Studie liegt im übrigen von Urs Frei über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts begonnene schweizerische kaufmännische Tätigkeit in Kolumbien vor. Auch dem Einfluß der schweizerischen Kolonisten auf schichtspezifische Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts widmete Béatrice Ziegler einen Aufsatz. Sie stellt fest, daß der brasilianische Staat nur insoweit auf schweizerisches "Know-how" zurückgreift, als dieses die sozialen und politischen Machtstrukturen nicht zu gefährden vermochte. Die schweizerischen Einwanderer in Brasilien durften ihre Kenntnisse nur im agrartechnischen Bereich zur Anwendung bringen; auf eine Modernisierung im politischen und gesellschaftlichen Bereich hatten sie, wie ihre fehlende Präsenz im staatlich-institutionellen Bereich (z.B. im Parlament) dokumentiert, im 19. Jahrhundert keinen Einfluß. 17 Insgesamt liegen zu Brasilien zurzeit eindeutig die umfassendsten schweizerischen Auswanderungsstudien vor; was bisher noch aussteht, ist eine als Überblick angelegte Gesamtanalyse der schweizerischen Auswanderung nach Brasilien. Studien zur
Argentinien-Auswanderung
Zu Argentinien, dem wichtigsten Empfängerland von Schweizern in Lateinamerika, gibt es, im Gegensatz zu Brasilien, keine breitangelegte historische Analyse der schweizerischen Einwanderung. Vielmehr dominieren regional begrenzte Einzelstudien. Die Forschungen zur Auswanderung nach Argentinien konzentrieren sich zeitlich vor allem auf das 19. Jahrhundert, schwerpunktmäßig auf die frühe schweizerische Kolonisation in den Provinzen Santa Fé und Entre Rios. Juan Schobinger beispielsweise geht in 17 Dies.: "Schweizerische Kaufleute in Brasilien im 19. Jahrhundert", in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 25, 1988, S. 141-167. Dies.: "Schweizerische Kolonisten und die liberale Entwicklungsideologie in Brasilien im 19. Jahrhundert", in: Peter Hablützel/Hans Werner Tobler/Albert Wirz (Hgg.): Dritte Welt. Historische Prägung und politische Herausforderung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf von Albertini. Wiesbaden 1983, S. 173-194. Vgl. auch U. Frey (Liz. Zürich 1981/82).
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seinem 1957 publizierten Werk Inmigración y colonización suizas en la República Argentina en el siglo XIX auf die landwirtschaftlichen Genossenschaftsgründungen durch schweizerische Einwanderer in diesen beiden Provinzen ein. Das Ziel dieser Agrarkollektive war die bessere Organisierung des agrarischen Absatzmarktes in Santa Fé und Entre Ríos, um sich im überregionalen Handel besser behaupten zu können. Eingehende Studien liegen auch zur Emigration großer Teile der Walliser Bevölkerung im letzten Jahrhundert nach Argentinien vor. Der Walliser Klaus Anderegg stützte sich bei seinen Untersuchungen auf Briefe von ausgewanderten Deutschwallisern. Es ging ihm darum, den Werbeeffekt dieser Auswandererbriefe herauszufiltern. Er ergänzte seine Untersuchungen durch Feldforschungen (Oral History vor Ort) sowie durch Studien in Privatarchiven von Auswanderern. Im Zentrum seiner Ausführungen steht die Frage, ob die Walliser tatsächlich, wie in früheren Darstellungen öfters suggeriert wurde, gegenüber der argentinischen Empfängergesellschaft wenig kulturelle Integrationsbereitschaft gezeigt haben; des weiteren geht er der Frage nach, ob Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung von Walliser Argentinien-Immigranten nur in Einzelfällen (z.B. im 1893 erfolgten Aufstand der Walliser gegen die Erhöhung der Kornsteuer, die mit einem Eingriff der argentinischen Bundestruppen und einer Niederlage der Walliser endete) oder habituell angewendet wurde. Andereggs "Quellenarbeit im Felde" ist eine in den letzten Jahren vermehrt angewandte Vorgehensweise in der schweizerischen Auswanderungsforschung. Die Geschichtswissenschaft läßt in diesem Sinne auch eine gewisse Interdisziplinarität erkennen, indem sie Praktiken wissenschaftlicher Nachbardisziplinen wie Ethnologie oder Soziologie übernimmt. 18 Zur Rolle der Walliser in dem als "Revolution" bezeichneten Aufstand von 1892/93 in Santa Fé gibt es weitere, hauptsächlich von ArgentinienSchweizern verfaßte Studien. In ihnen wird ebenfalls die konfliktive Position der schweizerischen Immigranten gegenüber der argentinischen Zentralregierung in Buenos Aires herausgestrichen. 19 Zu den Schweizer Auswandererpionieren nach Argentinien, die zur Hauptsache auch aus dem Wallis stammen, liegen einige Untersuchungen vor. Die letzte verfaßten 1990 die Walliser Geschichtslehrer Alexandre und Christophe Carrón, die im zweiten Band ihrer Buchreihe Nos cousins 18 Zu erwähnen sind u.a. K Anderegg (1990/1991). Eine größere Publikation von Anderegg zu diesem Thema ist für 1992 geplant. 19 Moritz Wanderer/Jose Clausen: Schweizer Santa Fe vom Jahre 1892193. Brig 1908.
in Argentinien:
Der Aufstand
in der
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d'Amérique (der erste Band ist der Walliser USA-Emigration gewidmet) u.a. ausführlich auf die im Jahre 1856 gegründete erste ausländische Siedlungskolonie in Argentinien, Esperanza in der Provinz Santa Fé, eingehen. 20 Eine zweite große Regional Studie galt der Tessiner Auswanderung nach Argentinien; August Pedrazzini zeichnete sie in seiner monumentalen Studie detailgetreu nach. 21 In ersten Ansätzen wurde in einer Feldstudie vor Ort subventionierte schweizerische Misiones-Einwanderung 30er Jahren dieses Jahrhunderts analysiert, ohne diese historischen Gesamtzusammenhang der schweizerischen wanderung des 20. Jahrhunderts zu stellen.22
auch die bundesin den 20er und allerdings in den Argentinien-Aus-
Eine überregional angelegte, das 19. und 20. Jahrhundert umfassende Gesamtanalyse der Argentinien-Auswanderung steht bisher aus und kann wohl in ihrer Gesamtheit nur über ein größeres Forschungsprojekt geleistet werden. In Zusammenhang mit der schweizerischen Argentinienemigration fehlt auch eine soziale Schichtungsanalyse schweizerischer Auswanderergruppen, die allerdings ohne quantifizierende Methoden kaum geleistet werden kann. Bisher wurde in Zusammenhang mit der schweizerischen Argentinien-Auswanderung praktisch ausschließlich von einer ökonomisch motivierten Massenwanderung von Unterschichten in die Agrargebiete der Neuen Welt gesprochen. Die Immigration von Schweizern in urbane Zentren, die oftmals indirekt in Form von Zweitwanderungen erfolgte, nachdem die Kolonisten in der Agrarregion keine Existenzsicherung erreicht hatten, war bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Migrationsstudien
zu anderen
Ländern
Zu den anderen lateinamerikanischen Staaten, die im Hinblick auf die schweizerische Auswanderung weniger bedeutend waren, liegen nur vereinzelte Studien vor. 1983 wurde eine eher deskriptiv angelegte Einzelstudie zur schweizerischen Chile-Auswanderung publiziert; ansonsten ist die ChileAuswanderung nur als kleiner Teilaspekt im Rahmen einer Gesamtanalyse
20 A. Carron/Ch. Carron (1990). Vgl. M.A. Bassi (Mém. de Lic. Genève 1975). 21 A.O. Pedrazzini (1962). Der zweite Band ist ausschließlich der Argentinien-Auswanderung gewidmet. . 22 I. Magat (Mém. de Lic. Genève 1982).
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der deutschsprachigen Einwanderung in den südwestlichen Andenstaat untersucht worden. 23 Die schweizerische Emigration nach Uruguay, insbesondere die Entstehung der Agro-Kolonie Nueva Helvecia westlich von Montevideo, ist bisher vom argentinisch-schweizerischen Historiker Juan Carlos F. Wirth analysiert worden. Sie war auch Thema einer Lizentiatsarbeit bei Rudolf von Albertini an der Universität Zürich. 24 Die sehr geringe schweizerische Auswanderung in den mittelamerikanischen Raum (Mexiko, Zentralamerika) war bisher ebensowenig Gegenstand der historischen Untersuchung wie die Auswanderung in die nördlichen Staaten Südamerikas (Ecuador, Kolumbien, Peru, Venezuela). Nur Urs Frey und der Kolumbien-Schweizer Gabriel Jaramillo gehen in ihren Studien auf die zahlenmäßig kleine schweizerische Kolumbien-Kolonie, die zur Hauptsache aus 'Elitewanderern' (Kaufleute, Industrielle) bestand, ein. 2 5
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par les Espagnoles. De la Bulle 'Inter Caetera' 1493 à la dispute de Valladolid 1551", in: Cadmos, H. 53 (Genève) 1991, S. 115-135 Jörg Fisch: "Völkerrechtliche Verträge zwischen Spaniern und Indianern", in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 16, 1979, S. 205-243 ders.: "The Falkland Islands in the European Treaty System 1493-1833", in: German Yearbook of International Law, 26,1983, S. 105-124 Thomas Fischer: "Deutsche und schweizerische Massenauswanderung nach Lateinamerika 1819-1945", in: Wolfgang Reinhard/Peter Waldmann (Hgg. u.a.): Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten, Gegensätze, europäischer Hintergrund, Bd. 1, Freiburg 1992, S. 280-304 Ernstpeter Heiniger: "Ideologie des Rassismus. Problemansicht und ethnische Verurteilung in der kirchlichen Sozialverkündigung", in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, 28 (Immensee) 1980 Claude Lugon: "Les missions de l'Amérique du Sud aux XVIIe siècle et la république des Guaranis", in: Histoire universelle des Missions catholiques, Bd. 2 (Paris) 1951-58, S. 246-280 Max Ruh: "Alfredo de Rodt. Subdelegado en Juan Fernandez 1877-1905", in: Mario Orellana u.a.: Las islas de Juan Fernández. Historia - arqueología y antropología de la isla Robinson Crusoe. Santiago de Chile 1975, S. 97-136 Hans Werner Tobler: "Abhängigkeit. 'Nationalismus' und Entwicklung Lateinamerikas - Zum Wandel der lateinamerikanischen 'Entwicklungsideologie'", in: Neue Politische Literatur, 4,1969, S.461-472 ders.: "Las paradojas del Ejército revolucionario - su papel social en la reforma agraria mexicana, 1920-1935", in: Historia Mexicana, 11, 1, 1971, S. 38-79 ders.: "Alvaro Obregón und die Anfänge der mexikanischen Agrarreform. Agrarpolitik und Agrarkonflikt, 1921-1924", in: Jahrbuch fiir Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 8 (Köln/Wien) 1971, S. 310-365 ders.: "Die mexikanische Revolution zwischen Beharrung und Veränderung", in: Geschichte und Gesellschaft, 2, 1976, S.188-216 ders.: "Lateinamerika", in: K. v. Beyme u.a.: Wirtschaftliches schaftliches Problem. Königstein 1978, S. 34-46
Wachstum als gesell-
ders.: "Rivoluzione messicana", in: Marcello Carmagnani (Hg.): Storia dell' Ame-
166
Walther L. Berneckerl Markus GlatzlLinda Shepard
rica Latina. Florenz 1979, S. 369-392 ders.: "Conclusion. Peasant Mobilisation and the Revolution", in: David A. Brading (Hg.): Caudillo and Peasant in the Mexican Revolution. Cambridge 1980, S. 245255/304-306 ders.: "Revolutionsgeneräle als 'Businessmen'. Zur Entstehung und Rolle der revolutionären Bourgeoisie in Mexiko, 1910-1940", in: Peter Hablützel/Hans Werner Tobler/Albert Wirz (Hgg.): Dritte Welt: Historische Prägung und politische Herausforderung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf von Albertini. Wiesbaden 1983, S. 193-213 ders.: "Informes sobre el estado de la investigación en Suiza", in: Capitales, empresarios y obreros en América Latina. Informe sobre el estado de investigación en Suiza. Actas del 6° Congreso de AHILA, Estocolmo ¡981, Monografías del Instituto de Estudios Latinoamericanos, Universidad de Estocolmo, 8, 1, 1983, S. 173-207 ders.: "La burguesía revolucionaria en México. Su origen y su papel, 1915-1935", in: Historia Mexicana, 34, 2, 1984, S. 213-237 ders.: "Peasants and the Shaping of the Revolutionary State, 1910-1940", in: Friedrich Katz (Hg.): Riot, Rebellion and Revolution. Rural Social Conflict in Mexico. Princeton, N.J. 1988, S. 487-518 ders.: "Die mexikanische Revolution in vergleichender Perspektive. Einige Faktoren revolutionären Wandels in Mexiko, Russland und China im 20. Jahrhundert", in: Ibero-Amerikanisches Archiv, 4, 1988, S. 453-472 ders.: "Kontinuität und Wandel der Auslandsabhängigkeit im revolutionären und nachrevolutionären Mexiko", in: Geschichte und Gesellschaft, 1, 1988, S. 220234 ders.: '"Unterentwicklung' in historischer Sicht. Einige Überlegungen am Beispiel Lateinamerikas", in: Klaus Seeland (Hg.): Gegenseitiges Verständnis als Entwicklungsprozess. Festschrift zum 60. Geburtstag von M. Menzi. Griisch 1989, S. 67-80 ders.: "La revolución mexicana. Algunas particularidades desde un punto de vista comparativo", in: Revista Mexicana de Sociología, 2, 1989, S. 151-159 Hans Werner Tobler/Peter Waldmann: "German Colonies in South America: A New Germany in the Cono Sur?", in: Journal of Interamerican Studies and World Affairs, 2, 1980, S.227-245 Gertrud Weigelt: "Santiago Roth. 1850-1924. Ein Berner als Wissenschaftlicher Pionier in Südamerika", in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 1 (Bern) 1951, S. 19-39
Die historische
167
Lateinamerikaforschung
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Literatur der
Luzerner Gegenwart
dies.: "Sobre la aportación suiza a la industrialización del Brasil", in: Capitales, empresários y obreros europeos en América Latina. Informe sobre el estado de investigación en Suiza. Actas del 6° Congreso de AHILA, Estocolmo 1981. Monografías del Instituto de Estudios Latinoamericanos, Universidad de Estocolmo,8, 1,1983, S. 188-194 dies.: "Schweizerische Kolonialisten und die liberale Entwicklungsideologie in Brasilien", in: Peter Hablützel/Hans Werner Tobler/Albert Wirz (Hgg.): Dritte Welt. Historische Prägung und politische Herausforderung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf von Albertini. Wiesbaden 1983, S. 173-194 dies.: "Schaffhauser Auswanderer in Joinville, Brasilien", in: Schaffhauser für Geschichte, 60, 1983, S. 138-168
Beiträge
dies.: "Die Rolle der Frau im schweizerischen Auswanderungsprozess", in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 34, 1984, S. 363-369 Béatrice Ziegler-Witschi: "Schweizerische Auswanderer und Auswanderungspolitik im 19. Jahrhundert: Die Kolonie Moniz in Bahia 1873", in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 73,1986, S. 216-232 dies.: "Schweizerische Kaufleute in Brasilien im 19. Jahrhundert", in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 25, 1988, S. 141-167
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung über Lateinamerika
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Peter Fleer
Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung über Lateinamerika Einleitung Von allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen strebt die Ökonomie den höchsten Grad an Formalisierung und Verallgemeinerung ihrer Aussagen an. Dies äußert sich insbesondere in der volkswirtschaftlichen Theoriebildung. Ziel der theoretischen Arbeit ist das Festhalten von individuellen Verhaltensweisen und sozio-ökonomischen Zusammenhängen mit mathematischen Modellen, von denen eine weitreichende Gültigkeit verlangt wird. Mittels Ceteris paribus-Klauseln nähern sich die Modelle auf der einen Seite den Idealen Einfachheit und Allgemeingültigkeit, mittels komplexen ökonometrischen Systemen versucht man auf der anderen Seite, die "Wirklichkeit", den konkreten Fall, genauer zu beschreiben. Man könnte diesen Bereich wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitens in dem Sinne als Grundlagenforschung bezeichnen, als seine Resultate Eingang in die Lehrbücher finden und Bestandteil des wissenschaftlichen Rüstzeugs der Ökonomen werden. Der folgende Essay stellt Entwicklung und Schwerpunkte der schweizerischen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung über Lateinamerika dar. Die zweifache geographische Einschränkung liegt quer zum Allgemeinheitsanspruch der soeben beschriebenen theoretischen Volkswirtschaft. Aufgrund dieses Sachverhalts fällt die theoretische Grundlagenforschung für die folgende Darstellung kaum in Betracht. Das Schwergewicht bildet die angewandte, empirisch orientierte Forschung. Weil Theoriebildung und empirische Forschung sich aber in einem ständigen Dialog befinden, kann die Zuordnung der wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem oder jenem Bereich nicht immer eindeutig vorgenommen werden. Daraus ergeben sich zahlreiche Abgrenzungsprobleme in bezug auf die bibliographische Erfassung der Titel. In vielen Fällen konnten diese Probleme nur durch einen Ermessensentscheid des Autors gelöst werden. Das bedeutet, daß die Bibliographie am Schluß dieses Beitrages nicht absolute Vollständigkeit beanspruchen kann.
Peter Fleer
170
Dies um so weniger, als gerade in bezug auf die Lateinamerikaforschung zahlreiche Überschneidungen mit anderen Fächern, etwa Soziologie oder Geographie, bestehen. Aus diesem Grunde wurden auch Arbeiten von NichtÖkonomen berücksichtigt, sofern die Thematik wirtschaftswissenschaftlich von Bedeutung ist. Wenn die Bibliographie dadurch auch nicht bis ins Detail vollständig ist, so soll sie doch umfassend sein. Das heißt, sie soll einen umfassenden Uberblick über die schweizerische Forschungstätigkeit über Lateinamerika im Bereich der Ökonomie gewährleisten. Aus diesem Grunde wurden auch Publikationen von Ausländern, die an Schweizer Universitäten lehrten, oder Dissertationen und Lizentiatsarbeiten von ausländischen Studenten an Schweizer Universitäten aufgenommen. Die Bibliographie beruht zur Hauptsache auf der sorgfältigen Durchsicht der Kataloge der Schweizerischen Landesbibliothek. Insbesondere wurden das Jahresverzeichnis der schweizerischen Hochschulschriften, die Reihe Documents pour servir à l'histoire de l'Université de Genève sowie verschiedene andere bibliographische Publikationen konsultiert. 1 Schließlich trug die schriftliche Anfrage bei über 30 öffentlichen und privaten Institutionen zur Vervollständigung und Aktualisierung der Bibliographie bei.
Überblick über den wissenschaftlichen
Diskurs
Bei den Beziehungen der Schweiz zu Lateinamerika spielten neben gesellschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten wirtschaftliche Fragen stets eine wichtige Rolle. Ermöglichte im 19. Jahrhundert die Auswanderung nach Lateinamerika zahlreichen Schweizern, der drückenden Arbeitslosigkeit im Heimatland zu entfliehen, so wurde Lateinamerika in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem umworbenen Absatzmarkt für schweizerische Industrieprodukte. In der Nachkriegszeit stellten schweizerische Direktinvestitionen ein wesentliches Element in den Beziehungen zu
1
Vgl. Jahresverzeichnis der schweizerischen Hochschulschriften. Basel 1898-1989; Université de Genève (Hg.): Documents pour servir à l'histoire de l'Université de Genève. Genève 1896-1991; HSG (Hg.): Dissertationen 1942-78. St. Gallen 1978 und dies.: Forschungsdokumentation. St. Gallen 1980-1991; Institut für Sozialethik (Hg.): Bibliographie Schweiz-Dritte Welt. Adliswil 1975 und 1980 sowie deren Fortführung im Jahrbuch Schweiz-Dritte Welt 1981-1991; Gustav Siebenmann/André Herrmann: "Verzeichnis der Spanien, Portugal und Lateinamerika betreffenden Schweizer Hochschulschriften aus dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften (1897-1977)", in: Iberoromania, Nr. 8, N.F., 1978, S. 118-139.
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung über Lateinamerika
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Lateinamerika dar. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme und der gespannten sozialen und politischen Lage Lateinamerikas begannen seit den 60er Jahren vermehrt staatliche Entwicklungshilfegelder zu fließen. Die Hilfswerke verstärkten ihre Tätigkeit im Kampf gegen die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsteile. Während der 70er Jahre wuchs das Engagement der Schweizer Banken als Kreditgeber auf dem lateinamerikanischen Kontinent. In den 80er Jahren schließlich wurden vermehrt nicht-staatliche privatwirtschaftlich orientierte Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit aktiv. Vor diesem Hintergrund der wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz zu Lateinamerika ist die Entwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung über Lateinamerika in der Schweiz zu sehen. Der wissenschaftliche Diskurs folgte dabei den Linien, die von der jeweiligen Problemlage der lateinamerikanischen Länder, den politischen Lösungsversuchen und der theoretischen Reflexion darüber vorgegeben wurden. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Arbeiten mit ökonomischen Fragestellungen verfaßt. Erwähnt seien an dieser Stelle die Arbeit von Johann Heusser und Georg Claraz über die Fleischproduktion in Argentinien aus dem Jahre 1868 und die Etudes économiques sur la République Argentine von Jules Gfeller von 1888. Gemessen an der gesamten wirtschaftswissenschaftlichen Literatur stellten die zitierten Beispiele jedoch Einzelfälle dar. Arbeiten von Schweizern über Lateinamerika mit ökonomischer Thematik blieben zunächst auch im 20. Jahrhundert selten. 1905 studierte Julius Meili das brasilianische Geldwesen, und von Heinrich Bär liegen einige Publikationen über die La Plata-Staaten vor. Weiterhin von Interesse schien die Viehzucht in Südamerika zu sein. 1913 verfaßte Adolf Schuster hierzu eine Arbeit über Argentinien, und 1921 publizierte Gottfried Lüthy seine Berichte über die viehwirtschaftlichen Verhältnisse Südamerikas. An den Universitäten stellten wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten über Lateinamerika die Ausnahme dar. In der Zwischenkriegszeit wurden insgesamt zehn Dissertationen mit wirtschaftlicher Fragestellung über lateinamerikanische Staaten vorgelegt, drei davon an der Universität Zürich. 2 Angesichts der geringen Zahl an Arbeiten ist es jedoch nicht gerechtfertigt, von einem lateinamerikanischen Schwerpunkt in Zürich zu sprechen. Auch thematisch lassen sich kaum klare Tendenzen erkennen. Die Themen reichen von der brasilianischen Kaffeevalorisation über die Entwicklung der mexi2
Wegen der weiter oben dargelegten Abgrenzungsprobleme sind diese und weitere Zahlenangaben betreffend der verfaßten Dissertationen nicht genau. Es handelt sich dabei bloß um die Veranschaulichung der Größenordnungen.
172
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kanischen Währung bis zu einer Untersuchung der privatrechtlichen Stellung der GmbHs in Argentinien. Immerhin läßt sich sagen, daß die Themenwahl insofern nicht zufällig ist, als sie sich auf Fragen bezieht, die schweizerische Interessen in Lateinamerika berühren. Dies gilt insbesondere für die Arbeiten von Ernst Bader über die argentinische Devisenbewirtschaftung (1938) und die Untersuchung von Joseph Mirelman über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Argentinien und der Schweiz (1926). Es liegt auf der Hand, daß die lateinamerikanischen Staaten im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses standen, mit denen die Schweiz die intensivsten Beziehungen unterhielt: Brasilien, Argentinien, Mexiko und Kolumbien. Der Zweite Weltkrieg rückte Lateinamerika fast vollständig aus dem Blickfeld der Schweizer Ökonomen. Ihr Augenmerk richtete sich in den 50er Jahren auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas und den Konkurrenzkampf zwischen Markt- und Planwirtschaft. Erst in den 1960er Jahren, als die Dritte Welt infolge der Dekolonisation Afrikas und der Bewegung der Blockfreien Staaten ins weltpolitische Blickfeld rückte, interessierte man sich auch an Schweizer Universitäten wieder vermehrt für Lateinamerika. Die sich seit 1960 abzeichnende staatssozialistische Entwicklung der kubanischen Revolution richtete zudem den antikommunistischen Kampfgeist zahlreicher Schweizer Ökonomen gegen Lateinamerika. Galt es doch, einerseits nachzuweisen, daß der Kommunismus kein alternatives Entwicklungsmodell zur kapitalistischen Modernisierung darstellte, andererseits abzuklären, inwiefern Armut und soziale Ungerechtigkeit den Weg zu weiteren revolutionären Umstürzen ebneten. 3 Das verstärkte Interesse am iberoamerikanischen Kontinent schlug sich auch in einem merkbaren Anstieg der Lateinamerika betreffenden Dissertationen nieder. Wurden zwischen 1945 und 1959 an Schweizer Universitäten nur vier wirtschaftswissenschaftliche Dissertationen über lateinamerikanische Staaten eingereicht, so waren es allein in den Jahren 1960 bis 1962 sechs. Natürlich ist das kein überwältigendes Ergebnis. Verglichen mit der Gesamtzahl der in diesen Zeiträumen eingereichten volkswirtschaftlichen Dissertationen machen die Arbeiten über Lateinamerika bloß einen verschwindend kleinen Bruchteil aus. 4 Dessen ungeachtet vermag der quantitative Vergleich durchaus zu zeigen, daß zu 3
Vgl. etwa Hans Bachmann: "Kuba lehrt uns...", in: Außenwirtschaft 16, 1961, S. 96-99; Francesco Kneschaurek: "Wachstumsprobleme der Wirtschaft im Allgemeinen und mit Blick auf Lateinamerika", in: LAI (Hg.): Brasilien heute - Wirtschaftliche und kulturelle Aspekte. St. Gallen 1962, S. 106-125.
4
Durchschnittlich wurden in den Jahren 1945 bis 1962 jährlich 95 volkswirtschaftliche Dissertationen eingereicht. Vgl. Jahresverzeichnis der schweizerischen Hochschulschriften. Basel 1945-1963.
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung über Lateinamerika
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Beginn der 60er Jahre ein qualitativer Sprung im Interesse der schweizerischen Wirtschaftswissenschaft an Lateinamerika stattgefunden hat. Noch deutlicher wird dies, wenn man auch nicht-universitäre Publikationen in den Vergleich mit einbezieht. In den fünfzehn Jahren zwischen 1945 und 1959 sind ungefähr 30 größere und kleinere Publikationen auszumachen. Im gleichen Zeitraum zwischen 1960 und 1974 sind es hingegen über 200. Ein Blick auf die seit 1960 verfaßten Dissertationen und Lizentiatsarbeiten läßt einen breiten Fächer an Themen und Fragestellungen erkennen. In den 60er und 70er Jahren ist eine leichte Dominanz der Problemfelder Industrialisierung und wirtschaftliche Integration festzustellen. Die 80er Jahre sind durch eine Verschiebung der Forschungsschwerpunkte auf Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Außenhandelsbeziehungen sowie der Finanzmärkte und Wechselkursbewegungen gekennzeichnet. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre findet zudem die Inflationsproblematik zunehmend Interesse. Neben diesen Haupttendenzen sind drei weitere Themenkreise zu erwähnen, die einen überdurchschnittlichen Niederschlag in den schweizerischen Hochschularbeiten gefunden haben: Besonders in den 70er Jahren war immer wieder die Wirtschaftspolitik der lateinamerikanischen Staaten Gegenstand der Diskussion. Im gleichen Zeitraum und darüber hinausgehend bis in die erste Hälfte der 80er Jahre wurden zudem Arbeiten zu den Themenbereichen Direktinvestitionen und Agrarsektor vorgelegt. Viele Arbeiten sind als konkrete Regional- oder Länderstudien angelegt, die sich durch ein hohes Maß an empirischer Feldarbeit auszeichnen. Methodisch und theoretisch steht die wirtschaftswissenschaftliche Forschung an den Schweizer Universitäten im Zeichen der klassischen Nationalökonomie von Smith und Ricardo. Ergänzend dazu finden sich auch Spuren von Keynesianischem und Schumpeterschem Gedankengut. Im weitesten Sinne kann die schweizerische Nationalökonomie somit der neoklassischen Denkrichtung zugeordnet werden. In entwicklungstheoretischer Hinsicht herrschte insbesondere in den 60er Jahren das Rostowsche Modernisierungsparadigma vor. Dependenztheoretische und marxistische Ansätze fanden nie Eingang in die Forschung. 5 Im Lichte der neoklassischen Freihandelslehre und der Modernisierungstheorie standen die inneren Ursachen der Entwicklungsprobleme Lateinamerikas stets im Vordergrund der Analyse. Die Weltwirtschaftsordnung und die herrschende Struktur der internationalen Arbeitsteilung galten weitgehend als gegeben. Der neoklassische 5
Als Ausnahme können hier folgende Arbeiten angeführt werden. Aus dependenztheoretischer Sicht: T. Guldimann (1975) und E. Rauch/H. Stetter (1975). Als Beispiel eines neomarxistischen Ansatzes ist die Arbeit von R. Herzog (Diss. Bern 1992) zu nennen, die ökonomische, soziologische und juristische Fragestellungen verbindet.
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Peter Fleer
Konsens an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Schweiz verhinderte die Bildung von Schulen, die sich um unterschiedlich ausgerichtete Lehrstühle hätten formieren können. Es erstaunt denn auch nicht, daß es innerhalb der schweizerischen Nationalökonomie nie zu einer nachhaltigen theoretischen Debatte über die Entwicklungsproblematik gekommen ist. Die theoretische Auseinandersetzung war stets eine Reaktion auf international herrschende Strömungen und blieb im großen und ganzen bescheiden. Es versteht sich von selbst, daß diese Trendbeschreibung nur ein stark gerastertes Bild der Forschung ergibt. Sie kann der Vielfalt der verschiedenen Fragestellungen nicht gerecht werden. Im Zusammenhang mit der Darstellung der verschiedenen Institutionen, an denen über Lateinamerika geforscht wird, soll insbesondere in bezug auf die entwicklungstheoretische Diskussion stärker differenziert werden.
Forschungsarbeiten außerhalb der wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Schweizer Universitäten Bevor im einzelnen auf die Forschung an den Schweizer Hochschulen eingegangen wird, seien einige Hinweise auf außeruniversitäre Publikationen und Schweizer Autoren gegeben, deren Tätigkeit in bezug auf Lateinamerika sich außerhalb der schweizerischen universitären Institutionen vollzog. Außeruniversitäre Publikationen stammen auf der einen Seite aus dem Bereich der Hilfswerke und der entwicklungspolitischen Organisationen. Obschon diese Arbeiten nicht ausschließlich ökonomisch ausgerichtet sind, spielen doch wirtschaftliche Zusammenhänge eine wichtige Rolle. Es liegt auf der Hand, daß die Hilfswerke und besonders die entwicklungspolitischen Organisationen - beispielhaft seien hier die Erklärung von Bern und der Finanzplatz Schweiz-Dritte Welt genannt - den vorwiegend neoklassischen Ansätzen an den Universitäten kritisch gegenüberstehen. Vorherrschend sind hier eher dependenztheoretische und keynesianische bis marxistische Ansätze. Auf der anderen Seite liegen verschiedene Publikationen aus dem Bereich der Wirtschaft vor. Zu erwähnen sind hier besonders Multinationale Unternehmen wie Nestlé und Motor Columbus sowie Banken wie SBG und Bankverein. Bei diesen Publikationen handelt es sich meist um die Darstellung der eigenen Tätigkeit in lateinamerikanischen Ländern oder um Länderstudien, die darauf abzielen, Informationen über Märkte und wirtschaftliche
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung über Lateinamerika
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Entwicklungsmöglichkeiten zu vermitteln. Ähnliche Zwecke verfolgen auch die verschiedenen Publikationen der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung (Office Suisse d'Expansion Commerciale, OSEC). Von den Persönlichkeiten, die nicht vorwiegend innerhalb der Schweizer Universitäten tätig waren, ist zuerst Christoph Eckenstein zu nennen. Von 1962 bis zu seinem Tod im Jahre 1974 veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze zu Lateinamerika, einige davon zusammen mit dem LAI in St. Gallen. Eckenstein war Jurist, aber seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der CEPAL und später als Sonderberater für Handelsfragen des Generalsekretärs der UNCTAD gaben seiner Arbeit ein starkes ökonomisches Gewicht. Seit 1970 war Eckenstein Lehrbeauftragter am Institut africain de Geneve. Daneben wirkte er als Berater für den Bundesrat. Von besonderem Interesse für Eckenstein waren die Integrationsbewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Sein Engagement für die Verbesserung der Beziehungen zur Dritten Welt wird heute von der Christoph Eckenstein Stiftung in Genf weitergeführt. Aus dem Fachbereich Soziologie liegen verschiedene Arbeiten vor, die ökonomische Themen berühren. Albert Meister, der an der Sorbonne in Paris lehrte, arbeitete in den 60er Jahren über ländliche Entwicklung und sozialen Wandel in Argentinien. Die Zürcher Soziologin Ursula Oswald veröffentlichte Ende der 70er Jahre Arbeiten über Unterentwicklung, Abhängigkeit und die Herausbildung staatskapitalistischer Strukturen in Mexiko. Schließlich ist auch der in den 50er und 60er Jahren in Bern lehrende deutsche Soziologe Richard F. Behrendt zu nennen. Er verfaßte zahlreiche Schriften zum Problem der Unterentwicklung, namentlich in Lateinamerika. 6 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß in zahlreichen ökonomisch ausgerichteten Arbeiten der Schweizer Soziologen insbesondere der Wallersteinsche Weltsystem-Ansatz Berücksichtigung fand. Angesichts der stark modernisierungstheoretisch orientierten Forschung der Ökonomen könnte man in dieser Beziehung von einer methodischen Komplementarität von Ökonomie und Soziologie sprechen. 7 Mitunter boten Beratertätigkeiten und Lehraufträge von Schweizern in Lateinamerika Anlaß zu Publikationen. 1938 trat der Ökonom Robert Moll in Venezuela ein Lehramt an. Seine Vorlesungen über die venezolanische 6
Ich verzichte auf eine vollständige Aufnahme der Publikationen der genannten Autoren in der Bibliographie. Beispielhaft seien erwähnt: A. Meister (1969); U. Oswald (1978); R.F. Behrendt (1962).
7
Ich verweise auf den Aufsatz und die Bibliographie zur Soziologie von Christian Suter in diesem Band.
176
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Wirtschaft wurden 1941/42 und 1956 in Buchform veröffentlicht. 1960-1961 wirkte Jean Pierre Baumgartner, Privatdozent an der Faculté des sciences économiques et sociales der Universität Genf, als Berater der International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) in Argentinien. Aus seiner Untersuchung des argentinischen Eisenbahnwesens gingen verschiedene kleinere Publikationen hervor, die eine detaillierte Bestandsaufnahme des Verkehrssystems dieses Landes darstellen. Als Berater für dieselbe Institution war auch Benjamin-P. Spiro tätig. Er veröffentlichte zwischen 1958 und 1968 verschiedene Aufsätze über Entwicklungskredite und Kleinindustrie in Lateinamerika. Schließlich ist an dieser Stelle auf einige Zeitschriften hinzuweisen, die Lateinamerika mehr oder weniger Platz einräumen. Das wichtigste Publikationsorgan, das schwerpunktmäßig Lateinamerika gewidmet ist, ist die Zeitschrift Lateinamerika-Nachrichten des Instituts fiir Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit (vormals Lateinamerikanisches Institut) an der Hochschule St. Gallen (HSG). Die Lateinamerika-Nachrichten werden später im Zusammenhang mit dem Institut näher beschrieben. Informationen über die lateinamerikanische Wirtschaft finden sich aber auch in anderen Publikationsorganen. Erwähnt sei hier nur die vom Schweizerischen Institut fiir Außenwirtschafts- und Marktforschung an der HSG herausgegebene Zeitschrift Außenwirtschaft, die zwar nicht spezifisch auf Lateinamerika ausgerichtet ist, im Rahmen der Information über die schweizerischen Außenhandelsbeziehungen jedoch gelegentlich auch lateinamerikanische Länder berücksichtigt. Ausschließlich über Lateinamerika berichtete die Zeitschrift SuizaAmérica Latina - Revista económica y cultural, die zwischen 1965 und 1983 von der Lateinamerikanischen Handelskammer herausgegeben wurde. Die "Revista" richtete sich an schweizerische Wirtschaftskreise, die geschäftlich mit Lateinamerika verbunden waren. Das Hauptgewicht der Beiträge lag denn auch in den schweizerisch-lateinamerikanischen Beziehungen und in der InformationsVermittlung über Märkte und Investitionsmöglichkeiten in Lateinamerika. Heute veröffentlicht die Lateinamerikanische Handelskammer im Lateinamerika-Kurier regelmäßig aktuelle Wirtschaftsnachrichten aus dem ibero-amerikanischen Kontinent. 8 In diesem Zusammenhang ist auch das Bulletin der Schweizerisch-brasilianischen Handelskammer zu
8
Diese Publikation wechselte mehrmals ihren Namen. Von 1948-52 hieß sie América latina, von 1952-58 Kurier-Südamerika, von 1958-66 Südamerika-Kurier und seit 1966 nun Lateinamerika-Kurier.
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung über Lateinamerika
177
erwähnen, das monatlich über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und Brasilien berichtet. Neben den erwähnten Zeitschriften gibt es eine Reihe von Organen, die für den Forscher von Interesse sein können, weil ihre thematischen Schwerpunkte auch für die wirtschaftlichen Probleme Lateinamerikas von Bedeutung sind. Die wichtigsten von ihnen seien hier nur summarisch aufgeführt: Kyklos - Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Revue économique et sociale, Entwicklung-Dévéloppement (DEH-trimestriel), DEH-Jahresberichte, Swiss Review of World Affairs (A Monthly Publication of the NZZ), Mosquito - die entwicklungspolitische Zeitschrift der Schweiz.
Die Institutionalisierung in der
der
Lateinamerikaforschung
Schweiz
An den Schweizer Universitäten stellt die ökonomische Lateinamerikaforschung - gemessen am gesamten Output wirtschaftswissenschaftlicher Literatur - seit jeher eine Randerscheinung dar. Von den rund 350 volkswirtschaftlichen Dissertationen, die zwischen 1987 und 1989 verfaßt wurden, beziehen sich nur gerade deren neun auf Lateinamerika. Dennoch ist für die Zeit nach 1960 eine klare Schwerpunktbildung auszumachen. Vor allem in St. Gallen, Genf und seit kurzem in Basel findet Lateinamerika verstärkt Beachtung. An den übrigen Universitäten stellt die Lateinamerikaforschung nur eine Randerscheinung dar. Versucht man deren Bedeutung im einzelnen abzuschätzen, ergibt sich die Reihenfolge: Lausanne, Freiburg, Bern und Zürich. Dabei erfolgt die Aufreihung gemäß dem Institutionalisierungsgrad und der Bedeutung der wirtschaftswissenschaftlichen Lateinamerikaforschung innerhalb der jeweiligen Universität. Auffällig ist, daß insbesondere an den Universitäten Bern und Zürich keine Institutionalisierung in dieser Hinsicht festzustellen ist. Die universitäre Landschaft widerspiegelt damit den Stellenwert der Lateinamerikaforschung in der Schweiz. Lateinamerika ist vor allem in der Peripherie ein Thema.
a) Das Institut für Lateinamerikaforschung menarbeit an der Hochschule St. Gallen
und
Entwicklungszusam-
Die Institutionalisierung der Lateinamerikaforschung geht auf die 60er Jahre zurück. Am 22. Juni 1961 wurde das Lateinamerikanische Institut an der Hochschule St. Gallen (LAI) gegründet. Es ging aus den ein Jahr vorher
178
Peter Fleer
eingeleiteten Bestrebungen der Lateinamerikanischen Handelskammer in der Schweiz hervor. Treibende Kräfte waren Prof. Dr. Johann Anton Doerig, Hispanist an der Handelshochschule St. Gallen, Dr. h.c. Samuel Schweizer, Generaldirektor und später Präsident des Schweizerischen Bankvereins, sowie Plinio Pessina, Direktionsmitglied der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft und Lehrbeauftragter in St. Gallen. Am 30. November 1960 wurde in Zürich ein Lateinamerika-Tag organisiert mit dem Ziel, die Gründung eines Lateinamerikanischen Instituts auf breiter Basis voranzutreiben. Die über 350 Teilnehmer aus Wirtschaft, Behörden und Hochschulen verabschiedeten eine Resolution, deren fünfter Punkt lautete: "Die Versammlung spricht sich für die Schaffung eines Lateinamerikanischen Instituts, angegliedert an die Handelshochschule St. Gallen, aus und empfiehlt die Zurverfügungstellung der für die Schaffung und den Betrieb des Instituts notwendigen Mittel durch die Privatwirtschaft." Die Gründungsbestrebungen standen unmittelbar in Zusammenhang mit dem Willen, die schweizerischen Kapitalanlagen auf dem lateinamerikanischen Kontinent auszubauen und der unbefriedigenden Entwicklung des Handelsverkehrs zwischen der Schweiz und Lateinamerika entgegenzuwirken. 9 Mittelbar spielten aber auch äußere Faktoren für das zunehmende Interesse der Schweizer Verantwortlichen aus Wirtschaft, Politik und Forschung an Lateinamerika eine Rolle. Im Verlaufe der 50er Jahre entwickelten die Länder der Dritten Welt zunehmend ein eigenes Selbstverständnis. Verstärkt begannen sie, ihre Interessen auf der weltpolitischen Bühne zu artikulieren und die wirtschafts- und handelspolitischen Grundsätze der Industriestaaten herauszufordern. Lateinamerika kam in dieser Entwicklung insofern eine besondere Bedeutung zu, als die iberoamerikanischen Staaten bis dahin als sichere Verbündete der USA und damit als fester Bestandteil der "Westlichen Welt" galten. Nun begannen sich in dieser Beziehung Risse abzuzeichnen. Deutlicher Ausdruck davon war der zunehmend anti-amerikanische Kurs der kubanischen Revolution, deren Ubergreifen auf andere Länder des Kontinents befürchtet wurde. Aber auch abgesehen davon manifestierte sich in den lateinamerikanischen Staaten das Bewußtsein, als Teil der Dritten Welt gegenüber den Industrienationen eigene Interessen verfolgen zu müssen. Ausdruck davon war die Teilnahme der lateinamerikanischen Staaten an der ersten offiziellen Konferenz der "Blockfreien Staaten" in Belgrad im Jahre 1961. Unmißverständlich wurde damit ihre bis dahin aufgrund des Rio-Paktes vorausgesetzte Zugehörigkeit zur "Westlichen Welt" in Frage gestellt. 9
Vgl. dazu und zum folgenden Jean-M. Baumer: "25 Jahre Lateinamerikaforschung an der Hochschule St. Gallen 1961-1986", in: Lateinamerika-Nachrichten 15, 1986, S. 1-55.
Die wirtschaftswissenschaftliche
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Anfänglich stand hinter der Idee zur Gründung eines Lateinamerikanischen Instituts ein weitergehendes Konzept, das allerdings nie verwirklicht wurde. Beabsichtigt war die Einrichtung von vier Kontinentalinstituten. Dafür wurden insbesondere das soziologische Institut der Universität Bern unter der Leitung von Prof. Dr. Richard F. Behrendt, das Institut universitäre de hautes etudes internationales der Universität Genf sowie ein neu zu schaffendes Afro-Asiatisches Institut an der Universität Basel und das geplante Lateinamerikanische Institut in St. Gallen in Betracht gezogen. Die Wahl der Handelshochschule St. Gallen für die Beherbergung des Lateinamerikanischen Instituts berücksichtigte die Tatsache, daß der größte Teil der Absolventen dieser Hochschule eine Tätigkeit in Wirtschaft und Verwaltung ausübt. Man trug somit der Absicht Rechnung, das Institut unmittelbar für die schweizerische Wirtschaft und Verwaltung nutzbar zu machen. Um die Mittel zur Gründung des Instituts aufzubringen, führte man unter Mitwirkung der Brasilianisch-Schweizerischen Handelskammer, der Argentinischen Handelskammer in der Schweiz, der Schweizerischen Gesellschaft der Freunde Spaniens, Portugals und Lateinamerikas und der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung eine Werbeaktion bei der Privatwirtschaft durch. Der Werbeprospekt umschreibt die Zielsetzung des Instituts zutreffend. Neben der Betreuung und Beratung von Stipendiaten aus Lateinamerika in der Schweiz, dem Aufbau einer Dokumentation über Wirtschaft und Kultur Lateinamerikas sowie der Pflege der schweizerisch-lateinamerikanischen Beziehungen im Bereich des Pressewesens und auf wissenschaftlicher Ebene wurden insbesondere drei Ziele festgehalten: 1. "Der schweizerischen Wirtschaft wissenschaftlichen, sprachlich und kulturell gut vorbereiteten Nachwuchs für die leitenden Chargen im Verkehr mit den Ländern spanischer und portugiesischer Sprache und Kultur, ganz besonders jener Lateinamerikas, sicherzustellen". 2. "Das in der Praxis stehende leitende Personal der Wirtschaft und Verwaltung sowie die Lehrerschaft und die Presse mit den grundlegenden Problemen wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Art der spanisch und portugiesisch sprechenden Völker, ganz besonders jener Lateinamerikas, vertraut zu machen". 3. "Die schweizerischen Organisationen bei den Hilfsmaßnahmen zur Entwicklung Lateinamerikas wirksam zu unterstützen." Die Angliederung des Lateinamerikanischen Instituts an die Hochschule St. Gallen bedeutete, daß das Institut gemäß der Organisation der HSG zwar einen öffentlich-rechtlichen Status erhielt, die Finanzierung jedoch zum größten Teil Sache der Privatwirtschaft blieb. Zu diesem Zweck wurde die Gesellschaft zur Förderung des Lateinamerikanischen Instituts als privatrechtlicher Verein gegründet, deren erster Präsident Samuel Schweizer
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wurde. Heute liegt dieses Amt in den Händen von Rudolf S. Merten, Direktor des Schweizerischen Bankvereins. Das Institut war nicht von Anfang an hauptsächlich wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtet. Die ersten Publikationen des LAI deckten einen weiten Rahmen von kulturellen, historischen und politischen Aspekten Lateinamerikas ab, wenn auch wirtschaftliche Themen dominierten. Die fachliche Breite widerspiegelte sich auch darin, daß die Leitung des Instituts in den ersten Jahren in den Händen eines Hispanisten und eines Privatrechtlers, Prof. Dr. Johann Doerig bzw. Prof. Dr. Rudolf Moser, lag. Erst seit dem Amtsantritt von Prof. Dr. Jean-Max Baumer im Jahr 1972 wird das Institut von einem Ökonomen geleitet. Damit ist eine spezifischere Ausrichtung auf ökonomische Fragestellungen verbunden. Dies bedeutet nicht, daß andere Bereiche völlig vernachlässigt werden. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Arbeiten Armin Bollingers über die Inka-Kultur zu erwähnen. Sie erschienen als Band eins bis drei in der neuen Schriftenreihe des Instituts. Die zwei anderen Publikationskanäle, über die das Institut verfügt, die Buchreihe und die Zeitschrift Lateinamerika-Nachrichten, stehen jedoch klar im Dienste der Ökonomie. In der Schriftenreihe wird ein Großteil der am Institut verfaßten Dissertationen veröffentlicht. Die seit 1973 erscheinenden Lateinamerika-Nachrichten enthalten Beiträge von Institutsangehörigen und außenstehenden Autoren zu wirtschaftlichen Fragen Lateinamerikas. 10 Thematisch wird ein breiter Rahmen abgedeckt. Von Anfang an stellten jedoch Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Wirtschaftspolitik und -struktur sowie zu den internationalen Handelsbeziehungen wichtige Schwerpunkte dar. Seit 1984 setzten sich zudem verschiedene Beiträge mit der Verschuldungsproblematik auseinander. Neben einer Reihe von Artikeln, die Lateinamerika als Ganzes betreffen, sind vor allem die Staaten Brasilien, Argentinien, Peru, Venezuela, Kolumbien, Mexiko und Chile - in dieser Reihenfolge - vertreten. 1979 wurde dem Institut die Schweizerische Kontaktstelle für Angepasste Technologie (SKAT) angegliedert. Das Institut wurde daraufhin neu strukturiert und erhielt einen neuen Namen: Institut fiir Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit (ILE). Organisatorisch wurden den beiden Tätigkeitsgebieten die beiden Bereiche Lateinamerikaforschung (LAF) und 10 Es wurde in der Bibliographie darauf verzichtet, die in den Lateinamerika-Nachrichten erschienenen Artikel systematisch zu erfassen. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die beiden im ILE vorhandenen Indices von 1979-1982 bzw. 1983-1989, die alle in den Lateinamerika-Nachrichten erschienenen Artikel nach Regionen und Ländern geordnet aufführen. An dieser Stelle sei femer darauf hingewiesen, daß die ersten zwei Jahrgänge der Zeitschrift auch am ILE nicht mehr vorhanden sind.
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SKAT zugeordnet. Die Ausrichtung auf Lateinamerika nahm durch diese Umstrukturierung nicht ab, wurden doch auch aus dem Bereich SKAT zahlreiche Arbeiten mit Bezug zu Lateinamerika verfaßt. Die Gründungsgeschichte und organisatorische Struktur des Lateinamerikanischen Instituts wurden deshalb so ausführlich dargestellt, weil deren Hintergründe die Ausrichtung der Forschungstätigkeit erheblich mitprägten. Die Aufgaben des Instituts sollten von Anfang an insgesamt fünf Bereiche umfassen: Grundlagenforschung, Angewandte Forschung, Auftragsforschung, Organisation von Symposien und Kursen sowie Aufbau der logistischen Grundlagen. Dazu kam die Lehrtätigkeit der leitenden Angestellten. 11 Die Gewichtung der verschiedenen Bereiche paßte sich im Verlauf der Zeit den infrastrukturellen Möglichkeiten des Instituts und den Bedürfnissen von Wirtschaft und Verwaltung an. Der Versuch von 1974-1976, vermehrt Forschungsaufträge von Unternehmen zu akquirieren, mußte bereits nach zwei Jahren aufgegeben werden, da die Nachfrage nach solchen Studien gering war und die personellen Voraussetzungen fehlten, um spezifische Detailfragen lateinamerikanischer Märkte vor Ort zu untersuchen. Die Auftragsforschung wurde seither in einem anderen Rahmen weitergeführt. Nicht mehr vertrauliche Einzelanalysen für bestimmte Unternehmen, sondern praxis- und zukunftsorientierte Grundsatzstudien, die veröffentlicht wurden, entstanden aus dieser Tätigkeit. Natürlich ist die Häufigkeit solcher Aufträge sehr beschränkt. Zwischen 1976 und 1985 sind drei Auftragsarbeiten zu nennen: Im Auftrag des Schweizerischen Bankvereins entstand 1976 eine Studie über die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung Lateinamerikas. 1982 ging der Band "Transnational Corporations in Latin America" aus einem Auftrag des Institut de Recherche et d'Information sur les Multinationales (IRM) hervor. Ein Auftrag der InterAmerican Development Bank (IDB) führte 1985 zu einem Sammelband über die europäisch-lateinamerikanische Wirtschaftskooperation, bei dem das ILE, das Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg und das Osterreichische Lateinamerika-Institut in Wien zusammenwirkten. 12 Heute spielt die
11 Vgl. zu diesem Aufgabenkatalog Jean-M. Baumer: "El Instituto Latinoamericano. Sus funciones - sus actividades", in: Suiza - América Latina 28, 1974, S. 20-21. 12 Die genauen Titel von J.-M. Baumer/A. Bollinger (1976); J.-M. Baumer u.a. (1982) sind in der Bibliographie aufgeführt; Jean-M. Baumer/Albrecht von Gleich/Waldemar Hummer (Hgg.): Europäisch-Lateinamerikanische Wirtschafts-Kooperation. Die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz als Partner Lateinamerikas. Köln 1985.
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Auftragsforschung am ILE, abgesehen von einzelnen Arbeiten für den Bund im Bereich der Entwicklungsförderung, keine Rolle mehr. Der Bereich Grundlagenforschung konnte nie stark ausgebaut werden. Dies kann angesichts der ausgesprochenen Praxisorientierung der Hochschule St. Gallen auch nicht erstaunen. Im übrigen entsprach es auch nicht den Zielen der Institutsgründer, einen Lehrstuhl für theoretische Volkswirtschaft einzurichten. Es stellte sich mit der Zeit immer stärker heraus, daß die Stärke des ILE vor allem im Bereich Angewandte Forschung lag. Heute wird am ILE schwergewichtig theoretisch geleitete Sozial- und Wirtschaftsforschung betrieben. Die meisten Dissertationen, die am ILE verfaßt wurden, stellen Regional- oder Länderstudien dar, deren empirische Datenbasis auf längeren Lateinamerikaaufenthalten beruht. Sie zielen darauf ab, für einen definierten Problembereich anwendbare Ergebnisse vorlegen zu können. Oft werden Handlungsoptionen aufgezeigt und mit der Analyse konkrete Lösungsvorschläge verbunden. Thematisch wird ein sehr weiter Rahmen abgedeckt, wobei real wirtschaftliche gegenüber Untersuchungen im monetären Bereich vorherrschen. Gegenwärtig arbeitet man am ILE schwerpunktmäßig in den Bereichen Strukturreformprogramme und Integration in Lateinamerika. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein breit angelegtes Forschungsprojekt. Thematische Schwerpunktsetzungen, die die Forschung am LAI bzw. ILE in eine bestimmte Richtung zu lenken beabsichtigten, hatten immer nur beschränkten Erfolg. In der ersten Hälfte der 70er Jahre versuchte Dr. Max Link, damals Mitarbeiter am LAI, die Industrialisierung der Länder Lateinamerikas systematisch zu untersuchen. Verschiedene Publikationen zu Brasilien, Mexiko und Argentinien gingen daraus hervor. 13 Nach dem Weggang von Max Link wurde diese Arbeit jedoch nicht weitergeführt. Seit der Angliederung der SKAT im Jahre 1979 ist ein verstärktes Interesse im ILE für die Themen Mikroindustrie und Angepaßte Technologie zu beobachten. Diesem Interesse liegt die Uberzeugung zugrunde, daß die gezielte Förderung von Kleinbetrieben einen wesentlichen Entwicklungsbeitrag in den lateinamerikanischen Ländern leisten kann. Die Mikroindustrie ist dabei der Träger der Angepaßten Technologie. Darunter wird eine "mittlere Technologie" verstanden, die sowohl an die sozio-ökonomischen Voraussetzungen eines Landes als auch an die politischen Zielsetzungen angepaßt ist. Zentrale Merkmale dieser Technologie sind Arbeitsintensität, Umweltfreundlichkeit und lokale Orientierung. In bezug auf die Entwicklungsländer rückt angesichts des gravierenden Arbeitslosenproblems die 13 M. Link (1970); ders. (1972); P.A. Henggeier (Diss. St. Gallen 1974).
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Arbeitsintensität der eingesetzten Technologie als Beurteilungskriterium in den Vordergrund. Im Gegensatz zur üblichen Industrialisierungspolitik, die hinsichtlich des Beschäftigungsproblems versagt hat, wird eine arbeitsintensive Technologie gefordert, die der spezifischen Faktorausstattung der Entwicklungsländer Rechnung trägt. Hierbei wird betont, daß für die Entwicklung der Mikroindustrie und der Förderung der Angepaßten Technologie einer marktwirtschaftlichen Ordnung entscheidende Bedeutung zukommt. 14 Der entwicklungstheoretische Standpunkt, der am ILE vertreten wurde und wird, wurzelt im neoklassischen Denken. Der Direktor des ILE, JeanMax Baumer, vertritt eine liberale marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik. Seine Analyse der Unterentwicklung Lateinamerikas geht davon aus, daß es in erster Linie innere Faktoren sind, die die Entwicklung der betreffenden Staaten hemmen. Von daher lehnt er dependenztheoretische Ansätze ab. Der Theorie der Dependenz stellt er das Konzept der Vulnerabilität gegenüber. 15 Davon ausgehend, daß jedes Land, das Teil der internationalen Arbeitsteilung ist, also auch die Industriestaaten, gleichzeitig auch Abhängigkeit in Kauf nimmt, sieht Baumer das entscheidende Problem nicht im quantitativen Ausmaß der Abhängigkeit, sondern in deren qualitativer Ausprägung. Ein Land steht somit vor dem Problem, die aus der internationalen Arbeitsteilung erwarteten Vorteile zu maximieren und gleichzeitig die Nachteile, nämlich den Verlust an Entscheidungskompetenz, zu minimieren. Diese Kosten-Nutzenanalyse mündet angesichts der sich ständig ändernden Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft in die Frage nach den Transformationskosten, die eine Änderung des Autarkie- bzw. Dependenzgrades zur Folge hätte. Der Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern besteht in dieser Hinsicht in der größeren Anpassungsfähigkeit der Industriestaaten. Die Fähigkeit eines Landes, seine Produktion auf geänderte Rahmenbedingungen umzustellen, hängt im wesentlichen von zwei Variablen ab: dem Diversifikationsgrad des Angebots und dem Grad der sektoralen 14 Vgl. hierzu G. Schwarz: (Diss. St. Gallen 1980); Urs Heierli: "Angepasste Technik in Lateinamerika - Beispiele und der Beitrag der SKAT", in: Lateinamerika-Nachrichten 14, 1986, S. 85-118 und J.-M. Baumer/M. Stadler/R. Knoblauch (1979). Weitere Arbeiten zu dieser Thematik, die in der Buchreihe des ILE erschienen, sind: B.A. Wagenmann (Diss. St. Gallen 1980); Ch. Graf (Diss. Zürich 1989) sowie M.F.-W. Koch (Diss. Göttingen 1991). 15 Vgl. dazu Jean-M. Baumer: "Theorie der Dependenz oder der Vulnerabilität: Die Optik der Ökonomie", in: Lateinamerika-Nachrichten 10, 1983, S. 9-31. Die folgenden Ausführungen beruhen auf diesem Artikel. Ergänzend dazu ders.: "Geschichte der Unterentwicklung Lateinamerikas: Eine Profilskizze", in: Lateinamerika-Nachrichten 9, 1981, S. 1-20 und "La década perdida - ohne Lösung?", in: Lateinamerika-Nachrichten 17, 1989, S. 1-28.
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Kohärenz. Die erste Variable bezieht sich auf die Struktur der Endproduktstufe, einschließlich der Streuung der Handelspartner. Die zweite Variable beschreibt die Fähigkeit eines Landes, die hintereinander gelagerten Produktionsstufen bis hin zu Forschung und Entwicklung zu kontrollieren. Je diversifizierter das Angebot und je weiterreichend die Beherrschung der vertikalen Produktionsstufen sind, desto geringer ist die Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gegenüber äußeren Veränderungen, desto geringer damit auch die Abhängigkeit. Die Hauptursachen, die in Lateinamerika eine Erhöhung der Umstellungsfähigkeit verhindern, sieht Baumer in der inneren Struktur dieser Staaten. Als wichtigste Faktoren nennt er in diesem Zusammenhang die überdimensionierte korrupte Bürokratie und den unzureichenden Zugang zu den Produktionsfaktoren für die Mehrheit der Bevölkerung. Das historische Versäumnis, weder das Angebot diversifiziert noch die sektorale Kohärenz des Produktionsapparats vertieft zu haben, ist zumindest für die Zeit von 1890 bis 1930 den politischen und wirtschaftlichen Eliten Lateinamerikas anzulasten, denen die Befriedigung kurzfristiger Konsumbedürfnisse wichtiger war als die Investition und damit das Sparen im Hinblick auf eine langfristige Stärkung der Wirtschaftsstruktur. In der Abwägung der inneren und äußeren entwicklungshemmenden Faktoren kommt Baumer zum Schluß: "Die Abhängigkeit von Millionen von Kleinbauern von der Handelsmafia, die Abhängigkeit der Einwohner von ihren Beamten, die häufige Rechtswillkür und die politische Inkompetenz vieler Machthaber haben vermutlich eine größere Menge an Entwicklungsfortschritten zerstört; negative externe Effekte der ausländischen Tätigkeit in Lateinamerika nehmen sich daneben bescheiden aus." 16 Zur Uberwindung der Unterentwicklung gilt es somit, in erster Linie die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung ins Auge zu fassen. Das bedeutet, nebst der Auflösung staatlicher Monopole und dem Abbau bürokratischer Schikanen, vor allem die Neuorganisation des Zugangs zu den Produktionsfaktoren mittels Agrarreformen, Restrukturierung des Bankwesens und der Ermöglichung von Kleininvestitionskrediten. b) Die Institute der Universität
Genf
Die Universität Genf stellt in bezug auf die hier behandelte Thematik in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall dar. Obschon die wirtschaftswissenschaftliche Lateinamerikaforschung nicht in Form eines Lehrstuhls institutionalisiert ist, ist doch die Bedeutung der in Genf verfaßten Arbeiten über Lateinamerika im Vergleich zu den übrigen Schweizer Universitäten außerordentlich. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem das 16 Vgl. dazu Jean-M. Baumer: "Theorie der Dependenz oder der Vulnerabilität: Die Optik der Ökonomie", in: Lateinamerika-Nachrichten 10, 1983, S. 9-31, hierS. 30.
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Département de l'économie politique (ECOPO) der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät sowie die der Universität angegliederten Institute Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) und Institut universitaire d'étude du développement (IUED). Vorab ist festzuhalten, daß Lateinamerika in keinem dieser Institute einen Forschungsschwerpunkt darstellt. 17 Seit jeher richtete sich das Interesse in Genf in bezug auf die Dritte Welt mehr auf Afrika, sicher nicht zuletzt auch wegen der sprachlichen Verwandtschaft mit dem frankophonen Teil dieses Kontinents. Bei IUHEI und IUED kommt hinzu, daß deren Betonung der Interdisziplinarität den Rahmen der Ökonomie sprengt. Beide Institute messen zwar der Wirtschaft einen wichtigen Stellenwert bei, thematisch und methodisch umfaßt ihre Forschung aber einen viel weiteren Rahmen. Insbesondere in den Forschungen des IUHEI überschneiden sich nicht selten juristische und wirtschaftliche Fragestellungen. Damit ist gesagt, daß in unserem Zusammenhang nur ein Bruchteil der gesamten an diesen Instituten geleisteten Forschungsarbeit von Interesse ist. Ein wichtiges Merkmal der Universität Genf und besonders seiner angegliederten Institute ist die große Anzahl von ausländischen Studenten aus allen Teilen der Welt. Die Beziehungen der ausländischen Absolventen zur schweizerischen scientific Community beschränken sich oft auf die Studienzeit in Genf. Zahlreiche Absolventen von IUHEI und IUED bekleiden später hohe Posten in internationalen Organisationen oder in Wirtschaft und Verwaltung ihrer Herkunftsländer. Zahlreiche der in Genf eingereichten Lizentiatsarbeiten und Dissertationen zu Lateinamerika stammen von Studenten aus lateinamerikanischen Ländern. Seit den 60er Jahren wurden immer wieder Arbeiten zu Lateinamerika mit wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellung vorgelegt, wobei die Abgrenzung zwischen rein ökonomischen Studien und mehr soziologisch, staatsoder völkerrechtlich orientierten Arbeiten nicht immer eindeutig zu ziehen ist. Thematisch wird ein Rahmen abgedeckt, der von der ökonometrischen Analyse des Energieverbrauchs der Haushalte in Brasilien über die vergleichende Studie der Exportförderungsmöglichkeiten in Chile und Süd-Korea bis zur Untersuchung der strukturellen Ursachen der Unterentwicklung
17 Vgl. zum folgenden: "'Relevo' en el Instituto Universitario de Altos Estudios Internacionales de Ginebra", in: Suiza-América Latina 32, 1978, S. 25 f.; IUED: Année académique. Genève 1982; IUHEI: H El 50 (1927-1977). Genève 1977; Jacques Forster: "De l'institut africain de Genève à l'institut universitaire d'études du développement", in: Genève-Afrique 20, 1982, S. 69-75; Université de Genève (Hg.): Documents pour servire à l'histoire de l'Université de Genève. Genève 1896-1991.
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reicht. 18 Integration in Lateinamerika und internationale Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind die beiden Themenbereiche, die überdurchschnittlich häufig untersucht werden. Dies ist nicht weiter erstaunlich, liegen sie doch im eigentlichen Interessenbereich des IUHEI, das den größten Anteil an den Arbeiten zu Lateinamerika vorzuweisen hat. Organisatorisch bilden IUHEI und IUED eigenständige Einheiten, die verhältnismäßig autonom von der Universität agieren. Das IUHEI wurde 1927 mit der Unterstützung der Rockefeiler Foundation und der Hilfe des Bundes sowie des Kantons Genf gegründet. Seine Entstehung stand im Zusammenhang mit dem Völkerbund. Mit dem breitangelegten Studium der internationalen Staatengemeinschaft sollte das IUHEI einen Beitrag zur Bewältigung internationaler Konflikte leisten, wobei die Forschungstätigkeit nicht in erster Linie darauf abzielte, unmittelbar praxisbezogene Informationen verfügbar zu machen, sondern grundlegende Erkenntnisse über Entwicklung und Struktur der internationalen Beziehungen zu liefern. Die Gründungsgeschichte gab dem Institut eine klare völkerrechtliche Ausrichtung, was sich bis heute nicht geändert hat. Wirtschaftswissenschaftliche Forschungen fallen somit in diesem Institut mehr als Nebenprodukte eines übergeordneten Forschungsinteresses an. Im einzelnen umfassen die Forschungsgebiete heute die Geschichte der internationalen Beziehungen, Außenpolitik und internationales Recht, darin eingeschlossen das internationale Handelsrecht, und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Das IUED ging 1977 aus dem Institut africain de Genève hervor. Unter dem Eindruck der Dekolonisation in Afrika, die Anfang der 60er Jahre öffentliche und private Institutionen dazu veranlaßte, das Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt neu zu überdenken, regten Kanton und Universität Genf die Schaffung eines Zentrums an, das auf der einen Seite dem Studium der Entwicklung im weitesten Sinne Raum geben, auf der anderen Seite afrikanische Studenten in diesem Bereich ausbilden sollte. Aus diesen Bestrebungen ging 1962 das Institut africain hervor. Bereits Mitte der 60er Jahre begann sich die Tätigkeit des Instituts auf andere Regionen der Dritten Welt auszudehnen. Die Änderung des Namens in Institut d'études du développement im Jahr 1973 und schließlich die Angliederung des Instituts an die Universität Genf spiegelten diese Entwicklung wider. Treibende Kraft hierbei war das IUHEI, mit dem bis heute eine enge Zusammenarbeit besteht. Die Ausbildung am IUED ist als Nachdiplomstudium konzipiert, das den Absolventen vertiefte Kenntnisse der soziokulturellen, politischen und öko18 Vgl. V. Gómez-García (Mém. de dipi. Genève 1988); J. Rosselot (Mém. de dipi. Genève 1979); E. Sadoulet (Thèse Genève 1983).
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nomischen Aspekte der Entwicklung vermitteln soll. In diesem Zusammenhang gilt es hervorzuheben, daß am IUED keine Dissertationen verfaßt werden können. Herausragende Merkmale des IUED sind sein interdisziplinärer Ansatz und die enge Verschränkung von Theorie und Praxis. Ethnologie, Soziologie und Ökonomie bilden die Hauptpfeiler des fächerübergreifenden Zugriffs auf die Entwicklungsproblematik. Das Forschungsinteresse richtet sich nicht nur auf die Länder der Dritten Welt, sondern ebenso auf die strukturellen Veränderungen in den Industriestaaten und die Auswirkungen, die diese auf die Nord-Süd-Beziehungen haben. Der Wille, Theorie und Praxis zu verbinden, äußert sich in der Mitarbeit des IUED bei der Evaluation und Realisation von staatlichen Entwicklungshilfeprojekten sowie der Ausführung von Auftragsforschungen für nationale und internationale Institutionen. Das IUED verfügt über mehrere Publikationsorgane, von denen in unserem Zusammenhang neben der Reihe Itinéraires, notes et travaux vor allem das Annuaire Suisse-Tiers Monde (Jahrbuch Schweiz-Dritte Welt) zu erwähnen ist, das einen umfassenden Uberblick über die entwicklungspolitisch wichtigen Ereignisse in der Schweiz bietet. Im Hinblick auf den entwicklungstheoretischen Standpunkt, der an der Universität Genf vertreten wird, ist es angesichts der Vielfalt von theoretischen Zugängen zu den einzelnen Fragestellungen schwierig, eindeutige Tendenzen herauszuschälen. Im Bereich der Ökonomie sind Arbeiten mit modernisierungstheoretischem Hintergrund ebenso zu finden wie dependenztheoretische Ansätze. Eine Charakterisierung der Genfer Forschung muß daher zunächst in der Betonung der Interdisziplinarität und der Vielfalt der methodischen Ansätze bestehen. Immerhin scheint es doch berechtigt, eine Dominanz von marktwirtschaftlichen klassischen Denkmustern festzustellen. Beispielhaft sei dies an zwei Artikeln von Claude Auroi, Professor am IUED, dargestellt. Auroi ist zwar nicht von Hause aus Ökonom, sein Forschungsgebiet, die ländliche Entwicklung, umfaßt jedoch zu einem nicht geringen Teil ökonomische Probleme. Als IUED-interner Lateinamerikaspezialist ist Auroi zudem besonders legitimiert, hier dargestellt zu werden. Seine Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Kuba führte Auroi zu einem kritischen Urteil über planwirtschaftliche Lösungen. Er weiß die Erfolge der kubanischen Revolution im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie in der Grundversorgung der Bevölkerung durchaus zu würdigen, aber er stellt sie in Rechnung mit den langfristigen Folgen der doktrinär-marxistischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Fidel Castros, die kaum Raum für individuelle Freiheiten läßt und damit jede Eigeninitiative erstickt. Die Gesetze
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des Marktes werden aufgehoben, weil sie die Ungleichheit begünstigen, und durch die zentrale Planung ersetzt. Der Staat wird damit einzige Entscheidungsinstanz über die Allokation der Ressourcen. Resultat dieser Politik sind Bürokratie, Verschwendung, Vetternwirtschaft und Korruption. Aurois Kritik reicht jedoch noch weiter. Das Grundübel der Planwirtschaft sieht er in deren gedanklichem Fundament, das einerseits aus dem naiven Glauben an das Rousseausche Bild des guten, nur durch die (kapitalistische) Gesellschaft verdorbenen Menschen, andererseits aus der marxistischen Fiktion einer im Namen des Volkes handelnden revolutionären Elite besteht. 19 In bezug auf die Entwicklungsproblematik Lateinamerikas sieht Auroi eine wichtige Ursache der Unterentwicklung im Fehlen einer verwurzelten nationalen Bourgeoisie. Die führende Schicht in den meisten lateinamerikanischen Staaten stammt von europäischen Einwanderern ab, die ihre kulturellen, gefühlsmäßigen und nicht selten auch familiären Bindungen an den alten Erdteil beibehielten und an ihre Nachkommen weitergaben. Daraus ergibt sich ein Verhalten, das die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und Bedürfnisse ihres Heimatlandes nur am Rande berücksichtigt und das Wohl der anderen gesellschaftlichen Klassen außer acht läßt. Der uneinsichtige Widerstand der herrschenden Oligarchien gegen jeden sozialen Wandel verhinderte längst notwendige Wirtschaftsreformen. Die Modernisierung der lateinamerikanischen Länder blieb daher an der Oberfläche stecken. Inflation und negative Realzinsen auf Ersparnisse verhinderten die Bildung einer tragfähigen Mittelschicht. Landflucht und Slumbildung sind die sozialen, Hoffnungslosigkeit und Gewalttätigkeit die politischen Folgen. Um aus dieser Situation herauszukommen, reichen bloße wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht aus; es braucht eine Reihe von strukturellen Reformen. Auroi nennt in diesem Zusammenhang zuerst die Gewährleistung der Menschenrechte, insbesondere des Vereinigungsrechts, und die Institutionalisierung der Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Unerläßlich ist ferner die Reform des Verwaltungsapparates und der Justiz. In wirtschaftlicher Hinsicht stehen umfassende Agrarreformen, die Befreiung der Binnenmärkte von bürokratischen Hemmnissen und die Einführung eines progressiven, auf direkten Steuern beruhenden Steuersystems im Vordergrund der zu ergreifenden Maßnahmen. 20
19 Claude Auroi: "Cuba: développement, égalitarisme et burocratie d'Etat", in: Sylvie Brunei (Hg.): Tiers Monde, controverses et réalités. Paris 1987, S. 238-246. 20 Vgl. Claude Auroi: "Amérique latine, stratégies de développement et modernisation indispensable", in: Lateinamerika-Nachrichten 17, 1990, S. 75-92.
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c) Das Wirtschaftswissenschaftliche
Zentrum der Universität
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Basel
Das Wirtschaftswissenschaftliche Zentrum der Universität Basel (WWZ) wird eingehender besprochen, da sich hier seit kurzem eine Intensivierung der Lateinamerikaforschung abzeichnet. Am Volkswirtschaftlichen Institut des WWZ arbeitet Prof. Dr. Peter Bernholz seit etwa zehn Jahren über Inflation, Verschuldung und Währungsreform in Argentinien, Brasilien, Peru, Chile und Bolivien. Ein Teil der Forschungsarbeit über Argentinien liegt nur in Form von unveröffentlichten Forschungsberichten zuhanden der Volkswagenstiftung vor. Seit etwa drei Jahren besteht im selben Institut an der Abteilung von Prof. Dr. Silvio Borner ein Forschungsschwerpunkt in bezug auf institutionelle Entwicklungshindernisse in Lateinamerika. Methodisch sind Borner und seine Mitarbeiter Beatrice Weder und Aymo Brunetti der Schule der "Basler Ökonomen" verpflichtet, die sich durch ihre unorthodoxen theoretischen Ansätze auszeichnet. Im Zentrum ihres theoretischen Zugangs stehen die Erkenntnisse aus der "Neuen ökonomischen Theorie der Politik", dem Public CTzo/ce-Ansatz. Bei ihrer Arbeit stützen sich die Basler Forscher insbesondere auf die Arbeiten von Douglass North und Ronald Coase. Dabei nehmen sie Bezug auf die Untersuchungen und Vorschläge von Hernando de Soto, der die einzige Chance, die Unterentwicklung Lateinamerikas zu überwinden, in tiefgreifenden institutionellen Reformen in Wirtschaft und Staat der lateinamerikanischen Länder sieht. De Soto begreift seinen Ansatz als Paradigmenwechsel gegenüber den Dependenztheorien einerseits und den makroökonomisch ausgerichteten strukturalistischen Ansätzen von IWF und Weltbank andererseits. Insbesondere wendet sich dieser institutionellklassizistische Ansatz gegen das merkantilistische Wirtschaftssystem, das einer Bevölkerungsmehrheit den Zugang zu den Märkten in den lateinamerikanischen Staaten verwehrt und so eine große Zahl von potentiellen Unternehmern in den informellen Sektor abdrängt. Die Verantwortlichen und zugleich Profiteure dieses Systems sind Angehörige der privilegierten Schichten, die über die Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügen. Börner und seine Mitarbeiter setzen bei der Kritik des neoklassischen Ansatzes an, der das effiziente Funktionieren von Märkten im Auge hat, die institutionelle Voraussetzung für die Entstehung eben dieser Märkte aber vernachlässigt.21 Der Argumentation liegt die Feststellung zugrunde, daß 21 S i l v i o B o r n e r / A y m o Brunetti/Beatrice Weder: "Institutional Obstacles to Latin A m e r i c a n Growth and Proposals for Reform", in: WWZ-Siudie, wurde kürzlich veröffentlicht in: Occasional
Paper,
Nr. 26 (Basel) 1990. D i e Studie
Nr. 2 4 (San Francisco) 1992.
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wirtschaftlicher Austausch in einer arbeitsteiligen Gesellschaft in erster Linie durch Verträge zustande kommt, die Private unter sich schließen. Weil die einzelnen Wirtschaftsteilnehmer um des eigenen Vorteils willen aber dazu neigen, ihre Vertragspartner zu hintergehen, braucht es eine dritte Instanz, die die Erfüllung der Verträge garantiert. Zu diesem Zweck schließen die privaten Individuen einen Gesellschaftsvertrag, aus dem das Gewaltmonopol des Staates hervorgeht. Da jedes Monopol mißbraucht werden kann, stellt sich die Frage nach der Kontrolle der Macht im Staat. Die zentrale Hypothese lautet, daß der Staat in Lateinamerika seine Macht in diskretionärer Art verwendet und dadurch eine institutionelle Unsicherheit verursacht, die wirtschaftliches Wachstum verhindert, weil die Unternehmer kaum langfristige produktive Investitionen tätigen. Sie tun dies deshalb nicht, weil nebst den marktüblichen Risiken nun auch noch institutionelle Risiken entstehen. Auf der einen Seite macht die Unvorhersehbarkeit staatlicher Interventionen die Abschätzung zukünftiger Gewinnchancen unmöglich. Auf der anderen Seite beschränkt die unvollständige Durchsetzung von privaten Verträgen die Möglichkeit, auf anonymen Märkten Geschäfte zu tätigen. Es liegt auf der Hand, daß ein solches System diejenigen bevorteilt, die Zugang zur Macht haben. Den anderen, der Mehrheit der Bevölkerung, bleibt nichts anderes übrig, als sich außerhalb der Legalität zu bewegen. Die Flucht in den informellen Sektor bildet dabei nur den Extremfall einer weitverbreiteten Vermeidungsstrategie. Borner und seine Mitarbeiter gehen so weit zu sagen, daß in Lateinamerika überhaupt kein formeller Sektor existiert, sondern überall verschiedene Grade an Informalität anzutreffen sind. Die institutionelle Unsicherheit erzeugt bei rational handelnden Individuen wachstumshemmendes Verhalten. Aufgrund der Unsicherheit anonymer Verträge beschränken sie ihre Wirtschaftstätigkeit auf personengebundene Transaktionen mit "privaten" Durchsetzungsmechanismen. Aufgrund der Unsicherheit zukünftiger staatlicher Maßnahmen beschränken sie ihren Zeithorizont auf kurzfristige Transaktionen. Volkswirtschaftlich führt die Beschränktheit des interpersonellen und intertemporalen Austausches zu einer suboptimalen Spezialisierung und zu suboptimalen Investitionen, beides entscheidende Faktoren zur Verhinderung nachhaltigen Wachstums. Das System reproduziert sich durch das Zusammenspiel zwischen der Exekutive, die über schier unbegrenzte Macht verfügt, und den verschiedenen Interessengruppen, die mittels ihres Einflusses auf die Regierung versuchen, ihre Renten zu vergrößern. Um diesen Teufelskreis aufzubrechen, braucht es eine tiefgreifende Reform des Staates, in deren Zentrum die Beschränkung der diskretionären Exekutivmacht steht. Die Gruppe um Borner schlägt hierfür eine Kombination von inneren und äußeren Restriktionen vor. Zu den inneren Restriktionen gehören vorab die Ausweitung der individuellen Rechte
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(property rights) und die Schaffung von Konkurrenz innerhalb des Staates durch echte Gewaltenteilung, föderalistische und direktdemokratische Elemente. Ziel dieser Maßnahmen ist es, die bisher von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossene Bevölkerung an der Macht zu beteiligen. Die äußeren Restriktionen bestehen in der Abtretung eines Teils der nationalen Souveränität an supranationale Institutionen. Durch diese Maßnahmen wird die politische Anfechtbarkeit (political contestability) innerhalb des Systems erhöht. Das bedeutet, daß durch den ungehinderten Eintritt neuer politischer Klassen ins staatliche Machtgefüge die potentiellen Renten von Exekutive und alten Eliten wegkonkurrenziert werden. Die Autoren sind sich darüber im klaren, daß die vorgeschlagenen institutionellen Reformen mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel einhergehen. So hängt etwa die Legitimität der Institutionen unmittelbar von der Tragfähigkeit des sozialen Konsenses in der betreffenden Gesellschaft ab. Dieser Konsens ist aber angesichts der extrem ungleichen Einkommensverteilung in den lateinamerikanischen Staaten schwierig zu erreichen. Die Forschung an der Abteilung Borner wird vom Nationalfonds und der privaten Stiftung FUNDES unterstützt. FUNDES hat sich zum Ziel gesetzt, auf marktwirtschaftlicher Basis Kleinunternehmer in Lateinamerika zu unterstützen. 1985 wurde das Konzept erstmals in einem Pilotprojekt in Panamá erprobt. Es umfaßt drei Wirkungsbereiche: erstens die Gewährleistung von Bürgschaften zur Erleichterung der Kreditaufnahme bei den Banken, zweitens die Aus- und Weiterbildung und drittens den Erfahrungsaustausch zwischen den Kleinunternehmern. Heute bestehen FUNDES-Stiftungen in Panamá, Costa Rica, Guatemala, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Zur Verbreitung ihrer Ideen verfügt FUNDES über zwei Publikationsorgane, die regelmäßig erscheinenden F\JNDES-News/Noticias und die Reihe FUNDES Serie Diálogo. Die Stiftung legt ihrer Arbeit ausdrücklich den institutionell-klassizistischen Ansatz Hernando de Sotos zugrunde und unterstützt die Forschung in diesem Gebiet aktiv. Kürzlich erschien unter der Herausgeberschaft von Hernando de Soto und Stephan Schmidheiny, dem Stiftungspräsidenten von FUNDES, ein Sammelband mit dem Titel Las nuevas reglas del juego. Hacia un desarrollo sostenible en América Latina. Darin werden die Ergebnisse und Forderungen des institutionell-klassizistischen Ansatzes diskutiert. Neben Aufsätzen von Silvio Borner und Ernst A. Brugger, dem leitenden Direktor von FUNDES, finden sich Beiträge namhafter Vertreter aus Wirtschaft und Politik Lateinamerikas. 22 Der Untertitel 22 Vgl. Hernando de Soto/Stephan Schmidheiny (Hgg.): Las nuevas reglas del juego. Hacia un desarrollo sostenible en América Latina. Bogotá 1991. Unter anderem finden sich Aufsätze von Enrique Iglesias, dem Präsidenten der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, Sergio Molina Silva, dem Minister für Planung und Kooperation der chilenischen
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des Buches nimmt ein Schlagwort auf, das seit der Veröffentlichung des Brundtland-Berichts über die Lösung der globalen Umweltprobleme im Jahre 1987 die entwicklungspolitische Diskussion wesentlich mitbestimmt: "Sustainable development". Es faßt die vier grundlegenden Forderungen an eine gesamtheitliche Entwicklung zusammen: sozial und ökologisch verträgliches Wachstum, langfristig ausgerichtetes Denken und Handeln, Verbindung von lokaler Aktion und globaler Orientierung und demokratische Verwurzelung. Um seine Ubereinstimmung mit diesen Grundsätzen zu manifestieren, änderte der FUNDES-Stiftungsrat die Aufschlüsselung des Kürzels FUNDES. Bedeutete es anfangs "Fundación para el desarrollo económico y social", so steht es heute für "Fundación para el Desarrollo Sostenible". d) Die Universitäten
Lausanne, Freiburg, Bern und Zürich
Damit sind die wichtigsten institutionellen Schwerpunkte der ökonomischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz vorgestellt worden. Schon hinsichtlich der Anzahl Publikationen folgen die übrigen Universitäten mit großem Abstand. An der Universität Lausanne wurden von Prof. Dr. Charles Iffland verschiedene Arbeiten zu den schweizerischen Direktinvestitionen in Brasilien und Mexiko veröffentlicht. 23 Anhand von offiziellen Statistiken und Unterlagen der einzelnen Unternehmen weist er die zahlenmäßige Bedeutung der schweizerischen Investitionen in diesen Staaten nach. Iffland betont die Bedeutung der Auslandinvestitionen für die Schweizer Wirtschaft, die nur über beschränkte einheimische Expansionsmöglichkeiten verfügt. Er stellt ferner fest, daß die Schweiz auch bei der Finanzierung von Direktinvestitionen ausländischer Firmen eine wichtige Rolle spielt. Die Abwägung der Kosten und Nutzen von ausländischen Investitionen für das betroffene Land führt ihn zu einem positiven Gesamturteil. 24 Wichtig sind hierbei vor allem die direkten und indirekten Beschäftigungswirkungen der ausländischen Unternehmen. Trotz dieser Arbeiten kann in Lausanne nicht von einem lateinamerikanischen Forschungsschwerpunkt gesprochen werden. Regierung, José Pinera, dem ehemaligen Arbeitsminister Chiles und Gert Rosenthal, dem Generalsekretär der CEPAL. 23 Vgl. Ch. Iffland/A. Stettier (1973); Ch. Iffland/A. Galland (1978) und Charles Iffland: "L'industrie suisse au Brésil", in: Ecole des Hautes Etudes Commerciales de l'Université de Lausanne (Hg.): Questions économiques de notre temps. Lausanne 1987, S. 468-499. 24 Die Gegenposition wird vertreten in: Kommission für Entwicklungsfragen der Universität
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An der Universität Freiburg wurden seit den 60er Jahren immer wieder Dissertationen zu Lateinamerika vorgelegt, von einer kontinuierlichen Forschung in diesem Bereich kann jedoch nicht gesprochen werden. Das Gleiche gilt für die Universitäten Zürich und Bern. Vom Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Bern ist nur zu erwähnen, daß am Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus (FIF) gelegentlich über Lateinamerika gearbeitet wurde. Erst kürzlich wurde eine Dissertation zur entwicklungspolitischen Bedeutung des Tourismus in Brasilien vorgelegt. 25 Natürlich war es nicht möglich - und wahrscheinlich auch nicht sinnvoll -, im Rahmen dieses Essays jeden Winkel der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung über Lateinamerika in der Schweiz oder von Schweizern auszuleuchten. Es wurde daher unter bewußter Inkaufnahme von Auslassungen versucht, diejenigen Schwerpunkte herauszuarbeiten, die den Gang der Forschung dokumentieren.
Schlußbetrachtung Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß im Hinblick auf die Entwicklungsproblematik die ökonomische Forschung in der Schweiz das Hauptgewicht auf die inneren Faktoren der Unterentwicklung legt. Dies gilt besonders für das LAI bzw. ILE in St. Gallen und die Abteilung Borner an der Universität Basel. Aber auch die Position an der Universität Genf läßt sich, wenn auch weniger eindeutig, hier einreihen. In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, daß ungeachtet der unterschiedlichen methodischen Ansätze alle Institute zu ähnlichen Lösungsvorschlägen kommen. Gefordert werden in erster Linie tiefgreifende Reformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat der lateinamerikanischen Länder. Verwaltungs-, Steuer- und Agrarreform stehen neben der konsequenteren Beachtung der Menschenrechte überall zuoberst auf den Forderungskatalogen. Diese ordnungspolitischen Forderungen werden jedoch nicht erst seit kurzem erhoben. Bereits 1964 machte Plinio Pessina von der HSG den Sozialkonservatismus großer Teile der Eliten, die ungleiche Verteilung, die überdimensionierte Bürokratie und den übersteigerten Nationalismus für die Entwicklungsprobleme Lateinamerikas verantwortlich und forderte zu deren Uberwindung
Zürich (1975). 25 M. Häfeli/M. Küenzi (Diss. Bern 1991).
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Agrar-, Steuer- und Verwaltungsreformen sowie die Zügelung "souveränitätspolitischer Allergien". 26 In der aktuellen Diskussion ist insbesondere der letzte Punkt interessant. Sowohl Jean-Max Baumer vom ILE wie Silvio Borner vom WWZ vertreten die Ansicht, daß zur Erreichung der weitgesteckten Reformziele in den lateinamerikanischen Ländern eine verstärkte Einflußnahme von außen unerläßlich ist. Beide kritisieren die Politik von IWF und Weltbank in diesem Punkt. Die vom IWF verordneten makroökonomischen Strukturreformen werden zwar grundsätzlich als richtig und notwendig betrachtet, gleichzeitig aber auch als unzureichend eingeschätzt. Baumer betont, daß den vom IWF verordneten Sanierungsprogrammen, die auf eine Liberalisierung der Wirtschaft abzielen, eine Stabilisierungsphase vorangehen müsse. Unter den gegenwärtigen Bedingungen würden die Maßnahmenpakete des IWF nicht nur die gegenwärtige Krise verschärfen, sondern auch hohe Folgekosten für die Zukunft verursachen, denn die drastischen Budgetkürzungen zur Sanierung des Staatshaushaltes erfolgten auf Kosten der Bevölkerung. Der Abbau von staatlichen Leistungen im Bildungs- und Gesundheitssektor und der Anstieg der Arbeitslosigkeit schädigten unmittelbar das Humankapital der betroffenen Länder. Der Standpunkt des IWF - die interne Lastenverteilung der Strukturanpassungsmaßnahmen sei Sache der einzelnen Staaten - ist unter diesen Voraussetzungen nicht gerechtfertigt. Baumer fordert vom IWF konkrete Auflagen an die betroffenen Staaten bezüglich Agrarreform, Steuersystem, Bankwesen, Marktzugangschancen, Bürokratie und Staatsmonopolen. 27 Gefordert wird nicht eine Verringerung, sondern eine Verstärkung der Konditionalität internationaler Kredite. Silvio Borner und seine Mitarbeiter sehen darin ein wichtiges Mittel, um die institutionellen Reformen durchzusetzen, die erst die Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum schaffen. Die Festsetzung der dafür notwendigen Regeln durch den IWF ginge über die bisher erfolgten orthodoxen Maßnahmen zur Erreichung der makroökonomischen Stabilität weit hinaus. Doch nur so könnte der IWF einen wirklichen Beitrag zur Uberwindung der Unterentwicklung Lateinamerikas leisten. 28
26 Vgl. Plinio Pessina: "Einige noch ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme Lateinamerikas," in: LAI (Hg.): Lateinamerika - Wirtschaft und Kultur. Zürich 1964, S. 69-105. 27 Vgl. Jean-Max Baumer: "La década perdida - ohne Lösung?", in: Lateinamerika-Nachrichten 17, 1989, S. 1-28 und ders.: "Die Neunzigerjahre müssen gerettet werden", in: Lateinamerika-Nachrichten 19, 1991, S. 5-35. 28 Vgl. den bereits zitierten Artikel von Silvio Borner u.a. Eine etwas gekürzte Fassung davon findet sich auch in: Hernando de Soto/Stephan Schmidheiny: Las nuevas reglas del juego. Hacia un desarrollo sostenible en América Latina. Bogotá 1991, S. 61 -78.
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Forschung über Lateinamerika
195
Verfolgt man die Diskussion, die in letzter Zeit um IWF und Weltbank geführt wird, ist die Annahme berechtigt, daß die neoklassische Kritik der Schweizer Ökonomen an den beiden Institutionen nicht unerhebliches Gewicht bei der zukünftigen Gestaltung der Politik zur Uberwindung der Schuldenkrise gewinnen wird. Festzuhalten bleibt, daß die Lösungsvorschläge gegenüber bereits in den 60er Jahren vorgebrachten Forderungen kaum grundsätzlich Neues gebracht haben. Demgegenüber konnten die Problemanalyse verfeinert und die empirischen Grundlagen verfestigt werden. Kontinuität in bezug auf die Lösungsvorschläge und Differenzierung in bezug auf die methodischen Ansätze - so könnte man die wirtschaftswissenschaftliche Forschung über Lateinamerika an den schweizerischen Hochschulen der letzten 30 Jahre zusammenfassen. Abkürzungen BID
Banco Interamericano de Desarrollo
DEH
Departement für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe
ECOPO
Département de l'économie politique de l'Université de Genève
FIF
Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus an der Universität Bern
HSG
Hochschule St. Gallen
IBRD
International Bank for Reconstruction and Development
IDB
Inter-American Development Bank
ILE
Institut für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit an der Hochschule St. Gallen
IRM
Institut de Recherche et d'Information sur les Multinationales
IUED
Institut universitaire d'étude du développement de l'Université de Genève
IUHEI
Institut universitaire de hautes études internationales de l'Université de Genève
LAF
Bereich Lateinamerikaforschung am ILE
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Fleer
LAI
Lateinamerikanisches Institut an der Hochschule St. Gallen
NZZ
Neue Zürcher Zeitung
OSEC
Office Suisse d'Expansion Commerciale
SKAT
Schweizerische Kontaktstelle für Angepasste Technologie an der Hochschule St. Gallen
WWZ
Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum der Universität Basel
Bibliographie Lateinamerikas
zur wirtschaftswissenschaftlichen
Forschung
Ausgehend von der Intensität der wirtschaftswissenschaftlichen Lateinamerikaforschung wurde die Bibliographie in zwei Zeitabschnitte aufgeteilt. Der erste reicht bis 1959; der zweite umfaßt den Zeitraum von 1960 bis heute. Im ersten Teil sind die Titel nach den üblichen alphabetischen Regeln aufgeführt. Der zweite Teil folgt einer chronologischen Gliederung. Damit wird nicht nur die Übersichtlichkeit der Bibliographie verbessert, sondern auch der Gang der Forschung dokumentiert. Insbesondere trägt die Anordnung der Titel nach Erscheinungsjahr dem Bedürfnis nach Aktualität Rechnung und erleichtert mit Hilfe des vorangehenden Essays thematische Recherchen.
Bibliographie
bis 1959
Ernst Bader: Die argentinische Devisenbewirtschaftung.
Diss. Bern 1937/38
Heinrich Baer: Argentinien. Eine Reise nach und durch Argentinien. Land, Leute und wirtschaftliche Verhältnisse (Separatdruck aus dem Schweiz. Kaufmännischen Centraiblatt). Zürich 1901 ders.: Aus den La Plata Staaten. Vortrag gehalten am 28. November 1904 im Bernischen Verein für Handel und Industrie. Bern 1905 ders.: Argentinien. Volkswirtschaftliche
und handelspolitische
Gustav P. Bener: Landwirtschaftliche Chur1936
Kolonisation
Vorträge. Bern 1909
in Südamerika.
(Diss. Bern)
Conrad F. Byland-Fritschi: Las Américas Latinas. Anuario económico, comercial y del tráfico - Lateinamerika, Handels- Verkehrs- und Wirtschaftslexikon mit der
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung
über Lateinamerika
197
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198
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Fleer
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Die wirtschaftswissenschaftliche
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über Lateinamerika
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(Schweizerische
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Seine Entwicklung
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(Diss.
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Fisheries
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Brasiliens
durch
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der
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latino-américaine
de
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de libre commerce
ALALC.
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Integration
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(Thèse Genève)
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der Versicherungswirtschaft
in Mexiko.
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der
Charles Iffland/Alfred Stettier: Les investissements industriels suisses au Brésil. Lausanne 1973 Roger Schawinski: Die sozio-ökonomischen Faktoren des Fremdenverkehrs in Entwicklungsländern: Der Fall Guatemala. (Diss. St. Gallen) Bern/Stuttgart 1973
Die wirtschaftswissenschafiliche Forschung über Lateinamerika
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ders.: "Latinamerican Development: Economic Success or Social Pitfalls?", in: ORIMEF-Foundation (Hg.): Considérations and Essays on World Development. Vaduz 1977, S. 21-48 Christoph Eckenstein: Den Dialog erkämpfen. Industrieländer Genève 1977
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Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung
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Florian Fleck: Principios de organización para las actividades de una redacción en América latina. Fribourg 1978 Hans-W. Holzborn: Das Problem des regionalen Entwicklungsgefälles - dargestellt am Beispiel des brasilianischen Nordostens. (Diss. St. Gallen) Diessenhofen 1978 Charles Iffland/Antoine Galland: Les investissement industriels suisses au Mexique. Lausanne 1978 Rudolf Krummenacher: Studie über die Möglichkeit eines überbetrieblichen Maschineneinsatzes zugunsten von kleinen und mittleren Bauernbetrieben in Costa Rica. Zürich 1978 Anne-M. Ledermann: Aufstrebendes Venezuela: Erdöl als Basis für Aufschwung und Strukturwandel der Wirtschaft (Schweizerische Bankgesellschaft). Zürich 1978 Harald Lipkau: "Entwicklungsfinanzierung Brasiliens: der Beitrag internationaler Kreditinstitute", in: Sonderreihe "Lateinamerika" des LAI, Sondernummer. St. Gallen 1978 Ursula Oswald: Unterentwicklung als Folge von Abhängigkeit: eine Studie regionaler Unterschiede in Mexiko. (Diss. Zürich) Bern/Stuttgart 1978 Luis Sebastián: Inflation, Money and the Balance of Payments in El Salvador. Thèse Genève 1978 Antoni M. Stankiewicz: Was hat Lateinamerika von einer allfälligen Realisierung der "Neuen Weltwirtschaftsordnung" zu erwarten? St. Gallen 1978
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Fleer
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Darstellung
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung
über Lateinamerika
211
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lateinamerikanisches
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Fleer
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Entwicklungslän-
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l'intégration
Francisco-J. Vendrell: Le régime andin des capitaux étrangers et de la Mém. de dipi. Genève 1981
technologie.
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reihe "Lateinamerika" des ILE, Sondernummer.
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Jean-P. Jacob/Heidi Baumann: "Stratégies des développeurs et tactiques des dévelopés: le cas du projet de Caritas Suisse dans le Callejón de Huaylas, Perú", in: IUED: Itinéraires, notes et travaux. Genève 1983 Jorge Requena Blanco: Influence des échanges intra-latinoaméricains l'économie colombienne: un modèle multisectoriel. Thèse Genève 1983 Elisabeth Sadoulet: Croissance
inégalitaire
dans une économie
sur
sous-développée:
214
Un essay de formalisation
Peter
Fleer
(application au Brésil). Thèse Genève 1983
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- Ein Kontinent am Schei-
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in Argentinien
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Schlüsselfaktoren,
- Konzept und Beispiel
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Wirtschaft. Grüsch 1986
Georges C. Kailay: L'importance des marchés de l'Europe de l'Est: les échanges commerciaux entre Brésil et les pays européen du CAEM de ¡970 à 1983: évolution et perspectives. Mém. de Dipl. Genève 1986 Miguel A. Martínez: La planificación regional de desarrollo: implicaciones en la migración rural: el ejemplo del Estado de Hidalgo, México. Mém. de dipi. Genève 1986 Philippe G. Nell: "Foreign Direct Investment Penetration in Manufacturing: A Case Study of Venezuela", in: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Universität Fribourg (Hg.): Working Papers. Fribourg 1986 Elisabeth Sadoulet/Alain de Janvry/Linda Wilcox: "Rural Labour in Latin America", in: WEP Working Papers, ILO. Genève 1986
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Fleer
1987 Robert Abegglen/Julio Mantilla/Rubén campesinado. Bogotá 1987
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y
Claude Auroi: "Cuba: développement égalitarisme et burocratie d'Etat", in: Sylvie Brunei (Hg.): Tiers Mondes, controverses et réalités. Paris 1987, S. 238-246 Jean-M. Baumer: Aussenwirtschaftliche schungsbericht II. St. Gallen 1987 ders.: Mexiko: eine wirtschaftliche
Schlüsselfaktoren
- Beispiel
Mexiko,
For-
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Felix W. Bossert: Die privaten und sozialen Kosten der Chagas-Krankheit (Amerikanische Trypanosomicasis). Diskussion und Anwendung auf Brasilien, Argentinien und Bolivien. (Diss. St. Gallen) Chur 1987 Heidi Bravo-Baumann u.a.: Analyse des Milchmarktes von Honduras unter derer Berücksichtigung agrarstruktureller Zusammenhänge. Zürich 1987 Anne Dentan: Entre terre et ciel, besoins et providences Genève) Lausanne 1987
beson-
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commerciaux latino-améri-
Jacques Morisset: L'impact du financement externe réexaminé - le cas de l'Argentine. Genève 1987
sur l'épargne
domestique
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Wirtschaftsbeziehungen.
ders.: Kurzfassung der Studie: Die schweizerisch-kolumbianischen beziehungen. Bern 1990
Bern
Wirtschafts-
Die wirtschaftswissenschaftliche
Forschung
über Lateinamerika
219
Carlos Mollinendo: Demande de monnaie, senioriage et haute inflation: le cas de la Bolivie. Mém. de dipi. Genève 1990 Jacques Morisset/Pawel Dembrinski: "Les politiques de stabilisation du RMI: une tentative d'évaluation pour l'Amérique latine et l'Europe de l'est", in: Revue d'études comparatives Est-Ouest 21, 1990, S. 75-94 1991 Jean-M. Baumer: "Die Neunzigerjahre müssen gerettet werden", in: LateinamerikaNachrichten 19,1991, S. 5-35 Peter Bernholz: "Comment on: The Transition from Stabilization to Sustained Growth in Bolivia by Juan Antonio Morales", in: Michael Bruno (Hg. u.a.): Lessons of Economic Stabilization and its Aftermath. Cambridge, Mass./London 1991, S. 48-51 Silvio Borner/Beatrice Weder/Aymo Brunetti: La incertidumbre institucional en América latina o como jugar al fútbol con reglas inestables. Bogotá 1991 Ernst A. Brugger: '"Nachhaltige Entwicklung' - eine Herausforderung für die Landund Forstwirtschaft in Lateinamerika", in: Wolfgang Hein (Hg.): Umweltorientierte Entwicklungspolitik. Hamburg 1991, S. 379-390 Hugo Bruggmann: El Banco Interamericano de Desarrollo. Renovado para los años 90. Bogotá 1991 Markus Häfeli/Martin Küenzi: Sâo Miguel. Eine Untersuchung des Entwicklungsbeitrages durch Tourismusprojekte im Nordosten Brasiliens. Liz. Bern 1991 Michael F.W. Koch: Externe Finanzierung der handwerklichen Kleinindustrie in Entwicklungsländern. Eine komparative Analyse formeller Kreditmärkte in Kolumbien, Ecuador und Peru. (Diss. Göttingen) Chur/Zürich 1991 Stephan Schmidheiny/Hernando de Soto (Hgg.): Las nuevas reglas del juego. Hacia un desarrollo sostenible en América Latina. Bogotá 1991 Thomas Straubhaar/Beatrice Weder: "Rüstungsimporte und wirtschaftliche Entwicklung", in: WWZ-Studien, (Basel) 1991 1992 Silvio Bomer/Aymo Brunetti/Beatrice Weder: "Institutional Obstacles to Latin American Growth and Proposals for Reform", in: International Center for Economic Growth (Hg.): Occasional Paper, Nr. 24 (San Francisco) 1992 Aymo Brunetti: Politische Chur/Zürich 1992
Systeme und Wirtschaftswachstum.
(Diss. Basel)
Jean-M. Grether: Libéralisation commerciale et compétitivité industrielle au Mexi-
220
Peter
Fleer
que. (Thèse Genève) erscheint 1992 Roland Herzog: Staat und Gesellschaft in Kolumbien (Arbeitstitel). (Diss. Bern) erscheint 1992 Carlos Mollinedo: Sur l'innovation financière, la dolarisation et l'hyperinflation en Bolivie (Arbeitstitel). (Thèse Genève) erscheint 1992 Marcelo Olarreaga: Intégration économique dans les pays du cône sud (Arbeitstitel). (Thèse Genève) erscheint 1992 Beatrice Weder: Zwischen Anarchie und idealem Rechtsstaat (Arbeitstitel). (Diss. Basel) Chur/Zürich 1992
Lateinamerikaforschung
im Bereich
Geographie
221
Martin Grosjean
Lateinamerikaforschung im Bereich Geographie Charakterisierung der geographischen Lateinamerikaforschung Geographische Forschung über Lateinamerika besitzt an schweizerischen Hochschulen keine lange Tradition. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, besteht sie aus isolierten und zeitlich begrenzten Einzelprojekten. Nur das Geographische Institut der Universität Zürich kann dank Prof. Kurt Graf auf 20 Jahre kontinuierliche Südamerikaforschung zurückblicken, ansonsten fehlen in der Schweiz Persönlichkeiten wie zum Beispiel die Professoren Lauer (Bonn) und Weischet (Freiburg i. Br.), die sich den lateinamerikanischen Raum zum Schwergewicht ihrer langjährigen Forschungstätigkeit gemacht haben. Vielleicht gerade deshalb ist das Spektrum wissenschaftlicher Untersuchungen sowohl in der Kultur- und Wirtschaftsgeographie wie in der physischen Geographie sehr vielfältig. Im Rahmen von kultur- und wirtschaftsgeographischen Forschungsprojekten werden vor allem Probleme der Stadtentwicklung, der regionalen Strukturpolitik und Landwirtschaft (in Zentralamerika und Kolumbien) sowie Tourismusprobleme (Inseln der Kleinen Antillen) aufgegriffen. Im Bereich der physischen Geographie liegen die Schwerpunkte bei Hydrologie und Pedologie im westlichen Amazonas, aber vor allem in der Vegetationsgeographie und Ökologie von andinen Hochgebirgspflanzen, was u.a die Basis zu palynologischen, vegetations- und klimageschichtlichen Untersuchungen in den Anden Boliviens und Nordchiles bildet. Geographisch beschränkt sich die Forschung hauptsächlich auf die Andenländer Chile, Bolivien, Peru, Kolumbien sowie auf einige Länder im zentralamerikanisch/karibischen Raum. Große Gebiete (Amazonasbecken in Brasilien, Gran Chaco, Patagonien) bleiben weiße Flecken auf der Forschungslandkarte der Schweizer Geographen. Zahlreiche Projekte (Diplomarbeiten, Dissertationen) wurden durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaft unterstützt.
222
Martin
Gr os jean
Der folgende Überblick umfaßt die Forschung an schweizerischen Hochschulen während den letzten 20 Jahren nach Angaben der betreffenden Institute und nach Themenbereichen gegliedert. An der Forschung sind im wesentlichen die Geographischen Institute der Universitäten Basel, Bern und Zürich beteiligt. Keine Aktivitäten bestehen zur Zeit an den entsprechenden Instituten der Universitäten Lausanne und Neuchätel und der ETH Zürich.
Wirtschafts-
und regionalgeographische
Projekte
Landwirtschaftliche Studien "Shifting Cultivation" wird zusammen mit den Holzgesellschaften für den Raubbau an tropischen Regenwäldern verantwortlich gemacht. In diesem Zusammenhang wurden im Testgebiet Selva Lacandona (México) die lokalen Ausprägungsformen der "Shifting Cultivation" und deren Zusammenhang mit den gravierenden Waldveränderungen untersucht (Gelbert 1983). Die Anbauzyklen "milpa de año", "milpa de tornamil" und "canigular" werden als Fallstudien detailliert dargestellt, die Waldveränderungen als Folge des Bevölkerungsdruckes aufgezeigt, und mögliche Maßnahmen zum Schutz der Selva Lacandona diskutiert. Michel Gelbert: "Shifting Cultivation in der Selva Lacandona (Mexico)", in: Geographica Helvetica 38, Nr. 1, 1983, S. 17-26
Tourismus auf den Kleinen Antillen (NF-Projekt 1988-1992, Universität Basel) Qualitative und quantitative Optimierung des Fremdenverkehrs ist auch für Entwicklungsländer ein bedeutendes Problem. Die Karibikinseln Antigua, Dominica, Grenada, Saint Lucia und Sint Maarten sind heute vom Tourismus unterschiedlich beeinflußt und wurden als Fallbeispiele ausgewählt. Die heutigen touristischen Strukturen sind primär durch direkte Befragung und Kartierung erfaßt worden, die Relationen Tourismuszahl/Tourismusart und Positiv-/Negativeffekte sollen aus einer räumlichen Simulation gewonnen werden. Sebastian Lagger: Raumbelastung und soziale Kosten der durch den Fremdenverkehr initiierten Infrastrukturen auf drei ausgewählten Inseln der Kleinen Antillen. Uz. Basel 1988
Lateinamerikaforschung
im Bereich
Geographie
223
Rudolf L. Marr: "Zur Optimierung des Tourismus auf den Kleinen Antillen", in: Berichte und Materialien 8, 1990, S. 79-92 Verschiedene Beiträge sind in Bearbeitung: Adrian Bürgi: "Tourismus und Arbeitsmarkt in Entwicklungsländern - eine Analyse sozial- und wirtschaftsgeographischer Prozesse am Beispiel von vier Inseln der Kleinen Antillen", in: Basler Beiträge zur Geographie, ca. 1992 (in Bearbeitung) Sebastian Lagger: Tourismus und seine Effekte auf Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie auf ausgewählten Inseln der Kleinen Antillen. Diss. Basel (in Bearbeitung) Markus Schneider: Tourismus und informeller Sektor auf Inseln der Kleinen len. Liz. Basel (in Bearbeitung)
Antil-
Stadtgeographie: Verstädterung und Verkehr Das Phänomen von spontanen, unkontrolliert wachsenden Siedlungen mit explosionsartig zunehmenden Verkehrsproblemen ist in der ganzen Dritten Welt, insbesondere in Lateinamerika weit verbreitet. Forrer (1984) schätzte die Zahl der Hüttensiedlungen allein in Lateinamerika für 1984 auf 30.000. Sie werden je nach Gegend "Favelas" (Brasilien), "Villa miseria" (Buenos Aires), "Barriadas" (Peru) oder "Callampas" (Santiago de Chile) genannt. An der raumzeitlichen Entwicklung der Barriadas (Hüttenviertel) von Lima zwischen 1940 und 1986 (Wälti 1991) wurde untersucht, ob und wie weit diese Viertel zufällig und ungeordnet entstanden sind, oder ob politische, gesetzliche und räumliche Strukturen Standorte und Größe der Hüttenviertel beeinflußt haben. Diese Arbeit wird mit Untersuchungen über die innerstädtische Migration auf der Mikroebene der Barriada Villa El Salvador (Lima) fortgeführt (in Bearbeitung). In Rio de Janeiro bildeten sich je nach Geschichte, Lage, Topographie, Bevölkerungszusammensetzung und Entwicklungsstand verschiedene Favela-Typen (Forrer 1984). Die Ursachen für den Massenzustrom von Migranten in die Großstädte wurden untersucht und verschiedene Lösungsmöglichkeiten auf lokaler und nationaler Ebene diskutiert. Mehrfach wird betont, daß das Verstehen der Individualebene (Nachvollziehen und Aufzeichnen von Einzelschicksalen) bei der erfolgreichen Sanierung von Favelas von zentraler Bedeutung ist. Das Verkehrsproblem wurde am Beispiel von Mexiko-Stadt gezeigt (Ulrich-Sutherland 1985). Untersuchungen an drei Fallbeispielen von Kollektivtaxi-Linien zeigen die zentrale Bedeutung des "Informal Paratransit". Die nicht fahrplanmäßig verkehrenden Fahrzeuge kleiner Kapazität sind
224
Martin
Grosjean
meist gemietet, bewegen sich schneller fort und transportieren mehr Personen als die öffentlichen Verkehrsmittel. Das Beispiel Mexiko-Stadt zeigt somit, daß der "Informal Paratransit" zur Bewältigung der steigenden Nachfrage nach städtischer Transportkapazität sehr wichtig ist. Daniel Forrer: Favelas und Favelados in Rio de Janeiro. Diplomarbeit Zürich 1984 Linda Ulrich-Sutherland: Informal Paratransit
in Mexico City. Diss. Zürich 1985
Ruth Wälti: Die räumliche Ausdehnung und die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der Hüttenviertel (Barriadas) von Lima von 1940 - 1986. Diplomarbeit Bern 1991
Regionalforschung
und
Regionalpolitik
Ökonomische, soziokulturelle und politische Disparitäten innerhalb und zwischen Regionen, aber auch zwischen Nationen, sind für Entwicklungsländer besonders akzentuiert. Im Verlaufe wirtschaftlichen Wachstums scheinen diese Disparitäten tendenziell zuzunehmen (Brugger 1982), weshalb wirtschaftsgeographische Studien über Ausmaß, Ursachen und Mechanismen derartiger räumlicher Prozesse große Bedeutung besitzen. An der Universität Zürich werden mit Schwergewicht auf Zentralamerika (Costa Rica) und Kolumbien regionale Ungleichgewichte untersucht (Brugger 1982ab, 1985, Brugger und Denzler in Bearbeitung). Die grundsätzlichen Strategievorschläge für die regionalpolitische Diskussion wurden zwar für Costa Rica ausgearbeitet, der Übertragbarkeit auf andere lateinamerikanische Länder ist aber Beachtung geschenkt worden. Die besondere Stellung der Mikrounternehmen im regionalen Entwicklungsprozeß wurde am Beispiel von Kolumbien untersucht (Graf 1989). Anhand der Auswertung bisheriger Erfahrungen wurden Strategien der Mikrounternehmensförderung systematisch aufgearbeitet. Für die unternehmensorientierten Entwicklungskonzepte sind insbesondere die Stellung der kleinen nichtstaatlichen Organisationen NGO sowie die Rahmenbedingungen und die Voraussetzungen für eine differenzierte Förderung wichtig. In der entwicklungspolitischen Diskussion hat das Kleinstunternehmertum in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt auf Grund der ernüchternden Erfahrungen bei der Realisierung von technologischen Großprojekten in der Dritten Welt. In diesem Zusammenhang liefert die sozioökonomische Evaluierung des Staudammprojektes El Cajön in Honduras (Zürcher 1983) einen Beitrag. In den Themenbereich der internationalen Verflechtung fallen u.a. die Stichworte "Verschuldung", "technologische und ökologische Know-how Kooperation" und "Neue Internationale Arbeitsteilung". Am Beispiel von
Lateinamerikaforschung im Bereich Geographie
225
Mexiko wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Verschuldung interne oder externe Ursachen besitzt (Denzler 1989). An der Universität Basel arbeitet ein kleines Team (Koordination Dr. Verena Meier) im Rahmen eines NF-Projektes an Fragen der Neuen Internationalen Arbeitsteilung. Am Beispiel der "Frauenarbeit in der Schnittblumenindustrie der Sabana de Bogotá (Kolumbien)" wird speziell ein lateinamerikanischer Standort untersucht und mit europäischen Produktionsstätten verglichen. Bei der neuen räumlichen Arbeitsteilung in globalem Maßstab müssen die bisherigen Standortmodelle überdacht werden, und politische sowie sozio-kulturelle Faktoren (Frauenarbeit) fallen stark ins Gewicht. Nebst der weltweiten Rolle Kolumbiens in der Schnittblumenproduktion werden auch die lokalen ökologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen dieser "Industrien" untersucht. Von diesem Projekt liegen zur Zeit noch keine Publikationen vor. Ernst A. Brugger: "Regionale Strukturpolitik in Entwicklungsländern: Costa Rica", in: Institut fiir Lateinamerikaforschung HSG, Nr. 24, 1982 ders.: "Regional Policy in Costa Rica: The Problem of Implementation", in: Geoforum, Nr. 2, Bd. 13,1982, S. 177-192 Stefan Denzler: Verschuldungsproblematik chung? Diplomarbeit Zürich 1989
Mexikos - externe oder interne Verursa-
Christoph Graf: Die Förderung des MikroUnternehmens: Eine Evaluierung. rungsprogramme in Kolumbien. Diss. Zürich 1989
Förde-
Dieter Zürcher: Die sozioökonomische Evaluierung des Staudammprojektes Cajón in Honduras. Diplomarbeit Zürich 1983
von El
Physische Geographie, Hydrologie im westlichen
Naturgeschichte Amazonasbecken
Im Gebiet "La Cuenca" im Rio Pichis-Tal (Selva Central, Peru) befaßte sich Dr. Helmut Eisenbeer (heute Geograph. Institut der Universität Bern) von 1985 bis 1989 mit hydrologischen Prozessen in einem Einzugsgebiet im Regenwaldökosystem des westlichen Amazonasbeckens. Unter anderem wurden die Wasserchemie, der Sedimenttransport und die pedologischen und meteorologischen Kenngrößen untersucht. Die identifizierten gegenwärtigen Prozesse konnten mit der quartären Landschaftsentwicklung im
226
Martin
Grosjean
westlichen Amazonasbecken in Zusammenhang gebracht werden. Helmut Elsenbeer/D.K. Cassel: "Overland Flow Generation in Response to Individual Rainfall Events in a Tropical Forest Watershed", in: Agronomy Abstracts (Madison Wisconsin) 1987 dies.: "On the Stormflow Generation in a Forested First-Order Catchment in the Upper Amazon Basin, Peru", in: EOS Trans. AGU 69/16 dies.: "Surficial Processes in the Rainforest of Western Amazonia", in: R.R. Ziemer/C.L. O'Loughlin/ L.S. Hamilton (Hgg.): Research Needs and Applications to Reduce Erosion and Sedimentation in Tropical Steeplands. 1990 (=IAHS Publ. Nr 192) M. Kimberley/Helmut Elsenbeer/D.K. Cassel: "Aluminum Dynamics in a Tropical Rainforest Catchment", in: Agronomy Abstracts (Madison Wisconsin) 1988
Vegetationsgeographie,
Vegetationsgeschichte
und
Klimageschichte
Seit 1973 werden am Geographischen Institut der Universität Zürich (Prof. Dr. Kurt Graf) Untersuchungen zur nacheiszeitlichen Vegetationsund Klimageschichte der Anden Boliviens durchgeführt. Es handelt sich dabei um das auf längste Zeit angelegte und kontinuierlichste Projekt geographischer Forschung einer Schweizer Universität über Lateinamerika. Geomorphologie (Glazial und Periglazial) sowie die palynologische Auswertung von postglazialen Torfprofilen bildeten die Schwerpunkte (Graf 1979, Graf 1986, Müller 1985). Da bei der Analyse und Interpretation von Pollendiagrammen möglichst genaue Kenntnisse der Ökologie und Verbreitung von Pflanzenarten eine unabdingbare Voraussetzung ist, wurden auch Arbeiten in geobotanischer Richtung durchgeführt (Baumann 1988). Seit 1988 ist auch das Geographische Institut der Universität Bern an der klimageschichtlichen Forschung in Lateinamerika beteiligt (Prof. Bruno Messerli, Martin Grosjean). Im NF-Projekt "Climate Change in den ariden Anden Nordchiles" wird versucht, auf möglichst breiter methodischer Basis den Naturraum und das Klima in den Anden der Atacamawüste seit der letzten Kaltzeit (vor 20.000 Jahren) zu rekonstruieren. Um die längerfristigen Veränderungen (Grosjean u.a. 1991) zu verstehen, mußten auch hier Untersuchungen zur kurzfristigen Komponente wie beispielsweise beim Wasserhaushalt kleiner Seen (Vuille und Grosjean 1991) angesetzt werden. Da bei der Verknüpfung und Quantifizierung von Proxidaten aus fossilen Böden, Torfmooren, Seesedimenten, geomorphologischen Formen und Prozessen sowie aus archäologischen Fundstellen eine interdisziplinäre Arbeitsweise absolute Voraussetzung ist, erfolgt das Projekt in enger Zusammenarbeit mit dem Geographischen Institut der Universität Zürich (K. Graf),
Lateinamerikaforschung
im Bereich
Geographie
227
dem Physikalischen Institut Bern (Umweltphysik), dem Mineralogischen Institut Bern (Abt. Isotopenmineralogie), dem Geologischen Institut Bern (Abt. Sedimentologie) sowie weiteren ausländischen Instituten und Universitäten (Kanada, Chile). Flurin Baumann: "Geographische Verbreitung und Ökologie südamerikanischer Hochgebirgspflanzen: Beitrag zur Rekonstruktion der quartären Vegetationsgeschichte der Anden", in: Physische Geographie, Bd. 28 (Zürich) 1988 Kurt Graf: Untersuchungen zur rezenten Pollen- und Sporenflora in der nördlichen Zentralkordillere Boliviens und Versuch einer Auswertung von Profilen aus postglazialen Torfmooren. Zürich 1979 ders.: "Klima und Vegetationsgeographie der Anden. Grundzüge Südamerikas und pollenanalytische Spezialuntersuchung Boliviens", in: Physische Geographie, Bd. 19 (Zürich) 1986 Martin Grosjean/Bruno Messerli/Hans Schreier: "Seenhochstände, Bodenbildung und Vergletscherung im Altiplano Nordchiles: Ein interdisziplinärer Beitrag zur Klimageschichte. Erste Resultate", in: Bamberger Geographische Schriften, Bd. 11, 1991, S. 105-117 Regula Müller: Zur Gletschergeschichte Paz, Bolivien). Diss. Zürich 1985
in der Cordillera Quimsa Cruz (Depto. la
Mathias Vuille/Martin Grosjean: "Monitoring recent changes in the water budget of some lakes and salars in the north Chilean Altiplano using Landsat MSS and TM data", in: Proc. SELPER Chile, 1991
Die soziologische
229
Lateinamerikaforschung
Christian Suter
Die soziologische Lateinamerikaforschung Die Bedeutung der Lateinamerikanistik Schweizer
innerhalb
der
Soziologie
Die Schweizer Soziologie ist eine noch junge wissenschaftliche Disziplin, insbesondere im Vergleich mit anderen Fachbereichen innerhalb der Geistesund Sozialwissenschaften. Zwar gibt es mittlerweile an allen Schweizer Hochschulen soziologische Institute. Diese wurden jedoch größtenteils erst in Zusammenhang mit der Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre gegründet (an der Universität Zürich z.B. 1966). Dies und die geringe Anzahl ausgebildeter Soziologen erklärt den geringen Differenzierungs- und Institutionalisierungsgrad der Schweizer Soziologie. Darüberhinaus befaßt sich die Soziologie neben ihrem Anspruch, allgemeine Gesellschaftstheorie zu vermitteln, mit einem breiten Spektrum spezifischer Forschungsthemen, die sehr unterschiedliche Bereiche betreffen (wie Organisationssoziologie, Medizinsoziologie, Familiensoziologie, Entwicklungsländersoziologie), wodurch sich die Segmentierung und Fragmentierung der Profession verstärkt. Die Lateinamerikanistik bildet keine eigenständige Teildisziplin innerhalb der Schweizer Soziologie. Neben dem geringen Differenzierungsgrad der Schweizer Soziologie dürfte dies auf die im allgemeinen sehr schwache Institutionalisierung der Regionalforschung an den Schweizer Universitäten zurückzuführen sein. Die Soziologie Lateinamerikas wird in der Schweiz ausschließlich als Teilgebiet im Rahmen der Entwicklungsländersoziologie behandelt. Für die Einschätzung des Stellenwerts der Lateinamerikaforschung innerhalb der Schweizer Soziologie ist deshalb zunächst die Frage der Bedeutung der Entwicklungsländersoziologie abzuklären. Diese Teildisziplin der Soziologie hatte in den 1960er und 1970er Jahren einen hohen Stellenwert, was insofern überraschend ist, als sich die Schweiz wegen des Fehlens einer kolonialen Vergangenheit und aufgrund ihrer Kleinstaatlichkeit durch eine starke kulturelle Binnenorientierung auszeichnet - dies trotz der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung. Gemäß einer Ende der 1970er Jahre durchgeführten Erhebung rangierte die Entwicklungsländersoziologie
230
Christian Suter
bei den fachspezifischen Qualifikationen der Schweizer Soziologen auf dem fünften Rang (Höpflinger 1978). Auch werden an allen Schweizer Universitäten regelmäßig Veranstaltungen und Kurse zu dieser Thematik angeboten. Ein ganz anderes Bild ergibt sich allerdings bei den Forschungstätigkeiten. Gemäß den seit 1973 durchgeführten Erhebungen der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie über die laufenden soziologischen Forschungen werden vergleichsweise wenig entwicklungssoziologische Forschungsprojekte realisiert (SGS 1973-90). Was für die Soziologie der Entwicklungsländer im allgemeinen zutrifft, gilt nicht notwendigerweise für die verschiedenen Regionalforschungen. Die regionalen Schwerpunktgebiete in der Schweizer Entwicklungsländersoziologie bilden Afrika und Asien, während Lateinamerika ganz im Gegensatz zu seiner tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Stellung innerhalb der Dritten Welt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Was die französischsprachige Schweiz betrifft, mag die Dominanz von Afrika und Asien innerhalb der Regionalforschung mit der kulturellen und sprachlichen Nähe zu diesen Regionen zusammenhängen. Allerdings sind Afrika und Asien auch in der deutschen Schweiz die bevorzugten Regionen. Diese regionalen Prioritäten decken sich mit den entwicklungspolitischen Aktivitäten der Schweiz: Afrika (v.a. südlich der Sahara) und Asien (v.a. Südasien) sind die Schwerpunktregionen der öffentlichen und privaten Entwicklungszusammenarbeit. Die soziologische Lateinamerikaforschung ist nicht nur innerhalb der Soziologie, sondern auch innerhalb der gesamten Schweizer Lateinamerikanistik durch eine gewisse Randständigkeit geprägt. Mit Ausnahme literatursoziologischer Studien, die bezeichnenderweise ausschließlich von Sprachwissenschaftern getätigt werden, wird soziologische Forschung kaum rezipiert. In den wenigen vorliegenden Forschungsüberblicken und Forschungsbibliographien zur Schweizer Lateinamerikanistik finden dementsprechend soziologische Arbeiten praktisch keine Erwähnung. 1 Die folgende Darstellung der soziologischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz muß vor dem oben skizzierten Hintergrund interpretiert werden. Die Anfänge in der soziologischen Lateinamerikaforschung von den späten 1950er bis zu den frühen 1970er Jahren, die in Abschnitt 2 behandelt werden, können als "paradigmatische" Phase charakterisiert werden. Geprägt von charismatischen Forscher- und Lehrerpersönlichkeiten ist diese gekennzeichnet durch den Versuch, allgemeine und umfassende Theorien der Gesellschaft und des sozialen Wandels zu formulieren. Die Entwicklungen 1
Vgl. etwa Herrmann und Siebenmann ( 1978), Siebenmann ( 1988).
Die soziologische
231
Lateinamerikaforschung
während den 1970er und 1980er Jahre werden in Abschnitt 3 dargestellt. Die soziologische Lateinamerikaforschung zeichnet sich in dieser Phase durch ein beträchtliches quantitatives und qualitatives Wachstum aus, bei gleichzeitiger fehlender Institutionalisierung und Auflösung der Paradigmen aus der Frühphase. Entsprechend sind die Forschungsbemühungen stark fragmentiert. Dies hatte gleichzeitig zur Folge, daß die soziologische Lateinamerikaforschung offen und durchlässig sowohl gegenüber anderen Fachdisziplinen als auch gegenüber der weiteren nichtuniversitären Öffentlichkeit blieb. Soziologische Lateinamerikaforschung findet sich entsprechend auch außerhalb der universitären Fachdisziplin. Abschnitt 4 skizziert deshalb die universitäre und außeruniversitäre Forschung verwandter Disziplinen zu soziologisch relevanten Fragestellungen. Die gegenwärtige Situation, wie sie sich aus der Sicht der in der Lateinamerikaforschung engagierten Forscherinnen und Forscher darstellt, wird in Abschnitt 5 behandelt, der Ergebnisse aus einer kleinen Umfrage präsentiert.
Die Anfänge der soziologischen in der Schweiz
Lateinamerikaforschung
Blickt man in die Anfangszeit der Schweizer Soziologie als institutionalisierter Wissenschaftsdisziplin zurück, spielt die Lateinamerikaforschung eine überraschend prominente Rolle, die in auffallendem Kontrast zu ihrer oben angemerkten gegenwärtigen Marginalität steht. Die Anfänge der soziologischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz reichen in die 1950er und 1960er Jahren zurück. Richard F. Behrendt von der Universität Bern (bis 1965) und Peter Heintz von der Universität Zürich (ab 1966) sind die Wegbereiter, die die soziologische Lateinamerikaforschung in dieser Phase geprägt haben. Der deutsch-amerikanische Ökonom und Soziologe Richard F. Behrendt war 1953-1965 Ordinarius für Soziologie und 1960-1965 auch Leiter des Instituts für Soziologie und sozio-ökonomische Entwicklungsfragen an der Universität Bern; 1965 verließ er die Schweiz und folgte einem Ruf nach Berlin. In den 1930er und 1940er Jahren lehrte Behrendt u.a. an verschiedenen lateinamerikanischen Universitäten und war als Entwicklungsberater für die Weltbank und die UNO in mehreren lateinamerikanischen Ländern tätig. Im Mittelpunkt von Behrendts Arbeiten steht die Entwicklungsproble-
232
Christian Suter
matik umd damit verbunden die Entwicklungsförderung. 2 Behrendt, der sich am modernisierungstheoretischen Paradigma der 1950er und 1960er Jahre orientiert hat, will Entwicklung, verstanden als "gezielter Kulturwandel", im Rahmen einer "sozialen Entwicklungsstrategie" erreichen. Ein wichtiges Anliegen Behrendts ist es, Entwicklung als gesamtgesellschaftlichen Prozeß zu verstehen, der nicht auf wirtschaftliche und technische Aspekte verkürzt werden darf, sondern auch tiefgreifende soziale, politische und kulturelle Wandlungen beinhalten muß. Dies betrifft sowohl sozial-psychologische Elemente (z.B. den Wandel zu "entwicklungsdynamischen" Werten, Verhaltensweisen und Lebenseinstellungen) als auch sozio-strukturelle und politische Aspekte (z.B. Veränderung traditioneller Eliteherrschaften, soziale Mobilität). Behrendt verstand seine soziale Entwicklungsstrategie nicht zuletzt als Alternative zum kommunistischen Gesellschaftsmodell, das gerade in den 1950er und 1960er Jahren bei breiten Bevölkerungskreisen in der Dritten Welt wachsenden Anklang zu finden schien. Peter Heintz, wie Behrendt Soziologe und Ökonom, gründete 1966 das Soziologische Institut der Universität Zürich, das unter seiner Leitung zur wichtigsten Forschungsstätte der Soziologie in der Schweiz wurde. Vor seiner Berufung nach Zürich war Heintz während mehrerer Jahre im Auftrag der UNESCO in Lateinamerika, in Costa Rica, Kolumbien und v.a. in Chile tätig, wo er die Sozialwissenschaftliche Fakultät (Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales, FLACSO) in Santiago de Chile leitete. In Argentinien baute Heintz die Soziologische Abteilung der Fundación Bariloche auf, an der er auch während seiner Tätigkeit in Zürich noch bis zur Machtübernahme der Militärs (1976) wirkte. Durch den Aufbau dieser Institutionen hat Heintz die Entwicklung der lateinamerikanischen Soziologie mitgeprägt. 3 Als Folge dieses "institution-building" in Lateinamerika und in der Schweiz ergaben sich über die Person von Peter Heintz in den 1960er und frühen 1970er Jahren auch institutionelle Kontakte zwischen der Schweiz und Lateinamerika. Eine Reihe von Mitgliedern des Departamento de Sociología der Fundación Bariloche, aber auch andere Lateinamerikaner waren als Forschungsassistenten und Mitarbeiter am Soziologischen Institut in Zürich tätig (u.a. Juan Bulnes, Edmundo Fuenzalida, Raúl A. Hernández, Rubén Kaztman, Hugo D. Scolnik). Aus dieser Zusammenarbeit entstand u.a. das vom Soziologischen Institut der Universität Zürich und dem Departamento de Sociología der Fundación Bariloche anfänglich
2
Vgl. etwa Behrendt (1941, 1949, 1954, 1956, 1957, 1961, 1965).
3
Vgl. Fuenzalida (1980), Lagos (1980), sowie Heintz (1957, 1960a, 1960b, 1964, 1967).
Die soziologische
Lateinamerikaforschung
233
gemeinsam herausgegebene Bulletin, das vorwiegend Berichte über die Institutsforschungen enthält. 4 Wie bei Behrendt bildet die Entwicklungsproblematik den thematischen Angelpunkt in der von Heintz und seinen Mitarbeitern geprägten Phase der soziologischen Lateinamerikaforschung. Während die frühen Formulierungen dieser Entwicklungstheorie noch teilweise im modernisierungstheoretischen Paradigma wurzeln 5 , hat sie als "Theorie sozietaler Systeme" im Verlaufe der 1970er Jahre einen eigenständigen Charakter entwickelt, der durch eine starke Schulbildung geprägt ist. 6 Der hohe Abstraktionsgrad und die starke Neigung zur Formalisierung und Modellbildung erschweren den Zugang zu diesem entwicklungstheoretischen Ansatz beträchtlich, was mit ein Grund für seine relativ geringe Rezeption sein dürfte. Die Situation der Unterentwicklung Lateinamerikas und der Dritten Welt im allgemeinen wird von Heintz unter dem Bezugspunkt einer allgemeinen Strukturtheorie behandelt, wobei von einer Ungleichverteilung von Macht und Prestige zwischen den Nationen innerhalb der Weltgesellschaft und den daraus resultierenden strukturellen und anomischen Spannungen ausgegangen wird. Heintz begreift Entwicklung als den zentralen sozialen Wert innerhalb der Weltgesellschaft und spricht deshalb von einem internationalen Entwicklungsschichtungssystem, in dem die einzelnen Länder unterschiedliche Positionen einnehmen. Unter Entwicklung wird ein System miteinander verbundener Dimensionen und Statuslinien verstanden, wie z.B. das ProKopf-Einkommen, die Bildung, die Urbanisierung und die sektorielle Differenzierung der Wirtschaft, die mit einem unterschiedlichen Macht- und Prestigegehalt ausgestattet sind. Die damit verbundenen unterschiedlichen Zugänglichkeiten und Instrumentalitäten der einzelnen Dimensionen (die Expansion von Bildung und Urbanisierung ist z.B. leichter und schneller zu realisieren als eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens) haben eine Vielfalt nationaler Entwicklungsmuster und -wege zur Folge. Diese Entwicklungstheorie wurde nicht nur auf das internationale System und auf das System der lateinamerikanischen Staaten angewandt 7 , sondern auch auf die
4
Mehrere aus dieser Kooperation hervorgegangene Arbeiten sind auch in den zwei Sammelbänden von Heintz (1972) enthalten; vgl. auch die Beiträge in Hischier u.a. (1980).
5
Vgl. Heintz (1962, 1969).
6
Vgl. besonders die Arbeiten in Heintz (1972) sowie Heintz und Heintz (1973), Heintz (1982).
7
Heintz (1969), Archetti und Heintz (1972), Kaztman (1972), Heintz und Heintz (1973) sowie die Beiträge in Heintz (1972).
234
Christian Suter
tieferen Systemebenen von Provinzen und Departementen. 8 Dabei wurde eine Vielfalt von Fragestellungen thematisiert. Neben der Analyse von Struktur und Wandel der internationalen, regionalen und provinziellen Schichtungssysteme gehört dazu u.a. der Einfluß der Bildung auf das wirtschaftliche Wachstum, die Manifestation und der Transfer struktureller Spannungen, Formen politischer Regimes sowie die Mobilität von Ländern (Provinzen, Departementen) innerhalb des Schichtungssystems, bzw. die Möglichkeiten nationaler Entwicklung im internationalen Kontext und unter den Bedingungen externer Abhängigkeit. 9
Die Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren: Thematische Vielfalt und fehlende Institutionalisierung Die oben skizzierten vielversprechenden Anfänge der soziologischen Lateinamerikaforschung fanden in den 1970er und 1980er Jahren keine entsprechende Kontinuität. In Zürich hat die eigentliche Lateinamerikaforschung in dieser Phase stark an Bedeutung verloren, da sich das Forschungsinteresse innerhalb der Entwicklungsländersoziologie auf andere Gebiete und Themenbereiche verlagert hat. 10 Auch die oben erwähnten institutionellen Kontakte zu lateinamerikanischen Forschungsstätten brachen ab, u.a. als Folge der Machtübernahme autoritärer Militärregimes in den Ländern der Partnerinstitute (Argentinien, Chile). Die soziologischen Institute der anderen Schweizer Universitäten, die sich in der Soziologie der Entwicklungsländer engagierten, vermochten diese Lücke nicht zu füllen, da sie sich hauptsächlich auf andere Regionen konzentrierten. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden zwar zahlreiche Einzelforschungen zu einer Vielfalt von Themen, doch vermochten sich kaum Kommunikations- und Kooperationsnetze unter den einzelnen Forschern zu etablieren. Die Aktivitäten blieben dementsprechend fragmentiert, und es kam nicht zu einer irgendwie gearteten Institutionalisierung und Professionalisierung der soziologischen Lateinamerikaforschung. Dieser Desintegrations8
Z.B. Kaztman (1967) für die argentinischen Provinzen, Hernández (1969), Hernández und Heintz (1972) für die argentinische Provinz Tucumán, Josi (1976) für das Departement La Libertad in Peru.
9
Mora y Araujo (1972, 1980), Heintz und Hischier (1983), Alschuler (1973, 1975).
10 Vgl. z.B. Bornschier (1980), Müller (1981, 1988), Hischier (1987), Pfister und Suter (1987).
Die soziologische
Lateinamerikaforschung
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prozeß, der sich nicht nur in der soziologischen Lateinamerikaforschung, sondern in der Schweizer Soziologie im allgemeinen feststellen läßt, hängt damit zusammen, daß sich die allgemeinen Paradigmen aus den 1950er und 1960er Jahren aufzulösen begannen. Die Forschung spezialisierte sich zunehmend auf einzelne voneinander losgelöste thematische Teilbereiche. Dies erlaubte eine Vertiefung und eine Akkumulation von Wissen innerhalb der jeweiligen "Bindestrichsoziologien" (wie Familien-Soziologie, JugendSoziologie etc.), die jedoch auf Kosten eines übergreifenden Theoriediskurses erfolgten. Im folgenden sollen die verschiedenen thematischen Bereiche der während den 1970er und 1980er Jahren getätigten Forschung aufgelistet werden, wobei nicht zuletzt aufgrund des oben erwähnten fragmentierten Zustands der Profession kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Im Anschluß daran soll die Situation in der Forschungsförderung beleuchtet werden. Schon ein flüchtiger Blick auf die Publikationsliste der Schweizer Soziologinnen und Soziologen zur Lateinamerikaforschung deutet auf das weite Spektrum der behandelten Themen hin, die die unterschiedlichsten Subdisziplinen der Soziologie betreffen, wie etwa Politische Soziologie, Wirtschaftssoziologie, Jugendsoziologie, Agrarsoziologie, Stadtsoziologie, Demographie, Minoritäten. Dabei werden sowohl makrosoziologische wie mikrosoziologische Fragestellungen untersucht. Im folgenden thematischen und personellen Uberblick werden die verschiedenen Einzelforschungen zu sechs größeren Themenkreisen zusammengefaßt. Ein erster breitgefächerter Themenbereich betrifft die Entwicklungsproblematik. Die Frage nach der Uberwindung von Armut, Hunger und Unterentwicklung stellte die größte und wichtigste Herausforderung in den 1970er und 1980er Jahren dar. Entsprechend bildet die Entwicklungsproblematik, die, wie weiter oben ausgeführt, bereits in den 1960er Jahren von Richard F. Behrendt und Peter Heintz und ihren Mitarbeitern aufgegriffen worden ist, weiterhin einen wichtigen thematischen Schwerpunkt. Stark beeinflußt durch die von lateinamerikanischen Soziologen und Ökonomen formulierte Dependencia-Theorie wird insbesondere die Behinderung nationaler Entwicklung durch externe Faktoren untersucht. Unter dem Bezugspunkt von Herrschaft und Abhängigkeit werden die Strukturen innerhalb der Dritten Welt und die Beziehungen zu den entwickelten Ländern analysiert, wobei die Nationen der Dritten Welt als abhängige Peripherien und die hochindustrialisierten Länder als die dominierenden Zentrumsregionen verstanden werden. Neben theoretischen Arbeiten, die sich mit der Struktur und
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den Problemen des peripheren Kapitalismus beschäftigen 11 , liegen auch Fallstudien zu lateinamerikanischen Ländern vor. 12 Daneben sind mehrere empirische Arbeiten zu verschiedenen Teilbereichen und Dimensionen von Abhängigkeit und Entwicklung entstanden, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen; sie thematisieren die Rolle transnationaler Konzerne, die Problematik der Auslandsverschuldung und die Krise der 1980er Jahre sowie die Ernährungssituation. In zahlreichen empirisch ausgerichteten Arbeiten hat ein Forschungsteam an der Universität Zürich unter der Leitung von Volker Bornschier den Einfluß transnationaler Wirtschaftsunternehmen auf die Entwicklung der Gastländer in den späten 1960er und in den 1970er Jahren untersucht. Dabei zeigt sich, daß der Zufluß von Auslandsdirektinvestitionen zwar kurzfristige Wachstumseffekte auslöst. Aufgrund verschiedener Mechanismen (Dekapitalisierung durch Gewinntransfers in die Ursprungländer, wachsende Ungleichheit zwischen Sektoren, Regionen und in den Einkommen, Monopolisierung der Produktion) behindern Auslandsinvestitionen durch transnationale Konzerne jedoch die langfristige Entwicklung beträchtlich. 13 Verschiedene Untersuchungen zur gegenwärtigen und zu früheren Verschuldungskrisen haben ergeben, daß lateinamerikanische Länder seit dem frühen 19. Jahrhundert wiederholt von Schuldenkrisen betroffen worden sind - so in den 1820er, 1870er, 1930er und 1980er Jahren. Dieses zyklische Auftreten von Schuldenkrisen wird mit der Dynamik globaler Wachstumszyklen in Zusammenhang gebracht. Die vergleichende Analyse von Schuldenregelungsabkommen zeigt einen deutlichen Gegensatz zwischen den substantiellen Schuldenerleichterungen, wie sie in früheren Krisen gewährt worden sind (u.a. in den 1930er und 1940er Jahren) und den für die Schuldnerländer harten Bedingungen der gegenwärtig (d.h. in den 1980er Jahren) praktizierten Umschuldungsstrategie. 14 Die Auswirkungen der gegenwärtigen tiefen Verschuldungs- und Wachstumskrise auf die Sozialstruktur und das politische System sind Thema weiterer Studien. 15 Neben 11 Vgl. Alschuler (1980), Oliva (1985). 12 Vgl. Lalive d'Epinay und Necker ( 1980), Scheuermeier ( 1980), Stamm ( 1991 ). 13 Generell für die Dritte Welt vgl. Bornschier (1980), sowie Bornschier und Chase-Dunn (1985), die auch eine Fallstudie zu Brasilien präsentieren. Eine Firmenfallstudie über transnationale Konzerne legt Harrisson (1986) vor, der die Rolle des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Nestlé in Lateinamerika beschreibt. 14 Vgl. Pfister und Suter (1987), Suter und Pfister (1989), Stamm u.a. (i.V.), Suter (1990, 1992), der neben generellen, globalen Prozessen u.a. Fallstudien zur Verschuldungsgeschichte von Peru und Argentinien präsentiert sowie Suter und Stamm (1992). 15 Vgl. etwa die Arbeiten von Bolay (1986b) und Stamm (1991) zu Mexiko.
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diesen wirtschaftssoziologisch ausgerichteten Studien ist in diesem ersten Themenbereich schließlich eine kleinere Arbeit von Oliva (1990) zu nennen, die sich mit der Ernährungssituation und der Hungerproblematik in der Dritten Welt befaßt, wobei lateinamerikanische und afrikanische Länder miteinander verglichen werden. Ein zweiter Themenkomplex ist im Bereich der Stadtsoziologie und Urbanismusforschung anzusiedeln. Er nimmt Bezug auf das übermäßige Wachstum der Städte, eines der großen Probleme in der gesamten lateinamerikanischen Region. Eine erste Gruppe soziologischer Studien thematisiert Ursache und Struktur des Verstädterungsprozesses. Damit verbunden werden die urbane Entwicklungspolitik untersucht und Projekte der Stadtentwicklung (wie z.B. Wohnungsbauprogramme) evaluiert. 16 Eine zweite Gruppe von Studien befaßt sich mit sozialen Auswirkungen der Urbanisierung. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei der informelle Sektor. Hier sind insbesondere die jugendsoziologischen Arbeiten von Riccardo Lucchini zu erwähnen, der an der Universität Freiburg lehrt. Lucchini untersuchte die Problematik von "Straßenkindern" in den Elendsvierteln Lateinamerikas, insbesondere in Brasilien. Er hat zu diesem Thema zahlreiche Artikel publiziert; eine Buchpublikation, die demnächst vorliegen wird, befaßt sich mit der Karriere von Straßenkindern in Rio de Janeiro. 17 Mit dem Begriff "Straßenkinder" wird Bezug genommen auf die Bedeutung der Straße als sozialer Raum für Kinder und Jugendliche städtischer Elendsviertel. Lucchini thematisiert die Situation der Straßenkinder unter dem Bezugspunkt ihrer Uberlebens- und Beschäftigungsstrategien, der Identitätsbildung und der sozialen Organisation der jugendlichen Gruppen. Die Beziehung von Kindern und Jugendlichen zur Straße basiert zunächst auf ihrer Beschäftigung, da sich der für den Lebensunterhalt notwendige Verdienst zur Hauptsache auf der Straße findet (als Schuhputzer, Straßenverkäufer, Träger, Aufpasser etc.). Der Broterwerb auf dem öffentlichen und umkämpften Raum der Straße (Zugang zu lukrativen Plätzen) impliziert ein komplexes Netz klientelistisch strukturierter sozialer Beziehungen der Jugendlichen zu Erwachsenen (z.B. zu Ladenbesitzem und Polizisten) sowie der Jugendlichen unter sich. In seinen Arbeiten thematisiert Lucchini auch den Drogenkonsum jugendlicher Gruppen. Drogen (Marihuana, Schnüffeln von Leim, z.T. Kokain, Alkohol, Medikamente) werden kollektiv beschafft und konsumiert. Sie spielen für die Schaffung der sozialen Identität der Gruppe und der Strukturierung von Raum und Zeit eine entscheidene Rolle. 16 Cardona und Simmons (1980), Cintra (1980), Bolay u.a. (1990), Bolay (1991, i.V.). 17 Lucchini (1988a, 1988b, 1989, 1990, 1991, i.V.).
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Verknüpft mit der Thematik der Urbanisierung ist die Migrationsproblematik, die ein drittes soziologisches Forschungsgebiet darstellt. Eine erste Fragestellung in diesem Bereich bezieht sich auf die Migration aus ländlichen Gebieten in die Urbanen Zentren. Bolay (1986a) untersucht in einer Fallstudie die Motivation der Migranten einer mexikanischen Provinzstadt. Die Anziehungskraft der Urbanen Zentren für die aus ländlichen Gebieten zugewanderten Migranten beruht auf dem vergleichsweise großen Arbeitsmarkt und der vorhandenen sozialen und medizinischen Infrastruktur (u.a. Zugang zu Schul- und Berufsbildung für die Kinder). Die strukturellen Hintergründe der hohen Land-Stadt-Migration in Mexiko und ganz Lateinamerika sieht Bolay im einseitig auf die Förderung der Industrialisierung und der Urbanen Zentren ausgerichteten Entwicklungsmodell, das die Landwirtschaft und die ländlichen Regionen vernachlässigt. Neben der oben beschriebenen Land-Stadt Migration existiert insbesondere in Ländern, die über große, wenig erschlossene Gebiete mit leichtem Zugang zu Landressourcen verfügen, auch eine allerdings umfangmäßig weniger bedeutsame Land-Land Wanderung. Häufig wird diese Migrationsform durch staatliche Kolonisierungs- und Umsiedlungsprogramme offiziell gefördert. Büchler (1978) befaßte sich in seiner vom Schweizer Nationalfonds unterstützten Evaluationsstudie mit Neusiedlungen in der peruanischen Selva. Neben der Analyse der Migrationsbewegungen und der Migrationsmotive sind Sozial struktur sowie wirtschaftliche und politische Verfassung der Neusiedlungen untersucht worden. Eine weitere Fragestellung, die im Rahmen der Migrationsforschung aufgegriffen worden ist, befaßt sich mit der Flüchtlingsproblematik. Es handelt sich hierbei um internationale und hauptsächlich politisch motivierte Wanderungsströme, die insbesondere Zentralamerika betreffen. 1 8 Verschiedene Forschungsarbeiten zur politischen Soziologie Lateinamerikas können einem vierten Themenkreis zugeordnet werden. Die in diesem Zusammenhang untersuchten Fragestellungen umfassen Klassenkonflikt und nationale Befreiungsbewegungen, Ausmaß und Auswirkungen politischer Konflikte, Staatsentwicklung und Wandel politischer Regimes sowie soziale und politische Mobilisierungsprozesse. Jean Ziegler, der an der Universität Genf lehrt, befaßt sich mit den Befreiungs- und Guerrillabewegungen in Mittelamerika. Er dokumentiert die Geschichte der sandinistischen Bewegung und ihrer Repräsentanten in Nicaragua von den Anfängen in den 1920er Jahren bis zu ihrem Sieg über das Somozaregime. 19 Nollert (1991) untersucht in seiner Studie die Auswirkungen des Ausmaßes und der Qualität der Weltmarktintegration der lateinamerikanischen Länder auf das Aus18 Vgl. Rapold (1986b). 19 Ziegler (1968, 1983).
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maß an politischer Konfliktivität. Er kommt zum Schluß, daß die Außenbeziehungen das Konfliktniveau primär nicht direkt beeinflussen; ihre Wirkung wird vielmehr vermittelt durch das Ausmaß an sozioökonomischer Ungleichheit, durch das Wirtschaftswachstum und durch den Charakter des politischen Regimes. Pfister und Suter (1991) diskutieren die politische Entwicklung in Peru zwischen 1950 und 1985 vor dem Hintergrund einer Typologie politischer Regimes. Sie finden eine Abfolge von auf Exportinteressen fußenden Regimes zu populistischen Regimes, die sich zunächst auf die Mittelschichten stützen (Belaünde), später aber auch Unterschichten mit Hilfe korporatistischer Herrschaftstechniken zu integrieren versuchen (Velasco). 20 Rapold (1986a, 1988, 1989) beschreibt in ihrer auf mehrjähriger Feldforschung basierenden Arbeit die soziale Mobilisierung mexikanischer Bäuerinnen, die die Errichtung einer landwirtschaftlichen Produktionskooperative beabsichtigen. Anhand dieses - allerdings letztlich gescheiterten - Mobilisierungsprozesses werden die Bedingungen für soziale und politische Mobilisierung im ländlichen Kontext analysiert. 21 Als fünfter Themenbereich sind kultur- und religionssoziologische Studien zu nennen. Hierzu gehören die Arbeiten der beiden Genfer Soziologen Jean Ziegler und Christian Lalive d'Epinay. Ziegler (1975) diskutiert in seiner "Soziologie des Todes" die Wahrnehmung vom und der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod, wobei er die westlichen Industriegesellschaften mit der afrikanischen Diaspora im brasilianischen Nordosten kontrastiert. Während der Tod in den Gesellschaften der schwarzen Diaspora Brasiliens eine wichtige Rolle spielt, wird er in der westlichen Industriegesellschaft verdrängt. Ziegler sieht in diesem fehlenden oder mangelhaften Bewußtsein des Todes bzw. der Endlichkeit der menschlichen Existenz einen grundlegenden Herrschaftsmechanismus zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Warengesellschaft. Lalive d'Epinay, der sich mit dem lateinamerikanischen Protestantismus des 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzt, unterscheidet fünf Ausprägungen protestantischer Kirchen und religiöser Bewegungen in Lateinamerika. 22 Grundlage dieser Typologie ist einerseits der institutionelle Charakter der Kirche (bzw. Bewegung) im Ursprungsland (Kirche, Freikirche, Sekte) und andererseits der Modus der Religionsübertragung, wobei zwischen den Akteuren der Übertragung (als "Emittenten" werden protestantische Immigranten und Missionare unterschieden) und der Zielgruppe 20 Vgl. hierzu auch die allerdings nicht ausschließlich auf Lateinamerika bezogenen Arbeiten von Sidjanski und Jacobson (1980), Heintz und Hischier (1983), Hischier (1987). 21 Vgl. auch Von der Heydt-Coca (1983) zur bolivianischen Revolution von 1952. 22 Die empirischen Untersuchungen beziehen sich v.a. auf Argentinien und Chile (vgl. Lalive d'Epinay 1969, 1971, 1975, 1981, 1988).
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(Gesamtbevölkerung oder spezifische Immigrantenpopulation) differenziert wird. Die verschiedenen Typen unterscheiden sich in verschiedenen Dimensionen, so u.a. bezüglich ihres historischen Auftretens oder der sozialen Zusammensetzung der Gläubigen. Agrarsoziologische Fragen bilden einen sechsten Themenbereich. Büchler (1975) untersuchte das ländliche Kooperativenwesen in Peru und dessen Bedeutung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes. Neben der erwähnten Studie von Rapold über die Mobilisierungsbedingungen bei mexikanischen Bäuerinnen sind in diesem Forschungsgebiet eine noch laufende Untersuchung über die Beziehungen zwischen Staat und ecuadorianischen Bäuerinnen im Erziehungsbereich 23 sowie eine kleine, bereits in den 1960er Jahren verfaßte Arbeit des Basler Entwicklungssoziologen Paul Trappe (1984: 577-587) über Probleme der ländlichen Entwicklung Lateinamerikas zu nennen. Forschungsaktivitäten sind immer auf finanzielle Unterstützung durch Dritte angewiesen, sofern nicht auf (individuelle) Eigenmittel zurückgegriffen werden kann oder will. Da mit Ausnahme der oben erwähnten Frühphase um Richard F. Behrendt und Peter Heintz und der gegenwärtigen Forschungsaktivitäten von Riccardo Lucchini in Freiburg kein soziologisches Universitätsinstitut und kein Lehrstuhlinhaber den Forschungsschwerpunkt auf die Lateinamerikanistik legt, konnten bislang nur wenig institutionelle, d.h. an die jeweiligen Universitätsinstitute und Lehrstühle gebundene Ressourcen mobilisiert werden. Die soziologische Lateinamerikaforschung vermochte jedoch auch kaum, bei den außeruniversitären staatlichen Forschungsförderungseinrichtungen größere finanzielle Mittel aufzubringen. Die wichtigste Forschungsförderungsinstitution, der Schweizerische Nationalfonds, finanzierte in den letzten 15 Jahren nur gerade ein einziges soziologisches Projekt im Bereich der Lateinamerikaforschung. 24 Allerdings befaßte sich bislang auch keines der vom Nationalfonds administrierten Nationalen Forschungsprogramme mit Fragen der Lateinamerikanistik. 25 23 Perez-Maldonado (1985, 1991, i.V.). 2 4 Es handelt sich hierbei um die oben erwähnte Evaluationsstudie von Büchler. Der Nationalfonds unterstützte jedoch verschiedene weitere Projekte aus anderen Fachdisziplinen, die sich mit soziologischen Themen befaßten. Vgl. Schweizerischer Nationalfonds, Jahresberichte, 1975-1990. 25 Eine gewisse Ausnahme bildet das kürzlich ausgeschriebene Nationale Forschungsprogramm 28 ("Die Schweiz in einer sich ändernden Welt: Außenwirtschaftliche und entwicklungspolitische Herausforderung"), das als Ersatz für das nichtzustandegekommene Programm zum Thema "Schweiz-Dritte Welt" einen entwicklungspolitischen Teil beinhaltet (vgl. Schweizerischer Nationalfonds, NFPNR 1990). Allerdings befaßt
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Auch von anderen offiziellen Stellen (z.B. von der DEH) 2 6 vermochte die soziologische Lateinamerikaforschung bislang keine finanziellen Zuwendungen zu erwirken. Bei den privaten Institutionen der Forschungsförderung, die allerdings im allgemeinen nur über sehr beschränkte finanzielle Mittel verfügen, spielt die "Stiftung Weltgesellschaft" eine wichtige Rolle für die Finanzierung soziologischer Projekte zu Lateinamerika. Die von Peter Heintz 1982 gegründete Stiftung, die ihren Sitz am Soziologischen Institut an der Universität Zürich hat, fördert sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben, die sich mit Fragen und Problemen der Weltgesellschaft auseinandersetzen. Wohl nicht zuletzt aufgrund der engen Beziehung des Stiftungsgründers zu Lateinamerika (vgl. weiter oben Abschnitt 2) befassen sich mehrere der finanzierten Forschungsprojekte mit dieser Region. Dies kommt auch in den Beiträgen des ersten, von der Stiftung herausgegebenen Sammelbandes zum Ausdruck, der fünf Artikel zu Lateinamerika enthält. 27
Soziologische Lateinamerikaforschung außerhalb der eigentlichen universitären Fachdisziplin Aufgrund der thematischen Vielschichtigkeit und der ausgeprägten Fragmentation zeichnet sich die soziologische Lateinamerikaforschung durch ein sich lediglich eines der bis Ende 1990 bewilligten 21 Gesuche mit der lateinamerikanischen
Region,
wobei
bei
diesem
Forschungsvorhaben
("Das
Strukturanpassungs-
programm Boliviens" beantragt vom Ökonomen J e a n - M a x Baumer) wirtschaftliche Fragestellungen im Vordergrund stehen. 2 6 Die Direktion für Entwicklung und humanitäre Hilfe ( D E H ) ist innerhalb der Bundesverwaltung verantwortlich für Planung und Durchführung der öffentlichen Entwicklungshilfeprogramme der Schweiz. 27 V g l . Bornschier und Lengyel ( 1 9 9 0 , 1992). Seit Beginn der Förderungstätigkeit ( 1 9 8 4 ) unterstützte die "Stiftung Weltgesellschaft" im Bereich der Lateinamerikaforschung neben den bereits oben erwähnten Forschungen von Oliva ( 1 9 9 0 ) , Nollert ( 1 9 9 1 ) und Stamm ( 1 9 9 1 ) auch die Projekte "World Society and Ecological Humanism" von Gustavo Lagos, Heraldo Muñoz, Carlos Portales und Walter Sánchez vom Instituto de Estudios Internacionales, Universidad Chile, Santiago de Chile (vgl. Muñoz 1990, Sánchez
1990a,
1990b), "Zerstörung des tropischen Regenwaldes, ethnische Bewegungen und soziopolitische Wahrnehmung von Umweltproblemen in B o l i v i e n " von Hugo C . F . Mansilla sowie "Populismus in der dritten Welt: Eine vergleichende Analyse populistischer R e g i m e s in Afrika, Asien und Lateinamerika" des Verfassers.
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hohes Maß an Offenheit gegenüber der Forschung anderer Disziplinen sowie gegenüber der außeruniversitären Öffentlichkeit aus. Entsprechend werden soziologisch relevante Fragestellungen zu Lateinamerika zu einem beträchtlichen Teil von verwandten Fachdisziplinen untersucht (wie Ethnologie, Geschichte, Ökonomie, Politikwissenschaft oder Sozialgeographie). Die Relevanz dieser außerhalb der universitären soziologischen Fachdisziplin realisierten Untersuchungen für die soziologische Lateinamerikaforschung zeigt sich darin, daß sie sich mit allen oben dargestellten soziologischen Forschungsfeldern befassen. Im folgenden sollen einige Arbeiten zu diesen Themenbereichen erwähnt werden. Aus Platzgründen kann dabei nicht auf die Forschungsergebnisse eingegangen werden. Wie bei den oben dargestellten universitären soziologischen Forschungen bildet die Entwicklungsproblematik einen thematischen Angelpunkt. Die dabei untersuchten Teilaspekte betreffen u.a. die Analyse der Ursachen von Entwicklung und Unterentwicklung bzw. die Formulierung von Entwicklungstheorien und Entwicklungsstrategien, die Beziehungen zwischen der Schweiz und Lateinamerika (wobei die wirtschaftlichen Aktivitäten und Akteure im Zentrum stehen), die Rolle transnationaler Firmen im Entwicklungs- und Industrialisierungsprozeß Lateinamerikas sowie die Problematik der Auslandsverschuldung. 28 Auf dem Gebiet der politischen Soziologie dominieren Fallstudien zu einzelnen Ländern und Regimes 29 , während komparativ angelegte Untersuchungen nur vereinzelt durchgeführt wurden. 30 Das für die soziologische Lateinamerikaforschung wohl wichtigste Einzelwerk ist die Abhandlung des Historikers Hans Werner Tobler (1984) über die mexikanische Revolution. Auch zu den anderen oben dargestellten soziologischen Forschungsgebieten, wie der Stadtforschung 31 , der Migra-
28 Vgl. etwa Enderlin (1973), Tanner (1976), Holzborn (1978), Baumer (1981, 1984, 1991), Heierli (1981), Mace (1981), Baumer und von Gleich (1982), Etemad (1982), Gerster (1982, 1987), Haymoz (1982), Imfeid (1983), Schuldt (1983), Stankiewicz (1984), ILO (1985), Fontaine (1986), Schmid und Zürcher (1986), Liemt (1988), Gilgen-Duschen (1989), Schneeberger (1989), Schwahn (1989), Auroi (1990), Hänsenberger (1990), Herzog (1990), Knöpfel (1991) sowie die Beiträge in Poch (1986), in Cahiers Latino Américains 1 (1987) und in Widerspruch, Sonderband 2 (1989). 29 Vgl. Knoblauch (1980) zum Peronismus in Argentinien, Buss (1982) zu Bolivien, Bosshard (1987) zum Regime von Michael Manley in Jamaica, Auroi (1988) zur peruanischen Guerillabewegung des Sendero Luminoso sowie Holenstein (1987) über die Berichterstattung der Schweizer Presse zu Mittelamerika. 30 Fischer u.a. (1979). 31 Kritz und Ramos ( 1976), Büchler ( 1989), Riano ( 1988, 1991 ), Riano und Wesche ( 1991 ).
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tionsproblematik 32 , der Agrarsoziologie 33 und der Religionssoziologie 34 liegen verschiedene Studien vor. Darüberhinaus werden soziologisch relevante Forschungsgebiete behandelt, die von der soziologischen Fachdisziplin vernachlässigt werden, wie z.B. die Literatursoziologie. 35 Soziologische Lateinamerikaforschung findet sich auch im außeruniversitären Bereich, wobei hier die praxisorientierte Forschung sowie die Vermittlung soziologischen Wissens in der weiteren Öffentlichkeit im Vordergrund steht. Zu den wichtigsten institutionellen Trägern zählen die in der Schweiz ansässigen internationalen Organisationen (wie das ILO - International Labour Office), die staatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit (wie die DEH - Direktion für Entwicklung und humanitäre Hilfe) und die verschiedenen privaten Hilfswerke. Schließlich sind verschiedene Organisationen innerhalb der Solidaritätsbewegung Schweiz-Dritte Welt zu nennen (wie z.B. die Erklärung von Bern, die verschiedenen Solidaritätskomitees für Lateinamerika etc.). Die soziologische Fachdisziplin hat insofern einen Bezug zu diesem außeruniversitären Bereich der Lateinamerikaforschung, als Absolventen der Soziologie sowie ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter darin tätig sind.
Die soziologische Lateinamerikaforschung Sicht der beteiligten Forscher
aus der
Der fragmentierte Charakter der soziologischen Lateinamerikaforschung hat bei den beteiligten Forscherinnen und Forschern ein Informationsdefizit zur Folge, welches auch die Erarbeitung der vorliegenden Darstellung erheblich erschwert hat. Um eine Ubersicht über die soziologische Lateinamerikaforschung zu gewinnen und um individuelle Erfahrungen und Beurteilungen miteinbeziehen zu können, führte der Verfasser im Sommer 1991 eine kleine schriftliche Befragung bei den ihm bekannten Forscherinnen und Forschern durch, die sich in diesem Bereich engagiert haben. Die Befragten wurden in verschiedenen, unstandardisierten Fragen gebeten, die Situation der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Lateinamerikaforschung zu 32 Tanner ( 1980), Joos-Süsstrunk ( 1981 ), Martinez ( 1986), Lohrmann ( 1987). 33 Bartu (1979), Siebenmann (1979), Auroi (1982), Egli (1982), Oberholzer (1983). 34 Furter (1975), Necker (1975, 1979), Marin Gonzales (1988, 1990), Ackermann (1989). 35 Vgl. etwa Lienhard ( 1981 ), Vêlez ( 1986a, 1986b).
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beurteilen (Stellenwert der Lateinamerikaforschung innerhalb der Soziologie, Bedeutung für die internationale Forschung, wichtige behandelte Fragestellungen und Themen, zentrale Publikationen, Praxisrelevanz, Defizite der Forschung). Es wurden insgesamt 37 Personen angeschrieben, wobei nicht nur die in der Lateinamerikaforschung aktiven Soziologinnen und Soziologen berücksichtigt wurden, sondern auch Forscherinnen und Forscher anderer Disziplinen, die sich im universitären oder im außeruniversitären Bereich mit soziologisch relevanten Fragestellungen befaßt haben. Von den insgesamt 37 Fragebogen wurden 19 ausgefüllt zurückgeschickt, was einer Rücklaufquote von 51 % entspricht. Angesichts der Tatsache, daß der Kreis der angeschriebenen potentiellen Lateinamerikanisten bewußt sehr weit gefaßt wurde und sich viele der Kontaktierten nur am Rande mit soziologischer Lateinamerikaforschung beschäftigen, ist diese Rücklaufquote erfreulich hoch. Von den 19 zurückgeschickten Fragebogen waren 17 mehr oder weniger vollständig ausgefüllt. Erwartungsgemäß war der Rücklauf bei den im akademischen Bereich engagierten Befragten deutlich höher als bei den im außeruniversitären Bereich Tätigen. Von den zurückgeschickten 19 Fragebogen stammen 11 aus der Deutschschweiz und 8 aus der Westschweiz. Von den Befragten verstanden sich 11 als Soziologen; die anderen fühlten sich anderen (sozial-) wissenschaftlichen Disziplinen zugehörig (v.a. Ethnologie, Geschichte). Die bereits erwähnte marginale Stellung der soziologischen Lateinamerikaforschung wird auch von den Befragten deutlich artikuliert. Die Frage nach der Bedeutung der Lateinamerikaforschung in der Schweizer Soziologie und Sozialwissenschaft wurde ausnahmslos mit "schwach", "ungenügend", "nicht signifikant" und dergleichen beantwortet. Auch die Bedeutung der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung in der Schweiz für die internationale Lateinamerikaforschung wird im allgemeinen als gering und vernachlässigbar eingeschätzt, insbesondere verglichen mit den anderen europäischen Ländern. Die gegenwärtige soziologische Lateinamerikaforschung wird auch als äußerst fragmentiert empfunden. Zunächst zeigt sich im Antwortprofil der Befragten eine deutliche Kluft zwischen der deutschen und der französischen Schweiz. So geben bei der Frage nach den wichtigsten Schweizer Arbeiten zur Soziologie Lateinamerikas die deutsch-sprachigen Befragten fast ausschließlich deutsche Titel an, während umgekehrt die französischsprachigen Befragten v.a. französische Arbeiten nennen. Uberhaupt ergab sich bei der Beantwortung dieser Frage ein sehr uneinheitliches Bild. So wurden 11 verschiedene Autoren und ihre Arbeiten genannt, wobei nur Peter Heintz von mehr als zwei Befragten (nämlich von insgesamt fünf) erwähnt
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wurde und zwar sowohl von Forschern aus der deutschen wie der französischen Schweiz. Die Tatsache, daß sich ein Drittel der Befragten nicht imstande sah, diese Frage zu beantworten, deutet außerdem darauf hin, daß sich die soziologische Lateinamerikaforschung in der Schweiz vornehmlich an ausländischen Referenzgruppen bzw. an der internationalen Fachöffentlichkeit orientiert. Mehrere der Befragten äußerten sich denn auch direkt in diesem Sinne. Ein heterogenes und fragmentiertes Bild zeigt die gegenwärtige soziologische Lateinamerikaforschung auch hinsichtlich der Wahl der Themen und Fragestellungen. Dieser Aspekt wurde durch zwei verschiedene Fragen erfaßt: Einerseits sollten die Befragten die ihrer Ansicht nach zentralen Themen nennen, die in der soziologischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz behandelt wurden. Andererseits wurde nach den in den eigenen Arbeiten untersuchten Fragestellungen gefragt. Mit Ausnahme des allgemeinen Themenbereichs der Entwicklungsproblematik (fünf Nennungen) gibt es unter den Befragten wenig Konsens über die zentralen Fragestellungen in der schweizerischen Lateinamerikaforschung. Auch hinsichtlich der eigenen Forschungsaktivitäten wurde ein breites Spektrum von sehr unterschiedlichen Thematiken genannt, wobei auch keine regionalen Schwerpunkte sichtbar sind. Fachsoziologen (d.h. ohne die Sozialwissenschafter aus verwandten Disziplinen) widmen sich einer Vielfalt von Fragestellungen, wobei die hier nur unvollständig wiedergegebene Liste der Themen so unterschiedliche Bereiche wie Migration, afrikanische Diaspora in Lateinamerika, Urbane Entwicklung, informeller Sektor, soziale Mobilisierung, Bauernbewegungen, die Beziehung zwischen Staat und bäuerlichen Gruppen, politischer Konflikt, Korporatismus, politische Regimes und Auslandsverschuldung umfaßt. Zusammenfassend deuten die oben skizzierten Befunde darauf hin, daß die Lateinamerikaforschung innerhalb der Schweizer Soziologie stark fragmentiert ist. Der deutsche und französische Kulturkreis sind kaum miteinander verbunden; es gibt nur wenige institutionelle Kontakte innerhalb der Schweiz. Die Forschung ist sehr spezialisiert: Die verschiedenen Forscher behandeln ein breites Spektrum unterschiedlicher Themen, wobei nur wenige Themen von mehreren Forschern bearbeitet werden. Als Folge davon orientieren sich die Befragten weniger an der schweizerischen Forschung, sondern vielmehr an der internationalen Fachöffentlichkeit innerhalb des jeweiligen Spezialgebietes.
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Fazit Innerhalb der Schweizer Soziologie nimmt die Lateinamerikaforschung nur eine marginale Stellung ein. Zwar ist eine vielversprechende Entwicklung in der Anfangsphase während der 1950er und 1960er Jahre zu beobachten, und in den 1970er und 1980er Jahren entstanden zahlreiche Einzelforschungen, die ein breites thematisches Spektrum behandeln (Entwicklungsproblematik, Stadtsoziologie, Migration, Religionssoziologie, politische Soziologie, Agrarsoziologie). Die Lateinamerikaforschung vermochte jedoch nicht, sich als eigenständige Teildisziplin innerhalb der Soziologie zu etablieren. An den Hochschulen ist die soziologische Lateinamerikaforschung institutionell nur schwach verankert. So fehlt ein Zentrum für soziologische Lateinamerikastudien, wie es beispielsweise in Deutschland existiert. Die Forschung ist weitgehend fragmentiert und auf Einzelstudien beschränkt, wobei unter den beteiligten Forscherinnen und Forschern sowie Institutionen weder formelle noch informelle Kontakte und Kooperation bestehen. Der Zugang zu Forschungsgeldern gestaltet sich für die soziologische Lateinamerikaforschung im allgemeinen sehr schwierig. Häufig muß deshalb auf Eigenmittel zurückgegriffen werden. Es erstaunt daher nicht, daß ein wesentlicher Teil der Forschung auf Dissertationen basiert. Die große Themenvielfalt hat zur Folge, daß sich die Schweizer Forscherinnen und Forscher in erster Linie an der internationalen Fachöffentlichkeit innerhalb ihres Spezialgebietes orientieren. Die schwache Binnenorientierung der soziologischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz manifestiert sich besonders deutlich in der fehlenden Verbindung zwischen der deutschen und der französischen Schweiz. Fragmentation und schwache Institutionalisierung beeinträchtigen insgesamt die Kontinuität der soziologischen Lateinamerikaforschung beträchtlich. Soziologisch relevante Fragestellungen werden auch von verschiedenen anderen universitären Fachdisziplinen behandelt. Darüber hinaus entstanden auch im außeruniversitären Bereich zahlreiche Arbeiten. Es zeigte sich, daß alle von Fachsoziologen behandelten Forschungsgebiete auch von anderen universitären Disziplinen und in der außeruniversitären Forschung thematisiert werden. Inwieweit ein fachübergreifender Diskurs stattfindet, läßt sich nur schwer abschätzen, doch besteht zwischen der universitären und außeruniversitären Forschung leider nur wenig Verbindung. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, einen möglichst umfassenden Uberblick über die soziologische Lateinamerikaforschung zu geben. Allerdings macht der schwache Institutionalisierungs- und Professionalisierungsgrad der soziologischen Lateinamerikaforschung in der Schweiz eine
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lückenlose Darstellung dieses Forschungsfeldes unmöglich. Die Verbesserung der gegenseitigen Information und die Förderung der Kooperation zwischen den verschiedenen Forscherinnen und Forschern gehören deshalb zu den vordringlichsten Aufgaben der Zukunft. Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein erster Schritt in diese Richtung.
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Lateinamerikaforschung
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und soziale Revolution
in den unentwickelten
Ländern.
248
Christian
Suter
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Entwurf einer
Länder
und
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Transnational
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Society
und nationale
Corporations Studies
and
1. Frankfurt
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Cooperatives
in Perú.
A
Socio-Economic
Survey.
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Die soziologische
Lateinamerikaforschung
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249
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der
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Währungsfonds
ders.: "Schwellenländer: Sonderfälle oder Modelle?", in: Schweizer Monatshefte Politik, Wirtschaft und Kultur 67, 1987, S. 475-487
fur
Peter Louis Gilgen-Duschen: Evolution und Transformation komplexer Systeme: Wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Grundlagen sozialen Wandels. Diss. Zürich 1989
250
Christian
Suter
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Eine systematische
Anthologie.
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Die soziologische
Lateinamerikaforschung
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lateinamerikanisches
Mo-
Carlo Knöpfel: "Wie die Schweiz von Kolumbien profitiert: Eine Analyse der bilateralen Zahlungsbilanz", in: Widerspruch 22, 1991, S. 127-136
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A Study of the
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ar-
en Argentine et
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Lateinamerikaforschung
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le cas du group
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Handlungsspielräume
und die Mobilität
von
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Franciscains,
les premières
réductions
du
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Christian
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Ulrich Pfister/Christian Suter: "International Financial Relations as Part of the World-System", in: International Studies Quarterly 31,1987, S. 239-272 dies.: "Politische Regimes und Staatsentwicklung in der Dritten Welt: Peru seit den 1950er Jahren", in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 17/2, 1991 Poch (Hg.): Die Macht der Verschuldeten: Auf dem Weg zu einer neuen Einigungsbewegung in Lateinamerika? Zürich 1986 Dora Rapold: "Movilizaciones femeninas: Un ensayo teórico sobre sus condiciones y orígenes", in: Nueva Antropología 30,1986 dies.: Mujeres refugiadas en la Ciudad de México: Las jóvenes madres solas. UNHCR, México 1986
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Die soziologische
Lateinamerikaforschung
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Basel (Terre des
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Dezember
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Lateinamerika-
SGS (=Schweizerische Gesellschaft für Soziologie): Laufende Soziologische schungen 1973-90. Zürich
For-
Hanspeter Stamm: Krise und Anpassung in Mexiko: Eine Länderfallstudie zu Aufund Abstieg in der Semiperipherie des Weltsystems. Buchmanuskript, Soziologisches Institut, Universität Zürich 1991 Hanspeter Stamm/Christian Suter/Ulrich Pfister: "Lecciones del pasado: Las crisis internacionales de la deuda y sus soluciones, 1820-1990", in: Problemas del Desarrollo (in Bearbeitung) Antoni M. Stankiewicz: Mexico - Erdöl und Entwicklungspolitik. Diessenhofen 1984
(Diss. St. Gallen)
Christian Suter: Schuldenzyklen in der Dritten Welt: Kreditaufnahme, Zahlungskrisen und Schuldenregelungen peripherer Länder im Weltsystem von 1820 bis 1986. (Diss. Zürich) Frankfurt a.M. 1990 (= Athenäums Monografien
256
Christian
Suter
Sozialwissenschaften, Band 32) ders.: Debt Cycles in the World-Economy. Boulder 1992 Christian Suter/Ulrich Pfister. "Global Debt Cycles and the Role of Political Regimes", in: David Rapkin/William Avery (Hgg.): Markets, Politics, and Change in the Global Political Economy, IPE Yearbook, Bd. 4 (Boulder, CO 1989), S. 17-55 Christian Suter/Hanspeter Stamm: "Coping with Global Debt Crises: Debt Settlements 1820 to 1986", in: Comparative Studies in Society and History 34, 1992 Chris Tanner: "Die Aussenverschuldung: Erläuterung zu einem hochaktuellen Thema dargestellt am Beispiel von Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Brasilien und Argentinien", in: Lateinamerika-Nachrichten 4,1976, S. 1-58. ders.: Venezuelan Migration. (Diss. St. Gallen) Diessenhofen 1980 Hans Werner Toblen Die mexikanische Revolution: Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch 1876-1940. Frankfurt a.M. 1984 Paul Trappe: Entwicklungssoziologie. Basel 1984 (= Social Strategies Bd. 12) Luis Vélez: "La fonction de l'espace clos dans "L'Automne du Patriarche" de Garcia Márquez", in: Zeitschrift für Semiotik 8,1986, S. 93-100 ders.: "Notas sobre la significación en "Los Fundadores del Alba" de R. Prada", in: Revista Iberoamericana 134, 1986, S. 271-278 Magda Von der Heydt-Coca: Die Bolivianische Revolution von 1952: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Agrarsektors. Diss. Marburg 1983 Widerspruch: "Schuldenkrieg und CH-Finanzkapital: IWF, Entwicklungspolitik und Solidaritätsbewegung - Analysen, Kontroversen, Widerstand", in: Widerspruch, Sonderband 2, 1989 Jean Ziegler: "Erinnerungen an Che Guevara", in: Heinz Rudolf Sonntag (Hg.): Che Guevara und die Revolution. Frankfurt a.M. 1968, S. 63-72 ders.: Les vivants et la mort. Paris 1975 (deutsche Ausg.: Die Lebenden und der Tod. Frankfurt a.M. 1982) ders.: Les Rebelles: Contre Vordre du monde. Paris 1983 (deutsche Ausg.: Gegen die Ordnung der Welt: Befreiungsbewegungen in Afrika und Lateinamerika. Wuppertal 1985)
Evangelisation - Kirche - Theologie in Lateinamerika
257
Jakob Baumgartner
Evangelisation - Kirche - Theologie in Lateinamerika Schweizer Veröffentlichungen
seit 1945
Bibliographien sind nie abgeschlossen, aber auch nie vollständig, da einem immer wieder dieses oder jenes Erzeugnis geistigen Schaffens entschlüpft, ganz abgesehen davon, daß es bei der Auswahl aus der Fülle literarischer Produktion keine unparteiische Stellungnahme gibt - was gehört zu den erwähnenswerten Leistungen, was befindet sich unter dem Strich? Für die theologische Publizistik gilt die eben gemachte Bemerkung in besonderem Maß, denn manches, was im (mehr erbaulichen) Schrifttum auftaucht, läßt eine strenge Scheidung in wissenschaftlich-unwissenschaftlich kaum zu.1 Wenn also in der weiter unten angeführten Liste von Autoren und ihren Arbeiten Titel vorkommen, die einzelne für unwichtig halten, während sie andere - vielleicht wirklich belangreiche - Veröffentlichungen vermissen, wird man sich an das subjektive Moment erinnern müssen, das jeder bibliographischen Zusammenstellung innewohnt. Bei der Durchsicht des Werkes von Raul Fornet-Betancourt Lateinamerika-Forschung an deutschen Hochschulen2 fiel dem Verfasser Verwendete Siglen: HKG: Handbuch der Kirchengeschichte KMJ: Katholisches Missionsjahrbuch der Schweiz NZM: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft SKZ: Schweizerische Kirchenzeitung ZSKG: Zeitschrift für Schweizer Kirchengeschichte 1
Lange Zeit hindurch berücksichtigte die Bibliografìa Missionaria - zu ihr weiter unten auch einzelne Missionsblätter. Später jedoch nahm sie von dieser Praxis Abschied; offenbar entsprachen die darin vorkommenden Beiträge nicht mehr den wissenschaftlichen Anforderungen der Herausgeber.
2
Eine bibliographische Annäherung. Aachen 1990. Die Bibliographie katalogisiert Abhandlungen strikt akademischen Charakters (Dissertationen, Habilitationsschriften, An-
258
Jakob
Baumgartner
dieses Beitrags auf, daß seit den 1970er Jahren die theologische Problematik Lateinamerika betreffend mit ca. 60 von beinahe 1200 Titeln halbwegs zum Zuge kommt, und zwar besonders an der Universität Münster, hingegen merklich weniger in Würzburg, Tübingen und Aachen. Die aufgezählten Untersuchungen wenden sich vorzüglich Aspekten der Befreiungstheologie zu, den Basisgemeinden, der Kirche der Armen, der Volksreligiosität: ein Zeichen dafür, daß das, was die Christen Lateinamerikas betrifft und umtreibt, allmählich auch in das Blickfeld der Theologen in unseren Breiten tritt. Welchen Platz nehmen nun die Schweizer ein, was die Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit (in Vergangenheit und Gegenwart) anbelangt? Wollte man sich auf eine neueste bibliographische Uberschau 3 stützen, sähe das Bild ziemlich düster aus; in dem umfangreichen Band, welcher die Bilanz aus fast einem halben Jahrhundert Geschichtsschreibung über Lateinamerika zieht, begegnen wir keinen zehn Namen von Autoren unseres Landes, welche missions-, kirchen- oder theologiegeschichtliche Themen im lateinamerikanischen Kontext aufgreifen. Glänzt somit Helvetien durch seine Quasiabwesenheit im theologischen Disput mit dem Kontinent, der je länger desto mehr in unser Bewußtsein rückt? Die Ermittlungen, die wir anstellten, haben ergeben, daß dem nicht ganz so ist. Die hier vorgelegte Bibliographie beginnt mit dem Jahr 1945, und zwar aus einer doppelten Erwägung. Zum einen erfolgte unmittelbar nach Kriegsende die Gründung der Neuen Zeitschrift für Missionswissenschaft, Schöneck-Beckenried/NW, durch Johannes Beckmann, ein missiologisches beziehungsweise missionsgeschichtliches Organ, das, bis heute fortdauernd, von Anfang an lateinamerikanischen Sujets Platz einräumte. 4 Die Tatsache, "dass die NZM in der Schweiz und von Schweizern herausgegeben wird", ließ den Initiator eine stärkere Öffnung unseres Landes auf weltkirchliche Fragen hin erhoffen. 5 Andererseits lebte die 1935 erstmals gedruckte trittsvorlesungen, Diplomarbeiten). Leider bezog der Autor Österreich - nur die Universität Wien wird mit vier Titeln vermerkt - und die Schweiz nicht ein. Die Gelegenheit zu einer Bibliographie der Lateinamerikaforschung an deutschsprachigen Hochschulen wurde leider nicht genutzt. 3
Valentín Vázquez de Prada/Ignacio Olabarri (Hgg.): Balance de la historiografia sobre Latinoamérica (1945-1988). Actas de las IV Conversaciones de Historia, Centro de Investigaciones Internacionales de Historia, Universidad de Navarra (Pamplona, 10-12 marzo 1988). Pamplona 1989.
4
Siehe Jakob Baumgartner: Missionswissenschaft im Dienste der Weltkirche. Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft. Schöneck/Beckenried 1970.
5
Johannes Beckmann: "Von der alten zur neuen Zeitschrift für Missionswissenschaft", in:
25
Jahre
Evangelisation - Kirche - Theologie in Lateinamerika
259
Bibliografia Missionaria, ein einzigartiges Arbeitsinstrument zur Erschließung der missionarischen und missionswissenschaftlichen Publikationen (auch der Schweiz), nach den vielfachen Behinderungen durch den Krieg wieder auf; sie verhilft den Interessierten dazu, sich sicher und leicht mit der einschlägigen Literatur vertraut zu machen. 6 Außerdem brachte das Katholische Missionsjahrbuch der Schweiz seit dem zweiten Jahrgang (1935) jedesmal eine Auflistung von Büchern und Schriften, "die in den letzten Jahren in der Schweiz oder von Schweizern erschienen sind". 7 Diese Missionsbibliographie der katholischen Schweiz (die Sparten "das heimatliche Missionswesen, die schweizerischen Missionsfelder, Biographien und Nekrologe von Schweizer Missionaren, das katholische Missionswerk allgemein" umfassend) wurde vorerst von Johannes Beckmann (bis und mit 1956) betreut, ab 1958 im Zweijahresrhythmus von Johann Specker bis zum Jahre 1968, in dessen Kalender das Missionsliteraturverzeichnis leider ein letztes Mal vorliegt; wir sind um eine wertvolle Bibliographie ärmer geworden. Was den Modus procedendi in den folgenden Darlegungen angeht, werden wir den Kommentar zu den Publikationen teils chronologisch, teils thematisch anlegen. Die bibliographischen Angaben in den Fußnoten und zusätzliche Werke am Schluß in alphabetischer Anordnung lassen erkennen, welche Autoren sich im Fachbereich Theologie im Zusammenhang mit Lateinamerika hervorgetan haben.
NZM\,
1945, S. 3-11 (hier 9).
6
Jakob Baumgartner: "One and the same mission through-out changing times. On the occasion of the fiftieth volume of 'Bibliografia Missionaria'", in: Bibliographia Missionaria L=1986, S. V-XXII; ital.: "Cinquantesimo del volume 'Bibliografia Missionaria"', in: Pontificia Universitas Urbaniana, Annales 1987 (Roma) 1987, S. 92-113.
7
Das Jahrbuch wurde herausgegeben zunächst vom "Akademischen Missionsbund Universität Freiburg/Schweiz", ab 1962 vom "Schweizerischen Akademischen Missionsbund" (SKAMB), ab 1965 vom S K A M B zusammen mit dem "Schweizerischen Katholischen Missionsrat" (SKM), ab 1970 vom SKM allein, ab 1971 vom SKM im Verein mit dem "Schweizerischen Evangelischen Missionsrat" (SEM), so daß fortab der Titel des Annuariums lautete: "Missionsjahrbuch der Schweiz". Seit Jahrgang 1979 zeichnete als Mitherausgeber anstelle des SKM die "Missionskonferez der deutschen und der rätoromanischen Schweiz". - Im Wechsel der Herausgeberschaft widerspiegelt sich ein Stück weit der Wandel, den das Missionswesen der Schweiz in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. 1987/88 (53. Jahrgang) erschien das letzte Heft.
260
Die Hinwendung zum lateinamerikanischen
Jakob
Baumgartner
Christentum
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rückte Lateinamerika, allzu lange als Ableger Europas betrachtet - selbst zur Zeit der Unabhängigkeit der dortigen Staaten -, allmählich auch in das Blickfeld der westlichen Christenheit. 8 Vor allem war es die brennende Priesternot in den seit Jahrhunderten pastoral unterversorgten Gemeinden sowie die sich verschärfende gesellschaftliche Misere, welche die Aufmerksamkeit der Kirche bis in ihre höchsten Stellen auf sich zog. 9 So schrieb Pius XII. in seiner Enzyklika "Evangelii Praecones" (1951): "In besonderer Weise empfehlen Wir Gott in flehentlichem Gebet das Apostolat und die Missionare im Innern von Lateinamerika, da Uns bekannt ist, welchen Gefahren und Nachstellungen sie... ausgesetzt sind." 10 Und vier Jahre später rief derselbe Papst die ganze katholische Welt auf, sich der Kirche Südamerikas helfend anzunehmen: Ausländische Geistliche sollten einspringen, Hilfskräfte, im besonderen Laien, zum Einsatz gelangen; das soziale Gewissen müsse geweckt und eine fruchtbare Koordination in der Seelsorge gefördert werden. 11 Zwar trugen die Bemühungen der letzten Jahrzehnte um einen einheimischen Klerus und eingesessene Ordensleute nach und nach Früchte, auch unter der indianischen Bevölkerung 12 , doch genügte dieser Nachwuchs bei weitem nicht, um auch nur die dringendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Von daher versteht sich der mahnende Appell des Papstes an die Christen Europas und Nordamerikas, den Kirchen auf dem Kontinent in ihren Schwierigkeiten kräftig beizustehen. Aus der Schweiz waren schon seit Ende des letzten Jahrhunderts Missionskräfte, Schwestern, Ordensmänner und Weltpriester nach Lateinamerika ausgezogen, die im Laufe der Zeit eine beträchtliche Zahl aus-
8
Allgemein gesehen bahnte sich schon im Anschluß an den Ersten Weltkrieg eine Umbesinnung an auf den südamerikanischen Kontinent, der seine Eigenart und kulturelle Eigenständigkeit entdeckte. Siehe dazu Kurt Pahlen: "Südamerika kommt zu sich selber", in: KMJ 21, 1954, S. 16-24.
9
Edgar Schorer: "Priesternot in Zentral- und Südamerika", in: KMJ 19/20, 1952-1953, S. 7-15.
10 Rundschreiben Pius' XII: "Über die Förderung der katholischen Missionen". Strasbourg 1951, S. 9. 11 "Südamerika, Land der Sorgen und Hoffnungen für die Kirche. Apostolisches Schreiben an Kardinal Piazza als Vorsitzenden der Südamerikanischen Bischofskonferenz", in: SKZ 123, 1955, S. 385-387. 12 Johannes Beckmann: "L'état actuel des missions en Amérique espagnole", in: KMJ 21, 1954, S. 32-47.
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machten. 13 Die große Hoffnung indessen sahen manche im vermehrten Beizug der Laien beim Aufbau einer menschenwürdigeren Gesellschaft. Das Apostolat unter den Intellektuellen und in den kulturell tonangebenden Kreisen, entschiedenes Engagement auf dem sozialen Sektor, Zusammenschluß der Katholiken der lateinamerikanischen Länder, um die internationale Dimension der Probleme zu gewahren: so lauteten 1954 die Postulate des Generalsekretärs von "Pax Romana". 14 Wenn von Lateinamerika die Rede ist, behandeln die Verfasser Brasilien meistens getrennt, sei es aus historischen Gründen, weil es als ehemalige portugiesische Kolonie eine andere kirchliche Vergangenheit aufweist, sei es im Hinblick auf seine gewaltigen Ausdehnungen sowie die Besonderheiten pastoraler Betreuung angesichts der Durchmischung seiner Bevölkerung (Indianer, Schwarze, Caboclos-Mulatten, Weiße). 15 Auch die Immigranten verschiedenster Herkunft, so etwa die zahlreichen Zuzügler aus dem Fernen Osten - 1908 trafen die ersten 800 japanischen Einwanderer ein, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ungefähr 200.000 -, stellten die Kirche Brasiliens vor ganz neue Aufgaben. 16 Seit der Ankunft der ersten christlichen Glaubensboten, Angehörigen des Christusordens und von Weltpriestern aus Portugal (1501) 17 , verstrichen mehrere hundert Jahre, bis im Lande selbst sich eine Bewegung herausbildete, die am universellen Missionsauftrag der Kirche teilzunehmen gedachte. 18 In den ersten Nachkriegsjahren befaßte sich der Missionshistoriker und -benediktiner Laurenz Kilger, Spezialist für afrikanische Missionsgeschichte vom 16. bis 18. Jahrhundert, mit Einzelfragen, die sich auf Lateinamerika bezogen. 19 Zunächst untersuchte er einen von José de Acosta 1576 geschrie13 Karl Boxler: "Schweizerische Missionskräfte in Lateinamerika", in KMJ 21, 1954, S. 4855. 14 Ramön Sugranyes de Franch: "L'apostolat des laïcs en Amérique latine", in: KMJ 21, 1954, S. 56-62. 15 Das KMJ 19/20 (1952-1953) ist ausschließlich Brasilien gewidmet; Wilhelm Saake: "Der schlafende Riese beginnt sich zu regen", in: ebd. S. 26-51. 16 Peter Späni: "Das Japaner-Problem in Brasilien", in: KMJ 19/20, 1952-1953, S. 63-70; Franz-Xaver Ideguchi: "Les Japonais au Brésil", in: ebd. S. 71-72. 17 Laurenz Kilger: "Die Botschaft Christi kommt ins 'Irdische Paradies'. Die ersten dreihundert Jahre Brasilien-Mission", in: ebd. S. 16-25; ders.: "Zur Geschichte der portugiesischen Missionen in Brasilien", in: NZM 2, 1946, S. 224-227. 18 José V. da C. César: "Le mouvement missionnaire au Brésil", in: KMJ 19/20, 1952-1953, S. 73-77. 19 Zu L. Kilger (1890-1964) siehe Johannes Beckmann (Hg.): Der einheimische
Klerus
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benen und für den General der Gesellschaft Jesu in Rom bestimmten Jahresbericht, der ausführlich auf die Missionstätigkeit der Mitbrüder in der peruanischen Provinz eingeht - damals wirkten im gesamten 77 Jesuiten in Peru sowie Einblick in die Arbeiten des Provinzials und Visitators gewährt. 20 Acosta, auf eine Verbesserung der Evangelisationsmethode gesonnen, behandelte beinahe vierzig Jahre nach der Besitznahme des Landes durch die Spanier die wesentlichen Probleme der Indianermission: die Seelsorge in den Pfarreien der Indios (Doctrinas) und die Wandermissionen, die Art des Vorgehens beim Unterricht, die Vertiefung des Glaubens unter den rasch "bekehrten" Indianern, die Form der Gemeinde-Organisation und nicht zuletzt die Aneignung und den Gebrauch der Indianersprachen unter den Jesuitenmissionaren. Es bleibt das Verdienst Kilgers, aufgrund der Auswertung der handschriftlich vorliegenden Relation den Quellboden der Erfahrungen aufgezeigt zu haben, aus denen der missionstheoretische Traktat des Ordensobern erwuchs: ein wichtiger Beitrag zur Erhellung des Hauptwerkes Acostas De procuranda Indorum salute. In einer Artikelreihe beschäftigte sich Kilger ferner mit der inzwischen allbekannten (1908 von Richard Pietschmann entdeckten) Bilderchronik des Phelipe Poma de Ayala, der gesprächig und anschaulich die Situation in Peru an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert schildert, also in einer Übergangszeit, in welcher das ehemalige Inka-Reich immer noch als Missionsland zu gelten hatte. 21 Gemäß Chronistenart hält Don Phelipe, ein Verwandter der alten Inka-Herrscher, die Geschichte von der Erschaffung der Ureltern bis zur Zeit der Abfassung der Aufzeichnungen (1611/14) fest. Auf die Beschreibung der heidnischen Vergangenheit der Inka folgt diejenige der Eroberung und des Untergangs der heimischen Führung sowie des Bürgerkrieges der Conquistadoren unter sich. Für die neue Zeit entwirft der fürstliche Kazike ein Bild von den spanischen Staatsdienern, der Geistlichkeit, den Häuptlingen und Unterbeamten der Indianer, vom Leben der einfachen Leute, der Mischlinge und Schwarzen. Die Bedeutung seines GeschichtsGeschichte und Gegenwart. Festschrift P. Dr. L. Kilger OSB zum 60. Geburtstag. Schöneck-Beckenried 1950, S. VII-XIII. 20 Laurenz Kilger: "Die Peru-Relation des José de Acosta 1576 und seine Missionstheorie", in: NZM 1, 1945, S. 24-38. - Acosta (1540-1600), zweiter Jesuitenprovinzial von Peru (1576-1581), erlangte Berühmtheit durch seine im selben Jahr 1578 verfaßte Missionslehre De procuranda Indorum salute, welche sich mit grundsätzlichen Fragen (Missionsbegründung, -recht, -methode), die sich bei der Evangelisierung vor Ort ergaben, wissenschaftlich auseinandersetzte. 21 Laurenz Kilger: "Der Klerus von Peru um 1600 nach der Bilderchronik des Phelipe Guaman Poma de Ayala", in: NZM 3, 1947, S. 81-95.
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werkes liegt darin, daß in den Jahrzehnten nach der hastigen Taufe der Peruaner, als das Christentum sich festigte und einwurzelte, ein Indianer höherer Kaste, der sich mit dem Geschick seines Volkes, besonders der Armen, eng verbunden fühlte, die Erfolge und Mißerfolge der Evangelisierung erläutert, die Zustände in kirchlichen Kreisen (Weltpriester, Ordensleute, Inquisitoren, Visitatoren, Bischöfe) aufzeigt und beurteilt - allerdings ohne ein Wort über einen einheimischen Klerus zu verlieren. Ein Kapitelchen seiner Schrift widmet Poma de Ayala den getauften Schwarzen, den aus Afrika stammenden Sklaven; 22 optimistisch gestimmt, schätzt er sie positiv ein, indem er ihre günstigen Seiten hervorhebt, sich ihrer mit liebevoller sozialer Einfühlung annehmend, um möglichem Verderben vorzubeugen. Die zahlreichen Nachrichten über die junge peruanische Christenheit um 1600, die die Bilderchronik darbietet, vermitteln auch Einsicht in die gottesdienstlichen Feiern, das kirchliche Brauchtum, die Pflege religiöser Kunst während jener Aufbauphase, alles Äußerungen, welche den Neophyten die Ablösung vom reichen Kult der Inka ermöglichen und sie in die Welt des neuen Glaubens einführen sollten. 23 Aufgrund der Tatsache, daß die in den Dörfern der Indios beigezogenen Künstler und Handwerker Indianer waren, kam es zu einer bemerkenswerten Anpassung, wie Pomas Bilder und Schreibweise es deutlich machen. "Es entstand ein kolonialer Missionsstil mit starkem indianischen Einschlag." 24 Aber nicht nur im eben genannten Bereich, sondern auch bei der Bildung und Leitung der jungen Gemeinden trugen führende Laien viel zur Stärkung von Sitte und Glaube bei, dies in Anlehnung an die Verhältnisse zur Zeit der Inka, die eine entwickelte soziale Gliederung und Organisation kannten, was dem Evangelisierungsunternehmen einen kräftigen Rückhalt gab. 25 "Es dürfte kaum eine moderne Mission geben, der eine solche Anzahl einheimischer Helfer mit solchen Aktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht, wie sie die alte Peru-Mission um 1600 aufzuweisen hatte." 26 2 2 Laurenz Kilger: "Die N e g e r in Peru um 1 6 0 0 nach der Bilderchronik des Phelipe G u a m a n P o m a de Ayala", in: NZM 4, 1948, S. 1 1 0 - 1 1 6 . 2 3 Laurenz Kilger: "Christlicher Brauch und kirchliche Kunst in Peru um 1 6 0 0 nach der Bilderchronik des Phelipe Guaman P o m a de Ayala", in: NZM 3, 1947, S. 2 7 6 - 2 8 5 . 2 4 Ebd. S. 2 8 5 . 25 Laurenz Kilger: "Die Laienhilfe in der P e r u - M i s s i o n um 1600 nach der Bilderchronik des Phelipe Guaman P o m a de Ayala", in: NZM 4 , 1948, S. 1 6 1 - 1 7 4 . Der Autor äußert sich zur R o l l e des Blut- und Amtsadel, der Unterhäuptlinge, der G e m e i n d e - und Gerichtsbehörden, der kirchlichen Laiendienste s o w i e des Personals in den Spitälern, die alle für das Apostolat eingespannt wurden. 2 6 Ebd. S. 174. - D i e in A n m . 21, 2 2 , 2 3 , 2 5 angeführten A u f s ä t z e sind g e s a m m e l t erschie-
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Zu den bisher erwähnten missionshistorischen Arbeiten Kilgers seien der Vollständigkeit halber noch drei kleinere Aufsätze angefügt: zum einen die Besprechung der Wechselreden indianischer Vornehmer und spanischer Glaubensboten in Mexiko 1524, eines der bewundernswertesten Zeugnisse christlicher Glaubensverkündigung; 27 zum anderen ein geraffter Uberblick über die Evangelisierungsbemühungen unter den Indianern Lateinamerikas; 2 8 und schließlich die Präsentierung eines Berichts, den der Dominikanerobere Fray Domingo de Aguinaga (1510-1597) während seines ersten Provinzialates (1572-1576) von Oaxaca/Neuspanien aus an den Generalmagister des Ordens sandte. 29 Die Provinz vom heiligen Jakobus, entsprechend den dort verbreiteten Sprachen (Nahuatl, Mixtekisch, Zapotekisch) in drei Sprengel aufgeteilt, scheint um jenen Zeitpunkt noch nicht alle Schwierigkeiten, welche die Indianermission mit sich brachte, gemeistert zu haben. Während L. Kilger mit seinen wegleitenden historiographischen, meistens auf Quellentexten basierenden Artikeln die missionarische Wirksamkeit unter den Indios in der Frühzeit der "geistigen Conquista"30 ins Auge faßte, pflegte Karl Boxler, 1921-1925 als einer der ersten Schweizer Weltgeistlichen in Kolumbien tätig, ein ganz anderes literarisches Genus: Er verfaßte zwei Reiseberichte, die aus Erlebtem und Erfahrenem im priesterarmen Land schöpften. 31 Obwohl diese Veröffentlichungen keine wissenschaftlichen Ansprüche erheben, zeichnen sie ein realistisches Bild von den Bedingungen, unter denen sich die pastorale Tätigkeit bei den Indianern Südkolumbiens
nen in: Laurenz Kilger: Die Mission in Peru um 1600 nach der Bilderchronik des Pheiipe Guaman Poma de Ayala. Mit 12 Bildwiedergaben. Schöneck-Beckenried 1948. (Erstmals erschienen in NZM 3, 1947, S. 81-95; S. 276-285 und 4, 1948, S. 110-116; S. 161-174.) 27 Laurenz Kilger: "Die Gespräche der 12 Franziskaner in Mexiko 1524", in: NZM 7, 1951, S. 231-233. Zu diesen "Coloquios" siehe Christian Duverger: La conversion des Indiens de Nouvelle-Espagne avec le texte des Colloques des Douze de Bernardino de Sahagün (1524). Paris 1987. 28 Laurenz Kilger: "Zur Geschichte der Missionen in Spanisch-Amerika", in: KMJ 21, 1954, S. 25-31. 29 Laurenz Kilger. "Zur Dominikaner-Mission des 16. Jahrhunderts in West- und Ostindien nach dem Archiv der spanischen Botschaft beim Heiligen Stuhle in Rom", in: NZM 13, 1957, S. 226-230. 30 Der Ausdruck stammt aus dem grundlegenden Werk von Robert Ricard: La "conquête spirituelle" du Mexique. Essai sur l'apostolat et les méthodes missionnaires des Ordres Mendiants en Nouvelle-Espagne de 1523/24 à 1572. Paris 1933. 31 Karl Boxler: Indianer-Missionar. Altstätten/SG 1953; ders.: Bei den Indianern am Putumayo-Strom. Freiburg (CH) 1934.
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(Pasto-Tüquerres) in den 1920er Jahren vollzog. 32 Dort wirkten segensreich die vom Kloster Maria Hilf in Altstätten/SG ausgegangenen Franziskanerinnen - unter ihnen manche Schweizerinnen -, deren Kongregation, von Schwester Charitas Brader aus Kaltbrunn/SG 1893 in Tüquerres gegründet, sich über Süd und Mittelkolumbien, Ecuador, Panama und die USA ausbreitete. 33 Dieser missiönsbegeisterten Frau (t 1943) widmete Boxler eine (im Stile früherer Hagiographie gehaltene) Biographie. 34 Zu den Scharen schweizerischer Ordensfrauen, die sich bei den Indianern verausgabten, gesellten sich, allerdings merklich später als die Schwestern, auch Ordensmänner aus unserem Land, die verschiedenen religiösen Gemeinschaften angehörten. 35 Schweizer Weltpriester in größerem Ausmaß zogen ab Mitte unseres Jahrhunderts in das lateinamerikanische Arbeitsfeld: die Missionare von Immensee übernahmen 1953 das Dekanat El Rosario (im Norden des Departements Narino/Kolumbien) 36 , einen Sprengel, wo infolge längerer Unterbrechungen in der (äußerst beschwerlichen) Seelsorge die Betreuung der Christen Schaden gelitten hatte. Mit dem Beginn der Tätigkeit der Bethlehemiten in dem geschlossenen Gebiet der Westkordillere (März 1954) ließ sich die pastorale Not in etwa lindern. In die Zeit des neu erwachenden Interesses für die Fortentwicklung der lateinamerikanischen Christenheit fügen sich auch die missionsgeschichtlichen Publikationen des Jesuiten Felix Plattner ein. Er neigte vorab der Behandlung der "deutschen Missionsepoche" auf dem Kontinent zu, welche von den Söhnen des heiligen Ignatius von Loyola eröffnet worden war. 37 Lange blieben die Missionare ausländischer Nationalitäten ausgesperrt von 32 Im erstgenannten Buch (S. 67-76) schildert der Autor z.B. wirklichkeitsnah die Feier des Sonntags in der Gemeinde Tüquerres: ein wertvolles Zeugnis. 33
1954 zählte die Kongregation (deren Mutterhaus befindet sich seit 1943 in Pasto) allein in Kolumbien 28 Niederlassungen.
34 Karl Boxler: Mutter Charitas Brader - Eine grosse Schweizer Missionarin. Freiburg (CH) 1951; eine zweite, völlig umgearbeitete Auflage kam unter dem Titel heraus: Die Reiter waren Frauen. Mutter Charitas Brader. Altstätten/SG 1952. Spanische Erstausgabe: La Madre Caridad - Apuntes para su biograßa. Pasto 1944. 35 Siehe oben Anm. 13. 36 Ferdinand Lachenmeier: "Zur Vorgeschichte der Bethlehem-Mission in El Rosario, Kolumbien", in: Jakob Baumgartner (Hg.): Vermittlung zwischenkirchlicher Gemeinschaft. FS 50 Jahre Missionsgesellschaft Bethlehem, Immensee. Schöneck-Beckenried 1971, S. 55-66. 37 Felix Plattner: "Die erste Gross-Expedition von Jesuiten-Missionaren deutscher Zunge",
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den königlichen Schiffen, die von Lissabon und Cádiz nach Westindien segelten. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wandelte sich die Haltung der Spanier gegenüber den Jesuiten aus den Ländern deutscher Zunge, so daß die erste Gruppe - 17 Mitglieder aus den deutschen Provinzen - nach leidigen Verzögerungen endlich aufbrechen konnte, um unter den Indianern zu wirken. Die Jahre 1678-1680 brachten also die bedeutsame Wende, die deutsche Missionsphase nahm ihren Anfang. Eine weitere Großaussendung von insgesamt 60 Missionaren aus der Gesellschaft Jesu erfolgte um 1728, unter denen sich Martin Schmid SJ aus Baar/Zug befand. Nach einer mühevollen See- und Landreise landete er schließlich in der von den Jesuiten geleiteten Reduktion im südöstlichen Bolivien (Chiquita-Mission), in welcher Pater Schmid sich fast vierzig Jahre hindurch abmühte. 38 Dieser tat sich vor allem auf zwei Gebieten hervor: der musikalischen Erziehung und der handwerklichen Schulung der Indios. Er rief Musikchöre und -schulen ins Leben, führte die Begabtesten in die Kompositionskunst und in die Anfertigung verschiedenster Instrumente ein, vertonte Psalmen, verfaßte einige Chiquitos-Lieder nebst anderen Musikalien, die sich für liturgische Feiern eigneten. Auch der handwerklichen Schulung der ihm Anvertrauten schenkte er viel Kraft und Zeit, denn die Missionare seien nicht bloß Seelenhirten, sondern sie müßten gleichfalls für den Leib der ihnen Untergebenen Sorge tragen. In mehreren Ortschaften erbaute P. Martin Kirchen, malte und schmückte sie aus. 39 Seine vielfältigen Talente, eine einmalige Verbindung von handwerklichem Geschick und künstlerischer Veranlagung, stellte er in den Dienst der christlichen Verkündigung und der Hebung des Lebensstandards der Chiquitos, was ihn nicht daran hinderte, die eigentlich pastoralen Aufgaben mit Hingabe zu erfüllen. Die Vertreibung der Jesuiten aus den spanischen Kolonien (1767) setzte den Schlußstrich auch unter die Missionstätigkeit Martin Schmids: schweren Herzens trennte er sich im Christmonat 1770 von seiner Gemeinde und kehrte nach Europa zurück. 40 Nachdem Anton Huonder SJ (1858-1926) und in: NZM 1, 1945, S. 169-183. 38 Felix Plattner: Ein Reisläufer Gottes. Das abenteuerliche Martin Schmid aus Baar (1694-1772). Luzern 1944.
Leben des Schweizer
Jesuiten
P.
39 Felix Plattner: Genie im Urwald. Das Werk des Auslandschweizers Martin Schmid aus Baar (1694-1772). Zürich 1959; ders: Deutsche Meister des Barock in Südamerika im 17. und 18. Jahrhundert. Freiburg im Br. 1960; ders.: "Un tesoro artistico sconosciuto. Monumenti di architettura della Missione dei Chiquitos e il suo costruttore P.M. Schmid S.J.", in: Gesuiti (Roma) 1962-1963, S. 40-43. 40 Rainald Fischer: P. Martin Schmid SJ 1694-1772. Seine Briefe und sein Wirken, wissenschaftlich bearbeitet. Zug 1988. Der prächtig aufgemachte und ausgestattete Band enthält
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Josef Spillmann SJ (1842-1905) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Lebensbeschreibungen des Missionars aus Baar herausgebracht haben, stellt das Opus Plattners die "gültige Biographie" des Lateinamerika-Schweizers dar, dessen handwerkliche und künstlerische Leistungen die Zeiten überdauerten. 41
Der Aufschwung der LateinamerikaMissionsgeschichtsschreibung Wenn man die bisher angezeigten Titel als eine Vorübung zum Einstieg in die religiöse Historiographie zu Iberoamerika ansehen kann, setzt mit den zwei Forschern Benno Biermann OP und Johannes Beckmann SMB die intensivere Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Missionsgeschichte in der Schweiz ein. Der Dominikaner Benno Biermann (1884-1970), der die Missionsliteratur durch gründliche und bleibende Studien bereichert hat, sichtete zunächst kritisch den Beitrag seines Ordens zur Glaubensverbreitung; darauf ließ er sich auf die im Dunkel liegenden Anfänge der dominikanischen Evangelisierungstätigkeit in Indien und Hinterindien ein, während er sich in den letzten Lebensjahren auf die Missionsgebiete der "Neuen Welt" konzentrierte. 42 Hier berücksichtigen wir nur jene Arbeiten, die sich auf Lateinamerika beziehen und in der NZM erschienen sind. Vorerst führen wir die Untersuchung an, die dem Requerimiento galt, also jener offiziellen summarischen Erklärung, welche die Indianer zur Unterwerfung und zur Annahme des christlichen Glaubens aufforderte: ein höchst seltsames Schriftstück, das in Quellen zur Zuger Missionarsgestalt, Quellen, die bisher kaum zugänglich waren (Briefe an seine Angehörigen in der Schweiz, andererseits den Neuabdruck der vom Mitbruder und Mitmissionar Schmids, José Manuel Peramás, 1793 in Faenza, zusammen mit zwölf anderen Lebensbeschreibungen von Jesuitenmissionaren veröffentlichten Biographie). Vgl. dazu: Jakob Baumgartner: "Missionalia Helvetica. Zu drei Schweizer Missionspionieren", in: NZM 46, 1990, S. 200-215; ferner Johannes Beckmann: "Briefverkehr zwischen der Schweiz und Südamerika im 18. Jahrhundert", in: Bethlehem 37, 1932, S. 443444: Anweisungen P. Schmids zur Sendung von Korrespondenz. 41 Angeführt seien noch die beiden Monographien von Wolfgang Hoffmann: Las misiones jesuíticas en el territorio de los chiquitanos. Buenos Aires 1979; Vida y obra del Padre Martin Schmid SJ. Buenos Aires 1981. 42 Johannes Beckmann: "P. Dr. Benno Biermann zum 80. Geburtstag", in: NZM 20, 1964, S. 50-54.
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scharfem Gegensatz zur gewaltlosen Methode der Dominikaner ständ. 43 Welche Bedeutung kam dem Requerimiento für die Evangelisierung zu? In dessen erster Textfassung war die Freiheit der Gewissen ausdrücklich angekündigt, aber durch die darauf folgenden Drohungen wieder rückgängig gemacht, da die Indianer sich ja aufgrund der Glaubensentscheidung "ohne böswilligen Aufschub" der spanischen Herrschaft unterwerfen sollten. Soweit Missionare sich an dem Vorgang beteiligten, luden sie natürlich Schuld auf sich, indem sie Druck auf die Gewissen ausübten und Mitverantwortung trugen an den Kriegen und Versklavungen, die die Abweisung des Requerimiento nach sich zog. Aus der Beschäftigung mit der Evangelisation in Amerika erwuchs die sorgfältige Studie Biermanns über die bis damals unbeachtete Geografía y descripción universal de las Indias von Juan López de Velasco (1570). 4 4 Letzterer, Oidor der Audiencia von Lima, erhielt vom Visitator des Indienrates (1567) den Auftrag, die aus allen Regionen Amerikas im Hinblick auf die neue Sammlung der Leyes de Indias eingezogenen Berichte zu bearbeiten, was den Anlaß zur Descripción gab. Ihr Wert beruht darin, daß sie einen Gesamtüberblick über den Erfolg der spanischen Patronatsmission sowie eine Beschreibung der einzelnen Landesteile bietet. Berücksichtigt werden die geographischen Gegebenheiten, die Bevölkerung, die Besitznahme durch die Spanier, die Eigenart der Einwohner, deren Bekehrung, die weltliche und geistliche Regierung, oft bis zu den einzelnen Doctrinas mit Angabe ihrer Missionare, Weltpriester oder Ordensleute: wahrhaftig eine Fundgrube für Historiker! Eine weitere Quelle zum evangelisatorischen Wirken, diesmal aus dem portugiesischen Einflußbereich, erschloß Biermann mit seinem Aufsatz im Zusammenhang mit dem berühmten Jesuiten Antonio Vieira (1608-1697), einem Meister barocker Kanzelberedsamkeit und Bekämpfer der Sklaverei 45 , von dem er als Mitglied des Dominikanerordens sich angezogen fühlte. In der Tat hatte sich Vieira zum gewaltlosen Vorgehen der Predigerbrüder bekannt und als Verteidiger der Freiheit der Indianer ausgezeichnet. 46 43 Benno Biermann: "Das Requerimiento in der Spanischen Conquista", in: NZM 94-114.
6, 1950, S.
44 Benno Biermann: "Die 'Geografía y descripción universal de las Indias1 des Juan López de Velasco als Quelle für die Missionsgeschichte (1570)", in: NZM 17, 1961, S. 291-302. 45 Benno Biermann: "Die Sklaverei in Maranhio-Brasilien im 17. Jahrhundert. Ein unveröffentlichtes Dokument aus der Tätigkeit des P. Antonio Vieira, S.J. mit einem Kommentar", in: NZM 13, 1957, S. 103-118; S. 217-225. 46 Zur Beschäftigung Biermanns mit Las Casas weiter unten.
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Im Gebiet der Maranhäo-Mission, wie überhaupt im ganzen amerikanischen Besitztum Portugals, kam man aufgrund der dortigen Herrschaftsform ohne Sklaven nicht aus; infolgedessen galt die Sklaverei nicht als in sich unmoralisch. Nach der Ablösung der Franziskaner durch die Jesuiten - die Minderbrüder, mit der Verwaltung der Maranhäo-Mission betraut, waren mit den portugiesischen Siedlern in einen heftigen Streit geraten, weil sie die Indianer vor den schreienden Ungerechtigkeiten des Zwangssystems zu schützen trachteten - trafen Anfang 1653 Jesuiten in Maranhäo ein, unter ihnen Vieira, und machten sich mit Umsicht und mit Tatkraft an die Besserung des Loses der geknechteten Indianer. Zu diesem Zweck begab sich Vieira nach Lissabon, wo er 1665 in einer Junta angesehener Juristen und Theologen über die Angelegenheit beriet. Das im Hinblick auf eine verschärfte Gesetzgebung abgefaßte Dokument, die Consulta, findet sich in portugiesischer Sprache und in deutscher Übersetzung in Biermanns Beitrag. In einer anderen Studie erörtert dieser die Anteilnahme der Laien am Missionsunternehmen der Kirche, und zwar mittels des Patronats. 47 Gewiß spielten nicht nur rein religiöse Gründe, sondern sehr handfeste politische Ziele mit, wenn die Regierung in die verantwortliche Mitarbeit an der Ausbreitung des christlichen Glaubens einwilligte. Trotz all der Schattenseiten des Patronatswesens, die Biermann durchaus nicht verschweigt, steht er nicht an, die positiven Leistungen der Einrichtung zu würdigen. Spanier und Portugiesen hätten, so schlußfolgert der Historiker, überaus Stattliches zugunsten der Evangelisierung vollbracht. "Und das haben sie getan mit einem gewaltigen Aufwand von Anstrengungen [...], wofür die Kirche ihnen höchsten Dank schuldet". 48 Wie Benno Biermann, so lenkte auch Johannes Beckmann (1901-1971), der Gründer der NZM, gegen Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn die Aufmerksamkeit immer mehr auf Lateinamerika im klaren Bewußtsein, daß die Christenheit auf jenem Kontinent, aus der Vergessenheit heraustretend, eine zunehmende Bedeutung erlange. 49 In einer Art Rechenschaftsbericht zur Missionsgeschichte Amerikas 5 0 machte Beckmann Ende der 1950er 47 Benno Biermann: "Das spanisch-portugiesische Patronat als Laienhilfe für die Mission", in: Johann Specker/Walbert Bühlmann (Hgg.): Das Laienapostolat in den Missionen. FS Johannes Beckmann zum 60. Geburtstag. Schöneck-Beckenried 1961, S. 161-179. 48 Ebd., S. 179. 49 Zu Beckmann siehe FS Johannes Beckmann (Anm. 47), S. 7-21 (Mensch und Wissenschaftler); Jakob Baumgartner: "In Favorem Missionum. Zum Ehrendoktorat von Prof. Dr. J. Beckmann", in: NZM 26, 1970, S. 82-93; ders.: "Prof. Dr. Johannes Beckmann SMB 1901-1971 zum Gedenken", in: NZM 28, 1972, S. 1-9. 50 Johannes Beckmann: "Zur Problematik der amerikanischen Missionsgeschichte. Gedanken zu einer Tagung der Amerikanisten in Washington 1957", in; NZM 15, 1959, S. 135-
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Jahre die Feststellung, das, was gerade über "eine der wichtigsten Perioden der Missionsgeschichte" in Zusammenfassungen oder anderen Werken auftauche, sei "lückenhaft und verallgemeinernd". Er nennt in diesem Zusammenhang einige Ursachen für die Defizite der voraufgegangenen Missionshistoriographie über die lateinamerikanischen Länder: den Ausfall von zuverlässigen Quellen, den Mangel an geeigneten Vorarbeiten beziehungsweise Einzelstudien, das Ungenügen bei der Zusammenarbeit der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Darauf zählt er eine Reihe von Sachgebieten auf, in denen ein Nachholbedarf für die Forschung besteht, vor allem was das "eigentlich religiöse Anliegen der Mission und Kirche" betreffe. Dieses Postulat suchte Beckmann in seinem mustergültigen Beitrag zum Jedinschen Handbuch der Kirchengeschichte zu verwirklichen. 51 Er zeigt auf, wie die Problematik der königlichen Missionspatronate als Folge des Absolutismus zunahm. Das allmähliche Erlahmen des Missionsgeistes im 17. und 18. Jahrhundert reicht nach Beckmann zurück auf Geschehnisse des 16. Jahrhunderts, vorab auf die Verhinderung einer indianischen Kirche durch die Junta Magna (1568), hinter welcher Philipp II. und der Indienrat die Fäden zogen. Ungeachtet gewisser Zerfallserscheinungen vermochte sich das Missionswerk zu behaupten, besonders durch die Gründung von Missionskollegien auf dem ganzen Kontinent sowie dank der Ausweitung des Aktionsfeldes der Franziskaner, Jesuiten und weiterer Orden, welche alles andere als eine Dekadenz erlebten, wie man öfters behauptet. Beckmann bemüht sich, auch der Zeit der Aufklärung in Lateinamerika - was freilich immer noch recht schwer fällt - gerecht zu werden und das Geistesleben während der Kolonialära, nicht selten als Periode des Obskurantismus und der scholastischen Erstarrung verschrien, zu würdigen. Die Bibliotheken und zahlreichen Universitäten bereiteten das Einströmen neuer Ideen vor und bahnten dadurch der Aufklärung mit ihren positiven und negativen Seiten den Weg. Einen harten, empfindlichen Schlag erlitt die lateinamerikanische Kirche durch die Vertreibung der Jesuiten (1767/68), die sich nicht in das regalistische Gefüge eines aufgeklärten Staatsabsolutismus eingliedern ließen. Eine weitere Hauptarbeit Beckmanns zu Lateinamerika liegt in seinen Ausführungen zum utopischen Gedankengut der spanischen Bettelmönche im Mexiko des 16. Jahrhunderts vor; er spürt darin den ideellen Hintergrün140 (ZitatS. 135). 51 Johannes Beckmann: "Die Glaubensverbreitung und der europäische Absolutismus". 15 (a). Kapitel: "Die Glaubensverbreitung in Amerika", in: Jedin HKG, Bd. V: Die Kirche im Zeitaller des Absolutismus und der Außclärung. Freiburg im Br. 1970, S. 255-294.
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den ihrer Chinabegeisterung nach. 52 Bereits früh zeichneten sich am geistigen Horizont der in Neuspanien tätigen Mendikanten das Verlangen nach der Chinamission wie auch konkrete Pläne der Verwirklichung ab (so etwa bei Fray Martín de Valencia, Juan de Zumárraga, dem ersten Bischof von Mexiko 53 , Fray Domingo de Betanzos OP). Unverkennbar äußerte sich darin eine gewisse Enttäuschung über die Christianisierung der Indios, über deren geistig-religiöse Fähigkeiten und nicht zuletzt über die eingeschlagenen Wege der Evangelisation. Dieser Überdruß der Enthusiasten wurzelte in der großen Erwartung, in Mexiko das messianische Reich, ja das tausendjährige Reich im Sinne eines Joachim von Fiore aufrichten zu .können - welche Hoffnung sie aber begraben mußten, wenn sie die harte Wirklichkeit der jungen Kirche bedachten. Nachdem das China-Unternehmen (1543/45) gescheitert war, bemächtigte sich der ersten Mönche, der Augustiner, sobald sie die Philippinen betraten, erneut die Sehnsucht, zum Kaiser von China vorzustoßen; doch mißglückte der Versuch von 1580, eine Gesandtschaft dorthin zu beordern. Wie erklärt sich die fiebrige Erregung angesichts eines solchen Wagnisses? Einmal durch die Berichte über China, über dessen Größe und Reichtümer, über die sittlichen Eigenschaften seiner Bewohner, vornehmlich aber durch die stark ausgeprägte eschatologische Sicht der Vorkommnisse und Ereignisse; es ging den Ordensleuten um die Gewinnung neuer Völker für Christus und seine Kirche. Mit der Bekehrung der Asiaten sollte die letzte Menschenrasse erfaßt und damit die Wiederkunft des Herrn beschleunigt werden. Daß Beckmann auch dem Kampf der Missionare fiir die Menschenrechte der Indianer im 16. Jahrhundert54 einen Aufriß widmete, erstaunt bei ihm keineswegs. 55 Die langwierige Kampagne hob mit der Adventspredigt (1511) von Fray Antonio Montesino OP an, als sich erstmals in der Öffentlichkeit die Stimme des christlichen Gewissens regte, eine Stimme, welche in der Kolonie einen Sturm der Entrüstung auslöste und später durch Las 52 Johannes Beckmann: China im Blickfeld der mexikanischen Bettelorden im 16. Jahrhunderl. Schöneck-Beckenried 1964. Diese (leider zu wenig beachtete) Studie wurde erstmals veröffentlicht im NZM 19, 1963, S. 81-92; S. 195-214 und 20, 1964, S. 27-41; S. 89-108. 53 Johannes Beckmann: "Alte Basler-Drucke im Dienste der Christianisierung Mexikos", in: ZSKG 59, 1965, S. 107-112: Er weist nach, daß sich in der Bibliothek des fein gebildeten Bischofs, eines Bewunderers des Fürsten der Humanisten, die Froben-Ausgabe der Utopia des Thomas Morus und der griechische Text des Neuen Testamentes, besorgt von Erasmus und in Basel gedruckt, befanden. 5 4 KMJ 28, 1961, S. 33-41. 55 Er bedauerte, daß es noch keine zusammenfassende Darstellung zu diesem bedeutsamen Thema gab.
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Casas sowie andere Gleichgesinnte, z.B. den Franziskaner Alonso Maldonado de Buendia, einen unentwegten Mitstreiter des Protektors der Indios, und den gelehrten Augustiner Alonso de la Veracruz (1507-1584), den ersten Theologieprofessor an der neu errichteten Universität von Mexiko, weiterhin kräftig zu Gehör kam. Die Fehde erstreckte sich sogar bis in den sakramentalen Bereich hinein, da Missionsbischöfe und Ordensobere Anweisungen zum Beichthören der Conquistadoren und Encomenderos herausgaben, sogenannte Confesionarios, die auf Beachtung der gerechten Behandlung der Indianer und deren Freilassung abzielten und für Unbußfertige die Verweigerung der Lossprechung vorsahen. 56 Es war kein Zufall, wenn gerade die Ordensleute solch drastische Maßnahmen ergriffen, besaßen doch viele von ihnen, meist sittlich und charakterlich untadelige Männer, eine außergewöhnliche Geisteskraft und -bildung, weshalb sie sich für den Missionseinsatz bestens eigneten. Diese Tatsache steht in engstem Zusammenhang mit der gesamten Erneuerung des religiösen Lebens - die klösterliche Zucht miteingeschlossen - an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Andererseits vermittelten die damaligen höheren theologischen Lehranstalten auf der Iberischen Halbinsel ein solides Wissen und schufen ein reges intellektuelles Klima, in welchem die meisten Missionare heranwuchsen. 57 Zu diesen Universitäten zählte die von Alcalá, eine Gründung des reformfreudigen Kardinals Ximenes de Cisneros OFM (1436-1517), jene von Salamanca, die sich aufs lebhafteste mit den Problemen in Amerika auseinandersetzte - denken wir nur an Francisco de Vitoria OP (seit 1526 dort Professor) -, diejenigen von Coimbra und Evora, alles Hochschulen, die auf vielfache Weise in die Neue Welt ausstrahlten. 58 Ein "Mosaiksteinchen" zum Einfluß der bedeutendsten Träger spanischer Kultur im Siglo de Oro auf die Glaubensverbreitung und Gründung der neuen Kirche in Ubersee lieferte Beckmann außerdem mit seinem Aufsatz über den maßgebenden Vertreter spanischer Spiritualität: den Dominikaner Luis de Granada (1504-1588). 59 Nach dem Studium im Konvent von Valla56 Johannes Beckmann: "Die Beichtbücher (Confessionaria) als Quelle der Missionspastoral", in: Missionswissenschaftliche Studien. Festausgabe Prof. Dr. Johannes Dindinger OMI zum 70. Lebensjahr dargeboten. Aachen 1951, S. 136-146. 57 Johannes Beckmann: "Die Universitäten vom 16. bis 18. Jahrhundert im Dienste der Glaubensverbreitung", in: NZM 17, 1961, S. 24-47. 58 Ebd., S. 26-29: Auch die Sorbonne befaßte sich mit dem amerikanischen Kolonial- und Evangelisationsproblem, sogar als erste Hochschule; unter den früheren Mexikomissionaren fanden sich mehrere, die in Paris studiert hatten. 59 Johannes Beckmann: "Fray Luis de Granada OP (1504-1588) im Dienste der Glaubensverbreitung", in: Josef Glazik (Hg.): 50 Jahre katholische Missionswissenschaft 1911-
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dolid wollte dieser sich für den Dienst in der jungen Provinz der Predigerbrüder Neuspaniens verpflichten, doch blieb ihm die Ausreise verwehrt. Innerlich dennoch mit den Missionaren in Westindien verbunden, verfaßte er die Schrift Breve Tratado60, eine theoretische Abhandlung, eine knappe Einführung in die Missionskatechese, die erste aus der neueren Missionsepoche. Nicht allein dieses Werk, sondern sein gesamtes Schrifttum stand bei den apostolischen Arbeitern, wie die zahlreichen Ubersetzungen 61 beweisen, sowie bei den spanischen und indianischen Gläubigen Amerikas in hohem Ansehen. Daß sich ein derartiges Begehren nach geistlicher Nahrung kundtat, setzte einiges voraus, vorab eine Hinführung zu tieferen Quellen religiöser Lebensgestaltung. Hier nun müssen wir die Erziehung der Christen im kirchlichen Denken in der jungen Kirche Mexikos62 in Anschlag bringen. Die Missionare, durchwegs den reformierten Orden angehörend, denen die Belebung der Observanz und die Kirchenfrömmigkeit ein ernstes Anliegen bedeuteten, zogen die Neugetauften gleichsam mit, sei es durch die aktive Teilnahme an den Gottesdiensten 63 , sei es durch die Anleitung zum Sentire cum Ecclesia sowie eine sorgfältige Gebetsschulung. Während Jahrzehnten sammelte Beckmann mit Eifer Missionalia Helvetica, so daß im Verlauf der Zeit eine schöne Zahl Kurzbiographien von Schweizern entstand, die sich der Verkündigung der Frohbotschaft verschrieben hatten. 64 Diese Nebenbeschäftigung, gleichsam das wissenschaftliche Steckenpferd des Gelehrten, sei hier wenigstens noch gestreift. Die Reihe wird angeführt vom Jesuiten Kaspar Vonderweid (1681- nach 1740) aus dem alten Freiburger Patriziergeschlecht; nach einer strapazenreichen Expedition erreichte er seinen Bestimmungsort auf dem Hochplateau des 1961, FS. Münster i. W. 1961, S. 107-115. 60 Der volle Titel lautet: Breve tratado en que se declara de la manera que se pondrá Doctrina de nuestra Santa Fe y Religión Christiana a los nuevos fideles.
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61 Vgl. Johannes Beckmann: "Luis de Granada in chinesischer Ubersetzung", in: ZMR 52, 1968, S. 200-203. Bezeugt ist auch die Übertragung von Gebeten des Granatensis in eine Indianersprache (Pocomchi, Mexiko). 62 Johannes Beckmann: "Die Erziehung der Christen zum kirchlichen Denken in der jungen Kirche Mexikos (16. Jahrhundert)", in: Novella Ecclesiae Germina. Nimwegen 1963, S. 45-60. 63 Siehe unten Anm. 150. 6 4 Er bedauert es sehr, daß der Anteil der Schweiz am Weltmissionsauftrag der Kirche noch kaum erforscht ist. Dazu wäre zu konsultieren Felix Plattner: Verzeichnis der Schweizer Jesuitenmissionare. 1542-1942. Ingenbohl 1943; Johannes Beckmann: "Die katholischen Schweizermissionen in Vergangenheit und Gegenwart", in: Studio Missionalia 9, 1955-56 (Roma) 1956, S. 127-171.
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damaligen Peru, im Nordosten der heutigen Republik Bolivien, das Siedlungsgebiet der Moxosindianer (im April 1718), in welcher Reduktion er sein arbeitsreiches Leben beschloß. 6 5 Dem Freiburger Eidgenossen folgt der Luzerner Jesuit Johannes Balthasar (1692-1763) aus dem "regimentsfähigen Geschlecht" von Luzern. 66 Seine Tätigkeit nahm er 1724 im Gebiet des Bischofs von Durango unter den Tepehuana-Indianem auf; ab 1736 waltete er als Rektor des großen St. Gregor-Kollegs in Mexiko-Stadt, seit dem Jahr 1744 bekleidete er das Amt des Generalvisitators. Ihm kommt das besondere Verdienst zu, die Erforschung Kaliforniens vorangetrieben zu haben. 67 Mehreren Schweizer Jesuiten begegnen wir in der Indianerreduktion Paraguay (17./18. Jahrhundert):68 dem Luzerner Jodocus Bachmann (in der Mission von 1640-1683?); den Patres Anton Betschon aus Laufenburg/AG, Tobias Bettola aus Charmey/FR und Karl Rechberg aus Altdorf/UR, welche drei 1716 nach Amerika aufbrachen. Bruder Jakob Roth SJ (1722 in Luzern geboren), übte sein Schmiedehandwerk in verschiedenen Siedlungen Paraguays aus. Zur Schar der in Lateinamerika wirkenden Missionare zählte auch der Jesuit Jean Magnin aus dem Freiburger Hauteville (1701-1767?) 6 9 , 65 Johannes Beckmann: "Ein Freiburger Missionar unter den Indianern Hochperus im 18. Jahrhundert", in: Bethlehem 37, 1932, S. 113-117. 66 Johannes Beckmann: "Ein Luzerner Missionar in Mexiko: P. Johannes Balthasar S.J. 1692-1763", in: Bethlehem 39, 1934, S. 268-271; S. 305-307. Fast gleichzeitig wirkten in Neuspanien die beiden Luzerner Anton Balthasar und Philipp Segesser sowie der St. Galler Kaspar Stiger aus Kobelwald/Oberriet (Anm. 70) und Alois Knapp aus Rheinfelden/AG. 67 Im heutigen Staat Kalifornien, den die Spanier ungefähr ein halbes Jahrhundert nach der ersten Erkundungsfahrt des Kolumbus entdeckten, gründeten die Franziskaner 21 Missionen; die Kolonisation dieses Gebietes durch die Spanier erfolgte indessen erst gut zweihundert Jahre später. Dazu John P. Dolan: "A Note on the Spanish Missions in California", in: NZM 18, 1962, S. 127-135. - Der Jesuit Juan Maria de Salvatierra (1648-1717) errichtete 1697 die erste dauerhafte Mission (Loreto) in Niederkalifomien. Dazu Ernest J. Burrus: "Juan María de Salvatierra, S.J., Founder of the Californias", in: NZM 26, 1970, S. 201-215; S. 266-278. - Als Missionar, Forscher, Kartograph und Organisator in den heutigen Gebieten Sonora, Arizona, Niederkalifomien erbrachte Eusebius Franz Kino SJ (1645-1711) den endgültigen Beweis für den Halbinselcharakter Niederkaliforniens. Siehe Ernest J. Burrus: "A Cartographical Mystery in Kino's Diary", in: NZM 20, 1964, S. 109-115. 68 Johannes Beckmann: "Schweizermissionare in Paraguay", in: Bethlehem 40, 1935, S. 254-256; S. 293-295. - Die Gesellschaft Jesu nahm dort ihre Missionstätigkeit um 1585 auf, 1607 errichtete sie eine eigene Ordensprovinz. Die Reduktion reichte weit über das heutige Paraguay hinaus. 69 Johannes Beckmann: "La première traversée de la Colombie par un missionnaire suisse (1725), le Père Jean Magnin S.J:", in: Annales Fribourgeoises (Fribourg) 1964, S. 33-65;
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der zunächst Philosophie im Ordenskolleg der heutigen Hauptstadt Quito lehrte; daraufhielt er sich (1736-1746) in der Indianerreduktion Maynas auf, einer Mission, die, Ecuador erheblich überschreitend, weit nach Kolumbien (Popayän) und in das nordwestliche Peru ausgriff. Er durchwanderte das riesige Gebiet, erstellte aufgrund seiner Beobachtungen eine Karte und schrieb dazu einen Kommentar. Von dem Wirken eines Jesuiten aus dem St. Galler Rheintal berichtet ein letzter Aufsatz Beckmanns. 70 Kaspar Stiger (1695-1758) aus dem Dorf Kobelwald (Gemeinde Oberriet) betreute zunächst die Pfarrei Mömlingen, trat später der Gesellschaft Jesu bei und bewarb sich um den Missionsdienst, den er (ab 1730) in der Provinz der Pimeria Alta (im heutigen USA-Staat Arizona) leistete, von der Station San Ignacio aus. Er stach durch seinen Eifer zugunsten der gerechten Behandlung der Indianer hervor. Was hat Schokolade mit Mission und Theologie zu tun? Diese etwas seltsame Frage erörtert unser Historiker in einem Artikel, den wir, die Beckmann-Beiträge zur Lateinamerikanistik beschließend, noch eigens erwähnen möchten; 71 er regt zum Schmunzeln an. Als die Europäer nach Mexiko kamen, stand der Gebrauch von "Schokolade" (nahuatl: chocolatl) bereits in Übung. Während die Einheimischen sich in der älteren Zeit wohl mit der Pulverherstellung zwecks Anfertigung eines Fest- und Willkommensgetränks begnügt hatten, gingen die Ankömmlinge rasch zur Herstellung von Tafelschokolade über, die Hochschätzung von Kakao und Schokolade übertrug sich von der aztekischen in die spanische Zeit. Die Kakaobohne diente auch als Zahlungsmittel, andererseits hatte sie rituell-religiöse Bedeutung. Was die Gemüter bald einmal erregte, war die Frage, ob der Schokoladegenuß sich mit dem Fastengebot vertrage, ob das köstliche Getränk mit den Vorschriften der klösterlichen Observanz zu vereinbaren sei. Es brauchte jedenfalls Jahrzehnte, bis der Argwohn der Schokolade gegenüber vollends verschwand; Hauptgrund dafür: der Anbau des Kakaos erwies sich als ein einträgliches Geschäft.
vgl. Martin Nicoulin: "Jean Magnin chez les Indiens de l'Amazonie", in: M. Nicoulin (Hg.): Les Fribourgeois sur la planète - die Freiburger in aller Welt. Fribourg 1987, S. 11-21. 70 Johannes Beckmann: "Pionierarbeit eines Rheintalers in Nordmexiko: Pater Kaspar Stiger S.J. aus Kobelwald (1695-1758)" in: Jahrbuch "Unser Rheintal" 1966 (Au/SG), S. 1-9. 71 Johannes Beckmann: "Schokolade und Kakao in der spanischen Kolonialzeit. Missionarisch-kulturelle Haltungen und Probleme", in: Anthropos 63/64, 1968/1969, S. 524-548.
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Forschungsrichtung Biermann widmete sich (in der NZM) vorwiegend der Auswertung totgeschwiegener missionsrelevanter Quellentexte; Beckmann tat sich in seinem Schaffen über Lateinamerika hervor durch seine beeindruckende Gesamtdarstellung der kirchlichen Fortentwicklung auf dem Kontinent im 17./18. Jahrhundert sowie durch das Aufzeigen geistesgeschichtlicher Hintergründe und spiritueller Strömungen, die sich bei der Evangelisation in der Neuen Welt bemerkbar machten. Im Anschluß an die Impulse, die er der schweizerischen religiösen Lateinamerika-Historiographie vermittelte, entstanden Arbeiten, welche die Thematik aufgriffen und weiterentwickelten. An erster Stelle sind hier die Beiträge von Johann Specker SMB zu erwähnen, der das Schwergewicht seiner Forschung auf die kirchlich-organisatorische Seite des Bekehrungsunternehmens legte und durch einzelne Aspekte ergänzte, die das geistig-spirituelle Wachstum der jungen Christenheit betreffen. Specker, der Richtung Beckmanns verpflichtet, vertiefte sich bei der Niederschrift seiner Doktorarbeit in die Bestimmungen der kirchlichen Konzilien und Synoden, speziell des 16. Jahrhunderts, um die offiziellen missionsmethodischen und -pastorellen Leitlinien herauszustellen, was bis damals vernachlässigt worden war. 72 In der spanisch-amerikanischen Mission, welche aufgrund des Patronates eine stark nationale Färbung aufwies, bildete sich relativ rasch eine von Sevilla unabhängige Hierarchie heraus, die bald eine bedeutende Selbständigkeit erlangte. Dies drückt sich in den zahlreichen Synoden Mexikos und Perus aus; 73 sie verhalfen dem Missionswerk zu einer eigenen, lokalbedingten Prägung. Die versammelten Hierarchen faßten Beschlüsse betreffs der Disziplin der Weltpriester, deren Motive für 72 Johann Specker: Die Missionsmethode in Spanisch-Amerika im 16. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Konzilien und Synoden. Schöneck-Beckenried 1953. 73 In der Kirchenprovinz Mexiko fanden während der Kolonialzeit vier Plenarkonzilien statt: 1555, 1565, 1585 (das wichtigste), 1771. Letzteres, das vierte Mexicanum, regalistischen Tendenzen ("Palafoxianismus") huldigend, wurde von verschiedenen Seiten angefochten, da es nie eine Bestätigung durch die römische Konzilskongregation erhalten hatte. Vgl. Willi Henkel: "Eine Kontroverse über Beurteilung des vierten mexikanischen Provinzialkonzils (1771)", in: NZM 40, 1984, S. 126-131. - Vor dem ersten Provinzialkonzil, als die überseeischen Diözesen noch Sevilla unterstanden (1504-1546), wurden nationale Juntas anberaumt, und zwar gemäß früherer Annahme deren acht (1524, 1532, 1536, 1537, 1540, 1544 und 1546). Nach neuesten Erkenntnissen muß man aber noch eine weitere hinzufügen, die von 1541, von großer Tragweite für die Encomenderos. Vgl. Emest J. Burrus: "Key Decisions of the 1541 Mexican Conference", in: NZM 28, 1972, S. 253-263.
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den Dienst am Evangelium oft bei weitem nicht dem Ideal entsprachen; ferner stellten sie Richtlinien auf für die Glaubensverkündigung 74 , regelten die liturgische Praxis (Taufe, Beichte, Ehe, Krankensalbung), gaben Anweisungen zu einer geordneten Gestaltung religiöser Bräuche (wie Prozessionen, sakrale Tänze, geistliche Spiele) und erließen Vorschriften im Hinblick auf den Beizug der Laien (Brüder, Schwestern und andere männliche und weibliche Hilfskräfte), die, unentbehrlich für das Gedeihen des Apostolats, viel zum Aufbau christlicher Gemeinden beisteuerten. Zur Sprache brachten die Synodalen schließlich die Frage nach der Beförderung der Ansässigen zu den kirchlichen Amtern. Mit dem leidigen Problem eines einheimischen Klerus hatte sich Specker schon in einer Sonderstudie 75 , die seinem Hauptwerk vorangeht, befaßt, und zwar zu einer Zeit, da die Kirche, um sich in den Drittweltländern vermehrt einzuwurzeln und dadurch zu einer bodenständigen Größe zu wandeln, der Angelegenheit außerordentliche Aufmerksamkeit schenkte. Bezüglich Lateinamerikas spiegelte das Problem der Rasse einerseits, andererseits das Problem der Kultur zusammen mit der bereits fortgeschrittenen kirchlichen Gesetzgebung eine nicht zu unterschätzende Rolle. "Die Gründe für die große Zurückhaltung, die in der Zulassung der Indianer zu den höheren Weihen geübt wurde, lagen zu einem großen Teil in der allgemeinen Minderbewertung der indianischen Rassen und im Zweifel, ob die Eingeborenen auch die notwendigen Charaktereigenschaften aufwiesen, die man für diese Weihen fordern mußte". 76 Was die Entwicklung im Mexiko des 16. Jahrhunderts zur Frage der Heranbildung eines landeseigenen Klerus betrifft, heben sich drei Phasen ab: die ersten (verfrühten) Versuche, die scheiterten zum unermeßlichen Schaden für die Folgezeit; die Periode des ausdrücklichen Verbotes von Weihen der Indianer (Konzil von Mexiko 1555); die grundsätzliche Öffnung für die Ordination der Einheimischen zum Priestertum (ab dem Konzil von 1585), doch scheinen die Erfolge gering gewesen zu sein. Nicht viel anders verlief die Debatte in Peru: Man hatte mit dem Experiment zu früh begonnen und fiel nach den gemachten schlimmen Erfahrungen ins andere Extrem. Prinzipiell galten für die Mestizen die glei74 Vgl. Johann Specker: "La predicación de la Fe en la América Española del siglo XVI tal c o m o se refleja en los Concilios y Sínodos americanos", in: Misiones Extranjeras (Burgos) 1952, S. 22-33. 75 Johann Specker: "Der einheimische Klerus in Spanisch-Amerika im 16. Jahrhundert. Mit besonderer Berücksichtigung der Konzilien und Synoden", in: Johannes Beckmann (Hg.): Der einheimische Klerus in Geschichte und Gegenwart. Schöneck-Beckenried 1950, S. 73-97. 76 Ebd., S. 74.
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chen Beschränkungen, in der Praxis hingegen zeigten sich die kirchlichen Verantwortlichen ziemlich großzügig, selbst wenn das Hindernis der Illegitimität vorlag, weil die meisten Mischlinge die einheimische Sprache beherrschten. Der Eintritt in die Orden blieb den Indianern verwehrt, sowohl bei den Dominikanern wie Franziskanern, während die Jesuiten, wie übrigens bei den Weihen auch, Nachsicht walten ließen. Ein Weiterschreiben des Kapitels Das missionarische Hilfspersonal in Speckers Doktordissertation stellt seine Abhandlung über den Laienorden der Bethlehemiten in Spanisch-Amerika dar. 7 7 Die Existenz dieser Gemeinschaft bildet eines jener zahllosen Zeugnisse für das karitativ-soziale Engagement der Missionare, die seit Anfang ihrer Tätigkeit in Neuspanien sich der Krankenfürsorge hingaben. Die Kongregation der Bethlehemiten, eine Laienbrüdervereinigung, geht auf Pedro de San José Betancur (1526-1567), auch "Franziskus Lateinamerikas" genannt, zurück. In Guatemala erbaute er (1567) ein Spital mit Kirche und Schule; seine Gefolgschaft lebte zunächst nach den Statuten der Terziaren des heiligen Franz von Assisi. Der Nachfolger Betancurs, Rodrigo de la Cruz, stattete jedoch die Gemeinschaft mit eigenen Konstitutionen aus. Der Orden, dem Dienst an den Kranken und Rekonvaleszenten, ferner der Erziehung und Unterweisung der Jugend und der Armen verpflichtet, breitete sich in Peru und Mexiko aus; indem er sich der praktischen Nächstenliebe verschrieb, erfüllte er eine eminent missionarische Aufgabe (1820 wurde er leider aufgehoben). 78 Das in seiner Dissertation behandelte Sujet "Der Kampf gegen das Heidentum" setzte Specker mit einer Studie fort, welche sich auf das peruanische Missionsfeld bezieht. 79 Angesichts der Tatsache, daß die Eingliederung der Indianer in die Kirche oft rasch, also ohne gründliche Vorbereitung auf den Empfang der Taufe erfolgte, verwundert es nicht, wenn die autochthonen religiösen Anschauungen und Riten fortbestanden. In Peru machten die Missionare schon bald nach der ersten Evangelisierung die Erfahrung, daß bei den Neophyten das Heidentum in den mannigfaltigsten Formen weiterlebte. Die Konzilien von Lima 1562 und 1567, bestätigt durch 77 Johann Specker: "Der Spital-Orden der Bethlehemiten in Lateinamerika (1667-1820)", in: J. Specker/W. Bühlmann (Hgg.): Das Laienapostolat in den Missionen. SchöneckBeckenried 1961, S. 181-199. 78 Vgl. auch Johann Specker: "Die kirchlichen Vorschriften über die ärztliche Fürsorge in den alten spanisch-amerikanischen Missionen", in: Missionsärziliche Caritas, 1948, S. 18. 79 Johann Specker: "Das Weiterleben des Heidentums in den peruanischen Missionen des 17. Jahrhunderts", in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 3, (Köln) 1966, S. 118-140.
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jenes von 1582/83, erließen Strafbestimmungen für Indianerchristen, die immer noch ihren früheren religiösen Praktiken anhingen. Um deren Beseitigung rangen die Glaubensboten mit allen Mitteln, doch veranlaßte dies die Einheimischen nur dazu, ihre früheren Bräuche im geheimen zu pflegen, was die Missionare freilich erst mit der Zeit wahrnahmen und schließlich dazu übergingen, einen großangelegten Feldzug "zur Ausrottung der Idolatrie" so hieß ein Werk von 1621 - einzuleiten. Ein gewisser Francisco de Avila brachte den Stein ins Rollen, indem er die kirchlichen und weltlichen Behörden auf das heimliche Treiben der indianischen Christen hinlenkte. Es kam in der Folge (ab 1610) zu mehreren Visitationsreisen, welche die Aufdeckung und Ausrottung des "Götzendienstes", besonders auch der Feste zu Ehren der Huacas (Ahnenkultgegenstände) bezweckten. Specker schildert das Vorgehen der Visitadores de idolatria im einzelnen. Endete also die ganze Evangelisierungsarbeit von beinahe hundert Jahren mit einem Mißerfolg? Sicher sah die Situation nicht überall rosig aus, doch wird man - abgesehen von der Tendenz der Chronisten, die Lage zu übertreiben - in Betracht ziehen müssen, daß manche derartigen Äußerungen nichts mit Religion, wohl aber viel mit der Treue zum angestammten Brauchtum zu tun hatten. Mehr ideengeschichtlich orientiert geben sich drei Untersuchungen Speckers, die sich entweder der Beteiligung an Gemeinschaftswerken oder der Stellungnahme zu einem historischen Disput verdankten. Letzteres trifft auf die Ausführungen zur missionarischen Motivation im Entdeckungszeitalter zu 8 0 , das, infolge der Entkolonisierung in Mißkredit geraten, nach einer nuancierteren Beurteilung rief. Der Autor beabsichtigt damit, den Pauschalvorwurf zu entkräften, die Kirche habe die Evangelisierung im Schlepptau der Kolonialmächte vollzogen; den christlichen Königen im 15./16. Jahrhundert sei es nicht so sehr um die Verbreitung des Glaubens als vielmehr um die Erringung von Macht und Reichtum gegangen. Specker macht einerseits politisch-religiöse Gründe für die überseeischen Unternehmungen geltend, die auf der Iberischen Halbinsel fortdauernde mittelalterliche Idee von einem "Orbis christianus", bei dessen Verwirklichung Spanien und Portugal die Führung zu übernehmen gedachten. Andererseits können den Eroberern, bei all den Untaten, die sie verübten, missionarische Anstöße, Bekehrungsabsichten und die Sorge um das Seelenheil der neuentdeckten Völker nicht rundweg abgesprochen werden; dies gilt auch für die Herrscher und ganz gewiß für die Scharen von Missionaren, die die Mühen der Evangelisierung
80 Johann Specker: "Missionarische Motive im Entdeckungszeitalter", in: Horst Rzepkowski (Hg.): Präsenz-Verkündigung-Bekehrung? (Studia Instituti Missiologici Societatis Verbi Divini, Nr. 13), (St. Augustin) 1974, S. 80-91.
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auf sich nahmen. 81 Und schließlich wirkte sich die Enderwartung, wirkten sich die eschatologischen Ideen - Beckmann hat, wie wir bereits sahen, auf solche Strömungen hingewiesen - zugunsten einer raschen Christianisierung aus. Die Aussicht auf das bald hereinbrechende Weltende beeinflußte entscheidend die Art des missionarischen Vorgehens. Angesichts der "ungeheuren Arbeit", die geleistet wurde, so meint Specker, verlange die Gerechtigkeit, die spanische Kolonial- und Missionspolitik "wohl doch positiver" einzuschätzen. 82 Im Rahmen der deutsch-mexikanischen interdisziplinären Regionalforschung im Becken von Puebla-Tlaxcala 83 stellte Specker die Biblioteca Palafoxiana von Puebla 84 , wohl die berühmteste lateinamerikanische Einrichtung dieser Art, vor. Ihr Stifter, der bekannte, aber auch vielumstrittene Juan de Palafox y Mendoza (1600-1659), Bischof von Puebla und interimistischer Vizekönig von Mexiko, vermachte ihr als Grundbestand seine rund 5000 Bücher, zu denen später viele andere Schätze (auch Manuskripte) stießen. Doch eine weit größere Rolle, diesmal im geistlich-religiösen Bereich, spielte in Spanisch-Amerika das Buch der Bücher, die Bibel. 85 Bezüglich der Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volkssprache und noch mehr in die Sprachen Lateinamerikas boten sich im Mutterland, gelinde gesagt, keine günstigen Voraussetzungen, denn zu Beginn des 16. Jahrhunderts, vorab nach Ausbruch der Reformation, erblickte die Kirche in der Übertragung der Schrift in die Umgangssprachen die Ursache aller Häresien. Obwohl das 81 Ebd., S. 8: "Allein für die spanischen Gebiete sind von Beginn der Entdeckungen bis zum Jahre 1720 rund 120.000 Missionare ausgereist." 82 Ebd., S. 91. 83 Johann Specker: "Studien zur Geschichte der Christianisierung des Raumes PueblaTlaxcala", in: Das Mexiko-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Eine deutschmexikanische interdisziplinäre Regionalforschung im Becken von Puebla-Tlaxcala (Wiesbaden 1968), S. 113-117. 84 Johann Specker: "Die Biblioteca Palafoxiana in Puebla, in: Euntes Docete 21, 1968, S. 487-509; verbesserte und erweiterte Fassung: "Die 'Biblioteca Palafoxiana' in Puebla. La Biblioteca Palafoxiana en Puebla", in: Das Mexiko-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bd. V, Castro-Kropfinger/Kügelgen-Specker: Europäische Bücher in Neuspanien zu Ende des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 1973, S. 123-145. 85 Johann Specker: "Die Einschätzung der Hl. Schrift in den spanisch-amerikanischen Missionen", in: NZM 18, 1962, S. 2 4 1 - 2 5 4 und 19, 1963, S. 11-28, erschienen auch im Sammelband Johannes Beckmann (Hg.): Die Heilige Schrift in den katholischen Missionen. Schöneck-Beckenried 1966, S. 37-71. Die spanische Fassung publiziert unter dem Titel: "Aprecio y utilización de la Sagrada Escritura en las Misiones Hispanoamericanas", in der Zeitschrift San Marcos (número noveno, segunda época. Junio-Julio-Agosto 1968), S. 81118.
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Konzil von Trient (1545-1563) den Gebrauch der Bibel in der Volkssprache nicht absolut unterbunden hatte, blieb in Spanien das Verbot in aller Schärfe bestehen, und das galt auch für die Kolonien. 86 Nach der Errichtung der Inquisition in der Neuen Welt (1570 in Lima, 1571 in Mexiko) befaßte sich das heilige Tribunal ebenfalls mit der Angelegenheit. In der Tat hatten die spanischen Ordensleute, zutiefst durch die im 15. Jahrhundert erfolgte umfassende Reform der Klöster geprägt, alle Anstrengungen unternommen, um die mexikanischen Neubekehrten mit der Bibel vertraut zu machen, und zwar in den Sprachen des Landes. Aufgrund der staatlichen Verordnungen bestand allerdings keine Aussicht, die Ubersetzungen biblischer Texte (nicht einmal der liturgischen Perikopen) gedruckt zu sehen, doch kamen sie handschriftlich in Umlauf, ein Umstand, dem wir einzelne durchgerettete Zeugnisse verdanken. Sie lassen den Schluß zu, daß die Mönchsmissionare redlich versuchten, den Indianern das Wort Gottes in ihren Idiomen nahezubringen. Bedeutend zurückhaltender betreffs biblischer Ubersetzungen in die Indianersprachen scheinen sich die Verkündiger in den spanischen Gebieten Südamerikas verhalten zu haben. 87 Eng verknüpft mit der Missionierung ist das Problem der staatlich-kirchlichen Siedlungspolitik. 88 Die Seßhaftmachung der Indianer in den von den Spaniern besetzten Gebieten bildete das vorrangige Sozialproblem, mit dem sich die Conquistadoren und Missionare sowie die weltlichen Behörden konfrontiert sahen. Specker nimmt vor allem die missionarischen Aspekte der Siedlungspolitik in den Blick, um in Erfahrung zu bringen, wie die Kirche das Problem anging und wie sie sich gegenüber den staatlichen Maßnahmen verhielt. Den Eroberern und Siedlern lag einiges daran, die frei lebenden Indianer in Dorfgemeinschaften zu sammeln, damit sie in den Arbeitsprozeß eingespannt werden konnten; andererseits bekundeten auch die Evangelisatoren ihr Interesse daran, da sie damit eine erfolgversprechende Missionstätigkeit gewährleistet sahen. Doch gestaltete sich das 86 Ernest J. Burrus: "The Language Problem in Spain's Overseas Dominions", in: NZM 35, 1979, S. 161-170; ders.: "Adolph F. Bandelier: A Pionieer Swiss Student of the Pueblo Indians (1880-1892)", in: NZM 25, 1969, S. 161-166. Bandelier ist u.a. bekannt als Erforscher der Sprachen der Pueblo-Indianer. 87 Hier bleibt der Forschung noch ein weites Feld für genauere Nachprüfungen. Vgl. Jakob Baumgartner: '"Das wichtigste Hilfsmittel zur Verkündung der Frohbotschaft und zur Unterweisung im christlichen Leben'. Die Sprachbemühungen der Ordensleute bei der Evangelisierung Lateinamerikas" (erscheint 1992 im Druck). 88 Johann Specker: "Kirchliche und staatliche Siedlungspolitik in Spanisch-Amerika im 16. Jahrhundert", in: Missionswissenschaftliche Studien, FS Dindinger. Aachen 1951, S. 426438; spanisch: "La política colonizadora eclesiástica y estatal en Hispanoamérica en el si-
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Unternehmen alles andere als harmlos, denn die Eingeborenen suchten sich meistens einer Ansiedlung zu entziehen, zumal sie Abgaben zu leisten hatten und der Ausnutzung durch die Kolonisten preisgegeben waren. Die Ziele der Missionare und die Absichten der Siedler klafften zu sehr auseinander; erstere kümmerten sich um eine geregelte Verkündigung und die sittlich-soziale Hebung der ihnen Anbefohlenen, während letztere, auf ihren Eigennutz bedacht, die Indios aussaugten. Synoden und Konzilien rangen während des ganzen 16. Jahrhunderts darum, die Mißstände zu beheben oder wenigstens zu mildern. In der Encomienda, dem Lebensnerv der spanischen Kolonisation, offenbarte sich wie nirgends sonst der Kampf zwischen den Grundsätzen der Humanität und Gerechtigkeit sowie dem Egoismus der Mehrzahl der spanischen Siedler. Die Encomienda, anstatt zivilisatorisch-evangelisatorischen Zwecken zu dienen, artete in ein ausbeuterisches System aus, das der Christianisierung mehr schadete als Gewinn brachte. In die hier behandelte Phase lateinamerikanischer Missionsgeschichtsschreibung fallen noch einige nennenswerte Studien. Einmal diejenigen von Anton Pott über die Eignung der Indianer und Kreolen für den seelsorglichen Dienst. Nach der oft zitierten Stelle aus José de Acostas SJ De procurando Indorum salute soll "kein Indianer das Priestertum oder irgendeinen kirchlichen Weihegrad erhalten", welche Regelung ebenfalls auf die Mischlinge zutraf. 89 Pott weist nun nach, daß Acosta damit einfach die Verfügungen des Limaer Konzils von 1567 wiederholte und wie dieses keinen Dauerausschluß meinte, sondern bloß eine vorübergehende Zurückstellung der Indianer (und Mestizen) intendierte, und zwar aufgrund der Tatsache ihres Neubekehrtseins, keineswegs aus rassistischem Vorurteil oder aus Verachtung der Indios. Acosta 90 , der die Wichtigkeit der Sprachkenntnisse in der Missionsarbeit alles andere als unterschätzte, erwog drei Möglichkeiten, um die Sprachschwierigkeiten zu überwinden: einmal das Spanische als Volkssprache gesetzlich einzuführen, welchen Plan er ungnädig verwarf; dann die von den Inkaherrschern durch alle Beamten geförderte Einheitssprache auf das ganze Volk auszudehnen, was Acosta jedoch erst in weiter Ferne realisierbar schien; drittens zog er den Ausweg in Betracht, die im Lande selbst geborenen und mit allem Einheimischen vertrauten Spaniersöhne für die Unterweisung der Indianer beizuziehen. Indessen rechnete er damit, daß derartige Anwärter auf das Priestertum seltene Ausnahmen bleiben würden. glo XVI", Revista Estudios Americanos Nr. 64/65 (Sevilla 1957), Separatum von 165. 89 Anton Pott: "Der Acosta-Text vom Weihehindernis für Indianer", in: NZM 15, 1959, S. 167-180. 90 Anton Pott: "Der Acosta-Text von der Unzulänglichkeit der Kolonistensöhne als Indianermissionare", in: NZM 15, 1959, S. 241-258.
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Deshalb, so lautete sein Schluß, bleibe als einzige Lösung, daß die Spanier den presbyteralen Dienst erfüllten und folglich unverdrossen das Erlernen der indianischen Sprache auf sich nähmen. Es erhebt sich also gleich die Frage, ob das dritte Limense (1582/83), das an Bedeutung dem mexikanischen Plenarkonzil von 1585 nicht nachsteht, bezüglich der Indianerweihen eine Lockerung vorgesehen habe. 91 Pott erbringt den Nachweis, daß das Plenarkonzil unter Toribio de Mogrovejo (also das dritte) gegenüber den voraufgegangenen Beschlüssen in Sachen Indianerordinationen keine veränderte Haltung einnahm, wie das bis in jüngste Zeit behauptet worden ist. Die Beschäftigung mit der Missionsgeschichte Portugiesisch-Lateinamerikas fand in der Schweiz wenig Anklang, wenn wir von der langen, in der NZM veröffentlichten Artikelserie von Venantius Willeke, dem in Brasilien bekannten Franziskaner Historiker, absehen. 92 In dieser gutbelegten Studie erfährt der Leser, wie die Evangelisation, aus kleinsten Anfängen herausgewachsen, im Verlauf von 500 Jahren ein wechselhaftes Schicksal durchlief im Verbund mit dem allgemeinen Geschehen im riesigen Land. Die Vertreibung der Jesuiten und mancher Franziskaner sowie die Zerschlagung der Missionsorganisation unter dem portugiesischen Marquis de Pombai (1699-1782) bedeuteten einen gewaltigen Aderlaß für das Missionswerk der Kirche. 93 Diese sorgte sich um das traurige Schicksal der Negersklaven; der oft gehörte Vorwurf, sie habe sich wohl energisch gegen die Versklavung und Ausbeutung der Indianer ausgesprochen, um die eingeführten Schwarzen aber kaum gekümmert, stimmt in solcher Verallgemeinerung nicht. 94 Über den Erfolg der Bekehrungsarbeit unter den Afrobrasilianern gehen die Meinungen sehr auseinander, doch "lässt sich die tatkräftige Sorge der Kirche um das Los der schwarzen Bevölkerung nicht leugnen". 95
91 Anton Pott: "Das Weihehindernis für Indianer im 3. Konzil von Lima", in: NZM 12, 1956, S. 108-118. 92 Venantius Willeke: "Franziskanermissionen in Brasilien 1500-1966", in: NZM 23, 1967, S. 81-95; S. 168-184 und 24, 1968, S. 122-132; S. 190-198 und 25, 1969, S. 181-189; S. 254-261 und 27, 1971, S. 21-34; S. 280-283 und 29, 1973, S. 40-55. Zusammengefaßt unter demselben Titel und erschienen in der Schriftenreihe NZM 24. Schöneck-Beckenried 1973. 93 Venentius Willeke: " P. Vincente do Salvador, OFM, als Missionshistoriker", in: NZM 21, 1965, S. 291-300. Als erster Brasilianer schrieb P. Vincente 1627 die Geschichte seines Vaterlandes. 94 Venantius Willeke: "Kirche und Negersklaverei in Brasilien 1550-1888", in: NZM 32, 1976, S. 15-26. 95 Ebd., S. 26.
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Um die Linderung der Not eines Teils der lateinamerikanischen Ureinwohner dreht sich eine Arbeit J. Metzlers über den Augustinermönch F. Romero (geboren wahrscheinlich in Peru, nach 1713), eine der "grössten missionarischen Erscheinungen des ausgehenden 17. Jahrhunderts", einen Kämpfer für die Befreiung südamerikanischer Indianer aus der Sklaverei gewissenloser Kolonisten und Gründer neuer Missionen unter noch heidnischen Stämmen. 96 Nach dem Eintritt in den Augustinerorden wurde er auftragshalber nach Rom gesandt; auf seiner Europareise betätigte er sich als Wandermissionar. In der Diözese Popayán erhielt er Kunde von den nichtevangelisierten Tames-Indianem, für die er sich künftig einsetzen wollte. Von Rom zurückgekehrt, begleitet von einer Schar Missionare, die er in Spanien angeworben hatte, ließ er sich 1695 bei den Tames nieder, gründete einige Siedlungen für sie und begann mit der Evangelisierung. Der Haß entlud sich auf ihn, gegen den die Kolonisten eine Verleumdungskampagne starteten; auf Befehl des Augustinergeneraloberen mußte er sich schließlich ins Kloster zurückziehen, die Tames-Mission erlosch nach und nach. Ruhm trug ihm das auf der Uberfahrt nach Cádiz verfaßte Buch Llanto Sagrado de la América Meridional ein, in welchem er mit schonungsloser Offenheit die Lage der Indianer in Südamerika schildert und die administrativen, religiösen, sozialen und ökonomischen Mißstände in der Neuen Welt geißelt; das Herzensanliegen aber bedeutete ihm die Freilassung der Indianersklaven, ja eine bessere Behandlung der Indios überhaupt. 97 Mit diesem Werk reiht sich Pater Romero in die Schar der furchtlosen Verteidiger der Menschenrechte ein, ganz zu schweigen von seinen Verdiensten als Ethnograph Südamerikas und Autor, der die Sozialgeschichte der Kolonialzeit bereicherte.
96 Josef Metzler: "Das Missionsunternehmen des Francisco Romero O.E.S.A. Ende des 17. Jahrhunderts", in: NZM 21, 1965, S. 1-17. 97 Sein Hauptwerk "Llanto Sagrado", 1693 in Mailand gedruckt, wurde von der spanischen Inquisition eingezogen. Anders als die Spanier der Conquistazeit, die selbst die härtesten Anklagen eines Las Casas duldeten, zeigten sich ihre Nachfahren 150 Jahre später unfähig, die Wahrheit zu ertragen. - Vgl. Willi Henkel: "Una contribución de los Augustinos a la ética colonial", in: Acias del Congreso Internacional V Centenario: Augustinos en América y Filipinas, Valladolid, 16-21 abril, 1990, S. 333-349.
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Lascasiana - Protestantica - Friburgensia Wie das eben angeführte Beispiel belegt, gab es in Lateinamerika nicht nur einen Kämpfer für Gerechtigkeit und Menschenwürde, nämlich Fray Bartolomé de las Casas; es gab deren zahlreiche, vor allem unter den missionierenden Bettelmönchen, aber auch unter Kirchenführern und Laien, die Einspruch gegen das verderbliche System der Conquista und der Encomienda erhoben. Doch sicherte sich der Dominikaner einen herausragenden Platz im Gedächtnis der Kirche, weil er ein halbes Jahrhundert hindurch unermüdlich und leidenschaftlich die Verteidigung der Unterdrückten in Amerika betrieb und die spanische Kolonisation in eine friedliche und humane Evangelisation umzuwandeln suchte. An der Diskussion um die vielumstrittene Persönlichkeit des Indianerprotektors, besonders rund um das Jubiläum anläßlich seines 400. Todestages (1966), beteiligte sich auch die Schweiz; die NZM brachte zu Ehren von Las Casas eine Sondernummer heraus. 98 In außergewöhnlicher Weise erregte in den 1960er Jahren die durch einen Gelehrten vertretene Ansicht von der psychopathischen Veranlagung des Indianerbeschützers die Gemüt e r . " In einem Aufsatz 1 0 0 widerspricht J. Specker, verschiedene Lascasisten (Benno Biermann, Lewis Hanke, Manuel Giménez Fernández) zu Wort kommen lassend, der Hauptthese Menéndez Pidais von der fixen Idee oder Geisteskrankheit Las Casas'. In Speckers informativer bibliographischer Uberschau heißt es: "Wenn das Buch von R. Menéndez Pidal von den namhaften Historikern mehrheitlich abgelehnt wird, so hatte es doch insofern eine positive Wirkung, indem es gerade die besten Kenner der amerikanischen Kolonial- und Missionsgeschichte auf den Plan rief und zu einer Auseinandersetzung herausforderte." 101 Eine ähnliche Orientierung bezüglich der Las Casas-Forschung vermittelte zehn Jahre später W. Henkel: 1 0 2 zwischen 1966 und 1976 waren weit mehr als hundert Artikel und Bücher über den Anwalt der Indianer erschienen. Mit gewissen Einschränkungen fällen die meisten Spezialisten ein positives Urteil über ihn. Seine facettenreiche 98 NZM Heft 3/1966: Dem Vorkämpfer der Menschenrechte Fray Bartolomé de Las Casas 1566-1966. 99 Ramón Menéndez Pidal: El Padre Las Casas. Su doble Personalidad. Madrid 1963. Vgl. Lukas Mettler: "Fray Bartolomé's Geistesstörung", in: NZM 25, 1969, S. 65-66. 100Johann Specker: "Fray Bartolomé de las Casas im Widerstreit der Meinungen", in: NZM 22, 1966, S. 213-230. 101 Ebd., S. 221. 102 Willi Henkel: "Die Las Casas-Forschung 1966-1976", in: NZM 33, 1977, S. 81-98.
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Persönlichkeit und sein polemisches Werk regten zu einer Unzahl neuer Betrachtungsweisen an: eine stärker kontextualisierte Interpretation Las Casas' (etwa aus der Tradition seines Ordens), seine mehrphasige geistige Entwicklung, die Kontroverse mit Sepülveda, der Einbezug der bislang unveröffentlichten Apologia, die Frage der Verpflichtung der Spanier zur Restitution gegenüber den Indianern, der prophetische Charakter seiner Aussagen, die Aktualität dieses Mannes in einer Zeit, da die Völker der sogenannten Dritten Welt nach Gleichberechtigung und Fortschritt streben, das gegenwärtige Interesse an seiner Grundintuition, in den erniedrigten Indios das Bild des geschändeten und gekreuzigten Christus zu sehen. Ohne zu übertreiben darf man wohl sagen, daß über Las Casas in letzter Zeit mehr als über jeden anderen Missionar geschrieben worden ist. Einen gewissen Mißklang bringen zwei Schweizer Aufsätze 1 0 3 in die mehrheitlich positive Bewertung des "Apostels der Indianer", wenn J.A. Doerig behauptet, Las Casas, "der Schöpfer der Leyenda negra", stelle einen interessanten Fall für die Psychiatrie dar - dies vor Menendez Pidal geschrieben! -, eine Figur, die "in die richtigen Proportionen gerückt" gehöre, das heißt an dessen Größe mancherlei Abstriche zu machen wären. Einen anderen Ton schlägt Benno Bierbaum an, den gegen Ende seines Lebens immer wieder die im 16. Jahrhundert heiß umstrittenen Fragen der Menschenrechte der Indianer beschäftigten. Er veröffentlichte nicht nur neue Zeugnisse, sondern bot auch kritische Berichte zu der sich häufenden Literatur in bezug auf Las Casas. 1 0 4 Uber dessen besonders angefeindetes Missionsunternehmen in der Verapaz (im Norden Guatemalas) stellte er eine eigene gründliche Untersuchung anhand aller damals bekannten und zugänglichen Quellen an. 1 0 5 Im allgemeinen folgten die Historiker ziemlich vertrauensselig der Darstellung des Chronisten Antonio de Remesal in dessen Historia General de las Indias (Madrid 1619). Nachdem aber Marcel Bataillon die Geschichte der Anfänge der Verapaz-Mission aufgrund der Dokumente überprüft und ein vernichtendes Urteil über den Geschichtsschreiber Remesal gefällt hatte, fühlte sich Biermann gedrängt dem Verlauf der Ereignisse nochmals nachzugehen. Denn es dünkte ihn, Bataillon werde
103 Johann Anton Doerig: "Bemerkungen zur spanischen Kolonialgeschichte des XVI. Jahrhunderts", in: Schweizer Rundschau 52, 1952, S. 140-145; ders.: "Las Casas als historisches Phänomen", in: Schweizer Rundschau 65, 1966, S. 525-533. 104Z.B. Benno Biermann: '"Lascasismus"', in: ZMR 46, 1962, S. 131-140. 105 Benno Biermann: "Fray Bartolomé de las Casas und die Gründung der Mission in der Verapaz (Guatemala)", in: NZM 16, 1960, S. 110-123; S. 161-177.
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weder Remesal noch Las Casas - letzterem insbesondere bezüglich seiner missionarischen Einstellung - ganz gerecht. 106 In der NZM-Jubiläumsnummer ergriff auch Lewis Hanke, der berühmte Las Casas-Forscher, das Wort 1 0 7 , nachdem er sich Jahrzehnte hindurch mit der Gestalt des Sevillaners beschäftigt hatte. Zu Beginn seines Beitrags 108 bemerkt er ironisch, USA-Spezialisten der Geschichte Amerikas wüßten selten viel über die Leistungen Spaniens in der Neuen Welt. "Alle Lehrbücher beginnen natürlich mit Kolumbus, dann aber macht die Geschichte einen Sprung, um bei den Pilgervätern und dem ersten Thanksgiving Day zu landen." Darauf breitet Hanke in glanzvoller Weise aus, was ihm in seinem langen Umgang mit dem Dominikanermönch an wesentlichen Erkenntnissen zuteil geworden ist. Unter dessen Schriften entflammte die 1552 in Sevilla gedruckt herausgebrachte Brevísima Relación am raschesten und nachhaltigsten die Gemüter seiner Landsleute. Zum erstenmal in der Geschichte habe eine Nation, die Spanier, den Wert der Kultur der Völker, denen sie begegneten, ernst genommen und, vielleicht das Erstaunlichste von allem, seien sie infolge der im 16. Jahrhundert in Spanien und Amerika ausgetragenen Fehden über die rechte Weise der Behandlung der Indianer zu einer grundlegenden Einsicht über das Wesen der menschlichen Natur selbst gelangt. Die Tatsache, daß wir auch heute noch darum ringen, wie wir uns in einer Welt vieler Rassen und Kulturen zurechtfinden sollen, verleihe den damaligen Auseinandersetzungen brennende Aktualität. Hanke meint schließlich, die spanische Eroberung Amerikas sei viel mehr als ein bemerkenswertes militärisches Unterfangen gewesen; "es war einer der großartigsten je gemachten Versuche, in den Beziehungen zwischen den Völkern christlichen Verhaltensnormen zum Durchbruch zu verhelfen." Vielleicht täte es gut in der Gegenwart, da wir dem 500-Jahrgedenken der "Entdeckung Amerikas" entgegengehen, sich an die Überlegungen Hankes zu erinnern. Auf der Linie der damaligen Menschenrechtsdebatte bewegt sich auch E.J. Burrus 109 , der allerdings noch einen anderen Missionar in seine 106Eine kurze Zusammenfassung des Verapaz-Experiments gemäß den nach Biermann rekonstruierten Fakten findet sich bei Thomas Eggensperger/Ulrich Engel: Bartolomé de las Casas. Dominikaner - Bischof - Verteidiger der Indios. Mainz 1981, S. 88-94. 107 Lewis Hanke: "Las Casas and the Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America", in: NZM 22, 1966, S. 163-174. 108Hanke stützt sich dabei auf seine früheren Werke: The Spanisch Struggle for Justice in the Conquest of America. Philadelphia 1949 und Bartolomé de Las Casas. An Interpretation of his Life and Writings. Den Haag 1951. 109Ernest J. Burrus: "Las Casas and Veracruz: Their Defence of American Indians Compa-
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Betrachtung einbezieht, nämlich den Augustiner Alonso de la Veracruz (ca. 1507-1584), einen Verteidiger der Würde der Indianer, der sozusagen vergessen blieb. Zunächst skizziert der Jesuitenhistoriker den Weg des in Toledo geborenen Mönchs, der bis an sein Ende unbeirrt für die Sache der Einheimischen Amerikas eintrat, zuletzt durch seine Schriften und Ratgebertätigkeit. In seiner ersten Vorlesung an der Universität Mexiko behandelte Fray Alonso die Rechte der Eroberer und Eroberten in Ubersee gemäß der Devise Mt 22, 21. 1 1 0 Natürlich konnte der Professor nicht von der damaligen tatsächlichen Situation in Neuspanien absehen, das sich zum größten Teil in den Händen der Conquistadoren und Siedler befand, so daß er sich veranlaßt fühlte, zu heiklen Fragen Stellung zu beziehen, wie etwa: Können die Spanier ohne Bedenken solches Eigentum beanspruchen? Können ihre Beichtväter sie lossprechen, wenn sie auf den Landbesitz und anderen unrecht erworbenen Gütern beharren? Können die Spanier ohne jeden Rechtstitel Tribute von den Indianern fordern? Können sie weiterhin von ihnen Dienstleistungen als Leibeigene und Sklaven abverlangen? Können die Spanier guten Gewissens die Landesherren verdrängen, indem sie die Befehlsgewalt ausüben? Liefern die Kriege, durch die sie sich das Besitztum angeeignet und die Rechtssprechung über die Ortsansässigen an sich gerissen haben, eine ausreichende Grundlage für beides? Können die Spanier ihre fortdauernde Präsenz im Land rechtfertigen? In elf Dubia erörterte der Hochschullehrer die kniffligen Probleme. Beide Indianeranwälte, Las Casas wie Veracruz, beseelte dieselbe edle Absicht: die Rettung der Eingeborenen der Neuen Welt, die Verteidigung ihrer Rechte, die Linderung der unbeschreiblichen Nöte. Las Casas sah in Veracruz eine ihm verwandte Seele und vertraute dem Freund einen beträchtlichen Teil seiner unveröffentlichten Werke an. Was jedoch die Verwirklichung des gemeinsamen Zieles anbelangt, wichen ihre Meinungen voneinander ab. Kurz zusammengefaßt: Veracruz bekannte sich realistischerweise zu Lösungen, die mit den tatsächlichen Gegebenheiten rechneten. Während Las Casas die große Öffentlichkeit aufzurütteln vermochte, erreichte Veracruz nur einen bescheidenen Hörerkreis, zumal sein Traktat während Jahrhunderten vergessen blieb. Als letzter, der sich im Jubiläumsheft der NZM für Lascasiana zu erwärmen wußte, sei J. Beckmann genannt." 1 Er entwirft ein beeindruckendes Bild vom Evangelisator, wie Las Casas (in seiner 1899 entdeckten Schrift red", in: NZM 22, 1966, S. 201-212. 1 lODie Abhandlung erhielt später den Titel "De dominio infidelium et iusto bello". 111 Johannes Beckmann: "Der Missionar im Lichte der Missionstheologie des Bartolomé de las Casas O.P.", in: NZM 22, 1966, S. 175-188; ders.: "Fray Bartolomé de las Casas und die Reduktionen von Paraguay", in: ebd., S. 217-218.
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De unico vocationis modo, einem missionstheologischen Traktat) den Verkündiger der Frohbotschaft zeichnete. Alle Menschen besitzen gemäß Las Casas die Fähigkeit zur Annahme des Christentums; denn Gottes Heilswillen umfaßt in seiner Universalität die Völker und Nationen insgesamt, also auch die Bewohner Westindiens. Die einzige Art und Weise, welche Gott für alle Zeiten und Völker bestimmt hat, um sie zur wahren Religion zu führen, besteht (positiv) in der Beeinflussung von Verstand und Willen, negativ in der Vermeidung von jeglicher Form von Gewalt. Nach Beckmann steht dieses Porträt des Missionars, der auf allen Zwang, allen Druck, alle Herrschsucht verzichtet, der ausschließlich auf die Kraft des Wortes und der Überzeugung vertraut, einzig da im 16. Jahrhundert. Ganz allgemein gilt, daß kein Uberfluß herrscht an wissenschaftlich soliden Untersuchungen zum Protestantismus in Lateinamerika. Deshalb ist es angebracht, hier die Leistungen des Westschweizers Jean-Pierre Bastian - bis vor kurzem Professor für moderne und zeitgenössische Geschichte in Mexiko - zu würdigen. Nebst einer Gesamtdarstellung des Phänomens 112 veröffentlichte er eine beachtliche Reihe von Publikationen zum besagten Thema" 3 , das er in sozialgeschichtlicher Perspektive angeht. Die bisher 112Jean-Pierre Bastian: Historia del Protestantismo ert América Latina. Mexiko 2 1990. Es handelt sich um die zweite, stark veränderte Edition der ersten auf einer Vorlesung beruhenden Ausgabe (1986), in die er Teile seiner Doktorarbeit (1987) eingearbeitet hat. Der Autor berücksichtigt die in der europäischen Reformation des 16. Jahrhunderts wurzelnden Denominationen, grenzt also jene Gruppen aus, die von den eben genannten historischen Ursprüngen abweichen (Zeugen Jehovas, Mormonen, Moon-Sekte etc.). Das Werk, unbefangen geschrieben, entbehrt jeder apologetischen Tendenz. Dt. Übersetzung: Geschichte des Protestantismus in Lateinamerika. Luzern 1992. 113 Aus der Feder Jean-Pierre Bastians stammen die folgenden Veröffentlichungen: "Protestantismo y política en México", in Revista Mexicana de Sociología, no. extraordinario, 1981, S. 1947-1966; "Los propagandistas del constitucionalismo en México, 19101920", in: Revista Mexicana de Sociología 45, 1983, S. 321-351; "Metodismo y clase obrera en el Porfiriato", in: Historia Mexicana 33, 1983, S. 39-71; Protestantismo y sociedad en México. México 1983; "Para una aproximación teórica del fenómeno protestante en América Central", in: Cristianismo y Sociedad 32, 1985, S. 61-68; "Dissidence religieuse dans le milieu rural mexicain", in: Social Compás 32, 1985, S. 245-260; "Stratégies religieuses pacifístes et luttes politiques en Amérique Latine", in: Acts 18th International Conference for the Sociology of Religion. Louvain 1985, S. 155-167; "Protestantismo popular y política en Guatemala y Nicaragua", in: Revista Mexicana de Sociología 48, 1986, S. 181-200; "Modelos de mujer protestante: Ideología religiosa y educación femenina, 1880-1910", in: Presencia y Transparencia: la mujer en la historia de México (El Colegio de México 1987), S. 163-180; "El paradigma de 1789, sociedades de ideas y revolución mexicana", in: Historia Mexicana 38, 1988, S. 79-110; "Las sociedades protestantes y la oposición a Porfirio Díaz, 1877-1911", in: Historia Mexicana 37,
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einzige, den ganzen Kontinent einbeziehende Studie, die bei der Erklärung des aufsehenerregenden Aufstiegs des lateinamerikanischen Protestantismus dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung trug und dem Warum seines Erfolgs in den 1960er Jahren nachspürte, war das Werk von DamborienaDussel." 4 Doch beabsichtigte Bastian, seinen eigenen Ansatz weiter auszudehnen. Gegen Schluß seiner Gesamtdarstellung wirft er als reformierter Theologe unbequeme Fragen auf, die einer Antwort bedürfen: Warum bleibt diese religiöse Weltanschauung (der Protestantismus) eine Randerscheinung auf dem Kontinent, der einheimischen Kultur fremd, obwohl sie in wachsendem Maße in Lateinamerika Eingang findet? Weshalb gelang es ihr dort nicht, eine der europäischen Reformation des 16. Jahrhunderts ähnliche Bewegung auszulösen, einen modernen, antioligarchischen, demokratischpartizipativen Prozeß in die Wege zu leiten? Beunruhigt durch die in den letzten dreißig Jahren stattgefundenen Veränderungen des (einst demokratisch-liberal geprägten) Protestantismus, macht Bastian auf den Einfluß des lateinamerikanischen Volkskatholizismus aufmerksam, einen Katholizismus, der mit seiner korporativ-autoritären Ausrichtung und seinen Verhaltensmustern im Kazikentum und Caudillowesen gründet. 115 Das Grundproblem der heutigen lateinamerikanischen Volksprotestantismen erblickt Bastian in deren höchst zwiespältiger Einstellung zur demokratischen Modernität. Ehemals "Protestierende", seien die Protestanten "Attestierende" geworden... In das Gebiet der Lateinamerikanistik gehören vier Doktorarbeiten, die an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ue. in jüngster Vergangenheit eingereicht worden sind. Eine erste, umfangreiche Arbeit befaßt sich mit dem brasilianischen Bischof Helder Cämara. 116 Zunächst umreißt U. Eigenmann den Kontext, den biographisch-persönlichen und histo1988, S. 469-512; Los disidentes, sociedades protestantes México 1989; (Hg.): Protestantes, liberales y francmasones; dernidad en América Latina, Siglo XIX. México 1990.
y revolución en México. sociedades de ideas y mo-
114Prudencio Damboriena/Enrique Dussel: El protestantismo en América Latina. Bd. I: Etapas y métodos del protestantismo latino-americano; Bd. II: La situación del protestantismo en los países latino-americanos. Fribourg/Bogotá 1962/1963. 115Jean-Pierre Bastian: "La mutation des protestantismes latino-américains: une perspective socio-historique" (erscheint 1992 gedruckt). Vgl. Tildy Hanhart: "Lateinamerikanische Protestanten finden sich", in: Orientierung 42, (Zürich) 1987, S. 251-253; Gerd U w e Kliewer: Das neue Volk der Pfingstler. Religion, Entwicklung und sozialer Wandel in Lateinamerika. Bern/Frankfurt a.M. 1975. 116 Urs Eigenmann: Politische Praxis des Glaubens. Dom Hélder Cámaras Weg zum der Armen und seine Reden an die Reichen. Freiburg (CH)/Münster 1984.
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risch-politischen Hintergrund des vielbeachteten Kirchenmannes; darauf vertieft er sich in 162 Reden, die Dom Helder seit Mitte der 1960er Jahre in Nordamerika und Europa vor unterschiedlichster Hörerschaft vortrug. In der themen- und problembezogenen Analyse wird Cämaras Option für die Armen, sein Selbstverständnis als Mensch und Bischof deutlich; die Elemente seiner sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegenwartsbeurteilung treten in den Blick. Hierauf systematisiert Eigenmann die theologischen Reflexionen Cämaras über die heutige Situation, die Verpflichtungen der Menschen allgemein, der Christen und der Kirche im besonderen hinsichtlich der Gestaltung der Welt. Schließlich ergeben sich daraus Handlungsorientierungen zur Schaffung gerechterer Verhältnisse durch umfassende Bewußtseinsbildung und gewaltlose Veränderung der Strukturen mittels engagierter Minderheiten. Die Dissertation, eine glanzvolle Zusammenschau der Ansichten und Zukunftsentwürfe Cämaras, ruft nach einem Ergänzungsband, in dem Eigenmann kritisch-wertend den Ideenreichtum seines Gewährsmannes auf die Tragfähigkeit und Realisierbarkeit hin zu prüfen hätte. Eine andere, ungewöhnliche Studie, einem Mischkult brasilianischer Volksfrömmigkeit gewidmet, nämlich dem Synkretismus der religiösen Gestalten Maria und Iemanjä, stammt von einem Japanobrasilianer. 117 Mit dem Instrumentar der Jungschen Tiefenpsychologie nähert sich Iwashita der stark von dem kollektiven Archetyp der "Großen Mutter" durchwirkten brasilianischen Kultur und Religiosität, die sich hierin mit dem afrikanischen Erbe der schwarzen Bevölkerung decken. Eine Gegenüberstellung der alten weiblichen Yoruba-Gottheit Iemanjä und der christlichen Jungfrau drängte sich geradezu auf. Maria und Iemanjä bilden zwei verschiedene Seiten desselben Archetyps; sie sind kollektive Mutterfiguren, die eine Polarität vom Spenden und vom Nehmen des Lebens einbegreifen. Die Folgerungen, die der Autor aus dem analytischen Vergleich der beiden femininen Figuren zieht, könnten, in die Praxis umgesetzt, einiges für die kirchliche Pastoral abwerfen; sie wären dazu angetan, das Rollenverständnis der Frau im brasilianischen Kontext umzukrempeln sowie eine wahre Therapie der Kultur und Gesellschaft des Landes einzuleiten. Auch die dritte Freiburger Dissertation dreht sich um ein feministisches Thema: Die Berufung der Frau in der Kirche aus anthropologischer Sicht, von M.T. Porcile Santiso 118 , einer Uruguayerin mit außergewöhnlichen 117 Pedro Kunihara Iwashita: María no contexto da religiosidade popular brasileira. Analise religiosa e psicológica do sincretismo entre María e Iemanjá, na perspectiva de C.G. Jung. Fribourg 1987. 1 !8Maria Teresa Porcile Santiso: Misión de la mujer en la Iglesia: una perspectiva
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kirchlich-ökumenischen Erfahrungen und einem reichen Erfahrungshintergrund bezüglich der Situation der Frauen in Lateinamerika. Es handelt sich im wesentlichen, wie der Titel anzeigt, um eine ekklesiologische Studie, welche eine Analogie zwischen der Kirche und der Frau entwickelt, der Frau, die sie als inneren Lebensraum versteht und charakterisiert. Unter Zuhilfenahme einer biblischen Anthropologie und ausgehend von der Bedeutung des weiblichen Körpers als Erkenntnisquelle, sucht die Autorin die Problematik Frau-Kirche neu zu umschreiben, indem sie sich einer Symboltheologie bedient. Eine solche Schau wirft neues Licht auf die ontologische Tiefe der geschlechtlichen Differenzierung und läßt hoffen, daß im Zusammen von Weiblichkeit und Männlichkeit die Gottebenbildlichkeit des Menschen mehr und mehr in ihrer Fülle aufscheint und das Gemeindeleben daraus auch praktischen Gewinn zieht. Die neueste Freiburger Dissertation, die in unsere Sparte fällt, handelt über die Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. 119 B.L. Kern plädiert für "eine bewusst praxis- und situationsbezogene Theologie", welche die gegebenen Verhältnisse und die gesellschaftsverändernde Praxis "nicht bloss als äussere Bedingtheit, sondern als konstitutives Moment des Theologietreibens selbst betrachtet". Deshalb stützt er sich auf die sogenannten Befreiungstheologen Lateinamerikas, wobei er feststellt, daß diese "durchweg einen undogmatischen, kritischen Marxismus" aufgreifen, der teils eine eigene, lateinamerikanische Version darstellt. Der Autor, der der europäischen politischen Theologie vorwirft, sie werde den gesellschaftlichen Problemen nicht gerecht, fordert eine Umorientierung im theologischen Geschäft: Anwendung der Sozialanalyse, konsequente Berücksichtigung der Theorie-Praxis-Dialektik, das Anknüpfen an die neuzeitlichen Freiheitstraditionen.
Die theologische
Wende im Gefolge von
Medellin-Puebla
Die vier eben angeführten Titel gehören bereits einer Periode der (theologischen) Lateinamerikaliteratur an, die mit dem Ereignis von Medellin beziehungsweise Puebla anhebt. Auf der Zweiten Vollversammlung lögica, 1989 eingereicht an der Theologischen Fakultät Fribourg. 119Bruno Leopold Kern: Fundamentaltheologie im Horizont des Marxismus. Zur Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Theologische Fakultät, Universität Freiburg (CH) 1991.
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des lateinamerikanischen Episkopats (1968), ebenso wie auf der Dritten (1979), erfolgte ein Grundentscheid der Kirche auf dem Kontinent: ihr eindeutiges Ja zu den Armen (opción por los pobres), das prioritäre Anliegen, dazu bestimmt, in der gesamten pastoralen Praxis zum Tragen zu kommen. Diese Option soll die Wahrnehmung der Lage des lateinamerikanischen Menschen mit allen daraus abzuleitenden Konsequenzen in bezug auf die vielschichtigen Aufgaben der Kirche ermöglichen. Diese folgenschwere Begebenheit widerspiegelt sich auch in der theologischen Publizistik der Schweiz, merklich im wissenschaftlichen Bereich weit stärker jedoch in der Populärliteratur. Was Medellin für das katholische Christentum auf dem Kontinent (und auch in der westlichen Welt) bedeutet, hebt ein Jubiläumsheft der NZM 1989 hervor mit der Uberschrift: Bekehrung einer Kirche: 20 Jahre Medellin.120 Um die Vorgeschichte dieser Konferenz 121 besser zu begreifen, erweist es sich als notwendig, sie in den weltkirchlichen Kontext und den lateinamerikanischen Rahmen einzuordnen: zum einen sie mit dem Zweiten Vatikanum (1962-1965), zum andern mit gewissen Vorgängen auf dem Kontinent selber in Verbindung zu bringen. Wenn die Zweite Plenarversammlung der Bischöfe theologische Reflexion betrieb, betrachtete sie dies nicht als Glasperlenspiel, sondern lieferte wichtige Elemente zu einer Befreiungstheologie, deren Vorgaben in drei Themen bestanden: der Vorliebe des Gottes Jesu für die Armen; der befreienden Nähe Gottes in der sündigen Gegenwart; der Kirche in der Nachfolge Gottes. 122 Von welcher Tragweite sind nun die sechzehn Texte, welche der Episkopat Lateinamerikas vor ungefähr einem Vierteljahrhundert in der kolumbianischen Stadt Medellin ausgearbeitet und in Umlauf gebracht hat? 1 2 3 Sie alle beruhen auf dem Grundschema: Sehen-Urteilen-Handeln, Analyse-Interpretation-Aktion, sie beginnen also mit der Beschreibung der Fakten, geben dann die theologische Deutung der Lage, reichen schließlich Leitlinien für das pastorale Handeln der Kirche. 1 2 4 Der neue historische Abschnitt, so erklären die Bischöfe, erfordere klaren Blick beim Sehen, saubere Kriterien beim Beurteilen und entschiedene Solidarität beim Handeln. Daß 120NZM 45, 1989, Heft 3. 121 Carlo Collet: '"Das Schicksal der Armen teilen'. Zum Werdegang von Medellin", in: NZM 45, 1989, S. 162-173. 122Josef Amstutz: "Medellin: Die eine Absicht in den vielen Beschlüssen", in: NZM 45, 1989, S. 174-197. 123 Horst Goldstein: "Medellin - Wirkungsgeschichte und Bedeutung für europäische Christen", in: NZM 45, 1989, S. 198-221. 124Später wird die Theologie der Befreiung es so formulieren: sozio-analytische Vermittlung, hermeneutische Vermittlung, praktische Vermittlung.
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solche Weisungen für das Christ- und Kirchesein auch in unseren Breiten Auswirkungen zeitigen können und sollen, und zwar im Alltag, der nach Gemeinschaft, Teilhabe, Mitsprache und Mitbestimmung ruft, dürfte auf der Hand liegen. Medellin, inzwischen über den iberoamerikanischen Subkontinent hinaus zu einem Begriff geworden, meint vor allem eine neue Sprache, eine neue geistige Haltung, die sich in der gesamten Kirche einbürgern will. 125 Angesichts des Massenelends und himmelschreiender Ungerechtigkeiten bezogen in den Jahren unmittelbar nach der Konferenz zahlreiche Gremien im eben angedeuteten Sinn Stellung. Trotz der Verschiedenheit der Problematik auf nationaler Ebene wie auf der Stufe des Bewußtseinsstandes derer, die sich äußerten, bedienten sich alle der Dokumente von Medellin als der verbindlichen Magna Charta. Was Europäern leicht unerhört, gefährlich, ja irrtümlich erscheinen mag - die tatsächlichen Verhältnisse bringen jede Kritik an der neuen kirchlichen Redeweise zum Verstummen. Die Zweite Plenarversammlung des Episkopats 1968 steht am Ursprung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Deren erster Entwurf verdankt sich dem peruanischen Priester und Theologen Gustavo Gutiérrez, der selbst viel zur Erweckung des Geistes von Medellin beigesteuert hat. 1 2 6 Sein Ansatz wurde zum Ausgangspunkt anderer Befreiungstheologien, die es inzwischen auf Abertausende von Büchern und Artikeln gebracht haben. 127 Das all diesen Ausformungen Gemeinsame liegt darin, daß sie auf einer Befreiungspraxis aufruhen, welchen Befreiungsprozeß sie kritisch-reflexiv 1250thmar Noggler: "Die neue Sprache der lateinamerikanischen Kirche nach Medellin", in: NZM 34, 1978, S. 177-188; Hans-Jürgen Prien: "Katholische Kirche und Entwicklungspolitik in Lateinamerika. Von der I. bis zur III. Allgemeinen Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats: Rio de Janeiro 1955 bis Puebla 1979", in: NZM 36, 1980, S. 173185. 126Eduard Schillebeeckx: "Befreiungstheologien zwischen Medellin und Puebla", in: Orientierung 43, 1979, S. 6-10; S. 17-21. In der "Orientierung" 43 (Zürich) stößt man auf viele Aufsätze zu den Post-Medellin-Puebla-Ereignissen (besonders aus der Feder von Ludwig Kaufmann); da es sich indessen bei dieser Publizistik um "haute vulgarisation" handelt, sehen wir von einer Bestandesaufnahme ab und erwähnen nur diesen oder jenen Artikel. 127Hans Schöpfer: "Vielfalt der Befreiungstheologien", in: Orientierung 41, 1977, S. 192195; ders.: Theologie der Gesellschaft. Interdisziplinäre Grundlagenbibliographie zur Einführung in die befreiungsund polittheologische Problematik: 1960-1975. Bern/ Frankfurt a.M./Las Vegas 1977. Allein schon diese Bibliographie umfaßte 6 0 0 0 Publikationen. Vgl. Enrique Dussel: Prophetie und Kritik. Entwurf einer Geschichte der Theologie in Lateinamerika. Freiburg (CH)/Brig 1989. Dieses Werk widmet die größte Aufmerksamkeit der Heraus- und Fortbildung der Befreiungstheologie Lateinamerikas in den vergangenen drei Jahrzehnten.
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thematisieren. Daraus brachen sich bisher unbekannte christologische Einsichten Bahn, stets aus der Sicht der Armen entfaltet. 128 Wie eben angedeutet, setzt eine glaubhafte Christologie voraus, daß sich der akademisch gebildete Theologe arm macht, das heißt sich mit dem Elend der Bevölkerung identifiziert, nicht bloß auf theoretischer, sondern ebenso auf praktischer Ebene. Nur auf solche Weise entdeckt er wahrhaftig das Antlitz des unschuldig gekreuzigten Gottesknechts. Mindestens so viel (Spreng-)Stoff wie Medellin lieferten die der Dritten Plenarversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (1979) vorausgehenden und nachfolgenden Jahre, in denen höchst umstrittene Fragen um den konkreten Vollzug des Befreiungsprozesses aufs Tapet kamen schon der Begriff "Befreiung", sehr unterschiedlich verwendet, gab Anlaß zu mancherlei Auseinandersetzungen, auch mit der römischen Kirchenleitung 129 - sowie das politische und gesellschaftliche Engagement der Christen ins Spiel gebracht wurde. 130 Damit berühren sich natürlich Probleme der Ekklesiologie, die ebenfalls, ja sogar hauptsächlich, in den Strudel der Debatten im Umfeld von Puebla geriet. 131 Es entstanden Neuentwürfe über die Art und Weise, wie Kirche im lateinamerikanischen Kontext sich verstehen und verwirklichen soll: in der Nachfolge des geschichtlichen Jesus als Dienerin der Armen. Indem sich die Kirche im Gefolge des letzten Konzils auf die Welt einließ, ließ sie sich gleichzeitig auf deren Konflikte ein; sie hat deshalb mit Spannungen in ihren Reihen zu rechnen. Kirche der Armen meint Kirche des Volkes, die eine soziologische Konkretion in den Basisgemeinden erfährt, in denen die Kirche als lebendiger Organismus Gestalt 128 Carlo Collet (Hg.): Der Christus der Armen. Das Christuserzeugnis der lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Freiburg i.Br. 1988. Diese Sammlung christologischer Beiträge bringt Aufsätze, die hier größtenteils zum erstenmal in deutscher Sprache erscheinen. 129Hans Schöpfer: "Zwischen Gewalt und Pazifismus. Thesen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie", in: Civitas 30, 1974, S. 282-305; ders.: "Zum Status der lateinamerikanischen Befreiungstheologie", in: ZMR 62, (1978), S. 46-51; Hans Schöpfer - Emil L. Stehle (Hg.): Kontinent der Hoffnung. Die Evangelisierung Lateinamerikas heute und morgen. Beiträge und Berichte zur 3. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla 1979. München/Mainz 1979; Hans Schöpfer: "Puebla - Rückblick und Aufbruch", in: ZMR 63 (1979), S. 241-264. 130Hans Schöpfer: "Gibt es für Lateinamerika einen 'Dritten Weg 1 ? Bemerkungen zur gesellschaftspolitischen Grundsatzdiskussion der lateinamerikanischen Theologie", in: ZMR 65, 1981, S. 40-50. Vgl. Missionsjahrbuch der Schweiz 1977, das den Titel trägt: Christliche Botschaft in Lateinamerika. 131 Fernando Castillo (Hg.): Die Kirche Hinführung. Freiburg (CH) 1987.
der Armen
in Lateinamerika.
Eine
theologische
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annimmt und wo das Volk seine Rolle als handelndes Subjekt entdeckt. 1 3 2 Die Forderung nach einer befreienden Kirche, die sich am Sozialismus zu orientieren hat, erhebt F. Castillo 133 in dem Buch, dessen Originaltitel lautet Iglesia Liberadora y Politica, ein Werk, das zur geistigen Auseinandersetzung einlädt und anregt. Auch die lateinamerikanische Pastoral hat seit der kirchlichen Wende, die sich mit Medellin-Puebla anbahnte, ungewohnte Züge angenommen. Vor allem erstattete sie der Kirche des Volkes, den Basisgemeinden, die Bibel zurück. In Liturgie, Katechese und Verkündigung finden neue Formen des Schriftgebrauchs Eingang. 1 3 4 Letztlich heißt Befreiungstheologie das Zur-Sprache-Bringen der befreienden Existenz und Praxis im Lichte des göttlichen Wortes. Erscheint die Relektüre der Bibel in Hinsicht auf die Befreiungspraxis aber nicht als Manipulation der heiligen Bücher? Wohl kaum, denn der Umsetzungsvorgang geschieht in einer Art Spirale: von der Praxis zur Schrift, wo das Wort die Menschen verwandelt, damit sie neu handeln, um dann wieder neu zu fragen usw. Zukunftsweisende Ausführungen finden sich im Schlußdokument von Puebla auch über das Feiern des Gottesdienstes. Doch führten die seitherigen Bemühungen - das zeigt sich etwa am Beispiel Brasilien 135 - noch kaum über die wörtliche Ubersetzung der postvatikanischen liturgischen Bücher hinaus, obwohl "tiefere Anpassungen" mehr als dringend wären: Die "brasilianische Liturgie" liegt noch in weiter Ferne... Eine ernsthafte Verjüngungskur machte hingegen die lateinamerikanische Volksreligiosität durch, jene Frömmigkeitsformen, die, seit der Erstevangelisierung des Kontinents durch die iberischen Missionare solide im Boden verankert, sich für die Erhaltung des Glaubens im Laufe der Jahrhunderte segensreich auswirkten. 1 3 6 Nachdem Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii 132 Joachim Georg Piepke: Die Kirche siologie
in der Kirche
133 Fernando Anstösse
Castillo:
Brasiliens. Das
aus der Basiskirche
auf dem Weg zum Menschen.
Die
Volk-Gottes-Ekkle-
I m m e n s e e 1985.
Evangelium
gestallet
keine
Resignation.
Erfahrungen
und
in Chile. Freiburg ( C H ) 1988.
134Johann Konings: "Umgang mit der Bibel und Polarisierung in der brasilianischen G e s e l l schaft und Kirche", in: NZM 40, 1984, S. 8 1 - 9 2 . V g l . Josef Sayer: "Die evangelisatorische Macht der Kirche der Armen. Erfahrungen e i n e s Peru-Missionars", in: Diakonia
2 0 , 1989,
S. 2 7 2 - 2 7 4 . 135Gregor Lutz: "Liturgie und liturgische Erneuerung in Brasilien", in: NZM 38, 1982, S. 111. 136 Hans Jürgen Prien: " V o l k s f r ö m m i g k e i t in Lateinamerika. Überlegungen v o n der Kirchengeschichte her", in: NZM 42, 1986, S. 28-43; Enrique Dussel: "Volksreligiosität in Lateinamerika. Grundlegende Hypothesen", in: NZM
42,
1986, S. 1-12; Fritz Kollbrunner:
"Volksfrömmigkeit in Lateinamerika", in: Jakob Baumgartner (Hg.):
Wiederentdeckung
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nuntiandi (1976) die Volksfrömmigkeit allgemein und die in Puebla versammelten Bischöfe das lateinamerikanischen Christen eigene religiöse Brauchtum gewürdigt haben, wird diesem heutzutage eine beispiellose Aufwertung zuteil. Es springt jedem Betrachter in die Augen: Der Volkskatholizismus vermochte sich zu behaupten. Gewiß mißbrauchten ihn die Herrschenden nicht selten zur Stützung und Legitimierung des Status quo, doch würde man dem Phänomen nicht gerecht, wollte man es in Bausch und Bogen ablehnen. Eine ganzheitliche Rettung der Menschen des Subkontinents, wie die Theologie der Befreiung sie anstrebt, knüpft an den tieferen Sinngehalt der Volksreligiosität an, der selbständige Umgang mit der Heiligen Schrift in den kirchlichen Basisgemeinden führt unweigerlich dazu, daß das Volk seine Ausdrucksformen des Glaubens von Zügen reinigt, die dem biblischen Gottes-, Christus- und Menschenbild zuwiderlaufen. Wenn der lateinamerikanische Katholizismus immer wieder in den Verdacht gerät, er sei im Grunde synkretistisch, die autochthone Religion habe in ihm das Christliche infiziert oder gar aufgesogen, so zeigen neueste Untersuchungen 137 , daß sich diesbezüglich äußerste Zurückhaltung empfiehlt. Durch die Mission verflüchtigte sich die alte Religion nicht einfachhin, vielmehr vollzog sich innerhalb der früheren Weltanschauung eine Neuinterpretation; es erschien als Ergebnis die christliche Form des Glaubens, wie sie sich heute vorfindet, keineswegs deckungsgleich mit dem europäisch geprägten Christentum. Diese Tatsache wird erhärtet durch die Studien von R. Nebel 1 3 8 , der eindrücklich beleuchtet, wie es in Mexiko zur Übernahme vorchristlicher Symbole in die christliche Kunst kam und eine geglückte Synthese entstand, ohne daß das genuin Christliche sich auflöste: Inkulturation im besten Sinne. 139 In verschiedenen Ländern Lateinamerikas fand in den letzten zwanzig Jahren eine umfassende kulturelle und gesellschaftliche Mobilisierung der indianischen Völker statt. 140 In den Rängen der Kirche riefen die indianider Volksreligiosität.
Regensburg 1979, S. 233-248.
137 Bruno Schlegelberger: "Gespräche über Brauchtum und religiöse Praxis in einer quechuasprachigen Gemeinde der peruanischen Südanden", in: NZM 46, 1990, S. 241-266. 138 Richard Nebel: Altmexikanische Religion und christliche Quetzalcöatl und Christus. Immensee 1983.
Heilsbotschaft.
Mexiko
zwischen
139Dasselbe Phänomen läßt sich am Marienkult von Guadalupe feststellen. Richard Nebel: Santa Maria de Guadalupe. Religiöse Kontinuität und Transformation in Mexiko (Habilitationsschrift Würzburg 1990, die 1992 in Immensee im Druck erscheinen wird). 140Der größte Teil der autochthonen Bevölkerung der Subkontinents lebt heute im Zentralandenraum (Bolivien, Peru, Ecuador) sowie im Gebiet der Maya, im mesoamerikanischen
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sehen Forderungen unterschiedliche Reaktionen hervor, doch nimmt eine kleine, aber wachsende Zahl von Missionaren die Erklärungen der Eingeborenen zum Anlaß, ihre eigene Arbeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Eine Indianerpastoral zeichnet sich ab, aus der ein neues Verständnis von Evangelisation spricht, das in Puebla noch nicht zum Ausdruck kam. 1 4 1 Als unermüdlicher Kämpfer für die Rechte der Indianer tat sich insbesondere der Bischof der Diözese Riobamba (Ecuador), Leonidas Proano ( t 1988) hervor. 1 4 2 Das Martyrium, also die im Tod vollendete Zeugenschaft für Christus, durch alle Jahrhunderte des Christentums gegenwärtig, nimmt in unseren Tagen ungeahnte Züge an. Wenn Männer und Frauen ihr Leben hinopfern, tun sie es, um die Nächsten der Erniedrigung, neuer Sklavenschaft, dem Elend und der Entfremdung zu entreißen; sie sterben für die unverletzliche Würde der Person, für Menschenrechte und Gerechtigkeit, und zwar meistens auf unspektakuläre Weise, oft im geheimen, unter schändlichen Umständen. 1 4 3 In Lateinamerika gibt es Scharen, die wegen ihres Einsatzes für die Armen nicht nur Zuneigung und Verehrung, sondern mehr noch Feindschaft und bittere Verfolgung fanden; das größte Ansehen erlangte diesbezüglich der Erzbischof von San Salvador, Oscar Arnulfo Romero, der gleichsam zum Symbol der Befreiung vieler aus ihrer erbärmlichen Situation aufgerückt ist. 1 4 4 Eine spezielle Belobigung für die Verbreitung der Latinoamericana in der Schweiz gebührt der heute in Fribourg/Luzern angesiedelten Edition Exodus. Seit ihren Anfängen - 1982 gegründet - zielt die Genossenschaft darauf ab, der Befreiungstheologie eine breite Plattform zu verschaffen und zugleich den Eurozentrismus sowie die Binnenproblematik der Kirche aufzubrechen. Inzwischen stieg die Zahl der Veröffentlichungen auf eine ansehnliche Zahl 1 4 5 an, gesellschaftskritisch ausgerichtet und als "haute vulgarisation" Bereich (vorab Guatemala). 141 Albert Rieger: "Kirche und Indianer in Lateinamerika", in: Orientierung 43, 1979, S. 7175; Beat R. Dietschy: "Evangelisieren muss nicht europäisieren heissen. Eine neue Indianerpastoral in den Anden" in: Zeitschrift für Mission 10, (Stuttgart/Basel) 1984, S. 85-95; Erwin Kräutler: "Das Leben der Indianer in Gefahr, Gottes Schöpfung bedroht", in: ebd. 15, 1989, S. 134-137. 142 Enrique Rosner (Hg.): Leonidas Proano, Freund der Indianer. der Diözese Riobamba in Ecuador. Freiburg (CH) 1986. 143 Bruno Chenu u.a.: Le livre des martyrs chrétiens.
Ein Porträt
des
Bischofs
Paris 1988.
144Arnoldo Mora R. (Hg.): Oscar Arnulfo Romero, Blutzeuge für das Volk Gottes. Ölten 1986; Carlo Collet: "Treu Gottes Willen folgen 1 . Zum 10. Jahrestag der Ermordung von Oscar Arnulfo Romero", in: NZM 46, 1990, S. 1-9. 145 Lieferbare Titel (nach dem Herbstkatalog des Verlags
1991): Equipo pastoral
de
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einzustufen. Da die Nachfrage befreiungstheologischer Information etwas nachläßt, nimmt sich der Verlag gegenwärtig auch neuer Themata (z.B. der feministischen Theologie) an, ohne deshalb vom ursprünglichen Plan abzurücken. In dem hier behandelten Zeitraum (ab ca. 1968, seit Medellin) versiegte die Historiographie bezüglich Lateinamerikas in der Schweiz zwar nicht ganz, dennoch steht sie längst nicht mehr im Vordergrund der an Latinoamericana Interessierten. Ob der Ruf, Kirchengeschichte aus der Sicht der Kolonisierten, also aus dem Blickwinkel jener zu schreiben, die Gustavo Gutiérrez "los ausentes de la historia" nennt 1 4 6 , Helvetiens Historiker eher entmutigte denn ermutigte, entgeht dem Verfasser dieses Beitrags. An bedeutenderen Arbeiten aus dieser Periode sind zwei Abhandlungen zu erwähnen, zunächst die über den Luxemburger Missionar Bettendorf, eine der herausragenden Gestalten der nordbrasilianischen Missionsgeschichte. 147 Mit seiner "Chronica da Missäo da Companhia de Jesus no Brasil" hinterließ der Jesuit eines der aufschlußreichsten Quellenwerke der Evangelisierung LusoAmerikas. Die zweite nennenswerte Studie betrifft die Araukanermission; 148 sie stellt den erstmaligen Versuch dar, die drei Missionsepochen der Jesuiten, Franziskaner und Kapuziner (von der Ankunft der Spanier in Chile im Jahre 1541 bis 1958) systematisch darzustellen. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Werk Nogglers die Frage nach dem Verhalten der Araukaner gegenüber den Conquistadoren und umgekehrt; es geht um die Menschenrechte der Indianer, um den Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung, um europäische Zivilisation und verwestlichtes Christentum. Einige andere Bambamarca: Vamos caminando - Machen wir uns auf! Glaube, Gefangenschaft und Befreiung in den peruanischen Anden, 1983; Fernando Bermüdez/Horst Goldstein: Kirche in den Katakomben. Zeugnisse des Martyriums in Guatemala, 1986; José Carlos Mariätegui: Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, 1986; Clodovis Boff: Die Befreiung der Armen, 1986; Fernando Castillo: Die Kirche der Armen in Lateinamerika. Eine theologische Hinführung, 1987; ders.: Das Evangelium gestattet keine Resignation. Erfahrungen, Reflexionen und Anstösse aus der Basiskirche in Chile, 1988; Fernando Mires: Im Namen des Kreuzes. Der Genozid an den Indianern während der spanischen Eroberung. Theologische und politische Diskussionen; ders.: Die Kolonisierung der Seelen. Mission und Konquista in Spanisch-Amerika, 1991. 146Johannes Meier: "Zehn Jahre 'Studienkommission für Lateinamerikanische Kirchengeschichte' 1973-1983", in: NZM 39, 1983, S. 61-66. 147 Karl Borromäus Ebner: "Johann Philipp Bettendorf SJ (1625-1698), Missionar und Entwicklungspionier in Nordbrasilien", in: NZM 31, 1975, S. 81-99. 148 Albert Noggler: Vierhundert Jahre Araukanermission. 75 Jahre Missionsarbeit der bayerischen Kapuziner. Immensee 1973; vgl. José Kühl: "Zur Geschichte der Araukanermission", in: NZM 30, 1974, S. 307-311 (Rezension).
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Veröffentlichungen sind den Guaraní beziehungsweise dem "Jesuitenstaat" von Paraguay gewidmet. 149 Wenn der eben angeführte Noggler der vorkonziliaren Kirche ihre "mangelnde Akkommodationsbereitschaft" ankreidet, dann träfe dieser Vorwurf nicht minder auf das im 16. Jahrhundert in Neuspanien vollbrachte Missionswerk zu, was die Feier der Liturgie in den jungen Gemeinden angeht. 1 5 0 Trotz ihrer gewaltigen Leistungen in vieler Hinsicht brachten die Mendikanten denkbar ungünstige Voraussetzungen mit, um im zentralen Bereich der gottesdienstlichen Vollzüge der Inkulturation die Wege zu bereiten; eine Art Mestizenliturgie siedelte sich indes an den Rändern des eigentlichen liturgischen Geschehens an, im paraliturgischen Bereich, wo die Mönchsmissionare eine Offenheit für die kultischen Aspirationen der Indianer an den Tag legten, wie man sie in der neueren Missionsgeschichte selten trifft. Die große Tragik der "geistigen Conquista" bestand darin, daß sie zu einem Zeitpunkt erfolgte, als die römische Kirche (aus historisch erklärbaren Gründen) kaum imstande war, dem Einströmen unabsehbarer Menschen einer fremden Rasse gebührend Rechnung zu tragen. Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die theologische, seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz erschienene Lateinamerikaliteratur zurück, so sieht das Ergebnis nicht allzu enttäuschend aus. Nach dem anscheinend geringen Interesse an Latinoamericana in der ersten Phase stieg in den 1950/60er Jahren die missionshistorische Produktion, angestoßen von Wissenschaftlern wie Kilger, Beckmann, Biermann und weitergeführt durch Specker, sprunghaft an. Ihnen kommt das Verdienst zu, die religiöse Historiographie in der Schweiz, was den Subkontinent betrifft, aus dem Dornröschenschlaf geweckt und ihr zu einer respektablen Position verholfen zu haben. Im Gefolge des Medellin-Puebla-Ereignisses und zu einer Zeit, als die genannten Pioniere verstummten, setzte die Welle der Veröffentlichungen ein, welche die brennenden aktuellen Probleme Lateinamerikas und die daraus für die Christen und die Kirche erwachsenden Verpflichtungen aufgriffen. Das Journalistische steht dabei allerdings stärker im Vordergrund als strenge Wissenschaftlichkeit. In welche Richtung die Fortentwicklung läuft, läßt sich (noch) nicht absehen; jedenfalls scheint die erste Begeisterung für lateinamerikanische Theologie und Pastoral etwas abgeflaut zu sein, was der 149 Louis Necker: Indiens Guarani et chamanes franciscains. Les premières réductions du Paraguay (1500-1800). Faculté de Droit, Université de Genève 1975 (polyc.); Heinrich Krauss: "Der Jesuitenstaat von Paraguay. Entwicklungshilfe im Kolonialzeitalter?", in: Orientierung 40, 1976, S. 253-257. ISOJakob Baumgartner: Mission und Liturgie in Mexiko. Bd. I: Der Gottesdienst der jungen Kirche Neuspaniens. Schöneck-Beckenried 1971; Bd. II: Die ersten liturgischen Bücher in der Neuen Welt. Schöneck-Beckenried 1972.
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H o f f n u n g A u f t r i e b gibt, die Historiographie w e r d e nicht g a n z aus d e m Verkehr gezogen.
Weitere bibliographische
Angaben
Heinrich Balz: "Europäische Rückfragen an befreiungstheologische Bibelauslegung", in: Zeitschrift fir Mission 16 (Basel/Stuttgart) 1990, S. 234-239 Jakob Baumgartner: "Indios und Kreolen im kolonialen Guatemala", in: NZM 27, 1971, S. 288-293 ders.: "P. Alonso de Sandoval SJ und die Negersklaverei. Die Missionspastoral 'De instauranda Aethiopum salute' von 1627", in: Jakob Baumgartner (Hg.): Vermittlung zwischenkirchlicher Gemeinschaft. Schöneck-Beckenried 1971, S. 288-293 ders.: "Quetzalcöatl-Guadalupe. Zu einer Ideengeschichte des Vizekönigtums Neuspanien", in: NZM 31, 1975, S. 223-226 ders.: "Lateinamerikanische Kirchengeschichte im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Zu einer kirchengeschichtlichen Neuerscheinung ( H J . Prien)", in: NZM 36, 1980, S. 302-307 ders.: "Ein Vorläufer Las Casas: Der Konquistador Alvar Nünez Cabeza de Vaca", in: NZM 37, 1981, S. 172-188 ders.: "Das tridentinische Dekret 'Tametsi' in der Zweitausgabe des mexikanischen Manuale Sacramentorum (1568)", in: NZM 42, 1986, S. 241-263 Johannes Beckmann: "Archivo Ibero-Americano", in: NZM 2 , 1946, S. 143-146 ders.: "Der Kampf der Missionare für die Menschenrechte der Indianer im 16. Jahrhundert", in: KMJ 28, 1961, S. 33-41 Urs Bitterli: "Auch Amerikaner sind Menschen", in: Johannes Meier (Hg.): Wem gehört Lateinamerika? Die Antwort der Opfer. München/Zürich 1990, S. 29-45 Anton Borer: "Amerikanische Laien im Dienste der südamerikanischen Kirche. Zehn Jahre Päpstliche Freiwillige (Papal Volunteers)", in: NZM 28, 1972, S. 1929 Giancarlo Collet: "Zur Theologiegeschichte Lateinamerikas", in: Giancarlo Collet (Hg.): Theologien der Dritten Welt. EATWOT als Herausforderung westlicher Theologie und Kirche. Immensee 1990, S. 101-131 Hans R. Guggisberg: "Die Indianerbibel des John Eliot in einer Basler Gelehrtenbibliothek des 17. Jahrhunderts", in: Zeitschrift ßr Geschichte und Altertumskunde 82, (Basel) 1982, S. 195-204 Urs Höner: Die Versklavung
der brasilianischen
Indianer.
Der Arbeitsmarkt
in
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portugiesisch Amerika im XVI. Jahrhundert. Zürich 1980 Ingo Lembke: Christentum unter den Bedingungen Lateinamerikas. Die katholische Kirche vor dem Problem der Abhängigkeit und Unterentwicklung. Bern/Frankfurt M.1975 Anton Peter: "Bartolomé de las Casas als Paradigma für das Bekehrungsmotiv in der Theologie der Befreiung", in: NZM 48,1992 Anton Pott: "Der Acosta-Text vom Weihehindemis für Indianer", in: NZM 15, 1959, S. 167-180 Hans Schöpfer: "Die hermeneutische Topik gesellschaftlich engagierter Theologie. Eine europäische Weiterführung lateinamerikanischer Ansätze", in: NZM 34, 1978, S. 92-110 ders.: Neue christliche Kunst in Lateinamerika. Bilder und Meditationen. Mainz 1989 Sergio Silva: Glaube und Politik: Herausforderung Lateinamerikas. Von der christlich inspirierten Partei zur Theologie der Befreiung. Bern/Frankfurt M. 1973 Sergio Sobrino: Sterben muss, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador. Fakten und Ueberlegungen. Freiburg (CH)/Brig 1990, 2 1991 Johann Specker: "Die missionsärztliche Praxis in der Paraguaymission", in: Missionsärztliche Caritas, 1946, S. 1-12 ders.: "Ein medizinisches Handbuch aus dem Jahre 1592 für die Missionare in Mexiko", in: Missionsärzliche Caritas, 1949, S. 3-11 ders.: "Fray Bartolomé de las Casas im Widerstreit der Meinungen", in: NZM 22, 1966, S. 213-230 ders.: "Patronat - gestern und heute", in: Bethlehem 14, 1969, S. 275-280
Die literaturwissenschaftlich
ausgerichtete Lateinamerikanistik
303
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Die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerikanistik Forschung
und
Rezeption
Die große Ausnahme Als der Verlag Suhrkamp 1989 die Taschenbuchausgabe vom Geisterhaus Isabel Allende publizierte, waren von der ausgezeichneten deutschen Version von Annelise Botond schon mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft worden. Seither sind die Verkaufszahlen beträchtlich gestiegen, obwohl ein großer Teil der Rezensionen der deutschen Ubersetzungen des zweiten und dritten Romans (Von Liebe und Schatten und Eva Luna) der Autorin vorwiegend negativ ausfielen. Es gab einige Kritiker, die schon vorher ihren Zorn auf die beiden ersten Werke gerichtet hatten, und zwar in einigen Fällen derart, daß man versucht war zu denken, die bissigen Bemerkungen seien hauptsächlich gegen das Verlagshaus gerichtet. Dies ist z.B. der Fall bei einem flammenden Artikel des bekannten und beredten Kritikers Jörg Drews, erschienen im Merkur (Dez. 1986), in dem - neben anderen seltsamen Aussagen - folgende Abschnitte zu lesen sind: "Zur blanken Katastrophe gerät dann aber das zweite Buch. Die Sentimentalität der Familiengeschichte im Geisterhaus war zwar massiv, aber deren Hauptteil lag wenigstens lange vor der Gegenwart und vor der Diktatur Pinochets, so daß man die ersten zwei Drittel als Mini-Abklatsch von García Márquez' Hundert Jahre Einsamkeit achselzuckend hinnehmen konnte. [...] Nun, auch diese Peinlichkeit wird vorübergehen, daß der Suhrkamp Verlag die Produkte dieses reizenden Plappermäulchens verlegt hat, wider besseres Wissen, dieses billige Imitat dessen, was an der südamerikanischen Literatur groß ist - man wird es wieder vergessen. Dennoch, für einen Moment sollte man es
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José Manuel López de Abiada
festhalten: Isabel Allendes Bücher beim Verlag von Djuna Varnes, Ciarice Lispector oder Friederike Mayröcker, das ist nicht einfach ein Ausrutscher, sondern damit wird - bei Suhrkamp! - ermöglicht und gefeiert: die Rückkehr des schreibenden Weibchens." Werturteile dieser Art sind häufig unter denjenigen, die in Deutschland lateinamerikanische Literatur "verstehen"; sie besitzen immerhin den Vorteil, daß sie keines zusätzlichen Kommentars mehr bedürfen. In diesem konkreten Fall hingegen sei ein anderes, sehr bezeichnendes Detail erwähnt: Ein angesehener Münchner Verlag verpaßte die Gelegenheit, das Geisterhaus zu publizieren, weil er sich auf die Informationen seiner externen Berater verließ, die versicherten, daß es sich um einen mißglückten Imitationsversuch von Hundert Jahre Einsamkeit handle. Es erübrigt sich zu sagen, daß, da es sich um Gutachten und Beurteilungen von Professionellen und Spezialisten handelte, die Verantwortlichen des Verlages die Ratschläge nicht anzweifelten und sie in Praxis umsetzten. Diese Fachleute waren jedoch auch schlechte Leser von Tageszeitungen. Sie übersahen nämlich, daß Das Geisterhaus, seit seiner Veröffentlichung im Oktober 1982 (in Barcelona, bei Plaza & Janes), ein Verkaufsschlager gewesen war, ausgezeichnete Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften erhielt und daß es sogar Monate gegeben hatte, wo zwei Ausgaben veröffentlicht wurden (z.B. im März, Oktober und Dezember des Jahres 1983). Man könnte wohl entgegenhalten, daß ein Verkaufserfolg in Spanien nicht auch ein Bestseller in deutschsprachigen Ländern sein muß. Es ist aber nicht zu übersehen, daß der Roman auch in Frankreich gut ankam, und dieses Land ist bekanntlich ein unumgänglicher Bezugspunkt, da der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und Lateinamerika oft über Paris erfolgt. Wie dem auch sei, aus den unterbreiteten Fakten kann man zumindest herauslesen, daß die Aufnahme lateinamerikanischer Literatur im deutschen Sprachraum keine Tradition hat.
Weitere
Verkaufserfolge
Wenn man beachtet, daß von der deutschen Version des Geisterhauses bis heute fast eineinhalb Millionen Exemplare verkauft wurden, erscheint es logisch, auf eine vergleichbare Aufnahme von weiteren weltbekannten Titeln der lateinamerikanischen Literatur zu hoffen. Dem ist aber nicht so. Die deutsche Version von z.B. Hundert Jahre Einsamkeit erschien erst 1970 (die
Die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerikanistik
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französische und italienische Ausgabe wurden 1968 veröffentlicht; die portugiesische und norwegische 1969) in einer Auflage von nur 9.000 Exemplaren. Zudem dauerte es ganze zwei Jahre, bis sie alle verkauft waren (und dies trotz der mehr als fünfzig anerkennenden Rezensionen, die in Tageszeitungen erschienen waren). Schließlich war die Aufnahme des Werkes von García Márquez bis zu Beginn der 80er Jahre relativ bescheiden, obwohl in jener Zeit die deutschsprachigen Leser schon Ubersetzungen fast seines ganzen Werkes zur Verfügung hatten. Jedenfalls übertraf die Anzahl verkaufter Exemplare von Hundert Jahre Einsamkeit im Jahre 1988 - trotz des Erfolges von Crónica de una muerte anunciada (deren erste deutsche Ausgabe von 1981 stammt) und der Nobelpreisverleihung 1982 - noch nicht eine Million. Wir könnten uns fragen, welche wohl die übrigen Autoren sind, die vom deutschen Publikum bevorzugt werden: Borges, Fuentes, Vargas Llosa, Cortázar und, nach der Nobelpreisverleihung, Paz. Welches sind die am meist verkauften Titel? Schwierig (oder besser: unmöglich) zu schätzen, da die Verlagshäuser Geschäftsdaten normalerweise nicht großzügig herausgeben. Auf alle Fälle sind die Angaben, die am Kongreß der deutschen und französischen Hispanisten im März 1989 von Meyer-Clason unterbreitet wurden, bezeichnend. Meyer-Clason ist der deutsche Ubersetzer von Dutzenden von lateinamerikanischen Werken und wahrscheinlich auch der beste Kenner der deutschen Verlagswelt in Zusammenhang mit den Literaturen, die uns hier beschäftigen (d.h. die brasilianische und diejenige der spanischsprachigen Länder). "De los 137 títulos de autores argentinos, 16 son de Borges, 6 de Adolfo Bioy Casares y 5 de Ernesto Sábato. De los 123 títulos chilenos corresponden 38 a Pablo Neruda, de los 42 colombianos, 16 son de García Márquez, de los 48 peruanos, 7 de Mario Vargas Llosa. De los 96 de México, 8 son de Octavio Paz y 11 de Carlos Fuentes. De los 37 de Nicaragua, recaen 26 sobre Ernesto Cardenal. De los 86 de Cuba, 6 son de Nicolás Guillén, 15 de Alejo Carpentier. De los 20 de Uruguay, 11 son de Juan Carlos Onetti. De los 26 de Guatemala, 16 son de Miguel Angel Asturias. [...] Finalmente Brasil, cuyos 184 títulos se reparten como sigue: Jorge Amado 28, Machado de Assís 10, Guimaräes Rosa 8, Darcy Ribeiro 5, Erico Verissimo 6, Joäo Cabral de Meló Neto 5, y una serie de autores con 3 a 5 libros, mientras que el resto son publicaciones únicas."1
1
Curt Meyer-Clason: "La recepción de las literaturas ibéricas y latinoamericanas durante los últimos decenios en el ámbito de la lengua alemana", in: Christoph Strosetzki/Jean-
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Zusätzliche
José Manuel López de Abiada
Angaben
Ein oberflächlicher Vergleich der zur Verfügung stehenden Daten zu deutschen Ubersetzungen lateinamerikanischer Werke führt zu folgender Feststellung: Bis zu Beginn der fünfziger Jahre ließ sich keine expansive Tendenz vermuten: In der Tat wurden, zwischen 1955 und 1964, 145 neue Titel lateinamerikanischer Autoren ins Deutsche übersetzt. Diese Ziffer überstieg bereits die Anzahl an Titeln, nämlich 140, die in den vorangehenden 202 Jahren erschienen waren (das erste übersetzte Werk war Florida, des Inca Garcilaso de la Vega, das 1753 in Berlin veröffentlicht wurde); danach genügte ein Zeitraum von nur 5 Jahren, um die angegebenen Mengen zu übertreffen: Zwischen 1965 und 1970 wurden, einschließlich der Anthologien, weitere 155 neue Werke veröffentlicht. 2 Diesen Zahlen läßt sich entnehmen, daß die Verankerung der lateinamerikanischen Literatur im deutschen Sprachraum eher aus jüngster Zeit stammt. Folgende Schlußfolgerung läßt sich ziehen: Die Hispanisten im deutschsprachigen Raum (besser gesagt: Romanisten, denn der größte Teil der Professoren für spanische Sprache und/oder Literatur unterrichtet eine oder gar mehrere romanische Sprachen und Literaturen) konnten den lateinamerikanischen Literaturen keine große Aufmerksamkeit schenken, was auch durch das geringfügige Interesse der Leserschaft mitbedingt war. Wenn man jedoch die Entwicklung des literarischen Austauschs zwischen Lateinamerika und den deutschsprachigen Ländern während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre betrachtet, erscheint es berechtigt, eine kontinuierliche und beständige Zunahme zu erwarten; ebenso erscheint es gerechtfertigt, daraus zu schließen, daß die bezeichnende Gleichgültigkeit, mit der das deutschsprachige Publikum die lateinamerikanische Literatur bis weit in jenes Jahrzehnt hinein aufnahm, definitiv als überwunden zu bezeichnen ist, und daß sich der wirklich bedeutende literarische Anteil kontinuierlich durchsetzen würde - wenn auch mit gewisser Verspätung. Doch bevor wir eine zu optimistische Hypothese aufzustellen wagen, wollen wir die Zahlen sprechen lassen; dazu berufen wir uns auf das äußerst nützliFrançois Botrel/Manfred Tietz (Hgg.): Actas del I Encuentro Hispanistas (Mainz 9.-12.3.1989). Frankfurt 1991, S. 98. 2
Franco-Alemán
de
Vgl. dazu Dieter Reichardt: Lateinamerikanische Autoren. Literaturlexikon und Bibliographie der deutschen Uebersetzungen. Tübingen/Basel 1972, S. 7 und meine Studie: "La recepción de la literatura hispanoamericana en los países de habla alemana y el intercambio cultural entre el mundo hispano y la República Federal Alemana en la década de los setenta", in: Luis López Molina (Hg.): Miscelánea de estudios hispánicos. Homenaje de
Die literaturwissenschaftlich
ausgerichtete Lateinamerikanistik
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che Buch und Buchhandel in Zahlen, das Organ des "Börsenvereins des deutschen Buchhandels", in dem jährlich die Daten in bezug auf den deutschen Buchmarkt publiziert und erläutert werden. Interessieren wir uns zum Beispiel für die Summe aller ins Deutsche übersetzten Titel, so stellen wir fest, daß die Anzahl seit 1970 und 1980 ziemlich konstant geblieben ist: Sie bewegt sich immer um die 5.000 Titel herum (die 6.395 Titel im Jahre 1979 und die 4.589 Titel im Jahre 1971 stellen den höchsten, bzw. den tiefsten Wert dar) 3 , also eine recht ansehnliche Zahl. Wenn wir uns nun für die Zahl der Ubersetzungen vom Spanischen ins Deutsche interessieren, stellen wir fest, daß z.B. im Jahre 1976 von den 5.499 Ubersetzungen in die deutsche Sprache nur gerade 91 aus dem Spanischen stammen (im Gegensatz zum Englischen mit 3.503 Ubersetzungen, zum Französischen mit 760, zum Russischen mit 197, zum Italienischen mit 152, zum Schwedischen mit 137, zum Lateinischen mit 113, usw.). Also eine ziemlich niedrige Zahl; nicht nur, wenn man sie mit den anderen angegebenen Sprachgebieten vergleicht, sondern auch wenn man bedenkt, daß in diesen 91 Titeln alle Wissenschaftszweige, d.h. nicht nur die Literatur, inbegriffen sind, und daß die übersetzten Werke von spanischen Autoren zahlreicher sind als diejenigen lateinamerikanischer Schriftsteller. Wenn wir den Kreis noch enger ziehen und uns für Übersetzungen im Bereich der Belletristik interessieren, stellen wir fest, daß diese weniger als die Hälfte ausmachen: genau 37 Titel, größtenteils Romane. Eine ohne weiteres erklärbare Zahl, könnte man beim ersten Betrachten meinen. Wenn man sich jedoch bewußt macht, daß genau in jenem Jahr 1976 auf dem Gebiet der Belletristik 1.733 Titel aus dem Englischen, 284 aus dem Französischen, 103 aus dem Russischen und 49 aus dem Italienischen übersetzt wurden und daß sich diese Zahlen von Jahr zu Jahr recht konstant halten 4 , relativiert sich unser Optimismus sehr. Vor allem, wenn man die entsprechenden Zahlen in Prozenten betrachtet: Man stellt fest, daß die aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzten Werke nur 1,5 % der gesamten Ubersetzungen ausmachen (gegenüber 72,1 % aus dem Englilos hispanistas
de Suiza a Ramón Sugranyes de Franch. Montserrat 1982, S. 199-205.
3
Wir führen die Zahlen an, die insgesamt den in den 70er Jahren ins Deutsche übersetzten Titeln entsprechen: 1970: 5.526; 1971: 4.589; 1972/73: 9.087; 1974: 5.174; 1975: 4.624; 1976: 5.499; 1977: 5.874; 1978: 6.105; 1979: 6.395. Für weitere Informationen vgl. Buch und Buchhandel in Zahlen. Frankfurt a.M. 1981, S. 23.
4
Als Beispiel seien hier die Zahlen der neuen Titel, die in den drei letzten Jahren des Jahrzehnts in der Belletristik vom Spanischen ins Deutsche übersetzt worden sind, angeführt: 1977: 46; 1978: 37; 1979: 37. Die 37 scheint also eine Art magische Zahl zu sein. Vgl. Buch und Buchhandel in Zahlen. Zu beachten ist, daß in den angegebenen Zahlen alle literarischen Werke, die aus dem Spanischen übersetzt wurden, enthalten sind, d.h. Werke von spanischen und hispanoamerikanischen Autoren.
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sehen, 11,8 % aus dem Französischen, 4,3 % aus dem Russischen und 2,0 % aus dem Italienischen). Dies ist umso bedauerlicher, wenn man bedenkt, daß die Literatur Lateinamerikas seit fast einem halben Jahrhundert eine der reichsten und originellsten der Welt ist. Man könnte wohl einwenden, daß sich diese Angaben ausschließlich auf die ehemalige BRD beziehen und daß man diejenigen Titel hinzufügen müßte, die in der DDR, in Osterreich und in der Deutschschweiz publiziert worden sind. Nach einer Untersuchung gelangt man jedoch zum Schluß, daß der größte Teil der in Ostdeutschland veröffentlichten Werke auch schon in Westdeutschland erschienen war und daß die eigenen, unabhängigen Beiträge österreichischer und schweizerischer Verlagshäuser eher bescheiden ausfallen. In den 80er Jahren stieg die Zahl der Publikationen nur wenig: 1988 z.B. wurden insgesamt 9.325 Titel ins Deutsche übersetzt, davon 182 aus dem Spanischen, also etwas über 2 %. Wenn man berücksichtigt, daß diese Zahl alle übersetzten Titel der 80er Jahre (und nicht nur diejenigen literarischer Themen) umfaßt, daß das Interesse der Deutschen an Spanien beträchtlich gestiegen ist (Eintritt Spaniens in die EG - 1986 - und in die NATO, Ende der Ubergangsphase, usw.), daß die spanische Literatur stärker vertreten ist und daß das Hauptthema der Frankfurter Buchmesse 1991 die spanische Literatur seit 1975 war, können wir annehmen, daß die Anzahl übersetzter Titel von lateinamerikanischen Autoren etwa gleich geblieben ist wie im vorherigen Jahrzehnt. Diese Vermutungen werden indirekt bestätigt, wenn man die Zahl der im Jahre 1988 übersetzten Titel mit der von 1983 vergleicht. Gustav Siebenmann führt im Vorwort zu seiner Bibliographie spanischer, portugiesischer und katalanischer Ubersetzungen ins Deutsche diesbezüglich folgendes an: "[...] So wird die Euphorie angesichts des starken Anstiegs der Ubersetzungen in den letzten zwei Jahrzehnten sogleich gedämpft: Aus der Tabelle 10 [...] des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main geht hervor, daß 1983 100 Titel aus der Herkunftssprache Spanisch und 21 Titel aus der Herkunftssprache Portugiesisch ins Deutsche übersetzt worden sind. Das sind gemessen am Total der aus irgendeiner Sprache ins Deutsche übersetzten (6.534) Titel lediglich 1,5 bzw. 0,3 Prozent!" 5
5
Gustav Siebenmann/Donatella Casetti: Bibliographie der aus dem Spanischen, sischen und Katalanischen ins Deutsche übersetzten Literatur. 1945-1983.
PortugieTübingen
Die literaturwissenschaftlich
ausgerichtete
Lateinamerikanistik
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Der Ursprung der literaturwissenschaftlich ausgerichteten Lateinamerikanistik im deutschsprachigen Raum Man kann behaupten, daß die deutsche literaturwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerikanistik bis Ende der 60er Jahre keine systematische Form annimmt. Seit 1968 ist sodann kein Jahr vergangen, ohne daß mindestens ein bedeutender Titel von einem deutschen Lateinamerikanisten erschienen wäre. Zwischen 1968 und 1973 etwa erschienen sieben Werke, die nicht nur bei den Studierenden der spanischen Sprache und Literatur großen Anklang fanden: Leo Pollmann: Der Neue Roman in Frankreich und Lateinamerika. Stuttgart 1986; Rudolf Grossmann: Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur. München 6 1969; 6 Günter W. Lorenz: Dialog mit Lateinamerika. Panorama einer Literatur der Zukunft. Tübingen 1970; Günter W. Lorenz: Die zeitgenössische Literatur in Lateinamerika. Tübingen 1971; Dieter Reichhardt: Lateinamerikanische Autoren. Literaturlexikon und Bibliographie der deutschen Uebersetzungen. Tübingen 1972; Gustav Siebenmann: Die neuere Literatur Lateinamerikas und ihre Rezeption im
1985, S. 9. 6
Ich erlaube mir, eine der kritischen Meinungen über das berühmte Handbuch von Grossmann zu zitieren. Sie stammt vom Kolumbianer Rafael Gutiérrez Girardot, Professor für lateinamerikanische Literatur an der Universität Bonn: "Uno de los grandes abogados de la literatura latinoamericana en Alemania, por ejemplo, Rudolf Grossmann su libro debió parecer muy moderno metodológicamente y muy al día en la información a los directores de la legendaria Revista de Occidente, pues a su editorial se debe su difusión en las llanuras bárbaras de lengua española - elaboró una novedosísima geografía literaria, que bastaba para explicar al lector por qué la región del Caribe producía una literatura abundantemente retórica. [...] Su esquema interpretativo de la literatura latinoamericana procedía de una teoría historiográfica de los años 20 y 30, la del austríaco Josef Nadler, que hoy nadie se atreve a mencionar porque esa teoría contribuyó a la justificación "científica" del racismo nazi. Nadler había escrito seis gruesos volúmenes sobre el desarrollo de la historia de la literatura alemana en los que minuciosamente deducía el estilo de un autor del linaje al que pertenecía y del paisaje en el que había crecido. Una teoría historiográfica de la literatura que había sido formulada bajo determinadas circunstancias y con determinados intereses ideológicos, y que no sólo por esos motivos, sino por su insostenibilidad científica había sucumbido con el régimen al que sirvió, celebraba su renacimiento por la puerta falsa, es decir, como esquema interpretativo de la literatura latinoamericana. Los más penetrantes cazadores de reliquias nazis pasaron por alto esta resurrección de la ideología nazistoide de Nadler en Grossmann." ("Cómo se lee la literatura latinoamericana en Europa", in: Camp de l'arpa, 55-56 (Barcelona) 1978, S. 58).
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deutschen Sprachraum. Berlin 1972; Ronald Daus: Zorniges Selbstdarstellung eines Kontinents. Düsseldorf 1973.
Lateinamerika.
Bis zu diesem Senkrechtstart Ende der 60er Jahre gab es nur wenige bedeutende Titel; zu den Vorreitern zählen die erste Geschichte lateinamerikanischer Literatur von Max Leopold Wagner (Die spanisch-amerikanische Literatur in ihren Hauptzügen. Leipzig/Berlin 1924), die kurze Studie von Hellmut Petriconi (Spanisch-amerikanische Romane der Gegenwart. Hamburg 1938), das Buch von Ludwig Pfandl (Die zehnte Muse von Mexico, Juana Inés de la Cruz. Ihr Leben - Ihre Dichtung - Ihre Psyche. München 1946) und einzelne Studien zu lateinamerikanischen Themen von Karl Vossler. 7 Was läßt sich daraus ablesen? Daß die langsame Rezeption lateinamerikanischer Literatur durch das deutschsprachige Publikum und das steigende Interesse - innerhalb und außerhalb der Universitäten - für die politischen Ereignisse in Lateinamerika als Folge der kubanischen Revolution sich auch im wissenschaftlichen Bereich widerspiegeln. Die sogenannte 68er Bewegung und die Bedeutung, die Ernesto Che Guevara bei den Studentenführern hatte, erklären auch indirekt das steigende Interesse für lateinamerikanische Literatur und die wachsende Zahl von Lizentiats- und Doktorarbeiten über lateinamerikanische Lyrik und Prosa. Aufgabe dieser Einführung ist eigentlich, die schweizerischen Studien über lateinamerikanische Themen vorzustellen. Tatsache ist jedoch, daß die Lateinamerikanistik in der Deutschschweiz langsam im Fahrwasser der deutschen entsteht, womit ein wenn auch nur schematischer - Uberblick über letztere unumgänglich gewesen ist.
Die schweizerische ausgerichtete
literaturwissenschaftlich
Lateinamerikanistik
Die schweizerische Lateinamerikanistik hat ihren Ursprung 1947 in St. Gallen, als der Spanischlehrstuhl Johann Anton Doerig übertragen wurde. Damals wurde Doerig zum Professor für spanische und kurze Zeit später auch für portugiesische und lateinamerikanische Sprache und Literatur ernannt. Der Initiative von Prof. Doerig verdanken wir die 1961 erfolgte 7
Mehr dazu, vgl. Karsten Garscha: "El descubrimiento de Iberoamérica por el hispanismo en Alemania", in: Christoph Strosetzki/Jean-Fran^ois Botrel/Manfred Tietz (Hgg.): Actas del I Encuentro Franco-Alemán de Hispanistas (Mainz 9.-I2.3.1989). Frankfurt 1991, S. 75-87.
Die literaturwissenschaftlich
ausgerichtete Lateinamerikanistik
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Gründung des "Lateinamerikainstitutes" an der Hochschule St. Gallen (Institut für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit; Instituto de Investigación sobre América Latina y Cooperación al Desarrollo). Doerig ist auch Autor des Lehrbuches Mundo Hispánico. Einführung in die spanische Umgangssprache. Aussprache, Lektüre, Übungen, Vokabular, Korrespondenz, Grammatik (Zürich 1952, überarbeitet und erweitert in vielen Nachdrucken: Lo básico de la lengua española; Einfiihrung in die spanische Umgangssprache; Lo fundamental de la gramática. Einführung in die Grammatik. Kurzgefasste Grammatik der spanischen Umgangssprache mit Anhang über die wesentlichen Besonderheiten des amerikanischen Spanisch). Nach seiner Emeritierung 1976 folgt Gustav Siebenmann, der zuvor Lehrstuhlinhaber für Romanische Philologie mit hispanistischer Ausrichtung an der Universität Erlangen-Nürnberg (1966-1977) gewesen war. Ein flüchtiger Blick auf die Publikationen von Prof. Siebenmann über allgemein kulturelle und literarische Themen Lateinamerikas läßt erkennen, daß er der schweizerische Spezialist für Lateinamerikanistik ist. Deshalb sei hier ein Exkurs erlaubt über seine Rolle als Verteidiger, Förderer und Mentor der hispanischen Kulturen und Literaturen in Europa, speziell in den deutschsprachigen Ländern. Denn seine Beschäftigung mit der Hispanistik beruht nicht nur auf seinem persönlichen Lebenslauf (er lebte 15 Jahre in Lima) und auf seiner Berufung, sondern ist vor allem auch Folge einer schmerzhaften Feststellung: Die hispanischen Kulturen waren, wie wir wissen, bis weit in die sechziger Jahre beim "großen Publikum" deutscher Kultur wenig bekannt, oft mißverstanden, und ihre Rezeption war erschwert durch das Gewicht überholter Vorurteile und Stereotypen. Darin liegt der Grund für das hauptsächliche Interesse seiner Arbeit, kulturelle Vorbehalte abzubauen und Brücken zu schlagen zwischen Kulturen, die wegen jahrhundertealten Mißverständnissen entzweit waren. Aber neben seiner akademischen Forschung und den alltäglichen Arbeiten, die ein Lehrstuhl mit sich bringt, wandte Gustav Siebenmann als Kulturvermittler auch zwei weitere wirksame Mittel an: den Wissenschaftsjournalismus und Vorträge. Ersterer ist bei den deutschsprachigen Hispanisten eher unüblich, denn bis vor kurzem wurde er für eine akademische Karriere als wenig vorteilhaft angesehen. In seinem Fall handelt es sich jedoch hauptsächlich um die Mitarbeit im Kulturteil der Neuen Zürcher Zeitung, der bekannten und prestigeträchtigen Zeitung des gebildeten Deutschschweizer Bürgertums und eine der angesehensten in deutscher Sprache. Durch seine Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung brachte er die hispanische Kultur einem größeren Publikum näher und wühlte gleichzeitig mit Nachdruck dessen bequeme und festgesessene
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Vorurteile auf: zunächst mit spanischen Themen; später erlangten die Literaturen und Kulturen der Neuen Welt eindeutigen Vorrang. Ein anderer großer Förderer der hispanoamerikanischen Literatur in der Schweiz ist Jean-Paul Borel, dem 1963 der Lehrstuhl für Spanische Sprache und Literatur an der Universität Neuchätel übertragen wurde. Seiner Initiative verdanken wir außer der 1969 gegründeten Sociedad Suiza de Estudios Hispánicos (der er als erster Präsident vorstand) auch die alljährliche Zusammenkunft der sogenannten Grandes Seminarios de Travers, wo sich zum ersten Mal die doppelte Richtung der schweizerischen Hispanistik zeigte, die ihr Interesse sowohl auf die Iberische Halbinsel als auch auf den amerikanischen Kontinent richtete. Das erste Große Seminar fand im Juni 1975 statt, und seitdem werden die Großen Seminare alle Jahre abgehalten. 8 Auch am Lehrstuhl der iberischen Sprachen und Literaturen an der Universität Fribourg hat das Studium der lateinamerikanischen Literaturen eine lange Tradition. Sein erster Förderer war Prof. Ramón Sugranyes, und seit seiner Emeritierung 1983 führt der heutige Lehrstuhlinhaber Pedro Ramírez die alte Tradition weiter. Die Universität Genf war die erste, die einen Lehrstuhl für Lateinamerikanische Literaturen schuf (1983). Er wurde Prof. Luis Iñigo Madrigal, einem Chilenen spanischer Herkunft, übertragen. Der zweite und bis vorerst letzte Lehrstuhl speziell für lateinamerikanische Literaturen wurde 1989 an der Universität Zürich eingerichtet und mit dem Schweizer Hispanisten Martin Lienhard besetzt. Im Frühling 1989 änderte der Lehrstuhl von Bern seinen Namen und nennt sich nun Lehrstuhl für Spanische Sprache und Literatur, unter Einschluß der lateinamerikanischen Literatur. An der Universität St. Gallen wurde der Lehrstuhl im Herbst 1989 dem Lyriker und Essayisten Jaime Siles übertragen. 9
8
Mehr dazu in der Explicación
previa
z u m Buch, das kollektiv v o n José Manuel L ó p e z de
Abiada und Julio Peñate herausgegeben wurde: Perspectivas cación 9
de la narrativa
latinoamericana.
de comprensión
y de
expli-
Bellinzona 1982, S. 7 - 1 5 .
Für weitere Informationen über die S c h w e i z e r Hispanistik im a l l g e m e i n e n , vgl. m e i n e Studie: "Los estudios hispánicos en Suiza: Situación actual y breve visión retrospectiva", in: Revista
de la Universidad
Complutense,
1 (Madrid) 1984, S. 6 5 - 9 1 .
Die literaturwissenschaftlich
Die lateinamerikanische
ausgerichtete Lateinamerikanistik
Literatur als
Disziplin: Forschungsstand
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akademische
und Bilanz
Die lateinamerikanische Literatur weist somit eine konstante Präsenz an fast allen Universitäten der Schweiz auf. Zwei Lehrstühle sind zudem ausschließlich der lateinamerikanischen Literatur gewidmet. Trotzdem finden nur unregelmäßig Vorlesungen zur brasilianischen Literatur statt, was, angesichts der Tatsache, daß Prof. Siebenmann vor seiner Emeritierung alle zwei Semester eine Vorlesung mit begleitender Lektüre über brasilianische Autoren veranstaltete, eine neuartige Situation darstellt. Ferner fehlen, wie aus der nachfolgenden Bibliographie ersichtlich wird, Forschungsarbeiten und Publikationen zur brasilianischen Literatur und Linguistik fast gänzlich. Richten wir nunmehr unser Augenmerk vor allem auf die Forschung, ohne dabei die Lehre an sich zu vergessen. Zur Zeit ist es in der Schweiz nur an zwei Universitäten - Genf und Zürich - möglich, lateinamerikanische Literatur als Hauptfach zu belegen. Da diese Lehrstühle erst seit kurzem existieren (1983 und 1989), steht die Forschung hier erst am Anfang: Zwar sind momentan verschiedene Lizentiatsarbeiten und einige Dissertationen in Bearbeitung, erstere werden in der Regel jedoch nicht publiziert, und letztere wurden zum Teil noch nicht abgeschlossen. In den letzten drei Jahren konnten erst folgende Dissertationen fertiggestellt werden: Arno Giovannini: Entre culturas: "Los pasos perdidos" de Alejo Carpentier. Zürich 1989; Eva Michel-Nagy: Principes dialogiques de et dans "Moi, le Suprème" de Augusto Roa Bastos. Genève 1990 und Ernst Rudin: La novela chicana. Fribourg 1990. Gegenwärtig arbeiten acht Doktoranden über lateinamerikanische Autoren. Die Titel wurden erst provisorisch festgelegt. Die Themen und die betreffende Universität sind: Miguel Barnet (Genève), Gabriel Garcia Márquez und Manuel Scorza (beide in Bern), Mario Vargas Llosa (drei Arbeiten im ganzen: eine in Neuchätel über La guerra del fin del mundo und zwei in Zürich; eine untersucht die Beziehung zwischen Literatur und Politik, die andere vergleicht einige Werke von Euclides Da Cunha mit dem peruanischen Autor); des weiteren La novela modernista und die Novela femenina contemporánea in Argentinien (Genève). Obschon nur zwei Lehrstühle für lateinamerikanische Literatur bestehen, bieten doch alle Schweizer Universitäten regelmäßig Veranstaltungen zu lateinamerikanischen Themen an. Es überwiegen die Veranstaltungen zu literarischen Themen. Zudem finden Einführungen in die lateinamerikanische Landeskunde und Kulturen statt. An den Universitäten Bern und Genf werden im Lehrplan sogar zwei indianische Sprachen, Guaraní und Que-
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José Manuel López de Abiada
chua, angeboten. Dennoch ist das Lehrangebot ungenügend. Ein großer Teil der Lehrkräfte versucht den Bereich der Lateinamerikanistik nebenher abzudecken, da sie eigentlich einen Lehrstuhl in Spanischer Literatur innehalten. Hinzu kommt, daß nur einer von zwölf Professoren lateinamerikanischer Herkunft (Chilene) ist und daß von den übrigen Professoren sieben Spanier und vier Schweizer sind. Eine feste Anzahl von Wochenstunden in lateinamerikanischer Literatur und Sprache läßt sich nicht angeben, da die Schwankungen zu groß sind. Für eine Zeitspanne von fünf Jahren (was dem schweizerischen Durchschnitt zum Erlangen eines Lizentiats entspricht) läßt sich aber als Richtwert mit leichten Unterschieden zwischen den einzelnen Universitäten ein Verhältnis von sieben Wochenstunden für spanische Literatur und drei für lateinamerikanische beobachten. Diese Zahlen stimmen im wesentlichen mit den Resultaten der 1983-1985 vorgenommenen Untersuchungen von Peñate/ Rosenbaum überein 10 , jedoch mit einer Abweichung: Die Differenzen im Lehrangebot zwischen den kleinen Universitäten (Fribourg, Neuchätel, St. Gallen) und den großen (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich) sind heute praktisch ausgeglichen. Dennoch gilt gegenwärtig, wie schon in den achtziger Jahren, daß das Lehrangebot in lateinamerikanischer Literatur vor allem dem guten Willen der jeweiligen Seminardirektoren zu verdanken ist, da ja nur zwei vollamtliche Lehrstühle für Lateinamerikanistik existieren. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, lateinamerikanische Literatur als ein Gebiet differenzierter, aber in sich geschlossener Strömungen kenntlich zu machen, und sie nicht einfach als Summe der Produkte isolierter Individuen oder in einer Gliederung formal verwandter Werkgruppen (Roman, Poesie, Theater) darzustellen. Obwohl die Lateinamerikanistik in der Schweiz noch jung und schwach dotiert ist, kann dieser Fachzweig auf Forschungsergebnisse von internationaler Bedeutung verweisen. Einzigartig und wegweisend sind in dieser Hinsicht die Studien von Siebenmann zu folgenden Themen: die lateinamerikanische Hacienda, die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im deutschen Sprachraum, das Lateinamerikabild im deutschen Sprachraum, die lateinamerikanische Avantgarde sowie die Essays über C. Alegría, M. Azuela, Borges, Sábato, Vallejo und andere Autoren in seinen Ensayos de la literatura hispanoamericana.
10 Julio Peñate Rivero/Francine Rosenbaum: "Literatura latinoamericana como disciplina académica. Datos de un estudio empírico", in: Thomas Bremer/Julio Peñate Rivero (Hgg.): Hacia una historia social de la literatura latinoamericana II, Actas del Tercer Congreso de AELSAL. GieBen/Neuchátel 1986, S. 167-179, bes. S. 174.
Die literaturwissenschaftlich
ausgerichtete Lateinamerikanistik
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Weiter gilt es, die Arbeiten von Borel über Fuentes, Sábato, Galeano und andere Autoren und seine Beiträge zur Literatursoziologie und zum Projekt der Asociación de estudios, literaturas y sociedades de América latina zu erwähnen. Iñigo Madrigal weist sich, nebst seiner Verlagsarbeit und Förderung lateinamerikanischer Themen in der Historia de la Literatura Hispanoamericana und seiner aktiven Mitarbeit als Präsident der Fundación Simón I. Patino, als Spezialist des Werkes von Guillén aus. Des weiteren seien hier die aufschlußreichen und wegweisenden Arbeiten von Martin Lienhard über Arguedas, die Kultur der Anden, die Chronik der Mestizen in Mexiko und Peru, die mündliche Uberlieferung der alten Kulturen der Ureinwohner und Mestizen in der schriftlichen Literatur Lateinamerikas genannt. Als weitere verbindliche Referenzen müssen zudem folgende Werke erwähnt werden: das Buch und die Artikel von Américo Ferrari über Vallejo, der Beitrag von Pedro Ramírez über Aspekte der Temporalität im Werk von Borges, Carpentier, Cortázar und García Márquez, die Studien von Helena Araújo über die Frauenliteratur in Lateinamerika und das Buch von Maya Schaerer, das sie der Poesie von Octavio Paz gewidmet hat. Ebenfalls vielversprechend sind die gegenwärtig laufenden Untersuchungen von Siebenmann zur lateinamerikanischen Poesie, von Lienhard zu den Darstellungen von Seiten der Einheimischen der Conquista und der Kolonie, von Iñigo Madrigal zur kolonialen Erzählkunst, von Peñate über die soziale Wiedergabe, die Praxis der Literatur und die Sozialgeschichte der lateinamerikanischen Literatur. Ramírez arbeitet zur Zeit über die Novela indigenista; López de Abiada über González Tuñón, Neruda, Vallejo und Isabel Allende; Schaerer über die Poesie von Octavio Paz. Alle aufgezählten Studien und Dissertationen zu lateinamerikanischen Themen zeigen eines deutlich: Wir haben zwar spät angefangen, wir sind aber auf dem richtigen Weg. 1 1
11 In der folgenden Bibliographie habe ich die Bücher der in der Schweiz lebenden lateinamerikanischen Autoren weggelassen.
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José Manuel López de Abiada
Bibliographie Helena Araújo: "Escritoras latinoamericanas: ¿por fuera del boom?", in: 30 (Barcelona) 1983
Quimera,
dies.: "Niña decente, niña indecente. (Ensayo sobre la obra de ficción de algunas novelistas latinoamericanas)", in: Escandalar (New York) 1983 dies.: "Femenismo en plazas, letras y siglas", in: Caravelle, 50 (Toulouse) 1988, S. 49-60 dies.: "Siete novelistas colombianas", in: Manual de literatura colombiana. 1988, S. 411-452 dies.: La Scherezada Criolla. (Ensayos sobre escritura femenina Bogotá 1989
Bogotá
latinoamericana).
dies.: "Oppression, Tradition, Transgression in some Colombian Female Novelists", in: Splintering Darkness: Latin american Women Writers in Search of themselves. Pittsburgh, Pa. 1990 dies.: "Sitio a la Atenas Suramericana", Aires/Maryland) 1990, S. 35-62
in: Hispamérica,
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(Buenos
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Die Rezeption der modernen lateinamerikanischen Kunst und Architektur Auf dem Gebiet der Kunstgeschichte konnte sich in der Schweiz eine Tradition der Lateinamerikaforschung bisher nicht etablieren. Dies ist unter anderem an der Tatsache ersichtlich, daß es bis heute im universitären Bereich an Publikationen zur neuzeitlichen, d.h. nachkolumbischen Kunst oder Architektur fehlt.1 Von den in der Bibliographie aufgeführten Titeln können einzig diejenigen von Erika Billeter zur mexikanischen Malerei und zur lateinamerikanischen Fotografie als Resultat einer intensiven und anhaltenden kunsthistorischen Forschung gewertet werden; die Mehrzahl der übrigen Beiträge steht für eine eher momentane Beschäftigung mit diesem Themenbereich und ist in der Regel der Ausdruck für eine Rezeption oder Präsentation zeitgenössischer lateinamerikanischer Kunst und Architektur. Allein die Publikation des ehemaligen Konservators des Musée des BeauxArts in Genf, Maurice Pianzola, behandelt mit dem brasilianischen Barock ein Gebiet, das zeitlich vor dem 20. Jahrhundert liegt.2 Alle anderen Publikationen widmen sich der Kunst und Architektur unseres Jahrhunderts und bilden einen Teil der allgemeinen Rezeption, welche für die Schweiz im folgenden dargestellt werden soll. Die Anfänge der Rezeption moderner lateinamerikanischer Kunst in Europa gehen zurück in die frühen dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts, als sich mit der mexikanischen Wandmalerei erstmals eine künstlerische Bewegung aus einem lateinamerikanischen Land auf internationaler Ebene zu Wort meldete. Die mexikanische Wandmalerei, deren Anfänge in die frühen zwanziger Jahren reichen, war mit ihrer klaren, sozial und politisch engagierten Sprache und ihrem bewußten Rückgriff auf die eigene, indianische Kunsttradition aus dem Schatten der bis dahin dominanten europäischen Vorbilder getreten. Ihre Erfolge ermunterten bald auch in den anderen Ländern des lateinamerikanischen Kontinents Künstler und Künstlerinnen, 1
Für die Forschungen zur präkolumbischen Kunst und der Volkskunst sei hier auf die Gebiete der Archäologie bzw. der Ethnologie verwiesen.
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eigenständige Wege und Ausdrucksformen zu suchen. Die Leitsterne der mexikanischen Wandmalerei, Diego Rivera, José d e m e n t e Orozco und David Alfaro Siqueiros, erlangten besonders durch ihre Ausstellungen und großen Wandgemälde in den USA während der frühen dreißiger Jahre internationale Bekanntheit und Anerkennung. Erst zu diesem Zeitpunkt konnte auch auf dem europäischen Kontinent die Rezeption moderner, spezifisch lateinamerikanischer Kunst einsetzen. Doch das will nicht heißen, daß nicht schon vorher lateinamerikanische Künstler in Europa Beachtung gefunden hätten. Viele von ihnen reisten während des 19. und 20. Jahrhunderts durch Europa und nahmen an den jeweils aktuellen Kunstbewegungen teil. 3 Allein die Pariser Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre zählte eine ganze Reihe bedeutender Lateinamerikaner zu ihren Vertretern: Diego Rivera schloß sich den Kubisten an; der Uruguayaner Joaquín Torres-García beteiligte sich maßgebend an der konstruktiven Bewegung; der Kubaner Wifredo Lam und der Chilene Roberto Matta Echaurren standen den Surrealisten nahe, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie traten aber nicht als Vertreter einer eigenständigen, lateinamerikanischen Kunstentwicklung auf und wurden deshalb als Teil europäischer Strömungen oder als Individualisten wahrgenommen. In der Schweiz läßt sich dies am Beispiel von Oswaldo Goeldi zeigen. 4 Oswaldo Goeldi war Sohn des berühmten Schweizer Auswanderers Emil August Goeldi, der 1894 in Pará, Brasilien, das Staatsmuseum für Naturgeschichte und Ethnographie gegründet hatte. Oswaldo kam als Kind in die Schweiz, wo er die Schule besuchte und den Militärdienst absolvierte. Danach studierte er einige Monate an der Ecole des Arts et Metiers in Genf, hatte 1917 eine Ausstellung in der Galerie Wyss in Bern und kehrte 1919 zurück nach Brasilien. 1930 kam Goeldi auf dem Weg zu seinem Vorbild und Mentor Alfred Kubin nochmals in die Schweiz und zeigte hier seine Holzschnitte im Atelier eines Freundes in Muri. Diese Ausstellung erhielt in der Berner Presse lobende Kritiken 5 , welche zwar die lateinamerikanische Herkunft der Sujets vermerkten - tropische Vegetation, südliche Architektur -, ansonsten in ihm aber eher den weitgereisten Schweizer "Otto Goeldi" als den brasilianischen Gastkünstler Oswaldo Goeldi sahen. Als Goeldi hinge2
Maurice Pianzola: Barockes
Brasilien.
Genève 1974.
3
Einen Überblick über die Kunstentwicklung in Lateinamerika im 19. und 20.Jahrhundert geben: Dawn Ades: Art in Latin America. The Modern Era, 1820-1980. New Häven/London 1989; Damián Bayón: Historia del arte hispanoamericano. Bd. 3: Siglos XIX y XX. Madrid 1988.
4
José Maria dos Reis Junior: Goeldi. Rio de Janeiro 1966.
5
Der Bund, 4.7.1930, Abendausgabe, S. 3; Berner Tagblatt,
19.7.1930, S. 3.
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gen 1954/55 innerhalb der Wanderausstellung brasilianischer Graphik wieder in der Schweiz ausstellte, konnte er als Vertreter moderner brasilianischer Kunst auftreten, wurde als doyen très respecté de la gravure contemporaine au Brésil vorgestellt. 6 Kunst aus Lateinamerika war nun, Anfang der fünfziger Jahre, zu einem neuen Faktor innerhalb der zeitgenössischen, westlichen Kunstentwicklung geworden. Sie präsentierte sich - wie im Falle Mexikos - als Produkt einer eigenständigen, nationalen Kunstszene, oder wie im Falle Brasiliens - als selbstbewußter und richtungsweisender Teil der internationalen Moderne. Diese beiden Länder, Mexiko und Brasilien, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der bildenden Künste unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, waren während der fünfziger Jahre die international bekanntesten Vertreter ihres Kontinents. Ausschließlich ihnen widmeten sich auch die ersten Ausstellungen und Publikationen in der Schweiz. Die erste Ausstellung mexikanischer Kunst in einem Schweizer Museum war die von 1951 im Kunstgewerbemuseum Zürich. 7 Sie zeigte graphische Blätter aus dem Taller de Grafica Populär (TGP), einer 1937 in Mexiko gegründeten Werkstatt für Graphik, die bis in die fünfziger Jahre bestand. Das Taller erlangte durch seine sozial und politisch engagierte Sprache gleich der Wandmalerei bald internationale Bekanntheit. 8 Die Ausstellung in Zürich ist allerdings auf einen direkten Kontakt zum TGP zurückzuführen: Der Schweizer Architekt Hannes Meyer, von 1928 bis 1930 Direktor des Bauhauses in Dessau, war nach Aufenthalten in der UdSSR und der Schweiz 1939 nach Mexiko emigriert. Dort betätigte er sich von 1947 bis zu seiner Rückkehr in die Schweiz im Jahre 1949 unter anderem als Technischer Direktor des TGP-Verlages La Estampa Mexicana und gab in dieser Eigenschaft mehrere Mappenwerke sowie ein Album des TGP heraus. 9 Von ihm erwarb das Kunstgewerbemuseum in Zürich die Graphiken und druckte im
6
Le Brésil. Arts primitifs et modernes brésiliens. d'ethnographie de Neuchâtel. Neuchâtel 1955, S. 21.
Ausstellungskatalog
des
Musée
7
Die im folgenden erwähnten Ausstellungen und Publikationen sind, falls nicht speziell vermerkt, in der beigefügten Ausstellungsliste und Bibliographie ausführlicher dokumentiert.
8
A d e s ( A n m . 3), S. 181 ff.
9
Hannes Meyer (Hg.): TGP México. El taller de gráfica popular. Doce años de obra artística colectiva. Mexiko 1949. Zu Meyers Aufenthalt in Mexiko: Werner Kleinerüschkamp: "Exilarchitektur: Hannes Meyer in Mexiko", in: Bauhaus-Archiv Berlin/Deutsches Architekturmuseum Frankfurt a.M./ETH Zürich (Hgg.): Hannes Meyer. 1889-1954. Architekt Urbanist Lehrer. Ausstellungskatalog. Berlin/ Frankfurt a.M. 1989, S. 316 ff.
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Ausstellungskatalog einen Aufsatz ab, den Meyer wenige Monate zuvor in der Zeitschrift Graphis publiziert hatte. Sechs Jahre später veröffentlichte Armin Haab sein Buch über die mexikanische Graphik, in dem er besonders das Werk des 1913 verstorbenen Altmeisters José Guadalupe Posada würdigte. Die zweite Ausstellung mexikanischer Kunst fand 1959 unter dem Titel Kunst der Mexikaner im Zürcher Kunsthaus statt. Sie ist in gewissem Sinn charakteristisch für viele der nachfolgenden Ausstellungen bis in die siebziger Jahre, insbesondere für diejenigen, die das zeitgenössische Kunstschaffen des jeweiligen Landes in einem Querschnitt präsentierten: Sie wurden organisatorisch - und meistens auch finanziell - ganz entscheidend vom Gastland getragen. Es handelte sich also in den meisten Fällen um Ausstellungen, die nicht von Schweizer Seite aus initiiert wurden, sondern die dem Bedürfnis der jeweiligen lateinamerikanischen Länder entsprangen, ihre Kunstproduktion einem europäischen Publikum näherzubringen und ihr somit zugleich den Anschluß an die internationale Kunstentwicklung zu ermöglichen. 10 Auch hinsichtlich einer anderen Problematik ist die Ausstellung Kunst der Mexikaner bezeichnend. Von den fast 800 Exponaten waren nur 20 von zeitgenössischen Künstlern; den Kern bildeten die über 700 Ausstellungsstücke aus präkolumbischer Zeit. Auch wenn die 20 modernen Werke von den renommiertesten Mexikanern, von Rivera, Orozco, Siqueiros und Tamayo stammten, so war dieser Teil dennoch kaum mehr als ein Anhängsel. Eine so stark auf das vergangene indianische Kulturerbe ausgerichtete Schau als Kunst der Mexikaner zu präsentieren, entsprach den hiesigen Erwartungen. Länder wie Mexiko oder Brasilien wurden in Schweizer Zeitschriften und Fotobänden vorwiegend als Stätten vergangener Hochkulturen, als abgeschiedene, von ländlicher Folklore geprägte Welten oder als Wunder der Natur dargestellt; daß es sich gleichzeitig auch um moderne Industriestaaten mit einer westlichen Kultur handelte, wurde dabei kaum beachtet. 11 Diese Perspektive, die in den lateinamerikanischen Kulturen das Fremde,
10 Die Kataloge dieser Übersichts-Ausstellungen der sechziger und siebziger Jahre sind in dieser Beziehung recht aufschlußreich. Nicht nur Aufbau und Zusammenstellung der Ausstellungen, auch die Katalogtexte wurden praktisch immer von lateinamerikanischen Fachleuten besorgt. 11 Als Beispiel lassen sich die Nummern der Zeitschrift du zu Mexiko (7/1950, 1/1960), Brasilien (5/1956) und Argentinien (3/1959) anführen. Daß in der Schweiz der ethnologische Blick dominierte und weiterhin dominiert, zeigt allein schon der quantitative Vergleich der Fachpublikationen im Bereich Ethnologie und Soziologie zu denjenigen der Kunst- bzw. Literaturwissenschaft.
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Exotische oder Volkstümliche sucht, und das Verwandte, Ebenbürtige vernachlässigt, beeinflußte damals wie heute auch die Kunstrezeption. Das zweite Land, das in den fünfziger Jahren in der Schweiz aktiv wurde, war Brasilien. Eine Wanderausstellung, die in mehreren Schweizer Städten gezeigt wurde, präsentierte in unterschiedlicher Zusammensetzung moderne Graphik, Zeichnungen, Architektur, Malerei, Plastik und Fotografie. 12 Die umfassendste dieser Ausstellungen war die im Musée d'ethnographie de Neuchâtel. Im Gegensatz zu den Mexikanern orientierten sich die brasilianischen Künstler und Künstlerinnen zum damaligen Zeitpunkt stärker an den Bewegungen der internationalen Moderne im Bereich der konstruktiven Kunst. In den Schweizer Ausstellungen wurden unter anderem die Werke der damals schon namhaften Brasilianer Candido Portinari, Lygia Clark und Arthur Luis Piza gezeigt. Auf größeres Echo stieß vorerst aber, und das nicht nur in der Schweiz, die moderne brasilianische Architektur. Seit Le Corbusier 1929 Brasilien besucht hatte, riß der Kontakt der brasilianischen Architekten zu ihren europäischen und nordamerikanischen Kollegen nicht mehr ab, und noch bevor der Bau Brasilias in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die brasilianische Architektur endgültig zum Inbegriff modernen Städtebaus machte, gehörten Architekten wie Lucio Costa, Oscar Niemeyer und Affonso Eduardo Reidy weltweit zu den führenden Vertretern der Moderne. Auch in der Schweiz wurde damals die brasilianische Architektur rezipiert und in Fachpublikationen diskutiert. So gab die Fachzeitschrift Werk 1953 ein Heft mit dem Titel Moderne Architektur und Kunst in Brasilien heraus, in dem unter anderem Projekte und Bauten von Reidy, Niemeyer und Rino Levi vorgestellt wurden. 1 3 Dieses Interesse an moderner brasilianischer Architektur hielt in der Schweiz bis in die sechziger Jahre an. Hervorzuheben sind dabei die Publikationen des Zürcher Architekturprofessors Siegfried Giedion. Giedion gehörte als Generalsekretär des CIAM (Congrès International dArchitecture Moderne) zu den einflußreichsten Architekturtheoretikern seiner Zeit. In seinen Essays zur brasilianischen Architektur bewertete er diese im allgemeinen positiv. 14
12 Zur Ausstellung in Zürich, die unter dem Titel Brasilien baut moderne brasilianische Architektur und Graphik sowie Plastiken von Mary Vieira vereinigte, erschien in der Zeitschrift Werk eine ausführliche Kritik von Alfred Roth (vgl. Bibliographie). 13 Werk, Jg. 40, Nr. 8 (Winterthur) 1953. 14 Eine eher kritische, ablehnende Haltung gegenüber der modernen brasilianischen Architektur nahm hingegen Max Bill ein. Er kam anläßlich der 2. Biennale von Säo Paulo nach Brasilien und hielt dort einen Vortrag, der später zusammen mit den Essays anderer Kriti-
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Als weiterer Strang der Rezeption lateinamerikanischer Kunst in den fünfziger Jahren muß der persönliche Kontakt, der sich zwischen den Vertretern der konstruktiven Kunst in Brasilien, Argentinien und der Schweiz entwickelte, genannt werden. Auf Schweizer Seite war dabei Max Bill die zentrale Figur. Er erhielt 1951 auf der 1. Biennale von Säo Paulo den internationalen Preis für Plastik. Im gleichen Jahr kam die Brasilianerin Mary Vieira nach Zürich, wo sie bis 1954 als Schülerin von Bill arbeitete und in der Folge regelmäßig an den Ausstellungen konkreter Kunst teilnahm. 15 Auch der Brasilianer Almir Mavignier studierte eine Zeitlang bei Max Bill, und zwar von 1953 bis 1957 an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo Bill als deren Gründer und Rektor bis 1957 unterrichtete. Mavignier ließ sich wie Vieira in Europa nieder und stellte in der Folge immer wieder in der Schweiz aus. In Brasilien selbst konstituierte sich 1959 die Gruppe Neoconcreto, der unter anderem Lygia Clark, Helio Oiticica und Lygia Pape angehörten. Dies war allerdings nicht die erste Vereinigung von Künstlern der konstruktiven Richtung auf dem südamerikanischen Kontinent: 1945/46 wurden in Buenos Aires die beiden Gruppen Arte Concreto Invención und Arte Madi ins Leben gerufen. Auch zu diesem Kreis hatte Bill während der fünfziger Jahre Kontakt, insbesondere zu Tomás Maldonado. 16 Maldonado, wichtigster Theoretiker und Mitbegründer von Arte Concreto Invención, lernte auf einer Europareise 1948 in Zürich Max Bill, Richard Paul Lohse, Camille Graeser und Verena Loewensberg kennen. 1954 holte ihn Bill als Professor an die Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo Maldonado bis 1967 - die letzten drei Jahre als deren Rektor - tätig blieb. Das große Echo, auf das die konstruktive Kunst in einigen lateinamerikanischen Ländern während der späten vierziger und fünfziger Jahre stieß, entsprach keineswegs den damals in Europa und Nordamerika vorherrschenden Tendenzen. Hier dominierten die Spielformen des abstrakten Expressionismus - Tachismus, Action Painting, Informel - die Kunstproduktion. So überrascht es nicht, daß Bill für die 1960 von ihm in Zürich organisierte Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung wesentlich auf die Lateinamerikaner zurückgriff. Die Ausstellung war chronologisch aufgebaut und hatte zum Ziel, einen Uberblick über die bisherige Entwicklung der konkreten Kunst zu geben. Einen Schwerpunkt der Produktion während der fünfziker in der Zeitschrift Architectural
Review abgedruckt wurde (vgl. Bibliographie).
15 Unter anderem gestaltete sie das Plakat für die Ausstellung Brasilien baut im Kunstgewerbemuseum Zürich, welches als eines der besten des Jahres 1954 ausgezeichnet wurde. 16 Zu Arte Concreto Invención und Arte Madi: Galerie von Bartha, Basel (Hg.): Arte Concreto Invención - Arte Madi. Argentinien 1945 - i960. Ausstellungskatalog. Basel 1991; Ades (Anm. 3), S. 241-251.
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ger Jahre setzten dabei - bezogen auf die nationale Herkunft - die Werke der insgesamt 24 lateinamerikanischen Künstler und Künstlerinnen. Neben den schon erwähnten Brasilianern Vieira, Oiticica, Clark, Mavignier und Pape waren unter anderem auch die Argentinier Louis Tomasello, Enio Iommi, Alfredo Hlito und der Venezolaner Jesús Rafael Soto mit Werken vertreten. In den sechziger Jahren gewann auch in Europa die konstruktive Richtung wieder verstärkt an Bedeutung. In der Schweiz wurden mehrere Ausstellungen von Op Art und Kinetismus organisiert, was auch zu einer vermehrten Präsenz der Lateinamerikaner, die maßgeblich an diesen Bewegungen beteiligt waren, führte. 1 7 Angefangen bei der Ausstellung venezolanischer Kunst 1963 im Musée Rath (u.a. mit Carlos Cruz-Diez und Jesús Rafael Soto) über die Ausstellungen 1965/66 in der Kunsthalle Bern bis hin zu derjenigen Mavigniers 1974 in Zürich waren die Werke wichtiger lateinamerikanischer Vertreter der konstruktiven Bewegung - Cruz-Diez, Le Parc, Soto, Demarco, Tomasello, Mavignier etc. - immer wieder in der Schweiz zu sehen. Allerdings muß hier "lateinamerikanisch" aus zweierlei Gründen relativiert werden. Einmal waren die konkret-optisch-kinetischen Richtungen der konstruktiven Kunst von Anfang an international orientiert und ausgerichtet, so daß eine nationale Komponente kaum zum Ausdruck kommen konnte. Zum anderen gilt für alle obengenannten Künstler, daß sie zumindest zeitweise, die meisten aber dauernd in Europa wohnhaft waren, vorwiegend in Paris. So läßt sich feststellen, daß die sechziger Jahre zwar eine vermehrte Präsenz lateinamerikanischer Künstler und Künstlerinnen in der Schweiz mit sich brachten, deren Werke aber kaum als spezifisch "lateinamerikanische" rezipiert wurden. Ein Blick auf die Ausstellungsliste zeigt, daß in den siebziger Jahren die Zahl der Ausstellungen lateinamerikanischer Gegenwartskunst sehr deutlich zurückging. Natürlich war diese Absenz nicht ganz so prägnant, wie sie sich auf der Liste darstellt, da auf ihr nur die Ausstellungen in öffentlichen Museen aufgeführt sind. Die Werke international anerkannter Künstler wie Soto, Cruz-Diez, Wifredo Lam oder Fernando Botero waren auch weiterhin periodisch in Galerien oder auf Kunstmessen zu sehen. 18 Dennoch nahm die 17 So war eine der ersten und wichtigsten Künstlergruppen der kinetischen Kunst die 1960 in Paris gegründete Groupe de Recherche d'Art Visuel. Ihr gehörten unter anderem der Venezolaner Soto und die Argentinier Hugo Demarco, Horacio Garcia Rossi und Julio Le Parc an. 18 Die Bilder des 1982 verstorbenen Kubaners Wifredo Lam wurden in der Schweiz das erste Mal 1963 in der Galerie Krugier in Genf gezeigt. 1966 widmete ihm die Kunsthalle Basel eine Retrospektive. Der Kolumbianer Botero hatte 1974 in der Galerie Marlborough in Zürich seine erste Einzelausstellung und 1990 schließlich eine Retrospektive in der
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Präsenz aktueller lateinamerikanischer Kunst in der Schweiz stark ab und hat sich seither kaum mehr wesentlich verstärkt. Ein Grund dafür dürfte die zum damaligen Zeitpunkt einsetzende und bis heute fortdauernde ökonomische Talfahrt der meisten Länder Lateinamerikas sein. Umfassende Präsentationen, wie zuletzt die Ausstellung argentinischer Gegenwartskunst 1971 in Basel, sind offensichtlich für die öffentlichen Institutionen wie für den privaten Kunsthandel in den Ursprungsländern zu einer übermäßigen finanziellen Belastung geworden. Auf Schweizer Seite hingegen beschränkt sich das Interesse an lateinamerikanischer Gegenwartskunst bisher im wesentlichen auf wenige, international bekannte Namen - eine Feststellung, die allerdings sogleich eingeschränkt werden muß, nämlich was die Bereiche Fotografie und Graphik betrifft. In der Fotografie kann der Beginn einer eigentlichen Rezeption erst für die siebziger Jahre festgestellt werden. Vorher tauchten Bilder lateinamerikanischer Fotografen nur sporadisch in Fachzeitschriften oder auf internationalen Ausstellungen auf. Den Anfang machte 1972 die von Allan Porter herausgegebene Zeitschrift Camera, die in ihrer Januarausgabe eine kurze Einführung in Leben und Werk des Mexikaners Manuel Alvarez Bravo gab. 19 Eine erste ausführlichere Dokumentation erschien dann 1978, ebenfalls in Camera: Die Oktobernummer widmete sich der aktuellen mexikanischen Fotografie. Nebst kurzen Artikeln über den ersten lateinamerikanischen Kongreß der Fotografie in Mexiko, über mexikanische Fotografie und Wandmalerei sowie über den brasilianischen Fotopionier Hercules Florence stellte sie die Fotografen Jesús Sánchez Uribe, Nacho López, Pedro Meyer und Lázaro Blanco vor. 2 0 Einem größeren Publikum wurde die lateinamerikanische Fotografie schließlich 1981 im Kunsthaus Zürich präsentiert. Eine umfassende, von Erika Billeter zusammengestellte Schau zeigte erstmals in Europa Beispiele lateinamerikanischer Fotografie von 1860 bis zur Gegenwart. Seither sind die Fotografien von Pedro Meyer, Alécio de Andrade, Sebastiäo Saigado, Joäo Aristeu Urban oder von den Mexikanerinnen Graciela Iturbide und Flor Garduño immer wieder auf Ausstellungen und in Publikationen zu sehen. 21
Fondation Pierre Giannada in Martigny. Beide Künstler lebten bzw. leben periodisch in Paris. 19 Camera, Nr. I, (Luzern) 1972, S. 34-43. 20 Camera, Nr. 10, (Luzem) 1978. 21 Die Mexikanerin Flor Garduño erhielt 1988 an der 5. Internationalen Triennale der Fotografie in Freiburg (CH) den Spezialpreis; 1987 erschien ein Fotoband von ihr: Allan Porter (Hg.): Flor Garduño. Bestiarium. Zürich 1987.
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Im Bereich der Graphik, die von Transport und Finanzierung her wie die Fotografie sehr günstige Voraussetzungen bietet, war lateinamerikanische Kunst seit den fünfziger Jahren bis heute kontinuierlich in der Schweiz präsent. Internationale Ausstellungen wie die Mostra Internationale di Bianco e Nero in Lugano oder die Internationale Triennale fiir Originalgraphik in Grenchen verzeichneten eine mitunter starke Beteiligung lateinamerikanischer Künstler und Künstlerinnen, welche auch immer wieder für ihre Werke prämiert wurden. 22 1985 wurde in Grenchen parallel zum offiziellen Wettbewerb zudem eine Sonderausstellung mit dem Titel Originalgraphik aus Lateinamerika gezeigt, welche Graphiken von über 70 Künstlern und Künstlerinnen umfaßte, darunter Werke des Venezolaners Carlos Cruz-Diez, der Argentinier Julio Le Parc und Antonio Seguí, der Mexikaner Rufino Tamayo und Francisco Toledo sowie der Brasilianer Arthur Luis Piza und Anna Bella Geiger. In den späten siebziger Jahren setzte international, ausgehend von den USA, eine neue Phase der Rezeption lateinamerikanischer Kunst ein: Der Kunstmarkt entdeckte die Lateinamerikaner. 23 Insbesondere den "Klassikern" der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, allen voran den Mexikanern, wurde nun auch in Ausstellungen und in kunsthistorischen Publikationen wieder verstärkte Aufmerksamkeit zuteil; eine Entwicklung, die in den achtziger Jahren auch in der Schweiz einsetzte. Hier beschränkte sich dieses neuerwachte Interesse allerdings auf einige wenige Personen. Als erstes verdient hier nochmals der Name Erika Billeters genannt zu werden. An Ausstellungen des Musée des Beaux-Arts in Lausanne, dem sie bis vor kurzem als Direktorin vorstand, war immer wieder lateinamerikanische Kunst zu sehen. Besonders hervozuheben ist aber - neben der schon erwähnten Präsentation lateinamerikanischer Fotografie 1981 in Zürich - eine von Erika Billeter zusammengestellte Ausstellung, die nicht in der Schweiz gezeigt wurde: Imagen de México, die bis anhin umfangreichste je organisierte Retrospektive moderner mexikanischer Kunst aus vorrevolutionärer Zeit bis in die sechziger Jahren. Organisiert und präsentiert wurde diese Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt (Dezember 1987-Februar 1988), von wo aus sie nach Wien und Dallas reiste. Ihre Publikationen zur lateinamerikanischen Fotografie und zur mexikanischen Malerei weisen Erika Billeter 22 Die Argentinierin Ana Maria Moncalvo erhielt 1960 den Großen Preis der 6. Mostra Internationale di Bianco e Nero in Lugano. An der Internationalen Triennale fiir Druckgrafik in Grenchen wurden bisher die Brasilianer Arthur Luis Piza (1961) und Antonio Dios (1973) sowie der Mexikaner Rufino Tamayo (1985) mit Preisen ausgezeichnet. 23 Den Startschuß gab die große Auktion Modern Mexican and Prints im Mai 1977 bei Sotheby's in N e w York.
Paintings,
Drawings,
Sculpture
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als produktivste und bedeutendste Kunsthistorikerin auf dem Gebiet der Lateinamerikaforschung in der Schweiz aus. Ebenfalls speziell erwähnt werden muß der in Zürich wohnhafte Filmregisseur und Publizist Erwin Leiser. Er hat seit 1976 drei Fernsehfilme über den Kolumbianer Fernando Botero produziert 24 und publiziert immer wieder Essays zu diesem Künstler. Die letzten der in der Liste aufgeführten Ausstellungen deuten für die Schweiz eine weitere Wiederentdeckung an: die konkrete Kunst der vierziger und fünfziger Jahre in Lateinamerika. Nach Einzelausstellungen der Venezolaner Jesús Rafael Soto und Carlos Cruz-Diez 1988 bzw. 1989 zeigte das Haus für konkrete und konstruktive Kunst in Zürich 1991 eine von der Basler Galerie von Bartha zusammengestellte Retrospektive, welche Werke der argentinischen Avantgarde-Bewegungen Arte Concreto Invención, Arte Madi und Perceptismo umfaßte. Sie rief nach über dreißig Jahren die Anfänge der lateinamerikanischen konkreten Kunst und damit diejenige Bewegung wieder in Erinnerung, die den bisher wohl intensivsten künstlerischen Austausch und persönlichen Kontakt zwischen Lateinamerikanern und Schweizern einleitete. Der Rahmen für eine Rezeption lateinamerikanischer Kunst ist selbstverständlich nicht ausschließlich durch Ausstellungen in Museen oder kunsthistorische Publikationen gegeben. Unzählige kulturelle Vereinigungen, Galerien, Einzelpersonen waren und sind in diesem Bereich aktiv, organisieren lateinamerikanische Kulturfestivals, Gruppen- oder Einzelausstellungen. Für diese Aktivitäten, die sich im Verlaufe der achtziger Jahre bedeutend verstärkt haben, können hier nur einige Beispiele angeführt werden. So organisiert das Komitee zur Verteidigung der chilenischen Kultur in regelmäßigen Abständen ein lateinamerikanisches Festival in Zürich, auf dem neben Film-, Musik- und Tanzvorführungen auch meistens eine Kunstausstellung zu sehen ist. 25 Auch in Genf werden von einer starken lateinamerikanischen Gemeinde in den letzten Jahren wieder vermehrt kulturelle Anlässe im generellen und Kunstausstellungen im speziellen organisiert. 26 24 Die Well des Fernando Bolero (1976), Botero Toreros - Boleros Corrida (1986).
als Bildhauer
(1985), Der Traum
des
25 Das bisher letzte Festival vom 1.-8. März 1989 zeigte eine Ausstellung der Chilenen Nemesio Anttimez, Claudio Francia und Nelson Negrön. 26 Allein im ersten Halbjahr 1991 wurden in Genf vier umfangreiche Ausstellungen gezeigt: Vom 16.-20. April war im Syndical inierprofessionnel des iravailleurs eine Wanderausstellung nicaraguanischer Gegenwartskunst zu sehen. Die Sala Patifio zeigte von Mai bis Juli in Abfolge chilenische Malerei, Fotografie und Graphik.
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Zudem haben sich in den großen Schweizer Städten verschiedene Galerien auf lateinamerikanische Kunst spezialisiert, so beispielsweise Ars colombiano und Galerie Sergio Bustamante in Zürich oder Editart in Genf. Sie bieten sowohl den Gastkünstlern als auch der Gemeinde der in der Schweiz ansässigen Lateinamerikaner eine Ausstellungsmöglichkeit. Diese Aktivitäten dürfen in ihrer Wirkung aber nicht überschätzt werden. Sie haben es schwer, sich inmitten der Flut von Ausstellungen in Galerien und Museen durchzusetzen und der lateinamerikanischen modernen Kunst in der Schweiz ein angemessenes Echo zu verschaffen. Gerade von lateinamerikanischen Künstlern und Künstlerinnen wird ein gewisses Desinteresse in bezug auf lateinamerikanische Gegenwartskunst beklagt. Diese Tatsache dürfte sich allerdings erst nach einer ökonomischen Gesundung des lateinamerikanischen Kontinentes wesentlich ändern. Nicht nur die Kunstproduktion in Lateinamerika, auch die Ausstellungspräsenz und die Rezeption in Europa hängen in starkem Maße vom ökonomischen Potential der Länder Lateinamerikas ab. Das in den wirtschaftlichen Beziehungen bestehende Gefälle zwischen Europa und Lateinamerika wird somit auch im kulturellen Bereich noch eine Zeitlang weiterbestehen.
Ausstellungen Aufgeführt sind Einzel- und Gruppenausstellungen in Schweizer Museen, die thematisch der lateinamerikanischen modernen Kunst gewidmet sind oder bedeutende lateinamerikanische Künstler oder Künstlerinnen mit einschließen.
1951 Kunstgewerbemuseum Zürich: Mexikanische Druckgraphik. Die Werkstatt für graphische Volkskunst in Mexiko, 3.2.-4.3.1951
1954 Kunstmuseum Bern: Graveurs brésiliens, 1.5.-30.6.1954 Musée Rath, Genève: Graveurs brésiliens, 1.9.-30.9.1954 Kunstgewerbemuseum Zürich: Brasilien baut. Moderne brasilianische Architektur. Neue brasilianische Graphik. Plastiken von Mary Vieira, 1.10.-30.11.1954
1955 Villa Ciani, Lugano: Incisioni e disegni brasiliani, 18.9.-16.10.1955 Musée d'ethnographie de Neuchâtel: Le Brésil. Arts primitifs et modernes brésiliens,
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19.11.1955-28.2.1956
1956 Musée d'art et d'histoire, Genève: Picasso et l'art contemporain hispano-américain, 17.3.-6.5.1956
1959 Kunsthaus Zürich: Kunst der Mexikaner, 24.1.-15.3.1959. (U.a. Werke von José d e m e n t e Orozco, Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros, Rufino Tamayo, Carlos Bracho und Francisco Zuñiga)
1960 Helmhaus Zürich: Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, 8.6.-14.8.1960. (U.a. Werke von 23 lateinamerikanischen Künstlern und Künstlerinnen, darunter Enio Iommi, Helio Oiticica, Amilcar de Castro, Lygia Clark, Louis Tomasello, Jesús Rafael Soto, Gyulia Kosice, Almir Mavignier und Lygia Pape)
1961 Schweizerische Landesbibliothek, Bern: Zeitgenössische argentinische Graphik, 1.11.-31.12.1961
1963 Musée Rath, Genève: Venezuela: Du paysage à l'expression plastique. 10 artistes contemporains, 24.8.-22.9.1963
1964 Kunstmuseum Bern: Arte de América y España - Kunst aus Amerika und Spanien, 29.2.-31.3.1964
1965 Kunsthalle Bern: Licht und Bewegung / Kinetische Kunst, 1.7.-30.9.1965. (U.a. Werke von Antonio Asis, Martha Boto, Lygia Clark, Carlos Cruz-Diez, Hugo Rodolfo Demarco, Horacio Garcia-Rossi, Abraham Palatnik, Julio Le Pare, Jesús Rafael Soto und Mary Vieira)
1966 Kunsthalle Bern: Weiss auf Weiss, 25.5.-3.7.1966. (U.a. Werke von Sergio de Camargo, Carlos Cruz-Diez, Narciso Debourg, Lucio Fontana, Almir Mavignier,
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Alejandro Otero, Jesús Rafael Soto, Luis Tomasello und der Groupe de Recherche d'Art Visuel) Kunsthalle Basel: Wifredo Lam: Malerei - Vie Gentils: Bildhauerei, 10.9.-9.10.1966
1968 Kunsthalle Bern: Soto, 21.5.-30.6.1968
1970 Musée d'art et d'histoire, Genève: Art brésilien contemporain, 8.9.-4.10.1970
1971 Musée des arts décoratifs de la ville de Lausanne: 15 graveurs brésiliens contemporains, 11.2.-23.2.1971 Kunsthalle Basel: Argentinische Kunst der Gegenwart, 12.6.-25.7.1971
1974 Palais des Nations, Genève: Candido Portinari, 6.5.-6.6.1974 Kunstgewerbemuseum 7.12.1974-5.1.1975
Zürich:
Almir
Mavignier.
Serielle
Farbprogressionen,
1981 Kunsthaus Zürich: Fotografie Lateinamerika von 1860 bis heute, 21.8.-15.11.1981
1987 Musée Cantonal des Beaux-Arts de Lausanne: Francisco Toledo. Zoología fantástica, 1.4.-31.5.1987 Musée Rath, Genève: Regards sur Minotaure. La revue à tête de bête, 17.10.198731.1.1988. (U.a. Fotografien von Manuel Alvarez Bravo und Bilder von Roberto Matta Echaurren, José Guadalupe Posada und Diego Rivera) Musée Cantonal des Beaux-Arts de Lausanne: La femme et le surréalisme, 21.11.1987-28.2.1988. (U.a. Werke von Lola Alvarez Bravo, Manuel Alvarez Bravo, Roberto Alvarez Rios, Elisa Breton, Gunther Gerszo, Alberto Girondella, Kati Homa, Frida Kahlo, Wifredo Lam und Augustin Lazo)
1988 Haus für konkrete und konstruktive Kunst, Zürich: Jesús Rafael Soto, 16.1.10.9.1988
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1989 Haus für konkrete und konstruktive Kunst, Zürich: Carlos Cruz-Diez, 3.3.-28.4.1989
7990 Fondation Pierre Gianadda, Martigny: Fernando Botero, 6.4.-10.6.1990
1991 Haus für konkrete und konstruktive Kunst, Zürich: Arte Concreto Invención - Arte Madi. Argentinien 1945 - 1960, 26.4.-14.7.1991
Bibliographie Aufgenommen wurden in der Schweiz erarbeitete Publikationen zur lateinamerikanischen modernen Kunst und Architektur. Max Bill: "Report on Brazil", in: Architectural 238-239
Review, Nr. 116 (London) 1954, S.
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von
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Die Rezeption der modernen Kunst und Architektur
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Schirn Kunsthalle Frankfurt. Bern 1987, S. 372-421 dies.: "Mexikanische Malerei im 20. Jahrhundert", in: du, Nr. 3, (Zürich) 1988, S. 16-57 Fermin Fevre: "Aspects de l'organisation de l'art en Argentine", in: Section Suisse de l'Association International des Critiques d'Art (Hg.): Art aujourd'hui: initiative publique, initiative privée. Actes du Congrès de l'Association International des Critiques d'Art (AICA), 27 août - 5 septembre 1978, Suisse. Zürich 1979, S. 124132 Siegfried Giedion: "Brasilien und die heutige Architektur", in: Werk, Jg. 40, Nr. 8, (Winterthur) 1953, S. 238-240 ders.: "Neue brasilianische Architektur", in: Kunstgewerbemuseum Zürich (Hg.): Brasilien baut. Moderne brasilianische Architektur. Neue brasilianische Graphik. Plastiken von Mary Vieira. Ausstellungskatalog. Zürich 1954, S.5-10 ders.: "Brasilien und die Architektur unserer Zeit", in: Henrique E. Mindlin: Neues Bauen in Brasilien. München 1956, S. IX-X ders.: "Affonso Eduardo Reidy und die brasilianische Architektur", in: Eduardo Reidy - Bauten und Projekte. Teufen 1960, S. 7-11
Affonso
Eugen Gomringer: "Das 'Polyvolume' von Mary Vieira", in: Werk, Jg. 52, Nr. 3, (Winterthur) 1965, S. 105-107 Armin Haab: Mexikanische Graphik. Teufen 1957 Marcel Joray/Jesus Rafaël Soto: Soto. Neuchâtel 1984 Komitee zur Verteidigung der chilenischen Kultur (Hg.): Wandmalerei. Kunst in der chilenischen Volkskultur. St.Gallen 1990 Creed Küenzle: "Brasilia, eine Hauptstadt im Bau", in: Werk, Jg. 46, Nr. 7, (Winterthur) 1959, S. 259-262 Erwin Leiser: "Filme mit Künstlern. Die Welt des Fernando Botero", in: du, Nr. 5, (Zürich) 1980, S. 28-41 ders.: "Botero als Bildhauer", in: du, Nr. 5, (Zürich) 1982, S. 12-17 ders.: "Verzauberte Welt. Annäherung an Fernando Botero", in: Jean Jouvet: Botero. Zürich 1983, S. 9-23 ders.: "Boteros Corrida", in: Frankfurter Allgemeine Magazin, 5. Juli 1985, S. 22-30 ders.: "Fernando Botero", in: Frankfurter Allgemeine Magazin, 20. Juni 1986, S. 1422 ders.: "Boteros Kolumbien", in: du, Nr. 7 (Zürich) 1986, S. 14-49 ders.: "Priester, Franco und Menschen im Bordell", in: Weltwoche, Nr. 31, (Zürich) 30. Juli 1987, S. 31
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Andreas
Münch
ders.: "Blähen für mehr Sinnlichkeit. Retrospektive des Künstlers Fernando Botero in Martigny", in: Weltwoche, Nr. 15, (Zürich) 12. April 1990, S. 64 ders.: "Magie der fülligen Fabelwesen", in: Frankfurter November 1990
Allgemeine
Magazin,
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Die Autoren
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Die Autoren Baumann, Bem.
Markus: stud. phil. am Institut für Ethnologie der Universität
Baumgartner, Jakob: Prof. Dr. em., ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Liturgie an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (CH). Bernecker, Walther L.: Prof. Dr., bis 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere allgemeine Geschichte an der Universität Bern, seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Auslandswissenschaft an der Universität ErlangenNürnberg. Fleer, Peter: lic. phil., Doktorand am Historischen Institut der Universität Bern. Glatz, Markus: lic. phil., Doktorand am Historischen Institut der Universität Bern. Gneist, Peter: stud. phil. am Institut für Ethnologie der Universität Bern. Grosjean, Martin: Dr. phil., Assistent am Geographischen Institut der Universität Bem. Lopez de Abiada, José Manuel: Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Spanische Sprache und Literatur, unter Einschluß der lateinamerikanischen Literatur an der Universität Bern. Münch, Andreas: stud. phil am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. Shepard, Linda: stud. phil. am Historischen Institut der Universität Bern. Suter, Christian: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Zürich.