Die Körperlichkeit sozialen Handelns: Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen [1. Aufl.] 9783839413098

Dieser Band stellt die Frage, welche Rolle der Körper im sozialen Handeln spielt. Ob bei der Teamarbeit oder beim Friseu

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German Pages 382 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung. Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen
ERSTES KAPITEL: BESTANDSAUFNAHMEN, GRUNDIERUNGEN, PERSPEKTIVEN
Die klassische Soziologie und der Körper. Handlungstheoretische Zugänge und ihr Verhältnis zur Körperlichkeit der Akteure
Fundierende Ebenen der Koorientierung und der Handlungskoordination
Bewegung als Kommunikation
Lost in Expectation? Sozialtheoretische Überlegungen zur Körperlichkeit sozialer Ordnung
Leib und Stoff als Quelle sozialer Ordnung
ZWEITES KAPITEL: KÖRPER IN INTERAKTION
Soziologie am Leitfaden des Leibes. Zur Neophänomenologie sozialen Handelns am Beispiel der Contact Improvisation
Abstimmungsprozesse im Free Jazz. Ein Modell des Ordnens
Andere Form – anderer Rahmen. Körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung in Arbeitsorganisationen
Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus
Verkörperte Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialen Handelns. Eine praktisch-theoretische Forschungsperspektive
DRITTES KAPITEL: KÖRPERLICHE VERGESELLSCHAFTUNG
Die körperliche Konstruktion des Sozialen. Ein soziologischer Blick auf die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson
Verkörperte Gemeinschaftlichkeit. Bewegungen als Medien und Existenzweisen des Sozialen
Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung. Leiblich fundierte Mechanismen sozialer Ordnung
ANHANG
Autorinnen und Autoren
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Die Körperlichkeit sozialen Handelns: Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen [1. Aufl.]
 9783839413098

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Fritz Böhle, Margit Weihrich (Hg.) Die Körperlichkeit sozialen Handelns

Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 13

Fritz Böhle, Margit Weihrich (Hg.)

Die Körperlichkeit sozialen Handelns Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: granatapfel5000 / photocase.com (Detail) Lektorat: Frank Seiß, ISF München Satz: Karla Kempgens, Frank Seiß, ISF München Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1309-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Zur Einführung. Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen FRITZ BÖHLE/MARGIT WEIHRICH

7

ERSTES KAPITEL: BESTANDSAUFNAHMEN, GRUNDIERUNGEN, PERSPEKTIVEN Die klassische Soziologie und der Körper. Handlungstheoretische Zugänge und ihr Verhältnis zur Körperlichkeit der Akteure STEPHANIE STADELBACHER

35

Fundierende Ebenen der Koorientierung und der Handlungskoordination JENS LOENHOFF

59

Bewegung als Kommunikation ELK FRANKE Lost in Expectation? Sozialtheoretische Überlegungen zur Körperlichkeit sozialer Ordnung PATRICK LINNEBACH Leib und Stoff als Quelle sozialer Ordnung SABINE PFEIFFER

79

103

129

ZWEITES KAPITEL: KÖRPER IN INTERAKTION Soziologie am Leitfaden des Leibes. Zur Neophänomenologie sozialen Handelns am Beispiel der Contact Improvisation ROBERT GUGUTZER Abstimmungsprozesse im Free Jazz. Ein Modell des Ordnens SILVANA K. FIGUEROA-DREHER

165

185

Andere Form – anderer Rahmen. Körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung in Arbeitsorganisationen STEPHANIE PORSCHEN

207

Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/THOMAS PILLE

229

Verkörperte Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialen Handelns. Eine praktisch-theoretische Forschungsperspektive BARBARA PIEPER/DANIEL CLÉNIN

261

DRITTES KAPITEL: KÖRPERLICHE VERGESELLSCHAFTUNG Die körperliche Konstruktion des Sozialen. Ein soziologischer Blick auf die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson STEPHANIE STADELBACHER

299

Verkörperte Gemeinschaftlichkeit. Bewegungen als Medien und Existenzweisen des Sozialen THOMAS ALKEMEYER

331

Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung. Leiblich fundierte Mechanismen sozialer Ordnung FRITZ BÖHLE

349

ANHANG Autorinnen und Autoren

6

377

ZUR EINFÜHRUNG

Zur Einführung. Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen FRITZ BÖHLE/MARGIT WEIHRICH

1 Die körperliche Mikrofundierung sozialer Ordnung Der vorliegende Band untersucht die Rolle, die Körperlichkeit und Leiblichkeit in sozialen Abstimmungsprozessen spielen, und diskutiert den Vorschlag, die körperlich-leibliche Dimension des Handelns als einen Grundbaustein einer Theorie sozialen Handelns zu nutzen. Dabei geht es nicht darum, auf die Körperlichkeit jeglichen Handelns zu verweisen. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren fragen nach der Rolle der körperlich-leiblichen Verfasstheit des Handelns für die Generierung sozialer Ordnung. Wir gehen davon aus, dass der Gegenstand einer soziologischen Erklärung nicht die individuellen Handlungen einzelner Akteure sind, sondern die »Muster des Sozialverhaltens«1, die auf dem Zusammenspiel von Einzelhandlungen aufruhen. Es interessiert uns insbesondere, mithilfe welcher sozialen Mechanismen Akteure ihr Verhalten so aufeinander abstimmen, dass die beobachteten Muster entstehen – Muster freilich, die nur dann stabil bleiben, wenn sie sich reproduzieren lassen. Soziale Ordnung, so wie sie hier verstanden wird, ist demnach ein zeitlich begrenztes und immer prekäres Phänomen. Nun geht ein solches Erklärungsprogramm sozialer Ordnung üblicherweise von Akteuren aus, die ›rational‹ in dem Sinne handeln, dass sie interessengeleitete und folgenorientierte mentale Entscheidungen treffen. Wo sie für die Realisierung ihrer Vorhaben aufeinander angewiesen sind, etablieren oder

1

Der Ausdruck geht auf Robert Merton zurück. 7

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nutzen sie soziale Abstimmungsmechanismen: Im Zentrum der soziologischen Diskussion stehen Tausch, Moral und Herrschaft (Schmid 2005: 130f.), die Etablierung und Durchsetzung von Regeln mit Geltung (Normen und Rechte), die Investition von Vertrauen, aber auch der Einsatz von Macht (siehe auch Huchler et al. 2007). Dieser Band verfolgt die These, dass in der Körperlichkeit der Menschen wichtige Mechanismen zur Erzeugung sozialer Ordnung verankert sind – Mechanismen, die die etablierten Handlungstheorien in ihren Erklärungsprogrammen immer noch weitgehend ignorieren und so den Eindruck einer eigentümlichen Körperlosigkeit sozialen Handelns transportieren. Unser Kulturkreis ist von einem Menschenbild geprägt, in dem Vernunft ausschließlich an Denken und Sprache gebunden ist. Die Soziologie als eine junge Wissenschaft, aus dem Übergang zur modernen Industriegesellschaft heraus entstanden, geht bis heute – mit wenigen Ausnahmen – wie selbstverständlich davon aus, dass auch die Konstruktion sozialer Ordnung in den Köpfen der Menschen vor sich gehe.2 Körper kommen dabei – wenn überhaupt – lediglich als Instrumente und Objekte ins Spiel. Wir stellen die Frage, wie eine Mikrofundierung des Sozialen aussehen kann, die diese »Gesellschaft in den Köpfen« mit der Körperlichkeit der Akteure verbindet und welche Rolle die Tatsache, dass Menschen einen Körper haben und Körper sind, für soziale Abstimmungsprozesse spielt. Die hier versammelten Autorinnen und Autoren zeigen auf, dass und auf welche Weise Personen in ihrem körperlich-praktischen Tun aktiv, miteinander und situativ soziale Ordnung generieren: eine fluide körperbezogene Ordnung jenseits von Normen und Institutionen. Dabei spielt die Materialität und Stofflichkeit des Sozialen eine wichtige Rolle: Neben der Materialität des Körpers werden Gegenstände und andere sinnlich erfahrbare Phänomene als »Mitspieler« in sozialen Abstimmungsprozessen betrachtet. Dabei stellt, so unsere These, körperliche soziale Abstimmung eine Ressource dar, die den entscheidungstheoretisch basierten Abstimmungsmechanismen in bestimmten Situationen überlegen ist. Dies gilt besonders dann, wenn Handlungsoptionen zunehmen und überkommene soziale Regulierungen brüchig werden. Aktuelle Gesellschaftsdiagnosen wie die Theorie reflexiver Modernisierung (vgl. Beck/Bonß 2001) registrieren eine solche Rückkehr der Unsicherheit und halten dafür, dass die überkommenen Institutionen ihre problemlösende Kraft verlieren. Die Fähigkeit, situative Ordnung ›von unten‹ zu

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Das kann auch damit zu tun haben, dass die Soziologie ihren Gegenstand in Abgrenzung von anderen Disziplinen bestimmen musste, um ihre Position als eigene Disziplin zu schärfen. Gegenstände, die (auch) von anderen Disziplinen untersucht wurden, boten sich deshalb nicht an, wie es Scherke (2009) für die (Nicht-)Beschäftigung der Soziologie mit den Emotionen aufzeigt.

ZUR EINFÜHRUNG

generieren, dürfte neue Bedeutung erhalten. Wir möchten zeigen, dass körperbezogene Abstimmungsprozesse hierfür eine wichtige Ressource stellen. Körper sind gleichermaßen Produkte und Produzenten von Sozialität. Der Band konzentriert sich auf die Rolle von Körpern als Produzenten sozialer Ordnung und betreibt damit eine körperliche/leibliche Mikrofundierung des Sozialen. Im Fokus der Abhandlungen stehen deshalb weniger die Mechanismen, die auf den Körper einwirken und ihn so zu einem sozialen Phänomen machen, sondern die Frage, wie Sozialität durch körperliche Praktiken und Empfindungen hergestellt wird.

2 Zur Rolle des Körpers in der Soziologie Bislang hat sich die Soziologie weitgehend damit begnügt, mit Modellakteuren zu arbeiten, die sich mental in der Welt orientieren – sie meinte, deren Körperlichkeit ›vergessen‹ zu können. Zwar wurde nicht bestritten, dass die Körperlichkeit und Leiblichkeit des Menschen seine Handlungen mitbestimmt. Dennoch hat man diese Tatsache für die soziologische Theoriebildung lange ausgeklammert. Dies hatte zum einen den (vermeintlichen) Vorteil, die Komplexität von Handlungsmodellen reduzieren zu können. Das Treffen von Entscheidungen, aufeinander bezogenes Handeln, die Regulierungen des Sozialen und deren Scheitern ließen sich sparsamer erklären, wenn man die Körperlichkeit sozialen Handelns ausklammerte. Zum anderen wurden die körperlichen (wie auch die emotionalen) Dimensionen des Handelns lange Zeit als etwas Störendes gerahmt: als Gegenspieler der Vernunft. Körper und Gefühl waren der Aufklärung zum Opfer gefallen. Inzwischen hat sich das geändert: Die »Soziologie des Körpers« (siehe Gugutzer 2004) hat Konjunktur. Doch auch wenn so etwas wie ein »body turn« in den Sozialwissenschaften diagnostiziert wird, hat der Körper seinen Platz in der allgemeinen Soziologie und in der soziologischen Theoriediskussion noch nicht gefunden. Körper ist zwar zum Gegenstand der Soziologie geworden – als eine soziologische Basiskategorie aber hat er sich noch nicht etabliert. Während der Schwerpunkt der Körpersoziologie auf den Wechselwirkungen zwischen den Mechanismen liegt, die den menschlichen Körper prägen und die seiner aktiven Zurichtung zugrunde liegen, möchte dieser Band diejenigen Bemühungen unterstützen, die den Körper als Agens in den Mittelpunkt rücken und daran interessiert sind, welche Rolle die Körperlichkeit der Menschen für die Erfassung und Erklärung sozialen Handelns spielt.3 Wir fragen insbesondere danach, welche Erklärungskraft körperbasierte

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So beschäftigen sich z.B. Alkemeyer et al. 2008 mit der Rolle des Körpers für das praktische Hervorbringen sozialer Mikroordnungen. 9

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Handlungstheorien und -konzepte haben, wenn es darum geht zu erfassen, wie Akteure ihr Handeln wechselseitig aufeinander abstimmen, wenn sie für ihre jeweiligen Vorhaben aufeinander angewiesen sind. Dann müssen sie in der Lage sein, ihre Handlungen zu koordinieren; sie müssen aber auch kooperieren oder Konflikte bearbeiten – für die beiden letzten Fälle stehen sie vor dem Problem, wie sie sich wechselseitig zu bestimmten Handlungen motivieren können bzw. bestimmte Handlungen zu verhindern wissen.4 Wir wollen den Blick darauf lenken, dass soziale Abstimmung nicht nur kognitiv-mental, sondern ebenso auch körperlich ›geregelt‹ wird, und eine Diskussion darüber anregen, wie sich diese »Körperlichkeit des Sozialen«5 am besten fassen lässt. Liegen in der Körperlichkeit/Leiblichkeit eigenständige soziale Mechanismen begründet, die Muster des Sozialverhaltens erzeugen, die jenseits normativer Verhaltenserwartungen und institutioneller Regulierungen anzusiedeln sind – oder ist zu empfehlen, Körperlichkeit als eine basale Dimension zu fassen, die allem Sozialen zugrunde liegt? Das zweite Argument ließe sich auch parallel zur sozialtheoretischen Konzeption der Emotionen entwickeln, die darauf zielt, dass rationales Handeln auf Emotionen und damit auf spezifische körpergebundene Vorgänge angewiesen ist – z.B. deshalb, weil man ohne Emotionen nicht bewerten kann, welche Informationen in einer bestimmten Situation als entscheidungsrelevant herangezogen werden sollen oder was man überhaupt wollen soll (für eine frühe Fassung dieser Idee siehe De Sousa 2009).6 Wir denken, dass auch die Integration der Körperlichkeit und Leiblichkeit des Menschen in die Sozialtheorie »andere sozialwissenschaftliche Grundkonzepte [...] nicht ungeschoren« lassen würde, wie Rainer Schützeichel das für die Integration der Emotionen vorhersagt (Schützeichel 2006: 12). Dieser Autor wünscht sich im Übrigen, dass sich die Körpersoziologie der Emotionen annehme – vielleicht lässt sich ja eine Brücke bauen, wenn man das leibliche Empfinden und Spüren als Gefühl betrachtet.

4 5

6 10

Zu solchen sozialen Abstimmungsproblemen siehe Weihrich/Dunkel 2003. Siehe hierzu Staubmann (2008: 111). Der Autor benutzt diesen Begriff ganz in unserem Sinne und wirft der Soziologie vor, dass sie, anstatt »die affektiven Komponenten als integrale Bestandteile allen sozialen Geschehens« (ebd.: 113) zu würdigen, diesen erst durch ihre »Verschmelzung mit Normativität oder Sinn« (ebd.: 124) soziologische Relevanz zuweise. Über Subjektivität als sozialen Abstimmungsmechanismus wird eine ähnliche Diskussion geführt (vgl. Huchler et al. 2007; Weihrich 2008).

ZUR EINFÜHRUNG

3 Soziale Abstimmung unter Unsicherheit – Eine Herausforderung an die Entscheidungstheorie Soziale Abstimmung jenseits normativer und institutioneller Regulierung zu untersuchen erscheint angesichts der neuen Unübersichtlichkeit dringlicher denn je. Aktuelle Gesellschaftsdiagnosen unterstreichen die Notwendigkeit, dieses Problem auf die Agenda soziologischer Grundlagenforschung zu setzen. Unser Vorhaben ist im Kontext der Arbeit des Sonderforschungsbereichs »Reflexive Modernisierung« entstanden. Die Theorie reflexiver Modernisierung untersucht die Entwicklungsdynamik einer historischen Epoche: Der Mechanismus »reflexive Modernisierung« besteht darin, dass die untersuchte Gesellschaft – die Zweite Moderne – sich selbst transformiert, indem über die nicht-intendierte Produktion von Nebenfolgen (und deren Nebenfolgen) Probleme entstehen, die die Basisinstitutionen der Gesellschaft systematisch überfordern, weil sie sich mit den etablierten Mitteln nicht mehr bearbeiten lassen. So verlieren gesellschaftliche Institutionen ihre handlungsleitende Kraft. In der Folge stehen Personen vor dem Problem, mit Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit umgehen zu müssen, ohne auf etablierte Musterlösungen für solche Problemsituationen zurückgreifen zu können. Das trifft auf viele gesellschaftliche Bereiche zu: Im Zuge von Individualisierungsprozessen werden Individuen aus traditionalen Zugehörigkeiten freigesetzt; Unternehmen nehmen angesichts der Komplexität ihres Aufgabenbereichs etablierte betriebliche Steuerungsformen absichtlich zurück und forcieren die »Subjektivierung von Arbeit«; und Expertenwissen hilft bei vielen Entscheidungen nicht mehr weiter, weshalb man auf die Relevanz anderer Formen von Wissen aufmerksam wird. Diese Entwicklungen haben die Frage aufgeworfen, wie Personen in solchen Situationen handeln und auf welche Ressourcen sie zurückgreifen, wenn etablierte Orientierungsfolien ausfallen oder sich die anfallenden Probleme mit deren Hilfe nicht mehr lösen lassen.7 Befragt man die akteurzentrierte Entscheidungstheorie, wird offenkundig, dass sie an ihre Grenzen geraten ist, denn in Situationen der Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit fehlen die Informationen, die man benötigt, um folgenorientierte Entscheidungen zu treffen: Ungewissheit zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht weiß, welche Parameter überhaupt entscheidungsrelevant sind; in Situationen der Uneindeutigkeit ist offen, welches Ziel man sich überhaupt setzen soll; und Handeln unter Unsicherheit bedeutet, dass man nicht weiß, was diejenigen tun werden, von deren Handeln der eigene Handlungserfolg abhängt. Wiesenthal (2009: 42) weist darauf hin, dass

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Siehe hierzu und zu den folgenden beiden Punkten Böhle/Weihrich (2009). Mit der hier vorgelegten Veröffentlichung führen wir diese Diskussion fort. 11

FRITZ BÖHLE/MARGIT WEIHRICH

sich diese »Diskrepanz zwischen erhöhtem Entscheidungsbedarf und verminderter Entscheidungssicherheit« bearbeiten lässt, indem man danach sucht, wie »um Rationalität bemühtes Handeln« unter den beschriebenen Bedingungen möglich bleibt. Dies tut die Entscheidungstheorie, indem sie den »nun auch logischen Vorrang situativer, gegenwartsnaher und subjektiver Entscheidungsprämissen« anerkennt und sich auf »bounded rationalities« konzentriert, die vom Entscheidungsmodell der rationalen Wahl Abschied nehmen (ebd.: 40ff.).8 Dennoch verstehen sich diese alternativen Modi als Entscheidungshilfen. Die Grundannahme, dass sich ein Akteur für eine Handlung zwischen Alternativen im Hinblick auf zu erreichende Ziele entscheidet und sodann die Handlung ausführt, bleibt davon unberührt. Gleiches gilt für das Entscheiden als mentaler Vorgang.

4 Körperbasiertes Handeln als Bearbeitungsform sozialer Abstimmungsprobleme und Basis sozialer Ordnung Wir möchten mit der Fokussierung der Körperlichkeit des Handelns die Aufmerksamkeit auf eine Alternative zu den zitierten »bounded rationalities« lenken, die Handlungen jenseits von Entscheidung ermöglicht. Zentral hierfür ist die Beobachtung, dass Körperlichkeit immer ein Zweifaches meint: Menschen haben Körper, sie sind aber auch Körper. Neben den Körper als Objekt und Instrument tritt damit der Leib als der sinnlich wahrnehmende und von innen spürbare Körper. Dabei geht es uns hier nicht um den Vollzug körperlich eingeschliffener Routinen. Vielmehr wird der Körper »als Träger, Speicher und Vollzugsmedium eigener Wissens-, Erkenntnis- und Verstehensleistungen« betrachtet, »die den Akteuren auch dann ein intelligentes, situationsadäquates Handeln ermöglichen, wenn keine Zeit zum Nachdenken bleibt« (Alkemeyer in diesem Band) – und wenn, wie hinzuzusetzen ist, ein »um Ra8

12

Dieses gerät ja auch von allen Seiten unter Druck: Psychologen stellen fest, dass Menschen gar nicht fähig sind, rational zu handeln (vgl. Green/Shapiro 1999). Im richtigen Leben verfügt man nicht über die für eine rationale Entscheidung nötigen Informationen, gewichtet vorhandene Informationen falsch und überbewertet etwa die positiven Aspekte einer möglichen Entscheidung. Emotionen und Erfahrungen beeinflussen die Handlungswahl, und man weiß auch nicht immer, was man überhaupt will – und weiß man es, ist die Präferenz nicht stabil. Die rationalen Modellakteure wurden dem ein Stück weit angepasst – und ein bisschen menschlicher: Sie entscheiden jetzt immer öfter nach dem SatisficingPrinzip und mit der Hilfe von Heuristiken, die der Handlungssituation angepasst sind (vgl. Gigerenzer/Selten 2001), handeln gefühlsgeleitet (vgl. Frank 1992; Schützeichel 2006), entwickeln Routinen, können einen moralischen Charakter ausbilden (vgl. Baurmann 1996; Kliemt 1993) und entdecken ihre Wertrationalität (wieder) (vgl. Esser 2003).

ZUR EINFÜHRUNG

tionalität bemühtes Handeln« aufgrund der beschriebenen Situationslogik gar nicht weiterbringen würde. Körperlichkeit bietet sich als ein »situativer, gegenwartsnaher und subjektiver« Handlungsmodus (Wiesenthal 2009: 42) an, der nicht auf das kognitive Treffen von Entscheidungen angewiesen ist und sich auch von der Routine unterscheidet (vgl. hierzu Böhle 2009). Wir wollen im Folgenden untersuchen und diskutieren, was geschieht, wenn Akteure aufeinander Bezug nehmen, die nicht nur vernunftbegabt und entscheidungsfähig sind, sondern auch leiblich sind und einen Körper haben. Die Körperlichkeit des Handelns genießt also insbesondere dann Aufmerksamkeit, wenn es um soziale Situationen geht und damit um die Abstimmung mit anderen. Wir meinen, dass das Repertoire der Bearbeitungsformen von Abstimmungsproblemen unter solchen Bedingungen weit größer ist, als die akteurzentrierte Entscheidungstheorie sich träumen lässt. Gleichwohl gibt es unterschiedliche Situationen, in denen soziale Abstimmungsprozesse notwendig werden oder gewünscht sind. Der vorliegende Band legt seinen Schwerpunkt auf die Rolle des Körpers in Prozessen sozialer Koordination und damit in solchen Situationen, in denen die Intentionen der Beteiligten tendenziell übereinstimmen – etwa wenn ein Jazztrio zusammen Musik macht oder ein Montageteam zusammenarbeitet. Zwar spüren die Analysen auch Machtspiele auf, etwa wenn sich beobachten lässt, inwiefern die formale Hierarchie in der Firma im Arbeitshandeln reproduziert oder unterlaufen wird, oder wenn bei der Jazz-Improvisation ›gegeneinander‹ gespielt wird9 – dennoch wird soziale Abstimmung in diesem Band vornehmlich als ein Verständigungsprozess betrachtet. Beim gemeinsamen musikalischen Improvisieren und der Arbeit im Montageteam haben wir es mit Interaktionsprozessen in face-to-face-Situationen zu tun – oder besser in »body-to-body-Situationen«, demonstriert doch der Ausdruck »face to face« die Dominanz, die dem Sehen gegenüber dem leiblichen Spüren eingeräumt wird. Mit solchen body-to-body-Situationen beschäftigen sich die meisten Beiträge in diesem Band. Dennoch wird über die Analyse solcher körperlich und leiblich basierter Mikro-Ordnungen hinaus die Frage gestellt, welche Rolle Körper und Leib in Interdependenzsituationen spielen – in Situationen also, in denen die Akteure nicht direkt miteinander 9

Zweifelsohne stellen Körperlichkeit und Leiblichkeit auch für die Bearbeitung von Kooperationsproblemen und Konflikten zentrale Ressourcen dar. So zeigt Kaufmann in seiner Untersuchung über das Entfernen des Bikini-Oberteils am Strand, wie über Gesten und Blicke permanent ausgehandelt wird, wer wozu das Recht hat und wer nicht (Kaufmann 1996). Selbstverständlich lässt sich Körperhandeln auch strategisch einsetzen, wie dies z.B. Pfadenhauer anhand der körperlichen Inszenierung von Ungeduld zeigt (Pfadenhauer 2002). Und sicherlich würde es sich auch lohnen, der Rolle von Körper und Leib für die Ausbildung negativer Solidarität nachzugehen – bzw. zusammenzutragen, was sich hierzu in der Soziologie schon findet. 13

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kommunizieren können. Damit möchte der Band auch die Diskussion darüber befördern, inwieweit die Berücksichtigung der Körperlichkeit und der Leiblichkeit eine alternative Antwort auf die Frage bietet, wie soziale Ordnung möglich ist bzw. was es für die Sozialtheorie bedeutet, wenn man den rational handelnden Akteur als einen leibhaftigen Menschen sieht. So schärft eine körper- und leibbasierte Soziologie die Aufmerksamkeit für spontane und fluide Vergemeinschaftungen wie auch für die Frage, inwieweit sich leibhaftige Akteure als a priori vergemeinschaftete Wesen konzipieren lassen und welche Folgen eine solche Konzeption für die Konstruktion sozialer Ordnung hat. Wenn es richtig ist, dass im Zuge von Individualisierungsprozessen gesellschaftliche Einbindungen zunehmend von den Akteuren selbst hergestellt werden müssen, sollte es sich lohnen, sozialen Mechanismen jenseits von Normen und Institutionen verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn kognitive Planung an ihre Grenzen gerät und Institutionen ihre handlungsleitende und problemlösende Kraft verlieren, müssen Akteure ihr wechselseitiges Handeln mehr denn je selbst prozessieren. Die Fähigkeit, körperlich basierte fluide Ordnungen herzustellen, könnte sich in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist, als wichtige Ressource erweisen. Das muss allerdings nicht heißen, dass körperlich-leibliche Abstimmungsmechanismen anfallende Probleme auch tatsächlich lösen – und schon gar nicht zur Zufriedenheit aller. Und es sollte auch kein Plädoyer dafür sein, die traditionelle Hierarchie von Geist und Körper einfach umzukehren, sondern dafür, das Zusammenspiel von Körper, Leib und Rationalität neu zu denken. Wir haben schon darauf verwiesen, dass für die körperliche Abstimmung das Materiale eine wichtige Rolle spielt – das des eigenen Körpers und der Körper der anderen, aber auch das Materiale oder Stoffliche in Form von Gegenständen und anderen vermeintlich äußerlichen Phänomenen wie etwa der Musik oder der räumlichen Umwelt. Auch zur Rehabilitation des Materialen möchte der Band einen Beitrag leisten, indem er Anregungen dafür bietet, wie man der Rolle der ›Dinge‹ auf die Spur kommen kann, die diese in Interaktionen und für die Gemeinschaftsbildung spielen. Anhand der Arbeiten von Jean-Claude Kaufmann lässt sich veranschaulichen, was gemeint ist. Seine Soziologie »mit Leib und Seele«10 ist zudem anschlussfähig an die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, auf die in den Abhandlungen dieses Bandes mehrfach Bezug genommen wird. Nicht die Haut sei, so Kaufmann, die wirkliche Begrenzung des Körpers. Gegenstände würden inkorporiert, indem sie »Einzug in das Reich der selbstverständlichen Gesten« hielten (Kaufmann 1999: 52). »Nehmen wir [...] ein Gerät, das soeben gekauft wurde und dem eine Gebrauchsanweisung beigelegt ist [...] kaum ist der Karton ausge-

10 So der Titel seiner Veröffentlichung über die »Theorie der Haushaltstätigkeit« (siehe hierzu auch Weihrich 2002). 14

ZUR EINFÜHRUNG

packt, wird selbst eine gute Gebrauchsanweisung schnell zum Problem. Denn der neue Besitzer hat nur eines im Sinn: Er will das Gerät berühren, seine persönlichen Markenzeichen finden und sofort mit der Inkorporierung des Gegenstands beginnen.« Rationale Reflexion erweise sich dabei als Gegenspielerin der Inkorporierung; sie hole den Gegenstand aus seiner Inkorporierung heraus und verringere die räumliche Ausdehnung des Körpers wieder: »Nun stellt die Gebrauchsanweisung dabei das größte aller Hindernisse dar, denn sie macht das Gerät zum Gegenstand des Denkens und konstruiert es als äußeres Objekt. Diese rivalisierenden Prozesse erklären, warum dieses Ereignis oft als so unangenehm erlebt wird, warum man so gereizt ist und warum über Gebrauchsanweisungen mehr geschimpft wird, als sie es verdienen« (Kaufmann 1999: 55). In einer weiteren Veröffentlichung hat Kaufmann vorgeführt, wie der Umgang mit Dingen Interaktionen, Identität und Gemeinschaft konstituiert, indem er nachzeichnet, auf welche Weise zwei Personen durch den Umgang mit schmutziger Wäsche zu einem Paar werden – Wäsche, so Kaufmann, umgebe das Paar wie eine zweite Haut (Kaufmann 1995).

5 Idee und Aufbau des Bandes Grundlage der vorliegenden Veröffentlichung waren zwei Arbeitstagungen, die das Team A3 des SFB »Reflexive Modernisierung« ausgerichtet hat.11 Die erste Arbeitstagung unter dem Titel »Soziale Abstimmung jenseits ›geistiger‹ Planung – Vorschläge zur Modellierung auf der Grundlage von gegenstandsvermittelten und körperbezogenen Theorien des Handelns« fand im Mai 2008 in München statt. Dort lag der Schwerpunkt auf der Darstellung verschiedener körperbasierter Modellierungsvorschläge. Auf der zweiten Arbeitstagung zum Thema »Soziale Abstimmung in Arbeitsprozessen – Körper- und gegenstandsbezogene Analysen«, die im November 2008 ebenfalls in München stattfand, wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (zum Großteil war dies derselbe Kreis) aufgefordert, von uns zur Verfügung gestellte Videoaufzeichnungen von Arbeitsprozessen12 mithilfe ihrer jeweiligen theoretischen Zugänge zu analysieren und die Ergebnisse gemeinsam zu diskutieren. Die leitende Idee beider Tagungen bestand darin, Abstimmungsprozesse in Situationen zu untersuchen, in denen der Körper per definitionem eine zen11 Zum Team gehörten Fritz Böhle, Wolfgang Dunkel, Sabine Pfeiffer, Stephanie Porschen, Nese Sevsay-Tegethoff und später Dirk Fross und Margit Weihrich. 12 Dabei handelt es sich um CDs, die Bestandteil von zwei Veröffentlichungen des ISF München sind. Sie dokumentieren die Ergebnisse zweier Workshops, die im Rahmen des vom BMBF geförderten Projekts KOPRA (Kooperationsnetz prospektive Arbeitsforschung) erstellt worden sind (Dunkel/Rieder 2004 und Porschen/Bolte 2005). Für eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Material siehe auch Dunkel/Weihrich 2006. 15

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trale Rolle spielt, die durch Offenheit charakterisiert sind und in denen es unmöglich (oder ausgeschlossen) ist, den aufeinander ausgerichteten Handlungsvollzug vorher zu planen: beim Kontakttanz, beim musikalischen Improvisieren, in bestimmten Arbeitsprozessen in der Produktion sowie in personenbezogenen Dienstleistungsbeziehungen. Dabei gehen wir davon aus, dass die in diesen Bereichen untersuchten körperbasierten Abstimmungsprozesse nicht nur für die beschriebenen Unterfangen, sondern auch gesellschaftlich hoch relevant sind. Sie sollten sich grundsätzlich in Situationen bewähren, in denen Akteure ohne formale Steuerung und Kontrolle handeln – und damit in Situationen, die uns in Zukunft immer öfter begegnen werden. Die untersuchten Bereiche stehen für solche Situationen Modell. Über Körper und Leib werden gemeinsam Abstimmungsprozesse generiert, die soziale Ordnungen jenseits von Normen und Institutionen erzeugen. Der Band diskutiert diese Problematik in drei Kapiteln. Das erste Kapitel trägt den Titel »Bestandsaufnahmen, Grundierungen, Perspektiven«, das zweite Kapitel untersucht »Körper in Interaktion«, das dritte Kapitel hat »Körperliche Vergesellschaftung« zum Thema.

Erstes Kapitel: Bestandsaufnahmen, Grundierungen, Perspektiven In diesem Kapitel werden grundlagentheoretische Überlegungen zur Rolle des Körpers und des Leibs aus kommunikationstheoretischer, sportphilosophischer und soziologischer Sicht vorgetragen, die für die Diskussion der »Körperlichkeit des Sozialen«, aber auch für die weiteren Verhandlungen in diesem Band eine Ausgangsposition markieren. Den Auftakt macht Stephanie Stadelbacher mit ihrem Beitrag »Die klassische Soziologie und der Körper. Handlungstheoretische Zugänge und ihr Verhältnis zur Körperlichkeit der Akteure«. Die Autorin fragt danach, welche Rolle der Körper bei den Klassikern unseres Fachs spielt. Emile Durkheim und Max Weber stehen exemplarisch für die tendenzielle Körpervergessenheit der klassischen Soziologie. Durkheim ordnet alles Körperliche der Natur und alles Geistige der Gesellschaft zu, so dass der Körper nur dann soziale Relevanz gewinnt, wenn er durch Moral diszipliniert wird; bei Weber wiederum scheinen körper- und leibvermitteltes Agieren und sinnhaftes Handeln einander auszuschließen. Anders ist dies bei Georg Simmel und George Herbert Mead. Für Simmel spielt die sinnliche Wahrnehmung via Auge, Ohr und Nase eine wesentliche Rolle in sozialen Interaktionen, so dass Stadelbacher in Simmels Soziologie Ansätze eines sinnlich-spürenden Erfassens des Anderen und damit einer leibbasierten Verständigung ausmacht. Meads Theorie geht noch einen Schritt weiter: Hier basiert Gesellschaft auf dem körperlichen Zu16

ZUR EINFÜHRUNG

gang zur Welt, Sprechen ist ein körperlicher Akt und Denken eine interaktive Praktik. Bei Erving Goffman wiederum bleibt das Leibliche jenseits soziologischer Analyse, da der Körper immer der Körper eines Rollenträgers ist und insofern nur in seiner gesellschaftlichen Überformung relevant ist. Für die Frage, wie dieser Körper diszipliniert, zivilisiert und kontrolliert wird, zieht die Autorin Norbert Elias heran. Stadelbachers Fazit lautet, dass der Körper – abgesehen von seiner Vernachlässigung durch die Gründerväter – in der klassischen Soziologie durchaus präsent ist. Sie hebt aber hervor, dass die genannten Ansätze zum einen keineswegs den Mainstream soziologischen Denkens repräsentieren, zum anderen (mit Ausnahme von Georg Simmel) eher vom physiologischen Organismus als vom sinnlich empfindenden Leib ausgehen. Genau dies aber empfiehlt Stadelbacher der Soziologie. Der Artikel endet mit einem Verweis auf die Konzeption leiblicher Subjektivität, die sich bei Bourdieu findet, und gibt dem Band damit eine Leitlinie vor. Im Anschluss arbeitet Jens Loenhoff unter dem Titel »Fundierende Ebenen der Koorientierung und der Handlungskoordination« aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive die konstitutiven Bedingungen heraus, die Abstimmungsprozessen zugrundeliegen. Der sprachlichen Alltagskommunikation ist eine Form von Koorientierung vorgängig, die sich durch Körperkontakt, Körperbewegung und wechselseitiges Wahrnehmen vollzieht. Körperbezogene und explizit symbolische Abstimmungspraxen, so die These, spielen zusammen und ruhen ihrerseits wiederum auf sensomotorischen Leistungen des Körpers und körperlich-leiblichen Strukturen auf. Diese Fundamente von Sozialität, Interaktion und Kommunikation werden weder von Rational- noch von Systemtheorien berücksichtigt; dort wird auch übersehen, dass Akteure nicht einer objektivierten Welt gegenüberstehen, sondern sich schon immer praktisch handelnd und kommunizierend in ihr bewegen. Loenhoff arbeitet nun Wahrnehmung und Bewegung als fundierende Ebenen der Handlungskoordination heraus und verweist auf die »Bewegungsphantasie«, mit der man einem Interaktionsraum gleichsam ansieht, welche Bewegungen, Wahrnehmungen und Handlungen in ihm vollzogen werden können. Erst wenn dies nicht gelingt, setzen explorative Bewegungen bzw. geplantes Probehandeln ein. Auch Sinnstrukturen und Ordnungsprobleme ruhen auf diesen Ebenen auf, denn wechselseitig wahrnehmbares Körperverhalten unterliegt reflexiven Erwartungen, die Teilbereich einer Interaktionsordnung sind, in der Beteiligte einander für ihr Wahrnehmen und ihr Bewegungsverhalten verantwortlich machen. Dies wiederum steigert die Erkennbarkeit von interaktiven Zügen und Kommunikationsofferten, und der eigene Körper wie auch vorhandene Objekte werden in kreativer Weise eingesetzt, um sprachliche Äußerungen zu verdeutlichen oder Aufmerksamkeit zu steuern. Alle Prozesse der Koorientierung und der sprachlichen wie nichtsprachlichen Abstimmung bei Anwesenheit und wechselseitiger Wahrnehmbarkeit, so das Fazit, sind auf 17

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sensomotorische Strukturierungsleistungen des Körpers und kreative Körperpraktiken angewiesen. Elk Franke verfolgt in seinem Beitrag mit dem Titel »Bewegung als Kommunikation« die Frage, wie Bewegungen dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden. Hierfür entwickelt er die These, dass sich Handlungen nicht deduktiv-nomologisch erklären lassen, sondern dass der Handlungsablauf eine Handlung erst konstituiert. Dabei sind Handlungen immer an einen Sinnzusammenhang gebunden. Ausgangspunkt ist für Franke die Bewegung. Als bedeutsam bzw. sinnrelevant erachtete Bewegungen werden als Handlungen angesehen und sind immer nur aus einer bestimmten Perspektive als ein Interpretationskonstrukt erfassbar. Franke macht auf einen Aspekt aufmerksam, der in solchen interpretativ-situativen Handlungsmodellen oft übersehen wird: die hohe Plausibilität raum-zeitlicher körperlicher Bewegungssequenzen. Er stellt sich die Frage, in welcher Weise Bewegungen Kommunikationen ermöglichen und warum solche Kommunikationen als unmittelbar erscheinen. Eine Antwort findet Franke in der Erkenntnis, dass die menschliche Wahrnehmung formgebunden ist. Insbesondere Bewegungen stellen eine Wahrnehmungsform dar, in der sich Bedeutung nicht nacheinander, wie bei der Sprache, sondern in einem Akt ergibt. Dabei thematisiert der Autor zwei unterschiedliche Formungsprozesse: einmal die organischen Formbildungsprozesse, in denen sich etwa das Hören vom Sehen unterscheidet, und zum anderen die Formung, die durch eine Repräsentation in unserer Vorstellung entsteht. Franke zeigt, welche Rolle die Zeit bei der Formung von Hörbildern spielt – und dass diese Repräsentationen niemals private, sondern immer intersubjektive soziale Konstruktionsprozesse sind. Für Bewegungen nun ist Zeit von fundamentaler Bedeutung – die Repräsentation von Bewegungsbildern aber führt dazu, dass der zeitliche Vollzug einer Bewegung zu einer räumlichen Figur wird. In der Folge identifiziert Franke ein spezifisches »Bewegungs-Wissen«, das mehrere Faktoren gleichzeitig erfasst, Widersprüchlichkeit anerkennt und nicht nach Wahrheit, sondern nach Adäquatheit sucht; Erfahrungsbrüche eröffnen Möglichkeitsperspektiven. Kennzeichnend für die spezifische Prozesshaftigkeit körperlicher Bewegung ist, dass man um das Bewegliche dieser Bewegung wissen kann, allerdings in einer distanzlosen Weise des Erlebens: Man ist in diesem Zustand. Ein fliegender Stein, so ein Beispiel von Merleau-Ponty, ist die Bewegung selbst und immer das Ergebnis einer Perspektive in Bezug zu einem Stein. Bewegungswissen ist demnach eine Könnensdimension, mit der wir die Möglichkeit gewinnen, uns in unseren Bewegungen und durch sie zu uns selbst zu verhalten – und mit der wir über eine distanzlose und unmittelbare Kommunikationsform verfügen. Patrick Linnebach geht in seinem Beitrag mit dem Titel »Lost in Expectation? Systemtheoretische Überlegungen zur Körperlichkeit sozialer Ordnung« der Frage nach, wie sich die Körperlichkeit sozialen Handelns und sozialer 18

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Ordnung systemtheoretisch beschreiben lässt. Er vermutet, dass die systemtheoretische Kommunikationstheorie »lost in expectation« sei, wenn sie davon ausgeht, dass Sozialität über ein Geflecht wechselseitiger Erwartungen strukturiert wird und Mitteilungshandlungen nur dann vorliegen, wenn sie als Selbstfestlegungen interpretierbar sind. Linnebach argumentiert theoriegeschichtlich, indem er mit Webers Konzeption sozialen Handelns beginnt und diese (anders als vorher Stephanie Stadelbacher) emergenztheoretisch interpretiert. Er weist auf den zentralen Stellenwert des Sinnzusammenhangs hin, in dem eine Handlung ausgeführt wird. Von diesem Sinnzusammenhang hängt es ab, in welcher Form sich Handeln realisiert – und inwiefern es sich vom methodologisch verstandenen Idealtypus des zweckrationalen Handelns unterscheidet. Die Präferenz für diesen Idealtypus darf dabei, so Weber selbst, »natürlich nicht als ein rationalistisches Vorurteil der Soziologie, sondern nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden«. Alfred Schütz hingegen hat die rationalistische bzw. akteurtheoretische Lesart Webers befördert – ein Grund, weshalb sich die aktuellen Praxistheorien von Weber distanzieren, anstatt in ihm einen Vordenker zu sehen. Linnebach reicht die Staffel sodann an Parsons weiter. Dieser entwickelte bekanntlich das Problem doppelter Kontingenz und sah dessen Lösung in wechselseitigen Verhaltenserwartungen, wobei eine normative Ordnung nur eine mögliche Lösung darstellt. Luhmann schließlich baut an diesem Problem und seiner Lösung weiter: Kommunikation als Lösung des Problems der Doppelkontingenz liegt erst dann vor, wenn Ego das Verhalten Alters als Mitteilung einer Information auffasst und der Wahl seiner eigenen Handlung zugrundelegt. Nur wenn die Mitteilung als Selektion, nämlich als Selbstfestlegung in einer Situation doppelter Kontingenz aufgefasst werden kann, ist Kommunikation möglich – dies gilt nicht, wenn das beobachtete Verhalten nur als Zeichen für etwas anderes aufgefasst wird. In dem Moment, in dem Alter nicht nur schnell geht, weil er in Eile ist, sondern weil er Eile demonstrieren will, wird schnelles Gehen zur Mitteilung – und traditionales und affektuelles Handeln werden so zu einer theoretischen Residualkategorie. Linnebach plädiert dafür anzuerkennen, dass auch Erleben Informationen mitteilen und somit Sozialität konstituieren kann. Hierzu beruft er sich auf Luhmann selbst, der am Beispiel des Sozialsystems Familie darauf aufmerksam gemacht hat, dass dort pures Verhalten fast unvermeidlich als Kommunikation beobachtet wird. Nach Luhmann kommuniziert die Familie zu viel und übertreibt Gesellschaft – und ist, so Linnebach, deshalb »lost in expectation«. Zumindest in intimen Gesellschaften gilt also, dass sich Personen bereits durch ihr Erleben festzulegen scheinen. Geht es in Familien um Sozialsysteme, in denen ein hohes Maß an Verhaltenssicherheit herrscht, hat das Gegenteil anscheinend den gleichen Effekt: 19

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Auch das offensichtliche Fehlen von Erwartungssicherheit führt nach Luhmann dazu, dass Menschen nicht mehr als Personen, sondern als Körper erfasst werden. Linnebach plädiert dafür, auch körperliches Handeln als Mitteilungshandeln zu interpretieren. Dies aber hätte zur Folge, dass sich nicht nur die Familie, sondern mit ihr die systemtheoretische Kommunikationstheorie im Dschungel der Erwartungen verliert. Was könnte die Systemtheorie angesichts dieser Problematik tun? Zum einen könnte sie – ganz im Sinne von Alfred Schütz – Intersubjektivität als eine Gegebenheit der Lebenswelt voraussetzen; zum anderen könnte sie die Frage in den Mittelpunkt rücken, wie genau soziale Ordnung je aktuell operativ (re)produziert wird. Eine solchermaßen ›praxeologische‹ Systemtheorie würde sich für sprachliche und körperliche Lösungen des Problems der doppelten Kontingenz interessieren – und erkennen, dass man sich nicht nur durch sein Handeln, sondern auch durch sein Erleben festlegt, so dass auch auf diese Weise Information mitgeteilt und Sozialität konstituiert wird. Unter dem Titel »Leib und Stoff als Quelle sozialer Ordnung« plädiert Sabine Pfeiffer dafür, die Leiblichkeit der Handelnden und die Stofflichkeit der Dinge als soziale Tatsachen zu konzipieren, die Sinn »machen«. Arbeits- und Industriesoziologie sowie die allgemeine Soziologie, so die Autorin, sind dadurch gekennzeichnet, dass Leiblichkeit und Stofflichkeit auseinanderfallen: Wo der Leib ins Spiel kommt, findet sich die Stofflichkeit nicht – wo physische Dinge ins Spiel kommen, erscheinen sie merkwürdig stofflos. So fordert sie die soziologische Handlungstheorie dazu auf, Stofflichkeit und Leiblichkeit als sozial Handelnde zu konzeptualisieren und ihren dialektischen Bezug zueinander zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit eines solchen Zugangs veranschaulicht sie an der Serienmontage, der Arbeit an einer Supermarktkasse, am Informationbroking und schließlich an dem von Hermann Schmitz benutzten Beispiel des gemeinsamen Durchsägens eines Baumstamms. All diese Arbeiten sind nicht machbar ohne die Verschränkung von leiblichem Handeln, sozialen Abstimmungsprozessen und stofflichen ›Akteuren‹. Im Anschluss unternimmt die Autorin eine »tour de force« durch die Soziologie und kommt zu dem Ergebnis, dass die Soziologie soziales Handeln – trotz der konstatierten Entdeckung des Körpers – weitgehend als leibfrei konzipiert. Analoges arbeitet sie für die Stofflichkeit heraus und betont, dass auch die Actor Network Theory, die die Gleichberechtigung von Mensch und Artefakt betont, eher kontraproduktiv für eine Anerkennung des Stofflichen in ihrem Sinne ist. Im Ergebnis möchte die Autorin die dialektische Verschränkung beachtet wissen, die darin liegt, dass sich Leib und Stoff als etwas Widersprüchliches und sich gleichzeitig Bedingendes gegenüberstehen – das gilt auch für einen Akteur und seinen Leib (bzw. die Leiblichkeit anderer) und die Stofflichkeit, die handelnd auf ihn einwirkt und auf die er sich wiederum bezieht. Konzipiert man Leiblichkeit und Stofflichkeit als sozial Handelnde und als Bezüge sozialen Handelns, wird dies, 20

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so die Hoffnung der Autorin, das Stoffliche und das Leibliche davor bewahren, als determinierend überbetont und damit jeder sozialen Qualität enthoben zu werden. Denn gerade diese ›Entsozialisierung‹ geschieht in anderen Disziplinen und verhilft etwa der Hirnforschung zu scheinbaren Erklärungserfolgen, die aus soziologischer Sicht sehr problematisch sind.

Zweites Kapitel: Körper in Interaktion Das zweite Kapitel setzt einen empirischen Schwerpunkt, indem Interaktionsprozesse im Rückgriff auf spezifische Konzeptionen von Körperlichkeit und Leiblichkeit analysiert werden. Es geht um Contact Improvisation, um Improvisation im Free Jazz sowie um Interaktionen in der industriellen Produktion und im Friseurhandwerk aus dem für die Arbeitstagung zur Verfügung gestellten Videomaterial. Das Kapitel startet mit Robert Gugutzers Beitrag mit dem Titel »Soziologie am Leitfaden des Leibes. Zur Neophänomenologie sozialen Handelns am Beispiel der Contact Improvisation«. Gugutzer stellt die leibliche Dimension des Sozialen in den Mittelpunkt und möchte einen Beitrag zu einer neophänomenologisch fundierten allgemeinen Soziologie leisten. Hierzu stellt er die zuvor von Pfeiffer angesprochene Neue Phänomenologie des Philosophen Hermann Schmitz vor und empfiehlt sie als eine leibphilosophische Grundlage der Soziologie. Das zentrale Prinzip dieser Philosophie ist »Gegenwart« – es gilt, im Hier und Jetzt zu leben und zu lernen, sich auf den Augenblick einzulassen. Gugutzer stellt Schmitz damit in die Tradition einer Modernitäts- und Vernunftkritik, geht es ihm doch um eine lebensweltliche Rehabilitierung primärer Lebenserfahrung jenseits der Zumutungen der Moderne. Hierfür knüpft Schmitz an einem archaischen Paradigma an, innerhalb dessen »vielsagende Eindrücke« auf der Basis leiblichen Spürens geordnet werden – und das von Demokrit und Platon zugunsten einer Trennung von Seele und Körper sowie Geist und Materie verworfen worden ist. Eines der Hauptopfer dieses für die abendländische Kultur prägenden Paradigmas ist der Leib. Leiblichkeit bezeichnet das Betroffensein von etwas. »Leiblich ist das, was affektiv nahe geht, was spürbar ergreift.« Wichtig für die Frage nach der Körperlichkeit sozialen Handelns ist das Bild, das Schmitz von der leiblichen Interaktion entwirft. Hier spielt das Konzept der Einleibung eine wichtige Rolle: Man spürt den, die oder das Andere unmittelbar am eigenen Leib. Von besonderer Bedeutung für die leibliche Interaktion sind »Bewegungssuggestionen«, die Bourdieus praktischem Sinn für die Situation entsprechen. Bewegungssuggestionen sorgen – als Spürsinn – für eine praktische Lösung der zu bewältigenden Aufgabe und für wechselseitige Bewegungskoordination. Diese spürende Verständigung arbeitet der Autor am Beispiel der Contact Improvisation heraus, einer Tanzform, in der 21

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die Erforschung körperlicher Bewegungs- und Interaktionsmöglichkeiten im Mittelpunkt steht. »Contact« meint hier den Kontakt mit dem eigenen Körper wie auch den Kontakt mit dem Körper des Partners, so dass die Grundvoraussetzung für diesen Tanz die Wahrnehmung eigenleiblicher Empfindungen ist.13 Improvisation bedeutet, dass es keine festgelegte Abfolge von Bewegungen gibt, alle Bewegungen natürlich sind und jede Bewegung unmittelbar an die Bewegung des Partners anschließt. In Interviews mit Contact-ImprovisationTänzern spürt Gugutzer den Voraussetzungen dieser eigenleiblichen Empfindungen nach: dem Körpergefühl, der Offenheit und der Fähigkeit, im Augenblick zu sein. Weiter zeichnet er den zwischenleiblichen Bewegungsdialog nach, in dem Impulse, abwechselndes Führen und Folgen und das Geben und Nehmen des Körpergewichts eine wichtige Rolle spielen. Der Tanz, so die Schlussfolgerung des Autors, ist ein soziales Handlungsfeld, das sich ideal eignet, leibliche Wahrnehmungs- und Verständigungsprozesse zwischen zwei und mehr Menschen herauszuarbeiten – gleichwohl sind diese für jedwede sozialen Verständigungsprozesse von prinzipieller Relevanz. Eine neophänomenologische Soziologie, wie Gugutzer sie vorantreiben will, wäre eine leibbasierte Soziologie mit handlungstheoretischer Ausrichtung, deren Augenmerk dem leiblichen Sinn und dem leiblichen Verstehen (und Missverstehen!) gilt und die zugleich für die leibliche Interaktion mit Artefakten sensibilisiert. Das Feld der soziologischen Handlungstheorie würde erweitert, ohne deren zentrale Konzepte wie Sinn, Normen oder Rationalität zu ignorieren. In ihrem Beitrag mit dem Titel »Abstimmungsprobleme im Free Jazz. Ein Modell des Ordnens« fragt Silvana Figueroa-Dreher danach, wie eine körperliche Mikrofundierung des Sozialen aussehen kann und welche Rolle die Materialität des Körperlichen und der Gegenstände dabei spielt. Improvisationsprozesse im Free Jazz eignen sich deshalb für die Erörterung dieser Frage, weil es sich dort um körper- und gegenstandsbezogenes Handeln unter äußerst gering konventionalisierten, kontingenten Bedingungen handelt. Die Autorin fragt zuerst danach, wie sich das Free-Jazz-Improvisieren handlungstheoretisch erklären lässt. Schließlich besitzt es keine im Voraus festgelegte Struktur – diese ergibt sich erst aus dem Spielprozess. Von einer Umsetzung vorentworfener Handlungen kann also nicht gesprochen werden; gleichwohl lässt sich das Improvisieren auch nicht als routinisiertes Handeln begreifen. Es geht um ein ästhetisches Handeln, das offensichtlich nach anderen Prinzipien funktioniert. Für eine handlungstheoretische Erfassung spielt die Kategorie des Materials – der Klangvorrat, wie es die Jazzmusiker nennen – eine zentrale Rolle. Das dynamische Wissen und Können eines Musikers, das diese Kategorie abbildet, verbindet individuelles Handeln, Musik und Interaktion. Es ist sensomotorisch, viel-

13 Barbara Pieper und Daniel Clénin (in diesem Band) bauen ihre prismatische Methode auf dieser Wahrnehmung eigenleiblicher Empfindungen auf. 22

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fältig, spontan, anpassbar, veränderbar und bietet Optionen des Anknüpfens. So gibt es vielfältige Wege, das Material zu verlassen, es zu intensivieren oder zu modellieren. Es wird verhandelt, aber auch konfliktuelles Miteinanderspielen gilt als ästhetisch akzeptabel. Wie aber nun, und dies ist die zweite Frage, die sich die Autorin stellt, sind Free-Jazz-Musiker in der Lage, sich in einem so hochgradig kontingenten Kontext miteinander abzustimmen? In dieser Interaktion ohne körperlichen Kontakt zwischen den Spielern erfolgt die Abstimmung über das Hören von Klängen und Geräuschen und die Reaktion darauf. Figueroa-Dreher macht Wiederholung und Nachahmung als zentrale Abstimmungsmechanismen in diesen ear-to-ear-Interaktionen aus, wobei – und das ist wichtig – es keine Wiederholung ohne Veränderung gibt. So werden Automatismen ermöglicht, ohne dass deshalb Variation ausgeschlossen wäre. Darin liegt der Keim einer Interaktionsordnung, in der das Phänomen der Repetition als Ordnungsstabilisator und gleichzeitig als Erzeuger von Wandel fungiert. Und es dient der symbolischen Überwindung von Subjekt- und Körperbarrieren, insofern ich das Gleiche mit meinem Körper erzeugen kann, was du mit deinem Körper erzeugst – oder ich deine Sequenz am Klavier mit meinem Saxophon wiederholen kann. Nachahmung, so die Autorin, liefert somit eine Basis für eine körperliche Mikrofundierung des Sozialen, deren Potenzial für die Erklärung sozialer Ordnung es noch auszuschöpfen gilt. Während Gugutzer und Figueroa-Dreher für die Diskussion körperlicher Abstimmung auf eigene Untersuchungen rekurrieren, beziehen sich die nächsten drei Beiträge auf das Videomaterial, dessen Interpretation im zweiten Workshop Thema war. Der Beitrag von Stephanie Porschen trägt den Titel »Andere Form – anderer Rahmen. Körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung in Arbeitsorganisationen«. Der diskursiven Koordinierung, die als die vorherrschende und anzustrebende Koordinierung in der Arbeitswelt gilt und in Meetings und Gremien stattfindet, werden hier Prozesse ›stummer‹ informeller Koordinierung gegenübergestellt – Prozesse, die sich in Situationen, in denen informell und problembezogen gearbeitet wird, am besten entfalten können. In der Arbeits- und Industriesoziologie, so die Autorin, werden solche ›anderen‹ Abstimmungsprozesse nicht als ein eigenes Potenzial erkannt – sie gelten der verbalen und planbaren Kooperation als unterlegen. Anregungen lassen sich außerhalb der Arbeits- und Industriesoziologie finden, so dass die Autorin einen disziplinübergreifenden Zugang empfiehlt. In einem eigenen Modell konfrontiert Porschen die situative, anlass- und problembezogene informelle erfahrungsgeleitete Koordination und Kooperation mit der planungsbezogenen Kooperation in Gremien und zeigt im Anschluss an drei typischen Szenen aus einem produzierenden Industriebetrieb die jeweilige Rolle der körper- und gegenstandsvermittelten Kommunikation und ihre Rahmenbedingungen auf. Zwei Beispiele beziehen sich auf Teamgespräche, das dritte auf die Arbeitssi23

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tuation in einem Try Out Room der Autoindustrie. Porschen beschreibt Körperhaltung und Gestik im Try Out Room als offener, explorativer, flexibler und dynamischer als in den anderen Beispielen, bei denen es sich um Gremiensituationen handelt. Es findet ein lebendiger Prozess des Austauschs statt, weil die Interaktionspartner dem Arbeitsgegenstand nahe sind. Dieser – das Innenleben des Motorraums – übernimmt die Rolle eines das Geschehen beeinflussenden Quasi-Akteurs. Er spricht mit, als wäre er ein Subjekt, und wird zum »vermittelnden Dritten«. Da immer körper- und gegenstandsbezogen kommuniziert wird, ist das auch in den Gremienbeispielen der Fall, auch wenn es dort weder erwünscht noch gefördert wird. Im Gegensatz zum Try Out Room wird die körper- und gegenstandsbezogene Kommunikation und Kooperation dort eher zur Machtdemonstration und Interessendurchsetzung eingesetzt – auch wenn auch im Try Out Room subtile Machtspiele ausgetragen werden. Porschen spricht sich für einen anderen Rahmen für die Selbstorganisation betrieblicher Koordination aus, in dem sich körper- und gegenstandsbezogene Kommunikation und Kooperation entfalten können. Am Ende vergleicht sie die Rolle körper- und gegenstandsvermittelter Abstimmung in der Arbeit, im Sport, bei der Jazz-Improvisation und bei der Contact Improvisation und schlägt damit die Brücke zu den vorausgegangenen Texten von Gugutzer und Figueroa-Dreher. Der Beitrag von Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer und Thomas Pille trägt den Titel »Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus«. Hier nehmen sich Sportwissenschaftler dieselbe Arbeitssituation im Try Out Room vor, die von Stephanie Porschen untersucht worden ist, und analysieren die dort beobachteten Handlungen als eine »gemeinsame Praktik«. Dabei interessieren die in der Praxis sich selbst dokumentierenden Wissensformen, Kompetenzen, Mechanismen und Prozesse – Absichten, Pläne und kognitives Hintergrundwissen treten dabei zurück. Autorin und Autoren nehmen Bourdieus praxeologische Perspektive ein und ziehen seinen »Spielsinn« heran: Danach verfügt der geübte Akteur über ein leibliches Gespür für alle am Spiel beteiligten Handlungsträger und deren situationale Konfigurationen. In der Beschäftigung mit dem Videomaterial arbeiten sie heraus, dass es zum einen um die kooperative Bewältigung von technischen Problemen geht, zum anderen aber auch um die Austragung von Macht- und Statuskämpfen, so dass sich eine funktionale und eine politische Dimension kooperativen Arbeitshandelns erkennen lässt. Aus der dokumentierten Analyse ziehen Alkemeyer, Brümmer und Pille ein doppeltes Fazit: Sie zeigen zum einen, dass die gemeinsame Suche nach der Lösung eines Sachproblems zugleich einen Raum für Machtspiele öffnet, und sie betonen zum anderen, dass für den Vollzug einer gemeinsamen Praxis das Zusammenspiel geistiger und sprachlicher Fähigkeiten mit körperlich-sinnlichen und gestischen Fähigkeiten ausschlaggebend ist. Entsprechend warnen sie die Körpersoziologie vor einer bloßen Umkehrung traditioneller Körper-Geist-Hierarchien. 24

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Das zweite Kapitel schließt mit einer methodischen Abhandlung. Barbara Pieper und Daniel Clénin machen in ihrem Beitrag unter dem Titel »Verkörperte Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialen Handelns. Eine praktisch-theoretische Forschungsperspektive« den interessanten Vorschlag, die Leiberfahrung der Forscherinnen und Forscher für die Untersuchung der Körperlichkeit sozialen Handelns zu nutzen. Autorin und Autor sind Feldenkrais-Practitioner mit soziologischem und künstlerischem Hintergrund und stellen in ihrem Beitrag ihr Untersuchungsdesign vor. Kern des Beitrags ist die Beschreibung eines Kurzexperiments zum Einsatz von Selbstwahrnehmung als Forschungsinstrument, das sie in einem der beiden Workshops mit den Autorinnen und Autoren dieses Bandes durchgeführt haben. Die vorgestellte Forschungsmethode ist eine prismatische, weil es um die Auffächerung verschiedener Wahrnehmungsbezüge geht: So macht es einen spürbaren Unterschied, ob man in einer Interaktion die Wahrnehmung auf sich selbst oder den anderen richtet. Dieser Unterschied lässt sich methodisch nutzen, indem die leiborientierte praktische Erfahrung mit anderen Erkenntniswegen kombiniert wird. Im Zentrum dieser Forschungsperspektive steht der Doppelaspekt der Wahrnehmung als ein allgegenwärtiges Lebensprinzip. Er besteht darin, dass Beteiligte an Interaktionsprozessen jeweils sich selbst und den anderen wahrnehmen – die Selbstwahrnehmung wird in soziologischen Handlungstheorien unterschätzt. Pieper und Clénin hingegen halten dafür, dass sich diese Wahrnehmungsbezüge zur Erforschung der Körperlichkeit sozialen Handelns konzeptionell und methodisch nutzen lassen. Dabei unterscheiden sie drei Wahrnehmungselemente: Spüren, Fühlen und Denken. Das vorgestellte Experiment konzentriert sich auf das Element des Spürens: Die Workshopteilnehmer wurden angeleitet, eine Videoaufnahme einer Interaktionssequenz in einem Friseursalon zu betrachten. Einmal sollten sie sich selbst beim Beobachten wahrnehmen, einmal sollten sie sich in einen der Protagonisten des Films hineinversetzen und einmal auf die Interaktion selbst konzentrieren; daraufhin wurden die Wahrnehmungen notiert, verglichen und reflektiert. Das Experiment führt auf eindrucksvolle Weise vor, wie sich die Körperlichkeit sozialen Handelns leiborientiert erfassen lässt und wie mit einem solchen Verfahren Qualitäten sichtbar – oder besser: spürbar – werden, die beim Einsatz herkömmlicher Methoden im Verborgenen bleiben.

Drittes Kapitel: Körperliche Vergesellschaftung Das dritte Kapitel sammelt Argumente für die These, dass die »Körperlichkeit des Sozialen« auch eine wichtige Rolle für die Vergesellschaftung jenseits von Interaktionssituationen spielt. Es geht um die körperliche Basis sprachlicher Vergesellschaftung und Gemeinschaftsbildung und endet mit dem Vor-

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schlag, Vergemeinschaftung als einen Mechanismus der Vergesellschaftung zu begreifen, der auf Körperlichkeit und Leiblichkeit beruht. Der Beitrag von Stephanie Stadelbacher trägt den Titel »Die körperliche Konstruktion des Sozialen. Ein soziologischer Blick auf die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson« und setzt sich mit der Körperlichkeit der Sprache auseinander. In Anlehnung an Peter L. Berger und Thomas Luckmann verfolgt Stadelbacher eine wissenssoziologische Perspektive und fragt danach, inwieweit die Wissenssoziologie Leib und Körper als Quelle von Verständigung konzipiert – als Erzeugung einer gemeinsamen Deutung der Situation. Hierfür erschließt sie deren phänomenologisch-anthropologische Wurzeln und entdeckt den Leibkörper als primären Zugang zur Welt und Ausgangspunkt von Wirklichkeit. Da wahrnehmbarer Körper und wahrnehmender Leib zusammengehören, wird der Körper des Anderen zum Ausgangspunkt für die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven als Basis jeder Intersubjektivität. Dabei ist die leibkörperliche Kommunikation auf die konkrete Situation verwiesen und damit ans Hier und Jetzt gebunden. Diese Fixierung lässt sich durch Sprache überwinden. Damit wird das symbolisch-abstrakte, vom Körper losgelöste Wissen die entscheidende Grundlage wechselseitigen Verstehens – und mit der Körperlichkeit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie ist es damit zu Ende. Stadelbacher hält nun dagegen, dass auch das abstrakt-symbolische Alltagswissen wesentlich körperbasiert sei, und zeigt dies anhand der Theorie kognitiver Metaphorik von Lakoff und Johnson, die in den embodied-mind-Ansatz eingebettet ist. Lakoff und Johnson zeigen auf, dass die Metaphern, in denen wir wahrnehmen und denken, verkörpert sind – etwa, indem wir etwas »begreifen«, »a warm smile«, »a big problem« und »a close friend« wahrnehmen oder »Liebe als Reise« und »Zeit als Ressource« verstehen. Stadelbacher wendet diesen Ansatz auf das Problem wechselseitiger Verständigung an und zieht den Schluss, dass man Metaphern nicht deshalb versteht, weil man sie erlernt hat, sondern weil sie auf einer präreflexiven Metaebene die eigenen leibkörperlichen Erfahrungen ansprechen. Deshalb lassen sich auch unbekannte Metaphern ohne kognitive Anstrengung verstehen – ein Phänomen, das sich insbesondere in der interkulturellen Kommunikation bewährt. Thomas Alkemeyers Text mit dem Titel »Verkörperte Gemeinschaftlichkeit. Bewegungen als Medien und Existenzweisen des Sozialen« startet mit der Beobachtung, dass neue Formen der Vergemeinschaftung wie Stadtmarathons, Rockkonzerte oder Stadienbesuche nicht durch bürokratische Strukturen, klare Rollenverteilungen und normativ begründete Verbindlichkeit zusammengehalten werden, wie dies etwa bei Parteien oder Vereinen der Fall ist. Bei solchen Veranstaltungen scheint es vielmehr darum zu gehen, Zusammengehörigkeit zumindest vorübergehend einmal konkret am eigenen Leib zu spüren. »Dichtes Gedränge in Stadien, auf Straßen und Plätzen? Umso bes26

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ser!« Dieses gemeinsame physische, performativ erzeugte und episodenhafte Agieren nimmt der Autor in seinem Beitrag unter die Lupe. Er thematisiert die Bedeutung von Durkheims kollektiven Repräsentationen für die Bekräftigung körperlich-leiblicher Zustände, sinnlicher Eindrücke und sozialer Gefühle und betont deren Analogie zu aktuellen Konsumpraktiken. Während sich lebensstilsoziologische Untersuchungen auf die Distinktionsfunktion solcher Praktiken konzentrieren, fokussiert Alkemeyer die Körperlichkeit der gemeinsamen Handlungspraxis durch Bewegungen. Bewegungen sind (auch) soziale Tatsachen, die von Geburt an gesellschaftlich geformt werden und ihre kontextspezifische Bedeutung in von Kulturtechniken und Machtbeziehungen geprägten sozialen Welten erhalten. Dies geschieht mithilfe des Mechanismus der Mimesis: Akteure nehmen im Vollzug einer Praktik permanent aufeinander Bezug und stellen über verkörperte Darstellungen ein praktisches Verständnis darüber her, was eine regelgerechte Ausführung der Praktik ist. So stecken in typischen Bewegungsmustern, Haltungen und Gesten gesellschaftliche Sinnkonstruktionen; gleichzeitig wird Zugehörigkeit fühlbar. Alkemeyer zieht daraus zwei wichtige Schlussfolgerungen: Zum einen können auf solchen konkreten Formen der Gemeinschaftlichkeit komplexere abstraktere Formen der Sozialität aufbauen; zum anderen haben solche verkörperten Gemeinschaften eine Indikatorfunktion, indem normalerweise unerkannt in das Alltagsleben eingelassene Mechanismen wie auf einer Bühne vorgeführt werden. Der Autor erinnert auch daran, dass sich die Mechanismen der Vergemeinschaftung für Herrschaftszwecke mobilisieren lassen, wie dies insbesondere der Nationalsozialismus gezeigt hat. In der Folge wurden kollektive Körperpraxen wissenschaftlich entwertet und dethematisiert, so dass die körperlich-leiblichen Dimensionen von Vergesellschaftung, Vergemeinschaftung und Subjektbildung lange Zeit unbegriffen blieben. Der aktuelle Körperboom, so der Autor, macht dies nicht unbedingt wett, wird der Körper doch in den gegenwärtigen praxistheoretischen Konzepten »überwiegend als eine Art Automat begriffen, der [...] vorwiegend eingeschliffene Routinen abspult«. Alkemeyer plädiert hingegen dafür, Körper »als ein (sozialisiertes) Agens« zu verstehen. Das Buch schließt mit einem Beitrag von Fritz Böhle mit dem Titel »Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung. Leiblich fundierte Mechanismen sozialer Ordnung«. Böhle wirbt dafür, Vergemeinschaftung als ein substanzielles Element moderner Gesellschaften zu begreifen und als einen sozialen Mechanismus zu diskutieren, der seine Wirkung über unmittelbare interpersonelle Beziehungen hinaus entfaltet. Dabei vertritt Böhle die These, dass Vergemeinschaftung eine Form gesellschaftlicher Koordinierung ist, die in besonderer Weise auf körperlichem Handeln aufruht. Es gilt, Vergemeinschaftung und mit ihr die Körperlichkeit sozialen Handelns aus der marginalen Position zu befreien, in die sie durch die theoriegeschichtlich etablierte Gegenüberstellung von 27

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Gemeinschaft und Gesellschaft geraten ist: Während Gesellschaft zum einen Ergebnis des Interessenhandelns autonomer und rational handelnder Subjekte und zum anderen durch unabhängig von den Individuen existierende Institutionen und Strukturen gekennzeichnet ist, erscheinen Gemeinschaft und Vergemeinschaftung gleichsam als das Negativbild von Gesellschaft: als das Ergebnis nicht-rationaler und nicht-willentlicher sozialer Beziehungen und zudem – weil personengebunden – auf kleinräumige soziale Beziehungen beschränkt. Ordnet man körperlich-leibliche Interaktionen der Vergemeinschaftung zu, so laufen auch sie Gefahr, bestenfalls als marginale Erscheinungsformen sozialer Ordnungen in modernen Gesellschaften begriffen zu werden. Böhle unterbreitet nun einen anderen Vorschlag, indem er auf dem Konzept des subjektivierenden Handelns und der erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Kooperation aufbaut. Demnach beruhen Prozesse körperlicher Abstimmung wesentlich auf einer gefühlsgeleiteten, empfindenden Wahrnehmung; Menschen sind somit grundsätzlich in soziale Beziehungen eingebunden. Dieses Menschenbild stellt Böhle dem Bild vom freien Individuum als Träger individueller Rechte gegenüber – unter diesen Akteuren kommt Gesellschaft durch Konsens zustande. Auf der Grundlage des von Böhle vertretenen Menschenbilds ergibt sich eine alternative Vorstellung sozialer Ordnung: Ordnung durch Vergemeinschaftung. Böhle stellt die Umrisse eines solchen alternativen Ordnungskonzepts dar und lässt sich hierfür u.a. von Tönnies und Durkheim inspirieren. Danach beruht jede soziale Ordnung – und damit auch rationale Vergesellschaftung – auf der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz als Grundlage einer immer schon vorhandenen sozialen Beziehung. Hinzu treten weitere Elemente: ein gemeinsam geteiltes Wissen über die Welt, das auf dem körperlich-leiblichen Zugang zur Welt beruht; der gemeinsame Bezug auf Gegenstände als strukturierendes Element sozialer Beziehungen und Interaktionen; Rituale und Symbole als genuin körperlich-leiblich fundierte Medien der Präsentation und Kommunikation einer gemeinsamen Deutung von Wirklichkeit; und schließlich die von Hermann Schmitz inspirierte Beobachtung, dass Einbindungen in ein übergreifendes Ganzes trotzdem individuelle Spielräume gewähren. Als Ergebnis dieser Erörterung möchte Böhle Vergemeinschaftung als eine besondere Art der Vergesellschaftung begreifen und von der Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung unterscheiden. Zeichnet sich letztere dadurch aus, dass autonome Individuen über vertragliche Vereinbarungen und formelle Organisation institutionell-normative Arrangements hervorbringen, rekurriert Vergemeinschaftung auf eine grundsätzlich andere Sicht menschlicher Existenz: Durch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in den Handlungsdispositionen bedarf die Abstimmung und Koordinierung praktischen Handelns kaum weiterer institutioneller Arrangements. Dennoch muss auch Gemeinschaft von den Subjekten aktiv hervorgebracht werden. Böhle plädiert dafür, Vergemeinschaftung nicht von Systemen zweckrationalen Handelns abzugrenzen, sondern sie in Verknüpfung 28

ZUR EINFÜHRUNG

damit zu sehen. Eine solche Verknüpfung zeigt Böhle auf, indem er die Rolle der Vergemeinschaftung über Berufskulturen in Unternehmen beschreibt. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern dieses Bandes interessante Leseerlebnisse und Anregungen für eine weiterführende Diskussion. Wir bedanken uns herzlich bei den Autorinnen und Autoren für ihre engagierte Mitarbeit in den Workshops, für ihre Beiträge in diesem Band und insgesamt für die konstruktive Zusammenarbeit, die uns Spaß gemacht hat. Ganz besonders danken wir Frank Seiß (ISF München) für sein umsichtiges und kenntnisreiches Lektorat. Für die technische Fertigstellung des Manuskripts bedanken wir uns bei Karla Kempgens (ISF München) und Frank Seiß. Des Weiteren gilt unser Dank dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs »Reflexive Modernisierung« für die finanzielle Unterstützung der Veröffentlichung und transcript für das Interesse an unserer Arbeit.

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Erstes Kapitel: Bestandsaufnahmen, Grundierungen, Perspektiven

DIE KLASSISCHE SOZIOLOGIE UND DER KÖRPER

Die klassische Soziologie und der Körper. Handlungstheoretische Zugänge und ihr Verhältnis zur Körperlichkeit der Akteure STEPHANIE STADELBACHER

Fragt man nach der Rolle von Körperlichkeit in den Theorien soziologischer Klassiker, so ist festzustellen, dass der Körper in den meisten Ansätzen keine wesentliche, d.h. theoretisch zentrale Rolle spielt. Dies ist mit der Kultur und dem wissenschaftlichen Feld des 19. Jahrhunderts als Entstehungszeit der Soziologie zu erklären. Als neue Wissenschaft war die Soziologie von Anfang an bestrebt, sich von anderen Humanwissenschaften abzugrenzen, um sich so eine Existenzberechtigung beispielsweise neben der Psychologie und der Biologie zu verschaffen. Dies wird besonders deutlich an dem für die Soziologie konstitutiven Durkheim’schen Diktum, Soziales ausschließlich durch Soziales zu erklären (vgl. Durkheim 1976: 193) und eben nicht durch die bloße Aggregation psychischer Individuen oder evolutionär-biologische Determinanten. Verbunden mit der modernen Vorstellung des Körpers als res extensa, als biologische Masse oder Ding, das eher als Umwelt des Sozialen denn als dessen Bestandteil konzipiert und insofern dem Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften überlassen wurde, führte dieses Denken zur Vernachlässigung des Körperlichen bei der Erklärung sozialer Prozesse. Ganz in der Tradition des cartesianischen Körper-Geist-Dualismus etablierte sich als common sense eine Definition des sozialen Akteurs als eigentümlich körperloses, stattdessen geistiges bzw. vergeistigtes Wesen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, von einer gänzlichen Leugnung des Körpers zu sprechen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Der Körper zeichnet sich in einigen klassischen Theorien vielmehr durch seine »absent presence« (Shilling 1993: 9) aus, d.h. obgleich er keine systematische Berücksichtigung findet, erscheint der Körper auch bei den Klassikern bereits mehr oder weniger deutlich, ob nun in Abgrenzung zu sozialen Prozessen (etwa bei 35

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Durkheim und Weber) oder aber als elementarer Bestandteil derselben (wie bei Mead, Goffman oder Bourdieu). Deshalb soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welches Bild in der klassischen Soziologie von Akteuren gezeichnet wird – oder genauer: in welchem Verhältnis zueinander Körper und Geist bei der Erklärung sozialer Verständigung stehen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle des Körpers in Konzeptionen sozialen Handelns und sozialer Ordnung.1 Zusätzlich wird auch ein differenzierender Blick darauf zu werfen sein, was denn jeweils genau unter ›dem‹ Körper verstanden wird. Dabei soll in Anlehnung an die philosophischen Wurzeln der Körpersoziologie auf die anthropologisch-phänomenologische Unterscheidung von Leib und Körper2 Bezug genommen werden: »Im Gegensatz zum Leib, welcher der Mensch ist und dem Bereich der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung zugeordnet wird, gilt der Körper als etwas, was der Mensch hat und dem Bereich der objektivierbaren Betrachtung zugänglich ist« (Fuchs-Heinritz et al. 2007: 366). Denn eine grundlegende körperliche Fundierung der Soziologie bedarf in jedem Fall einer fruchtbaren Erweiterung ihres Denk- und Rezeptionshorizonts, um den Descartes’schen Dualismus zu überwinden und die verschiedenen Aspekte des Körperlichen im Sozialen herauszustellen. Im Folgenden wird deshalb neben der grundsätzlichen Körperlichkeit auch zu prüfen sein, ob jeweils vom ›subjektiven‹ Leib oder vom ›objektiven‹ Körper die Rede ist. Des Weiteren bleibt zu fragen, in welcher Art und Weise der Körper (sollte er theoretische Relevanz haben) für das Soziale eine Rolle spielt – ob als Produkt gesellschaftlicher Prägung, Zeichenträger oder Agens sozialen Handelns. Zunächst werden exemplarisch für die tendenzielle Körpervergessenheit der klassischen Soziologie zwei ›Gründerväter‹ – Emile Durkheim und Max Weber – herausgegriffen und deren Erklärungsansätze sozialer Abstimmung mit Bezug auf die angeführten Aspekte beleuchtet (Abschnitt 1). Im Gegenzug sollen anschließend Vertreter eines körpersoziologisch anschlussfähigen Zugangs zu sozialen Prozessen dargestellt werden. Sowohl Georg Simmel als auch George Herbert Mead und Erving Goffman räumen in ihren Sozialtheorien dem Körper einen mehr oder weniger expliziten Raum ein. Dabei soll auch die Perspektive von Norbert Elias auf körperrelative gesellschaftliche 1

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Hiermit wird eine handlungstheoretische Selektion vorgenommen und keine allgemeine Darstellung ›körpersoziologischer Klassiker‹ angestrebt. Vgl. zur Rolle des Körpers in der Soziologie allgemein auch Turner (1991); Shilling (1993); Meuser (2004); Gugutzer (2004, 2006); Schroer (2005). Zum Verhältnis von Handlungstheorie und Körperlichkeit vgl. auch Meuser (2002); im Folgenden soll über die dortige Darstellung hinaus die jeweils unterschiedliche Konzeption des Körpers bei den Klassikern stärker herausgearbeitet werden. Zu nennen sind hier die philosophische Anthropologie Plessners (1965) sowie die leibphänomenologischen Ansätze von Merleau-Ponty (1966) und Schmitz (1994, 2003); vgl. auch Waldenfels (2000).

DIE KLASSISCHE SOZIOLOGIE UND DER KÖRPER

Prozesse hinsichtlich ihrer handlungstheoretischen Relevanz kurz skizziert werden (Abschnitt 2).3 Abschließend werden die hier vorgestellten klassischen handlungstheoretisch orientierten bzw. auszulegenden Ansätze hinsichtlich ihrer Körperlichkeit einer kritischen Würdigung unterzogen und mit einem Ausblick auf anders akzentuierte Körperkonzepte erweitert, was beispielhaft an der Theorie Pierre Bourdieus veranschaulicht wird (Abschnitt 3).

1 Soziale Interaktion bei Durkheim und Weber – Die Konzeption »körperloser« Sozialakteure Durkheim und Weber als zwei der einflussreichsten Soziologen des 19. Jahrhunderts, die sich sowohl mit sozialem Wandel als auch mit Fragen sozialer Ordnung beschäftigten, gründen ihr Denken und ihre Erklärungen sozialer Abstimmung in Interaktionsbeziehungen auf ein körperloses bzw. den Körper überwindendes, ›wissendes‹ Individuum. Der homo socius ist bei ihnen ein geistiges Wesen.

1.1 Emile Durkheim – Soziale Ordnung durch Überwindung des Körpers Emile Durkheim (1858–1917), Vertreter der Soziologie als einer positiven Wissenschaft in Comte’scher Tradition, interessiert sich in erster Linie dafür, welche Bindungen Menschen haben, was sie als Kollektiv bzw. soziales Aggregat zusammenhält. Er erklärt dies unter Verweis auf die dem Individuum übergeordneten ›faits sociaux‹, die sozialen Tatsachen (vgl. Durkheim 1976: 105ff.). Werte und Normen, oder kurz: Moral, als Produkt eines überindividuellen Kollektivbewusstseins üben auf den Einzelnen sozialen Zwang aus (vgl. ebd.: 114). Diese kollektiven Repräsentationen, die handlungsleitend wirken und Sozialität erst ermöglichen, sind selbst ein Effekt dieser Sozialität, mithin das eigentlich Soziale als Realität sui generis. Die Moral und, dadurch vermittelt, die soziale Abstimmung werden bei Durkheim ganz elementar als mental konstruiert. Darüber hinaus basieren sie, unter Bezugnahme auf die hier zugrunde liegende spezielle Fragestellung, auf einer Disziplinierung alles Körperlichen. An dieser Stelle ist zur Konzeption des Körpers bei Durkheim auf den in seinem Denken vorherrschenden cartesianischen Dualismus hinzuweisen. 3

Alfred Schütz, der ebenfalls in diese Reihe aufgenommen werden müsste, wird in einem eigenen Beitrag behandelt; vgl. hierzu den zweiten Aufsatz von Stadelbacher in diesem Band. Eine im Vergleich hierzu andere Position zur Schütz’schen Weber-Rezeption vertritt Patrick Linnebach in seinem Aufsatz (ebenfalls in diesem Band). 37

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Durkheim spricht in »Le dualisme de la nature humaine et ses conditions sociales« vom »konstitutionelle[n] Dualismus der menschlichen Natur«. Körper und Seele gelten als »zwei radikal heterogene Elemente [...] [die] wesensverschieden, [...] unabhängig voneinander; oft [...] in Konflikt miteinander« (Durkheim 1914/1981: 369) sind. Zum Wesen des Körpers gehören Sinneseindrücke und »gefühlsmäßige Tendenzen« – allgemein das rein Individuelle (vgl. ebd.: 369, 371).4 Zur Seele zählen im Gegensatz dazu »begriffliches Denken« und die moralischen Handlungen – kurz: »die Verlängerung der Gesellschaft« (ebd.: 369, 379). Beide »Gravitationszentren« menschlicher Existenz »widersprechen und verneinen sich gegenseitig« (ebd.: 371). Durkheim spricht bezüglich dieser Gespaltenheit des Menschen vom homo duplex, dessen »heilige« Seite die Seele und dessen »profane« Seite der Körper ist (ebd.: 376).5 Durkheim überträgt diesen Dualismus im Inneren des Menschen auf die Gesellschaft, indem alles Körperliche (und damit Individuelle) der Natur, dem Nicht-Sozialen, und alles Seelisch-Geistige der Gesellschaft, dem Sozialen zugeordnet wird (die Seele als Sitz moralischer, also sozialer Handlungen). Der Körper als das Kreatürliche, Individuelle des Menschen kann keine Erklärungskraft für das Soziale bieten, da er, in einem vorsozialisierten, vormoralischen Zustand, von egoistischen Motiven durchzogen ist (vgl. ebd.: 379). Die kollektiven Bewusstseinszustände sind es, die soziale Interaktion ermöglichen: »durch sie und mit ihnen allein können wir mit anderen Menschen in Verbindung treten« (ebd.). Obwohl die Dualität nie aufgehoben werden kann,6 kann und muss der Körper vor dem Hintergrund des Kollektivbewusstseins sozialisiert werden. Dies kommt einer im Laufe der Zivilisation fortschreitenden Unterwerfung der Natur unter das Soziale gleich, ohne die Gesellschaft nicht möglich wäre – wir sind gezwungen, »uns selbst aufzugeben« (ebd.: 380). Denn: »Der Mensch ist nur deswegen Mensch, weil er zivilisiert ist« (ebd.: 368). Noch oder gerade in zivilisiertem, also moralisch-vergeistigtem Zustand spielt der Körper bei Durkheim dennoch implizit eine Rolle bei der Herstellung sozialer Ordnung. Zum einen kann er als Objektivation kollektiver Vorstellungen/Deutungen gelten und so Kommunikation und Verstehen ermöglichen.7 Zum anderen deutet Durkheims Betonung der individuellen Unterwer4

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Hier wäre der Begriff des Leiblichen passend, der die ›subjektiven‹ Anteile des Weltzugangs in den Blick nimmt. Durkheim selbst hat diese Unterscheidung in Körper und Leib allerdings nicht vorgenommen. Deren Verhältnis ist ein hierarchisches, wobei »diejenigen [Leistungen], die am meisten mit dem Körper verbunden sind, [...] am Fuße dieser Hierarchie« stehen (Durkheim 1914/1981: 376). »[...] der Mensch [ist] zugleich ›Engel und Tier‹, ohne jemals ausschließlich das eine oder das andere zu sein« (ebd.: 372). »Auf der anderen Seite können aber diese kollektiven Bewußtseinszustände nur so Wirklichkeit werden, daß sie sich in materiellen Objekten darstellen, in Sachen aller Art, Figuren, Bewegungen, Tönen, Worten usw., die sie äußerlich dar-

DIE KLASSISCHE SOZIOLOGIE UND DER KÖRPER

fung unter moralische Standards auf die soziale Relevanz des Körpers als kontrollierter, disziplinierter Körper hin.8 Man könnte es so auf den Punkt bringen: Nur in einem zivilisierten Körper wohnt ein sozialer Geist.

1.2 Max Weber – Interaktion als sinnhaft aufeinander bezogenes Handeln Einzelner Während Durkheim auf das Ganze, das Kollektiv als Konstituens und Regulativ sozialer Beziehungen verweist, setzt Max Weber (1864–1920) in seiner verstehenden Soziologie bei sinnhaften Handlungsorientierungen des Einzelnen an, um soziales Handeln zu verstehen und zu erklären. Für Weber ist es die wesentliche Aufgabe der Soziologie, »soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären« (Weber 1980: 1). Sinn ist hierbei die wesentliche Kategorie des Sozialen, genauer der subjektiv gemeinte, handlungsorientierende und -initiierende Sinn. Liegt eine solche Sinnhaftigkeit vor, spricht Weber von Handeln, ist dieser Sinn an anderen orientiert und richtet sich das Handeln in Ablauf und Wirkung an ihnen aus, liegt soziales Handeln vor. Idealtypisch davon abgrenzbar ist ein bloßes (Sich-)Verhalten, das rein reaktiv und nicht mit einem subjektiven Sinn verbunden ist. Verhalten meint dann »das bloße Agieren von Körpern« (Gugutzer 2004: 21). Diese Unterscheidung in sinnhaftes und nichtsinnhaftes (körperliches) Agieren findet sich auch in den Weber’schen Handlungstypen wieder. Zwar gelten zweckrationales, wertrationales, traditionales und affektuelles Handeln allesamt als soziales Handeln, trotzdem setzt Weber die letzten beiden Typen an die »Grenze und oft jenseits dessen, was man ein 9 ›sinnhaft‹ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann« (Weber 1980: 12). Insofern traditionales und besonders affektuelles Verhalten als präreflexive Reaktionen konzipiert sind, wird ihnen Sinnhaftigkeit abgesprochen. Da aber

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stellen und symbolisieren; denn allein durch Ausdruck ihrer Gefühle, durch die Übersetzung dieser Gefühle mittels eines Zeichens, das sie symbolisch in der Außenwelt darstellt, können die individuellen Bewußtseinszustände, die von Natur her voneinander abgegrenzt sind, empfinden, daß sie miteinander in Verbindung stehen und eine Einheit darstellen« (ebd.: 377, Hervorhebungen S.S.). Vgl. Shilling 1997: 207. Im Laufe der Sozialisation wird das gesellschaftlich relevante Wissen (d.h. die Moral) verinnerlicht – oder genauer: inkorporiert. Durch das Zurückdrängen des Individuell-Körperlichen, das durch die Konversion moralischer Werte in »emotionally ›unquestionable truisms‹« (ebd.: 212) gewährleistet werden soll, werden diese kollektiven Bewusstseinszustände im Individuum auch leiblich real. Wissen wird im wahrsten Sinne des Wortes inkorporiert. Das zeigt sich auch terminologisch, wenn er von traditionalem Verhalten und affektuellem Sichverhalten, aber von zweck- oder wertrationalem Handeln spricht (vgl. Weber 1980: 12). 39

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gerade hier die Körperlichkeit (bzw. Leiblichkeit) in Form inkorporierter Gewohnheiten und reaktiver Gefühlslagen/Emotionen noch am ehesten zu finden ist, scheinen körper-/leibvermitteltes Agieren und sinnhaftes Handeln bei Weber einander auszuschließen. Aufgabe der wissenschaftlichen Betrachtung sozialen Handelns soll es denn auch sein, »alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ›Ablenkungen‹ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben« (ebd.: 2f.) zu isolieren. Als Ausgangspunkt bzw. Reintyp sozialen Handelns gilt für Weber das zweckrationale Handeln. Affektuelles oder traditionales Verhalten wird hierbei als »Störung« (ebd.) behandelt, »als Randbedingungen des Handelns, nicht als soziales Handeln selbst« (Meuser 2004: 203).10 Der Körper kommt bei Weber also implizit in Form von Affekten/sinnlichen Bedürfnissen und evtl. habitualisierten Gewohnheiten (im Grunde also als Leib) vor – und erscheint damit eben nicht für soziales, d.h. sinnhaftes Handeln relevant. Aber auch als Bedeutungsträger bzw. Sinn- und Wissensvermittler könnte der Körper im sinnhaften Handeln Beachtung finden, selbst wenn Weber dies nicht expliziert.11 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass Weber Sinn bzw. kollektiv geteiltem Wissen einen zentralen Stellenwert für soziale Beziehungen einräumt: »die soziale Beziehung besteht [...] durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer sinnhaft angebbaren Art sozial gehandelt wird« (Weber 1980: 13; Hervorhebung S.S.). Es sind mentale Konstrukte in den Köpfen der Individuen, die soziale Beziehungen konstituieren, nicht (interaktive) Körper oder Leiber. Bei den beiden dargestellten Begründern der Soziologie als Wissenschaft des Sozialen wird das dieser zugrunde liegende moderne Denken deutlich, was sich insbesondere hinsichtlich der Konzeptionen von Handeln und von Körperlichkeit sowie deren Bezug zueinander zeigt. Stehen soziale Akteure als moralisch handelnde bzw. Sinn konstituierende Subjekte im Zentrum der Herstellung sozialer Ordnung, bleibt deren Relevanz für eben diese auf eine

10 Vgl. hierzu auch Turner (1991: 9). Weber betont gleichwohl, dass damit kein Werturteil verbunden ist. Aber Folge einer derartigen Konstitution der Soziologie als »rationalistische« (Weber 1980: 3) Wissenschaft ist, dass zwangsläufig rationale, weil sinnhafte Aspekte sozialen Handelns in den Fokus gelangen. Das entspricht zumindest der Weber’schen Deutung einer sich zunehmend modernisierenden Gesellschaft, deren Primat Rationalität ist, und prägt die Soziologie in der Folge durch einen deutlich »rationalistischen Bias« (vgl. Gerhards, zit. nach Meuser 2004: 203). 11 Wenn soziales Handeln darin besteht, mein Verhalten an dem des anderen auszurichten, so hat es eine nicht unwesentliche körperliche Komponente, denn Informationen werden nicht zuletzt mittels körperlicher Haltungen, Handlungen und Verhaltensweisen vermittelt. Aber primär sind es Einstellungen, Erwartungen und soziale Regeln, die nach Weber soziales Handeln prägen, nicht der Körper. 40

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(aus körpersoziologischer Sicht eigentümlich einseitige) Konzeption als geistige Wesen beschränkt. Der Körper erfährt allerdings nicht bei allen Gründervätern der Soziologie in seiner konstitutiven Bedeutung für Sozialität eine derartige Abwertung bzw. Vernachlässigung. Im Folgenden wird gezeigt, inwiefern Simmel, Mead, Goffman und Elias dem Körper einen durchaus prominenten Platz in ihrer jeweiligen Sozialtheorie einräumen.

2 Soziale Verständigung bei Simmel, Mead, Goffman und Elias – Theoretische Berücksichtigung der Körperlichkeit in direkter Interaktion 2.1 Georg Simmel – Gegenseitige sinnliche Wahrnehmung als Basis sozialer Ordnung Georg Simmel (1858–1918) unterscheidet sich von Durkheim und Weber wesentlich hinsichtlich der Konzeption von Sozialität. Weder das große Ganze noch der Einzelne interessieren ihn. Bei Simmel steht ein in gewisser Weise interaktionistisches Denken im Vordergrund. Gesellschaft entsteht nicht durch die Abfolge sinnhafter, intentionaler Handlungen einzelner Subjekte, sondern als Effekt von wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen der Individuen, die von einem bestimmten Zweck, Interesse, Motiv geleitet sind (vgl. Simmel 1968: 5) – Gesellschaft als Effekt von Interferenzen. Diese lassen, durch die Konstitution sog. sozialer Kreise, Interaktionsnetze entstehen, in die der Einzelne eingebunden ist und die durch wiederholtes soziales Handeln aufrechterhalten, erweitert oder neu erzeugt werden. Sozialität erklärt sich bei Simmel damit nicht aus individuellen Motivlagen oder aus moralischen Zwängen, sondern aus sozialer Vernetzung. Und auch der Körper spielt hier eine Rolle. In seinem »Exkurs über die Soziologie der Sinne« erläutert Simmel, dass – und darin unterscheidet er sich in seinem Denken grundsätzlich von Weber und Durkheim – der Körper oder genauer die Sinne »von fundamentaler soziologischer Bedeutung« sind (ebd.: 483).12 Sinneseindrücke ganz allgemein verbinden die Menschen, sie schlagen eine »Brücke« zwischen ihnen und bilden 12 Bei Simmel ist der Körper in erster Linie ein sinnlicher, d.h. er bezieht sich auf das sinnliche Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden des Menschen. Hier trifft er sich mit Merleau-Ponty, der den Leib als sinnlich Erfahrenden, vor allem Sehenden und Tastenden, und den Körper als sinnlich wahrzunehmendes Körperding konzipiert. Aber auch die Dimension des leiblichen Spürens taucht bei Simmel auf (s.u.). 41

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die »Grundlage unserer Beziehung« (ebd.: 484) zueinander, und zwar der »primären unmittelbaren Beziehungen, die dann auch alle höheren Gebilde bestimmen« (ebd.: 487), also die Basis sozialer Ordnung schaffen. Dies tun sie »nach zwei Seiten hin« (ebd.: 483), nämlich gleichzeitig auf einer subjektrelativen (leiblichen) Gefühls- und einer objektbezogenen Erkenntnisebene. Der optische, akustische oder olfaktorische Sinneseindruck löst beim Wahrnehmenden »Gefühle von Lust und Unlust, [...] von Erregung oder Beruhigung [...] durch seine [des Gegenübers; Anmerkung S.S.] bloße sinnliche Gegenwart in demselben Raume« aus. Diese subjektiven Empfindungen dienen zwar explizit »nicht zum Erkennen oder Bestimmen des Anderen« (ebd.: 484), sind analytisch also vom Verstehen des Anderen zu unterscheiden, ermöglichen aber einen ersten Zugang zu seiner Person, seiner »persönlichen Atmosphäre« (ebd.: 490). Beide Dimensionen der Fremdwahrnehmung, sowohl die sinnlich-affektive als auch die kognitive, sind in der sozialen Situation – und das ist wichtig – »zusammenwirksam und praktisch eigentlich unentwirrbar« (ebd.: 484). Leibliches Wahrnehmen und Erkennen/Verstehen sind somit untrennbar verbunden. Besonderen Stellenwert unter den Sinnen hat nach Simmel das Auge. Das »gegenseitige Sich-Anblicken [...] [ist] vielleicht [...] die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht«. Sie ist zwar zerbrechlich, denn sie »stirbt in dem Augenblick, in dem die Unmittelbarkeit der Funktion nachläßt«, aber auch nachhaltig: »[...] der ganze Verkehr der Menschen, ihr Sichverstehn und Sichzurückweisen, ihre Intimität und ihre Kühle, wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von Auge in Auge nicht bestünde [...]« (ebd.: 484). Somit erhält das Auge eine zutiefst soziale Funktion. Indem wir den anderen oder genauer sein Gesicht betrachten, erkennen wir sein Wesen. Dieses (bewusste oder instinktive) Erkennen »färbt unvermeidlich unsre momentane wie unsre dauernde Beziehung zu ihm« (ebd.: 485). Das Zusammenwirken von Auge und Gesicht ist somit eine der entscheidenden Quellen sozialer Verständigung in direkten vis-à-vis-Situationen, da der Blick des Einen jeweils den Anderen fokussiert, interpretiert und so wechselseitiges Verstehen auf einer präverbalen Ebene möglich wird: »Das Gesicht bewirkt, daß der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird« (ebd.). Mittels seines Gesichts als »Symbol« und »Ausdrucksorgan« (ebd.) wird der Andere in seiner Individualität erfasst, denn es ist der Körper als »unser erstes und unbedingtes Eigentum« – und das Gesicht hierbei im Besonderen –, »worin mein Ich sich ausdrückt und äußerlich realisiert« (ebd.: 281) und somit für den Anderen erkennbar wird. Aber auch der Wahrnehmende, Erkennende wird Objekt der Betrachtung durch das Gegenüber: »In dem Blick, der den anderen in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis« (ebd.: 484). Der Blick in das Gesicht des Anderen ist 42

DIE KLASSISCHE SOZIOLOGIE UND DER KÖRPER

gleichsam der Ort der Wahrheit, der Erkenntnis. Simmel nennt dies auch das »Wunder des ›Blickes‹« (ebd.: 487). Das Wundersame ist weiterhin das gegenseitige instinktive Erkennen, das aber »[n]ichts mit Begriffen Ausdrückbares, in einzelne Beschaffenheiten Zerlegbares« (ebd.: 485) meint, sondern ein

wechselseitiges gänzliches Erfassen des Gegenübers.13 Ein anderes Sinnesorgan, dem Simmel soziale Bedeutung zuspricht, ist das Ohr. Es erscheint zwar als das »egoistische Organ« (ebd.) schlechthin, da es im Gegensatz zum Auge nur nimmt und nicht gibt. Aber dennoch ist es für soziale Verständigung wichtig: Wechselseitige visuelle Wahrnehmung offenbart zwar das Dauerhafte, das »Zugleich aller Wesenszüge« (ebd.: 486), zum situativen Verstehen des Anderen aber – seines Handelns, Denkens, Fühlens – ist die akustische Wahrnehmung bedeutend, da sich Informationen darüber im Gesagten symbolisieren. Auge und Ohr sind demnach zum Zweck der sozialen Verständigung »im Ganzen doch auf die gegenseitige Ergänzung ausgelegt« (ebd.).14 Zuletzt befasst sich Simmel mit dem Geruchssinn, den er beim Subjekt der Wahrnehmung verortet: »Der Geruch bildet nicht von sich aus ein Objekt, wie Gesicht und Gehör es tun, sondern bleibt sozusagen im Subjekt befangen« (ebd.: 489). Gleichwohl sind die dadurch entstehenden »instinktmäßigen Antipathien und Sympathien« (ebd.) bedeutsame ›Rahmenbedingungen‹ sozialer Interaktion – sich verstehen ist also nicht zuletzt auch eine »Nasenfrage« (ebd.). Wenn wir jemanden riechen, ist das die »intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser SinnlichInneres ein« (ebd.) und löst ›Gefühle der Lust und Unlust‹ aus – Kommunikation hat also auch insofern eine leibliche Komponente. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Körper bei Simmel eine wesentliche Funktion in sozialen Interaktionen hat. Er ist »das primäre Deutungsobjekt im Fremdverstehen« (Raab/Soeffner 2005: 178) – Zeichenträger und Ausdruck der Individualität, des Wesens des Gegenübers. Der Körper ist aber nicht nur ein sinnlich Wahrgenommener, sondern immer zugleich auch sinnlich Wahrnehmender, quasi Subjekt des Fremdverstehens. Der gesehene Körper ist kenntnisvermittelndes Symbol, der sehende Körper ist erkennender Leib – damit geht Simmel implizit bereits vom phänomenologischen Leibkörper aus, also einem Zugleich von wahrgenommenem Objekt und wahrnehmendem Subjekt. 13 Dieses erste Erfassen des Anderen ist nicht objektiv greifbar: »Was aber jener erste Anblick seiner uns vermittelt, ist in solches Begriffliches und Ausdrückbares gar nicht aufzulösen und auszumünzen [...], sondern es ist das unmittelbare Ergreifen seiner Individualität« (Simmel 1968: 485). Vgl. hier wieder den Ansatz des sinnlich-spürenden, leiblichen Erfassens des Anderen, das auf einer anderen, bei Simmel zusätzlichen Ebene zum kognitiven Erkennen anzusiedeln ist. 14 Nur das gleichzeitige Sehen und Hören des Anderen knüpft eine enge und intime Bindung, wohingegen rein auf visueller Wahrnehmung basierende Einheiten abstrakt bleiben (vgl. ebd.: 488f.). 43

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Durch wechselseitiges sinnliches Wahrnehmen verständigen sich Individuen auf eine fundamentale Art und Weise, die durch keine Normen, Werte oder anderen sozio-kulturellen Konzepte erklärbar, geschweige denn ersetzbar wäre.15 Kurz: der Körper hat eine zentrale soziale Funktion, denn »es liegt auf der Hand, daß von dieser Struktur unserer Sinne und ihrer Objekte, soweit der Mitmensch ihnen solche bietet, die ganze Art des menschlichen Verkehrs getragen wird« (Simmel 1968: 486).16

2.2 George Herbert Mead – Der Organismus als Motor des Sozialen Wie Simmel schreibt auch George Herbert Mead (1863–1931) dem Körper eine entscheidende Bedeutung für Sozialität zu, geht aber noch über Simmel hinaus. Mead kann wohl als der Klassiker gelten, dessen Theorie am grundlegendsten von der Körperlichkeit des Menschen ausgeht. Denn nicht erst die soziale Situation der direkten Interaktion ist es, wo der Körper wirksam wird, sondern das gilt bereits auf einer viel fundamentaleren Ebene: Gesellschaft basiert bereits auf dem körperlichen Zugang zur Welt schlechthin. Mead, in dessen Sozialanthropologie der Körper physiologischer Organismus ist, schreibt diesem in einem ersten Schritt realitätskonstituierende Funktion für den Einzelnen zu. Der Organismus (d.h. das biologische Individuum) schafft sich seine Umwelt selbst.17 Nur was sinnlich wahrgenommen wird, ist real: Die Welt existiert für uns durch distanzierte visuelle Wahrnehmung zunächst

15 Und die grundlegende »Sinnlichkeit« unserer sozialen Beziehungen ist »nur mit der Natur des Menschen solidarisch [und nicht mit der Natur der Gesellschaft; Anmerkung S.S.]; aus den besonderen Bedingungen dieser fordern sie [d.h. die Beziehungen; Anmerkung S.S.] daher ihre Erklärung« (ebd.: 487). 16 Zwar liegt die Bedeutung des Körpers auf den ersten Blick bei Simmel in unmittelbaren vis-à-vis-Situationen, doch indem er die primären, sinnlich geprägten und damit körperlichen Beziehungen als Quelle »alle[r] höheren Gebilde« betrachtet, ist der Körper, wie eingangs zitiert, von fundamentaler soziologischer Bedeutung, wenn es um die Frage nach sozialer Interaktion geht. 17 Durch impulsgeleitete Reaktionen auf Reize aus seiner Umgebung bestimmt »der einzelne Organismus in gewissem Sinn durch seine Sensitivität seine eigene Umwelt« (Mead 1968: 291). Impuls ist bei Mead wie folgt definiert: »Ein Impuls ist eine angeborene Tendenz, unter bestimmten organischen Voraussetzungen in einer bestimmten Weise auf einen bestimmten Reiz zu reagieren« (ebd.: 387). Mead spricht explizit nicht von Instinkten als Quelle menschlichen Verhaltens. Impulse sind im Gegensatz zu Instinkten nicht unmittelbar verhaltenswirksam, determinieren den Menschen also nicht. Beispiele wären die allgemeine Orientierung an Objekten und Kontaktaufnahme mit diesen bzw. Manipulation derselben oder ›soziale Impulse‹ wie der »Fortpflanzungstrieb« oder der »Elterninstinkt« (vgl. ebd.: 181, Fußnote 2a; 399). 44

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als bloße »Hypothese« und erst durch direkten physischen Kontakt wird diese Hypothese Wirklichkeit (vgl. Mead 1968: 293).18 Innerhalb dieses Aneignungsprozesses, in dem wir in ständigem körperlichem Austausch mit der Umwelt stehen, entwickelt sich Bewusstsein – für die Dinge (vgl. ebd.: 170; Mead 1987a: 212f.) und für uns selbst (ebd.: 221; Mead 1987b: 99, 138). Wir setzen uns selbst in ein Wechselverhältnis zur Umwelt, und genau hier zeigt sich die soziale Bedeutung dieses körperlichen Zugangs zur Welt. Denn zum einen ist dieser Umweltzugang selbst sozialer Natur. »Menschliches Verhalten leitet sich aus Impulsen ab« (vgl. Mead 1968: 387), aber dieser durch unser biologisches Wesen initiierte Prozess ist abhängig von ›Reizquellen‹ in Form anderer Individuen, da der Einzelne seine Impulse »ohne die Hilfe eines oder mehrerer anderer Individuen nicht durchführen, offen ausdrücken oder befriedigen kann. Die physiologischen Verhaltensprozesse, deren Mechanismen sie darstellen, umfassen notwendigerweise mehr als ein Individuum« (ebd.: 181).19 Die Erfahrungen des Individuums sind nur durch andere, sich wechselseitig beeinflussende Individuen möglich (vgl. ebd.: 174). Zum anderen ist die Entwicklung eines Selbstverhältnisses bzw. -bewusstseins Bedingung dafür, dass ein Individuum sich anderer Individuen bewusst wird (ebd.: 299ff.). Durch ein reflexives Verhältnis zu unserem Körper und die damit einhergehende Abgrenzbarkeit gegenüber anderen Objekten und Subjekten in der Umwelt, als Voraussetzung von Identität, ist Sozialität als Intersubjektivität überhaupt erst möglich. Der Körper, d.h. der Organismus des Menschen, ist somit in einem ganz grundlegenden Sinn sozial.20 Kernstück von Meads Handlungstheorie ist nun die symbolisch vermittelte Kommunikation. Der Mensch ist als soziales Wesen fähig zu sozialkommunikativem Austausch und zugleich auf diesen angewiesen. Kommunikation ist deshalb das »Grundprinzip der gesellschaftlichen Ordnung« (ebd.: 299), wobei dies zunächst die nonverbale Verständigung über Gesten meint. Gesten oder Gebärden sind gleichsam die elementare Urform menschlicher Interaktion (vgl. Mead 1987a: 210). In der vis-à-vis-Situation fungieren sie als Bedeutungsträger, die (intuitiv oder bewusst) interpretiert werden und als Auslö18 »Die Dinge sind nicht real, so wie sie gesehen, gehört oder gerochen werden; sie sind real, wenn sie wirklich oder potentiell durch Kontakt erfahren werden« (Mead 1987b: 95; vgl. auch ebd.: 137). Hier zeigen sich deutlich Meads Wurzeln im amerikanischen Pragmatismus. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Mead’sche Definition sozialer Handlung: »Sozial ist eine Handlung, wenn in ihr ein Individuum durch sein Handeln als Auslösereiz für die Reaktion eines anderen Individuums dient« (Mead 1987a: 210). 20 Vgl. die Bezeichnung des körperlich vermittelten Welt- und Fremdzugangs als »physiologische Grundlage allen gesellschaftlichen Verhaltens« (Mead 1968: 181, Fußnote 2a; Hervorhebung S.S.). 45

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ser von Anpassungen des Interaktionspartners wirken (vgl. ebd.: 219). Ursprünglich sind Gesten insofern konkrete körperliche Ausdrucksbewegungen mit ausgehandelter Bedeutung, Symbole als Basis sozialer Verständigung. Als wichtigstes solcher Symbolsysteme erscheint aber die Sprache, daher erhalten auch die sprachlichen Symbole einen zentralen Stellenwert in der Mead’schen Sozialtheorie. Bei der Herstellung von Sozialität nehmen gerade vokale Gesten deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie selbstreflexive Antizipationsprozesse beim Sender und (komplexe) Deutungsleistungen beim Empfänger auslösen. Mead spricht hier von der »reflektiven Intelligenz« des Menschen (Mead 1968: 136ff.). Und auch im sprachlichen Austausch bleibt der Körper neben der körpervermittelten Form verbaler Gesten (Sprechen ist immer auch ein körperlicher Akt) insofern relevant, als sowohl diese selbstreflexiven Haltungen als auch die Haltungen, die durch das Verstehen der Gesten ausgelöst werden, keine rein mentalen, sondern ›Körperhaltungen‹ sind.21 Der Organismus ist Teil des Verstehensprozesses, indem jede Geste zuerst im Sender, dann im Empfänger/Reagenten eine Haltung im Organismus auslöst, die der eigentlichen Handlung bzw. Reaktion vorausgeht. Der Organismus, genauer: das Zentralnervensystem ist gleichsam die Voraussetzung intelligenten Verhaltens bzw. des Denkens.22 Denken ist bei Mead damit als ein im Organismus zu lokalisierender Prozess und nicht als substanziell-geistiges Werk einer körperlosen res cogitans zu verstehen; Bewusstsein ist immer schon mit Prozessen im zentralen Nervensystem verbunden und damit körperrelativ. Somit ist die Denkfähigkeit23 des Individuums eine immer auch durch den physiologischen Organismus bedingte, sich im Körper manifestierende Fähigkeit. Und indem der Auslöser hierfür immer eine Handlung im Sinne eines Reizes ist, wird Denken bei Mead gleichsam als interaktive »Praktik« konzipiert (Schmidt 2006: 301).

21 Vgl. Mead 1968: 112f., 136ff. Vgl. auch: »Der gesellschaftliche Prozess [...] wird tatsächlich in die Erfahrung des Einzelnen hereingenommen, so daß die Ereignisse wirksamer ablaufen können, weil sie gleichsam im Einzelnen erprobt wurden« (ebd.: 222; Hervorhebung S.S.). 22 Bei Mead heißt es: »Ein Mensch, der das Wort ›Feuer‹ ausruft, kann in sich selbst jene Reaktion auslösen, die er auch in anderen auslöst. Insoweit der Mensch die Haltung anderer Menschen einnehmen kann [...], macht diese Reaktion seinen eigenen Schrei, sein eigenes Verhalten gegenüber dem Verhalten der anderen zu einer geistigen Angelegenheit« (Mead 1968: 234; Hervorhebung S.S.). Geist oder Denken sind bei Mead somit keine rein mentalen Konzepte. 23 Gemeint ist damit hier die Fähigkeit des Individuums zur Interpretation gestisch und symbolisch vermittelter Informationen und Erwartungen des (generalisierten) Anderen mittels Perspektivenübernahme und Selbst-Objektivierung, eine Fähigkeit, die die Antizipation von Handlungsfolgen und auch die selbstbewusste Reflexion und Kontrolle des eigenen wie fremden Verhaltens/Handelns ermöglicht. 46

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Der daran anschließende zweite entscheidende Punkt im Mead’schen Interaktionismus ist die soziale Relevanz der Körpers, d.h. dass jede Art von kommunikativem Austausch letztlich immer körperlicher bzw. körperlich vermittelter (vokaler) Gesten und einer reaktiven, diesen Gesten erst ihren Sinn verleihenden Antwort des Gegenübers bedarf (Mead 1968: 118). Erst in der intersubjektiven Situation erhalten Äußerungen eine Bedeutung, Sozialität ist interaktionistisch konstruiert. Der Körper ist somit bei der Entstehung und Weitergabe gemeinsam geteilter Bedeutungen unhintergehbar, da diese in direkter Interaktion erzeugt/vermittelt werden und nur so eine gemeinsame Definition der Situation gelingen kann – kommunikativ vermittelte soziale Abstimmung also immer (auch) Abstimmung handelnder Organismen ist. Oder anders: In letzter Instanz ist es der Körper als Agens, der durch seine Äußerungen bzw. seine Reaktion darauf überhaupt erst Bedeutung und damit eine gemeinsame Definition der Situation generiert.24 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Körper in der pragmatistisch fundierten Sozialtheorie von Mead als in seiner Bedeutung für soziale Prozesse wesentlich berücksichtigt und »[...] als handelnder Organismus und damit als Agent von Wirklichkeitsgenerierung gedacht« wird (Klein 2005: 75). Nur durch die Dualität des Menschen als physiologischer Organismus und vergesellschaftetes Individuum wird man Mead zufolge den Grundlagen und der Komplexität des menschlichen Verhaltens als sozialen Handelns gerecht. Zum einen fundieren und realisieren körperlich-interaktive Prozesse erst geistige Prozesse der Verständigung – Denken als Funktion des Organismus. Zum anderen ist interaktives Handeln/Verhalten (und in diesem Sinne auch der Körper) die Basis sozialer Ordnung – diese muss im wahrsten Sinne des Wortes hergestellt werden.

2.3 Erving Goffman – Der dramaturgische Körper als Effekt und Agens sozialer Interaktion Der amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922–1982), ein »Klassiker der zweiten Generation« (Hettlage/Lenz 1991), zeichnet sich gegenüber den bisher dargestellten Klassikern durch seine primär mikroanalytische Perspektive aus.25 Fragen nach sozialer Verständigung sind mit ihm immer im Rah24 Joas (1989) spricht diesbezüglich von der »praktischen Intersubjektivität« bei Mead. 25 Goffman war bestrebt, die unmittelbare Interaktion als Realität sui generis (analog zu Durkheims Begriff des Sozialen bzw. des Kollektivbewusstseins) zu etablieren (vgl. Goffman 1994: 55; Knoblauch 1994: 33). Dabei konzentriert er sich auf die »Analyse banaler Prozesse im Mikrobereich« (Hettlage 1991b: 414). Goffman durchweg als Mikrosoziologen im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus zu interpretieren greift zwar sicherlich zu kurz. Situative Interak47

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men alltäglicher, direkter Interaktion zu beantworten. Diese ist die Grundeinheit der Goffman’schen Soziologie. Interaktion ist dabei stets die vis-à-visSituation, d.h. Situationen, »in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können« (Goffman 1994: 55). Dieses Reagieren findet primär als Austausch körperlich vermittelter Informationen statt und erst in zweiter Linie in Form verbaler Kommunikation (vgl. Meuser 2002: 28f.). Indem die Akteure wechselseitig aufeinander bezogen handeln, verständigen sie sich auf eine bestimmte, gemeinsam definierte Situation. Die körperliche Kopräsenz und das sinnliche Wahrnehmen des jeweils anderen sind konstitutive Bedingungen jeder Interaktion.26 Die ›Ordnung‹ ergibt sich dann durch ein (präreflexives) Interpretieren körperlicher Bedeutungen. Die körperliche Kommunikation ist elementar, weil sie unvermeidbar ist: »Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muß damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen; aber er kann nicht gar nichts sagen« (Goffman 1971b: 43).27 Der Körper, der bei Goffman an so zentraler Stelle steht, ist nicht der individuelle, biologische, sondern stets der vergesellschaftete; bei ihm ist der Körper nur als relationaler von Interesse und Bedeutung.28 Goffman geht es »nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen« (Goffman 1994: 9). Mit der sich damit ergebenden Außenperspektive auf den Körper bleibt das Subjektive im Sinne des Leiblichen jenseits soziologischer Analyse. Dieser im Goffman’schen Sinne ›interaktionistische‹ Körper fungiert vielmehr zum einen als Zeichen- oder Bedeutungsträger, zum anderen als Agens sozialer Verständigung: Der Körper ist immer der tionen sind in der Regel in spezifische Wissenskontexte, institutionell vorgegebene Regeln, Normen und Wertsetzungen eingebettet, welche die Perspektiven bzw. Situationsdefinitionen der Interagierenden und damit ihre Erfahrungen ›organisieren‹ (vgl. Goffman 1980; vgl. auch die Darlegung des Einflusses von Durkheim auf Goffman in Lenz 1991). Goffman verbindet vielmehr als »Paradigmenklammer« (Hettlage 1991b: 419) die interpretative mit der strukturellen Perspektive (Hettlage 1991a). Im Folgenden soll der Fokus aber auf die situative Aushandlung von Bedeutung und Herstellung von Ordnung gelegt werden. 26 »Das Band zwischen bloßen Sinnen auf der einen und körperlicher Übermittlung auf der anderen Seite stellt eine der entscheidenden Kommunikationsbedingungen der Interaktion von Angesicht zu Angesicht dar [...] jeder Sender ist zugleich auch Empfänger und jeder Empfänger ist zugleich auch Sender« (Goffman 1971b: 26). 27 Vgl. auch Watzlawicks erstes Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick et al. 1990: 50ff.). 28 »Ich setze voraus, daß der eigentliche Gegenstand der Interaktion nicht das Individuum und seine Psychologie [und Physiologie; Anmerkung S.S.] ist, sondern eher die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen [oder, genauer, deren Körpern; Anmerkung S.S.]« (Goffman 1971a: 8). 48

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eines Rollenträgers, d.h. er ist von vornherein symbolische Objektivation seiner sozio-kulturellen Prägung. In Optik, Gestik und Mimik repräsentiert er die soziale und personale Identität seines Besitzers (vgl. z.B. Goffman 1971b: 42). Der Körper wird hier als gesellschaftlich überformtes bzw. nur durch soziale Bedeutung relevantes Körperding erfasst, das in der Wahrnehmung der Interaktanten immer schon auf ein bestimmtes Innen zu verweisen scheint.29 Damit verbunden ist die zweite Wirkung des Körpers als Generator von Sozialität, als expressiv nutzbares Medium. Mittels teilweise intendierter, teilweise nicht-intendierter dramaturgischer Akte stellen wir uns vor anderen (und auch vor uns selbst) dar, sind präsent. Indem wir den zeichenhaften Körper sprechen lassen bzw. verstehen, erzeugen wir Wirklichkeit. Jeder Ausdruck, jede Geste, jede Handlung ist damit auch ein Akt sozialer Verständigung und – je nach Kontext mehr oder weniger elementares – Konstituens sozialer Ordnung. Zwar differiert die Relevanz körperlichen Austauschs beispielsweise zwischen der Notwendigkeit sozialer Abstimmung in überfüllten Bahnhöfen oder Fußgängerzonen einerseits30 und geschäftlichen Meetings, Vorträgen o.Ä. andererseits. Aber gleich welche Rahmenbedingungen Prozesse sozialer Verständigung haben, körperliche Kommunikation (jedoch nicht leibliche Kommunikation wie etwa bei Schmitz) ist für Goffman unhintergehbarer Bestandteil von vis-à-vis-Interaktion. Dabei ist jede Form der Körpersprache eine konventionalisierte, normative Unterhaltung.31 Eine notwendige Voraussetzung dieser Unterhaltung ist die Disziplinierung. Um in sozial erwünschter Weise agieren zu können, muss der Einzelne seine Bewegungen und seinen Ausdruck kontrollieren, nur so ist die Her- und Sicherstellung der Interaktionsordnung (d.h. der sozialen Ordnung auf Mikroebene) zu gewährleisten (vgl. Goffman 1971b: 35ff.). Hier wird wieder der analytische Fokus Goffmans auf normative Reglementierungen von Körpern und Körperhandlungen in der sozialen Interaktion deutlich. Es geht primär um die für soziale Ordnung konstitutiven Regeln, die eben auch und nicht zuletzt am Körper der Akteure ansetzen, und weniger um leiblich-körperliche Abstimmung als Metaebene sozialer Interaktion. Insgesamt wird an all diesen Punkten deutlich, dass bei Goffman der Körper als von außen wahrnehmbarer Bedeutungsträger sozial relevant erscheint, der als solcher entweder von anderen gedeutet oder vom Subjekt expressiv eingesetzt wird. Der dramaturgische Körper ist ein kontrollierter, gedeuteter, ein 29 Damit knüpft Goffman implizit an die Plessner’sche Exzentrizität des Leibkörpers an, die eben dieses (gesellschaftlich auszugestaltende) Verweisungsverhältnis von körperlichem Außen und leiblichem Innen mit sich bringt. 30 Vgl. zur körperlichen »Intentionskundgabe« und »Abtastung« im Fußgängerverkehr Goffman 1974: 30ff. 31 »Das heißt, für alle besteht die Verpflichtung, im Zusammensein mit anderen bestimmte Informationen zu geben, bestimmte andere Eindrücke aber keinesfalls zu vermitteln – so wie ja auch eine bestimmte Erwartung darüber herrscht, wie sich andere zu repräsentieren haben« (Goffman 1971b: 43). 49

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sich in Szene setzender und Identität (re-)produzierender Körper, stets bedeutsam für praktische Intersubjektivität. Allgemein kann man sagen: Der Körper als Produkt von Gesellschaft (der Körper als repräsentierender Zeichenträger) ist Bedingung für seine Funktion als Produzent des Sozialen (der Körper als inszenierendes Agens). Letztendlich bleibt bei Goffman aber der Austausch von (präreflexiv) zu verarbeitenden Informationen, die an bereits vorhandenes Deutungs- und Performanzwissen der Akteure anknüpfen, für die Herstellung sozialer Ordnung ausschlaggebend: »Und in der Tat ist die Kenntnis und das Verständnis einer gemeinsamen Körpersprache ein Grund dafür, eine Ansammlung von Individuen als Gesellschaft zu bezeichnen« (ebd.: 43).

2.4 Norbert Elias – Der disziplinierte Körper als Voraussetzung sozialer Koordination In der Darstellung klassischer Theorien ist bisher ein Aspekt immer wieder relevant gewesen: der zivilisierte, d.h. disziplinierte und kontrollierte Körper. Die Frage, wie genau der Körper kulturell und sozial geformt wird, ist jedoch kein zentraler Gegenstand handlungstheoretischer Ansätze. An dieser Stelle ist auf herrschafts- und machttheoretische Analysen zu verweisen, die sich für diesen Aspekt der Formung des Körpers interessieren. Stellvertretend soll hier stichpunktartig auf Norbert Elias (1897–1990), den »Klassiker der Soziologie des Körpers schlechthin« (Gugutzer 2004: 92), und seinen handlungstheoretisch interpretierbaren Beitrag zu körpervermittelter Interaktion hingewiesen werden.32 Elias legt in seinem Hauptwerk »Über den Prozeß der Zivilisation« eindrücklich den historischen Weg hin zu einem triebund affektregulierten Körper dar (Elias 1969a, b). Der in diesem Sinne zivilisierte Körper, ein »beständiges und genau geregeltes An-sich-Halten« (Elias 1969a: 320), ist einerseits Effekt, andererseits selbst Voraussetzung von Kultur und Sozialität. Einhergehend mit zunehmender Bevölkerungsdichte und funktionaler Differenzierung werden die Menschen immer abhängiger voneinander. Elias nennt dies die Verlängerung der Interdependenzketten (vgl. Elias 1969b: 312ff.), als deren Folge ein Zurückdrängen des Körpers in seiner (vermeintli32 Gegenüber dem Körper als Agens, wie er hier im Fokus des Interesses steht, wird der Körper im machttheoretischen Kontext als kulturelles Produkt thematisiert. Gleichwohl hat beispielsweise auch die modernisierungstheoretische Analyse des disziplinierten Körpers bei Elias handlungstheoretische Implikationen, auf die hier deshalb zumindest skizzenhaft hingewiesen werden soll. Selbstverständlich müsste man hier auch machttheoretischen ›Klassikern‹ wie Michel Foucault oder Pierre Bourdieu einen angemessenen Raum geben, was ich aus Platzgründen aber unterlasse und nur auf deren Bedeutung für die (nicht zuletzt interaktionistische) Soziologie des Körpers hinweise (vgl. hierzu u.a. Shilling 1993; Meuser 2002; Gugutzer 2004; Klein 2005). 50

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chen) Naturhaftigkeit und eine (Selbst-)Regulierung desselben unabdingbar sind. Der Körper und mithin das Triebhafte, Affektive, kurz: alles Subjektive gilt als ›Störfaktor‹ für gelingende Interaktion und muss demnach der Macht unterworfen werden – zunächst von außen, dann von innen. Gerade weil Elias, genau wie beispielsweise Goffman, der Körper nur als sozialer, relationaler, d.h. immer in seinen intersubjektiven Bezügen interessiert, liegt der Fokus in seinen Studien auf dem Übergang von Fremd- zu Selbstzwängen. Der Einzelne übt, eingebunden in den zivilisatorischen Rahmen gesellschaftlicher Erwartungen und Regulierungen, selbst Macht über seinen Körper aus. Nur so kann ihm Abstimmung mit anderen gelingen. Dies lässt sich am Beispiel des Straßenverkehrs veranschaulichen: Soziale Abstimmung in diesem Rahmen ist darauf angewiesen, dass »[...] jeder Einzelne sein Verhalten entsprechend den Notwendigkeiten dieser Verflechtung aufs genaueste selbst reguliert« (ebd.: 318). Kurz: Moderne Gesellschaften (bzw. Individuen) machen sich den Körper untertan – und sind gleichzeitig darauf angewiesen, um eine geregelte, ›zivilisierte‹ soziale Ordnung zu gewährleisten. Interessant ist hier auch der Bezug zu den Klassikern der ersten Generation: Wenn z.B. Durkheim die These einer Dualität des Menschen vertritt, deren zwei Pole Seele und Körper darstellen, so veranschaulicht Elias, wie es im diachronen Prozess der Rationalisierung zu einer solchen Auffassung des Körpers als Niederes, als »Profanes«, der zugunsten der Kognition zurückgedrängt werden soll, überhaupt erst kam (vgl. Elias 1969b: 377ff.).

3 Der Körper in klassischen soziologischen Handlungstheorien – Resümee und Ausblick Der rote Faden dieses lediglich kursorischen Überblicks war die Frage, wie etablierte Theorien die Tatsache unserer Körperlichkeit für Prozesse sozialer Interaktion bewerten und welchen Beitrag sie für die handlungstheoretische Körpersoziologie leisten. Ein erstes Fazit ist die tendenzielle Vernachlässigung des Körpers bei einigen ›Gründervätern‹. Sowohl Weber als auch Durkheim betrachten den Körper als vorsozial und eher hinderlich für Interaktionen. Körperlichem und Leiblichem wird alle Sinnhaftigkeit abgesprochen, es wird der Natur – als Nichtort des Sozialen – zugeordnet. Der Körper als das Natürliche des Menschen muss zuerst diszipliniert, unterdrückt, sozial verträglich gemacht werden. Soziale Abstimmung findet auf geistiger Ebene statt. Bei Simmel, Mead, Goffman und auch Elias spielt der Körper dagegen eine zentrale Rolle in sozialen Prozessen, wenn auch in unterschiedlicher Form. Simmel betont die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit und das Interpretationspotenzial als Basis von Wechselwirkungen (der sinnliche Körper als Mittler zwischen den Individuen). Bei Simmel finden sich zudem auch Ansätze eines sinnlich-spürenden Erfassens des Anderen und damit einer leibbasierten sozia51

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len Verständigung. Mead hebt die Grundsätzlichkeit unseres körperlichen Zugangs zur Welt und der basalen körpervermittelten Kommunikationsmechanismen durch Austausch von Gesten hervor (der Körper als Initiator sozialer Prozesse). Und Goffman schließlich zeichnet sich durch seine intensive Analyse körperlicher Facetten direkter Interaktionen aus. Bei ihm repräsentiert der Körper zum einen die Identität seines Besitzers und in einem umfassenderen Sinn die soziale Ordnung (der Körper als Zeichenträger) und fungiert zum anderen als Bedeutungsgenerator gemeinsam geteilter Wirklichkeit, indem er selbst mittels Gesten, Haltungen etc. kommuniziert, inszeniert und etwas bedeutet (der Körper als Produzent von Gesellschaft). Schließlich weist Elias ergänzend auf die Bedeutung des zivilisierten, also gesellschaftlich geformten Körpers/Leibes für die Herstellung sozialer Ordnung hin (der Körper als Produkt von Gesellschaft). Trotz über weite Strecken fehlender systematischer Berücksichtigung im Rahmen mikrosozialer Koordinationsprozesse erscheint der Körper, wie stellvertretend an den hier dargestellten Ansätzen gezeigt werden konnte, also durchaus in der klassischen Soziologie – und zwar als Produkt von Gesellschaft (Zeichenträger, Objekt kultureller Formung) und als Produzent von Gesellschaft (Konstituens sozialer Situationen).33 Gleichwohl ist aber nicht zu übersehen, dass die genannten Ansätze nicht den Mainstream soziologischen Denkens repräsentieren. Auch in dem auf Mead Bezug nehmenden Symbolischen Interaktionismus wird gemeinhin nicht auf die körperliche Fundierung sozialer Interaktion rekurriert. Des Weiteren findet aber auch das Körperliche im Sinne des empfindsamen Leibes kaum systematische Beachtung. Vorwiegend gilt diese Dimension des Leiblichen entweder als Störfaktor sozialen Handelns (Durkheim, Weber) und damit als Ziel disziplinarischer Maßnahmen (Durkheim, Elias) oder sie wird gar nicht eigens thematisiert wie bei Mead, der vom physiologischen Organismus und nicht vom empfindsamen Leib ausgeht,34 oder bei Goffman, der sich für 33 Festzuhalten ist dabei die Beobachtung, dass dem Körper, wird er in seiner sozialen Relevanz erkannt, diese grundsätzlich in direkter Interaktion zugeschrieben wird. Es sind vorwiegend die alltäglichen vis-à-vis-Situationen, in denen der Körper präsent und wichtig erscheint. Er wird dadurch in die Sphäre des Konkreten, Direkten, Unvermittelten verwiesen. In der symbolvermittelten Kommunikation unter Nichtanwesenden steht er nicht im analytischen Fokus. Der Körper ist hier zwar nicht gänzlich auszuschließen, fungiert er doch als Erzeuger vokaler Gesten oder ist als Erfahrender Ausgangspunkt allen Verstehens (Mead), dennoch werden diese Aspekte bezüglich indirekter Interaktion in den hier vorgestellten Theorien selbst nicht thematisiert bzw. marginalisiert. Vgl. zu einem weiteren Aspekt der Bedeutung des Körpers im sprachlich-symbolischen Austausch und damit auch in indirekter Interaktion den zweiten Beitrag von Stadelbacher in diesem Band. 34 Geht man von Meads Körperverständnis aus, so ist anzunehmen, dass er auf die Erkenntnisse der Neurowissenschaft Bezug nähme, würde er seine Schriften heute verfassen. 52

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die situativen Aspekte interessiert und damit eine Außenperspektive auf soziale Abstimmung einnimmt, die den Blick auf subjektives Empfinden verdeckt. Leibliches kommt hier höchstens als zu deutender körperlicher Ausdruck vor, ihm selbst wird aber keine Relevanz für das Soziale zugeschrieben bzw. leibliches Wahrnehmen des Anderen wird nicht konzeptuell als Modus der Verständigung erfasst. Von sinnlich-leiblichem Erfassen des Anderen, von Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty 1966: 218ff.), Einleibung (Schmitz 1994: 123ff.; 2003: 39ff.) o.Ä. ist in den klassischen handlungstheoretischen Ansätzen nicht die Rede. Eine Ausnahme bildet hier Simmel, bei dem zumindest ansatzweise das Subjektive im Sinne eines vorreflexiven, sinnlich vermittelten Zugangs zum Anderen, der »unmittelbar in das Geschehen [...] aufgelöst« (Simmel 1968: 484) bleibt, als sozial relevant herausgestellt wird. Jedoch bleibt dieses leiblich-spürende Element analytisch auf das wahrnehmende Subjekt begrenzt und damit außerhalb der eigentlichen Interaktion. Leiblichem Wahrnehmen selbst wird bei Simmel somit keine erkennende bzw. verstehende Bedeutung zugeschrieben. Damit wird eines ganz deutlich: Der Körper, auch und gerade dort, wo er für Verständigung konzeptuell Beachtung findet, ist und bleibt weitgehend physiologisches Substrat bzw. Objekt des sozialen Austauschs, der Leibkörper als Subjekt der Interaktion steht nicht im Zentrum. Vor diesem Hintergrund wird erst deutlich, worin letztlich Weiterführungen und Neuorientierungen einer körperlichen Fundierung des Sozialen liegen (können). Es geht nicht um die Entdeckung des Körpers, sondern um den Stellenwert, der dem Körperlichen in der Konstitution des Sozialen zugesprochen wird. Für eine solchermaßen erweiterte Perspektive lässt sich an das Konzept des praktischen Erkennens von Pierre Bourdieu (1930–2002) anschließen.35 Bourdieu gilt als einer der Körpersoziologen schlechthin, da er in seiner praxeologischen Soziologie dem Leib einen prominenten Platz einräumt. In seinem Werk lassen sich dabei zwei Erkenntnisinteressen ausmachen. Zum einen thematisiert Bourdieu den Leib als habituelle Struktur. Das Habitus-Konzept verweist auf die gesellschaftliche Konstituiertheit leibgebundener, genauer: leibgewordener Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen – Leib und Körper (als dessen Ausdruck) als »Interiorisierung der Exteriorität« (Bourdieu 1976: 147; vgl. auch ders. 1982), als Sitz und Zeichen sozialer Verortung. Zum anderen verweist Bourdieu mit dem sens pratique auf einen grundlegenden Erkenntnismodus anthropologischer Dimension. Am Anfang steht dabei die Annahme einer »körperlichen Erkenntnis« (Bourdieu 2001: 165ff.) der Welt. Bourdieu knüpft hier implizit an die »Intentionalität des Lei35 Im Unterschied zu Meuser (2002) ziehe ich keine direkte Linie von Mead und Goffman zu Bourdieu, da sonst das meiner Meinung nach systematisch Andere des leibbasierten sozialen Handelns aus dem Blick gerät. 53

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bes« bei Merleau-Ponty an (Merleau-Ponty 1966: 165ff.). Bei diesem heißt es: »Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes« (ebd.: 167f.), und weiter: »Mein Leib hat seine Welt [...], ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›SymbolFunktion‹ unterordnen zu müssen« (ebd.: 170). Die aus dem Wirken entstehende leibliche Gewohnheit bezeichnet ein »Wissen [...], das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnung übertragen zu lassen« (ebd.: 174). Ohne auf Bewusstwerdung angewiesen zu sein, ist es unser Leib, »der unserem Leben die Form der Allgemeinheit gibt und unsere personalen Akte zu festen Dispositionen verlängert« (ebd.: 176). Hier wird die Ähnlichkeit von Merleau-Pontys Überlegungen zu Bourdieus Habitus-Begriff deutlich. Während Merleau-Ponty seine Ausführungen zur Gewohnheit in erster Linie am Beispiel der Motorik darstellt, weist er doch auch auf die Bedeutung für unser Denken und Wahrnehmen hin (ebd.: 177). Diese generelle Perspektive des habituellen ›Zur-Welt-Seins‹ greift Bourdieu – wenn auch nicht explizit mit Bezug auf Merleau-Ponty36 – systematisch auf. Der ›sens pratique‹ als »leibliche Absicht auf die Welt, die weder eine Vorstellung vom Leib noch von der Welt [...] voraussetzt, [...] leitet [...] ›Entscheidungen‹, die zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch [...] sind« (Bourdieu 1987: 122). Damit wendet Bourdieu den habituellen Leib handlungstheoretisch und macht ihn für eine interaktionistische Perspektive fruchtbar. Denn soziale Ordnung wird nun durch das leibgewordene – und damit durchaus wörtlich zu nehmende – Gespür, die Intuition für soziale Strukturen und Regeln erklärt. Immer in Relation zu sozialen Feldern zu denken, wirkt dieses Gespür als praktischer Glaube an die Sinnhaftigkeit des Spiels (illusio). Voraussetzung für soziale Ordnung ist somit zum einen dieser gemeinsam geteilte Glaube, der »kein ›Gemütszustand‹ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren [ist], sondern [...] ein Zustand des Leibes« (ebd.: 126; Hervorhebung im Original), und zum anderen die praktische Beherrschung der jeweils gültigen Spielregeln.37 Verstehen und soziale Abstimmung basieren demnach nicht auf Interpretation verbaler oder körperlicher Gesten, sondern auf von vornherein leiblicher Intersubjektivität im Sinne gemeinsam geteilter typischer Dispositionen und sind damit intuitives, nichtreflexives Verstehen und Abstimmen aufeinander. Dabei ist die leibliche Verständigung mittels habitueller Dispositionen nicht auf »motorische Schemata und automatische Körperreaktionen« (ebd.: 127) beschränkt, sondern manifestiert sich auch in der Art und Weise des »Redens, Gehens und damit des Füh36 Dennoch beschreibt Wacquant Bourdieu als »soziologischen Erben« MerleauPontys (Bourdieu/Wacquant 1996: 41), der dessen subjektiv-leiblichen Weltzugang um die objektiv-soziale Komponente erweitert. 37 Dieses praktische know-how entspricht weitgehend dem, was Polanyi als implizites Wissen (›tacit knowledge‹) bezeichnet (Polanyi 1966). 54

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lens und Denkens« (ebd.: 129; Hervorhebung im Original). Der so verstandene soziale Sinn umfasst kognitive, evaluative, affektive, motivationale und motorische Schemata und ist als solcher handlungs- und deutungskonstitutives Prinzip sozialer Abstimmung in Form praktischen Verstehens und »geregelter Improvisationen« (Bourdieu 1976: 170).38 Sozialer Sinn ist damit nicht (allein) auf die Unterscheidung in präreflexives, habitualisiertes Tun einerseits und rationalkognitive, interpretative Reflexion andererseits reduzierbar, sondern adressiert die Ebene der leiblich basierten, wenn auch durchaus bewusstseinsfähigen Verständigung, wobei dieses Bewusstsein im Bereich von Intuition oder Gespür und damit quer zu bzw. neben den oben erwähnten Modi des Zugangs zum Anderen liegt.39

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Fundierende Ebenen der Koorientierung und der Handlungskoordination JENS LOENHOFF

1 Einleitung Richten sich die Forschungsinteressen auf Phänomene der Koorientierung und der symbolgesteuerten Interaktion, sei es in grundlagentheoretischer Absicht, sei es, um soziale Abstimmung in Prozessen der Handlungskoordination empirisch und anwendungsorientiert zu untersuchen, ist nicht nur die Frage zu beantworten, wann es sich überhaupt um entsprechende Prozesse der »Abstimmung« handelt, sondern auch, welche ihre konstitutiven Bedingungen und ihre beobachtbaren Realisierungsformen darstellen. Prima facie gilt die sprachliche Alltagskommunikation als bevorzugter Modus solcher Abstimmungsprozesse. Doch sind diese Formen der Handlungskoordination bereits hochgradig voraussetzungsvoll. Ihnen unterliegen immer schon Formen der Koorientierung, die nicht nur vor, sondern auch mit und neben der Handlungskoordination bestehen oder die ihr Potenzial als vollkommen eigenständige Interaktionsmodi entfalten und auf diese Weise die vollständige oder partielle Suspendierung verbaler Kommunikation ermöglichen, da sich die Abstimmung der Akteure durch wechselseitiges Wahrnehmen, Körperkontakt und Körperbewegung (Arbeiten »Hand in Hand«, Sport, Tanz, Sexualität etc.) vollzieht.1 Das hier zu beobachtende komplexe Zusammenspiel zwischen rein körperbezogenen und explizit 1

Bereits Schütz hat derartige präsymbolische Abstimmungsprozesse als Fundamente der Kommunikation identifiziert und als »mutual tuning-in relationship« bezeichnet: »It is precisely this mutual tuning-in relationship by which the ›I‹ and the ›Thou‹ are experienced by both participants as a ›We‹ in vivid presence. [...] It appears that all possible communication presupposes a mutual tuning-in relationship between the communicator and the addressee of the communication« (Schütz 1964: 161ff.). Siehe dazu auch den Beitrag von Silvana Figueroa-Dreher in diesem Band. 59

JENS LOENHOFF

symbolischen Koorientierungs- und Abstimmungspraxen stellt Beteiligte wie wissenschaftliche Beobachter nicht selten vor das Problem der Unterscheidung zwischen Kommunikationsofferten und nichtsymbolischer Handlungsbeeinflussung, ein Problem, das von den Interaktanten wiederum strategisch ausgebeutet werden kann. So unterscheidet sich der nur angedeutete bzw. vorgetäuschte Uppercut, der im Boxring den Gegner ausweichen lässt und in die gewünschte Position steuert, um ihn besser treffen zu können, in seiner semiotischen Funktion vom direkten und überraschenden Schlag, der den Konkurrenten unvermittelt bzw. »asemiotisch« niederstreckt.2 Technische Raffinesse zeigt sich im Boxsport, aber natürlich nicht nur dort, im geschickten In- und Nebeneinander solcher symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken. Gelten Prozesse der Verhaltensabstimmung und der Handlungskoordination unter der Bedingung der Anwesenheit der Beteiligten als eine in besonderem Maße körperabhängige Form des Sozialen, so sind diese nur unter Berücksichtigung der fundierenden Ebenen in Gestalt der sensomotorischen Leistungen des Körpers und der spezifisch humanen körperlich-leiblichen Strukturen bestimmbar. Dabei kann es aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive nicht um ein physiologisches Verständnis vitaler Funktionen gehen, sondern um das Verständnis der eigentümlichen leiblich-körperlichen Fundamente von Sozialität, Interaktion und Kommunikation, deren elementare intersubjektivitätstheoretische Dimension bereits von Autoren wie Bühler, Plessner, Gehlen, Merleau-Ponty u.a. erkannt und in ihren Überlegungen auf je unterschiedliche Weise bestimmt worden ist. Um empirische Analysen vom Potenzial dieser Arbeiten profitieren zu lassen, ist es jedoch notwendig, deren Erkenntnisse hinsichtlich der Frage nach Koorientierung und Handlungskoordination zu spezifizieren und zu einem angemessenen Ansatz zu synthetisieren. Dies erfordert neben der Rekonstruktion des Funktionszusammenhangs von Wahrnehmen und Bewegen die Bestimmung der Handlungs- bzw. Interaktionsrelevanz sensomotorischer Systeme und deren Inanspruchnahme im Kontext von Koorientierung und Kommunikation.

2 Theoretische Hintergründe Vor dem Hintergrund der pragmatistischen Überzeugung, dass Akteure zunächst nicht einer objektivierten Welt gegenüberstehen, sondern sich vielmehr in ihr immer schon praktisch hantierend und kommunizierend bewegen, sind sprachliche Formen der Bezugnahme und explizites Wissen bereits sekundäre 2

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Vgl. auch die kurzen Bemerkungen über den Boxkampf und das Fechten bei Mead (1934), die allerdings zunächst von bewusstseinspflichtigen Abstimmungsprozessen absehen, um von dort her zur Aufklärung der Genese signifikanter Gesten zu gelangen.

FUNDIERENDE EBENEN DER KOORIENTIERUNG

Vergegenständlichungen und Entindexikalisierungen dieser Praxis. Für die Identifikation der Fundamente von Koorientierung und Handlungskoordination bedeutet dies die Notwendigkeit der begrifflichen Rückführung sozialer Phänomene auf primäre Erfahrungen und praktische Sozialität, die sich selbst als performative Kooperationsprozesse erweisen. Vor allem die von Mead (1934, 1938) und Dewey (1896, 1929) vorgenommenen Analysen einer solchen »primären Sozialität« konnten zeigen, dass und inwiefern die Reflexion der Eigenschaften konkreter Objekte und Gegenstände aus scheiternden Handlungsfolgen erwächst und wie sie sich auf dem Wege eines Innehaltens zu wohlumgrenzten Erwartungen, Einstellungen, Kategorisierungen etc. ausbilden.3 Joas (1996: 246) hat einschlägig rekonstruiert, dass und inwiefern der Verdrängung des Körpers aus der handlungstheoretischen Begriffsarchitektur ein rationalistisch verengtes Situationsmodell korrespondiert, in das zwar Mittel und Bedingungen als kontingente Parameter der Situation eingehen, nicht aber jene konstitutiven Größen, die die Interaktionssituation selbst in Form von Handlungsfähigkeiten und -dispositionen überhaupt erst erzeugen. Vor allem in monologisch-intentionalistisch orientierten Handlungsmodellen sind die instrumentelle Sicht des Körpers und ein dieser Perspektive unterliegender Cartesianismus dominant geblieben.4 Theorien des Sozialen suspendieren in der Regel die Explikation körperlicher Vermögen und begnügen sich mit dem Begriff der Handlung, um auf interaktionsrelevante sensomotorische Leistungen und deren wechselseitiges Verschränkungsverhältnis zu verweisen. Doch haben nicht nur rationalistisch verengte Handlungstheorien, sondern auch die sich als Alternative verstehende Theorie sozialer Systeme ihre Schwierigkeiten mit der Rolle des Körpers im interaktionalen Kontext. Trotz des theoriearchitektonisch hierfür reservierten, aber weitgehend unterbestimmten und offensichtlich provisorischen, von Maturana und Varela übernommenen Begriffs der »Interpenetration« (Luhmann 1984: 286ff.), oder gerade mit ihm, abstrahiert die Systemtheorie von der Frage, welche spezifischen sensomotorischen Leistungen Kommunikationsprozesse voraussetzen müssen, um sich bzw. ihre Autopoiesis überhaupt fortsetzen zu können.5 Schließlich hängt die 3

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Man denke hier auch an die aufschlussreiche Deskription primärer Erfahrung und die damit verbundenen frühen Überlegungen zum Reflexbogenmodell bei Dewey (1896), die schon die Fundamente einer Theorie der Handlungskoordination enthalten. Siehe dazu auch Joas (1996), Loenhoff (2001) und Renn (2006b). Inspiriert durch Mead und Dewey kritisiert auch Gehlen die »[...] folgenreiche Überlastung des Verstandes mit Leistungszumutungen, die ganze falsche Intellektualisierung des Sinneslebens und endlich, zuhöchst, die Nichtbeachtung der Handlung in der gesamten Lehre von der Erkenntnis« (Gehlen 1940/1997: 180f.). Luhmann erledigt das Problem mit folgender Bemerkung: »Körper fordern wechselseitig ihre Reduktionsmöglichkeiten heraus. Sie können dies, wenn sie je eigene Komplexität präsentieren, vor allem im Sinne räumlicher Bewegungs61

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Offensichtlichkeit des Wahrnehmungsverhaltens und damit die Produktion anschlussrelevanter Unterschiede, wie der Vergleich zwischen visuellen, auditiven und taktil-haptischen Wahrnehmungssystemen schnell verdeutlicht, mit der unterschiedlich starken Beteiligung des Körpers und der Beweglichkeit von Körperpartien zusammen, die – zumindest gemäß den in unserer kulturellen Lebensform institutionalisierten Attributionsmustern – zur Zuschreibung von Intentionalität bzw. zur Behandlung von Äußerungen als beabsichtigte Kommunikationsofferten Anlass geben. Insofern verdeutlicht die Notwendigkeit sensomotorischer Aktivität für die Behandlung von Anwesenden als Interaktionspartner einmal mehr die kommunikative Funktion der je unterschiedlichen Kontrollmöglichkeiten spezifischer Teilsysteme der Sensomotorik, wirft aber zugleich auch die Frage auf, wie genau die Leistungsdifferenz der Wahrnehmungs- und Bewegungssysteme zur Fortsetzung der Kommunikation in Anspruch genommen wird. So kommt es in der Folge der cartesianischen Grundkonstruktion und der Präferenz für einen phänomenologisch inspirierten Sinnbegriff auch im systemtheoretischen Zugriff zu einem Bruch zwischen der Bestimmung der genuin sozialen Bedingungen von Handlungskoordination einerseits und ihrer jeweiligen sensomotorischen Bedingtheit andererseits. Wie die hinreichende Bestimmung der faktisch emergenten Strukturen von Interaktionssystemen gelingen soll, die nicht zuletzt von solchen Verwirklichungsbedingungen abhängen, bleibt offen. Erst wenn das Bewusstsein als ein verkörpertes begriffen wird, kann geklärt werden, wie ein solches Bewusstsein überhaupt als Adressat für Handlungszurechnung bemerkt werden kann. Gemeinsamer Nenner anticartesianischer Handlungs- und Sozialtheorien ist demgegenüber die These, dass der Körper als Fundament von Handlungsorientierungen jeder expliziten Repräsentationsbeziehung, Proposition oder Regelformulierung zugrundeliegt. In Bezug auf vorbegriffliche Intentionalität des Körpers und die damit verbundene Einsicht, dass entsprechende Dualismen keine Theorie menschlichen Handelns fundieren können, formuliert bereits Merleau-Ponty: »L’expérience motrice de notre corps n’est pas un cas particulier de connaissance; elle nous fournit une manière d’accéder au monde et à l’objet, une ›praktognosie‹ qui doit être reconnue comme originale et peut-être comme originaire. Mon corps a son monde ou comprend son monde sans avoir à passer par des ›représentations‹, sans se subordonner à une ›fonction symbolique‹ ou ›objectivante‹« (1945: 164).6 Durch den Rückgang auf

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möglichkeiten, und damit Konditionierbarkeit ihrer selbstgeleisteten Reduktion in Aussicht stellen« (1984: 333). »Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns eine Art und Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen, eine ›Praktognosie‹, die es als eigenständig, vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt. Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den

FUNDIERENDE EBENEN DER KOORIENTIERUNG

die vorreflexiven Orientierungsleistungen des Körpers wird die Gegenüberstellung einer primordialen leiblichen Orientierung einerseits und der die Koorientierung und die Handlungskoordination steuernden symbolischen Strukturen andererseits unterlaufen, da auch diese in der körperlich-leiblichen Sphäre verankert sind.7 Insofern Verstehen selbst schon als praktisches Können inkorporiert ist, erscheint der Körper auch nicht als das Instrument des Handelns.8 Ein solches »stillschweigendes«, nichtartikuliertes Verstehen ist nämlich gegenüber allen sprachlichen Explikationen primär, da Repräsentationen nur vor dem Hintergrund von Unartikuliertem verstanden werden können.9 Erst die cartesianische Ablösung eines wie auch immer bestimmten »Innenlebens« sowohl vom Körper als auch vom alter ego lässt dieser Innensphäre die Illusion eines kognitiv autonomen Verstehens zuordnen, dem die Reifikation jenes monologischen Bildes vom einzelnen Akteur entspricht, der über souveräne Repräsentationen der Außen- und Innenwelt verfügt.10 Doch stellen solche Repräsentationen nicht die unbefragte Grundlage des Verstehens dar, vielmehr sind sie, wie Taylor bemerkt, »[...] only islands in the sea of our unformulated practical grasp on the world« (1995: 170). Demgegenüber unterstellt die den rationalistischen Handlungskonzepten korrespondieDurchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen oder sich einer ›objektivierenden‹ oder ›Symbolfunktion‹ unterordnen zu müssen« (Merleau-Ponty 1966: 170). 7 Kernproblem kognitivistisch aufgeladener Handlungstheorien ist und bleibt, dass die zweckrationalistische Abstraktion die »[...] Rekonstruktion vergangener Handlungen mit der faktischen Strukturierungsleistung des situierten Handelns verwechselt. Zu dieser Verwechselung gehört die individualistische Unterstellung, dass die Intention der Person die Handlung dieser Person vor der Handlung (kognitiv) hinreichend bestimmt« (Renn 2006b: 23). 8 Einer solchen Reibungslosigkeit entspricht die phänomenologische These von der gegenständlichen Unauffälligkeit des Leibes. Ein »Heraustreten aus der Selbstunauffälligkeit« (Blumenberg 2006: 695) durch verschiedene Formen der Selbstthematisierung bewegt sich dann zwischen aufdringlichen Widerfahrnissen und genussorientierten Körperpraktiken. Siehe auch Heidegger (1986: 74ff.). 9 Zumindest darin konvergieren die Überlegungen von Wittgenstein (1995), Ryle (1949), Polanyi (1966) und Bourdieu (1980). 10 Es versteht sich, dass einem solchen Konzept situierten Handelns ein Konzept der »situated cognition« entsprechen muß. Neuerdings hat vor allem Hutchins deutlich gemacht, wie realitätsfern jene experimentellen Untersuchungen sind, die davon absehen, Kognitionsprozesse unter denjenigen Bedingungen zu untersuchen, unter denen sie in der Regel stattfinden, nämlich im Kontext sozialer Praktiken. Nur so kann z.B. auffallen, a) inwiefern die Struktur kognitiver Prozesse Korrelat der zu bewältigenden Situationsanforderungen ist und b) dass solche Prozesse von vollkommen anderer Art sind als die repräsentationistisch modellierten Schemata einer cartesianischen Kognitionsforschung, da diese gerade der Spezifik kollaborativer Prozesse, wie sie Hutchins in komplexen Arbeits- und Entscheidungssituationen untersucht hat, überhaupt nicht Rechnung tragen können. Siehe auch Hutchins (1995, 2006), Hutchins/Palen (1997) und Levinson (2006a, 2006b). 63

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rende intellektualistische Sicht auf den Kommunikationsprozess ihren Akteuren Bewusstseinszustände in Gestalt von abgrenzbaren Intentionen und Motiven, die als Handlungspläne fassbar werden, um dann im aktuellen praktischen Handeln eine Umsetzung bzw. Verwirklichung zu erfahren. Dies lässt allerdings nur die Alternative zurück, Handeln anhand von etwas zu verstehen, das als Repräsentationen solcher Bewusstseinszustände gedeutet werden kann, oder aber dieses Handeln überhaupt nicht zu verstehen. Demgegenüber ist ein situiertes, »verkörpertes« Verstehen, so jedenfalls könnte man den Argumentationszusammenhang zuspitzen, nicht »im« einzelnen Handelnden zu lokalisieren, sondern im Handeln selbst, oder besser: in einer sozialen, immer schon geteilten, mithin intersubjektiven Praxis.11 Dass diese stets eine körperliche Praxis des hantierenden Umgangs und zugleich eine mit dieser verschränkte Praxis geteilter Deutungs- und Auslegungsroutinen ist, dies sei den folgenden Überlegungen vorangestellt.

3 Fundierende Ebenen der Handungskoordination: Wahrnehmung und Bewegung Kommunikation und Handlung sind stets Praxen des Körpers, dessen Eigenschaften die Aktualisierung und Verarbeitung von Sinn ganz maßgeblich bestimmen und von dessen Inanspruchnahme entscheidend abhängt, ob und wie die Koordination von Handeln und Erleben zustande kommt bzw. fortgesetzt werden kann. Die genauere Analyse der interaktiven Relevanz des Körpers sowie dessen Rekonstruktion als Fundament spezifischer Orientierungsformen und Ausführungsmodi von Handlungsentwürfen kann allerdings nicht von einer beziehungslosen Charakterisierung seiner sensorischen und motorischen Vermögen geleistet werden. Vielmehr bedarf es eines konzeptionellen Zugriffs, der der Einsicht Rechnung trägt, dass der sozial geregelte Umgang mit körperlicher Kopräsenz abhängig ist von realen Bedingungen, die nicht zum Sinn dieses Umgangs gehören, gleichwohl aber dessen Realisierung erst ermöglichen. Eine kommunikationstheoretische Perspektive, die solche Abstimmungsprozesse zu erfassen in der Lage sein soll, muss jedoch über die Leib-Körper-Differenz, so wie sie eine rein leibphänomenologische Perspektive, eine philosophische Anthropologie oder eine fundamentalontologisch motivierte Daseinsanalyse interessiert, hinausgehen. Nur dann nämlich, wenn sie die Erfahrungswirklichkeit des Körpers als eine durch proprio- und interozeptive Prozesse gebildete Einheit betrachtet, kann sie die darin liegenden Fundierungs- und Evidenzeffekte erfassen, die durch das Zusammenfallen

11 Dies betonen erneut und vollkommen zu Recht alle praxeologischen bzw. praxistheoretischen und post-wittgensteinianischen Ansätze. 64

FUNDIERENDE EBENEN DER KOORIENTIERUNG

von Eigensteuerung und Fremd- bzw. Selbstbeobachtung in einem gestalthaften sensomotorischen Komplex zustande kommen. Vor allem hier liegen die Fundamente kommunikativer Sinnerzeugung. Bereits die Arbeiten von Palágyi (1925), Gehlen (1940/1997) und v. Weizsäcker (1940/1973) hatten mit Nachdruck auf die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung hingewiesen. Sie erlauben die Darstellung des komplexen Zusammenhangs von körperlich-leiblichen Realisierungsbedingungen des Handelns und den sie stützenden kognitiven Leistungen. Vor allem Gehlen hatte aus der großen Plastizität und Variabilität des menschlichen Bewegungsapparats die Genese einer »Bewegungsphantasie« abgeleitet und diese als Grundlage höherer Entlastungsleistungen ausgewiesen, wobei er auf die entscheidende Rolle der Kreisprozesse von Motorik und Sensorik verweist, die stets auch die propriozeptive Wahrnehmung einschließen. Es sind diese spezifischen, für den menschlichen Organismus charakteristischen Formen der Rückempfindungsfähigkeit, die sich als Bedingung der Entwicklung einer Bewegungsphantasie im Sinne einer »inneren Welt« von Erfolgs- und Eindruckserwartungen, Bewegungsplänen etc. ausweisen lassen. Die übergroße Anzahl möglicher Bewegungskombinationen sowie die aus der sensomotorischen Eigentätigkeit entwickelte Fähigkeit zu symbolischem, andeutendem Bewegungsvollzug ermöglichen jene »Intellektualität der Bewegungsstruktur« (Gehlen 1940/1997: 140), die schließlich die beliebige Kombinierbarkeit und Verwandelbarkeit von Bewegungsfiguren sowie die Transponierbarkeit von auf die Motorik gerichteten Entwürfen wechselseitig verschränkt.12 Dieser Bewegungsphantasie entspricht ein symbolischer Bewegungsraum, der nicht nur der wahrgenommenen Umgebung entsprechende Bewegungschancen und mögliche Bewegungsentwürfe zuordnet, sondern diese Umgebung zugleich mit »Umgangsvorschriften« (ebd.: 235) auflädt. Erst dann also, wenn man den Objekten nicht mehr ohne weiteres ansieht, wann man sie erreichen und was man mit ihnen machen kann, müssen explorative Bewegungen einsetzen. Diese Entlastung erlaubt es überhaupt erst, sich auf bestimmte Weltausschnitte zu konzentrieren, weil anderes in diesem Sinne nicht mehr bewusstseinspflichtig ist. Aller Umgang mit Gegenständen und alle Handlungskoordination setzen mithin die Vorwegnahme von »Antwortverhalten« (Geh12 Insofern verbindet sich mit dem Begriff des »Bewegungsentwurfs« eine dezidiert anticartesianische Programmatik, die vor Augen führt, welche Argumente die Fundamentalisierung der Unterscheidung von Leib und Bewusstsein bzw. von res cogitans und res extensa gegen sich hat: »Le mouvement, compris non pas comme mouvement objectif et déplacement dans l’espace, mais comme projet de mouvement ou ›mouvement virtuel‹ est le fondament de l’unité des sens« (Merleau-Ponty 1945: 271). In deutscher Übersetzung: »Das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, nicht die objektive Bewegung und Ortsveränderung, sondern der Bewegungsentwurf oder die ›virtuelle Bewegung‹« (Merleau-Ponty 1966: 274). 65

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len) bereits voraus. Dies beinhaltet neben der Antizipation des Verhaltens der Interaktionspartner die zeitgleiche Konstitution eines Interaktionsraums als symbolisch aufgeladenes Entwurfsfeld, das nicht nur durch Wahrnehmungsund Bewegungschancen der Akteure und ihre jeweiligen Perspektiven strukturiert ist, sondern auch durch die Kombinierbarkeit und Transponierbarkeit von Bewegungsentwürfen. Praktisch bedeutet dies, dass man dem Interaktionsraum gleichsam »ansieht«, welche Bewegungen und Wahrnehmungen und schließlich welche Handlungen in ihm vollzogen werden können. Weil die Interaktionspartner die Realisierungsbedingungen ihrer Handlungen entweder beiläufig oder aber durch geplantes Probehandeln evaluieren müssen, um deren Erfolg sicherzustellen, müssen sie sich primär daran orientieren, welche Wahrnehmungen überhaupt als geteilt vorausgesetzt werden können und welche Bewegungsabläufe als möglich eingeschätzt werden. Es ist diese Struktur, die die Effektivitäts- und Erfolgsbedingungen von Koorientierung und Kommunikation nachhaltig bestimmt und von der die Analyse der fundierenden Ebenen von Prozessen der Koorientierung, der Verhaltensabstimmung und der Handlungskoordination ihren Ausgangspunkt nehmen muss. Nun muss die Formulierung von Hypothesenzusammenhängen über Körper und Sinneswahrnehmung aus systematischen Gründen eine Einheit bilden. Denn Prädikate, die dem Körper zugesprochen werden, können nur unter Verweis auf Wahrnehmungen expliziert werden, wie umgekehrt alle wahrnehmungsbezogenen Prädikate notwendig auf körperlich-leibliche Strukturen verweisen.13 Dabei ist das Postulat, Körperlichkeit primär von sensomotorischen Prozessen her zu erschließen, mit der Ablehnung von drei Dogmen verbunden, die gleichzeitig die wahrnehmungspsychologische Forschungspraxis über viele Jahrzehnte mitbestimmt haben, nämlich a) der Vorstellung von Wahrnehmung als passiv und rezeptiv, b) der Auffassung, dass Funktionen der Wahrnehmung jenseits von Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen bestimmt werden könnten, und schließlich c) der Annahme, dass die »Sinne« primär als getrennt operierende Kanäle bzw. Lieferanten von Informationen fungieren.14 In allen drei Dogmen treffen sich Vorurteile aus einer präreflexiven organspezifischen Betrachtungsweise der »Sinne« mit der empirischen Praxis zahlreicher 13 Man denke hier ebenso an Husserls Rede vom Leib als »Ganzes der Sinnesorgane« (Husserl 1921: §§ 10 ff.). 14 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit werden nur zu oft zu einem rein kognitiven Vorgang verkürzt. Demgegenüber handelt es sich um eine körperliche Aktivität, die in die körperlichen Aktivitäten anderer eingebunden bzw. mit diesen »verwoben« und deren Wirkung ausgesetzt ist. Dies erfordert entsprechende Korrekturen innerhalb der Theoriebildung. Aufmerksamkeit umfasst ganz offensichtlich »[...] more bodily and multisensory engagement than we usually allow for in psychological definitions of attention. [...] Somatic modes of attention are culturally elaborated ways of attending to and with one’s body in surroundings that include the embodied presence of others« (Csordas 1993: 138ff.). 66

FUNDIERENDE EBENEN DER KOORIENTIERUNG

Wahrnehmungspsychologien und einem erkenntnistheoretischen Physiologismus, der glaubt, der Körper könne erst dann verstanden werden, wenn er in seine Einzelteile zerlegt werde. Richtig ist vielmehr, dass Wahrnehmung als aktiver Prozess der Organisation und der Ordnungsbildung und als Aspekt des Handelns selbst aufzufassen ist, jede Wahrnehmung einer Situation also stets in Handlungsfähigkeiten und -dispositionen präformiert ist. Die Einsicht, dass es nicht genuine Leistungen eines monologischen Bewusstseins sind, die der Zeichenproduktion und -rezeption zugrunde liegen, sondern dass sensomotorische Kreisprozesse deren Fundament bilden, dass sich schließlich die autonom erscheinenden Bewusstseinsleistungen selbst diesen rekursiv strukturierten und immer schon sozial situierten Prozessen der motorisch-perzeptiven Aneignung einer Umwelt verdanken, hat denn auch Konsequenzen für die empirische Beschreibung von Abstimmungsprozessen. Denn erst auf der Basis dieser Einsicht kann sich die Aufmerksamkeit auf die Abhängigkeit struktureller und funktionaler Merkmale solcher Prozesse von diesen sensomotorischen Bedingungen richten. Inwiefern selbst noch die emergente Ebene spezifischer Sinnstrukturen und Ordnungsprobleme von Interaktionssystemen einen Bezug zur fundierenden Ebene sensomotorischer Aktivität hat, zeigt sich darin, dass diese Aktivität nicht nur als funktionales Moment des Interaktionsprozesses bestimmt werden kann, sondern stets auch als Aktualisierung eines Systems von Konventionen. Vor allem unter Berücksichtigung seiner Auffälligkeit unterliegt wechselseitig wahrnehmbares Körperverhalten reflexiven Erwartungen, wenn sich dieses Verhalten aus der Perspektive eines anderen kontrolliert. Solche Erwartungsstrukturen lassen sich als Teilbereich einer von Goffman (1971) rekonstruierten Interaktionsordnung ausweisen, die schon deshalb auf die Struktur der sensomotorischen Basis verwiesen bleibt, weil sie bei der Erzeugung von Handlungsanschlüssen der Leistungsdifferenz sensorischer Systeme und den damit verbundenen Effekten Rechnung tragen muss, da sich Beteiligte entlang dieser Differenz in sehr unterschiedlicher Weise für ihr Wahrnehmen und ihr Bewegungsverhalten verantwortlich machen (Loenhoff 2001).15 Indem diese wechselseitig geteilten Erwartungen die Formen der Inanspruchnahme des Körpers steuern und einschränken, unterstützen sie die Koorientierung und steigern dadurch wiederum die Erkennbarkeit von interaktiven Zügen und Kommunikationsofferten. Spätestens im kommunikativen Kontext wird deutlich, dass und in welcher Weise die je verschiedenen Körperpartien als Richtpunkte der Koorientierung und der wechselseitigen Verhaltenssteuerung in Anspruch genommen werden.16 Der etwa für eine Zeigebewegung erforderliche Sprung von der 15 Zum komplexen Zusammenhang zwischen Wahrnehmungen und sozial geteilten Erwartungserwartungen siehe auch die sorgfältige Analyse von Hirschauer (2005). 16 Einen von seiner konzeptionellen Anlage her wegweisenden Versuch hatte bereits Karl Bühler (1927/2000: 117ff.) in seinem kybernetisch angelegten »zwei67

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egozentrischen in die topomnestische Orientierung ist als deren operative Prämisse von elementarer Bedeutung, etwa bei der Anweisung an die Adresse des Hörers, sich in den gegebenen räumlichen Verhältnissen zu orientieren. Die Verschränkung von sprachlicher Deixis, Wahrnehmungsmodi und der Inanspruchnahme des Körpers als Koordinatensystem muss nämlich im Prozess der Verhaltensabstimmung in einer Funktion wirksam werden. So ist etwa die Beschreibung von praktischen Handlungsabläufen stets auf die Konstitution eines virtuellen Raums verwiesen, der als Ganzheit bzw. Gestalt den Handelnden in ihrem je konkreten räumlichen Umfeld Orientierung ermöglicht. Dass es im Allgemeinen leichter ist, einen komplizierten Handgriff zu vollziehen oder eine Bewegung im Raum selbst auszuführen, als sie jemand anderem zu beschreiben, ist ebenso evidente Alltagserfahrung wie die Inanspruchnahme der Gestik oder die Erzeugung einer pikturalen Darstellung (etwa auf einer Tafel oder einem Blatt Papier), die die Vorstellung eines virtuellen Raumes erleichtert. Der Rekurs auf Motorik und Propriozeption bedeutet hier den Rekurs auf den gelebten Raum im Gegensatz zum virtuellen Raum, in dem die sprachlichen Anweisungen angesiedelt sind. Merleau-Ponty hat im Anschluss an gestalttheoretische Überlegungen gezeigt, inwiefern der Gebrauch von Gesten zumindest momenthaft zum Zusammenfallen des virtuellen Raumes mit den »starken Strukturen des eigenen Leibes« und den darin fundierten sprachlichen Einheiten rechts, links, oben, unten, davor, dahinter usw. führt. Die damit verbundene »mélodie cinétique«, die den Charakter einer gelungenen Gestalt besitzt, wird gleichsam auf ein optisches Diagramm übertragen, um so zwischen der Bewegungserfahrung und der visuellen Erfahrungsdimension des Raumes ein Verhältnis wechselseitiger Entsprechung und wechselseitigen Ausdrucks herzustellen: »Par les gestes que nous ébauchons nous faisons momentanément coïncider les directions principales du champ virtuel ou se déroulait notre description avec les structures fortes – droite et gauche, haut et bas – de notre corps propre. [...] Le tracé purement visuel exige que nous nous représentions l’itinéraire en vue cavalière, d’un point de vue qui n’a jamais été le nôtre quand nous le parcourions, que nous soyons capable de transcrire une mélodie cinétique en diagramme visuel, d’établir entre l’un et

poligen System« unternommen, in dem er die wechselseitigen Steuerungsprozesse als strukturell geregelte Rekursionsschleifen bestimmt, in denen alle Eigen- und Fremdsteuerung in Gestalt eines komplexen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses ineinander verschränkt ist. Bedingung der Koorientierung und des zielgerichteten Verhaltens ist dabei die Erzeugung von Kohärenz, ohne die alle Formen der Systemsteuerung nach innen und nach außen zusammenbrächen. Diese betreffen neben Sprechen und Selbsthören, Berührung und Rückempfindung, visueller Kontrolle und den eigenen Körperbewegungen schließlich die Konditionierung der eigenen Aktivität durch die des Interaktionspartners. 68

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l’autre des relations de correspondance réciproque et d’expression mutuelle« (1942/ 1977: 128).17 Um zu verstehen, warum Interaktionspartner im Prozess der Handlungskoordination sich ebenso verschiedener wie vielfältiger semiotischer Ressourcen als Mittel der gegenseitigen Steuerung bedienen und diese unter Vorwegnahme ihrer »Umgangsvorschriften« (Gehlen) als unterschiedlich geeignet beurteilen, ist es sinnvoll, analytisch zwischen Kommunikationszielen und -zwecken zu unterscheiden (Ungeheuer 1987). Markiert werden soll die Differenz zwischen Kommunikationszielen als den von den Beteiligten angestrebten Lösungen des (z.B. durch implizite Unterstellung oder explizite Aushandlung) zu bewältigenden Verstehensproblems einerseits und der Erreichung übergeordneter Zwecke (z.B. einer erfolgreichen Instruktion, der Organisation von Arbeitsabläufen, dem Einverständnis in angebotene Dienstleistungen etc.) andererseits. Die Realisierung von spezifisch gesetzten Kommunikationszwecken bleibt in dieser Perspektive abhängig von der Erreichung von Kommunikationszielen.18 Selbst Beispiele, die zeigen, wie zufällig, absichtslos und ungeplant Kommunikation zustande kommen und verlaufen kann, heben diesen Befund nicht auf. Auch der irrtümlich Angesprochene, der zu verstehen gibt, etwa mit einer Körperbewegung keine kommunikativen Absichten gegenüber einem Anwesenden gehegt zu haben, muss schließlich dem Betreffenden eben dies und nicht irgendetwas anderes zu verstehen geben und genau darin verstanden werden, wenn er nicht weiter behelligt werden will. Darin besteht seine Zwecksetzung, die seinen Handlungsplan strukturiert. Unter »semiotischen Ressourcen« sollen im Anschluss an Goodwin (2000, 2003, 2006) diejenigen im Wahrnehmungsraum situierten Phänomene der Außenwelt verstanden werden, die von den Kommunikationsteilnehmern in An17 »Mit den Gesten, die wir andeuten, lassen wir augenblicksweise die Hauptrichtungen des virtuellen Feldes, in dem sich unsere Beschreibung abspielte, zusammenfallen mit den starken Strukturen – rechts und links, oben und unten – unseres eigenen Leibes. [...] Die rein optische Linie erfordert, daß wir uns die Wegroute in der Vogelperspektive vorstellen, von einem Standpunkt aus, den wir beim Begehen des Weges niemals innehatten; sie erfordert die Fähigkeit, eine Bewegungsmelodie auf ein optisches Diagramm zu übertragen und zwischen beidem Beziehungen einer wechselseitigen Korrespondenz und des gegenseitigen Ausdrucks herzustellen« (Merleau-Ponty 1976: 1933). Das komplexe Zusammenwirken von Gestik und Kognition ist nach einer Periode völligen Desinteresses in den letzten Jahren wieder in den Blick der Forschung geraten (z.B. Clark 2003; Goldin-Meadow 2005; Kita 2003b; McNeill 2005). Zur komplexen multimodalen Struktur von Zeigebewegungen siehe ferner Goodwin (2003); LeBaron/Koschmann (2003); Koschmann/LeBaron (2002); Streeck (1993, 2009). 18 Empirische Studien zur Kommunikation unter Anwesenden oder einander mittels moderner Kommunikationstechnologie als »anwesend« behandelnden Personen zeigen eindrucksvoll, wie abhängig die Ausschöpfung derartiger semiotischer Ressourcen von der Setzung solcher Kommunikationszwecke sind (Friebel et al. 2003; Loenhoff 2003b; Loenhoff/Schulte 2006). 69

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spruch genommen werden, um derartige Kommunikationsziele und -zwecke zu erreichen. Kennzeichnend für Koorientierung und Handlungskoordination ist »[...] the simultaneous use of multiple semiotic resources by participants« (Goodwin 2000: 1490): Innerhalb einer so verstandenen »[...] rich matrix of diverse semiotic resources that create relevant contextual configurations, action, setting, and the meaningful body reflexively constitute each other through temporally unfolding processes of situated human interaction« (ebd.: 1520). Es ist dies der kreative Gebrauch des eigenen Körpers, insbesondere in Form von Zeigebewegungen, aber auch die Nutzung der im Wahrnehmungsraum befindlichen Objekte zur Verdeutlichung von sprachlichen Äußerungen, zur Darstellung von Sachverhalten oder zur Steuerung der Aufmerksamkeit.19 Mal ist es der Griff nach der Zigarettenschachtel, die als ad hoc semantisiertes Objekt die Position eines Gebäudes markieren, mal das Radiergummi, das die räumlichen Verhältnisse von Gegenständen darstellen soll, mal der Bleistift, mit dem Richtungen angedeutet oder Begrenzungen symbolisiert werden. In zahlreichen dieser mittlerweile gut dokumentierten Fälle greifen die Beteiligten auf Darstellungsmöglichkeiten zurück, die auf eine spezifische Weise mit den sprachlichen Äußerungen verschränkt sind und insofern mit diesen kommunikative Einheiten bzw. Gestalten bilden, die nur unsinnigerweise als voneinander unterscheidbare »Kommunikationskanäle« bezeichnet werden können (Loenhoff 1999). Dieser Befund irritiert schließlich auch das gängige Verständnis dessen, was in der Regel als »Kontext« terminologisiert wird, denn dieser kann sinnvollerweise gerade nicht als vorgefundener oder starrer Rahmen begriffen werden, dem alle Kommunikation unterstellt ist, sondern vielmehr als eine hochvariable Dimension eines komplexen Konstitutionsprozesses selbst. Verschiedene Autoren haben deshalb eine Revision des bisherigen Kontextverständnisses angeregt, um diesen besser als Ergebnis mitlaufender Orientierungs- und Kommunikationsprozesse begreifen zu können. Goodwin etwa spricht von »contextual configuration« (2000: 1490), um die jenseits der verbalen Interaktion liegende Klasse von Ereignissen und Zusammenhängen einschließlich ihrer Eigendynamik in die Analyse einbeziehen zu können. Aus dieser Perspektive ist es einleuchtend »[...] to argue against the usual analytic and disciplinary boundaries that isolate language from its environment and create a dichotomy between text and context« (Goodwin 2000: 1490).20 19 Dies zeigen nicht nur Beispiele aus den »Workplace Studies« (Heath/Luff 1993, 2007; Heath/vom Lehn 2008), sondern auch grundlagentheoretisch motivierte Studien zur multimodalen Interaktion (z.B. Becvar et al. 2005; Goodwin 2000; Murphy 2005) oder zur Gesprächssteuerung (Hayashi 2005; Schmitz 1998b). 20 Unter Bezug auf Goffmans Konzept des »participation framework« merkt Goodwin an: »[...] this framework is not itself a speech act [...] it builds through embodied stance a public field of mutual orientation within which a wide variety of 70

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Unter den Bedingungen von Anwesenheit, reflexiver Wahrnehmung und focussierter Aufmerksamkeit wird Kommunikation durch das Zusammenwirken von Kommunikationszwecken, Kompetenzen der Kommunikationspartner sowie materialen Realisierungsbedingungen vollzogen. Interaktions- und kommunikationstheoretische Überlegungen übergehen dabei nicht selten den Umstand, dass die Einschätzung der Realisierungsbedingungen von Kommunikation und ihrer Zwecke neben der zu erwartenden Aufmerksamkeit und der Kompetenz der Beteiligten zwangsläufig auch die äußeren physikalischen Wahrnehmungsbedingungen in Rechnung stellen muss. Jede Interaktionsordnung (im Sinne der wechselseitigen Erwartung, wie Handeln und Wahrnehmen miteinander zu koordinieren sind) muss sich an diese Gegebenheiten anpassen. Dieser Zusammenhang ist sowohl theoretisch wie auch empirisch von Bedeutung, da die Frage nach der Funktionalität des Körperverhaltens für Koorientierung und Handlungskoordination nicht nur unter Bezug auf die spezifische Sinnstruktur der Kommunikation, sondern auch unter Verweis auf ihre materialen Realisierungsbedingungen in Form der gegebenen oder hergestellten Bedingungen und Möglichkeiten für Wahrnehmungen und Bewegungen analysiert werden kann. Ob und in welcher Weise sich zusammenarbeitende Personen als anwesend behandeln, hängt also keineswegs nur von der sozialen Ordnung möglicher Adressierung oder der Relevanzstruktur der Situation ab, sondern auch davon, ob bestimmte, zur Interaktion notwendige Funktionen aufrechterhalten werden können. Innerhalb einer als gemeinsam definierten Aktivität, die zeitweilig größere Distanz erfordert, gelten daher andere Anwesenheitskriterien als im unmittelbaren Nahbereich. Hier lässt sich unschwer beobachten, dass und in welcher Weise die Erwartungen an die vom Körper zu erbringenden sensomotorischen Leistungen entsprechend dem funktionellen Zusammenhang variieren, in dem sie mit Handlung und Kommunikation stehen. So zeigt sich bei der Koordination von kommunikativen Äußerungen mit übergeordneten Handlungszusammenhängen oder Arbeitsabläufen, deren Gelingen stark von der Koordination im Auge-Hand-Feld abhängen, dass die Suspendierung des Blickverhaltens der Interaktionspartner untereinander als Instrument der Steuerung der Aufmerksamkeit eher akzeptiert wird, als wenn sie andere manuelle Tätigkeiten ausführen. Will die multimodale Interaktionsanalyse dieser Empirie und schließlich der ganzen Komplexität des Erkenntnisgegenstands »embodied interaction« gerecht werden, muss sie durch konsequente Anwendung mikroanalytischer Forschungsmethoden und -techniken den wechselseitigen Bezug zwischen perzeptiven, sprachlichen, nichtsprachlichen und parasprachlichen Dimensionen einschließlich der materialen Umgebung der Kommunikationssituation speech acts can occur [...] it constitutes part of the interactive ground from which actions emerge, and within which they are situated« (Goodwin 2000: 1496). Siehe auch die Beiträge in Duranti/Goodwin (1992) und Auer/di Lucio (1992). 71

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durch angemessene Aufzeichnungsverfahren erfassen.21 Der Umstand, dass man bis auf wenige Ausnahmen erst in den letzten Jahren den vor allem durch die Möglichkeiten moderner Aufzeichnungstechnologien induzierten Versuch unternimmt,22 dieser Vieldimensionalität des Kommunikationsprozesses auch durch erweiterte Transkriptions- und Notationsverfahren Rechnung zu tragen, um so die Einheit multimodal und multisensorisch konstituierter Kommunikationsereignisse in den Blick zu nehmen, zeigt das ganze Reflexionsdefizit des bisherigen Methodendiskurses, der aufgrund seiner Theorieabstinenz selten mehr war als eine Diskussion vereinzelter Forschungstechniken.23

4 Schlussbemerkung Alle Prozesse der Koorientierung und der sprachlichen wie nichtsprachlichen Abstimmung, die sich unter der Bedingung der Anwesenheit und der wechselseitigen Wahrnehmbarkeit vollziehen, müssen sensomotorische Strukturierungsleistungen des Körpers in Anspruch nehmen. Insofern diese Leistungen die Grundlage situierten Handelns bilden, lassen sich die fundierenden Ebenen der Interaktion von jenen emergierenden Ebenen der kommunikativen Sinnerzeugung unterscheiden, die schließlich den Gegenstand interpretativer bzw. hermeneutischer Rekonstruktion bilden. Die Analyse der fundierenden Ebenen führt hinsichtlich der ermöglichenden Bedingungen von Kommunikation schließlich zu drei Thesen, dass nämlich a) die Konstitution und Steuerung von Handlung und Interaktion aus Prozessen der Selbst- und Fremdwahrnehmung erwachsen, dass b) die Struktur des Leib-Umwelt-Bezugs die Erzeugungsgrundlage für interaktiv relevante Einheiten bildet, insofern alle Interaktion der vorgängigen Orientierungsleistungen des Körpers bedarf und dass c) die zu aller Kommunikation notwendige Produktion wahrnehmbarer Formen an das Potenzial sensomotorischer Funktionen und die an diese gekoppelte Differenzerzeugung rückgebunden bleibt. Dabei ist die konkrete Ausgestaltung der Inanspruchnahme der Leistungen und Dispositionen des Körpers weitgehend

21 Zu den diesbezüglichen Folgen für die Transkription von Gesprächen siehe Schmitz (1998a); Ingenhoff/Schmitz (2000); Loenhoff/Schmitz (2010). 22 Zum Beispiel Goodwin (2006); Kita (2003a); Norris (2004); Schmitt (2005, 2007); Streeck/Mehus (2005). 23 Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil es bereits Mitte der 1950er Jahre im Kontext des von Ray L. Birdwhistell, Gregory Bateson, Norman A. McQuown u.a. durchgeführten Projekts A Natural History of an Interview: A Multidisciplinary Investigation of Social Communication (McQuown 1971) ein elaboriertes Bewusstsein der Komplexität interpersonaler Kommunikation und des damit verbundenen Problems einer dieser Komplexität angemessenen Notation gegeben hat. Zu den wissenschaftshistorischen Hintergründen siehe Leeds-Hurwitz (1987). 72

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offen bzw. plastisch, so dass diese durch wechselseitig stabile und der Interaktionssituation angepasste Erwartungen überformt werden.24 Die These, dass die genaue Bestimmung von Prozessen der Koorientierung und Handlungskoordination bei den Fundamenten körperlicher Kopräsenz und der Beschreibung der diesbezüglichen elementaren interaktiven Erfahrungen ansetzen muss, hat gute Gründe auf ihrer Seite, denn die Wahrnehmung der Situation durch die Interaktionspartner findet stets im Lichte möglicher Anschlusshandlungen statt. Diese betreffen neben den für die Eigenbewegung und die Manipulation von Dingen notwendigen Orientierungsleistungen vor allem auch anspruchsvollere kommunikative Prozesse, wie sie in arbeitsbezogenen Abstimmungsprozessen zu beobachten sind. Bestimmte, »implizite« Formen dieser Abstimmung müssen bereits vor aller expliziten sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation einsetzen, und sie müssen diese explizite Kommunikationspraxis begleiten und deren Realisierungsbedingung fortlaufend mal beiläufig, mal thematisch evaluieren, wenn es zu derjenigen Handlungskoordination kommen soll, ohne die die Erreichung von Kommunikations- und Handlungszwecken unmöglich wäre. Um dies in den Blick zu nehmen, bedarf es eines konzeptionellen Zugriffs auf diejenigen Prozesse wechselseitigen Wahrnehmens, Bewegens und Wahrnehmenlassens, die eine solche Abstimmung erst ermöglichen und die entsprechenden Strukturgewinne abwerfen, an denen sich weitere Koordinationsprozesse orientieren. Aus dieser Perspektive kann nicht nur sichtbar werden, dass das, was bestimmte Richtungen der Interaktions- und Gesprächsanalyse nicht selten den Leistungen der verbalen Interaktion, mitunter gar der Sprache selbst zurechnen, vor allem den multiplen und kreativen Körperpraktiken geschuldet ist, sondern auch, dass der Körper hinsichtlich der begrifflichen Ausbuchstabierung dieser Leistungen stark verkürzend in den Blick genommen worden ist, insofern er innerhalb der soziologischen und kommunikationswissenschaftlichen Forschung über lange Zeit primär als Adressat sozialer Kräfte oder aber als kulturelles bzw. diskursives Konstrukt thematisiert worden ist. Es versteht sich, dass die Erarbeitung der entsprechenden Begriffsarchitektur die Deskription und Analyse multimodaler Interaktion dadurch zu schärfen vermag, dass bestimmt werden kann, durch welche körperbezogenen Aktivitäten sich Interaktionssysteme und die sie tragenden Abstimmungsprozesse überhaupt konstituieren, unter welchen Bedingungen Kommunikation zustande kommen und schließlich im Interesse der Koordination nichtkommunikativer Handlungen und der Erreichung nach- oder übergeordneter Zwecke fortgesetzt werden kann.

24 Nur durch die Plastizität und die Fundierungsleistung körperlicher Vermögen können sich schließlich jene kultur- und schichtspezifischen Dispositionen herausbilden, die Bourdieu (1972, 1979, 1980) mit seinem Habitusbegriff zu bestimmen versucht hat. 73

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Bewegung als Kommunikation ELK FRANKE

»Betrachte die beiden Sprachspiele: Einer gibt einem Anderen den Befehl, bestimmte Armbewegungen zu machen oder Körperstellungen einzunehmen (Turnlehrer und Schüler). Und eine Variante dieses Sprachspiels ist dies: Der Schüler gibt sich selbst Befehle und führt sie dann aus. Jemand beobachtet gewisse regelmäßige Vorgänge – z.B. die Reaktionen verschiedener Metalle auf Säuren – und macht daraufhin Vorhersagen über die Reaktionen, die in bestimmten Fällen eintreten werden. Es ist zwischen diesen beiden Sprachspielen eine offenbare Verwandtschaft, und auch Grundverschiedenheit.« (Wittgenstein 1953/1967: 197, § 630) »Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik und des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen ›Intelligenz‹, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken – des Sports [...], aber auch des Theaterspielens und des Musizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern.« (Bourdieu 1997: 185) »Es fehlt den Improvisationen des Pianisten oder der sogenannten Kür des Turnens nie an einer gewissen Geistesgegenwart, wie man so sagt, nämlich an einer gewissen Form von Denken oder sogar praktischem Reflektieren, einem situativen, in die Handlung eingebundenen Nachdenken, das erforderlich ist, auf der Stelle die vollführte Handlung oder Geste zu beurteilen und eine schlechte Körperhaltung zu korrigieren.« (ebd.: 209)

In diesem Beitrag steht die Frage im Mittelpunkt, wie körperliche Bewegungen als ein Element des Handelns dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden können. Der Modus, mit dessen Hilfe solche unmittelbaren körperlichleiblichen Erfahrungen reflexiv gemacht werden, ist weder mit theoretischem 79

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Erkennen noch mit praktischem Können gleichzusetzen, sondern eine Wahrnehmungsform eigener Art: die das Tun begleitende gestalthafte Wahrnehmung von Bewegungen. Mithilfe eines solchen Bewegungswissens lassen sich leiblich-körperliche Erfahrungen jenseits von Sprache symbolisieren und sich selbst und anderen direkt und unmittelbar kommunizieren.

1 Handlungen als Konstrukt – Einleitende Bemerkungen zu übersehenen Voraussetzungen einer Deutungstradition Wittgensteins selbstkritische Revision der analytischen Philosophie in den »Philosophischen Untersuchungen« hat bekanntlich nicht nur den linguistic turn in den Sozialwissenschaften vorbereitet, sondern auch zu vielfältigen handlungstheoretischen Überlegungen bis in die Zeit Bourdieus geführt. Trotz unterschiedlicher Argumentationswege zeichnen sich die (philosophischen) Handlungstheorien durch eine Gemeinsamkeit aus: Sie gehen in ihren Analysen häufig von einfachen Handlungssituationen aus, wie zum Beispiel: »Ich hebe meinen Arm«, »Ich öffne die Tür«, »Ich bewege einen Stein«. Bezugnehmend auf bekannte Alltagssituationen wird geprüft, inwieweit unsere Sprache mit ihren Handlungswörtern »heben«, »öffnen«, »bewegen« etc. auch »unproblematische ›Kern-Beschreibungen‹ unseres Handelns zur Verfügung stellt, die wir dann durch entsprechende Ergänzungen (wie ›den Arm‹ [...], ›das Fenster‹) zu in sich verständlichen Handlungsbeschreibungen vervollständigen können« (Schwemmer 1987: 44). Die philosophische Diskussion von Wright (1974), Danto (1978), Meggle (1979), Lenk (1978a, b), Gebauer (1978) und anderen zeigt, dass sich die Beschreibungen von Handlungen, der Handlungsverlauf und die Bedeutung einer Handlung in unterschiedlicher Weise aufeinander beziehen lassen, wodurch die Frage nach der Identität einer Handlung zu einer relativen Frage wird, die sich nicht unter Bezug auf »Basis-Akte«, »Elemente« oder »Ur-Szenen« beantworten lässt. Ein wesentlicher Aspekt jener intentionalen Handlungstheorien (etwa: Wright 1974) ist die Erkenntnis, dass Handlungen nicht auf der Basis eines deduktiv-nomologischen Prinzips erklärt werden können. Der Grund sind die so genannten »Antezedensbedingungen« von Handlungen (wie Motive, Absichten, Ziele, Zwecke). Sie können nicht unabhängig von der zu erklärenden Handlung festgestellt werden, bzw. nur um den Preis eines unendlichen Regresses, wie Danto (1978: 373) betonte. Dabei ist entscheidend, dass Wright und Danto ihre Position nicht mit Bezug auf bestimmte empirische Fakten begründen, sondern ihre Argumente logischer Natur sind. Sie bestreiten, dass Absichten, Ziele oder Zwecke als eine so genannte »Hume’sche Ursache« – 80

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das heißt unabhängig von den Handlungen, auf die sie sich beziehen – bestimmt werden können. Es entsteht zwar häufig durch einen ereignishaften Ablauf der (falsche) Eindruck, Handlungen seien Ereignisse und entsprechend handele es sich beim Handlungsbegriff um einen »Ereignis«-Begriff. Übersehen wird bei einer solchen Deutung jedoch, dass Handlungen weder in kleinste Einheiten (Basishandlungen) »zerlegt« noch mit Bezug auf eine ursächliche Ereigniskette expliziert werden können, sondern der Prozess der Konstitution einer Handlung gleichsam umgekehrt abläuft (vom Ergebnis zu den »Ausgangsbedingungen«) und eine »werthafte Setzung« darstellt, worauf unter anderem Wiehl (1976) verweist: »Der Handlungsbegriff ist selbst in einem ursprünglichen Sinn ein Wertbegriff. Vor aller Bewertung einzelner Handlungen und Handlungstypen ist mit Setzung einer Handlung als solcher eine grundsätzliche Wertsetzung vollzogen. Um es paradox zu formulieren: Handlungen konstituieren sich in Handlungen ihre Setzung, Anerkennung, eventuell auch in Verweigerung ihrer Anerkennung. Handlungen, in denen sich Handlungen konstituieren, ereignen sich in Räumen der menschlichen Kommunikation, geschichtlicher Wirklichkeit sowie einer allgemeinen wissenschaftlichen Praxis« (Wiehl 1976: 59).

Handlungen ebenso wie Nichthandlungen (als Unterlassungen) sind daher auch für Riedel »keine punktuellen ›Ereignisse‹ oder ›Einzelakte‹, sie werden im Zusammenhang von Lebensformen vollzogen« (Riedel 1978: 146). Entsprechend ist die Handlungssituation nicht ein sozialer Rahmen, der gleichsam zu einer Bewegung »dazukommt«, sondern sie kennzeichnet nach Böhler jede Handlung in prinzipieller Weise »als sinnvolle Tätigkeit. Sowohl die Konstitution der Handlungselemente, der Mittel und Ziele, wie auch die Konstitution der Handlung als Verknüpfung dieser Elemente zu dem Ganzen eines bestimmten Handlungsablaufs ist logisch an jene Kontexte als an ihre Sinnzusammenhänge gebunden« (Böhler 1978: 164; Hervorhebungen im Original). Ein Gedanke, den Lenk (1978b) in einem eigenen Konzept weiterführt, in dem er Handlungen grundsätzlich als »Interpretationskonstrukte« expliziert. Das heißt, in der Handlungstheorie muss deutlich getrennt werden in Ergebnisbegriffe und Dispositionsbegriffe für Ereignisse, deren Wirkungen etc. aus logischer Sicht einem bestimmten Begriffstyp angehören: Als Sachverhaltsbegriffe formulieren sie Aussagen über »Weltereignisse« und können hinsichtlich ihrer Gültigkeit als wahr oder falsch bestimmt werden. Davon zu trennen sind Begriffe für Handlungen, die Umstände der Sachverhalte betreffen: Als Aussagen über Veränderungen können sie nicht wahr oder falsch sein, sondern entwickeln ihre Bedeutung im Kontext von Lebensformen. »Was ›eine Handlung ausführen‹ heißt, mag uns das Alltagsbeispiel des Brotkaufens verdeutlichen. Indem A sein Auto parkt und sich zum Kaufhaus begibt, ›begibt‹ er 81

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sich zugleich in eine ›Rolle‹; er wird zum ›Käufer‹, führt (beim ›Grüßen‹, ›Bezahlen‹ usw.) vorgeprägte Sprach- und Handlungsakte aus, denen auf der Seite des ›Verkäufers‹ entsprechende Akte korrespondieren. Erst der Zusammenhang dieser einzelnen Akte ›konstituiert‹ jenes Handeln, das wir ›Brotkaufen‹ nennen« (Riedel 1978: 147).

Dies bedeutet: Handlungen sind nicht in einer Objektsprache erfassbar, gehören also nicht der Klasse der Ereignisbegriffe an, sondern ergeben sich aus bedeutungs- und sinnstiftenden Situationen. Entsprechend ist die Analyse intentionaler Handlungen keine Frage einer Wissenschaft, die empirische Ereignisse, sondern einer, die interpretative Begründungen von Handlungen untersucht. Woraus folgt, dass bedeutungshafte Bewegungen nach Lenk (1978b) letztlich immer nur als Handlungen bestimmt werden können. »Natürlich kommt [...] etwas hinzu, um aus einer Bewegung eine Handlung ›werden‹ zu lassen, aus einer Handlung eine intentionale ›werden‹ zu lassen, aber dieses ›Etwas‹ ist eben in beiden Fällen kein materielles oder materiell beschreibbares ›Etwas‹ [...], sondern dieses ›Etwas‹ ist ein [...] semantisch höherstufiger interpretierender Aspekt« (Lenk 1978b: 295).1

Dies bedeutet, nicht die Aufladung einer einfachen Verhaltensweise mit kognitiven Anteilen im Sinne einer Intention macht aus einer schlichten Bewegung eine Handlung, sondern die Bewegung ist – vorausgesetzt, sie wird in irgendeiner Weise als bedeutsam bzw. sinnrelevant angesehen – immer nur als Handlung aus einer bestimmten Perspektive und als Interpretationskonstrukt erfassbar, ist also immer schon »interpretationsimprägniert« (Lenk 1978b, 1993). Die Sozialwissenschaften haben diese handlungsphilosophischen Überlegungen unter anderem mit Bezug auf die Phänomenologie und Ethnologie aufgenommen und daraus unterschiedliche Handlungs- und Kommunikationstheorien entwickelt (unter anderem Bourdieu), auf die hier nicht weiter eingegangen wird (vgl. den Beitrag von Alkemeyer in diesem Band). In diesem Beitrag soll ein Aspekt stärker betont werden, der häufig in interpretativsituativen Handlungsmodellen übersehen wird und der insbesondere bei körperlichen Bewegungs-Handlungen relevant ist: die hohe Plausibilität realer raum-zeitlicher Erfahrungen, die sich aus körperlichen Selbst-Bewegungen ergeben können. In dem berechtigten Bemühen, dem prinzipiellen Konstruktcharakter von Handlungen gerecht zu werden, wurde vielfach übersehen, dass es eine große Klasse von Handlungen gibt, über die weiterführende Aussagen gemacht werden können, wenn die Bedingungen genauer analysiert werden, unter denen sie stattfinden – und dazu gehören unter anderem raum-zeitliche 1 82

Vgl. dazu auch Gebauer 1975.

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körperliche Bewegungssequenzen. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden. Dadurch relativieren sich die Eingangsbemerkungen des vorliegenden Beitrags nicht – vielmehr handelt es sich um einen Versuch, im Wissen um die handlungstheoretischen Grundannahmen der analytischen Philosophie den Blick zu schärfen für die, so könnte man es nennen, »materiellen Grundbedingungen von Handlungen«, konkret, ihre bewegungsrelevanten Implikationen. Sie prägen die Konstitution einer Handlung als Handlungskonstrukt stärker im Sinne einer Vor-Bestimmung, als philosophische und sozialphilosophische Handlungstheorien häufig anzuerkennen bereit sind.

2 Bewegung als Form – Zur Gestaltbildung im Bewegungsprozess Aus philosophischer Sicht erweist sich die Bewegung als ein altes Phänomen, das schon in der Antike zu heftigen Kontroversen führte, wie unter anderem die Auseinandersetzung zwischen Zenon und Aristoteles über einen hypothetischen Laufwettbewerb Achills mit einer Schildkröte zeigt. Auch in der Neuzeit wurde die Frage, was das »Bewegliche« einer Bewegung ist und wie diese »Prozesshaftigkeit« erfasst werden kann, nicht nur von Kant, Hegel, Bergson oder Klages in unterschiedlichen Theorieansätzen bearbeitet, sondern bestimmte auch den Diskurs einer handlungsorientierten Lebenswissenschaft und Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für unseren Kontext erscheinen zunächst zwei Ausgangsfragen relevant: • In welcher Weise ermöglichen Bewegungen Kommunikationen? • Warum können solche Kommunikationen den jeweiligen Teilnehmern als »unmittelbar« erscheinen? Die Beantwortung erfolgt in zwei Schritten: Ausgehend von der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers, nach der »wir nicht nicht geformt wahrnehmen können«, wird zunächst erläutert, welche grundsätzliche Bedeutung der Begriff der »Form« für jede Art des Handelns hat und welche Konsequenzen dies für die Realisierung, Vorstellung und Tradierung von Bewegungen haben kann. Anschließend wird das dadurch entstandene mehrperspektivische Konstrukt »Bewegungs-Form« präzisiert durch Berücksichtigung des Aspekts »Wissen«. Über die enge, auf bewusste Kognitionen bezogene Verwendung hinaus wird »Wissen« dabei im erweiterten Sinne als knowledge of (»sich auskennen«) und als know how im Sinne eines »Könnens« verstanden.

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2.1 Von der Form der Bewegung zur Bewegung als Form Die Begriffe »Bewegung« und »Form« sind mit jeweils unterschiedlichen philosophischen Bezügen in den Verhaltens- und Handlungswissenschaften grundlegend. Seit den Anfängen der Philosophie wurde das Problem der Bewegung als eine besondere dialektische Spannung von Einheit und Vielheit, Seiendem und Nichtseiendem, Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit gedeutet, bevor es in der Neuzeit seine mechanische Interpretation als Ortsveränderung in der Zeit erhielt. Methodologisch ergibt sich die Schwierigkeit, den zeitlichen Prozess der Bewegung angemessen zu erfassen, wenn die Bewegung nicht auf die jeweilige Differenz der räumlichen Messpunkte begrenzt wird, die selbst wiederum nicht prozesshaft-zeitlich sind. Der Begriff der Form ist insbesondere in Beziehung zu einem angenommenen Inhalt (als Stoff oder Gehalt) ein wichtiges Merkmal in der beginnenden Ästhetikdiskussion des 18. Jahrhunderts. Dabei wird in der Ästhetik des deutschen Idealismus ein enges Wechselverhältnis von gestalteten Ideen und entsprechenden Formen angenommen. »Der Inhalt ist nichts als das Umschlagen der Form, die Form nichts als das Umschlagen des Inhalts«, betonte Hegel. Dagegen trennt der Pädagoge Herbart deutlich zwischen Gehalt und Form und den Merkmalen beider und bereitet damit unter anderem den Formalismus in der Kunst als eigenständige Formgebung am Übergang des 20. Jahrhunderts vor. Unter »Form« sollen im Folgenden in Abgrenzung zum weit verbreiteten ästhetisch-performativen Begriffsgebrauch nicht bestimmte (äußere) Bewegungsarten, also spezifische Ausdrucksformen zum Beispiel im Tanz verstanden werden. Der Verweis auf die Form einer Bewegung ist als Hinweis auf die Formungsbedingungen zu verstehen, denen jede Bewegung unterliegt. Dabei wird explizit Bezug genommen auf die »Philosophie der symbolischen Formen« von Ernst Cassirer und die handlungstheoretischen Überlegungen von Oswald Schwemmer. Eine grundsätzliche Frage, die auch für die Erfassung einer Bewegung als »Bewegung« gilt, lautet: Wie nehmen wir etwas wahr, wenn wir es wahrnehmen? Ernst Cassirer beantwortet sie auf eine sehr fundamentale Weise: »Nicht anders als durch das Medium der Form. Das ist die Funktion der Form, daß der Mensch, indem er sein Dasein in Form verwandelt, d.h. indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nun umsetzen muss in irgend eine objektive Gestalt [...]« (Cassirer 1929/1991: 286).

Es ist das Verdienst Cassirers (und Alfred North Whiteheads), dass die Diskussion über die Fragen der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Verstehens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zukunftsweisende Erweite84

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rung erhielt. So konnte Cassirer auf überzeugende Weise zeigen, dass der Mensch immer nur »formgebunden« wahrnehmen kann, was bedeutet, dass neben der bis dahin in der kantischen Tradition favorisierten Sprache als Ordnungsfaktor auch Bilder, Rituale oder Mythen – und Musik und Bewegungen – eine Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktion besitzen. Susanne K. Langer (1965) hat die daraus sich ergebende Perspektive eines vor- und außersprachlichen Verstehens weiterentwickelt, indem sie explizit zwischen »diskursiven« und »präsentativen« Formungsbedingungen unterscheidet. Dabei geht sie davon aus, dass der Umfang menschlicher Vernunft größer ist als der Bereich, der durch die Diskursivität der Sprache bestimmt wird. Das heißt: Auch durch präsentative Formungsprozesse wird Wissen artikuliert. So gibt es in »unserer Erfahrung Dinge [...], die in das grammatische Ausdrucksystem nicht hineinpassen. Dabei handelt es sich jedoch nicht notwendigerweise um etwas Blindes, Unbegreifliches, Mystisches; es handelt sich einfach um Dinge, die durch ein anderes symbolisches Schema als die diskursive Sprache begriffen werden müssen« (Langer 1965: 95).

Zu solchen anderen symbolischen Konfigurationen gehören neben Bildern, wie gezeigt werden wird, auch Bewegungen. Kennzeichnend für sie ist, dass sich bei ihnen, in Abgrenzung zur Sprache, die Bedeutung nicht aus der Rekonstruktion einer Wortfolge gleichsam elementhaft, »nacheinander, sondern gleichzeitig [...] in einem Akt« (Langer 1965: 99) ergibt. Entsprechend erschließen wir die Bedeutung zum Beispiel einer Fotografie nicht über ein mosaikhaftes »Vokabular« ihrer Hell-Dunkel-Flächen, sondern aus einem Gesamteindruck. »Die durch die Sprache übertragenen Bedeutungen werden nacheinander verstanden [...]; die Bedeutungen aller anderen symbolischen Elemente, die zusammen ein größeres, artikuliertes Symbol bilden, werden nur durch die Bedeutung des Ganzen verstanden. [...] Wir wollen diese Art von Semantik ›präsentativen‹ Symbolismus nennen. [...] er erweitert unsere Vorstellung von Rationalität weit über die traditionellen Grenzen hinaus und wird doch der Logik im strengen Sinne niemals untreu« (Langer 1965: 103).

Inwieweit diese »Logik« auch bei der Erfassung körperlicher Bewegung relevant ist, soll in Analogie zur Interpretation von Bildern am Beispiel einer Alltagsbewegung, dem Lauf zur Straßenbahn, präzisiert werden. Zunächst dokumentiert sie – vergleichbar einer Handschrift – die Besonderheit der Person, ist erkennbarer Ausdruck eines körperlichen Gesamtzusammenhangs. Dabei lassen sich verschiedene Charakteristika des präsentativen Formungsprozesses im Bewegungsvollzug erkennen. 85

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Die prinzipielle Kontextrelevanz der »Formungselemente« Obwohl die Laufbewegung aus verschiedenen »Elementen« besteht, die bewegungstheoretisch unter anderem über physiologische Bedingungen (Gelenkformen, Schwerkraft, Körpermittelpunkt etc.) und funktionale Aspekte (Bewegungsumkehrpunkte etc.) bestimmt werden können, bilden diese kein »Vokabular« für die Bewegung, aus deren Verbindung sich die Prozessspezifik des Laufs einer Person ableiten ließe. Diese ergibt sich aus einer Relation einzelner Formelemente innerhalb des Bewegungsprozesses in einem individuellen Gesamtzusammenhang. Die Dominanz eines primären Gesamteindrucks Der spezifische Lauf der Person erhält damit seine Bedeutung nicht aus einer Verbindung einzelner »Lauf-Elemente«, die jeweils eine eigenständige Bedeutung hätten. Vielmehr findet eine (mögliche) Interpretation der beobachteten Laufbewegung in umgekehrter Weise statt: Von einem primären Gesamteindruck werden bei Deutungsbedarf einzelne Bewegungsformen gleichsam als Bewegungs-Elemente re-konstruiert. Ihre Gesamtsumme ergibt umgekehrt jedoch nicht den Gesamteindruck der Bewegung (in ihrer Prozesshaftigkeit), was Kleist in seinem Essay »Über das Marionettentheater« eindrucksvoll beschrieben hat. Die Singularität der Bedeutung Anders als diskursive Symbole, die für etwas anderes stehen können (das Wort für ein Objekt, das es bezeichnet), verkörpern präsentative Formungsprozesse zunächst immer sich selbst. Dies bedeutet auch: Eine Bewegung präsentiert im Bewegungsvollzug zunächst nur sich selbst, »die Bewegung«. Sie steht in keinem dahinter liegenden syntaktischen Zusammenhang, sondern erscheint wie das Bild als eine unableitbare Gesamtform. Entsprechend gibt es bei der Interpretation der Lauf-Bewegung aus der Konstitutionsperspektive auch kein Nacheinander, wie bei der Erfassung oder Interpretation einer sprachlichen Aussage.2 2

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Eine Feststellung, die sich – dies sei zur Vermeidung von Missverständnissen betont – nur auf die Konstitution von Bewegungen durch Akteure und Rezipienten und nicht auf die symbolische Verwertungsbedeutung von Bildern oder Bewegungen bezieht. Vgl. dazu im Interpretationsverfahren die Unterscheidung in Konstitutions- und Verwertungsperspektive von semiotischen (ästhetischen) Aussagen (Franke 1978: 80–124). Das heißt, eine so konstituierte Bewegung kann in ihrer Bewegungsform zum Symbol für Coolness, Sexismus etc. werden, ebenso wie ein Bild in seiner Komposition etwa als revolutionär, angepasst oder plakativ angesehen werden kann. Diese Verwertungsdiskurse über Bilder als Œuvre und über Bewegungen sollen im Folgenden vernachlässigt werden. Im Zentrum steht die Frage, wodurch eine Bewegung im Prozessverlauf ihre gestalthafte Formqualität erhält.

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2.2 Das Verhältnis von Ereignis-Formung und PräsentationsFormung verschiedener Sinneswahrnehmungen Ausgangspunkt für die weitere Differenzierung der Gestaltungsbedingungen von Bewegungen ist eine Unterscheidung, wie sie Schwemmer (2005) in seiner kulturwissenschaftlichen Handlungstheorie vornimmt: in »Ereignis-Form« und »Form-Präsenz«. Im Rückblick auf Platons Differenzierung in Präsenz und Kopräsenz lässt sich eine deutliche Unterscheidung von Mensch-Welt-Beziehungen zwischen einzelnen Sinneswahrnehmungen feststellen, die unter anderem auch bei der Formung von Bewegungen und Tönen relevant ist. So zeigt sich eine erkennbare Differenz zwischen Sehen und Hören auf der einen Seite und Tasten, Riechen und Schmecken auf der anderen Seite. Zunächst einige Hinweise zum Sehen. Im Sehen erfassen wir eine Welt uns gegenüber. Sie erscheint als da-seiend, eine Sehwelt, in der Aspekte unter Beachtung der Zeit zeitgleich miteinander verbunden sind. Eine solche Kopräsenz unter zeitlichen Gesichtspunkten lässt sich im Hören nicht feststellen. Zwar kann man mehrere Geräusche und Klänge gleichzeitig hören, aber das Hören als Ereignis ist letztlich immer durch die Zeitlichkeit seiner Entwicklung gekennzeichnet. Eine Melodie oder ein Rhythmus lassen sich erst hinsichtlich ihrer spezifischen Bedeutung erkennen, wenn sie sich in einer zeitlich gegliederten Form entwickelt haben. Schwemmer fasst das zusammen, wenn er schreibt: »Dieses Entwicklungsverhältnis von akustischen Ereignissen und Hören ist ein dynamisches Verhältnis. Im Hören befinden wir uns in einem dynamischen Weltverhältnis, das wir als ein solches erleben, nämlich als ein der Hörwelt Ausgesetztsein [...] Im Sehen – und damit meine ich: im Erleben des Sehens – verbleibt die Sehwelt dagegen uns gegenüber. Wir sind nicht einbezogen in sie [...]« (Schwemmer 2005: 100).

Die Sehwelt bleibt, könnte man sagen, uns »gegenüber« und wesentlich abhängig von dem Medium, das uns das Sehen ermöglicht, dem Licht. Dem Hören sind wir in einer Art Kugelraum ausgesetzt, solange das Medium Luft Töne überträgt. Davon deutlich getrennt sind körperliche Bewegungen, wie sie unter anderem durch die kinästhetische Wahrnehmung erfahren werden. Anders als beim Sehen und Hören, die das Licht und die Luft als Medium benötigen, gibt es bei Bewegungen kein »materiales Zwischen«, sondern dieses ist, wie schon Aristoteles betonte, ein »angewachsenes Zwischen«. Daraus ergibt sich ein besonderes Verhältnis von Bewegungs-Ereignis und Form (vgl. etwa Franke 2006). Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen der Ereignisbildung beim Sehen und Hören gegenüber körperlichen Bewegungen ist von zentraler Bedeutung, wenn die Frage beantwortet werden soll, wie die Vorstellungen, die Re87

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präsentationen von Bewegungen als Bewegungen geformt werden, wie also jene »Bewegungsbilder« – im Vergleich zu Sehbildern und Hörbildern – strukturiert sind. Denn die Bewegungsbilder besitzen eben kein »materiales Zwischen« und müssten als Prozesskategorie eine dynamische Struktur haben. Für die weitere Argumentation ist also von Bedeutung, dass der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess, analytisch betrachtet, immer als ein zweifacher Formungsprozess angesehen werden muss, bei dem beide Dimensionen einander wechselseitig strukturieren. Im Folgenden werden die Präsentationsbedingungen zunächst allgemein für Sehen und Hören sowie dann, spezifisch, für körperliche Bewegungen dargestellt.

2.3 Präsentations- und Repräsentationsbedingungen Als »Repräsentation« soll zunächst das Gegenwärtigwerden oder eine Wiedervergegenwärtigung von Ereignisvorgängen des Sehens, Hörens und der Bewegung verstanden werden. Ein Prozess, der in der Regel immer durch zwei Voraussetzungen bestimmt wird: • Zum einen ist es immer ein Prozess der Formbildung, • zum anderen ist es eine Formbildung, die eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den organischen Formungsprozessen besitzt, die das Sehen, das Hören oder die Bewegung als physiologischen Vorgang ermöglichen. Das heißt, man kann beim Hinweis auf die Gestalthaftigkeit von Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören oder Bewegen immer von einem doppelstufigen Formungsprozess ausgehen: • die organischen Formungsbedingungen, durch die die Sinnesprozesse grundsätzlich ermöglicht werden, und • die Formung, durch die eine Repräsentation als »Seh-Bild«, »Hör-Bild« oder »Bewegungs-Bild« in unserer Vorstellung entsteht. Während der erste Formungsprozess weitgehend physiologischen Gesetzmäßigkeiten folgt, unterliegt die Erzeugung der Bilder auf der Stufe der Repräsentation kontextuellen und situativen Bedingungen. Unter Bezugnahme auf Whitehead geht Schwemmer auf diesen doppelten Formungsprozess in seiner Handlungstheorie näher ein: »Ohne die Darlegungen von Whitehead hier im einzelnen weiter zu verfolgen, können wir uns die Ausbildung unseres Handelns durch das besondere Verhältnis verdeutlichen, das auf der einen Seite organische Prozesse zueinander und auf der anderen Seite unsere Bewusstseinsprozesse zu diesen organischen Prozessen haben.

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Das Verhältnis der organischen Prozesse zueinander haben wir mit Whitehead als ein Verhältnis der Formangleichung, der conformation, dargestellt. Der Übergang zu den Bewusstseinsprozessen, und zwar zunächst zum Gefühltwerden der organischen Prozesse und zur Vergegenwärtigung dieses Gefühltwerdens, lässt sich dagegen nicht mehr in der gleichen Weise als eine Formangleichung verstehen. Denn die Besonderheit der Bewusstseinsprozesse besteht ja auch in ihrer Spontaneität, also darin, dass ihre innere Form aus bereits eingerichteten Aktivierungsmustern hervorgeht und damit gerade nicht aus einer Angleichung an die Formen der organischen Prozesse entsteht« (Schwemmer 2001: 24).

Dies bedeutet, dass die Formungsprozesse, durch die unser Verhalten und Handeln in der Welt als solche stattfinden und möglich sind, unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen. »Wo die organischen Prozesse unsere Welterfassung – so kann man zusammenfassen – durch die Formangleichung, die conformation, ihre Verlässlichkeit gewinnen, geschieht dies für die Bewusstseinsprozesse durch deren Einbettung in unsere Welt des Verhaltens und Fühlens. Im Unterschied zu den organischen Prozessen der Formangleichung ist diese praktische und emotionale Einbettung unserer Bewusstseinsprozesse von einer deutlich höheren Variabilität. Sie lässt Raum sowohl für kreative Phantasie und Gestaltung als auch für einzelne Irrtümer und allgemeine Verzerrungen unserer Weltorientierung« (Schwemmer 2001: 25).

Wie dies im Bereich der Sehwelt zu verstehen ist, zeigen die von der Wahrnehmungspsychologie in vielfältigen Untersuchungen bestätigten Wahrnehmungstäuschungen, unter anderem die so genannten »Spring-Figuren«. Dabei gelingt die Umstrukturierung des Gesehenen (z.B. »Alte Frau« – »Junges Mädchen«) durch eine veränderte Akzentsetzung räumlicher Anordnung in der Sehwelt. Anders als bei der Erfassung der Welt über das Sehen verhält es sich beim Hören – insbesondere beim Hören von Musik über die Repräsentation von »Klang-Bildern«. Hier wird die Eigenständigkeit des Formungsprozesses auf der Repräsentationsebene unter Einfluss von Situationen und Emotionen insbesondere über eine zeitliche Strukturierung, unter anderem in Form von Rhythmusbedingungen, erreicht. Die Musik erweist sich damit als Ausgangsfeld für die skizzierte Differenzierung in einerseits organisch-materiale Formangleichungen und andererseits kontextabhängige situativ-emotionale Formungen auf der Ebene von Repräsentation im Sinne von »Klang-Bildern«. Gleichzeitig kann an der Musik aber auch verdeutlicht werden, dass diese Formung auf der letztgenannten Ebene der Repräsentation niemals ein privater, sondern bei aller angenommenen Individualität immer ein intersubjektiver sozialer Konstruktionsprozess ist, der sich, wie in der Musikgeschichte besonders offensichtlich wird, auch in eigenen Klangformen manifestiert. Der Komponist als Akteur und der Zuhörer als Rezipient entwickeln dabei einen nicht zufälli89

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gen Formungsprozess. So konnte unter anderem Fricke zeigen, dass und wie in der abendländischen Musik bis 1900 – die bis heute wesentlich die klassische Musikrezeption bestimmt – eine durchgängige Konstruktionsstruktur dominant ist: »Durch die ersten Akkorde oder durch die Anordnung der ersten Töne einer melodischen Linie konstruiert sich der Hörer eine Basis. Sie ist insofern eine Rekonstruktion, da der Hörer nachvollzieht, was der Komponist schon vorher konstruiert hatte. Diese Konstruktion ist [...] eine Notwendigkeit, weil von dieser Setzung eines tonalen Zentrums alle anderen Töne, Akkorde und Tonfolgen ihren relativen Wert und damit ihre Bewertung erhalten. [...] Das Setzen der Bezugsbasis gibt es in verschiedenster Form [...] Wie wichtig uns ein solcher Bezugspunkt ist, verdeutlichen die Ergebnisse von Aufhagen, die zeigen, dass sich die Hörer selbst bei a-tonalen Tonfolgen tonale Zentren suchen, der Hörer schafft sich eine Ordnung – wie er auch sonst gezwungen war, das Ordnen, Kategorisieren, Segmentieren usw. zu lernen, um sich in der Welt zurecht zu finden, um überhaupt leben zu können. Und eine Ordnung ist – nicht nur in der Musik – ein Beziehungsgefüge« (Fricke 2000: 31).

Entscheidend ist, dass beim Hören von Musik, anders als beim Sehen, der Aspekt der Zeit strukturbildend ist. In Form besonderer Muster, die aus dem musikalischen Ablauf extrahiert werden und gleichzeitig einen Ordnungs- und damit Wiedererkennungswert erhalten, wird die Zeit als wesentliches Prinzip des Formungsprozesses erkennbar. Abschließend lässt sich damit konstatieren, dass die Zeit einen Aspekt darstellt, der beim Formungsprozess des Sehens kaum von Bedeutung ist, für das Hören aber eine wichtige Gliederungsfunktion erhält. Für die Bewegung wiederum ist der zeitliche Aspekt von fundamentaler Bedeutung, wie der folgende Abschnitt zeigen wird.

3 Formbedingungen von Bewegungen – Eine besondere Wissensform Die Repräsentation des Hörens, etwa von Musik, in Form von »Klang-Bildern« gelingt nur, wenn die Zeit in diesen Bildern auch in einem räumlichen Nacheinander, etwa über Rhythmusstrukturen, manifestiert wird, wobei diese Rhythmusstrukturen sich letztlich als gegliederte Bewegungen erkennen lassen. Erscheinen die zeitlich gegliederten Bewegungen damit als ein wesentliches Strukturelement bei der Repräsentation von »Hör-Bildern«, verschiebt sich das Problem auf eine gleichsam darunter liegende Ebene, wenn man fragt, wie die Repräsentation, die Gestaltung von »Bewegungs-Bildern« selbst gelingen kann.

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Zunächst ist es naheliegend, wie schon angedeutet, sich die »BewegungsBilder« über Spuren, die die Bewegungen im Raum kennzeichnen, zu verdeutlichen. Das heißt, man könnte sagen, wir sehen gleichsam mit einem »inneren Auge« bei der Repräsentation von Bewegungen diese als Zustandsänderungen im vorgestellten Raum. Eine Deutung, die nahe liegt, die aber gleichzeitig gewichtige Voraussetzungen einschließt, auf die insbesondere Henri Bergson schon vor ca. einhundert Jahren verwiesen hat. So besteht Bergson darauf, »den durchlaufenen Raum und den Akt, durch den er durchlaufen wird« (Bergson 1889/1989: 85), deutlich voneinander zu unterscheiden. Der eigentlich zeitliche Vollzug einer Bewegung wird auf diese Weise zu einer räumlichen Figur. Wir halten von der »Bewegtheit der Bewegung« – wir würden heute sagen: von der »Prozesshaftigkeit der Bewegung« – in unserer Wahrnehmung und in unserer Vorstellung nur »den unbewegten Umriss der Bewegung« fest (Bergson 1912: 306). Einen Umriss, der sich zusammensetzt aus vielen aufeinanderfolgenden, in sich unbewegten Zustandsverhältnissen. Beim Bemühen, die Besonderheit dynamischer Verhältnisse im Bezug des Menschen zur Welt transparent zu machen, bediente sich Bergson des in seiner Zeit populären Begriffs des »Lebens«, des »Lebendigen« in Absetzung zum Starren, Festen, Toten, und bereitete damit nicht unverschuldet seine Rezeption als »Lebensphilosoph« – einschließlich der daraus sich im Folgenden entwickelnden Kritik – vor. Erst in jüngster Zeit hat eine Renaissance der Schriften Bergsons gezeigt, dass seine Ausgangsposition und seine grundsätzlichen Fragen mehr Aufmerksamkeit verdienen als seine zeitgebundenen Antwortversuche. Dies gilt unter anderem für die hier zu behandelnde Frage nach den Repräsentationsmöglichkeiten der Bewegung, also nach der Konstruktion von »Bewegungs-Bildern« als Formungsprozess in Abgrenzung zu den biologisch-motorischen Formungsbedingungen einer Bewegung. Letzteres ist ein Thema in der biomechanischen und kognitiven Bewegungswissenschaft des Sports. Dagegen ist die erste Frage nach den Bedingungen von »BewegungsBildern« bisher immer noch eine eher philosophische Herausforderung an bewegungswissenschaftliches Denken. Philosophisch relevant ist dabei Bergsons Verweis auf die Verräumlichung in der Bewegungs-Vorstellung, wodurch nicht nur der Vollzugscharakter von Bewegungen verschwindet, sondern auch eine Distanzierung von der oben mit Bezug auf Aristoteles hervorgehobenen, besonders leiblich gebunden erlebten Prozesshaftigkeit von Bewegungen (ohne ein materielles »Zwischen«) stattfindet. Schwemmer hebt dies pointiert hervor: »Aber nicht nur diese unbeteiligte Distanziertheit ist für Bergson ein philosophisches Ärgernis, sondern auch die Transformation – so könnte man es moderner formulieren – einer dynamischen Syntax in eine statische Syntax und damit die Perspektivierung unseres Handelns wie der Bewegung überhaupt in einer Begrifflichkeit, die von den Idealen 91

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einer Klassen- und deutlichen Unterscheidungspraxis durchdrungen ist, in der man aber gerade die Vollzugswirklichkeit unseres Handelns und die Prozessualität der Bewegung nicht mehr erfassen könne« (Schwemmer 2005: 101).

Entscheidend ist, dass diese Differenz nicht als eine Differenz zwischen Akteurs- und Rezipientenperspektive gedeutet wird, sondern dass sich darin ein generelles Problem bei der Formung von »Bewegungs-Bildern« zeigt. Gleichzeitig wird hier aber auch deutlich, welche Herrschaft das Sehen nicht nur hinsichtlich der Hierarchie von Sinneswelten, sondern auch bei der Konstruktion von »Bewegungs-Bildern« entfaltet. Dabei geht es weniger um die bloße Sichtbarmachung oder Verbildlichung unseres Erlebens, sondern um die mit dem Sehen entwickelten überprägnanten Formungsprinzipien mit der darin implizierten Verräumlichung von Ereignissen und deren Repräsentationsformen. »Es ließe sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische Probleme bieten, daher kommen, dass man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, in Räume nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch beenden ließe, dass man von den allzu groben Bildern abstrahiert, um die er sich abspielt« (Bergson 1889/1989: 7).

Um im weiteren Verlauf diesen kritischen Hinweisen Rechnung zu tragen und implizite Missverständnisse zu vermeiden, wird vorgeschlagen, beim Formungsprozess der Bewegungs-Repräsentation nicht mehr von »BewegungsBildern«, sondern von »Bewegungs-Wissen« zu sprechen.

3.1 Bewegungspräsentation als »Bewegungs-Wissen« Wie schon eingangs betont, kann der Begriff des Wissens in dreifacher Weise expliziert werden: know that, knowledge of and know how. Während in wissenschaftlichen Untersuchungen in der Regel nur das propositionale Wissen (»know that«) anerkannt wird, sind die beiden anderen Formen auch in konkreten Handlungszusammenhängen relevant (vgl. auch Franke 2004). Der im Folgenden verwendete Begriff des »Bewegungs-Wissens« schließt die anderen beiden Wissensformen nicht nur aus pragmatischen Gründen mit ein, sondern integriert sie bewusst im Sinne des Wissens als ein »Können«, um damit auch den bisher vernachlässigten Vollzugscharakter in Formungsprozessen von Bewegungen zu dokumentieren. Im Unterschied zu Wissensformen, die sich auf Sachverhalte beziehen und sich als ein distanziertes »Wissen, dass« zeigen, ist das »Können« als ein »Wissen, etwas Bestimmtes zu tun«, dispositionell. So ist der Drehsprung in einer Turnübung nur dann erfolgreich, wenn der Absprung mit dem richtigen 92

BEWEGUNG ALS KOMMUNIKATION

Krafteinsatz zur richtigen Zeit erfolgt ist. In Bezug auf die Prozesshaftigkeit der Bewegung ist es ein Wissen, das sich leiblich-habituell herausbildet, wobei der Leib gleichsam als »Prozessspeicher« (Alkemeyer 2001, 2003) fungiert. Ein »Prozessspeicher« jedoch, der hinsichtlich der ereignishaften Wahrnehmung und der Repräsentation von Bewegung einem differenten Formungsprozess unterliegt. (1) Simultanität In einer selbst durchgeführten oder beobachteten Bewegung werden mehrere Faktoren »gleichzeitig« erfasst, mitunter trotz oder gerade wegen einer »relativen Fülle« bzw. »Dichte«. Ebenso wie bei einem Bild ist bei der Bewegung zunächst ein Gesamteindruck bestimmend, in den auch emotionale oder assoziative Momente undifferenziert eingehen können. (2) Anerkennung von Widersprüchlichkeit Durch diese Wahrnehmungsdichte kann es dazu kommen, dass Inkompatibles nicht »automatisch« als solches erkennbar wird. Das heißt, man könnte sagen, neben einer diskursiv entwickelten »Entweder-dies-oder-das«-Logik ist auch eine »Sowohl-dies-als-auch-das«-Position möglich, in der Widersprüchliches kopräsent ist. Für die Anerkennung dieser Widersprüchlichkeit sind zwei Voraussetzungen notwendig: • Auf der konkreten Beobachtungsebene ist der »frame of reference« von Bewegung weit zu ziehen, da nicht genau bestimmbar ist, wo die Bewegung »anfängt« und wo ihre »Wirkung endet«.3 • Auf der prinzipiellen Ebene gilt das, was unter anderem Hegel als kennzeichnend für die Bewegung als Bewegung herausstellte: »Dieß Vergehen und Sich-wiedererzeugen des Raums in Zeit und der Zeit in Raum, daß die Zeit sich räumlich als Ort, aber diese gleichgültige Räumlichkeit ebenso unmittelbar zeitlich gesetzt wird, ist die Bewegung« (Hegel 1842: 62, § 162). (3) Komplexer Abstraktionsgrad Die nicht-propositionale Wissensform körperlicher Bewegung zeichnet sich unter Beachtung von Simultanität und Widersprüchlichkeit durch eine offene integrierende Bedeutung aus, die sich deutlich von diskursiv-endlichen Wissensformen unterscheidet. Dadurch, dass in diese Wissensformen Widersprüche integrierbar sind, Paradoxa die Prozesshaftigkeit der Bewegung bestimmen, gilt es auch nicht, Wahrheit zu ermitteln, sondern funktionale

3

So bleibt, wenn man Wünsche und Assoziationen und andere Aspekte zur Bewegung hinzunimmt, unbestimmt, ob »die Bewegung« erst mit dem Ortswechsel in der Zeit beginnt oder auch Vorlaufbedingungen bzw. Nachwirkungen bedeutsam sind (vgl. dazu Abschnitt 1 dieses Beitrags). 93

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Adäquatheit – unter anderem über mimetische Prozesse, die sich als »Inkorporiertheit« im Sinne Bourdieus (1987) zeigen. (4) Relationale Struktur Entsprechend geht das nicht-propositionale Wissen nicht auf eine ableitbare, regelhafte Grammatik zurück, sondern stellt eher eine relationale Struktur dar, durch die keine Objekteigenschaften, sondern Prozessabläufe geformt werden. Negativität zeigt sich in diesen Wissensformen nicht als »NichtWahrheit«, sondern als nicht (mehr) integrierbarer Widerspruch – als Differenz in Form von Erfahrungsbrüchen, die sich in dreifacher Weise zeigen können: als Negativerfahrung, als Zweifel und als Möglichkeitsperspektive.4 Allen drei Differenzweisen gemeinsam ist ein Ungewisswerden hinsichtlich bisherigen So-oder-so-Seins in der Prozesshaftigkeit von Bewegung. »Negation und Zweifel treten auf, weil sich etwas zeigt, das im Erfahrungsverlauf unstimmig, untypisch, anders oder neu ist. Negationen und Zweifel sind Unstimmigkeiten innerhalb der einstimmigen, das heißt als gewiß geglaubten Erfahrungen« (Lotz 1999: 735).

Die Entwicklung von Möglichkeitsperspektiven kann aus solchen Grenzerfahrungen erwachsen oder auch durch ein Gewahrwerden der Routinehaftigkeit innerhalb des Bewegungsprozesses. Beide Formen führen zu einem veränderten Wissen um die Mensch-Welt-Bedingungen. Dabei wird deutlich, »daß es innerhalb einer Welterfahrung partielle Erfahrungsbrüche geben kann, die in ein explizites Ungewissheitsbewusstsein führen« (Lotz 1999: 736), aus dem sich veränderte Mensch-Welt-Beziehungen ergeben. Neben dieser (gleichsam negativen) Erfahrung von »Differenz« gibt es aber auch die (positive) Erfahrung, die unter anderem als »Mimesis« eine analoge Einpassung in die Prozesshaftigkeit der Welt ermöglicht, wie sie von Gebauer/Wulf (1992) differenziert dargestellt wurde. Abschließend kann man sagen: Beide Prozessformen führen dazu, dass das scheinbar subjektive nicht-propositionale Wissen von Bewegungen niemals ein privates Wissen sein kann, sondern immer eine intersubjektiv und kulturell geprägte Bedeutung erhält. Bezogen auf das eingangs genannte bewegungsrelevante Körperwissen erweist es sich als eine spezifische, dem Gegenstand »Bewegung« entsprechende, prozesshafte Wissensform, die, wie der Verweis auf die Charakteristika nicht-propositionalen Wissens erkennen ließ, nicht zufällig im körperlichen Bewegungs-Wissen eine besondere Explikation erfährt.

4 94

Diese Unterteilung ließe sich in Anlehnung an Husserl (1939/1985) weiter spezifizieren.

BEWEGUNG ALS KOMMUNIKATION

3.2 Präsentatives Bewegungs-Wissen und ereignishafte Bewegungs-Bedingungen – Eine Differenz mit Reflexionspotenzial Kennzeichnend für die Prozesshaftigkeit körperlicher Bewegung ist, dass ich um das »Bewegliche« (Merleau-Ponty) dieser Bewegung wissen kann, allerdings in einer distanzlosen Weise des Erlebens. Das heißt, es ist kennzeichnend für diesen Zustand, dass man in diesem Zustand ist. Merleau-Ponty verdeutlicht dieses am Beispiel eines fliegenden Steins. So ist ein geworfener Stein nicht ein identischer (der immer gleiche Stein), dem die Bewegung als ein »Äußerliches« (als eine Qualität) hinzugefügt wird, sondern der fliegende Stein ist die Bewegung selbst. Sie ergibt sich immer als das Ergebnis einer Perspektive in Bezug zu einem Stein. Diese schon im klassischen Zenon-Diskurs sichtbar gewordene Zurückweisung einer Unterscheidung von Beweglichem und Bewegung besagt, dass der Mensch die Bewegung als Bewegliches leiblich erfahren kann, jedoch, wie abschließend deutlich wird, bei der Repräsentation dieser Bewegungswahrnehmung auf die Differenz von Wahrnehmungszustand und dessen Repräsentation zurückverwiesen wird. Besonders offensichtlich ist dies einerseits bei den Fähigkeiten des Menschen zur Simultanität: mehrere Faktoren einer Bewegungs-Wirklichkeit »gleichzeitig« erleben zu können, mitunter trotz oder gerade wegen einer »relativen Fülle« bzw. »Dichte«, • andererseits durch seine Fähigkeit, erfolgreich zu handeln, das heißt: mit Bewegungen ziel- und zweckorientiert in der Welt zu interagieren – und zwar genau dann, wenn er in der Lage ist, den Strom der Ereignisse in eine Folge momentaner Zustände umzuwandeln.



Erst mit der Repräsentation als Bewegungs-Vorstellung im Rahmen eines Bewegungs-Wissens als Könnensdimension gewinnen wir also die Möglichkeit, uns in unseren Bewegungen bzw. durch unsere Bewegungen zu uns selbst zu verhalten. Mit den Repräsentationen unserer Bewegungen werden wir zu sich bewegenden Personen und erwerben damit das Potenzial zur Reflexivität gegenüber dem eigenen Tun. Woraus sich grundsätzliche Konsequenzen ergeben, denn aus konstitutiver Sicht gibt es: • einerseits die Möglichkeit, die Bewegung als leiblichen Prozess in seiner zeitlichen Dynamik und damit als eine Ereignisform zu erleben; • andererseits ist die Repräsentation dieses prozesshaften Vorgangs letztlich immer nur in einer verräumlichten Form im Sinne von »Bewegungs-Spuren« in unseren Vorstellungen erfassbar.

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Dies ist ein konstitutives Dilemma in der Gestaltung von Bewegungen, das sich als Vorteil – und als Nachteil erweisen kann: So stellt die Differenz zwischen den Formungsbedingungen des (organischen) Bewegungs-Ereignisses und der immer kulturell und situativ bestimmten Bewegungs-Vorstellung zunächst eine widersprüchliche Erfahrung dar. Eine Erfahrung, die jedoch ein großes Potenzial an Reflexivität enthält, das sich aus dem Unterschied zwischen den beiden differenten Formungsprozessen (Ereignis-Form und Vorstellungs-Form) ergibt. Diese Reflexivität im Bewegungsprozess ist für Lehr-Lern-Vorgänge von Bewegungen von großer Bedeutung, da durch die häufig klar erfassbaren Differenzerfahrungen zwischen vorgestellter Bewegung und realisierter Bewegung (bei gescheiterten oder geglückten Bewegungsfolgen) eine gleichsam zeitgleiche »Reflexion im Prozess« erfolgen kann, im Gegensatz zu sonst eher zeitlich »nachlaufenden« kognitiven und repräsentativen (sprachlichen) »Reflexionen über den Prozess«5. Eine Differenzierung, durch die die einleitend angedeuteten Beobachtungen Bourdieus (1997) präzisiert werden können.

4 Implizite Formungsbedingungen – Ein Resümee in zehn Punkten Rückblickend sollen noch einmal die wesentlichen Aspekte in zehn Punkten zusammengefasst werden: (1) Eine theoretische Bezugsquelle bei der Re-Interpretation der Ansätze der analytischen Handlungsphilosophie war Ernst Cassirer – unter Beachtung zeitgenössischer Textauswertung. Seine Unterscheidung in leibbezogenes Ausdrucksverstehen (was er unter anderem am Beispiel des distanzlosen mythischen Verstehens expliziert) und das distanzierende Darstellen in sprachlichen Äußerungen zeigt sich dabei als zukunftsweisend. Obwohl zeithistorisch der analytischen Sprachphilosophie vorausgehend, überwindet er deren teilweise enge Anbindung an die wissenschaftliche Sprache und kann durch seine Symboltheorie auch als ein Wegbereiter der Spätphilosophie Wittgensteins angesehen werden. (2) Von Bedeutung für das hier vorgestellte Thema ist, dass das leibbezogene Ausdrucksverstehen mit- und vorbestimmt wird durch die nicht zufällige Gestalthaftigkeit der jeweils involvierten Sinneswahrnehmungen, woraus sich ein zweifacher Formungsprozess bestimmen lässt: • eine »Ereignis-Formung« – die wesentlich vorbestimmt wird durch die organisch-systematischen Bedingungen der Sinneswahrnehmungen – und 5 96

Vgl. dazu unter anderem Franke 2004.

BEWEGUNG ALS KOMMUNIKATION



eine »Präsentations-Formung« – die durch den symbolisch-situativen Kontext, zum Beispiel die emotionale, kulturelle etc. Bedeutung eines Musikstückes, eines Bewegungsrhythmus etc. geprägt wird.

(3) Einen besonderen Forschungsschwerpunkt bildet für Cassirer die mythische Erfahrung. Sie zeichnet sich – in Abgrenzung zum Bedeutungsverstehen etwa in wissenschaftlichen Kontexten – aus: • durch eine Distanzlosigkeit bzw. durch ein Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem (der heilige Berg ist für den Indianer nicht ein Berg mit der Eigenschaft »heilig«, sondern die Ausdrucksbedeutung ist mit dem Gegenstand identisch); • durch qualitative, zum Beispiel an den Rhythmus des menschlichen und natürlichen Seins gebundene Raum-Zeit-Erfahrungen von Bewegungen (insbesondere bei kinästhetischen Wahrnehmungen gibt es kein »materiales Zwischen«). (4) Aus dieser strukturellen Vergleichbarkeit ergab sich im vorliegenden Beitrag das Ziel, bisherige Forschungen mit ihren häufig lebensphilosophisch-holistischen Deutungsangeboten durch eine analytische Perspektive zu präzisieren. (5) Am Beispiel der Musik und der Bewegung wurde exemplarisch gezeigt, wie solche zunächst ganzheitlich erscheinenden Kommunikationsformen expliziert werden können. • Beim Hören ist durch das für den Menschen lebensnotwendige Medium Luft ein unmittelbares Erfassen von Geräuschen, Sprache oder Musik in einem »Kugelraum« möglich. Das Hören findet damit (weitgehend) zeitgleich statt und kann auch nicht unterbunden werden, außer man verstopft sich die Ohren. • Die Bewegung des eigenen Körpers und seine Wahrnehmung ist ebenfalls ein unmittelbarer Vorgang, allerdings ohne eine materielle, zeitgleiche oder symbolische Übertragung. (6) Am Beispiel von Musik und Bewegung sollte damit deutlich werden, dass es distanzlose Kommunikationsbedingungen für Akteur und Rezipient geben kann, die analytisch erklärt werden können – unabhängig von zusätzlich immer möglichen symbolischen Strukturierungs- und Bedeutungszuweisungen. (7) Unter Bezug auf die Unterscheidung der kulturphilosophischen Handlungstheorie Schwemmers, nämlich in die prinzipiell doppelte Gestalthaftigkeit von Formungsprozessen als organische Prozesse unserer Welterfassung (»conformation« im Sinne Whiteheads) und Bewusstseins-Prozesse in ihrer Einbettung in unserer Welt des Verhaltens und Fühlens, wurde eine Differenzierungsmög97

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lichkeit auch in scheinbar ganzheitlichen Erfahrungsmodi aufgezeigt: durch die Unterscheidung von Formungsprozessen in Ereignis-Formung und Repräsentations-Formung. Mit der Konsequenz, dass das ganzheitliche Eingebundensein von Bewegungen in die Bedingungen der Welt gleichzeitig immer einem nichtzufälligen, gestalthaft gegliederten Formungsprozess unterliegt, der nicht erst durch einen »zweiten«, symbolisch geprägten Formungsprozess (zum Beispiel durch die Sprache) seine gestalthafte Bedeutung erhält, wie es die Tradition der Handlungsforschung häufig unterstellt. Vielmehr unterliegt die sinnhafte Erfassung von Welt selbst schon spezifischen Formungsbedingungen. (8) Durch die Differenz von Ereignis-Formung und Repräsentations-Formung im Aneignungsprozess von Welt mittels der verschiedenen Sinne und der dadurch sich ergebenden Unterschiede und Brüche im gestalthaften Handlungsvollzug gegenüber den verschiedenen (Um-)Welten kann man auch von einem »reflexiven Potenzial« in solchen scheinbar unreflektierten Handlungssituationen ausgehen. (9) So genannte »Ganzheitliche Erfahrungsmodi« besitzen damit unter Umständen mehr situationsangemessene oder zeitgleich wirksame Korrekturmöglichkeiten, als die holistische Deutungstradition unterstellt, wenn man dabei unterscheidet in Reflexion im Prozess und Reflexion über den Prozess. Während die meist zeitlich nachgeordnete, über ein eigenes Medium oder Symbolsystem wirksam werdende Reflexion über ein Ereignis (in der Regel als ein besonderer Bewusstseinsvorgang über die Sprache expliziert) allgemein bekannt und anerkannt ist, erfordert eine Reflexion im Prozess weitere Erläuterungen. (10) Reflexionen im Prozess ergeben sich aus einer Differenz zwischen Ereignis-Formung und Repräsentations-Formung hinsichtlich des Handlungsvollzugs. Das dadurch gebildete Reflexionspotenzial zeigt sich insbesondere an Bruchlinien des Handlungsvollzugs in Situationen, bei »Stolpersteinen« gegenüber entwickelten Handlungserweiterungen (zum Beispiel im Scheitern/ überraschenden Gelingen etc.) hinsichtlich des Könnens und Wissens eines Handlungsvollzugs.

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Lost in Expectation? Sozialtheoretische Überlegungen zur Körperlichkeit sozialer Ordnung PATRICK LINNEBACH

Zidanes Kopfstoß hatte die Plötzlichkeit und gleichzeitig Feinheit eines kalligrafischen Schriftzugs. Bedurfte dessen Ausführung nur einiger Sekunden, konnte er doch nur am Ende eines langen Reifungsprozesses geschehen, am Ende einer lange währenden, unsichtbaren und verborgenen Vorgeschichte. Zidanes Geste entzieht sich den ästhetischen Kategorien des Schönen und Erhabenen, sie ist jenseits der moralischen Kategorien von Gut und Böse angesiedelt, ihr Wert, ihre Stärke und ihre Substanz gründen allein in ihrer nicht weiter ableitbaren Übereinstimmung mit genau dem Augenblick, in dem sie erfolgte. Jean-Philippe Toussaint, Zidanes Melancholie

Fußballspiele, und zwar nicht nur solche, in denen der französische Ausnahmefußballer Zinédine Zidane bis zu seinem Kopfstoß im Berliner Finale der Weltmeisterschaft 2006 regelmäßig mitgewirkt hatte, und die Exklusionsbereiche der modernen Gesellschaft, etwa die Favelas brasilianischer Großstädte, scheinen – soziologisch betrachtet – ein zentrales Strukturmerkmal gemeinsam zu haben: In beiden Sozialbereichen sind offenbar nicht-sprachliche, körperliche Momente wie Wahrnehmung und Schnelligkeit bedeutsamer als in anderen Bereichen. Selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass Schnelligkeit auf Fußballplätzen primär als Bedingung der Möglichkeit von Kreativität und sportlichem Erfolg, in Exklusionsbereichen hingegen im Kontext eines möglichen Gewaltverbrechens zu sehen sein dürfte, liegt die Vermutung nahe, »das nur über geschulte Wahrnehmung erreichbare Tempo der Einstellung auf Ereignisse« (Luhmann 1995/2005: 245) – und die damit einhergehende Bedeutungszunahme des Körpers – könnte in dem Moment in ganz unterschiedlichen Bereichen strukturell an Relevanz gewinnen, in dem sich die Erwartungssicherheit fremden Verhaltens reduziert. 103

PATRICK LINNEBACH

Der vorliegende Beitrag stellt vor diesem Hintergrund die körperliche Dimension von Sozialität in den Fokus der Betrachtung, allerdings nicht in dem Sinne, dass – gesellschaftsdiagnostisch – nach Gründen für die Zunahme an Erwartungsunsicherheit gefahndet wird; vielmehr wird – in sozialtheoretischer Absicht – der Frage nachgegangen, wie sich die auf Fußballplätzen und in Exklusionsbereichen freilich nur deutlicher als in anderen Bereichen zu beobachtende Körperlichkeit sozialen Handelns und sozialer Ordnung theoretisch, und dabei insbesondere systemtheoretisch, beschreiben lassen könnte. Zur Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden die Rolle des Körpers bei der Lösung des Problems sozialer Ordnung in Interaktionssituationen (systemtheoretisch gesprochen: in der Kommunikation unter Anwesenden) untersucht. Dabei besagt die hier zu diskutierende Vermutung: Die Systemtheorie ist ›lost in expectation‹ – geht sie doch davon aus, Sozialität werde weniger körperlich als mental über ein Geflecht wechselseitiger Erwartungen strukturiert. Die Argumentation verfolgt ein – schon aus Platzgründen recht grob konturiertes – theoriegeschichtliches Vorgehen. Ausgehend von den ›Soziologischen Grundbegriffen‹ Max Webers und der darin artikulierten Ursprungskonzeption sozialen Handelns (Abschnitt 1) wird im nächsten Schritt der Versuch unternommen, die Rezeption zentraler Weber’scher Konzepte im Frühwerk von Alfred Schütz nachzuzeichnen (Abschnitt 2); es dürfte einiges dafür sprechen, diese als mögliche Ursache für die praxistheoretische Position anzusehen, sich kategorisch von Webers Überlegungen zu distanzieren. Im Anschluss wird die Weiterentwicklung des Weber’schen Konzepts sozialen Handelns zum Theorem der doppelten Kontingenz – und insofern zum Problem sozialer Ordnung – durch Parsons skizziert (Abschnitt 3); nachfolgend werden die daran wiederum vorgenommenen Umbauarbeiten Luhmanns vorgestellt (Abschnitt 4). Der mit diesen Umbauarbeiten zweifellos einhergehende Theoriegewinn dürfte vor dem Hintergrund der ›Körperlichkeit des Sozialen‹ aber auch, wie zusammenfassend zu zeigen sein wird, zu Lasten zentraler Einsichten Webers gegangen sein; eine sich daraus ableitende kritische Diskussion des grundlagentheoretischen Status der Erwartungskategorie innerhalb der systemtheoretischen Sozialtheorie soll abschließend zumindest angedeutet werden (Abschnitt 5).

1 Kontingentes soziales Handeln Bekanntlich hat Weber (1922/1980: 1) die Aufgabe der (verstehenden) Soziologie darin gesehen, soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich zu erklären. Nur wenige Formulierungen haben in der Soziologiegeschichte vermutlich vergleichbare Missverständnisse, vielleicht besser noch: Verständnisambivalenzen, produziert. Für das weitere Vorgehen, die Beschäftigung mit der körperlichen Di104

LOST IN EXPECTATION?

mension von Sozialität, wird es daher aufschlussreich sein, zentrale »Grundbegriffe« (ebd.: 1ff.) der Weber’schen Soziologie genauer zu explizieren, um daran die keineswegs zwingende Grundbegriffe-Lesart des ›frühen‹ Schütz sowie die rezeptionshistorischen Folgen einer (zweck-)rationalistischen Auslegung von Webers Grundbegriffen aufzuzeigen; Letztere scheinen bis in die zentralen Annahmen der Praxistheorie und der systemtheoretischen Kommunikationstheorie hineinzuwirken. Untersuchungsgegenstand der Soziologie ist vorstehender Definition zufolge soziales Handeln, das Weber (ebd.: 1; Hervorhebung im Original) in Abgrenzung zu – man könnte vielleicht sagen: präsozialem – Handeln einerseits und reaktivem (im Sinne von quasi-instinktivem) Sichverhalten andererseits als ein Handeln versteht, »welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«; das sich, genauer noch, entweder »am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer« (ebd.: 11) orientiert.1 Handeln bezeichnet dabei allgemein »ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden)«, mit dem die Sichverhaltenden »einen subjektiven Sinn verbinden« (ebd.: 1). Nur Handeln als sinnhaft orientiertes Sichverhalten, soziales Handeln inklusive, ist für Weber verstehbar – bloßes Sichverhalten, verstanden als quasi-instinktive Reaktion auf einen Reiz,2 hingegen nicht. Es werden von Weber nun zwei Arten von Verstehen unterschieden: aktuelles und motivationsmäßiges Verstehen – bzw., was in der Terminologie obiger Definition dasselbe bedeutet: Verstehen und Erklären. Aktuelles Verstehen liegt genau dann vor, wenn man versteht (im Sinne von: zur Kenntnis nimmt), dass es sich bei einem Verhalten nicht um eine quasi-instinktive Reaktion auf einen Reiz, sondern um ein sinnhaftes Verhalten handelt, das deshalb sinnhaft ist, weil es auch anders hätte ausfallen können; bei Weber (ebd.: 4) liest man:

1

2

Allerdings: »Die Soziologie hat es eben keineswegs nur mit ›sozialem Handeln‹ zu tun, sondern dieses bildet nur (für die hier betriebene Art von Soziologie) ihren zentralen Tatbestand, denjenigen, der für sie als Wissenschaft sozusagen konstitutiv ist. Keineswegs aber ist damit über die Wichtigkeit dieses [Tatbestands] im Verhältnis zu anderen Tatbeständen etwas ausgesagt« (Weber 1922/ 1980: 12; Hervorhebung im Original). Eine Definition bloßen Sichverhaltens unternimmt Weber nicht; aufschlussreich ist aber hinsichtlich dessen, was damit gemeint ist, folgendes Zitat: »Inwieweit auch das Verhalten von Tieren uns sinnhaft ›verständlich‹ ist und umgekehrt [...], und inwieweit also theoretisch es auch eine Soziologie der Beziehungen des Menschen zu Tieren (Haustieren, Jagdtieren) geben könne (viele Tiere ›verstehen‹ Befehl, Zorn, Liebe, Angriffsabsicht und reagieren darauf offenbar vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewußt sinnhaft und erfahrungsorientiert), bleibt hier völlig unerörtert« (Weber 1922/1980: 7). 105

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»Wir ›verstehen‹ z.B. aktuell den Sinn des Satzes 2 x 2 = 4, den wir hören oder lesen (rationales aktuelles Verstehen) oder einen Zornausbruch, der sich in Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert (irrationales aktuelles Verstehen von Affekten), oder das Verhalten eines Holzhackers oder jemandes, der nach der Klinke greift, um die Tür zu schließen, oder der auf ein Tier mit dem Gewehr anlegt (rationales aktuelles Verstehen von Handlungen).«

Wir verstehen dieses Verhalten als Tätigkeiten – als Handeln –, da der Holzhacker eben auch kein Holz hacken und stattdessen rauchend auf einem Holzklotz herumsitzen könnte; oder die Person, die nach der Klinke greift, um die Tür zu schließen, diese auch (mehr oder weniger sanft) mit dem Fuß schließen oder sie einfach auch geöffnet lassen könnte. In seiner frühen Rechtssoziologie sieht Luhmann (1972a: 19) das Novum und die für die soziologische Theoriebildung zentrale Leistung Webers daher »im radikalen Rückgang auf einen subjektbezogenen Handlungsbegriff. Menschliches Handeln wird nicht mehr ontisch-naturhaft-merkmalsmäßig beschrieben, sondern durch ›gemeinten Sinn‹ definiert, also verstanden als etwas, das vom Handelnden erst identifiziert werden muß« – das heißt, und dies sei bereits in Hinblick auf die nachfolgenden Überlegungen zum Theorem der doppelten Kontingenz bei Parsons und Luhmann formuliert, als ein Verhalten, das kontingent ist.3 Demgegenüber liegt eine Erklärung sozialen oder präsozialen Handelns, das heißt: motivationsmäßiges Verstehen, dann vor, wenn wir beispielsweise verstehen, »welchen Sinn derjenige, der den Satz 2 x 2 = 4 ausspricht, oder niedergeschrieben hat, damit verband, daß er dies gerade jetzt und in diesem Zusammenhang tat, wenn wir ihn mit einer kaufmännischen Kalkulation, einer wissenschaftlichen Demonstration, einer technischen Berechnung oder ei3

Diese kontingenztheoretische, im Brentano-Husserl’schen Sinne intentionalistische Lesart subjektiv gemeinten Sinns scheint ihre Bestätigung nicht zuletzt in Webers Wortwahl zu finden, die man so auch bei Husserl wiederfindet; in Husserls Logischen Untersuchungen heißt es: »Die intentionalen Erlebnisse haben das Eigentümliche, sich auf vorgestellte Gegenstände in verschiedener Weise zu beziehen. Das tun sie eben im Sinne der Intention. Ein Gegenstand ist in ihnen ›gemeint‹, auf ihn ist ›abgezielt‹, und zwar in der Weise der Vorstellung oder zugleich der Beurteilung usw.« (Husserl 1913/1968: 372). – In der Bedeutung von Intention als Absicht dominiert in der Soziologie im Vergleich freilich eine engere Lesart subjektiv gemeinten Sinns: »Die Beobachtung eines Verhaltens, das zum Öffnen einer Tür führt, kann nur dann Anlaß zu der Handlungsbeschreibung geben, daß X die Tür geöffnet habe, wenn X dieses Verhalten in der Absicht ausführte, die Tür zu öffnen«, liest man beispielsweise in Wolfgang Ludwig Schneiders (2002/2008: 24; Hervorhebung im Original) Lehrbuch »Grundlagen der soziologischen Theorie«. Uwe Schimank (2000: 24) argumentiert vergleichbar, aber gewissermaßen umgekehrt, wenn er in seiner »Einführung in die akteurtheoretische Soziologie« jenes Sichverhalten, das sich zeigt, wenn eine Frau »beim Tanzen die Erektion ihres Partners spürt«, nicht als Handeln, sondern als »bloßes Verhalten« interpretiert.

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ner anderen Handlung befaßt sehen, in deren Zusammenhang nach ihrem uns verständlichen Sinn dieser Satz ›hineingehört‹, das heißt: einen uns verständlichen Sinnzusammenhang gewinnt« (Weber 1922/1980: 4; Hervorhebungen im Original). Bei dem Motiv (prä-)sozialen Handelns, das es zu verstehen gilt, handelt es sich also nicht – so die hier vorgeschlagene Lesart – um die Absicht, sondern den Kontext, in dem soziales (bzw. präsoziales) Handeln als aktuell verständliches Handeln motivationsmäßig verständlich wird.4 Und diese, vielleicht könnte man versuchsweise sagen, ›transintentionalistische‹ Lesart widerspricht auch nicht jenen Ausführungen bei Weber (1913/1985: 439; 1922/1980: 6), auf die sich methodologische Individualisten beziehen, wenn sie postulieren, Sozialität sei nur unter Rückgriff auf das Handeln von Einzelpersonen zu erklären – denn die entscheidende Frage scheint doch die zu sein, wie soziales Handeln erklärt wird: Wo methodologische Individualisten versuchen, die der Handlung zugrunde liegenden Absichten zu verstehen – so etwa Hartmut Esser (1999: 247ff.) in Gestalt seiner Wert-Erwartungstheorie –, zielt eine transintentionalistische (also, wenn man so möchte, eine nicht handlungs-, sondern systemtheoretische) Lesart Webers auf das Verstehen des Sinnzusammenhangs. So besehen, gehören Handlungsabsichten bereits zur emergenten Realität des Sinnzusammenhangs und lassen sich, wie von C. Wright Mills (1940) dargelegt, als Vokabular für kommunizierbare Handlungsgründe oder aber mit Luhmann (übrigens im Anschluss an Mills) als ›Produkt‹ von Kommunikation beschreiben (siehe auch Abschnitt 4). Zweckrationales (prä-)soziales Handeln – also »subjektiv streng rational orientierte[s] Handeln nach Mitteln, welche (subjektiv) für eindeutig adäquat zur Erreichung von (subjektiv) eindeutig und klar erfaßten Zwecken gehalten werden« (Weber 1913/1985: 432) – zu erklären heißt demnach nicht, »daß man es aus ›psychischen‹ Sachverhalten, sondern offenbar gerade umgekehrt: daß man es aus den Erwartungen, welche subjektiv über das Verhalten der Objekte gehegt wurden [...], und nach gültigen Erfahrungen gehegt werden durften [...], und ganz ausschließlich aus diesen, ableiten will« (ebd.); den Sinnzusammenhang, den es zu verstehen gilt, bilden somit die Erwartungen, 4

»›Motiv‹ heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ›Grund‹ eines Verhaltens erscheint«, liest man bei Weber (1922/1980: 5); dieser Grund kann freilich ganz unterschiedlicher Art sein: von der Kultur – Clifford Geertz (1973/1983: 9) spricht in Anlehnung an Weber von »selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe[n]« – über die konkrete Situation sozialen Handelns – eine situationstheoretische Lesart findet sich etwa bei Krallmann und Ziemann (2001: 159) – bis hin zu Biografie und Psyche des Handelnden; hinsichtlich ›psychischer Gründe‹ bezieht sich Weber bekanntlich auf Karl Jaspers, wenn er davon ausgeht, dass insbesondere beim motivationsmäßigen Verstehen irrationalen (!) Handelns »die verstehende Psychologie in der Tat unzweifelhaft entscheidend wichtige Dienste leisten« (Weber 1922/1980: 9) kann. 107

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die das Handeln des Einzelnen strukturieren – etwa die Erwartung, dass das Geld, das man bei einem Tausch annimmt, »sehr zahlreiche, aber unbekannte und unbestimmt viele Andre [...] ihrerseits künftig in Tausch zu nehmen bereit sein werden« (Weber 1922/1980: 11). Komplementär dazu ist wertrationales Handeln nur aus dem Wert bzw. den Werten heraus erklärbar, an denen es sich »ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen« (ebd.: 12) orientiert, und die mit den beiden Idealtypen traditionalen und affektuellen Handelns erfasste Körperlichkeit (prä-)sozialen Handelns nur aus den Gewohnheiten und Routinen bzw. den Affekten und Emotionen heraus, an denen sie sich (idealtypisch) orientieren – insoweit diesbezüglich überhaupt ›sinnvoll‹ von Orientierung gesprochen werden kann.5 Für Weber – und dies begründet, wie noch zu zeigen sein wird, seine sozialtheoretische Aktualität – ist dies auch im Falle traditionalen und affektuellen Handelns der Fall: »In all diesen Fällen [sc. in allen vier Handlungstypen, P.L.], auch bei affektuellen Vorgängen, wollen wir den subjektiven Sinn des Geschehens, auch des Sinnzusammenhanges als ›gemeinten‹ Sinn bezeichnen (darin also über den üblichen Sprachgebrauch hinausgehend, der von ›Meinen‹ in diesem Verstand nur bei rationalem und zweckhaft beabsichtigtem Handeln zu sprechen pflegt)« (ebd.: 4). Dass Weber mit dieser Position das bereits weite, wenngleich auf Bewusstsein (in Webers Worten: auf bewusst sinnhafte Orientierung) begrenzte Intentionalitätsverständnis Husserls (1913/1968: 363ff.) noch erweitert, entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, als er gemeinhin doch als Begründer des engen, auf Absicht reduzierten Intentionalitätsbegriffs gelesen wird (vgl. etwa Schneider 2003: 158f.; siehe auch Anm. 3).

2 Ir-Rationales soziales Handeln Alfred Schütz hatte mit dieser Position Webers vermutlich seine Probleme, ist für ihn doch soziales Handeln als – gemäß der Weber’schen Definition – »am Verhalten eines Anderen ›orientiertes‹ Handeln auf das vorentworfene Sich5

Weber unterscheidet bekanntlich diese vier Idealtypen (prä-)sozialen Handelns: zweck- und wertrationales sowie traditionales und affektuelles Handeln. Das traditionale Handeln steht dabei »ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ›sinnhaft‹ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann. Denn es ist sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize. Die Masse alles eingelebten Alltagshandelns nähert sich diesem Typus [...]« (Weber 1922/1980: 12). Und zu affektuellem Handeln liest man: »Das streng affektuelle Sichverhalten steht ebenso an der Grenze und oft jenseits dessen, was bewußt ›sinnhaft‹ orientiert ist [...]. Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte (gleichviel wie massiver oder sublimer Art) befriedigt« (ebd.).

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Verhalten eingeschränkt. Denn nur ein vorentworfenes Verhalten kann orientiert sein, weil Orientierung eben nur an einem Entwurf erfolgen kann« (Schütz 1932/1981: 205; Hervorhebung im Original). Der Unterschied zwischen Handeln (im Sinne sinnhaften Sichverhaltens) und bloßem Sichverhalten liegt demzufolge in der Zweckgebundenheit des Handelns, im »Entworfensein der Handlung, die durch das Handeln zur Selbstgegebenheit gelangen soll« (ebd.: 79). Diese offenkundige Differenz zu Webers Handlungsbegriff dürfte darin begründet liegen, dass Schütz motivationsmäßiges Verstehen auf das Erfassen fremden subjektiven Sinns – im Sinne einer Handlungsabsicht – einengt: auf die Frage nach jenem Motiv, das dem beobachteten Handelnden selbst »als sinnhafter Grund seines Verhaltens« erscheint (ebd.: 115). Eine näherungsweise Antwort – freilich nur näherungsweise, denn völliges Fremdverstehen ist auch für Schütz (ebd.: 49) letztlich unmöglich, das fremde Motiv mithin ein »Limesbegriff« – auf die, einer transintentionalistischen WeberLesart zufolge ja bereits falsch gestellte, Frage nach dem Handlungsmotiv ist Schütz zufolge nur mit Hilfe eines ›echten‹, auf die Bewusstseinserlebnisse von Alter abzielenden Fremdverstehens zu gewinnen. Echtes bzw. ›eigentliches‹ Fremdverstehen sucht etwa – um das Weber’sche Beispiel des Holzhackens aufzugreifen – eine Antwort auf die Frage, was im Bewusstsein des Holzfällers vor sich geht, welchen Sinn er mit seiner Tätigkeit verbindet; oder, um ein Beispiel aus dem Bereich sprachlicher Sozialität anzuführen, in der Frage: »Was meint derjenige, der mich anspricht, damit, daß er dies tut, daß er also überhaupt mit mir spricht, und zwar jetzt, hier, so? Um wessen willen tut er dies (Um-zu-Motiv) und welche Veranlassung gibt er hierfür an (echtes Weil-Motiv)?« (Ebd.: 157)6 Diese subjektorientierte Art, nach den Motiven sozialen Handelns zu fragen, lässt dann auch verständlich werden, warum Schütz (ebd.: 27) zu der Einschätzung gelangen kann, Weber schwebe »bei der Rede vom sinnhaften Ver6

In folgendem Schütz-Zitat wird die Differenz zu einer transintentionalistischen Lesart der Weber’schen Kategorie motivationsmäßigen (im Sinne von: auf den Sinnzusammenhang der Handlung abzielenden) Verstehens ebenfalls deutlich: Versucht der Beobachter (Alter) oder der Handelnde selbst (Ego) die Motive von Egos Handeln zu verstehen, so fragt er Schütz (1932/1981: 39) zufolge »nach jenen vergangenen Erlebnissen, die für sein Handeln [sc. Egos Handeln, P.L.] relevant waren, oder nach jenen künftigen Ereignissen, für welche sein Handeln erwartungsgemäß relevant sein wird«. Die sich hier mit der Unterscheidung von künftigen Ereignissen und vergangenen Erlebnissen zudem artikulierende Differenz von Um-zu- und Weil-Motiv beschreibt Schütz (ebd.: 123) an anderer Stelle wie folgt: »Indessen das Um-zu-Motiv, ausgehend vom Entwurf, die Konstituierung der Handlung erklärt, erklärt das echte Weil-Motiv aus vorvergangenen Erlebnissen die Konstituierung des Entwurfs selbst.« In beiden Fällen ist das Motiv bzw. der Sinn(zusammenhang) des Handelns also ein subjektives, und in beiden Fällen ist das Motiv des Handelns die vorher entworfene Handlung (ebd.: 79). 109

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halten ein ganz spezifisches, das rationale, und zwar zweckrationale Verhalten als ›Archetypos‹ des Handelns vor, wie überhaupt die Orientierung an einem Zweck für Weber überall – und vom Standpunkt der verstehenden Soziologie aus mit gutem Grund – das Modell für die sinnhafte Konstruktion abgibt«. Die Orientierung an einem Zweck geschehe für die verstehende Soziologie nämlich deshalb mit gutem Grund, wie Schütz an anderer Stelle weiter ausführt, da selbst dort, wo irrationales Handeln vorliege, »als typisch und invariant die Um-zu-Motive gesetzt werden« (ebd.: 337), um durch deren Abänderung, »durch Variation des als invariant zu Setzenden« (ebd.: 338) einen Abweichungstypus sozialen Handelns zu bilden, mit dessen Hilfe sich auch irrationales Handeln erfassen lässt.7 Es scheint lohnenswert, sich ausführlicher mit dieser Position zu befassen; bei Weber (1922/1980: 2f.; Hervorhebung P.L.) liest man in vordergründiger Übereinstimmung mit der Position von Schütz: »Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ›Ablenkungen‹ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt. Z.B. wird bei einer Erklärung einer ›Börsenpanik‹ zweckmäßigerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als Störungen eingetragen. [...] Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Abweichungen davon zu den sie bedingenden Irrationalitäten möglich. Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient in diesen Fällen der Soziologie [...] als Typus (›Idealtypus‹), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ›Abweichung‹ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.«

Der Unterschied zu Schütz besteht also darin, dass Weber den zweckrationalen Verlauf – in Schütz’ Worten: die Um-zu-Motivstruktur – des Handelns nicht als invariant, sondern als konstruiert betrachtet. Denn die verstehende Soziologie in Webers Verständnis geht nicht deswegen von zweckrationalem (sozialem) Handeln aus, weil Handeln stets zweckgebunden wäre – mitunter 7

Dabei stellt Schütz mit der (paradoxen) Formulierung der Variation des als invariant zu Setzenden keineswegs die – weil ja als invariant zu setzende – rationale Um-zu-Motivstruktur des Handelns in Frage; vielmehr dürfte er damit auf folgenden (in seinen Ausführungen kurz zuvor geäußerten) Sachverhalt rekurrieren: Denn dann, wenn die einzelne Handlung Teil eines Handlungszusammenhangs ist, kann nach Schütz (1932/1981: 337) der – irrationale – Fall gegeben sein, dass das »oberste Handlungsziel klar gegeben ist, daß hingegen das Teilhandeln in Vagheit oder Unbestimmtheit vollzogen wird, oder daß umgekehrt die einzelnen Teilhandlungen explizit vorentworfen wurden, das oberste Handlungsziel und Um-zu-Motiv aber auch für den Handelnden in Unklarheit bleibt.« Insofern dies der Fall sein sollte, wäre das als invariant zu setzende Umzu-Motiv entsprechend zu variieren.

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ist dies zweifellos der Fall, wenngleich mit Weber (ebd.: 13) vermutet werden darf, dass die absolute Zweckrationalität des Handelns »nur ein im wesentlichen konstruktiver Grenzfall« sein dürfte; sie geht vielmehr deswegen davon aus, weil sich ausgehend vom Typus zweckrationalen Handelns beispielsweise kulturelle Momente im Kontext bzw. im Sinnzusammenhang der sozialen Handlung – so ist bei Weber etwa an einer Stelle von Kollektivgebilden als Vorstellungen die Rede, an denen sich das Handeln orientiert und die »als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kausale Bedeutung für die Art des Ablauf des Handelns der realen Menschen haben« (ebd.: 7) – identifizieren lassen, die (kausal) dafür verantwortlich sein könnten, dass sich das (prä-)soziale Handeln eben gerade nicht in einer dem zweckrationalen Typus angenäherten Form realisiert. Man denke nur an Webers (1905/1963) Protestantismus-Kapitalismus-Studie, wonach die Entwicklung des modernen Kapitalismus primär religiös motiviert sein dürfte. Die Präferenz Max Webers für den Idealtypus zweckrationalen Handelns ist also eine methodologische und keine theoretische; sie darf »natürlich nicht als ein rationalistisches Vorurteil der Soziologie, sondern nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden« (Weber 1922/1980: 3) – eine Position Webers, die Friedrich Tenbruck (1986) immer wieder gegen die rationalistische Lesart Webers in Erinnerung rief. Vermutlich ist es auch die rationalistische – und die damit einhergehende akteurtheoretische und jedenfalls nicht transintentionalistische – Lesart zentraler Weber’scher Grundbegriffe im Werk von Schütz, vor deren Hintergrund man die programmatische Aussage lesen sollte, die Praxistheorie betreibe »eine komplette ›Umkehrung‹ von Max Webers Handlungstheorie« (Reckwitz 2003: 294); denn wo Letztere dem rationalen, insbesondere dem zweckrationalen, im Vergleich zum traditionalen Handeln das theoretische Primat einräumt, rücke die Praxistheorie soziale Praktiken in den Fokus der soziologischen Betrachtung, die dem Weber’schen Idealtypus traditionalen Handelns vergleichbar seien (ebd.). Soziale Praktiken werden dabei als »know-howabhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen« definiert, »deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen« (ebd.: 289). Die vorstehenden Ausführungen zu Webers Grundbegriffen und deren Interpretation durch Schütz legen die Vermutung nahe, die Schütz’sche Weber-Rezeption könnte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, Andreas Reckwitz den erwähnten Gegensatz

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in der theoretischen Ausrichtung konstatieren zu lassen.8 Zu Weber ›im Original‹ lassen sich jedenfalls keine wesentlichen Differenzen ausmachen: »Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹. Der Handelnde ›fühlt‹ ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder ›sich klar machte‹, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d. h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall« (Weber 1922/1980: 10; Hervorhebung im Original).

Im Vergleich zur Handlungstheorie von Schütz liegt das sozialtheoretisch Bemerkenswerte an praxistheoretischen Ansätzen also darin, dass soziale Praktiken durch »ein implizites praktisches Wissen und Verstehen ermöglicht« (Reckwitz 2003: 294) werden – dadurch, dass sich »die eigenen Handlungen wie schlafwandlerisch am Ablauf des Handelns der anderen [...] orientieren« (Alkemeyer et al. 2009: 11). Das ist insofern bemerkenswert, als das praxistheoretische ›Umschalten‹ von intentionalen Handlungen auf habitualisierte Praktiken zwar die – subjekttheoretische – Frage nach der Absicht sozialen Handelns obsolet werden lässt, an deren Stelle jedoch der – letztlich ebenfalls subjekttheoretische – Verweis auf die eine soziale Praktik ausmachende »Doppelstruktur eines regelmäßigen, gekonnten Komplexes von Bewegungen und eines Korpus impliziter Schemata des Wissens« (Reckwitz 2009: 173) tritt. Die sozialtheoretische Frage, wie genau sich soziale Handlungen bzw. Praktiken an anderen orientieren, lässt sich im eigentlichen Sinne aber erst dann beantworten, wenn etwa die These vertreten wird, das implizite, das wechselseitige ›blinde Verstehen‹ erst ermöglichende Wissen werde in der gemeinsamen »praktische[n] Mitgliedschaft in einem Feld« (Alkemeyer et al. 2009: 11) erworben; dass sich soziale Praktiken, mit anderen Worten, an geteilten Beständen praktischen Wissens orientieren.

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Man vergleiche auch die folgende, sich vermutlich primär vom Schütz’schen Verständnis sozialen Handelns distanzierende praxistheoretische Position Stefan Hirschauers (2004: 73; Hervorhebungen im Original): »Eine Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. Daher fragt man nach ihr mit Warum- und Wozu-Fragen. Eine Praxis dagegen läuft immer schon, die Frage ist nur, was sie am Laufen hält und wie ›man‹ oder ›Leute‹ sie praktizieren: Wie wird es gemacht und wie ist es zu tun? Nach einer Handlung fragt man am besten die Akteure, eben weil ihre Sinnstiftung im Zentrum steht, Praktiken haben eine andere Empirizität: Sie sind in ihrer Situiertheit vollständig öffentlich und beobachtbar.« Kritisch zu dem gegen die Grundbegriffe Webers gerichteten Positionierungsversuch der Praxistheorie siehe auch Gregor Bongaerts (2007: 252).

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Als Beispiel einer sozialen Praktik, in der geteiltes implizites Wissen orientierend wirkt, wird in der Praxissoziologie vereinzelt auf George Herbert Meads Ausführungen zur Praxis des Boxens verwiesen (vgl. etwa Schmidt 2006: 299ff.); bei Mead (1934/1968: 108) liest man im Zuge seiner Überlegungen zur Genese symbolischer Interaktion: »Der Mann, der eine Finte setzt, löst einen bestimmten Schlag seines Gegners aus. Diese seine eigene Handlung hat für ihn diese Bedeutung, d.h. er hat in gewissem Sinn die gleiche Handlung in sich selbst ausgelöst. Sie schlägt nicht eindeutig durch, doch hat er jene Zentren in seinem Zentralnervensystem erregt, die ihn veranlassen würden, den gleichen Schlag wie sein Gegner anzubringen, so daß er die gleiche Reaktion, die er im anderen auslöst, auch in sich selbst auslöst oder wenigstens dazu neigt, es zu tun.«

An der Praxis des Boxens lässt sich demnach paradigmatisch studieren, dass wir »uns mehr oder weniger unbewußt so [sehen], wie andere uns sehen. Wir wenden uns unbewußt so an uns, wie sich andere an uns wenden [...]. Wir lösen in der anderen Person das gleiche aus wie in uns selbst, so daß wir unbewußt diese Haltungen übernehmen. Wir versetzen uns unbewußt in die Rolle anderer und handeln so wie sie« (ebd.; Hervorhebung P.L.). Wenn wir uns in sozialen Praktiken aber unbewusst in die Rolle anderer versetzen, uns unbewusst an Erwartungen über das rollenspezifische Handeln anderer orientieren, liegt dann nicht die Vermutung nahe, soziale Praktiken seien letztlich nichts anderes als ins Unbewusste abgesunkene zweckrationale soziale Handlungen (im Sinne Webers) – soziale Ordnung mithin strukturiert durch unbewusste Erwartungen? Und ließe sich dann nicht auch plausibel von der ›Körperlichkeit sozialer Ordnung‹ sprechen?

3 Doppelkontingente Interaktion Von zentraler Bedeutung ist das Problem sozialer Ordnung bekanntlich auch im Werk Talcott Parsons’ (1937/1968: 89ff.). Vergleichbar mit Schütz, und insofern konträr zur (offiziellen) Position der Praxissoziologie, entwirft Parsons – er spricht von Handlungen als unit acts, »the ›smallest‹ unit of an action system which still makes sense as a part of a concrete system of action« (ebd.: 731) – ebenfalls eine von den Grundbegriffen Webers beeinflusste Theorie des Handelns (siehe beispielsweise nur Parsons 1951: 4, Anm. 1). An einer Stelle heißt es: »The interest of the theory of action is directed not to the physiological processes internal to the organism but rather to the organization of the actor’s orientations to the situation. [...] Action has an orientation when it is guided by the meaning which the actor attaches to it in its relationship to 113

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his goals and interests« (Parsons et al. 1951: 4). Zwei Aspekte dieses Handlungsverständnisses sind für die weitere Argumentation zentral: Erstens ist jede Handlung sinnhaft orientiert (guided by meaning), das heißt kontingent, und zwar kontingent hinsichtlich der realisierten Wahl aus den in der Situation zur Verfügung stehenden Mitteln zur Erreichung des intendierten Handlungsziels – aber auch hinsichtlich des Handlungsziels selbst (vgl. Schneider 2002/2008: 87ff.). Es ist diese Freiheit (sprich Kontingenz) in der Wahl der Mittel und Ziele, die Parsons’ (1937/1968: 11 et passim) Rede von seiner Theorie als einer voluntaristic theory of action plausibilisiert: Ein unit act setzt sich demnach zusammen aus »a concrete end, concrete conditions, concrete means, and one or more norms governing the choice of means to the end« (ebd.: 731). Spricht Parsons in »The Structure of Social Action« noch explizit von Normen, orientiert sich das Handeln in »The Social System« – wenn man so möchte: weniger normativ – an einem System individueller Erwartungen (das sich gleichwohl unter anderem aus Werten und Normen ableiten kann): »It is a fundamental property of action [...] that it does not consist only of ad hoc ›responses‹ to particular situational ›stimuli‹ but that the actor develops a system of ›expectations‹ relative to the various objects of the situation« (Parsons 1951: 5; Hervorhebung im Original). Im Unterschied zu Webers vier methodologischen Handlungstypen ist das Parsons’sche Handlungsverständnis also ein – nicht unähnlich dem Handlungsverständnis von Schütz (siehe zu dieser Gemeinsamkeit auch, posthum veröffentlicht, Schütz 1977) – theoretisches, sich als (zweck-)rationales Sichverhalten realisierendes Handeln, das sich an Erwartungen orientiert. Für Parsons (et al. 1951: 14f.) macht es nun aber einen Unterschied, ob sich das zweckrationale Handeln an social objects orientiert, die mit dem Handelnden interagieren (sich also umgekehrt auch an diesem orientieren), oder an physical objects, die dies eben nicht tun – ein Unterschied, der sich mit der Unterscheidung von präsozialem Handeln einerseits und sozialem Handeln bzw. sozialer Beziehung (als Spezialfall sozialen Handelns) andererseits bekanntlich auch bei Weber findet.9 Anders als für Weber liegt für Par9

»Soziale ›Beziehung‹ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen«, liest man bei Weber (1922/1980: 13; Hervorhebung im Original). Zum Weber’schen Grundbegriff der sozialen Beziehung – in der Lesart Parsons’ (1937/1968: 653) bilden Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung und Kampf die drei Grundtypen sozialer Beziehungen – siehe auch Rainer Greshoff (2006). Für Greshoff enthält das in der Definition verwendete Konzept der Einstellungen »ein präskriptives Moment, das [...] einen Rahmen für mögliche Handlungen von Alter und Ego absteckt mit der Maßgabe, orientiert an dieser Rahmensetzung in bestimmten Situationen zu handeln« (ebd.: 270); er interpretiert Einstellungen, mit anderen Worten, als präskriptive bzw. normative Erwartungen (ebd., Anm. 25). Webers eigene Ausführungen scheinen hingegen eine ›erwartungsärmere‹ Lesart nahe

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sons genuin soziales Handeln – er spricht diesbezüglich von Interaktion (als der elementaren Form eines Sozialsystems) – aber erst dann vor, wenn Ego und Alter interagieren, wenn sie sich im Sinne Webers gegenseitig aufeinander eingestellt haben und sich dadurch wechselseitig orientieren; eine Interaktion liegt hingegen dann nicht vor, wenn Ego sich nur einseitig am Verhalten Alters orientiert. Vor dem Hintergrund einer solchen Situation, in der Alter und Ego interagieren – und zwar in Form per se kontingenten Handelns –, gewinnt Parsons sein (funktionalistisches) Verständnis sozialer Ordnung als Lösung des Problems doppelter Kontingenz: »When we analyze the interaction of ego and alter, we shift from the analysis of the orientation of a single given actor to the consideration of two or more interacting actors as a system. In this case, the expectations of ego are oriented both to the range of alternatives for alter’s actions (i.e., the alternatives open to alter in the situation) and to alter’s selection, which is intentionally contingent on what ego himself does, within the range of alternatives. The obverse is true for alter. [...] This fundamental phenomenon may be called the complementarity of expectations, not in the sense that the expectations of the two actors with regard to each other’s action are identical, but in the sense that the action of each is oriented to the expectations of the other. [...] Thus consideration of the place of complementarity of expectations in the processes of human interaction has implications for certain categories which are central in the analysis of the origins and functions of cultural patterns. There is a double contingency inherent in interaction. On the one hand, ego’s gratifications are contingent on his selection among available alternatives. But in turn, alter’s reaction will be contingent on ego’s selection and will result from a complementary selection on alter’s part. Because of this double contingency, communication, which is the precondition of cultural patterns, could not exist without both generalization from the particularity of the specific situations (which are never identical for ego and alter) and stability of meaning which can only be assured by ›conventions‹ observed by both parties« (ebd.: 16; Hervorhebungen im Original).

Man wirft Parsons bekanntlich vor, er habe die Lösung des Problems der Doppelkontingenz soziologisch zu voraussetzungsreich »in einem unterstellten (aber hinreichend real gedeckten) Wertkonsens gesehen« (Luhmann 1984: zu legen: »Der Sinngehalt, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert, kann in ›Maximen‹ formulierbar sein, deren durchschnittliche oder sinnhaft annähernde Innehaltung die Beteiligten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits [...] ihr Handeln orientieren. Je rationaler – zweckrationaler oder wertrationaler – orientiert das betreffende Handeln seinem allgemeinen Charakter nach ist, desto mehr ist dies der Fall. Bei einer erotischen oder überhaupt affektuellen (z.B. einer ›Pietäts-‹Beziehung) ist die Möglichkeit einer rationalen Formulierung des gemeinten Sinngehalts z.B. naturgemäß weit geringer als etwa bei einem geschäftlichen Kontraktverhältnis« (Weber 1922/ 1980: 14; Hervorhebungen im Original). 115

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150), in einem shared symbolic system, das letztlich normativen Charakter habe; und in der Tat sind für Parsons (et al. 1951: 16) die »norms of a shared symbolic system [...] logically the most elementary form of culture«. Aber insofern Kultur – Parsons spricht von cultural patterns – von ihm bereits als Produkt vergangener Kommunikationsprozesse, bzw. anders formuliert: Kommunikation als precondition of cultural patterns angesehen wird, scheint die ›basale‹ Lösung des Problems der Doppelkontingenz – und das Problem ist ja bereits dann gelöst, wenn kommuniziert wird – nach Parsons vielmehr im Bereich ›symbolischer Generalisierung‹ zu liegen. Bei Parsons (1951: 11; Hervorhebung im Original) heißt es an anderer Stelle dazu: »Whatever may be origins and processes of development of symbol systems it is quite clear that the high elaboration of human action systems is not possible without relatively stable symbolic systems where meaning is not predominantly contingent on highly particularized situations. The most important single implication of this generalization is perhaps the possibility of communication, because the situations of two actors are never identical and without the capacity to abstract meaning from the particular situations communication would be impossible.«

In Anlehnung an Mead könnte man auch sagen, die kommunikative Lösung einer doppelkontingenten Situation setze die Existenz signifikanter Symbole voraus; denn das Symbol wird nach Mead (1922/1980: 295) »[e]rst durch die Fähigkeit, zur gleichen Zeit man selbst und ein anderer zu sein, [...] signifikant oder bedeutungsvoll«, also in dem Moment, in dem man in sich selbst genau jene Reaktion hervorzurufen vermag – und insofern kognitiv (nicht unbedingt normativ) erwartet10 –, die das Verhalten beim Gegenüber hervorrufen dürfte. Parsons scheint daher keineswegs davon auszugehen, dass sich doppelkontingente Situationen ausschließlich normativ lösen lassen; vielmehr scheint er eine common culture bloß als den bedeutsamsten Problemlösungsmechanismus zu betrachten: »The most important single condition of the integration of an interaction system is a shared basis of normative order« (Parsons 1968: 437). Ob Alters Erwartungen hinsichtlich Egos Handeln (und umgekehrt) allerdings auf der Stabilität dauerhafter, internalisierbarer Normen, auf expressiven Symbolen, auf Konventionen, auf ›symbolic media of interchange‹ (bei Luhmann später: symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien) oder auf funktional äquivalenten Mechanismen basieren – ob es sich 10 Zur Differenz von kognitiven und normativen Erwartungen siehe Johan Galtung (1959) und daran anschließend beispielsweise Luhmann (1972a: 40ff.). Nur am Rande sei der Vorschlag Gesa Lindemanns (2009: 194ff.) notiert, diese Unterscheidung um eine dritte Kategorie, die des selbstbezogenen bzw. ipseistischen Erwartens, zu erweitern. 116

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letztlich um kognitive oder normative Erwartungen handelt, die zur Auflösung doppelkontingenter Situationen beitragen –, soll in den vorliegenden Überlegungen zur ›Körperlichkeit sozialer Ordnung‹ nur insoweit interessieren, als es in beiden Fällen eben Erwartungen sind, die nach Parsons das Problem der Doppelkontingenz lösen – und zwar in Form wechselseitiger Verhaltenserwartungen (complementarity of expectations).

4 Rationale Kommunikation Luhmann scheint die Lösung doppelkontingenter Situationen wie Parsons ebenfalls in wechselseitigen Verhaltenserwartungen zu sehen – wenngleich seine bereits erwähnte Kritik an Parsons’ (vermeintlicher) Lösung auf der Einschätzung beruht, es gebe noch funktional äquivalente Lösungen zu einer in der Sozialdimension zu verortenden geteilten Kultur, wie etwa jene ›operative‹ Lösung der Zeitdimension, wonach Alter in einer noch unklaren Situation versuchsweise einfach mal zuerst agiert: »Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Geschenk – und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem, bestimmendem Effekt – sei es nun positiv oder negativ« (Luhmann 1984: 150; Hervorhebung P.L.). Bei dieser Lösungskonzeption wird gleichwohl präjudiziert, dass Egos ›Reaktion‹ auf die von Alter vorgeschlagene Situationsdefinition, auf Alters Handeln (seinen Blick, seine Geste, sein Geschenk), von Alter als Re-Aktion, als (annehmende oder ablehnende) Handlung aufgefasst wird. Das einmal in Gang gesetzte Interaktionssystem orientiert sich »zunächst durch die Frage, ob der Partner eine Kommunikation annehmen oder ablehnen wird, oder auf Handlung reduziert: ob eine Handlung ihm nützen oder schaden wird« (ebd.: 160) – mithin also an der Erwartung Alters, Ego werde die Kommunikation entweder annehmen oder ablehnen, ihm werde die Handlung entweder nützen oder schaden. Zugleich dürfte sich die Interaktion, gemäß Parsons’ Theorem der complementarity of expectations, aber auch an den Erwartungen Egos orientieren, und zwar sowohl hinsichtlich Alters Handlungsoptionen als auch des letztlich gewählten Handelns – denn wie sollte Ego sonst entscheiden können, ob ihm Alters Handeln nützt oder schadet?11 11 Die Grundannahme von Luhmanns Sozialtheorie lässt sich mit anderen Worten wie folgt zusammenfassen: »Konstitutiv für Sozialität ist eine Beziehung zwischen mindestens zwei Entitäten, die durch Erwartungs-Erwartungen im Verhältnis von Alter und Ego charakterisiert ist. In dieser Beziehung wird als ein vermittelndes Drittes ein gültiges Geflecht von Erwartungs-Erwartungen gebildet« (Lindemann 2005: 118). Dabei ist mit dem Geflecht von Erwartungserwar117

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Neben der zentralen Gemeinsamkeit wechselseitiger Erwartungen weisen die Sozialtheorien von Parsons und Luhmann mit Luhmanns Reformulierung des Handlungsbegriffs als ›Produkt‹ von Kommunikation, als Ergebnis bzw. Effekt von Attribution aber auch eine zentrale theoretische Differenz auf. Diese geht mit einer zweiten Umbauarbeit Luhmanns an Parsons’ Theorem der Doppelkontingenz einher, die implizit bereits in der vorstehenden, vielleicht könnte man sagen: praxeologischen Lösung der Zeitdimension enthalten ist: der Vertauschung der Ego- und Alter-Positionen. War es im »General Statement« (Parsons et al. 1951) noch Ego, der agiert, und Alter, der reagiert, liegt für Luhmann Kommunikation (verstanden als Synthese dreier Selektionen, namentlich Information, Mitteilung und Verstehen) – und damit die erfolgreiche, je gegenwärtig realisierte Lösung einer doppelkontingenten Situation12 – erst dann vor, wenn Ego das Verhalten Alters als Mitteilung einer Information auffasst (bzw. versteht) und wiederum der Wahl seiner eigenen Anschlusshandlung zugrunde legt. Bei Luhmann (1984: 195) liest man: »Information ist nach heute geläufigem Verständnis eine Selektion aus einem (bekannten oder unbekannten) Repertoire von Möglichkeiten. Ohne diese Selektivität der Information kommt kein Kommunikationsprozeß zustande [...]. Ferner muß jemand ein Verhalten wählen, das diese Information mitteilt. Das kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen. Entscheidend ist, daß die dritte Selektion sich auf eine Unterscheidung stützen kann, nämlich auf die Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung. Da dies entscheidend ist und Kommunikation nur von hier aus verstanden werden kann, nennen wir (etwas ungewöhnlich) den Adressaten Ego und den Mitteilenden Alter.«

tungen nichts anderes als die vorstehende Vermutung bezeichnet: Alter erwarte, Ego werde seine Kommunikationsofferte (seinen Blick, seine Geste, sein Geschenk) entweder annehmen oder ablehnen; Ego erwarte aber auch von Alter ein Handeln, das für seine Annahme oder Ablehnung bestimmend wirkt; und Ego erwarte außerdem, dass Alter von ihm erwarte, Alters Kommunikationsofferte entweder anzunehmen oder abzulehnen. 12 In der Sprache der systemtheoretischen Methode der funktionalen Analyse fungiert Kommunikation als Lösung des Problems der doppelten Kontingenz. Kommunikationsmedien – wie Sprache, Schrift oder auch Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium – fungieren ferner als Lösungen des Problems der ›Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation‹ (grundlegend hierzu Luhmann 1984: 216ff.; 1997: 190f.). Bei Hahn und Jacob (1994: 152ff.) findet sich der für die hier vorliegenden Überlegungen wichtige Vorschlag, auch den Körper als Kommunikationsmedium zu betrachten; in der Folge beispielsweise auch bei Hirschauer (2008: 978ff.), für den sich der kommunikative Charakter des Körpers – ganz im Sinne der Vertauschung der Ego- und Alter-Positionen bei Luhmann – allein vom Betrachter her erschließt, »der die diffus ausgestreuten visuellen Zeichen aufliest, unabhängig davon, ob etwas und jemand damit ›gemeint‹ ist« (ebd.: 979). 118

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Das von Ego beobachtete (oder auch nur unterstellte) Mitteilungsverhalten Alters kann demzufolge absichtlich oder unabsichtlich ablaufen;13 Luhmann platziert jedoch genau an dieser ›Lenkstelle‹ seinen Handlungsbegriff, und zwar Handeln in Abgrenzung zu Erleben: Das im Sinne Webers mit einem subjektiven Sinn verbundene Verhalten Alters wird von Ego nämlich genau dann als Erleben beobachtet, wenn seine Selektivität nicht Alter, sondern dessen Umwelt (etwa der konkreten Situation, in der er sich befindet) zugerechnet wird, es wird hingegen als Handeln angesehen, wenn die Selektivität Alter selbst zugerechnet wird (vgl. Luhmann 1978/2005: 79).14 Folglich stellt sich die Frage, ob Kommunikation auch dann vorliegt, wenn Ego Alters Mitteilungsverhalten als dessen Erleben interpretiert – wenn Ego Alter also keine Mitteilungsabsicht unterstellt. Eine mögliche Antwort auf diese Frage findet sich, wenn an anderer Stelle zu lesen ist, Kommunikation sei sehr wohl auch ohne Mitteilungsabsicht möglich, nämlich dann, »wenn es Ego gelingt, eine Differenz von Information und Mitteilung gleichwohl zu beobachten. Kommunikation ist unter der gleichen Bedingung auch ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln, durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntsein man unterstellen kann. Immer aber muß die Mitteilung als Selektion, nämlich als Selbstfestlegung einer Situation mit wahrgenommener doppelter Kontingenz interpretierbar sein. Es fehlt daher an Kommunikation, wenn beobachtetes Verhalten nur als Zeichen für etwas anderes aufgefaßt wird. Rasches Gehen kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein, so wie dunkle Wolken als Zeichen für Regen; es kann aber auch als Demonstration von Eile, Beschäftigtsein,

13 Aus Egos Sicht geht es zunächst einmal nur – sozusagen transintentionalistisch – um das soziale Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung, nicht auch um das psychische Verstehen Alters – denn: »Man kann eine Kommunikation verstehen (einschließlich der Absicht der Mitteilung), ohne auch nur im geringsten die Person zu verstehen, die als Mitteilender beteiligt ist. Ja, die ständige Bemühung um das Verstehen der laufenden Kommunikation macht es sogar unwahrscheinlich, daß man zugleich noch mehr als dies, nämlich den Partner versteht. Das soziale System der Kommunikation hebt von der psychischen Realität mehr oder weniger ab« (Luhmann 1986: 96). 14 Der theorieimmanente Grund für diese Unterscheidung liegt darin, dass Sozialsysteme, wie die Interaktion zwischen Alter und Ego, die Selektion der Mitteilung als Handeln auffassen müssen, da andernfalls keine Adressaten für weitere Kommunikation, keine Anschlusspunkte für weiteres, das soziale System ›erhaltendes‹ Handeln – mithin also für die Autopoiesis des Sozialsystems – festgelegt werden könnten (siehe Luhmann 1984: 227f.). Das vermag auch zu erklären, warum Sprache für Luhmann (ebd.: 208ff.; 1997: 205ff.) das grundlegende Kommunikationsmedium ist – denn bei sprachlicher Kommunikation, bei einer sprachlichen Mitteilungshandlung ist die Absicht bzw. die Intention der Kommunikation und damit die Adresse für Folgekommunikation nur schwer zu bestreiten, wenngleich man natürlich bestreiten kann, das gemeint zu haben, was verstanden wurde. 119

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Unansprechbarkeit usw. aufgefaßt und mit der Absicht, eine solche Auffassung auszulösen, auch produziert werden« (Luhmann 1984: 208f.; Hervorhebung P.L.).

Das rasche Gehen Alters bleibt also dann nicht bloß »Verhaltensbeobachtung« (Luhmann 1986: 94), nur Zeichen für Eile, sondern wird als Demonstration von Eile zur Kommunikation, wenn das rasche Gehen als Alters Selektion (und nicht die seiner Umwelt) und damit als Selbstfestlegung einer Situation doppelter Kontingenz interpretiert wird – wenn der sich an Alter orientierende Ego unterstellt, Alter orientiere sich auch an ihm (erst eine Situation reflexiver Wahrnehmung ›produziert‹ schließlich doppelte Kontingenz), beispielsweise an der Erwartung, sich wenigstens zu grüßen, oder der Erfahrung, dass man dies gewöhnlich doch tue. In dem Moment, in dem das rasche Gehen zur Mitteilung wird, geht Alter also nicht rasch, weil es zu regnen begonnen hat oder der Zug sich vielleicht verspätete, sondern um Eile oder Beschäftigtsein zu demonstrieren. Das aber bedeutet, dass Ego das rasche Gehen Alters als (Mitteilungs-) Handeln und eben gerade nicht als Erleben beobachtet, das heißt: als ein sinnhaftes Sichverhalten, das Alter selbst, nicht aber seiner Umwelt (dem Regen, der Bahn oder wem auch immer) zugerechnet wird15 – und das wiederum hat zur Folge, dass in dem Moment, in dem ein Verhalten nicht als Demonstration von, sondern lediglich als Zeichen für, also nicht als Mitteilungshandlung aufgefasst wird, nach Luhmann keine Kommunikation, keine operative Handhabung des Problems der Doppelkontingenz vorliegt, mehr noch: dass eine Mitteilungshandlung, mithin Kommunikation, nur dann vorliegt, wenn sie sich an Erwartungen über das Verhalten anderer orientiert: Denn ähnlich, wie es bei dem sich an Erwartungen orientierenden Weber’schen Idealtypus zweckrationalen sozialen Handelns und bei den sich (wie oben im Anschluss an Mead vermutet) an unbewussten Erwartungen orientierenden sozialen Praktiken der Praxissoziologie der Fall ist, geht auch Luhmann (1984: 158) davon aus, dass (Mitteilungs-)Handeln »nicht ohne Orientierung an Erwartungen gewählt wird«. Irrationales, insbesondere affektuelles, soziales Handeln kann in der Systemtheorie Luhmanns daher nur als theoretische Residualkategorie fungieren – was insofern verwundert, als für Weber (1913/1985: 15 Vor dem Hintergrund einer zunehmenden ›Psychologisierung der Gesellschaft‹ – einer »tiefenpsychologische[n] Raffinierung des Einander-Begreifens« (Luhmann (1978/2005: 88) – äußert Luhmann die Vermutung, dass »der ursprüngliche Folgerungswert des Erlebens und Handelns sich geradezu um[kehrt]: Handeln wird als Symptom genommen, aber nicht vergolten, und über Ausdruck seines Erlebens legt der Beobachtete sich fest« (ebd.: 89). Die Möglichkeit einer Umkehrung des Folgerungswertes von Erleben und Handeln wird im folgenden Abschnitt 5 wieder aufgegriffen; fürs Erste soll festgehalten werden, dass vorstehendes Zitat die Vermutung, Alter lege sich gewöhnlich über sein Handeln fest, zu bestätigen scheint. 120

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442; 1922/1980: 10) rationales soziales Handeln ja den empirischen Grenzfall, irrationales hingegen den Normalfall darstellt.16

5 Irrationale Kommunikation Irrationalistisch(er) könnte man aber auch davon ausgehen, dass bereits als Erleben attribuiertes Sichverhalten Informationen mitteilen kann und dadurch, wenn auch nur kurzfristig und vergleichsweise instabil, Sozialität konstituiert wird. So kann ein suchender Blick beispielsweise mitteilen, »dass noch Salz fehlt, und wir haben umgekehrt auch ein Gespür dafür, wie wir Kopf und Augen bewegen müssen, damit der Andere darauf kommt, dass wir das Salz bräuchten. Der Kellner sieht sofort, wenn ein Gast die Toilette sucht und weist ihm ungefragt den Weg; der Gast weiß, wie er sich zu bewegen hat, um eben diesen Wink zu bekommen« (Junge et al. 2008: 19). Ego und Alter orientieren sich in solchen (und vergleichbaren) Situationen »[e]rlebend und ohne einander adressieren zu müssen« (ebd.) – und es rücken damit Formen sozialer Ordnung in den systemtheoretischen Blick, die durch die Konzentration auf Mitteilungshandeln, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bisher systematisch ausgeblendet wurden (vgl. Loenhoff 2001: 190). Eine Ausnahme findet sich etwa in Luhmanns Beschäftigung mit dem Sozialsystem der Familie17 – denn in Familien werde durch ein hohes Maß an Personkenntnis, das heißt: durch ein hohes Maß an Erwartungssicherheit hinsichtlich des Verhaltens der anderen (zu diesem Personbegriff vgl. Luhmann 1984: 429f.; 1991), ungewöhnlich viel Verhalten zu Kommunikation: »Man kann nicht über den Flur gehen, ohne dadurch mitzuteilen, daß man im Moment keinen Kontakt zu anderen sucht; oder wenn man es daraufhin doch tut, ist es zu knapp bemessen oder ersichtlich nur deshalb geschehen, weil man anderenfalls den Eindruck erwecken würde, daß man auf Kontakt keinen Wert legt. Pures Verhalten, Gehen zum Beispiel, wäre immer noch extrafami-

16 Statt Sozialität wie Luhmann über Kommunikationsprozesse und Erwartungsstrukturen zu beschriben, lässt sich Sozialität mit Gabriel Tarde (1890/2003: 94) ›erwartungsärmer‹ auch als Nachahmungstätigkeit bestimmen; Gesellschaft besteht demnach »aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus« (ebd.: 111) – und irrationale Prozesse sozialer Suggestion bilden, wenn man so möchte, den empirischen Normalfall. Es sollte daher nicht verwundern, bei Max Weber (1922/1980: 11) zu lesen, dass Tarde auf die Bedeutung von Nachahmungstätigkeiten »berechtigtes Gewicht« legt; vgl. in diesem Zusammenhang auch die sich auf Tardes Nachahmungstheorie beziehenden Überlegungen von Silvana Figueroa-Dreher (in diesem Band). 17 Eine weitere, bisher aber kaum rezipierte Ausnahme bildet beispielsweise das Theoriestück der zwischenmenschlichen Interpenetration (siehe Luhmann 1984: 303ff.). 121

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liales Geschehen, auch wenn es im Hause stattfindet; aber wenn es im Hause stattfindet, wird es fast unvermeidlich als Kommunikation beobachtet und wird dadurch im Netzwerk der Beobachtungen von Beobachtungen zur Kommunikation« (Luhmann 1990/2005: 205). Die Familie kommuniziere zu viel, sie übertreibe Gesellschaft, so Luhmann (ebd.); vielleicht könnte man auch sagen, Familien und andere intime Sozialformen sind lost in expectation. Zumindest für die Analyse dieser Teilbereiche der modernen Gesellschaft liegt dann die theoretische Schlussfolgerung nahe, das zu Beginn bereits erwähnte Diktum Webers (1922/1980: 4), es sei auch im Falle traditionellen und affektuellen Handelns von einer sinnhaften Orientierung, von einem subjektiv gemeinten Sinn zu sprechen, insofern in Rechnung zu stellen, als man sich in intimen Sozialbereichen bereits durch sein Erleben (und nicht erst durch sein Handeln) festzulegen scheint – ohne damit den Unterschied zwischen Handeln und Erleben grundsätzlich in Frage stellen zu wollen. In den eingangs erwähnten Exklusionsbereichen der modernen Gesellschaft scheint es sich strukturell genau umgekehrt zu verhalten – der Effekt jedoch ein vergleichbarer zu sein. Die geringe Personkenntnis, das heißt: das offensichtliche Fehlen von Erwartungssicherheit, führt nach Luhmann (1995/ 2005: 245; Hervorhebung P.L.) dazu, dass »Menschen nicht mehr als Personen, sondern als Körper erfaßt werden. [...] Die Verlagerung der Aufmerksamkeit und der kommunikativen Relevanz von Person auf Körper bedeutet nicht, daß Sozialität ausfällt; sie nimmt nur andere Formen an. Die für Kommunikation wichtige Unterscheidung von Information und Mitteilung wird auf ein extrem reduziertes Informationsinteresse zurückgeschnitten. Wahrnehmung und vor allem Schnelligkeit gewinnt an Bedeutung. Der Ja/Nein-Code der Sprache, der für Annehmen oder Ablehnen von Sinnvorschlägen ausgebildet ist, tritt zurück und statt dessen zählt, wie beim Fußball, das nur über geschulte Wahrnehmung erreichbare Tempo der Einstellung auf Ereignisse.«

Sozialität reduziert sich, mit anderen Worten, auf Prozesse reflexiver Wahrnehmung,18 sie »nutzt die Komplexität und die Focussierfähigkeit des Wahrnehmens und erzeugt eine Gegenwart – fast ohne Zukunft« (Luhmann 1997: 207). Dabei meint fast ohne Zukunft: fast ohne Erwartungsbezug, fast ohne die Möglichkeit, sich an (in die Zukunft gerichteten) Erwartungen zu orientie18 Nach Luhmann konstituiert sich Sozialität in der Kommunikation unter Anwesenden – im Vergleich zu beispielsweise schriftlicher Kommunikation – aus dem Dualismus von Prozessen reflexiver Wahrnehmung und verbaler Kommunikation (vgl. Luhmann 1972b: 53ff.), der nicht zuletzt daher rührt, »daß Wahrnehmen, anders als Sprechen, nicht als Handlung zugerechnet wird« (ebd.: 54). Das Novum in Luhmanns körperbezogenen Ausführungen zum Exklusionsbereich ist demnach, dass er reflexive Wahrnehmung gerade nicht als »präkommunikative Sozialität« (Kieserling 1999: 118) interpretiert. 122

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ren. Statt aber in der Konsequenz, wie Luhmann, die für den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff zentrale Unterscheidung von Information und Mitteilung über Bord zu werfen, könnte man auch anarchistischer bzw. anomischer argumentieren und davon ausgehen, dass auch in Exklusionsbereichen zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird; dass es sich dabei allerdings um irrationale, nonverbale Formen sozialen (Mitteilungs-) Handelns handelt, die sich zwar nicht an Verhaltenserwartungen orientieren, die dauerhaft und stabil in der Lage wären, die wechselseitige Erwartungsunsicherheit doppelkontingenter Situationen zu reduzieren – die sich aber gleichwohl hinsichtlich der Differenz von Information und Mitteilung beobachten lassen und insofern erwartungsbildend wirken. Man könnte daher auch von der ›Körperlichkeit sozialer Ordnung‹ sprechen, denn der Körper fungiert hier eben mehr als sonst als Kommunikationsmedium, »als Ablesefläche von Personalität«, »als Medium reduzierter Erwartungsbildung« (Opitz 2008: 250). So besehen, sind nicht körperorientierte Sozialbereiche, sondern die systemtheoretische Kommunikationstheorie lost in expectation. Die Systemtheorie Luhmanns scheint, so könnte man vorstehende Überlegungen mit einer Formulierung aus Alfred Schütz’ Aufsatz »Gemeinsam musizieren« kritisch zusammenfassen, »die Sprache, die Rede, die Symbole, die signifikanten Gesten als Grundvoraussetzung für den sozialen Verkehr als solchen anzusehen« (Schütz 1951/1972: 131). Jede Form symbolischer Interaktion setze hingegen grundlegender noch, so Schütz zu diesem Zeitpunkt noch transzendental- bzw. bewusstseinsphänomenologisch (und natürlich noch nicht gegen Luhmanns Systemtheorie gewendet), »ein wechselseitiges Sich-aufeinander-Einstimmen zwischen Kommunikator und Adressaten« voraus, das »durch die reziproke Teilhabe am Erlebnisfluß des anderen in der inneren Zeit hergestellt [wird], indem man eine gemeinsame lebendige Gegenwart durchlebt und indem man dieses Zusammensein als ein ›wir‹ empfindet« (ebd.: 149). Mit seiner sozialphänomenologischen Theorie der Lebenswelt distanziert er sich in der Folge bekanntlich von dieser Position, indem er vermutet, »daß Intersubjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins« (Schütz 1957: 105). Nicht anthropologisch, sondern genuin praxeologisch argumentierend, könnte man aber auch die Frage in den Mittelpunkt rücken, wie genau soziale Ordnung je aktuell operativ (re-)produziert wird: Eine so verfahrende Systemtheorie würde sich sowohl für sprachliche als auch für nicht-sprachliche, das heißt: körperliche und materielle Lösungen des Problems der Doppelkontingenz interessieren, letztlich für alle Formen sozialen Handelns, aber auch alle 123

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»sinnfremde[n] Vorgänge und Gegenstände« (Weber 1922/1980: 3, vgl. auch Anm. 1), die kommunikativ bzw., in der Sprache der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. etwa Latour 2005/2007: 183ff.), transformativ einen Unterschied machen und insofern zur Autopoiesis von Sozialsystemen beitragen (ähnlich Nassehi 2006: 458). Also auch für Zidanes Kopfstoß, der sich ja weder an kognitiven noch normativen, weder an bewussten noch unbewussten Erwartungen orientiert haben dürfte – vielmehr allein an der Emotionalität der Situation; an der, in Jean-Philippe Toussaints eingangs zitierten Worten, nicht weiter ableitbaren Übereinstimmung mit genau dem Augenblick, in dem er erfolgte.

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Leib und Stoff als Quelle sozialer Ordnung 1 SABINE PFEIFFER

1 Einleitung Zentrale Absicht dieses Beitrags ist es, Leiblichkeit und Stofflichkeit als genuine Bestandteile sozialen Handelns zu konstruieren, nicht nur als das Handeln fördernde oder störende Rahmenbedingungen. Leiblichkeit und Stofflichkeit wären damit ebenso wie beispielsweise Werte und Normen Grundlage sozialen Handelns und als Konstituenten sozialer Ordnung vergleichbar mit Institutionen und Subjekt. Allgemein und vereinfacht gesagt, geht es mir nachfolgend um die Thematisierung von Körpern und Dingen als sozial Handelnde. Dabei plädiere ich dafür, dass die Soziologie diese in ihrer materiell-organischen bzw. materiell-physischen Qualität ernster nehmen muss als bisher, um soziales Handeln zu entschlüsseln.2 Nimmt man Leiblichkeit und Stofflichkeit als soziologische Tatsachen ernst, speisen sie zugleich das, was man in der soziologischen Handlungstheorie allgemein unter Sinn versteht. Sinnhaftes Handeln bezieht sich – das will ich zeigen – eben auch auf leiblich und stofflich gegebenen bzw. repräsentierten Sinn: Im sozialen Handeln gibt es einen Sinn, der sich einerseits auf die Stofflichkeit (und damit sozusagen auf das »Drumherum«) des eigentlich sozialen Handelns und der sich andererseits auf 1

2

Eine ausführliche konzeptuelle Begründung von Leiblichkeit und Stofflichkeit als Quellen sozialer Ordnung und als dialektisches Gegenpaar findet sich in meiner Habilitationsschrift (Pfeiffer 2008a). Im Nachfolgenden wird sich daher zeigen, dass mein Verständnis des Körpers als sinnlich-empfindender Sozialakteur damit dem Leibbegriff Merleau-Pontys näher ist als vielen Körperbegriffen der Soziologie (und vor allem der soziologischen Handlungstheorie) – deswegen verwende ich auch den Begriff der Leiblichkeit. Stofflichkeit umfasst in meiner Lesart auch gemeinhin als immateriell Verstandenes, ich unterscheide dabei zwischen stofflicher Vergegenständlichung (physikalisch materiale Produkte jeder Art) und entstofflichter Vergegenständlichung (z.B. Software, Programmcode) (vgl. Pfeiffer 2004: 178). 129

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die Leiblichkeit bezieht – die eigene und die der anderen, auf die das Subjekt im sozialen Abstimmungsprozess handelnd Bezug nimmt. Auch im Zusammenhandeln von Leib und Stoff wäre damit so etwas wie ein »gemeinsam geteilter Sinn« sozial relevant; dann nämlich, wenn leibliches und stoffliches Handeln in eins fallen, wenn sie – wenn man so will – faktisch nicht anders können, außer um den Preis, nicht mehr erfolgreich zusammen handeln zu können. Aus der hier eingenommenen Perspektive von handelnder Leiblichkeit und Stofflichkeit erhält konventionelle Handlungstheorie eine neue Betonung: Nicht nur das Subjekt konstruiert und schafft Sinn im Handeln und bezieht sich sinnhaft handelnd auf etwas. Auch die Stofflichkeit der Dinge, auch die Leiblichkeit des Handelnden und die derer, auf die im Handeln Bezug genommen wird, hat einen Sinn, »macht« sozusagen Sinn. Denn Leiblichkeit und Stofflichkeit können nicht völlig beliebig im Handeln sozial konstruiert werden, oder anders gesagt: Soziales Handeln kann nicht gänzlich an den physisch-biologischen Gegebenheiten von Stofflichkeit und Leiblichkeit »vorbei« handeln. Leiblichkeit und Stofflichkeit sind selbst in ihrer Materialität höchst soziale Tatsachen, ihre faktischen und nicht beliebig zu hintergehenden Setzungen sind damit immer auch mehr oder weniger selbst aktiv Handelnde, auf die sich das Subjekt im Handeln sinnhaft beziehen muss. In der soziologischen Handlungstheorie dagegen fehlen Leiblichkeit und Stofflichkeit weitgehend als integrativer Handlungsbezug, so meine Ausgangsthese. Dies wäre nicht weiter erwähnenswert, gerieten damit nicht soziologisch relevante Tatsachen aus dem Blick – das aber ist meines Erachtens der Fall, wie ich anhand empirischer Beispiele zeigen möchte. Die weitgehende Ausblendung von Leiblichkeit und Stofflichkeit führt zu einem blinden Fleck in der soziologischen Analyse sozialen Handelns. Dies ist ein zentraler empirischer und konzeptueller Ausgangspunkt von Ansätzen wie dem subjektivierenden Arbeitshandeln (etwa Bauer et al. 2006; Böhle et al. 2002; Böhle/Milkau 1988; Böhle/Rose 1992) oder dem Arbeitsvermögen (Pfeiffer 2004), Ansätzen, die leibliche Aspekte im Arbeitshandeln in Bezug auf (zunächst überwiegend) stoffliche Arbeitsmittel und -gegenstände untersuchen. Zwei konzeptuelle Leerstellen – sowohl innerhalb der Arbeits- und Industriesoziologie als auch innerhalb der allgemeinen Soziologie – scheinen mir zunehmend deutlich hervorzutreten: • Zum einen gelingt es arbeits- und industriesoziologischen Ansätzen nicht ausreichend, das soziale Handeln im Unternehmen einerseits und das Arbeitshandeln mit Arbeitsgegenständen andererseits in einer gemeinsamen Forschungsperspektive zu integrieren. Ein Defizit, das sich aus der Entwicklung der Disziplin und ihres Feldes erklärt: In den 1950er bis 1970er Jahren waren industriesoziologische Fragen noch weitgehend frei von einer subjektorientierten Forschungsperspektive. Das änderte sich zwar deut130

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lich ab den 1980er Jahren; mit den so genannten »Neuen Produktionskonzepten« wurde industrielle Produktion neu und anders organisiert, ihr zentraler arbeitsorganisatorischer Fluchtpunkt wurde die Gruppenarbeit (etwa Binkelmann et al. 1993). Mit ihr und der gleichzeitig zunehmenden Subjektivierung von Arbeit (vgl. Moldaschl/Voß 2002) kamen Fragen sozialen Handelns auch auf der Subjektebene in neuer und verstärkter Form in der Arbeits- und Industriesoziologie an. Soziales Handeln innerhalb der Gruppe und von Akteuren innerhalb der betrieblichen Organisation wurde zunehmend Thema. Gleichzeitig aber kam es zu einem Auseinanderfallen der empirischen Fokussierung innerhalb der Disziplin: Die eine und kleiner werdende Gruppe (eben z.B. der Forschungszusammenhang zu Arbeit und Subjekt um Fritz Böhle) beschäftigte sich mit dem Arbeitshandeln – verstanden als Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Die andere und zunehmend größer werdende Gruppe von Forscherinnen und Forschern in der Arbeits- und Industriesoziologie und mehr und mehr auch der Organisationssoziologie beschäftigte sich mit sozialen Prozessen und sozialem Handeln in Gruppe und Betrieb. Spätestens seit dem ausgerufenen Ende des Technikdeterminismus (Lutz 1987) ging der Konsens zunehmend dahin, dass die Form der Arbeitsorganisation nicht mehr ursächlich durch die Produktionstechnik bedingt sei. Und es schien damit logisch, soziales Handeln und Arbeitshandeln nebeneinander und unabhängig voneinander zu betrachten.3 Diese konzeptuelle Trennung geht an der empirischen Wirklichkeit vorbei und produziert analytisch blinde Flecke. Bei konzeptuellen Defiziten in der eigenen »Bindestrich«-Soziologie liegt der Rückgriff auf allgemeinsoziologische Theorien und Ansätze nahe. Hier aber findet sich m.E. eine zweite Leerstelle, denn letztlich ergeben sich in den soziologischen Handlungstheorien die gleichen Trennlinien wie in der Arbeits- und Industriesoziologie: Eine soziale Handlung als normorientiertes, zielgerichtetes und sinnhaft motiviertes Verhalten scheint weitgehend ohne Leiblichkeit und Stofflichkeit auszukommen. Prägend für die soziologischen Handlungstheorien bleibt einerseits die Gegenüberstellung von Arbeit und sozialer Interaktion, wie sie paradigmatisch von Habermas (1968) formuliert wurde, andererseits die Betonung einer auf Nutzenmaximierung setzenden Handlungsrationalität (beispielsweise Esser 2003). Selbst der Symbolische Interaktionismus nimmt Leiblichkeit und Stofflichkeit nicht als selbst sozial Handelnde auf, erschließt sich doch auch diesem Ansatz die Bedeutung der »Dinge« (neben Gegenständen eben auch Institutionen, andere Menschen etc.) über die soziale Interaktion mit anderen Menschen, nicht aus den Gegebenheiten

Zur Entwicklung und zum Wandel der Forschungsperspektiven zur Technisierung in der Arbeits- und Industriesoziologie vgl. Pfeiffer (2010). 131

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bzw. Eigenschaften der Dinge selbst und aus dem handelnden Bezug auf sie. Derartige Engführungen oder Dichotomien sind in den letzten Jahren ohne Frage vermehrt mit Ansätzen konfrontiert, die diese konventionelle Sichtweise in Frage stellen oder zumindest die alten Grenzziehungen aufweichen: Im Umgang mit soziotechnischen Systemen verliert die Trennung zwischen gegenstandsbezogenem instrumentellem Handeln und sozialer Interaktion an Trennschärfe (vgl. Rammert 2003), und die Actor Network Theory erweitert den Handlungsbegriff über den menschlichen Akteur hinaus, sie fasst damit die Bedeutung von Objekten für das Soziale in neuer Weise (z.B. Latour 2001). Gleichzeitig sieht sich die Vorstellung rationalen planmäßigen Handelns in Konkurrenz zu Ansätzen, die implizite (Neuweg 1999; Polanyi 1985), improvisierende (Schön 1983), intuitive (Volpert 2003), kreative (Joas 1992) und damit letztlich mehr oder weniger leibgebundene Anteile des – eben gar nicht mehr nur als rational-planmäßig konzipierten – Handelns in den Blick nehmen oder dem scheinbar Nicht-Rationalen der Gefühle eine eigene Rationalität anheim stellen (vgl. Weihrich 2002). Zudem hat die Soziologie – zumindest in einigen Nischen – in den letzten Jahren zunehmend die leibliche Seite sozialen Handelns auf der Ebene der Kooperation und Kommunikation thematisiert (etwa Alkemeyer et al. 2003; Böhle/Bolte 2002; Gugutzer 2002). Trotz dieser Aufweichungen klassischer Dichotomien allgemeiner Handlungsansätze in der Soziologie findet sich hier also ein ähnliches Nebeneinander, wie oben für die Arbeits- und Industriesoziologie konstatiert: Wo der Leib ins Spiel kommt, findet sich die Stofflichkeit nicht; wo physische Dinge ins Spiel kommen, erscheinen auch sie – ähnlich wie im Symbolischen Interaktionismus – merkwürdig stofflos. Die genannten Leerstellen in der Arbeits- und Industriesoziologie ebenso wie die skizzierten Trennlinien in der allgemeinen Soziologie gilt es zu überwinden, denn sie zementieren Dichotomien, die an der empirischen Realität ebenso vorbeiführen wie an den Erfordernissen ihrer analytischen Erfassung. Unabhängig voneinander Thematisiertes und konzeptuell nicht ausreichend Verbundenes zusammenführend, möchte ich aufzeigen, dass Leib und Stoff ebenso relevant sind für soziales Handeln wie Werte und Normen, wie Sinn und Institution. Die hier verfolgte Intention ist es, deutlich zu machen, dass soziales Handeln nicht ohne Leibliches auskommt und sich notwendig auf Stoffliches bezieht. Dieser Beitrag vermag das nicht in Form eines umfassenden, in sich geschlossenen und bis ins Letzte ausgearbeiteten Theoriegebäudes zu präsentieren. Es erscheint mir zunächst wichtiger, die Leerstelle aufzuzeigen, die mit dem weitgehend leib- und stofffreien Handlungsbegriff der Soziologie entstanden ist.

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Bevor ich im Folgenden meine zentrale These mit Blick auf soziologische Konzepte zu Leib- und Stofflichkeit weiter ausführe, wird die Notwendigkeit der hier aufgemachten Perspektive anhand empirischer Beispiele verdeutlicht – Beispiele, die ohne den Einbezug von Leiblichkeit und Stofflichkeit als soziale Handlungen soziologisch nicht verstehbar sind. Dabei gehe ich zunächst aus von einem Beispiel aus der Arbeitswelt, nämlich der Arbeit am Fließband. Exemplarisch wird daran nachgezeichnet, dass und warum diese komplexe Handlungssituation mit klassischen – sozusagen leib- und stofffreien – Theorieangeboten nicht ausreichend soziologisch erklärt werden kann. Zwei weitere empirische, für die Wissensgesellschaft paradigmatische Beispiele zeigen ergänzend auf, dass Leiblichkeit und Stofflichkeit ihre Bedeutung für soziales Handeln auch im vermeintlich Virtuellen nicht einbüßen. Im daran anschließenden konzeptuellen Teil werden jeweils zentrale soziologische Konzepte, die Leib bzw. Körper und Stofflichkeit in den Blick nehmen, auf ihren Bezug zueinander und ihren Gehalt für die mikrosoziologische Ebene des sozialen Handelns hin befragt. Deutlich werden soll in der gesamten Argumentationslinie und vor allem in den beiden nachfolgenden Abschnitten (3.1 und 3.2), was in der Konklusion noch einmal zusammengefasst wird: Die bestehenden Theorieangebote befriedigen den konstatierten analytischen Bedarf nicht ausreichend; soziologische Handlungstheorie muss Stofflichkeit und Leiblichkeit als je sozial Handelnde in ihrem dialektischen Bezug zueinander konzeptualisieren.

2 Eine analytische Annäherung über empirische Beispiele Arbeit am Fließband? Dies mag zunächst rückwärts gewandt anmuten – selbst in der Industrie- und Arbeitssoziologie herrscht die Ansicht vor, das Fließband sei seit dem vor einigen Jahren ausgerufenen Ende des Taylorismus ein überholtes Relikt, stehe sozusagen längst auf der Liste der bedrohten Arten – allenfalls noch von Bedeutung als Metapher für den Taylorismus, in unserer Wissensgesellschaft längst verschwunden, zumindest aber verlagert in Billiglohnländer. Diese Ansicht aber ist falsch. Auch heute arbeiten in Deutschland noch rund eine Million Menschen – so schätzt man – in der Montage, ca. 600.000 davon in der Serienmontage (vgl. Pfeiffer 2007a: 13ff.). Und Serienmontage, das heißt – heute, im Zuge eines »Taylorismus 2.0«, wieder mehr als noch vor ein paar Jahren – Fließband; und Serienmontage heißt heute auch: HightechMontage von komplexen, anspruchsvollen Produkten bei Taktzeiten von meist deutlich unter einer Minute (Pfeiffer 2008c). Solche Montageformen erfordern statt einer Vollautomatisierung eine gelungene und besonders enge Koopera-

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tion von Mensch und Maschine, von Werker und Roboter.4 Montagearbeiter/-innen stehen in einem sinnlich-leiblichen Dialog mit ihrer einzelnen Montagestation, mit der Montageanlage als ganzer und mit den Zulieferteilen und Produkten. Was wir für verschiedenste Arbeitstätigkeiten als relevant herausarbeiten konnten, nämlich das »subjektivierende Arbeitshandeln« (etwa Bauer et al. 2006; Böhle et al. 2004) ist auch in der Montage relevant: eine ganzheitliche Wahrnehmung, ein explorativ-dialoghaftes Handeln, Ahnung, Gespür und Intuition (z.B. beim Vorausahnen einer Störung) und ein empathisches Einlassen auf nur scheinbar »tote« Dinge (Pfeiffer 2007a: 107ff.). Fähigkeiten des subjektivierenden Arbeitshandelns finden sich bei Gruppenarbeit in der Montage natürlich auch in Bezug auf das eigentliche soziale Handeln innerhalb der Gruppe. Dabei geht es aber nicht nur um die so genannten »social skills«. Denn eine Montagegruppe ist nicht nur ein sozialer Zusammenhalt, sie ist auch und vor allem ein Arbeitszusammenhang – und das drückt sich aus auf der Ebene sozialen Handelns. Mit allen Sinnen wahrzunehmen, das ist eine wichtige Dimension subjektivierenden Handelns, und dies gilt nicht nur in Bezug auf die technischen Prozesse, sondern auch auf die Kollegen/-innen innerhalb der Gruppe: Rechtzeitig spüren, wer Unterstützung braucht, oder aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass ein neuer Kollege seine Arbeitsstation ergonomisch zu umständlich bestückt – auch das sind Phänomene subjektivierenden Handelns. Erfahrene Montagearbeiter bewegen sich entlang kurzer Taktzeiten und bei oft eingeschränktem Platz als Gruppe wie eine eingespielte Fußballmannschaft. Erst wenn ein Spieler ausgetauscht wird und der Rhythmus verloren geht, wird sichtbar, wie viel kollektives Körpergefühl und Koordinationsvermögen hier im Spiel ist. Dies gilt schon bei einer klassischen Form der Montage, der Fließmontage (siehe Abbildung 1): Solange die Serienmontage ungestört verläuft, scheint es für die Koordination lediglich notwendig, dass sich alle an der Station mit der längsten Einzeltaktzeit orientieren. Bei ungestörter Serienmontage scheint hier allein die Station mit der längsten Einzeltaktzeit das einzig nötige Kooperationskriterium. Aber selbst dies läuft in der Praxis selten so sequenziell wie in der Abbildung dargestellt. Immer wieder wird es auch hier nötig, dass die leibliche Abstimmung der Einzelnen in der Gruppe koordiniert wird und dass diese Abstimmung zudem im Dialog mit dem stofflich gegebenen Sinn gemeinsam zum Tragen kommt. Dazu ein Zitat zur Situation des Umbaus, eines solchen Bandes, d.h. der Umrüstung von einem Montageteil auf ein anderes: »Aber was bei uns so eine Situation ist, oder besser gesagt, dass es einen ablaufgerechten Fluss gibt innerhalb vom Team oder innerhalb vom Band, wenn man um4

Diese enge Kooperation zwischen Mensch und Technik, Hand und Produkt habe ich im Rahmen eines BMBF-Projekts in fünf Montagefirmen untersucht (vgl. Pfeiffer 2007a); zur Mensch-Roboter-Kooperation vgl. auch Häußling (2008).

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baut. Also das heißt, man hat ja nicht nur den Typ auf diesem Band, man hat ja auch [die Baugruppe R]. Und da muss sich das Team schon gut organisieren, um diesen Ablauf zu gewährleisten, d.h. wenn wir uns vergleichen mit anderen Schichten. Ich hab schon in allen drei Schichten geschafft. [...] Dann ist das nicht überall gleich. Die organisieren sich nicht richtig. Das heißt, eigentlich ist es so, dass der am ersten Platz dann die Wägen umbauen muss und die Gehäuse dann wieder auflegen muss, das heißt, er muss die kompletten Vorrichtungen, wo die Gehäuse draufkommen, muss er austauschen und für [die Baugruppe R] draufmachen. Wenn der jetzt aber so viel zu tun hat, stockt das ja irgendwo. Also muss da einer hin, wo es sich aufläuft, wo es sich staut, und dann macht der diese Arbeit. Und wenn er dann wieder was weggeschafft hat, kann der wieder reingehen. Wissen Sie, Abläufe, das muss das Team selber steuern. Wenn das Team das nicht richtig steuert, ist kein runder Ablauf drin, und man kann ... oder man verliert dadurch einen Haufen Zeit.«

Abbildung 1: Fließmontage Zunehmend setzt sich momentan aber die so genannte U-Montage durch – japanisch auch Chaku-Chaku (vgl. Spengler et al. 2005). Dahinter stecken zwei Intentionen: erstens eine weitere Reduktion des Anteils menschlicher Arbeit – auch da, wo Vollautomatisierung ökonomisch wenig sinnvoll ist; und zweitens die Minimierung der Wege für die Teilezulieferung.

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Abbildung 2: U-Montage Eine Besonderheit dieser Montageform (siehe Abbildung 2) ist es, dass hier nicht mehr die längste einzelne Taktzeit Rhythmus und Ablauf des Ganzen bestimmt, sondern die kürzeste. Dauert ein Bearbeitungsschritt an einer Station länger, arbeitet der Werker eben in der Zwischenzeit an einer anderen Station weiter. Alle bewegen sich ständig im Einklang der einzelnen – und jeweils verschiedenen (!) – Taktzeiten und miteinander. Es müssen ständig an wechselnden Stationen andere Handgriffe ausgeführt werden. Und das mit, im Vergleich zur Fließmontage, deutlich weniger Personen, bei erhöhtem Zeitdruck – meist unter engen Platzverhältnissen. Der Lärm tut ein Übriges: Verbales Absprechen ist oft kaum möglich. Was dagegen nötig wird, ist die Fähigkeit, den eigenen Leib mit den Leibern der anderen und mit den stofflich gegebenen Erfordernissen in Einklang zu bringen – und sie vor allem acht Stunden am Tag im Einklang zu halten. Dazu erfolgen permanente Abstimmungsprozesse, alle paar Sekunden oder Minuten und situativ immer wieder neu. Machbar wäre dies nicht ohne die Verschränkung von leiblichem Handeln, sozialen Abstimmungsprozessen und den stofflichen »Akteuren«. Auch hierzu ein exemplarisches Zitat, das beschreibt, was letztlich kaum zu verbalisieren ist: »Zum Beispiel, wenn an der Presse, an der ich bin, dieser hier, wenn die zu ist und ich helfe meinem Kollegen und währenddessen geht meine Presse auf, dann bin ich dann auch derjenige, der auch da hingeht. Also ich helfe dann so lange, immer allen 136

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Kollegen, bis meine Presse aufgeht, und seh’ ich das, dann geh ich auch, dann bin ich auch derjenige, der dann hingeht zu dieser Presse. Er macht seine Arbeit weiter. Es soll eigentlich so laufen, dass wir praktisch immer so von einer Presse zur anderen gehen, rüber und so. Das geht aber nicht. Wenn hier Pressen stehen, und hier und hier. Und dann soll man praktisch immer so im Kreisel gehen, das geht aber nicht. Weil wir Pressen haben, die zwischen vier und acht Minuten laufen. [...] Das ist ein sehr großer Unterschied. Sechs Minuten, acht Minuten haben wir halt da. Und so wollen sie es haben, deswegen haben sie auch diese Tische so hingestellt, aber das funktioniert nicht. Das ist halt Theorie. Am Computer halt. Lässt sich irgendwie nicht verwirklichen.«

Warum derartige Situationen entstehen – das erklärt uns die soziologische Handlungstheorie ganz gut. So könnte man sagen, dass die Organisation (also der Betrieb) Normen und Werte vorgibt bzw. diese verkörpert – zum Beispiel durch Produktionskennzahlen oder Handlungsnormen für die Qualitätssicherung. Diese spiegeln sich in der Gruppe als sozialem Umfeld wider. Sinnhaftes Verhalten des einzelnen Montagearbeiters bezieht sich dann auf das soziale Handeln innerhalb der Gruppe und entlang dieser gegebenen Werte und Normen – im Einzelfall vielleicht auch gewollt gegen sie, zumindest aber immer im Wissen um sie. Denkt man sich noch Sanktionen hinzu und oder aus industriesoziologischer Sicht das Transformationsproblem (Braverman 1977; Berger/Offe 1984) – und je nach theoretischem Background ein bisschen Rational Choice5 hier oder ein bisschen Emotional Man (Flam 2000; Schimank 2000: 107–143) dort – schon scheint die Ebene sozialen Handelns soziologisch ausreichend erklärt. Und das subjektivierende Handeln (Böhle/Milkau 1988; Böhle/Rose 1992) erklärt uns dazu den Umgang des einzelnen Montagearbeiters mit Produkt und Maschine. Damit wäre auch noch die Ebene des Arbeitshandelns erfasst. So könnte man sich additiv durchaus der Frage nähern, warum das Geschilderte zustande kommt. Soziologisch ist damit aber noch nicht überzeugend das Wie erklärt: Wie gelingt diese kollektive Koordinationsleistung? Wie können feste, aber unterschiedliche Taktzeiten, komplexe Montagehandgriffe und das körperliche Aneinander-vorbei-Bewegen reibungslos funktionieren? Wie können verschiedene Subjekte miteinander auf geringstem Raum und unter Zeitdruck eine immer wieder neu erforderliche Choreografie entwickeln? Und dies alles, ohne sich dabei sprachlich abstimmen zu können – denn dafür ist es zu laut, und wie wollte man das, was hier in Sekundenbruchteilen passiert, schon verbalisieren?

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Vgl. Esser (2002a und b); Diekmann et al. (2008); Greshoff/Schimank (2005); Kunz (2004) und kritisch zu den Grundlegungen bei Esser in Bezug auf Alfred Schütz: Etzrodt (2007). 137

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Nur wenn man annimmt, dass es bei alldem a) nicht um Handlungen geht und b) diese nicht sozialer Natur sind – nur dann müsste Soziologie darauf keine Antwort haben. Gerade aus soziologischer Sicht aber wird man nicht umhin kommen, die genannten Beispiele als soziales Handeln einzuordnen. Man könnte vielleicht einwenden, dass hier eine Kombination aus klassisch verstandenem sozialem Handeln und körperlich eingeschriebenen, sozusagen vor-sozial versickerten Routinen vorliegt. Helmuth Plessner und Arnold Gehlen würden sich damit vielleicht zufrieden geben (vgl. so zumindest in der Deutung von Schäfers 2008) – das empirische Beispiel lässt sich jedoch so nicht fassen. Denn: Wir haben es hier nicht mit gleichförmigen Wiederholungen zu tun, sondern mit permanent aufs Neue notwendigen Abstimmungsprozessen. Das in den Montagebeispielen relevant werdende Handeln ist auch nicht mit den klassisch soziologischen Zugriffen eines gefühlsgeleiteten, eines traditionalen oder eines routinisierten Handelns (vgl. Schimank 2005: 45ff.) befriedigend zu fassen: Zu beobachten ist hier kein gefühlsgeleitetes Handeln im Sinne einer starken, fast reflexartig erfolgenden expressiven Reaktion. Gefühl spielt durchaus eine Rolle, aber nicht als eine Emotion oder als ein Affekt, die oder der sich spontan aus der Stimmungslage eines Handelnden ergibt. Gefühlsgeleitet ist dieses Handeln auf der Ebene eines aktiv handelnden Leibs – als wahrnehmendes Spüren des zu Ende gehenden Arbeitsschritts an einer der Montagestationen, als Ahnen von sich anbahnenden Störungen oder als ein antizipierendes Gefühl für die Bewegungsabläufe der anderen Montagemitarbeiter. Wir beobachten hier auch kein traditionales oder gar routinisiertes Handeln, weder erklären uns Sitten, Gebräuche oder gar Rituale das beobachtete Tun, noch sind hier Konditionalprogramme im Sinne fester »Wenn-dann«-Relationen hinterlegt (diese würden aufgrund der sich ständig wandelnden Situation gerade ein kollektiv erfolgreiches Handeln unmöglich machen). Alltagssprachlich wird leibliches Agieren, das erfahrungsbasiert und in diesem Sinne in den Körper eingeschrieben scheint, zwar gerne als routinisiert benannt, für das beobachtete Beispiel trifft dies aber nur insoweit zu, als mit dem Begriff des routinisierten Handelns meist vor allem die Nicht-Notwendigkeit einer Reflexion des Handelns für dessen Gelingen adressiert ist. Auch improvisierende Handlungs- bzw. Entscheidungsformen (Schimank 2005: 393ff.) umschreiben m.E. das geschilderte Beispiel nicht; denn es wird hier weder genommen, »was gerade zur Hand ist« (ebd.: 393), noch wird probeweise etwas versucht, weder werden Probleme für Lösungsangebote erst gesucht (carbage-can-decisions) noch wird experimentell verfahren (tinkering). Tatsächlich scheint hier die von Uwe Schimank betonte Notwendigkeit einer begrifflichen Unterscheidung von Handeln und Entscheidung besonders deutlich zu werden: Das Beispiel der U-Montage kann relativ einsichtig als ein Handlungs-, aber nur unbefriedigend als ein Entscheidungsszenario beschrieben werden. Handelnd werden hier natürlich in Bruchteilen von Sekun138

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den ständig de-facto-Entscheidungen getroffen; das Entscheidende aber ist das Handeln – und die Entscheidung darüber, welches Handeln erfolgreich ist, wird eben nicht (und könnte aus Zeitgründen meist gar nicht) bewusstkognitiv getroffen, die Entscheidung wird von einem handelnden Leib faktisch getan. Auch deswegen überzeugen inkrementalistische Strategien (Schimank 2005: 237ff.) als Erklärungsansatz ebenso wenig, zielen sie doch vor allem auf Entscheidungsprozesse, nicht auf handelndes Entscheiden oder entscheidendes Handeln. Ohne an dieser Stelle die soziologische Handlungstheorie in ihrer theoretischen Vielfalt und ihrer Unterschiedlichkeit auch nur annähernd nachzeichnen zu können – anhand des beschriebenen Montagebeispiels zeigt sich: Für das Warum (Warum handeln die Montagearbeiter so?) finden sich einige klassische Angebote soziologischer Handlungstheorie. Um auch das Wie (Wie gelingt dieses ständig veränderte, kollektive Handeln?) plausibel zu machen, erscheint es mir notwendig, Leiblichkeit und Stofflichkeit als integrale Bestandteile sozialen Handelns zu konzipieren. Macht Soziologie Theorieangebote, die das Physische und Organische, das Materiale also im weitesten Sinn, nicht jenseits des Sozialen, sondern als Teil des Sozialen in den Blick nehmen, geschieht dies meist, ohne die Mikroebene des sozialen Handelns ausreichend in den Blick zu nehmen – und vor allem selten integrativ. Das bedeutet: Meist rückt entweder das Materielle (wie beispielsweise in der Techniksoziologie) oder der Leib (wie in der Körpersoziologie) dezidiert in den konzeptuellen Fokus. Jenseits der Frage, ob dabei wirklich jeweils die stofflichen und leiblichen Aspekte als sozial handelnde Realitäten anerkannt werden, öffnet sich der soziologische Blick meist allenfalls in die eine oder die andere Richtung. Unser Beispiel aus der Montage aber erklärt sich gerade nur dann in Gänze soziologisch, wenn beides hineinkommt: Leiblichkeit und Stofflichkeit. Und wenn sie beide nicht additiv »hineinkommend« konzipiert werden, sondern indem sie die klassischen Handlungsannahmen der Soziologie in Frage stellen. Man könnte skeptisch fragen, ob ein Beispiel aus der stofflich dominierten Montage in die Irre führt, weil es für ein vermeintlich auslaufendes Produktions- und letztlich vielleicht sogar Gesellschaftsmodell steht. Deswegen möchte ich zwei weitere empirische Beispiele bringen, die, anders als das Montagebeispiel, eindeutiger für das stehen, was seit Jahren den Diskurs unter den Labeln der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft bestimmt. Ursula Huws zitiert ein Beispiel der Arbeit an einer Supermarktkasse und damit sozusagen vom »unteren« Ende der Dienstleistungsgesellschaft – zumindest wenn man den üblichen Einordnungen entlang von Qualifikations- und Anforderungsniveaus folgen will:

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SABINE PFEIFFER

»I use my three fingers – my thumb, my index finger and my middle finger. The right hand. And my left hand is on the groceries ... I got my hips pushin’ on the button and it rolls around on the counter. When I feel I have enough groceries in front of me, I let go of my hip. I’m just movin’ – the hips, the hand, and the register, the hips, the hand, and the register [...] If you got that rhythm, you’re a fast checker [...] If somebody interrupts me to ask me the price, I’ll answer while I’m movin’. Like playin’ a piano« (Terkel 1974: 241f., zit. in Huws 2007: 2).

Auch hier fallen mehrere Elemente sozialen Handelns zusammen bzw. handeln unterschiedliche soziale Akteure zusammen: Das eigentliche Tun (nämlich das Kassieren) und die soziale Aktion im herkömmlichen Verständnis (nämlich die Interaktion mit der Person auf Kundenseite) sind untrennbar verschränkt mit dem Handeln der stofflichen und leiblichen »Akteure« (Kasse, Warenband und Waren auf der einen, Hand, Hüfte und Bewegung der Kassiererin auf der anderen Seite). Anders als im Montagebeispiel ist es hier denkbar, die empirisch faktische Verschränkung von kommunikativem und leiblich-stofflichem Handeln partiell aufzulösen, ohne die Gesamtfunktionalität des Handlungsrahmens in Gänze zu gefährden. So könnte beispielsweise die kundenorientierte Interaktion über den Warenpreis Anlass zu einem kurzfristigen »Anhalten« des leiblich-stofflichen Handelns mit Ware, Kassenband und Kasse geben. Allerdings, das zeigt das Zitat der Supermarktkassiererin deutlich, geschähe dies um den Preis der Verletzung anderer handlungsleitender Normen: Nur indem sich Leibliches und Stoffliches handelnd im und mit dem als eigentlich sozial anerkannten Handeln verschränken, gelingt es, die soziale Erwartungshaltung zu erfüllen – nämlich ein »fast checker« zu sein, also sehr schnell abkassieren zu können; und dabei zudem korrekt zu kassieren (dies wird in der zitierten Passage zwar nicht thematisiert, ist jedoch als weitere Anforderungsebene im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses mehr als plausibel). Auch das Supermarktbeispiel hält noch eindeutig Stoffliches parat: Kasse und Waren haben eine faktische Materialität, an der nicht völlig vorbeigehandelt werden kann. Das würden auch diejenigen soziologischen Handlungsperspektiven unterstreichen, die dem Leiblichen und Stofflichen allenfalls den Charakter von Rahmenbedingungen sozialer Handlung zuschreiben würden. Wie aber sieht es in Handlungssituationen aus, die nichts Stoffliches im physikalisch-materialen Sinne mehr aufweisen? Für ein Beispiel greife ich auf die Tätigkeit des Informationbroking zurück.6 Sie könnte als Prototyp von Wissensarbeit in der Wissensgesellschaft gesehen werden, denn sowohl Arbeitsgegenstände (zu eruierendes Fach- und/oder Spezialwissen zum Beispiel für die 6

Die Zitate stammen aus zwei Büchern von Reva Basch (1993 und 1996), eine ausführliche qualitative und quantitative empirische Untersuchung mit deutschsprachigen Informationbrokern/-innen findet sich darüber hinaus in Pfeiffer 1999.

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Patentrecherche) als auch die Arbeitsmittel (kostenpflichtige Fachdatenbanken) sind immateriell. Beschreibungen erfahrener Informationbroker/-innen zeigen: Wo die ganze Bandbreite real erfahrbarer Sinneseindrücke fehlt, finden sich um so mehr Aussagen zu ›abstrakter Sinnlichkeit‹ und die Verbindung von abstrahierten Informationen mit subjektiven Empfindungen. Diese werden oft in Bilder gefasst, die die real fehlenden Sinneseindrücke einbeziehen: »I get the feeling that it’s [das Internet; Anm. S.P.] a black box. I put my hand in, I feel around, I get something that feels kind of warm and fuzzy and I pull it out and see what it is. [...] It’s like fishing. You don’t maintain a database of every place you’ve ever caught a fish. You learn to fish by learning to read the meaning of water temperature, bottom contour, vegetation, weather and climate. Those are finding tools. You learn how to figure out where the fish are likely to be biting today. You don’t try to memorize where they were yesterday, last month, last season, or when you were a child« (Basch 1996: 14).

Datenbanken als ›virtuelle Welten‹ werden nicht als ›Objekt‹, als abstraktes, von der realen Welt und der eigenen Umwelt verschiedenes Gebilde betrachtet. Daten und Informationen sind zwar abstrahiert, ihren Wert für die reale Welt erhalten sie jedoch nur, indem die erfahrenen Informationbroker/-innen sie handelnd und mit ihnen handelnd re-konkretisieren. So müssen sie z.B. ständig die Vorstellungsleistung erbringen, was sich ›hinter‹ der Datenbank verbirgt: wie und nach welchen Kriterien diese entstanden ist; welche – auf menschlichem Handeln basierende – Fehler oder welche unterschiedlichen Klassifizierungspräferenzen auf der anderen Seite der ›virtuellen‹ Welt sehr konkret das vermeintlich Abstrakte konstruiert haben. Und dieser permanente Prozess der Re-Konkretisierung des Abstrakten im Handeln schließt für das Informationbroking nicht nur die Herstellung von Datenbanken, sondern auch die Herstellung der darin enthaltenen Texte bzw. Dokumente ein: »[...] think creatively because that’s the way people have written, [...] be detailoriented because that’s the way librarians organize knowledge. To be a really great online searcher you’ve got to be both« (Basch 1993: 125).

Und damit könnte von einer doppelten Re-Konkretisierungsleistung im Handeln gesprochen werden. Die Datenbank ist ja nicht einfache Abstraktion oder abstrahierte Repräsentation von etwas Real-Stofflichem, sondern Abstraktion von bereits in sozialer Handlung abstrahierten »Dingen«: Ein Datenbankeintrag ist zum Beispiel die Abstraktion eines »Abstracts«, der wiederum eine Abstraktion (im Sinn einer Reduktion) eines Textes darstellt, und dieser kann in sich wiederum als Abstraktion eines real-stofflichen Vorgangs, z.B. einer chemischen Synthese, betrachtet werden. Und diese abstrahierte Version der dahinter liegenden, mehrfach sozusagen abstrakt verschachtelten Realität »handelt« an141

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ders und erfordert anderes sinnhaft auf sie bezogenes Handeln als die von ihr abgebildete Realität selbst. Was theoretisch-gedanklich nur holpernd zu durchdringen ist, stellt sich für Informationbroker/innen als arbeitsweltlicher Alltag dar, als Normalität ihrer sozialen Handlungsbezüge. Datenbanken sind denn auch alles andere als die große virtuelle und so ganz andere Welt, in die es einzutauchen gilt. Datenbanken sind im Arbeitshandeln zu konkretisierende Gebilde, auf deren nicht beliebig zu hintergehende Strukturen handelnd reagiert werden muss und deren Möglichkeiten, vor allem aber auch Grenzen und Beschränkungen im Arbeitshandeln antizipiert werden müssen: »The more you understand the concept of databases and how they’re constructed, the better searcher you become. [...] You have to understand what an online databank is, and what a computer can do and can’t do« (Basch 1993: 80, 126).

Auch hier also findet sich eine Verschränkung im Handeln zwischen dem leiblichen Bezug einerseits auf die abstrakte Stofflichkeit von Datenbankstrukturen und auf das Handeln der diese Datenbanken speisenden Subjekte, andererseits auf den Kunden, für den und in dessen Interesse gesucht (und gefunden) wird.

3 Leib und Stoff in der Soziologie und als Leerstellen in der soziologischen Handlungstheorie Die drei aufgeführten empirischen Ausschnitte aus Montagetätigkeiten, Kassieren im Supermarkt und Informationbroking zeigen, dass Stofflichkeit und Leiblichkeit in allen drei Fällen selbst zu Akteuren sozialen Handelns werden – eben auch dort, wo es vermeintlich gar keine Stofflichkeit gibt und vermeintlich gar keine Leiblichkeit handlungsrelevant wird. Anhand eines vergleichbaren Beispiels aus einem grundsätzlichen phänomenologischen Zugriff auf eine Arbeitssituation möchte ich noch einmal verdeutlichen, wo ich den spezifischen Fokus der Argumentation setze. Hermann Schmitz zeigt an einem handwerklichen Beispiel auf, wie leibliche und stoffliche Akteure sozusagen in ein gemeinsames Handeln kommen: Zwei Männer sägen gemeinsam mit einer Säge einen Baumstamm durch; die leiblich kommunizierenden Akteure bilden dabei im Tun einen sozusagen übergreifenden Leib (vgl. Schmitz 1978: 96 sowie Schmitz 1980: 42). Hier treffen nach Schmitz’ Lesart zwei Formen der Einleibung aufeinander: • In der solidarischen Einleibung erfolgt das gemeinsame Einlassen und die Konzentration auf die Aufgabe des Sägens: Die Leiber der beiden sägenden Männer werden durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb (motori142

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scher Impuls, Bewegungssuggestion) im gemeinschaftlichen Impuls zusammengeschlossen, sägen zu wollen – oder besser: sägen »zu tun«. Die solidarische Einleibung selbst kommt aus ohne eine zu verhandelnde oder sozial vorgeprägte Rollenverteilung der beiden Sägenden, ihre gemeinsame Einleibung bezieht sich von beiden Handelnden symmetrisch auf die Aufgabe des Sägens. Gleichzeitig bedarf es einer wechselseitig-antagonistischen Einleibung – nur über sie lässt sich das funktional für ein erfolgreiches Sägen notwendige rhythmische Wechseln von Sägezug und -druck, von Aktion und Reaktion der beiden sich gegenüber stehenden Sägenden erreichen. Dabei kommt es zu kurzfristig wechselnden Rollenverteilungen innerhalb bzw. auf Basis des gemeinsamen vitalen Antriebs, die aber weder Reaktionszeit noch Rollenaushandlung erfordern (Schmitz 2003: 41f.).

Das Entscheidende ist meines Erachtens jedoch, dass es nicht nur zu einer leiblichen Kommunikation der beiden sägenden Akteure kommt, sondern gleichzeitig zu einem ebenso reaktionsschnellen, leiblich vermittelten Handeln in Bezug auf die stofflichen Gegebenheiten: Die Stumpfheit der Säge nimmt mit zunehmender Länge des Sägeprozesses zu; der durchzusägende Baumstammquerschnitt ändert sich mit dem je aktuellen Sägestand ebenso laufend wie der jeweils anzulegende optimale Sägewinkel und – mit zunehmendem Sägefortschritt – die Geometrie des Sägespalts usw. Baumstamm und Säge in ihren – im Sägeprozess sich zudem ständig verändernden – Beschaffenheiten müssen also ebenso solidarisch und wechselseitig-antagonistisch eingeleibt werden; die Sägenden interagieren nicht nur leiblich miteinander, sondern sie interagieren gleichzeitig mit dem Stofflichen, auf das sie sich in ihrem – leiblich gemeinsamen – Tun beziehen. Dies alles gleichberechtigt einzubeziehen in eine soziologische Handlungsanalyse, darum geht es mir. Die vorangestellten empirischen Beispiele und die daran geknüpften Deutungen sollten eines deutlich machen: Das leibliche und stoffliche Handeln ist selbst Folge und Ausdruck sozialen Handelns. Das soziale Handeln ist nicht nur von sozialem Sinn bestimmt, sondern auch von stofflichem Sinn und leiblichem Sinn – diese sind aber nicht etwa nicht-soziale Sinndimensionen, nur weil man ihre physisch-biologischen Setzungen als handlungsrelevant akzeptiert. Mir geht es darum, diesen stofflichen und leiblichen Sinn in seiner integralen Bedeutung für das soziale Handeln ernst zu nehmen. Das heißt, sie weder als determinierend überzubetonen noch sie zu einer reinen Flankierung des eigentlich sozialen Handelns zu degradieren.7 Meine Argumentation zielt 7

Wird der Sinn im Luhmann’schen Verständnis bemüht – der seinen Sinnbegriff und die drei Sinndimensionen schließlich aus der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie entwickelt hat – dann liegt die Sachdimension (Luhmann 1984: 114ff.) für den Einbezug des Stofflichen wohl am nächsten. In dem ihr zugeord143

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darauf, Leiblichkeit und Stofflichkeit selbst auch als Folge und Ausdruck des Sozialen zu deuten und als handlungsrelevante Größen anzuerkennen. Dies wird umso mehr deutlich, wenn man gewahr wird, dass selbst Werte und Normen nicht nur als abstrakte Größen handlungsleitend und damit sozial wirken, sondern auch, weil sie über stoffliche (und auch leibliche) Repräsentationen wirken.

3.1 Sozial handelnde Leiblichkeit Leiblichkeit und Stofflichkeit spielen als sozial Handelnde und als für soziales Handeln relevante Größen also eine zentrale und bislang in der Soziologie unterschätzte Rolle. Analytisch betrachtet, fungiert der Leib als Brücke zwischen dem sozial handelnden Subjekt und der Stofflichkeit bzw. der Leiblichkeit anderer, auf die das Subjekt sich handelnd bezieht: Der Leib fungiert als Träger des Handelns, ist selbst Handelnder im Umgang mit dem Stofflichen und nur über ihn gelingt eine Wahrnehmung des Stofflichen (an die sich dann erst sozial konstruierte und/oder kulturelle Bedeutung knüpfen kann). Maurice Merleau-Ponty hat mit seinem Begriff der Leiblichkeit eine Fokussierung eingenommen, die ich als Grundlegung meiner nachfolgenden Überlegungen voranstellen möchte: Nicht der Körper als zwar organisch notwendige, aber letztlich dem Bewusstsein untergeordnete Hülle des Menschen als soziales Wesen soll hier der Ausgangspunkt der Betrachtung sein, sondern die Leiblichkeit als eine zutiefst soziale und soziologisch relevante Kategorie. Wenn mit Merleau-Ponty der Leib anderes – und vor allem qualitativ mehr – ist als »eine Informationsmaschine«, nämlich ein »tatsächlicher« Körper und damit so etwas wie »ein Wachposten, der schweigend hinter meinen Worten und meinen Handlungen steht« (Merleau-Ponty 1984: 14), dann ist der Leib mehr als eine organisch-physiologische Grundlage sozialen Handelns, nämlich (auch) selbst Handelnder; dann ist der Leib nicht nur Medium der Wahrnehmung, sondern auch (Mit-)Konstrukteur sozial verstehbaren Sinns. Soziologie hat lange Zeit das Individuum als rationalen und nicht-körperlichen »decision-making agent« gesehen, sozusagen als einen sprechenden Kopf ohne neten Erleben bzw. in dem auf sie bezogenen Handeln könnte sich Leiblichkeit verorten lassen. Und ebenso weckt Luhmanns Formulierung von der Welt als »Letzthorizont alles Sinnes« (ebd.: 105) Hoffnungen auf Andockstellen für Stofflichkeit. Das Hineinnehmen von Leiblichkeit und Stofflichkeit in die Luhmann’sche Theorie des Sinns jedoch erscheint mir als von vornherein zum Scheitern verurteilt. Gerade aktuelle Auseinandersetzungen insbesondere mit der Sachdimension des Luhmann’schen Sinnbegriffs zeigen: Der mediale Charakter des Sinns bleibt vorherrschend (vgl. etwa Schützeichel 2003: 223ff.), die Sachdimension wird in komplexen Entscheidungssituationen zu einer Frage des Informationsgehalts (etwa Schimank 2005: 155ff.). 144

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Körper; nur wenigen Strömungen, so Foucault, Goffman und Mead sowie der feministischen Soziologie, wird gemeinhin das Verdienst zugesprochen, diese verkürzte Sichtweise gesprengt zu haben (vgl. Crawley et al. 2007). Für Merleau-Ponty liegt der Leib verbindend zwischen dem Körper und dem Geist, der Leib ist ihm das zentrale Medium der Weltwahrnehmung, nur durch ihn gelingt unser »Zur-Welt-Sein«, das Merleau-Ponty vom »Für-sichSein« unterscheidet (1974: 419ff.). Der Leib ist ihm »allen Gegenständen gemeinsame Textur«, Werkzeug allen Verstehens überhaupt (ebd.: 275). Merleau-Ponty unterscheidet damit den Leib von einem Verständnis des Körpers als rein physikalisches Phänomen – Körper, Geist und Weltwahrnehmung sind nur über den Leib denkbar. Am Beispiel Merleau-Pontys zeigt sich, wie stark die Abgrenzung der Begriffe von Leib und Körper mit den jeweiligen Verständnissen der beiden Einzelbegriffe variiert. Es verwundert nicht, dass sich auch heute in der Soziologie unterschiedlichste Zuschnitte, Abgrenzungen und Vermischungen beider Begrifflichkeiten finden. Vor allem wird, in den letzten Jahren verstärkt, die Rolle des körperlichen Aussehens und Verhaltens als symbolische Repräsentation aufgegriffen (vgl. Hahn/Meuser 2002; Meuser 2002; Koppetsch 2002; Scott/Morgan 1993). Grundlegend auch für aktuelle Ansätze bleibt dabei – ob als konzeptuelle Basis oder als kritischer Abstoßpunkt – der von Norbert Elias (1987, 1992) und, an diesen anknüpfend und ihn weiterführend, von Pierre Bourdieu (1993, 1997) entwickelte Begriff des Habitus, in den Geschmack, Kleidung, Stil – aber auch Denken, Fühlen und Handeln eingehen. Letztlich steht bei dieser Betrachtung jeweils die Frage im Mittelpunkt, wie (d.h. über welche Prozesse und mit welchem Ergebnis) soziale Strukturen und kollektive Dispositionen das einzelne Individuum prägen – eben auch in seiner körperlichen Repräsentation. Ohne Frage also wird der Körper in der Soziologie in den letzten Jahren zunehmend thematisiert: So wird die gesellschaftliche Formung des Produktionskörpers in den Blick genommen (etwa Sarasin 1995) und die Rolle des Körpers beispielsweise in Dienstleistungs- und Emotionsarbeit (Hochschild 1983; Rastetter 2008), in Interaktionsbeziehungen (Raab/ Soeffner 2005) oder im Sport (Alkemeyer et al. 2003) konstatiert. Der soziologische Blick auf den Körper betont dessen »konstitutive Bedeutung für soziale Prozesse«, er dürfe aber nicht in eine weitere »Bindestrich-Soziologie« abgeschoben werden, so Gesa Lindemann (2005: 114). Und wenn Hirschauer (2004: 77) – aus der Perspektive sozialer Praktiken – konstatiert, dass die »Körperlichkeit des Sozialen [...] in der Arbeit liegt, die der Körper tut, bevor sie in ihm seine historischen Spuren hinterlässt«, scheint der Körper als Thema in der Soziologie längst angekommen zu sein. Während es also offenbar einerseits eine Neuentdeckung des Körpers in der Soziologie gibt (vgl. Featherstone et al. 2001; Gugutzer 2006; Schroer 2005), wird gleichzeitig auch sein mögliches Ver-

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schwinden diagnostiziert (etwa Angerer et al. 2002; Becker/Schneider 2000; Funken 2005; Müller 1996; Rötzer 1996). Ungebrochen aktuell ist die feministische Perspektive auf den Körperdiskurs: Sie macht einerseits immer wieder deutlich, wie sich geschlechtsspezifische Ungleichheitsstrukturen besonders stark auch auf körperlicher Ebene repräsentieren (Degele 2004; Jäger 2004; Meuser 2006; Trappe 2008; Villa 2006; von Alemann 2008); und sie zeigt zum anderen auf, wie aktuell Diskurse um Sex versus Gender angesichts von Soziobiologie und Biopolitik heute (erneut) sind (etwa Gehring 2008). Im Rahmen feministischer Debattenstränge (Butler 1991 und 1997) und in Untersuchungen zur Transsexualität (Hirschauer 1993) wurde immer wieder das Geschlecht als soziale Konstruktion entlarvt und seine vermeintlich biologische Existenz letztlich als Verschleierung dieses sozialen Konstruktionsprozesses gedeutet – bei Butler findet sich in diesem Zusammenhang auch eine Kritik feministischer Geschlechterkonzeptionen. Gerade diese Diskurse aber haben den gelebten biologischen Körper in seiner sozialen Bedeutung weitgehend negiert – erst mit der Rückkehr phänomenologischer Ansätze, so Ulle Jäger (2004: 19ff.), schiebe sich der Leibbegriff zwischen die Kategorien eines biologischen Organismus und eines sozial konstruierten Körpers. Mit dem Körper also rückt zunehmend auch der Leib in den Fokus der Soziologie. Und dies nicht nur als physiologisch-biologisches »Anhängsel« des Sozialen. Gugutzer (2002) etwa hat anhand empirischer Untersuchungen von Ordensangehörigen und Balletttänzern versucht, dem kognitiven Bias der Soziologie beim Blick auf die personale Identität eine erweiterte Perspektive zur Seite zu stellen: Demnach ist die leiblich-körperliche Verfasstheit des Menschen für seine Identitätsentwicklung mindestens ebenso relevant wie Denken und Sprache. Im Zuge aktueller Debatten um Pränataldiagnostik und Genetik (vgl. van den Daele 2005; Mietzsch 2006) oder zu Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch (etwa Hahn 2000) sind die Begriffe Biomacht und Biopolitik aus innersoziologischen Diskursen längst in die Welt der politischen Auseinandersetzung und der Essays und Feuilletons migriert. Damit scheint der Begriff des Körpers als Gegenstand staatlichen Machthandelns inner- und außerhalb der Soziologie diskursive Normalität geworden zu sein.8 Der Körper – so scheint es 8

Michel Foucault definiert in seinem dreibändigen Werk »Sexualität und Wahrheit« (2006, 2008, 1989) erstmals den Begriff der Biomacht als das Bestreben des modernen Staates, in zentrale Aspekte des menschlichen Lebens einzugreifen – anders als die den Feudalstaat charakterisierende Macht über das Sterben. Sexualität und Fortpflanzung im Bevölkerungsmaßstab werden damit zum Gegenstand staatlicher Machtpolitik. Michel Foucault beschäftigt sich hier zwar einerseits dezidiert mit ohne Frage leiblichen Aktivitäten und Aspekten; andererseits stehen dabei immer das Machthandeln des Souveräns und die historisch sich wandelnden Denkweisen in Philosophie und Medizin im Mittelpunkt der Betrachtung – nicht aber die Mikroebene leiblich-sozialen Handelns. Diese Di-

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aus biopolitisch inspirierter Perspektive – steht in Frage, etwa in Alan Petersens »Body in Question« (2007), wo die Frage lautet, ob sich angesichts der – zudem medial vermittelten – neuen biopolitischen Veränderungsoptionen des Körpers der gesellschaftliche Diskurs nicht längst verschoben hat: Ist der Körper heute noch mehr als eine biologische Maschinerie, die unser soziales Sein nur ermöglicht? ›Bodies‹ sind für Petersen im ganz intrinsischen Sinne soziale Dinge – das, was wir sind, und das Medium, durch das wir Welt begreifen; dies allerdings sieht Petersen aber durch eine neue Qualität der Ökonomisierung des Körpers (durch Stammzellenforschung, Neurowissenschaft etc.) bedroht. Insbesondere im Kontext der aktuellen Debatte um die Biowissenschaft erfahren derzeit anthropologische Deutungsmuster in der Soziologie eine »Renaissance« (Fischer/Schimank 2008: 1141). Für die Hereinnahme des Leibs könnte beispielsweise die kritische Anthropologie ins Feld geführt werden (etwa Landweer 1999; Manzei 2003: 18ff.). Sie will universelle Aussagen machen über die Bestimmung des Menschen als Mensch (Manzei 2003: 20), ihre Tauglichkeit für die Bestimmung leiblicher Aspekte im sozialen und als soziales Handeln ist daher begrenzt. Vielleicht aber wird zunehmend nicht nur die Frage relevant, wo Grenzlinien zwischen dem sozial konstruierten und dem biologischen Körper liegen (vgl. etwa Wehling 2008), sondern vielmehr: Welche gesellschaftlichen und individuellen Widersprüche entstehen zwischen dem sozial konstruierten, ökonomisch und biopolitisch »zugerichteten« oder zumindest potenziell zurichtbaren Körper und dem – trotz allem immer auch sozial seienden bzw. agierenden – Leib? Denn die Zurichtung des einen hat konkret-leibliche Konsequenzen für den anderen. Gerade in unseren – wenn man so will – biopolitischen Zeiten werden diese neuen Widersprüche ohne eine Neuentdeckung des Leibs – als eben auch soziologischer Tatsache – nicht sichtbar werden können. Auch der gentechnisch diagnostizierte, mit Botox gespritzte und schönheitschirurgisch veränderte Körper ist immer noch Leib. Er wird sozusagen nicht nur auf der Diskursebene verändert; er wird zwar als Körper vergegenständlicht, aber er ist auch ein anderer Leib geworden und – trotz aller biopolitischen Eingriffe in den Körper – eben auch Leib geblieben. Vom Leib-Sein kann man sich durch Körperinszenierung und -modellierung letztlich nicht emanzipieren. Diese notwendigerweise selektive und unvollständige tour de force durch die Vielfalt unterschiedlichster soziologischer Ansätze zeigt vor allem eines: Die Soziologie ringt mit den Begriffen von Leib und Körper, sie pendelt dabei zwischen (immer wieder) neuer Entdeckung bzw. Würdigung und Negation, bis hin zur Diagnose des Verschwindens des Körperlichen. Trotz aller Entdeagnose gilt im selben Maße für aktuelle Zeitdiagnosen, die sich explizit an Foucault anlehnen, so beispielsweise wenn Michael Hardt und Antonio Negri der Biopolitik eine neue Qualität reeller Subsumtion zusprechen (2002: 39ff.; vgl. kritisch dazu Pfeiffer 2004: 121ff.). 147

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ckung des Körpers: Soziologie fasst den Leib analytisch nicht ausreichend als selbst sozial relevant handelnde Größe und sie konzipiert soziales Handeln weitgehend als scheinbar leib-frei (vgl. Pfeiffer/Jäger 2008).

3.2 Sozial handelnde Stofflichkeit Wer dem sozialen Akteur auf der Ebene seines Leibs eine eigene soziologisch relevante Materialität unterstellt, muss in gleichem Maße in der materialen Umwelt dieses Leibs eine soziologische Relevanz erkennen. Die Bedeutung der stofflichen Eigenschaften von (Arbeits-)Mittel und (Arbeits-)Gegenstand – auch und gerade bei scheinbar völlig abstrakten, nämlich informatisierten Artefakten – ist an anderer Stelle schon ausführlich dargestellt worden (Pfeiffer 2004: 173ff.). Mit dem Terminus der handelnden Stofflichkeit fasse ich zunächst Phänomenene, deren stoffliche Seite soziales Handeln impliziert. Der Versuch, Stofflichkeit aus einer soziologischen Perspektive stark zu machen, liegt zugegebenermaßen wohl noch stärker quer zur herkömmlichen Handlungstheorie, als es in Bezug auf die Handlungsrelevanz des Leiblichen deutlich geworden sein dürfte. Mit Sennett könnte man sagen: »Wenn Hand und Kopf, Technik und Wissenschaft, Kunst und Handwerk voneinander getrennt werden [...], leidet darunter immer der Kopf. Sowohl Verständnis als auch Ausdruck nehmen Schaden« (Sennett 2008: 32f). Das gilt nicht nur bezogen auf den Gegenstand soziologischer Analyse, sondern auch bezogen auf die soziologische Analyse selbst. Dabei will ich mit meiner Betonung der Stofflichkeit gerade nicht in den Bias eines neuen Technikdeterminismus oder Vulgärmaterialismus verfallen – im Gegenteil, ich gehe davon aus, dass die in der Soziologie derzeit vorherrschende (und weitgehend unreflektierte) Negation des Stofflichen als eine soziale Tatsache erst für Prognosen einseitiger Determiniertheit anfällig macht. Wie stark Stofflichkeit – gerade, wenn sie scheinbar nicht-stofflich erscheint – zum blinden Fleck in der Soziologie geworden sind, lässt sich an Phänomenen verdeutlichen, die in der soziologischen Debatte derzeit zwar als wirkmächtig beschrieben werden (teilweise sogar in überzogenem Maß), gleichwohl aber fast ausschließlich als Machtdiskurs im Foucault’schen Sinne dechiffriert werden: Gemeint sind Controlling, Accounting und die sie transportierenden Management- und IT-Systeme. Dabei handelt es sich eben nicht nur um Diskurse, sondern um soziale Tatsachen, deren (abstrakt) stoffliche Aspekte auch dazu führen, dass empirisch nicht beliebig an der Logik dieser Systeme vorbei gehandelt werden kann – diese Systeme selbst handeln und es muss mit ihnen in eine Handlung eingetreten werden. So ist es sicher weder Zufall noch nur eine Diskursfolge, wenn Fach- und Führungskräfte im Jahr 1994 Kostendenken noch als eine Zumutung empfanden und sie in einer Fol148

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low-up-Studie im Jahr 2006 als Selbstverständlichkeit betrachten (Kotthoff/ Wagner 2008). Nur der Blick auf die stofflichen soziologisch relevanten Auswirkungen von Controlling- und Accountingsystemen zeigt, dass die »Herrschaft der Zahl« ihre Grenzen hat; es wird an ihr vorbei, gegen sie und subversiv um sie herum gehandelt – soziologisch höchst relevante und spannende Prozesse, die aus einer rein machttheoretischen Diskursperspektive aber völlig aus dem Blick geraten (vgl. ausführlich dazu Pfeiffer 2007b). Sie erschließen sich in Gänze nur unter Anerkennung von Stofflichkeit an sich, aber eben nicht nur als mehr oder weniger materiale Rahmung, sondern als handelnder Akteur. Bei diesem Stichwort scheint nahe zu liegen, welcher soziologische Ansatz eine Rettung des Stofflichen bieten könnte. Aber die – so möchte ich es nennen – Diskriminierung alles Stofflichen in der soziologischen Theorie findet sich selbst dort, wo den Artefakten eine eigenständige Handlungsrelevanz zuerkannt, gleichzeitig aber letztlich die Stofflichkeit aberkannt wird: in der Actor Network Theory (ANT) (vgl. Callon 1986; Latour 1987, 2005; Law/ Hassard 1999). Die ANT betrachtet Menschen und Artefakte als gleichberechtigte Akteure innerhalb von Netzwerken. Insofern findet sich hier ein stark handlungsbezogener Aspekt; Subjekte müssen demnach in soziotechnischen Netzwerken mit technischen Artefakten verhandeln, sich mit ihnen verbünden usw. Insbesondere Bruno Latour jedoch geht es dabei nicht in erster Linie um die Mikroebene des Handelns, sondern um den Umgang der modernen Gesellschaft mit ihren Hybriden oder Quasi-Objekten (gemeint sind damit nicht einfach physische Artefakte, sondern sozial geschaffene Techniken inklusive ihrer gesamten Technikfolgen), um die Überwindung eines letztlich vormodernen Verständnisses von Natur-Gesellschaft und das Ende der Selbsttäuschung über dieses Verhältnis (vgl. Schimank 2007). Die ANT will im Zuge dieser Aufgabenstellung nicht nur die Trennung zwischen Mensch und Artefakt, sondern auch die Grenzziehungen zwischen Technik und Sozialem sowie zwischen Natur und Gesellschaft aufheben. Sie nivelliert damit aber nicht nur die Unterschiede zwischen mechanischer Wirksamkeit und sinnhaftem Handeln (Lindemann 2008: 689), in ihrer sozialkonstruktivistischen Sicht übersieht sie die soziale Relevanz der Leiblichkeit der menschlichen Akteure: »Natur im Sinne der körperlich-organismischen Natur von menschlichen (oder nichtmenschlichen) Primaten-Akteuren kommt nicht vor« (ebd.: 690). Und im gleichen Maße übersieht die ANT letztlich die Natur, sprich: die materiale Stofflichkeit der nicht-menschlichen Akteure.9 9

Leider geht Gesa Lindemann in ihrer Kritik an der ANT diesen Schritt der Anerkennung der Natur des Stofflichen – der meines Erachtens ebenso wesentlich ist wie die Anerkennung des Leiblichen – dezidiert nicht mit: Sie konstruiert das Stoffliche als Technisches, als im ganz mathematischen Sinne Berechenbares; im Umkehrschluss könne dann auch das Lebendige als »in sich selbst technisch« 149

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Die ANT konterkariert damit leider nicht – was ihre erklärte Absicht ist – Engführungen der Soziologie, sondern treibt sie noch weiter; wird doch mit der postulierten Aufhebung der Trennung von Technik und Sozialem letztlich in Gänze die Stofflichkeit der ersteren und die Leiblichkeit des letzteren negiert statt aufgehoben; und wird doch mit der beschworenen Gleichberechtigung die je konkrete (das heißt stoffliche bzw. leibliche) Unterschiedlichkeit zwischen Artefakt und Mensch bis zur Nicht-Erfassbarkeit verschleiert. Leiblichkeit und Stofflichkeit sind m.E. deshalb als sozial relevante handelnde Akteure zu konzipieren, weil in ihnen Eigenwilliges und Unberechenbares steckt, das im Handeln sozial wirksam wird und darauf bezogen wiederum sinnhaftes Handeln evoziert. Diese Perspektive der Anerkennung des Stofflichen und Leiblichen als eigenständig handelnd und damit als auch relevant für soziales Handeln gerät der ANT selbst ebenso aus dem Blick wie der sie würdigenden Kritik.10 Meine Ausführungen dagegen zielen auf eine Betonung der »material agency« (Lipphardt/Niewöhner 2008: 1160), die technischen Artefakten ebenso zuzusprechen ist wie dem Körper (bzw. die sich in der Leiblichkeit des Körpers ausdrückt); anders aber als Veronika Lipphardt und Jörg Niewöhner geht es mir allerdings nicht nur um die Relevanz der »material agency« in der Wissensproduktion, sondern in jeder Form sozialer Handlung. Stofflichkeit hat nicht nur deshalb so große Bedeutung, weil sie bei der Anerkennung von Leiblichkeit als sozial handelnde Instanz letztlich rein logisch als (ein) materiales Gegenüber eine Rolle spielen muss. Gerade in einer Gesellschaft, die in ihrer öffentlichen Selbstbeschreibung nicht müde wird, quasi permanent beim Nicht-Stofflichen Anleihen zu nehmen; gerade in einer Gesellschaft, deren Diskurse tendenziell alles im Virtuellen und Immateriellen, in der Netzwerkgesellschaft oder der Wissensgesellschaft aufzulösen scheinen – gerade in einer solchen Gesellschaft obliegt es der soziologischen Analyse, nach den systematischen blinden Flecken dieser gesellschaftlichen Selbstbeschreibung zu suchen. Und dabei wird Soziologie m.E. in der Stofflichkeit als blindem Fleck noch wesentlich fruchtbarer fündig als in der Leiblichkeit, die wie oben gezeigt, wenigstens in Teilen die soziologische Theoriedebatte erreicht hat. An dieser Stelle geht es mir daher darum, Stofflichkeit als eine unter anderen sozialen Tatsachen zu rehabilitieren und sie in diesem Sinne aus handlungstheoretischer Perspektive analytisch ernst zu nehmen.

in einen »kalkulierbaren und herstellbaren Zusammenhang [mit dem Technischen; S.P.] integriert werden« (ebd.: 693). 10 So versucht beispielsweise Schulz-Schaeffer (2008) die Engführungen der ANT über ein gradualisiertes Handlungskonzept zu erweitern und menschliche und technische Akteure nicht als unterschiedslos zu konzipieren. Dabei aber erscheinen auch technische Artefakte letztlich wieder reduziert auf mechanisch oder über Algorithmen in sie hinein gelegte – nämlich durch hier auch ganz ingenieurmäßig verstandene Konstruktionsprozesse – sinnhafte Handlungsabläufe. 150

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Anderenfalls besteht die Gefahr entweder einer weiteren Negierung oder einer Überbetonung auch des Stofflichen – Sennetts jüngste Veröffentlichung zum Handwerk (2008) beispielsweise liest sich an einigen Stellen so. Würde und Moral werden dort fast glorifizierend einem Handwerksbegriff zugeordnet, der unseren gesellschaftlichen Realitäten kaum standhält. Sennett überbetont das Würde- und Moralpotenzial des Stofflichen und macht sich gleichzeitig im Detail wenig Mühe, das Materiale des Stofflichen in den Blick und damit ernst zu nehmen. Das wird besonders augenfällig an seiner Beschreibung der OpenSource-Entwicklung des Betriebssystem Linux, in dem von den (eben auch) stofflichen Rahmensetzungen (!) weitgehend abstrahiert wird. Hier zeigt sich deutlich, dass soziologische Analyse schnell an ihre Grenzen stößt, wenn sie sich mit einer – teilweise fast essayistisch anmutenden – Perspektive auf gesellschaftliche Diskurse begnügt und dabei die Analyse des Diskurses mit der empirischen Analyse eines gesellschaftlichen Subsystems und seiner (eben auch stofflichen) Akteure verwechselt. Entweder werden körperliche Arbeit und damit leibliches Handeln im Umgang mit Stofflichem zum Faszinosum einer postindustriellen Urbanität hochstilisiert und damit als Restbestände einer vergangenen Produktionsweise überbetont (vgl. etwa die aktuelle Studie an verschiedenen urbanen Megabaustellen von Marie Antoinette Glaser von 2007). Oder Soziologie betrachtet Stofflichkeit je nach theoretischer Couleur als Relikt eines geschichtlich überholten Materialismus oder eines längst überwundenen Technikdeterminismus und damit vor allem als eines: als obsolet, negiert also deren Relevanz für aktuelle Sozialität.

4 Soziologische Handlungstheorie braucht Leib und Stoff in didalektischer Verschränkung Nimmt man Leiblichkeit und Stofflichkeit als sozial Handelnde und als Bezüge sozialen Handelns ernst, so kann ihre Beziehung nur in einem dialektischen Verhältnis aufgelöst werden, will man nicht einer banalisierenden Gleichung »Leib = Stoff = soziales Handeln« anheim fallen. Leib und Stoff weisen im Handeln je eigene Qualitäten und damit verbundene Sinnstrukturen auf, die sich weder unterschiedslos in eins setzen lassen noch sich widerspruchsfrei in einer beliebigen Komplementarität auflösen. Die zum Teil physisch-material gesetzten und daher eben gerade nicht in Gänze sozialkonstruktivistisch auflösbaren qualitativen Unterschiede von Leiblichkeit und Stofflichkeit kommen trotz (oder gerade wegen) ihrer substanziellen Unterschiedlichkeit auf der Ebene sozialen Handelns zusammen. Das Verhältnis von Leib und Stoff im sozialen Handeln ist soziologisch betrachtet also ein höchst komplexes, und die Qualität dieser Komplexität dechiffriere ich als eine dialektische: Einerseits stehen sich Leib und Stoff als Widersprüchliches und sich 151

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gleichzeitig Bedingendes gegenüber, andererseits gilt dasselbe Verhältnis zwischen einem sozial Handelnden und a) seinem Leib bzw. der Leiblichkeit anderer, auf die er sich handelnd bezieht, und b) der Stofflichkeit, die auf ihn »handelnd« einwirkt und auf die er sich wiederum handelnd bezieht.11 Streichen wir das Leibliche und Stoffliche aus der Betrachtung unseres Montagebeispiels heraus und betrachten wir es nur durch die Brille klassischer soziologischer Handlungstheorie, dann bleibt es, wie gezeigt, soziologisch eben nicht ausreichend erklärt. Es erscheint analytisch aber nicht sinnvoll, vor eindeutig sozialen Situationen nur deshalb in Bezug auf soziologische Erklärung sozusagen die weiße Flagge zu schwenken, weil das Leibliche und Stoffliche ohne Frage in manchen Handlungssituationen eine relevante Rolle spielt und sich Soziologie damit schwer tut – da sie das soziale Handeln immer schon weitgehend leib- und stofffrei konzipiert hat. Bewältigt sie diesen Schritt der Integration von Leib-Stoff-Sozialem jedoch nicht, werden Situationen wie in den oben angeführten empirischen Beispielen zum scheinbaren Erklärungserfolg anderer Disziplinen werden. Disziplinen, die gerade aktuell in naturwissenschaftlicher Verkürzung und gleichwohl mit lauter Stimme das Gegenteil versuchen, nämlich das Soziale sozusagen zu ent-sozialisieren (vgl. etwa Jäckel/Mai 2008 zur Dominanz naturwissenschaftlicher Denkstrukturen): indem sie das Stoffliche und Leibliche als determinierend überbetonen und ihm jede soziale Qualität absprechen, wie dies aktuell beispielsweise in Teilen der Hirnforschung der Fall ist, die anhand neuerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse unter anderem den freien Willen als Illusion verabschieden wollen (vgl. etwa Geyer 2004; Roth 2004; Singer 2003, 2004). Die Debatte um solche Ansprüche hat zu einem ebenso heftigen wie fruchtbaren und zudem kritisch-interdisziplinären Diskurs geführt (etwa Grundmann/Beer 2004; Hennen et al. 2008; Sturma 2006). Dagegen möchte ich mein vorläufiges Fazit setzen: Leiblichkeit und Stofflichkeit sind selbst Handelnde und damit immer auch relevante Quellen sozialer Ordnung. Natürlich sind sie nicht in jeder sozialen Situationen immer in

11 In der heutigen Soziologie hat Dialektik »keine gute Presse« (Ritsert 1997: 6). Gerne entdeckt werden zwar – je nach theoretischer Couleur – Nebenfolgen, Paradoxien oder wenigstens Heterogenität, Ambiguität und Ungleichzeitigkeiten. Letztlich können all diese Ansätze gedeutet werden als der Versuch, soziale und gesellschaftliche Phänomene zu fassen, die dem Zusammenwirken von Widersprüchlichem und der Bedeutung dieses Zusammenwirkens für sozialen Wandel Rechnung tragen. In diesen Bemühungen stecken ohne Frage dialektische Perspektiven. Dialektik aber kommt im heutigen Diskurs entweder im alten und tatsächlich ideologisch verkürzten Gewande eines simplifizierten und damit falsch verstandenen historischen Materialismus daher. Oder sie findet sich als leeres, konzeptionell weder weiter ausgeführtes noch analytisch ernst genommenes Synonym für »irgendwie« Widersprüchliches. Soziologie braucht dagegen eine »geerdete« Dialektik, tauglich für eine soziologische Analyse (vgl. Pfeiffer 2006, 2008b). 152

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gleicher Weise relevant. Sie sind aber in jeder Situation sozialen Handelns relevanter, als es ihnen die Soziologie normalerweise zugesteht. Und diesen immer noch weithin blinden Fleck sollte Soziologie – und soziologische Handlungstheorie – umfassender als bisher soziologisch konzeptualisieren und operationalisieren. Das ist sozusagen der rote Faden, der sich als Frage und Intention und offene Frage – nicht als theoretisch durchdeklinierte Antwort – durch die hier vorgelegte Argumentation zieht.

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Soziologie am Leitfaden des Leibes. Zur Neophänomenologie sozialen Handelns am Beispiel der Contact Improvisation ROBERT GUGUTZER

Mit dem in der Soziologie seit einigen Jahren proklamierten body turn geht das Plädoyer einher, Körper und Leib als konstitutive Merkmale des Sozialen anzuerkennen und den Blick soziologischer Analysen auf die Verkörperungen sozialer Prozesse und Strukturen zu richten (vgl. Gugutzer 2006a). Der Großteil der am body turn mitwirkenden Soziologinnen und Soziologen fokussiert dabei die körperlichen Dimensionen des Sozialen, nicht jedoch die leiblichen. Wird die Leiblichkeit des Sozialen doch thematisiert, dann vorrangig unter Bezugnahme auf die Leibphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, seltener in Anlehnung an die Arbeiten von Jean-Paul Sartre, Max Scheler, Martin Heidegger oder Emanuel Levinas. Verglichen mit diesen ›alten‹ Phänomenologien bleibt der Rekurs auf die sich davon abgrenzende Neue Phänomenologie eine auf spezielle Teilbereiche der Soziologie begrenzte Ausnahme.1 Das Projekt einer neophänomenologisch fundierten allgemeinen Soziologie, etwa einer soziologischen Handlungstheorie, harrt dagegen noch seiner Ausarbeitung. Vor diesem Hintergrund versteht sich der vorliegende Text als ein Beitrag zur Verknüpfung von Neuer Phänomenologie und Soziologie. Dazu werden zunächst Anliegen und Grundzüge der Neuen Phänomenologie vorgestellt (Abschnitt 1). Dabei wird sich zeigen, dass diese im Kern eine Leibphilosophie ist. Entsprechend ist die neophänomenologische Soziologie als eine Soziologie am Leitfaden des Leibes bzw. als leibbasierte soziologische Hand1

Vgl. für die Geschlechtersoziologie Jäger (2004) und Lindemann (1992, 1993, 1996), die Arbeitssoziologie Böhle (2003) und Böhle/Fross (2009), die Identitätssoziologie Gugutzer (2002a), die Religionssoziologie Gugutzer (2002b), die Sportsoziologie Gugutzer (2004) oder die Tanzsoziologie Berger/Gugutzer (2006) und Gugutzer (2008a). 165

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lungstheorie zu konzipieren. Mit »leiblicher Interaktion« und »Bewegungssuggestion« werden im Weiteren zwei Grundbegriffe der neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie erläutert (Abschnitte 2 und 3). Deren analytisches Potenzial wird sodann am Beispiel einer empirischen Untersuchung zu nicht-sprachlichen Verständigungsprozessen in der Contact Improvisation verdeutlicht (Abschnitt 4). Das Fazit bietet schließlich programmatische Vorschläge für die weitere Ausarbeitung einer neophänomenologischsoziologischen Handlungstheorie (Abschnitt 5).

1 Neue Phänomenologie als leibphilosophische Grundlage der Soziologie Die Neue Phänomenologie ist eine philosophische Richtung, die von dem Kieler Philosophen Hermann Schmitz zwischen 1964 und 1980 entwickelt wurde. Den Grundstock der Neuen Phänomenologie hat Schmitz in seinem zehn Teilbände und mehr als 5.000 Seiten umfassenden Hauptwerk System der Philosophie gelegt (vgl. zusammenfassend: Schmitz 1990); die Bezeichnung »Neue Phänomenologie« selbst hat Schmitz erstmals 1980 verwendet (Schmitz 1980). Im ersten Band des Systems der Philosophie führt Schmitz das zentrale Prinzip seiner Philosophie ein: Gegenwart. Gegenwart soll in Schmitz’ Philosophie »das leisten, was für Platon vom Guten, für Descartes vom Ich, für Hegel vom Absoluten übernommen war: in der Beirrung des Sichfindens in der Umgebung immer zugänglich und unverwechselbar Stand zu halten« (Schmitz 1964: 149).2 Gegenwart umfasst dabei fünf Aspekte: Jetzt, Hier, Dasein, Dieses und Ich. In der Gegenwart zu leben heißt demnach, jetzt zu sein (Zeit), hier zu sein (Raum), dazusein (Wirklichkeit), in dieser oder jener Situation zu sein (Dieses) und ein Ich zu sein (Subjektivität) (vgl. ebd.: 207–232; siehe hierzu auch Thomas 1996). Schmitz’ basales Anliegen ist es, den »Spielraum der Gegenwart« (Schmitz 1999) philosophisch auszuleuchten und aufzuwerten. Damit steht Schmitz in der Tradition einer Modernitäts- und Vernunftkritik, welche auf die durch Rationalisierung, Disziplinierung, Zivilisierung, Virtualisierung etc. erzeugten Einseitigkeiten und Verdrängungen des modernen Lebens abzielt. Ziel seiner Kritik ist es, darauf hinzuwirken, dass die Menschen wieder die Fülle des gegenwärtigen Lebens bewusst wahrnehmen, erleben und kultivieren. Anstelle der für die Moderne üblichen Zukunftsfixierung einerseits, der Vergangenheitsorientierung andererseits gelte es, im Hier-undJetzt zu leben und zu lernen, sich auf den Augenblick einzulassen.3 2 3

Philosophie ist Schmitz zufolge das »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« (Schmitz 1990: 5). Soentgen (1998: 9) nennt das eine »an den Zen-Buddhismus erinnernde Haltung«. Das ist sicher nicht ganz falsch und erklärt vielleicht auch, weshalb

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Über die Philosophie hinaus geht es Schmitz damit generell um eine lebensweltliche Rehabilitierung primärer Lebenserfahrungen. Um eine Rehabilitierung handelt es sich deshalb, weil das Sich-Besinnen auf Gegenwart in einer früheren Epoche der abendländischen Kultur etwas Selbstverständliches gewesen sei, dann aber verloren ging. Schmitz zufolge gab es in der Geschichte der abendländischen Kultur im Übergang vom 5. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert einen Paradigmawechsel, von dem an es zur Abwertung und Verdrängung unmittelbarer Lebens- und Leiberfahrungen kam. An das »archaische Paradigma«, dessen Abstraktionsbasis »in vielsagenden Eindrücken [besteht], die typisiert und in einem polarisierten Schema von Kräften mit leiblich gespürter Grundlage geordnet werden« (Schmitz 2007: 13),4 will Schmitz mit seiner Philosophie anknüpfen. Sie ist eine Kritik an der »dominanten europäischen Intellektualkultur«, als deren entscheidende Philosophen er Demokrit und Platon bezeichnet (Schmitz 2003: 347). Demokrit und Platon haben nach Schmitz ein philosophisches Selbst- und Weltverständnis entworfen, das bis heute das Denken und Handeln in der abendländischen Kultur beherrsche. Schmitz spricht vom »demokritisch-platonischen Paradigma«, das sich durch die drei Aspekte »Psychologismus«, »sensualistische Reduktion« und »Introjektion« auszeichne: »Der Psychologismus besteht in der Bereitstellung einer abgeschlossenen und zentralisierten privaten Innenwelt, der Reduktionismus in der Abschleifung der Außenwelt bis auf wenige am Festkörpermodell abgelesene Merkmalsorten, die für Statistik und Experiment geeignet sind, und die Introjektion in der Verlegung des abgeschliffenen Stoffes der Lebenserfahrung, so weit er überhaupt zur Kenntnis genommen wird, in die private Innenwelt« (ebd.).

Die Überwindung dieses dreiteiligen Paradigmas ist das erklärte Ziel von Schmitz’ Philosophie (vgl. Schmitz 1990: 17).5 Mit dem demokritisch-plato-

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Schmitz’ Philosophie in einem Land wie Japan große Popularität genießt, eine größere jedenfalls als im deutschsprachigen Raum. Konkret meint Schmitz mit dem »archaischen Paradigma« Folgendes: »In Griechenland handelt es sich dabei namentlich um das Gegensatzpaar des flink Beweglichen, Flammenhaften auf der einen und des Schwerfälligen, Sperrigen auf der anderen Seite, z.B. bei Parmenides, Empedokles und alten Pythagoreern; in anderen Kulturen, die eine Abstraktionsbasis desselben Typus zugrunde legen, wird der Gegensatz etwas anders charakterisiert, z.B. in China durch Yang und Yin.« Reste des archaischen Prinzips finden sich auch noch in der Moderne, wenngleich sich diese nicht notwendig durch Bipolaritäten auszeichnen, sondern wie etwa die »populäre Astrologie« durch Klassifizierung von Menschentypen nach zwölf Tierkreiszeichen (Schmitz 2007: 13). Allen voran ist es der Kampf gegen die Introjektion der Gefühle, also die Verlagerung der Gefühle in die Innenwelt des Menschen (Seele, Bewusstsein), welcher die Ausarbeitung seiner Philosophie zuallererst motivierte (vgl. Schmitz 1999: 181f.). 167

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nischen Paradigma gehe die »Zerlegung des Menschen in Seele und Körper und der Welt in Geist und Materie« einher (Schmitz 2005: 10f.), wodurch essenzielle Phänomene des menschlichen Lebens übergangen würden. Als Hauptopfer des vorherrschenden psychologistischen, reduktionistischen und introjektionistischen Denkens nennt Schmitz den Leib, die leibliche Kommunikation, Atmosphären, Raum, Situationen, Halbdinge und Subjektivität. Diesen Phänomenen gilt entsprechend das Hauptaugenmerk der Neuen Phänomenologie, wobei als ihr bedeutendstes Ziel die Wiederentdeckung des Leibes anzusehen ist (vgl. dazu zuerst Schmitz 1965, 1966, 1967). Die Neue Phänomenologie deckt eine große Bandbreite philosophischer Themengebiete ab, doch kann man Schmitz’ »Philosophie überhaupt als Leibphilosophie begreifen [...]. Es sind die Phänomene der leiblichen Betroffenheit, des leiblichen Spürens, des leiblichen Raumes und schließlich der Gefühle, die er ausgehend von der primitiven Gegenwart in reichen Analysen entfaltet« (Böhme 2003: 25; Hervorhebung R.G.).6 Der Leibbegriff von Schmitz ist dabei – im Unterschied etwa zu jenem von Schopenhauer, Nietzsche, Husserl, Heidegger, Sartre oder Merleau-Ponty, hingegen in gewisser Nähe zu jenem von Erwin Straus (1956) – ein pathischer Leibbegriff: Leiblichkeit bezeichnet das Betroffensein von etwas; leiblich ist das, was affektiv nahe geht, was spürbar ergreift. In diesem Sinne ist das leiblich-affektive Betroffensein der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus die Neue Phänomenologie die Fülle menschlicher Lebenserfahrungen philosophisch zu erschließen versucht. Oder wie Schmitz sagt: »Im Zentrum der Neuen Phänomenologie steht das affektive Betroffensein. Es ist insofern das Wichtigste im Leben, als es darüber entscheidet, was Menschen wichtig nehmen, wofür und wogegen sie sich mit Wärme einsetzen. [...] Die Neue Phänomenologie tastet sich mit begreifender Sensibilität an besonnene Rechenschaft vom affektiven Betroffensein in seiner nuancierten Mannigfaltigkeit heran« (Schmitz 2003: iiif.).

Wie einleitend bereits angedeutet, ist die von Schmitz entworfene Leibphilosophie in der Soziologie kaum handlungstheoretisch genutzt worden.7 Eine in dem Sinne neophänomenologische Soziologie, die sich als leibbasierte Handlungstheorie versteht, gilt es daher erst noch zu entwickeln. Zwei Begriffe, die für eine neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie bedeutsam sind, sollen nun vorgestellt werden: leibliche Interaktion und Bewegungssuggestion.

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Schmitz selbst verwahrt sich allerdings dagegen, ihn als »den Leibphilosophen und meine Philosophie als Philosophie der Leiblichkeit auszugeben«, weil damit sein philosophischer Gesamtanspruch zu stark reduziert würde (Schmitz 1999: 280). Ausnahmen sind etwa Ulle Jägers Versuch, Schmitz’ Leibphänomenologie mit Bourdieus Praxeologie zu verknüpfen (vgl. Jäger 2004), oder meine eigenen Arbeiten (vgl. Gugutzer 2006a, 2006b, 2008a, 2008b).

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2 Leibliche Interaktion Leibliche Interaktion fußt auf der räumlichen Struktur des Leibes. Nach Schmitz ist die räumliche Struktur des Leibes durch eine Reihe von Gegensatzpaaren gekennzeichnet. Grundlegend ist hierbei der Gegensatz von »Enge« (bzw. »Spannung«) und »Weite« (bzw. »Schwellung«): »Leiblich sein bedeutet in erster Linie: Zwischen Enge und Weite in der Mitte zu stehen und weder von dieser noch von jener ganz loszukommen, wenigstens so lange, wie das bewusste Erleben währt« (Schmitz 1992: 45). Das spürbare leibliche Befinden bewegt sich immer zwischen den beiden Polen Enge und Weite. Zusammengehalten wird die leibliche Dynamik von »Engung« und »Weitung« durch die »leibliche Richtung«, die aus der Enge in die Weite führt, aber nicht umgekehrt (vgl. Schmitz 1990: 124). So etwa in der engenden Angst, die sich nach Beseitigung der Gefahr in ein weitendes Erleichtertsein wandelt, oder im Blick, der aus der Enge des Leibes über die Körpergrenze hinaus in die Weite einer Landschaft zielt, wodurch sich ein weitendes Befinden einstellt. Die soziale Bedeutung des innerleiblichen Dialogs von Engung und Weitung besteht darin, dass dieser nicht nur im einzelnen Subjekt stattfindet, sondern ebenso zwischen zwei und mehreren Subjekten. In der Begegnung von zwei oder mehr Menschen wird der innerleibliche zu einem zwischenleiblichen Dialog. Eine leibliche Interaktion zwischen menschlichen Subjekten beruht damit auf der räumlich-strukturellen Ähnlichkeit ihrer Leiber. »Weil das leibliche Befinden in sich dialogisch ist, kann es ohne Änderung seiner Struktur auf Partner verteilt werden, die die antagonistischen Tendenzen gegeneinander ausspielen« (Schmitz 1992: 54f.). Schmitz nennt solche Vorgänge »Einleibung« bzw. »leibliche Kommunikation« (vgl. Schmitz 1980: 23–74; 1992: 175–217). In Situationen, in denen »der sonst immanent leibliche Dialog gleichsam herausgekehrt und an Partner – zwei oder mehr als zwei, darunter eventuell auch leblose, keines eigenen Spürens fähige Dinge oder Halbdinge, wie im Fall des Knäuels oder Balles, womit die Katze spielt – verteilt ist, bildet sich ad hoc so etwas wie ein übergreifender Leib, in dem die Rolle der Enge, die zugleich Quelle des den Leib durchziehenden und ordnenden Richtungsgefüges ist, jeweils von einem der Partner übernommen wird; das ist Einleibung. Wenn die dominierende Rolle, Träger der Enge des übergreifenden Leibes zu sein, konstant bei einem Partner bleibt, wie meist in der einseitigen (z.B. hypnotischen) Suggestion, ist die Einleibung einseitig, sonst, wenn die Partner sie einander oszillierend zuspielen, wechselseitig« (Schmitz 1980: 24; Hervorhebung im Original).

Einleibung entspricht einer Art nonverbaler Interaktion zwischen mindestens zwei Akteuren, wobei nur einer der beiden Akteure notwendigerweise ein lebendiges Wesen sein muss. Worauf es hier allein ankommt, ist, dass die Art 169

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und Weise des eigenleiblichen Spürens von dem oder den Anderen geprägt wird. Man spürt den, die oder das Andere unmittelbar am eigenen Leib. Was bei Schmitz »einseitige Einleibung« heißt, lässt sich als leiblich-affektives Betroffensein von Situationen beschreiben. Gerät man in eine Situation, die einen gefangen nimmt, bewegt, fesselt, fasziniert, mitreißt, einem nahe geht, kurz: die eine suggestive Kraft ausübt, dann entsteht, wie Schmitz sagt, »ad hoc ein übergreifender Leib«. Kennzeichnend für diesen übergreifenden Leib ist es, dass er die Differenz von Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt zeitweise aufhebt. Das gilt nicht nur für soziale Situationen, sondern auch allein verbrachte Situationen wie das Lesen eines fesselnden Kriminalromans oder das Betrachten eines spannenden Fußballspiels im Fernsehen sind Suggestionen, die spürbar nahe gehen. Offenkundig wird hier der heuristische Nutzen der analytischen Unterscheidung von Leib und Körper, da diese Unterscheidung impliziert, dass Körper- und Leibgrenze nicht deckungsgleich sind. Das zeigt sich auch und vor allem in Fällen »wechselseitiger Einleibung«. Übergreifend und damit die Differenz zwischen Subjekten überschreitend ist hier nicht ein gemeinsamer Körper, sondern ein gemeinsamer Leib: Die Körpergrenze (Haut bzw. Haare) der Subjekte bleibt unverändert, ihre Leibgrenze reicht jedoch darüber hinaus – sie schließen sich zu einem gemeinsamen Leib zusammen. Den meisten sozialen Begegnungen liegt diese Form nonverbaler Kommunikation zu Grunde. Ein gemeinsamer, übergreifender Leib umhüllt typischerweise das wechselseitig aufeinander bezogene Handeln sozialer Akteure. Zugespitzt gesagt: Erst wenn die gegenseitige Bezugnahme sozialer Akteure leiblicher Art und nicht nur, wie in der Soziologie konventionell gesagt wird, über Sinn vermittelt und an Normen orientiert ist, lässt sich von »echter Partnerschaft« (ebd.: 27) bzw., soziologisch ausgedrückt, von echter Interaktion sprechen. Hypnose ist demnach keine Interaktion im strengen Sinne, also kein Handeln zwischen zwei Partnern, da es sich um eine einseitige leibliche Interaktion handelt, die vom Hypnotiseur ausgeht. In der Mehrzahl sozialer Begegnungen jedoch kommt es in Form des Gesprächs, des Austauschs von Blicken, Berührungen, Bewegungen oder allein aufgrund der leiblichen Anwesenheit anderer zu wechselseitiger Einleibung, wie flüchtig sie auch sein mag. Leibliche Interaktionen sind keineswegs ein Sonderfall von Sozialität, sie sind die Regel.

3 Bewegungssuggestion als Medium leiblicher Interaktion Wie sich die leibliche Interaktion zwischen zwei sozialen Akteuren phänomenal zeigt und sprachlich fassen lässt, wird mit einem weiteren Begriff der Schmitz’schen Leibphänomenologie deutlich. Verallgemeinert lässt sich dieser als Medium leiblicher Interaktion bezeichnen. Schmitz selbst spricht von »Brü170

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cken leiblicher Kommunikation im Raum« und meint damit im Engeren zweierlei: »synästhetische Charaktere« und »Bewegungssuggestionen« (Schmitz 2005: 176ff.). Beispiele für synästhetische Charaktere sind die »so genannten intermodalen, die verschiedenen Sinnesgebiete [...] quer verbindenden Qualitäten«, wie etwa »das Helle, Spitze, Dumpfe, Grelle, Scharfe [...] oder was man einer Stimme anhört, die warm oder kalt, hart und gepresst« sein kann (ebd.: 176). Ebenso sind »Masseneigenschaften des Schalls« oder bunte Farben (ebd.: 177f.) synästhetische Charaktere, die als Medien eines zwischenleiblichen Dialogs fungieren können. Von besonderer Bedeutung für leibliche Interaktionen sind jedoch Bewegungssuggestionen. Schmitz versteht darunter »die Zumutung einer Bewegung« (ebd.), die am eigenen Leib gespürt wird. Dabei ist es unerheblich, ob diese Zumutung einer Bewegung von einer anderen Bewegung oder aber von jemandem oder etwas Unbewegtem ausgeht, wie es auch unerheblich ist, ob diese Zumutung zu einer ›bloß‹ innerlich gespürten oder auch zu einer äußerlich sichtbaren Körperbewegung führt. Entscheidend ist, dass Bewegungssuggestionen »die wichtigste Brücke zwischen dem Gesehenen, Gehörten, Getasteten einerseits und dem am eigenen Leib Gespürten andererseits« (ebd.) sind. Als die vielleicht bedeutsamste Bewegungssuggestion kann der Rhythmus bezeichnet werden. Rhythmisches Klatschen, rhythmische Musik, rhythmische Bewegungen, aber auch der Rhythmus eines Bildes oder eines Gedichts affizieren das eigenleibliche Befinden, wobei die stärkste Bewegungen suggerierende Kraft vermutlich dem akustischen Rhythmus innewohnt. Dass Bewegungssuggestionen als Medien leiblicher Interaktion wirken können, hat seinen Grund in der räumlichen Struktur des Leibes. »Die Bewegungssuggestionen, die dem Menschen seine unwillkürlichen Impulse eingeben und ihn in leiblich spürbaren Kontakt mit seiner Umwelt bringen, haben ihren Sitz im leiblichen [...] Raum« (ebd.: 170). Den leiblichen Raum kennzeichnet zum einen, wie bereits gesagt, die leibliche Dynamik, die selbst eine rhythmische Veränderung zwischen Engung und Weitung darstellt, zum anderen die leibliche Dynamik zwischen protopathischer und epikritischer Tendenz.8 Bewegungssuggestionen vermitteln diese innerleiblichen Dynamiken zwischen zwei oder mehr leiblichen Subjekten, aber auch zwischen Gegenständen und einem leiblichen Subjekt. Ein Beispiel für die bewegungssuggestive Anregung eines leiblosen Objekts »ist die geschickte Ausweichreaktion, mit der es gelingt, einem heranfliegenden Stein oder andersartigen Gegenstand bei dessen drohender Näherung zu entkommen: 8

Protopathische Phänomene zeichnen sich durch eine spürbare Tendenz hin zum Stumpfen, Diffusen, Strahlenden, Umrisse Verschwemmenden aus, epikritische Phänomene durch die gegenläufige Tendenz hin zum Scharfen, Spitzen, Umrisse Setzenden (vgl. Schmitz 1965: 143–151). 171

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Man dreht den eigenen Körper in angepasster Weise weg, obwohl man ihn nicht sieht, weil der Blick als leibliche Richtung an dem drohenden Objekt hängt und dessen Bewegungssuggestion einerseits auffängt, andererseits in das motorische Körperschema, dem er selbst angehört, überträgt, es so zur genau auf die von der Bewegungssuggestion vorgezeichnete Bewegung des Objekts abgestimmten Reaktion befähigend. Das ist ein Fall von antagonistischer, Partner polar zusammenschließender Einleibung, neben der es die solidarische gibt, die z.B. durch gemeinsames Singen oder rhythmische Geräusche (Klatschen, Rufen, Trommeln) Leiber summarisch ohne polarisierende Einstellung aufeinander zusammenschließt« (ebd.: 172).

Mit Pierre Bourdieu ließe sich in Hinblick auf die in sozialen Situationen wirkenden Bewegungssuggestionen vom »praktischen Sinn« (vgl. Bourdieu 1987, insbesondere Kap. 4) für die Situation sprechen. Der praktische Sinn leitet Bourdieu zufolge im vorreflexiven, habituellen Praxisvollzug die Wahrnehmung der Situation und damit die Entscheidung dafür an, welche Objekte und situativen Aspekte handlungsrelevant sind – und das, ohne darüber nachdenken zu müssen. Der praktische Sinn, den man in Anbetracht seiner Leibgebundenheit auch als Spürsinn bezeichnen kann (vgl. Gugutzer 2002a: 115ff.), äußert sich zum Beispiel als »motorische Schemata und automatische Körperreaktionen« (Bourdieu 1987: 127), als instinktives Handeln oder Gespür für die Situation, etwa als Gespür für die sozial angemessene körperliche Nähe, die man zu einer anderen Person einnehmen darf oder soll. Das durch den praktisch-spürenden Sinn angeleitete Handeln ist entsprechend selbst dann sinnvoll, wenn kein Sinn intendiert war, bzw. es ist zweckmäßig, ohne bewusst zweckgerichtet gewesen zu sein, weil der Spürsinn für eine praktische Lösung der zu bewältigenden situativen Aufgabe sorgt. Bewegungssuggestionen als Spürsinn leiten sozial sinnhafte Praktiken an. Verallgemeinert sorgen Bewegungssuggestionen für wechselseitige Bewegungskoordination. Prototypische soziale Felder, in denen Bewegungssuggestionen zu Bewegungskoordination führen, sind Tanz und Sport. Im Argentinischen Tango, in der Contact Improvisation, beim Boxen oder Fechten koordinieren die Interaktionspartner ihre Bewegungen zu großen Teilen un- oder vorbewusst, schon allein weil für bewusste Bewegungsentscheidungen die Zeit fehlt. Stattdessen (re-)agieren hier die Leiber wechselseitig aufeinander, indem jeder die leiblichen Intentionen des anderen Leibs wahrnimmt. Die Bewegung von A löst einen Bewegungsimpuls bei B aus, dessen Bewegung einen Bewegungsimpuls bei A auslöst und so fort. In sozialen Handlungsfeldern wie Tanz und Sport ist die spürende Verständigung eine wichtige Interaktionsform, weshalb sie auch trainiert wird. Wenngleich die Trainierbarkeit einer leiblichen Interaktionskompetenz begrenzt sein mag, zeigt sich hieran, dass auch der Leib kulturellen Prägungen – hier: kulturspezifischen Körpertechniken – unterworfen ist. 172

SOZIOLOGIE AM LEITFADEN DES LEIBES

Die analytische Stärke des Begriffs der Bewegungssuggestion liegt zusammenfassend darin, dass er es ermöglicht, phänomenologisch genau nachzuzeichnen, wie leiblich Anwesende ihre Bewegungen koordinieren. Die soziologische Aufgabe ist es herauszuarbeiten, wie der gesellschaftliche (etwa Machtverhältnisse) und kulturelle (Werte, Normen, Weltbilder) Kontext Einfluss auf diese Bewegungskoordination nimmt und wie umgekehrt diese leiblich angeleiteten Bewegungskoordinationen Auswirkungen auf soziale Ordnung haben. Da Bewegungssuggestionen als Medien leiblicher Interaktion sowohl strukturell geprägt als auch handlungsanleitend sind, vermitteln sie zwischen Struktur und Handeln. Sie sind das leibliche Zwischen sozialer Praktiken. Am Beispiel der Contact Improvisation sei dies verdeutlicht.

4 Leibliche Interaktionen in der Contact Improvisation9 »Zwei Menschen bewegen sich zusammen, sind in Kontakt und halten einen dauerhaften physischen Dialog aufrecht durch kinästhetische Signale, die durch geteiltes Gewicht und ein gemeinsames oder entgegensetztes Momentum entstehen. Damit sich der Körper für die Empfindungen von Momentum, Gewicht und Balance öffnen kann, muss er lernen, besonders starke muskuläre Anspannung loszulassen, sowie ein gewisses Maß an willentlicher Anstrengung, um sich dem augenblicklichen Fluss der Bewegung zu überlassen. Fähigkeiten wie Rollen, Fallen oder ›kopfüber‹ zu sein, werden erforscht und können den Körper zu einem Bewusstsein seiner eige10 nen, natürlichen Bewegungsmöglichkeiten führen.«

Contact Improvisation ist eine Tanzform, die zu dem in den 1960er Jahren in den USA, vor allem in New York, entstandenen postmodern dance zählt:11 Als ihr Begründer und Initiator gilt der amerikanische Tänzer Steve Paxton, weitere Protagonisten sind u.a. Nancy Stark Smith, Lisa Nelson, Curt Siddall und Daniel Lepkoff. Kennzeichnend für die Contact Improvisation ist die Loslösung von Theater, Bühne, Choreographie, Technik wie auch traditionellen ästhetischen Idealen. Die Contact Improvisation rückt stattdessen die Erforschung körperlicher Bewegungs- und Interaktionsmöglichkeiten in den Mittelpunkt. Sie kombiniert dabei unterschiedliche Bewegungstechniken, 9

Grundlage der folgenden Ausführungen sind drei leitfadengestützte Interviews mit Contact-Improvisation-Tänzern (zwei Männer, »Otto« und »Ernst«; eine Frau, »Olga«). Die Namen der Interviewpartner sind anonymisiert, die Zahlen hinter den Codenamen entsprechen den Zeilennummern der verschrifteten Interviews (vgl. auch Gugutzer 2008a). 10 Daniel Lepkoff, zit. in Kaltenbrunner (2001: 11f.) 11 Zum geschichtlich-kulturellen Hintergrund und den Prinzipen der Contact Improvisation siehe z.B. Kaltenbrunner (2001) und Novack (1990). 173

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-prinzipien und -künste wie Akrobatik, modernen Tanz, Aikido, Tai Chi, Capoiera sowie Entspannungs- und Meditationstechniken wie Yoga, AlexanderTechnik oder Body-Mind-Centering. Die Contact Improvisation ist keine Tanztechnik, sondern ein offener und kontinuierlicher Bewegungsdialog, für den keine besonderen Bewegungsfertigkeiten Voraussetzung sind, so dass prinzipiell jeder Mensch an ihm teilnehmen kann. Es geht hier primär »um die Entwicklung innerer Bewegungsbilder im Kontakt mit einem Partner, um das spontane Experiment, um die Eleganz der ›natürlichen‹ Bewegung. Kostüme, Lichteffekte, die Bühne und das Publikum bilden keine Orientierungs- und Zielpunkte mehr« (Foermer 1998: 37). Wie der Name sagt, besteht die Contact Improvisation aus zwei zentralen Elementen: dem Kontakt und der Improvisation. Kontakt ist in doppelter Hinsicht zu verstehen: als Kontakt mit dem eigenen Körper wie auch als Kontakt mit dem Körper des Partners. Eine Grundvoraussetzung für diesen Tanz ist die Wahrnehmung eigenleiblicher Empfindungen und Regungen. Sie ist ebenso wichtig wie die Wahrnehmung des Partners und der Kontakt zum Partner. Aus den wechselseitig wahrgenommenen, permanenten Berührungen resultieren die Bewegungen in der Contact Improvisation. Berührungsfläche ist der gesamte Körper, der entscheidende Kontaktmodus die Gewichtsverlagerung. Das heißt, die Partner geben ihr eigenes Körpergewicht ab und nehmen jenes des anderen auf, wobei die Rollen von Geben und Nehmen ständig wechseln. Improvisation bedeutet in der Contact Improvisation, dass es keine festgelegte Abfolge von Bewegungen gibt. Im Unterschied etwa zum Tango Argentino, für den ebenfalls Improvisation ein zentrales Moment darstellt (vgl. Berger 2006; Berger/Gugutzer 2006), sind in der Contact Improvisation einerseits die Bewegungen nicht normiert, sondern ›natürlich‹: Gehen, Springen, Fallen, Rollen, Drücken, Heben, Ziehen, Streicheln etc. Andererseits können mehrere Personen und die räumliche Ausstattung in den Tanz integriert werden. Der Tanz entsteht dabei ungeplant aus dem Augenblick heraus, indem jede Bewegung unmittelbar an die vorangegangene Bewegung des Partners anschließt. Ziel dieses Wahrnehmungs- und Bewegungsdialogs ist es, »jeweils den Weg des geringsten Widerstands zu finden, die Ökonomie des Augenblicks, die den Tanz zu einem fließenden Geschehen macht« (Kaltenbrunner 2001: 45).

4.1 Eigenleibliche und -körperliche Vorbedingungen »Und bei dem Tanz ist es halt optimal, wenn du bei dir bist und gleichzeitig aber den anderen wahrnimmst.« Diese Aussage von Olga (104f.) ist eine typische Antwort auf die Frage, was dafür verantwortlich sei, dass das gemeinsame Tanzen in der Contact Improvisation gelinge. »Bei sich sein« kann als eine eigenleibliche Wahrnehmung verstanden werden, die, so die Interviewees, 174

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in drei Qualitäten gegeben sein sollte (zur Wahrnehmung des Anderen siehe Abschnitt 4.2): als »Spürbewusstsein«, Offenheit und Im-Augenblick-Sein. Wie die Interviewpartner sagen, gelingt die Contact Improvisation umso eher, je besser jeder der Beteiligten in der Lage ist, seine eigenen leiblichen Empfindungen und Regungen bewusst wahrzunehmen. Die Vorbereitung auf den Tanz beginne bei jedem Einzelnen selbst, nämlich im spürenden Hinachten in den eigenen Leib. Ernst (387) nennt dies das »Spürbewusstsein«, Otto (524– 531) ein »umfassendes Körpergefühl«: »[...] dass man halt jetzt, wenn man zum Contact-Tanzen sich vorbereitet, dass man erst mal die Wahrnehmung in den Körper bringt, um ein möglichst umfassendes Körpergefühl zu haben für die Haut außen, also die brauchst du ja dann auch für die ganzen Sachen mit Rollen und so, dass die ... dass du da auch spürst, wenn da jemand ist, und reagieren kannst, und möglichst auch für die Innenräume, dass also möglichst – möglichst volles Körpergefühl hast, und wenn das Körpergefühl da ist, ist schon mal die Tendenz vom Verstand, dass der nachlässt und die Gedanken weniger werden.«

Das »möglichst volle Körpergefühl« ist dem Zitat zufolge eine fundamentale Bedingung für die Contact Improvisation. Es erfüllt drei Funktionen: Erstens besteht seine eigenleibliche Funktion darin, sich selbst zu spüren, und zwar sowohl im Inneren (»Innenräume«) als auch im Äußeren (»Haut«) des eigenen Körpers. Das ist keine Selbstverständlichkeit und gelingt auch nicht per se. Vielmehr ist das spürbar-spürende »Leibsein als Aufgabe« (Böhme 2003) zu begreifen, die es durch eine bewusste Lenkung der Wahrnehmung in den Körper zu lösen gilt. Aus dieser Wahrnehmung innerer und äußerer Leibesinseln folgt die leibliche Resonanzbereitschaft für den körperlichen Kontakt mit Anderen. Zweitens erfüllt die Fähigkeit des Sich-Spürens körperliche Funktionen, wie zum Beispiel gut am Boden »rollen« zu können. Mit Gernot Böhme lässt sich das damit erklären, dass jedes Sich-Bewegen »unter Leitung unseres leiblichen Spürens« (ebd.: 294) erfolgt.12 In diesem Sinne sind Rollen, Springen, Heben etc. in der Contact Improvisation durch leibliches Spüren geführte und formierte körperliche Bewegungen. Drittens erfüllt das Spürbewusstsein die soziale Funktion wahrzunehmen, »wenn da jemand ist«, und auf diesen Anderen »reagieren« zu können. Damit ist vermutlich nicht so sehr die quantitative Feststellung gemeint, ob überhaupt ein Tanzpartner »da ist«, sondern eher die qualitative Feststellung, wie, in welcher Präsenz das Gegenüber 12 Schmitz spricht sinngleich vom »motorischen Körperschema« (im Unterschied zum perzeptiven Körperschema). »Die spontane, willkürliche oder unwillkürliche Eigenbewegung ist geführt. [...] Die Führung obliegt einer zum zweckmäßigen Einsatz der eigenen Glieder ausreichenden Orientiertheit über deren Koordination, dem motorischen Körperschema« (Schmitz 2003; Hervorhebung im Original). 175

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»da ist«. Erst wenn die eigenleibliche Wahrnehmungsfähigkeit vorhanden ist, kann auch der Partner ›wirklich‹ wahrgenommen (z.B. in seiner aktuellen Gefühlslage) und auf ihn reagiert werden. Letzteres verweist auf die zweite Qualität eigenleiblicher Wahrnehmung, die in der Contact Improvisation eine Möglichkeitsbedingung für das gelingende Tanzen darstellt, die Offenheit (vgl. Olga 101f.). Die Interviewpartner sprachen mehrfach davon, dass die eigene emotionale Stimmung wesentlich sei für den Verlauf des Bewegungsdialogs in der Contact Improvisation. Das entspricht der ›Ideologie‹ dieser Tanzform, der zufolge der eigenen emotionalen Gestimmtheit unbedingt Raum zu geben sei. Eigenverantwortlich für sich und sein leibliches Wohlbefinden zu sorgen ist eine der wenigen und zugleich zentralen Regeln in der Contact Improvisation. Diesem Authentizitätsgebot folgend, ist es wichtig, »zuzumachen«, wie Olga sagt, sich also verschlossen zu zeigen, wenn man in dieser Stimmung ist. Zugleich gibt dieselbe Interviewpartnerin aber auch an, dass die leibliche Interaktion mit dem Partner eindeutig besser verläuft, wenn man »offen« ist. Aus neophänomenologischer Perspektive ist der Grund hierfür darin zu sehen, dass der Gegensatz von »offen« versus »zu« dem Gegensatz von leiblicher Weite und Enge entspricht: Die Verständigung im Tanz kann nur dann gelingen, wenn eine wechselseitige antagonistische Einleibung möglich ist. Befindet sich einer der beiden Partner dauerhaft in einem leiblichen Engegefühl, ist diese Form leiblicher Kommunikation nicht möglich. Die dritte Qualität eigenleiblicher Wahrnehmung, die jeder der Tänzer mitbringen sollte, ist die Fähigkeit, im Augenblick zu sein. Die Interviewpartner meinen damit, wie es etwa in dem oben angeführten Zitat von Otto heißt, das Denken auszuschalten und sich auf das Sich-Spüren zu besinnen, mit Schmitz gesprochen: gegenwärtig zu sein. Konkret solle man keine festen »Pläne« oder »Vorstellungen« im Kopf haben und diese unbedingt umsetzen wollen, sondern den Fokus auf die eigenleibliche Wahrnehmung richten. Oder, wie Ernst (415ff.) sagt: »[...] je weniger ich denke, desto schöner ist der Tanz eigentlich und, ja, also, je mehr ich präsent sein kann im Augenblick, wahrnehmen kann mit meinen Sinnen in meinem Körperbewusstsein, desto schöner ist es.«

4.2 Zwischenleiblicher Bewegungsdialog Zur Beschreibung des tänzerischen Verständigungsprozesses in der Contact Improvisation wählten die Interviewpartner wiederholt eine bestimmte Metapher: Es müsse »Energie« fließen, von der man selbst und der Partner »angesteckt« werde. In dieses Metaphernfeld fällt die gleichfalls häufig gewählte 176

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Formulierung, man müsse die (Energie-) »Impulse« des Partners wahrnehmen und ihm ebensolche senden. So meint zum Beispiel Ernst (518–524): »Ja, ich kann ja auch Spaß dran haben, wenn er mich anspringt und ich ihn fange und wenn einfach von ihm die Energie ganz echt und ganz schön da ist, dann kann es sein, dass er mich da ansteckt, so; ähm ... und auf der anderen Seite ist es halt so, wenn ich wirklich schon fünf Stunden getanzt hab und müde bin und, äh, ruhig tanzen will ... ähm, ja, dass ich einfach bei meinem bleib und dann ... äh ... ist es vielleicht für ihn ansteckend.«

Die verwendete physikalische Metaphorik umschreibt abstrakt das konkret erfahrbare Phänomen, den Anderen am eigenen Leib zu spüren. In wechselseitiger antagonistischer Einleibung affizieren sich die Tanzpartner leiblich, wie das Zitat von Ernst verdeutlicht. Verallgemeinert: A agiert körperlich und »springt« B an; B spürt die Wucht dieser körperlichen Masse als eine Bewegungssuggestion, der er sich in seiner Bewegung des »Auffangens« beugt; sofern B die von A begonnene Bewegung ungebremst fortführt und sich von A’s »Energie« »anstecken« lässt, wandelt B die von A im Moment des Sprungs innegehabte leibliche Dominanz um und übernimmt selbst die leibliche Dominanzrolle. Ähnlich ist der Sachverhalt, wenn die »Müdigkeit« und die »ruhigen« Bewegungen von B so machtvoll sind, dass sie die leibliche Energie von A absorbieren und dessen Bewegungen vom leiblichen Sog der tänzerischen Bewegungen von B weitergeführt werden. Auf diese Weise mag sich der leibliche Bewegungsdialog von A und B kontinuierlich fortsetzen. An dem Beispiel wird deutlich, dass in der Contact Improvisation Führen und Folgen abwechselnd eingenommene Rollen sind. Im Unterschied z.B. zum Tango Argentino, wo die strikte, geschlechtsspezifisch verteilte Rollentrennung von Führendem und Folgender sozial intendiert ist – ein inszeniertes Spiel der Geschlechter13 –, ist in der Contact Improvisation die jeweilige Rollenübernahme ausschließlich leiblich intendiert. Die Idee dieses Tanzes ist ein Bewegungsdialog, der von sozialen Zugehörigkeiten und Zuschreibungen ebenso absieht wie von körperlichen Unterschieden (Alter, Größe, Gewicht, Können etc.). Im Mittelpunkt stehen hier leibliche Wahrnehmungsqualitäten besonderer Art. Otto (707f.) beschreibt sie als »klare Richtung geben« und »Hingabe«, wobei ersteres seine Umschreibung für »Führung«, letzteres für »Folgen« ist. Die »klare Richtung«, die im Führen gegeben werden soll, ist eine leibliche Richtung, die eindeutig von der Enge in die Weite führt, etwa als kraftvoller Schub des Führenden, der vom Folgenden als Bewegungssuggestion, z.B. Druck oder Zug, gespürt wird. Die »Hingabe« des Folgenden be-

13 Zur geschlechtsspezifischen Rollenverteilung im Tango Argentino vgl. Saikin (2004) und Villa (2000). 177

ROBERT GUGUTZER

steht in der leiblichen Bereitschaft, die engende Spannung des Partners offen, in leiblicher Weite aufzunehmen. Eine für die Contact Improvisation spezifische Variante des Führens und Folgens ist das wechselseitige Geben und Nehmen des Körpergewichts. Wer sein Gewicht an seinen Partner abgibt, indem er sich beispielsweise an ihn lehnt oder auf ihn rollt, ist in diesem Moment in der führenden Rolle, da seine physische Schwere eine machtvolle leibliche Dynamik auf den Partner ausübt. Insofern dieser das Gewicht seines Partners aufnimmt und sich damit dessen leiblicher Richtungsdynamik hingibt, führt er als Folgender den Bewegungsdialog fort. Die Schwierigkeit, aber auch die Kunst scheint in diesem Tanz typischerweise darin zu bestehen, es zu wagen, das eigene Körpergewicht abzugeben. So meint etwa Olga (234f.): »Ich geb halt schon nicht so viel Gewicht, und dann ist der Tanz schon nicht so fließend, dann ist er halt nicht so schön. Das fließt dann nicht so. Und das Schöne beim Tanz ist, das Gewicht zu geben, es ausprobieren.«

Bei Olga ist es vor allem das kulturell vorherrschende weibliche Körperbild, dem zufolge Frauen »leicht und graziös« (221) zu sein haben – ein Körperbild, dem sie nach ihrer Schwangerschaft nicht mehr entspricht –, welches es ihr erschwert, ihr Körpergewicht abzugeben. Davon abgesehen bedarf das Abgeben des Körpergewichts generell einer weiteren leiblichen Voraussetzung, nämlich der »spürbaren Selbstgewissheit« (vgl. Gugutzer 2002a), unbeschadet das eigene Körpergewicht loslassen zu können, wofür eine gewisse Vertrautheit mit dem eigenen Körper notwendig ist. Die dynamische Struktur des Führens und Folgens, Gebens und Nehmens wird in der Contact Improvisation von einigen zentralen leiblichen Wahrnehmungs- und Bewegungsqualitäten gestützt. Neben »zarten«, »sanften«, »ruhigen« Bewegungen, der »Stille« und »Aura« des Partners sind das entscheidend die synästhetischen Charaktere »Weichheit« und »Härte«. In den Interviews ist immer wieder die Rede davon, dass es für eine gelingende Verständigung in der Contact Improvisation von großem Nutzen sei, wenn die »Körper« der Tänzer zugleich »weich« und »hart« sind. »[...] können wir wie auch beim Führen und Folgen wieder sagen, der Körper fühlt sich weich an und ein anderer Körper fühlt sich hart an; wenn ich jetzt – ähm, beides ist irgendwie wichtig, dass beides da ist, [...] dass ein zu weicher Körper, wo gar nichts, keine Spannung mehr drin ist, mit dem geht’s nicht so gut und wenn ich jetzt ’nen, ähm, ja einen harten, ganz harten Körper hab, äh, wo nichts Weiches mehr dabei ist, dann ist es auch nicht gut; es muss irgendwie so ein, äh, ja, am schönsten ist es eben, wenn so eine Ausgewogenheit da ist« (Ernst 575–586).

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SOZIOLOGIE AM LEITFADEN DES LEIBES

»Weich« und »hart« sind, wie das Zitat von Ernst verdeutlicht, im eigentlichen Sinne nicht die physikalischen Körper der Beteiligten, sondern die gespürten Körper, also deren Leiber. Der »harte« Körper des Partners wird dabei als »Spannung« gespürt, ein »weicher« Körper als Spannungslosigkeit.14 Ein Zuviel vom einen wie auch vom anderen ist offenkundig ungünstig für das Tanzen. Im Falle eines als zu »hart« wahrgenommenen Körpers bricht die leibliche Interaktion mit dem Partner ab, weil die eigenleibliche Richtungsdynamik an dessen Engepol abprallt und so die eigene Enge nicht mit der Weite des Anderen interagieren kann. Die wechselseitig antagonistische Einleibung misslingt ebenso im Falle eines als zu »weich« wahrgenommenen Körpers, insofern dieser die Enge der eigenleiblichen Richtungsdynamik absorbiert. Leibliche Interaktion im Tanz bricht mithin sowohl dann ab, wenn der spürbaren Enge von A zu viel leiblicher Widerstand (»Härte«) entgegengebracht wird, als auch dann, wenn gar kein Widerstand (»Weichheit«) vorhanden ist.

5 Schlussfolgerungen Die neophänomenologische Interpretation einiger Interviewausschnitte mit Contact-Tänzerinnen und Tänzern hat gezeigt, dass Bourdieus Einschätzung, der Tanz sei neben dem Sport ein geeignetes soziales Feld zur soziologischen Analyse von Prozessen körperlichen Verstehens (vgl. Bourdieu 1992: 205f.; siehe auch Bourdieu 2001: 185), zutreffend ist. Der Tanz, insbesondere der nicht-standardisierte Tanz, ist ein soziales Handlungsfeld, das sich ideal eignet, um nicht-sprachliche, vor-reflexive, also leibliche Wahrnehmungs- und Verständigungsprozesse zwischen zwei und mehr Menschen herauszuarbeiten. Die leiblich-körperlichen Dimensionen sozialer Interaktion zeigen sich im Tanz besonders deutlich bzw. sind dort besonders gut zu rekonstruieren, gleichwohl sind sie für jedwede sozialen Verständigungsprozesse von prinzipieller Relevanz. Am Tanz lässt sich daher ein zentrales Thema einer Soziologie am Leitfaden des Leibes paradigmatisch bestimmen, nämlich wie soziale Abstimmungsprozesse diesseits von Normen, Reflexion und Institution zu beschreiben und zu erklären sind. Analog zu dem Entwurf einer vom Sport ausgehenden Theorie des Sozialen (vgl. Alkemeyer 2006, 2008; Schmidt 2006) liegt es deshalb nahe, eine vom Tanz ausgehende verkörperte soziologische Handlungstheorie zu entwickeln. 14 Otto weist darauf hin, dass diese Verschränkung von »weich« und »hart« nicht nur zwischen-, sondern ebenso innerleiblich gegeben sein sollte: »[...] noch günstiger, wenn man das sogar noch unterteilen kann, wenn man sagen kann, ja meine Füße sind ganz fest z.B., aber oben kann ich ganz weich sein, dann kann ich im Tanz ... hab ich mehr Möglichkeiten, als wenn ich nur am ganzen Körper entweder anspannen oder lockern kann« (1033–1037). 179

ROBERT GUGUTZER

Vor dem Hintergrund des hier vorgestellten theoretischen Ansatzes und der empirischen Analyse lassen sich zusammenfassend drei programmatische Punkte benennen, die es in Hinblick auf eine neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie zu berücksichtigen bzw. weiter auszuarbeiten gilt. (1) Die Verschränkung der Neuen Phänomenologie mit der Soziologie zur neophänomenologischen Soziologie impliziert, dass diese eine leibbasierte Soziologie ist. Allerdings beschränkt sich die neophänomenologische Soziologie keineswegs auf die Herleitung und Ausformulierung der leiblichen Grundlagen sozialer Handlungen und Strukturen. Vielmehr berücksichtigt sie ebenfalls deren körperliche Aspekte.15 Die neophänomenologische Soziologie begreift Leib und Körper als konstitutive Merkmale des Sozialen. Theoretischer Hintergrund hierfür ist die phänomenologische Grundeinsicht, dass dem Menschen seine Leiblichkeit in doppelter Weise gegeben ist: zum einen als Leib, der er selbst ist, mit dem er wahrnimmt und den er spürt, zum anderen als Leib, der dinghaft ist, ein bloßer Körper unter Körpern, der ein Körperding ist (vgl. Waldenfels 2000: 15). Bernhard Waldenfels spricht diesbezüglich von einer »Selbstverdoppelung« des Leibes: »Der Leib verdoppelt sich selbst in Leib und Körperding« (ebd.: 251). Wichtig hierbei ist, dass der zuständliche Leib dem gegenständlichen Körper übergeordnet, weil vorgängig ist. Leib ist der grundlegendere Begriff, weil er »nicht ein Etwas ist, das von einem Außenblick her von anderem unterschieden wird, sondern weil er an dieser Unterscheidung selbst beteiligt ist. Er fungiert in der Unterscheidung selber« (ebd.: 252; Hervorhebung im Original). Dementsprechend ist auch für die neophänomenologische Soziologie der Leib der vorgängige, grundlegende Begriff, dem der Körper nachgeordnet ist – alles Körperliche basiert auf der Leiblichkeit des Menschen.16 Aus diesem Grund ist die neophänomenologische Soziologie als Soziologie am Leitfaden des Leibes und nicht des Körpers zu verstehen. (2) Die neophänomenologische Soziologie ist dem interpretativen Paradigma zuzuordnen und handlungstheoretisch ausgerichtet. Daher zählen das alltägliche Sinnverstehen und die wissenschaftliche Rekonstruktion sozialen Sinns zu ihren wesentlichen Gegenständen und Aufgaben. Ihr Augenmerk gilt dabei besonders dem leiblichen Sinn und dem leiblichen Verstehen. Sie unterscheidet sich damit 15 Schmitz setzt sich in seiner Neuen Phänomenologie wenig mit dem Körper auseinander. Dafür wurde er verschiedentlich kritisiert (vgl. Soentgen 1998: 58ff.; Waldenfels 1998: 186). 16 Leib und Körper sind die zwei Seiten einer Medaille, die zu trennen aus heuristischen Gründen sinnvoll ist. Mit Waldenfels ist zu sagen: »Die Ausdrücke ›Leib‹ und ›Körper‹ bilden ein sprachliches Kapital, das man nicht einfach verschleudern sollte, indem man vom ›Körper‹ spricht, wenn man den ›Leib‹ meint« (ebd.: 15). 180

SOZIOLOGIE AM LEITFADEN DES LEIBES

von der ›alten‹ phänomenologischen Soziologie sensu Schütz und Luckmann. Sinn ist hier zwar ebenfalls ein zentraler Begriff, doch meint Sinn bei Schütz eine retrospektive Zuwendung bzw. reflexiv vorgenommene Deutung der Handlung durch den Akteur (vgl. Schütz 1960: 49f.). Das aktuelle Erleben und Handeln ist Schütz zufolge dagegen nicht-sinnhaft. Das sieht die neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie anders. Sinn ist hier ein leiblicher Sinn, und zwar in dem doppelten Sinne von Spürsinn und Eigensinn. Der leibliche Sinn ist ein Spürsinn, insofern der Handlungssinn des Partners oder der Situation vor-reflexiv erfasst wird. Ein Eigensinn (vgl. Barkhaus 2001; Jäger 2004: 54ff.) ist der leibliche Sinn wiederum, wenn und insofern das eigene Handeln nicht-intentional erfolgt, der Körper also selbsttätig agiert. Neben Prozessen des gelingenden Verstehens gilt es dabei auch das leibliche Missverstehen zu berücksichtigen, um so im Umkehrschluss in systematischer Weise allgemeine Bedingungen und Aspekte leiblichen Verstehens benennen zu können. (3) Die handlungstheoretische Ausrichtung der neophänomenologischen Soziologie rückt die leibliche Interaktion in den Mittelpunkt, nicht, wie in der soziologischen Handlungstheorie üblich, die symbolisch vermittelte, rational geplante und normativ kontrollierte Interaktion. Thematisiert werden damit soziale Abstimmungsprozesse, die gewissermaßen »diesseits der Hermeneutik« (Gumbrecht 2004) vonstatten gehen, also auf vorreflexivem, nichtrationalem, vorsprachlichem Wege. Die neophänomenologische Soziologie sensibilisiert für nonverbale zwischenmenschliche Kommunikationen, und sie entwickelt hierfür eine eigene Terminologie, die es weiter auszuarbeiten bzw. in die vorherrschende soziologische Terminologie zu integrieren gilt. Einer dieser Begriffe ist der hier vorgestellte Begriff Bewegungssuggestion, ein anderer könnte Improvisation sein (vgl. dazu Kurt/Näumann 2008). Der neophänomenologische Fokus auf die Zwischenleiblichkeit sozialer Situationen impliziert darüber hinaus, dass leibliche Interaktionen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verständigung von Menschen zu betrachten sind, sondern ebenso zwischen Menschen einerseits sowie Artefakten, Elementen und Atmosphären andererseits (vgl. Gugutzer 2004, 2008b). Menschen interagieren leiblich mit technischen Instrumenten und Hilfsmitteln, mit Sportgeräten, Kleidungsstücken, Einrichtungsgegenständen oder räumlichen Arrangements, insofern sie von diesen auf die eine oder andere Weise affektiv betroffen werden. Mit der Berücksichtigung der sozialen Relevanz des leiblich-affektiven Betroffenseins von nicht-menschlichen Phänomenen hebt die neophänomenologische Soziologie die typische Beschränkung der soziologischen Handlungstheorie auf Menschen als soziale Akteure auf. Sie erweitert damit das thematische und kategoriale Feld der soziologischen Handlungstheorie, ohne deren zentrale Konzepte wie Sinn, Normen oder Rationalität zu ignorieren. 181

ROBERT GUGUTZER

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Abstimmungsprozesse im Free Jazz. Ein Modell des Ordnens SILVANA K. FIGUEROA-DREHER

1 Die Frage der sozialen Ordnung in der Soziologie Die Frage nach dem, was die Gesellschaft »zusammenhält«, wenn nicht eine göttliche Ordnung, ist die fundierende Frage der modernen Soziologie. Auf welchen Prinzipien fußt »soziale Ordnung«? Wie entsteht sie, wie wird sie dauerhaft? Nach welchen Kriterien kann sie überhaupt definiert werden? Die Soziologie erkennt »soziale Ordnung« dort, wo wiederkehrende, musterförmige soziale Interaktionen existieren, die ihre Uniformität mit einem gewissen Grad an Stabilität in der Zeit aufrechterhalten. Wo sich aus dem Handeln zwischen Akteuren dauerhafte soziale Interaktionsmuster und somit Beziehungen herausbilden, die in der Zeit fortleben und voraussehbare Regelmäßigkeiten zeigen, entsteht »soziale Ordnung«. Wie gelingt es jedoch den Akteuren, ihr Handeln so aufeinander abzustimmen, dass Handlungs- und Interaktionsmuster entstehen? Prozesse der sozialen Abstimmung können mit Rückgriff auf bewusste oder unbewusste ›Konventionen‹ erklärt werden, die die Handlungskoordination zwischen Akteuren – je nach theoretischer Perspektive – bestimmen oder vereinfachen. So werden Abstimmungsprozesse beispielsweise durch geteilte symbolische Systeme (Parsons/Shils 1951: 16), durch die Übernahme bzw. Auferlegung von Rollen und damit von erwarteten Handlungsmustern und Verhaltensweisen (Mead 1973; Goffman 1991, 2000), durch die Orientierung an vorgegebenen Rahmen (Goffman 1977), durch die Umsetzung von im Wissensvorrat abgelagerten und geteilten typisierten Handlungsentwürfen (Schütz/Luckmann 2003)1 oder durch die interpretative Arbeit an Normen 1

»Bei allen Handlungen und erst recht bei gesellschaftlichen Handlungen garantieren gesellschaftlich verfestigte, vor-typisierte Verbindungen von Motiven, 185

SILVANA FIGUEROA-DREHER

und Alltagsregeln (Garfinkel 1967) erklärt. Davon abgesehen, dass der Rückgriff auf Konventionen Abstimmungsprozesse nur zum Teil erklären kann – weil nie oder äußerst selten Situationen existieren, die so einen hohen Konventionalisierungsgrad aufweisen, dass Abstimmungsprozesse schon im Vorfeld »gelöst« wären, bzw. weil Konventionen nicht immer von den Interagierenden gemeinsam geteilt werden –, interessiert uns bei der Frage nach Abstimmungsprozessen vielmehr, wie Konventionen zustande kommen. Um es anders auszudrücken, zielen vorliegende Reflexionen auf das Moment »vor« den Konventionen und knüpfen somit an das Problem der doppelten Kontingenz von Parsons und Shils (1951: 3–29) und Luhmann (1987: 148–190) an.2 Dabei spiegelt sich die Rolle des Körpers sowie von Gegenständen kaum in der soziologischen Literatur wider – obwohl es nahe am common sense liegt, dass der Körper eine zentrale Rolle in Abstimmungsprozessen spielt und somit ein entscheidender Faktor der Erzeugung »sozialer Ordnung« ist. Mit anderen Worten: Wie eine körperliche Mikrofundierung des Sozialen aussehen kann und welche Rolle dabei die Materialität des Körperlichen und der Gegenstände spielt, das sind Fragen, deren Untersuchung innerhalb der Soziologie noch weitgehend aussteht. Improvisationsprozesse im Free Jazz eignen sich dazu, diese Fragen anhand empirischer Beobachtungen zu erörtern. In ihnen stehen sowohl Prozesse des Sich-Abstimmens unter äußerst unkonventionalisierten, kontingenten Bedingungen als auch körper- und gegenstandsbezogenes Handeln im Vordergrund. Nach einer Beschreibung des Free Jazz im nächsten Abschnitt widme ich mich den Abstimmungsprozessen innerhalb dieses Genres. Zwei grundlegende Fragen leiten meine Reflexionen. Da jede Theorie der Abstimmung eine Handlungstheorie implizit oder explizit voraussetzt, ist die erste Frage handlungstheoretischer Natur: Wie kann das Free-Jazz-Improvisieren handlungstheoretisch erklärt werden? Diese Frage erörtere ich in Abschnitt 3 und stelle dabei die These auf, dass der Begriff des musikalischen Materials, wie die Free-Jazz-Musiker ihn verstehen, einen Schlüssel zur Erklärung des improvisatorischen Handelns darstellt. Die zweite Frage knüpft an die oben beschriebenen Fragen an und ist interaktionstheoretischer Natur: Wie sind die Free-Jazz-Musiker in der Lage, sich in einem so hochgradig kontingenten Kontext miteinander abzustimmen? Diese Frage behandle ich im letzten Teil des Beitrags (Abschnitt 4), in dem ich die These erläutere, dass die Phänomene der Wiederholung und der Nachahmung eine zentrale Rolle bei Abstim-

2

Zielen und Verläufen die Möglichkeit einer für die praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens ausreichenden Übereinstimmung zwischen Entwurf, Handeln und vollzogener Handlung – bei normalen (durchschnittlich ›kompetenten‹ und ›sozialisierten‹) Erwachsenen auch die Möglichkeit einer hier notwendigen intersubjektiven Übereinstimmung« (Schütz/Luckmann 2003: 570). Vgl. dazu den Beitrag von Patrick Linnebach in diesem Band.

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ABSTIMMUNGSPROZESSE IM FREE JAZZ

mungsprozessen unter kontingenten Bedingungen spielen und sich somit für eine Erklärung der Fundierung bzw. Entstehung mikro-sozialer Ordnung eignen. Die Rolle des Körpers bzw. der (vor allem musikalischen) Gegenstände wird in den zentralen Abschnitten 3 und 4 immer wieder reflektiert.

2 Handeln und Handlungskontext in Free-Jazz-Improvisationsprozessen Free-Jazz-Improvisieren kann nur aus jenem Kontext heraus verstanden werden, in dem dieses Genre seine Wurzeln hat bzw. von dem es sich »befreite«: aus dem Jazz. Jazzmusiker verfügen, wie Becker und Faulkner (2006) zeigen, über ein Repertoire von songs3, das heißt von Melodien mit fester harmonischer Struktur (vgl. auch Pressing 2002: 203). Songs sind kurze, formelhafte Kompositionen, die viele Formen annehmen können, zum Beispiel im Blues das Zwölf-Takt-Schema mit einer simplen harmonischen Struktur oder im Jazz das am meisten verwendete Schema von 32 Takten im Format AABA oder ABAB, wobei jeder Buchstabe für ein Segment von acht Takten steht. Wenn Jazz-Performer einen song lernen, nehmen sie diese Struktur als Ausgangspunkt und entwickeln Variationen darüber. Dagegen kann beim Free Jazz nicht von einem Repertoire von songs im beschriebenen Sinne gesprochen werden. Hier ist Material der angemessene Begriff (siehe Abschnitt 3), denn die Musik, die innerhalb dieses Genres gespielt wird, besitzt keine im Voraus festgelegte Struktur, sondern die Struktur ergibt sich erst aus dem Spielprozess. Bei der »totalen Improvisation« (vgl. Noll 1977: 3f., 91ff.) des Free Jazz können sich die Musiker an keinen verbindlichen musikalischen Parametern oder »Formeln« orientieren, die ihr Handeln bestimmen würden: Tonale bzw. atonale, melodische, harmonische oder zeitliche »Bindungen« zwischen den musikalischen Elementen, die die Musiker erzeugen, ergeben sich erst im Prozess des Spielens. Anders als sonstige Musikformen, die durch Improvisation gekennzeichnet sind und beispielsweise festgelegte Rhythmen oder melodische Strukturen besitzen, können Free-Jazz-Performances aus Improvisationen über alle musikalischen Parameter bestehen – daher der Begriff »totale Improvisation«. Auf der Skala von Pressing (1984), die verschiedene Gattungen improvisierter Musik zwischen den Extremen »alles vorgegeben« und »alles erfunden« anordnet, wird Free Jazz mit einem Wert von über 90% in der Nähe des letzteren Extrems platziert (vgl. auch Stoffer/ Oerter 2005: 919). Bemerkenswert ist, dass die Musiker tendenziell gleichzeitig und nicht nacheinander improvisieren, obwohl Soli durchaus vorkommen. Da-

3

Kursivsetzungen zeigen Kategorien erster Ordnung an, das heißt solche, die in der Welt des Free Jazz gängige Begriffe und Metaphern darstellen. 187

SILVANA FIGUEROA-DREHER

für verfügen sie zwar über ein bestimmtes musikalisches Material, das sie sich im Laufe ihrer musikalischen Laufbahn angeeignet bzw. erimprovisiert (vgl. Noll 1977: 79) haben, jedoch wissen sie vorab nicht, welches Material sie beim jeweiligen Improvisieren verwenden oder wie sie dieses je nach musikalischer Situation und musikalischem »Bedarf« umgestalten. Free Jazz bewegt sich im Spannungsfeld von Gewissheit und Ungewissheit. Gewiss sind zunächst Spielort (Jazzclub, Tonstudio etc.), die Instrumente, die eingesetzt werden, und die Zusammensetzung der Spieler, die normalerweise bereits über einen längeren Zeitraum besteht. Wenn die Formation (Trio, Quartett etc.) eine gemeinsame, dauerhafte Spielerfahrung besitzt, kristallisiert sich dies oft in bestimmten Spieldynamiken sowie Klangeigenschaften, die einen erkennbaren Gruppenstil ergeben. Der Gruppenstil4 lässt allerdings weder den Zuhörer noch den Musiker voraussehen, welche Klänge gewählt werden, mit welchem Tempo und welcher Intensität etc. gespielt wird, auch nicht, in welcher »Richtung« (wird zum Beispiel die Klangereignisdichte höher?) sich das Gespielte entwickeln und wann die Improvisation zu Ende sein wird. Auch wenn bei bestimmten Free-Jazz-Ensembles »Partituren« vorhanden sind, die musikalische Motive, Themen oder Parameter festlegen, notiert Noll, dass sich an denjenigen Stellen, an denen totale Improvisation stattfindet, die gespielte Musik von diesen Motiven »abkoppelt«; »ein direkter Zusammenhang zwischen Thema und Improvisation lässt sich selten konkret angeben« (Noll 1977: 43): »Das Thema kann in jeder Richtung verlassen werden, also auch in der ›entgegengesetzten‹« (ebd.: 53). »Das Thema hat dann selten mehr als eine ›Einspiel-Funktion‹« (ebd.: 72). Den Free-Jazz-Musikern geht es allerdings nicht darum, eine absolute Ungewissheit zu erzeugen, sondern darum, im Spannungsfeld von Gewissheit und Ungewissheit die Musik in Bewegung zu halten – und dies in einer ästhetisch wertvollen, »abgeschmeckten« Form. Mit »Form« ist jedoch nicht die Idee eines musikalischen Werkes gemeint, das als Produkt des Komponierens eine bestimmte, dem jeweiligen Genre korrespondierende, abgeschlossene Struktur hat. Free-JazzImprovisationen verfügen gerade über keine im Voraus festgelegte Struktur.

4

Dass ein Stil wiedererkennbar ist, bedeutet nicht, dass jede Improvisation voraussehbar wäre, und ebenso wenig, dass langjährig zusammenspielende Formationen ›immer wieder das Gleiche spielten‹ bzw. ›immer wieder das Gleiche kombinierten‹, so wie niemand behaupten könnte, dass der wiedererkennbare Stil eines Malers immer wieder die gleichen Bilder hervorbringe.

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ABSTIMMUNGSPROZESSE IM FREE JAZZ

3 Improvisation als Handeln: Der Begriff des Materials Aus handlungstheoretischer Sicht betrachtet, scheint beim Free-Jazz-Improvisieren ein Typus des Handelns5 vorzuliegen, welcher der Konzeption von Handeln als Umsetzung vorentworfener Handlungen nicht entspricht.6 Geht man davon aus, dass Handeln definitorisch die Umsetzung einer im Voraus entworfenen Handlung samt Handlungsziel und -mittel ist, kann man FreeJazz-Improvisieren nicht gänzlich erklären, da dieses kein teleologisches Handeln ist (vgl. Lothwesen 2009: 35). Auch die Betrachtung von Improvisieren als routinisiertes Handeln greift für eine handlungstheoretische Erklärung zu kurz, denn Routinehandeln ist die relativ automatische, unkreative Wiederholung einer konkreten, schon mehrmals in gleicher Form durchgeführten Handlung. Diese Beschreibung trifft, wie wir an der Kategorie des Materials sehen werden, das Improvisieren nicht. Ein Handlungsentwurf im Sinne Schütz’ und Luckmanns scheint beim totalen Improvisieren nicht vorhanden oder auf ein Minimum reduziert zu sein. Das individuelle Handeln wird nicht von einer vom individuellen Musiker vor dem Spielen entworfenen musikalischen Idee gesteuert. Im Unterschied zum Spielen komponierter Musik existiert das als beendet imaginierte Musikstück noch nicht als handlungsleitende Vorstellung im Bewusstsein des Musikers. Wenn die Musiker vor dem Improvisieren einen konkreten Handlungsentwurf vor Augen hätten, der ihr Spielen zwar gewiss, damit aber auch unflexibel machen würde, dann wären sie für das Improvisieren gerade blockiert. So äußern sich Free-Jazz-Musiker, die im Rahmen eines von mir geleiteten Forschungsprojekts7 interviewt wurden.

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Handeln wird von Max Weber folgendermaßen definiert: »›Handeln‹ soll dabei menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (Weber 1922/1972: 1). In diesem Sinne ist Improvisieren zweifellos »soziales Handeln«. Die hier präsentierten handlungstheoretischen Reflexionen sind großenteils – wenn auch in kritischer Auseinandersetzung – an die einschlägigen Schriften von Alfred Schütz (insbesondere Schütz/Luckmann 2003: 445–586) und Thomas Luckmann (1992) angelehnt, die sich der genauen Beschreibung der internen Struktur des Handelns widmen und insofern eine der wenigen expliziten soziologischen Handlungstheorien liefern. Es handelt sich um das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Improvisation als ›neuer‹ Handlungstypus. Eine handlungstheoretische Exploration der musikalischen Improvisation« (vgl. http://www.uni-konstanz. de/soziologie/improvisation). 189

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In Abgrenzung zu einem Handeln, das tendenziell auf der Basis von Entwürfen stattfindet, die im Handeln umgesetzt werden, geht es hier um eine Form ästhetischen Handelns, die nach anderen Prinzipien funktioniert. Diese Prinzipien gilt es im Folgenden zu untersuchen. »Ein zentrales Problem für den Improvisator ist die Echtzeitbedingung, unter der gearbeitet wird. Anders als der Komponist, der fast unabhängig von der weiter laufenden Zeit ist, jederzeit das Geschriebene korrigieren oder erneut von vorne anfangen kann, ist der Improvisator an die laufende Zeit gebunden. Für ihn gilt es, mit allen Fehlern und gemachten Entscheidungen fertig zu werden. Eine Einflussnahme auf das Gespielte kann nur als Umdeutung und Rückgriff im weiteren Spiel geschehen« (Lehmann 2005: 923). Das Handeln der Musiker beim Improvisieren im Free Jazz erfolgt in einem hoch kontingenten Kontext in Bezug darauf, was konkret gespielt wird, und es konstituiert sich in der aktuellen Spielsituation, die weitgehend ungeplant und unvorhersehbar ist. Die Musik kann sich bei der totalen Improvisation in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln, weswegen der Musiker sein Handeln nicht nach im Voraus geschaffenen Handlungsentwürfen durchführen kann, da »Handlungsoptionen«8 erst beim tatsächlichen Spielen entstehen. Darüber hinaus ist anzumerken, dass – da die Entwicklung der gemeinsam gespielten Musik von konstitutiver Bedeutung für das individuelle Handeln ist – die Ebenen des individuellen Handelns, der sich entwickelnden Musik und der Gruppenabstimmung analytisch schwerer zu trennen sind, als im Vorfeld angenommen werden könnte. Handlungstheorien, die das isolierte Individuum beim Handeln betrachten, greifen für die Erklärung der totalen Improvisation zu kurz, da sie die konstitutive Bedeutung des konkreten Kontexts für das Handeln übergehen (vgl. Figueroa-Dreher 2008a: 397). Da in diesem Handlungskontext der Grad der Kontingenz sehr hoch ist, müssen die Free-Jazz-Musiker in der Lage sein, in Bruchteilen von Sekunden musikalisch zu agieren und zu reagieren. Dies wird aufgrund einer besonderen Haltung möglich, die Kreativität, Spontaneität und Flexibilität zulässt. Sie kann als ein Handlungsmodus beschrieben werden, in dem die Aufmerksamkeit nach ›innen‹, den eigenen Empfindungen zugewandt ist und sich gleichzeitig nach dem richtet, was die anderen spielen. Der Musiker ist in der Lage, sich auf die Musik zu konzentrieren, ohne zu reflektieren, was er spielt bzw. spielen wird – ein Zustand, der als nicht-reflexive Einstellung der Musiker im Sinne Schütz’ bezeichnet werden darf (vgl. Schütz 1976: 38–42). Derart sind analytische Kontrollinstanzen idealiter ›ausgeschaltet‹. Die Musiker erleben 8

Der Begriff »Handlungsoptionen« soll nicht so verstanden werden, dass die unterschiedlichen Optionen, die im Spiel entstehen, bewusst gegeneinander abgewogen würden und sich der Musiker dann für eine entschiede. Vielmehr geschieht der Prozess des Spielens meistens, wenn auch nicht immer, in einem nicht-reflexiven Handlungsmodus.

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das Improvisieren als ein bewusstes »Verlieren der Kontrolle«, »ein bewusstes Verlassen des aktiven Gestaltungswillens«, das die Musik entstehen bzw. »geschehen« lässt. Paradoxerweise wird das Verlassen des Gestaltungswillens durch einen Wechsel des Handlungsmodus ermöglicht, der von den Musikern gewollt, wenn auch nicht immer realisierbar ist. Ein solcher »assoziativer, tagträumerischer Zustand« (Lehmann 2005: 932) wird von den Spielern als »extrem spannend oder belebend« erfahren. Der Musiker erfährt sich als Medium einer Musik, die er nicht bewusst gestaltet, sondern die »aus ihm herauskommt«. Begriffe wie Impuls, Reflex und muscle memory, die von den Musikern als Erklärung für ihr Handeln verwendet werden (vgl. Figueroa-Dreher 2008c), deuten darauf hin, dass der Körper eine konstitutive Rolle beim improvisatorischen Handeln spielt. Dem bewussten Verlassen des Gestaltungswillens beim Improvisieren, das von manchen Autoren als »offener Zugang zum Unbewussten« gedeutet wird (vgl. Stoffer/Oerter 2005: 932), scheint insofern eine Hinwendung zum Körperlichen zu korrespondieren. Wenn improvisierendes Handeln nicht als Umsetzung eines Entwurfs – bzw. als an ein Zweck-Mittel-Schema gebunden – konzipiert werden kann, wie kann diese Praxis dann alternativ handlungstheoretisch erklärt werden?9 Hier wird die These aufgestellt, dass der Kategorie des Materials – wie sie in der Folge beschrieben wird – eine zentrale Rolle bei einer handlungstheoretischen Erklärung improvisatorischen Handelns zukommt. Das Free-Jazz-Improvisieren erfolgt durch das – meist vorreflexive – Spielen (Anbieten) musikalischen Materials – so bezeichnen die Free-JazzMusiker ihren »Klangvorrat« –, das in der konkreten Spielsituation direkt eingesetzt wird. Dieser Begriff ist zentral, um das Free-Jazz-Improvisieren handlungstheoretisch zu verstehen. Im Material nimmt zudem die empirische und theoretische Verbindung zwischen individuellem Handeln, Musik und Interaktion beim Free-Jazz-Improvisieren Gestalt an. Im Folgenden werden erste Reflexionen über diese Kategorie erläutert, die im Rahmen meines Forschungsprojektes weiter untersucht wird. Alexander von Schlippenbach – deutscher Pianist und zentraler Vertreter des europäischen Free Jazz – fasst in folgender Äußerung die unterschiedlichen Aspekte zusammen, die zum Material gehören: »Ich habe bestimmte Positionen für beide Hände auf dem Klavier gefunden, in denen Sechstonreihen möglich sind, die ich dann in Akkordfolgen herausgeschrieben habe. Ich will natürlich nicht einige festliegende Dinge immer wieder spielen, sondern ich will dieses Material, das ich da in den Fingern habe – das wird sozusagen gespeichert – parat haben, um damit wiederum in vollkommen unterschiedlichen 9

Eine produktive Ausgangsposition für die Suche nach solchen Erklärungen bietet Fritz Böhle (2009) mit seinem Modell des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Handelns an. 191

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Konstellationen, unterschiedlichen Tempi, unterschiedlichen Lagen und auch Zusammenhängen improvisieren zu können. [...] Ein freies Verfügen über das Material, das man sich erst erarbeiten muß« (zit. nach Wilson 1999: 148).

An diesem Zitat wird deutlich, dass Material sämtliche Dimensionen des Free-Jazz-Improvisierens mit einschließt: die sensomotorische, die des spezifischen Instruments, die der Klänge und des Spielprozesses, die des Gedächtnisses, die des spontan Gestalterischen und Modellierbaren und schließlich diejenige des Vorbereiteten, mit der Spielerfahrung Gewonnenen. Die motorische Dimension des Improvisierens (ein wenig erforschtes Thema in der Musikpsychologie, vgl. Lehmann 2005: 930) betrifft unter anderem die Spieltechnik, das heißt die sensomotorischen Prozesse, aufgrund derer bestimmte Klänge bzw. Geräusche mittels eines spezifischen Instruments erzeugt werden können. Da das Interpretieren komponierter Musik sich – gerade in handlungstheoretischer Perspektive – vom (totalen) Improvisieren deutlich unterscheidet, liegt die These nahe, dass die Spieltechnik beim Interpretieren und Improvisieren ebenfalls unterschiedlich ist. Obwohl für beide Tätigkeiten Fertigkeiten vorausgesetzt werden müssen, die durch langjähriges Üben zustande kommen, zielt die Spieltechnik bei komponierter Musik auf die klangliche Umsetzung eines komponierten Musikstückes und ist insofern Technik, ein Medium, um in der Partitur festgelegte Klänge zu erzeugen. Im Gegensatz zu diesem standardisierenden Moment der Spieltechnik besteht Free-Jazz-Improvisieren unter anderem darin, unkonventionell erzeugte Klänge, »Fehler«, »Missklänge«, »Geräusche« etc. als gleichberechtigte musikalische Elemente zu akzeptieren und in das »Klangrepertoire« der Musiker zu integrieren. In diesem Sinne stellt sich die Spieltechnik des Free Jazz ständig selbst in Frage. Ein gutes Beispiel für die Spieltechnikentwicklung, die ein radikal improvisatorisches Genre wie der Free Jazz ermöglicht, ist die Spieltechnik des Posaunisten Albert Mangelsdorff, insbesondere die so genannten »Multiphonics«, dank derer aus einem Melodieinstrument wie der Posaune ein Akkordinstrument wird: »Mangelsdorffs Spieltechnik der Posaune war durchdacht und weiterentwickelt. In jüngster Zeit wandte Mangelsdorff die Zirkularatmung an, bei der gleichzeitig Mund- und Naseatmung für die Tonerzeugung ausgenutzt werden, und erprobte systematisch die Erzeugung von Mehrklängen auf der Posaune, was insbesondere dadurch erreicht werden kann, daß der Spieler gleichzeitig in die Posaune singt und dazu bläst« (Noll 1977: 56).

Sein Bruder Emil Mangelsdorff, der ebenfalls Jazzmusiker (unter anderem Saxophonist) ist, scheint die hier aufgestellte These zu unterstützen:

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ABSTIMMUNGSPROZESSE IM FREE JAZZ

»Daß Albert die Mehrstimmigkeit entwickelt hat, hat sicher auch damit zu tun, dass der Jazz dem Instrumentalisten weit mehr Chancen gibt, sich als musikalisches Individuum zu entwickeln, als jede andere Musik. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das einer vor hundert Jahren hätte machen können, oder anders gesagt: So etwas ist nur da möglich, wo es die Musik erlaubt, frei von Noten improvisatorisch tätig zu sein« (zit. nach Paulot 1993: 121).

Ein Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der Spieltechniken improvisierter und komponierter Musik findet sich auch in Alexander von Schlippenbachs Äußerung, sein Hauptziel – bezogen auf die Platte Heartplants von 1965 – sei es, »einen freien Weg zur Improvisation in freier Atonalität zu finden, wobei die bisher übliche Klaviertechnik durch eine Emanzipation der linken Hand und Verwendung von ›Clusters‹ der verschiedensten Art bereichert werden soll« (zitiert nach Noll 1977: 8). Ein weiterer Aspekt sensomotorischer Abläufe des Improvisierens betrifft die Frage nach dem automatischen Spielen verschiedener Materialien, über die jeder Musiker verfügt und die mit unterschiedlichen Spieltechniken verbunden sind. In erster Linie scheint das Spielen motorisch automatisierter Abläufe das Improvisieren zu ermöglichen, »weil sie weitgehend ohne kognitive Vermittlung ablaufen und damit die zentrale Exekutive entlasten, die sich komplizierteren Aufgaben zuwenden kann, nämlich der Problemlösung und der Planung« (Lehmann 2005: 925). Diese Annahme ist jedoch problematisch; solche automatisierten Abläufe werden in der Forschungsliteratur über Improvisation gerade als Störfaktoren bezüglich des Spontaneitäts- und Innovationsgrads betrachtet (vgl. ebd.: 930), da automatisches, unflexibles Handeln einen Gegensatz zum flexiblen, kreativen Handeln darstellt. Dieses Paradox löst sich jedoch auf, wenn die gespeicherten und automatisierten Abläufe als ein Moment des Materials gesehen werden, das in der Echtzeit modelliert werden kann. Dabei ist Free-Jazz-Material nicht als bestimmte musikalische Struktur (beispielsweise im Sinne von songs) oder als fixierte Tonsequenz zu verstehen, die situativ mit »Versatzstücken« variiert wird. Zum Free-Jazz-Material eines Musikers gehören sehr unterschiedliche Klänge, Akkordreihen, Geräusche etc., die in äußerst verschiedenen Formen modelliert und kombiniert werden können. Daraus ergeben sich erst im Zusammenspiel mit den Mitmusikern (oder auch im Solospiel) die musikalischen Strukturen des Free Jazz. Das Material, das ein Musiker sich aneignet, entsteht in Bezug auf sein spezifisches Instrument (bzw. die eigene Stimme), mit dem bestimmte Klänge und Geräusche erzeugt werden können. Dieses erlegt ihm Grenzen auf und eröffnet ihm zugleich zwar nicht unendliche, jedoch vielfältige Möglichkeiten der konventionellen und unkonventionellen Klanggestaltung. Der Körper fungiert bei der Klangerzeugung nicht oder nicht ausschließlich als ausführendes Organ von kognitiv generierten »Zielen«, vielmehr löst das Hören dessen, was die Mitmu193

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siker spielen, ummittelbar Reaktionen aus (»Reflexe«, »Impulse«, vgl. Figueroa-Dreher 2008b: 168ff.), die (meistens) unreflektiert sind. Darüber hinaus werden auch körperlich bedingte Klänge (beispielsweise in die Posaune ausatmen, lachen, singen etc.) sowie diverse »Fehler« und zufällig erzeugte Klänge (eine Schale fällt auf das Becken) und »reflexbedingte« Antworten aus der interaktiven Spielsituation in das eigene Spiel und auch in das eigene Material integriert und gespielt. Hier wird deutlich, dass der Free Jazz »außermusikalische« Klänge, die sich dem »Eigenleben« von Körper und Instrument verdanken, akzeptiert, anstatt sie aus ästhetischen Prinzipien auszublenden. Material weist auf eine weitere zentrale Dimension des Free-Jazz-Improvisierens hin: die kreative, spontan gestalterische. Klänge können – ähnlich wie Knetmasse oder Farben – sich zu einer musikalischen »Form« (Klangfläche) fügen, indem sie im Spielprozess in Echtzeit geknetet werden: Tempo, Tonhöhe, Textur, Lautstärke etc. können an die aktuelle Spielsituation angepasst werden. Somit ist Material nicht als eine Reihe fixierter Klangsequenzen zu verstehen, die aufgrund wiederholter Übung inkorporiert und direkt im Improvisationsprozess in immer gleicher Weise10 eingesetzt würden: Das in diesem Sinne ungewisse Material ermöglicht das Improvisieren erst, indem es in der kontingenten Situation des Free-Jazz-Spielens die nötige Flexibilität bietet, das eigene Handeln an das Handeln der Mitmusiker anzupassen. Bei dieser oft »automatischen«, nicht-reflexiven Art des Handelns werden – im Unterschied zu routinisiertem Handeln – keine typisierten Handlungsentwürfe (vgl. Luckmann 1992: 48–92) abgerufen und umgesetzt. Was diese Handlungsdisposition auszeichnet – im Unterschied zur Handlungsdisposition im Sinne Luckmanns (vgl. ebd.: 69) –, ist ihre Unbestimmtheit, die Bestimmung im Prozess des Handelns selbst. Handlungsziel und -schritte sind hier nicht vorhanden oder sie sind auf ein Minimum reduziert. Material fungiert als Impuls, als Ansatz, um die Musik in Bewegung zu halten, und ist insofern ein Provisorium, das sich im Laufe der Interaktion ständig ändert. Es wird also keine komponierte Musik interpretiert, sondern aus einem enormen Vorrat an Rohmaterial geschöpft, das im Prozess des Improvisierens zu immer wieder neuen Musikformen modelliert wird. Da das Material hochgradig gestaltbar ist, ist es insbesondere am Anfang einer Improvisation wenig entscheidend, welches Material im Spielprozess eingesetzt wird (beispielsweise Geräusche oder Tonhöhen im normalen, wohltemperierten System), sondern die zentrale Frage lautet, wie der Musiker mit dem Material umgeht und damit interaktiv Musik macht, indem er sein Material an die Situation anpasst und verändert. Diese Prozesse der Anpassung und des Experimentierens mit bekannten Klängen ermöglichen gleich10 Für eine Kritik der vereinfachenden »Motiv«-Theorie, die davon ausgeht, dass patterns bzw. vorfabrizierte Stereotype die Grundlage von Improvisationsprozessen bilden, vgl. Lehmann 2005: 932. 194

ABSTIMMUNGSPROZESSE IM FREE JAZZ

zeitig die Entstehung von neuem Material, mit dem der Musiker wiederum anfängt zu arbeiten, um es »unter Kontrolle zu kriegen« (durch Verbesserung der Spieltechnik) und als Teil seiner »Sprache« zu inkorporieren. Wie auch die Sprache schließt das Material eine materielle und eine immaterielle Dimension ein. Materiell sind Klänge, insofern sie aufgrund von psycho-motorischen Aktivitäten mittels eines bestimmten Instruments bzw. der Stimme erzeugt werden können. Immateriell ist das Material in dem Sinne, dass diese Klänge und die Spieltechnik ihrer Erzeugung bei den Musikern als Erfahrung und Kompetenz in ihrem Wissensvorrat »gespeichert« und wieder abrufbar sind. Dieser Klangvorrat ist als dynamisches Wissen und Können eines Musikers zu verstehen; er ändert sich permanent aufgrund neuer Spielerfahrungen, da immer wieder neue Möglichkeiten entdeckt werden, mit dem Instrument umzugehen. Die naheliegende Ähnlichkeit des Materials mit der Sprache bedarf allerdings weiterer Erforschung (zur Analogie des Improvisierens mit Sprachproduktion vgl. Johnson-Laird 2002). Es darf nicht vergessen werden, dass Musik nicht-begriffliche Kommunikation ist, was einen fundamentalen Unterschied zur sprachlichen Kommunikation darstellt (vgl. Schütz 1951/ 1972): Da Klänge höchstens als Symbole, jedoch nicht als Begriffe mit einer konventionellen Bedeutung erfasst werden können, eignet sich Musik besonders gut für radikales Improvisieren, weil keine Grammatik für die temporale Aufreihung der Klänge verpflichtend ist (in anderen Genres als dem Free Jazz sind musikalische, genretypische Strukturen verpflichtend). Der in diesem Sinne eher un-konventionelle Charakter der Klänge ermöglicht auch, dass jeder Musiker seine eigene »Sprache« entwickelt. Jedoch ist diese »Sprache« nicht mit der parole im Sinne Saussures (1931) vergleichbar, da parole ein gemeinsames Wissen voraussetzt, dass wiederum von einer Sprachgemeinschaft geteilt wird. Weil bei der totalen Improvisation keine festgelegte musikalische Struktur vor dem Spielen existiert, schließt das Material das Moment des Unvorbereiteten ein, das heißt die Idee, dass im Spielprozess sehr unterschiedliches Material eingesetzt werden kann, auf das die Mitmusiker reagieren, worauf wiederum geantwortet wird usw. Material ist insofern noch nicht »Musik«, so wie in der Malerei die Farben noch keine Bilder sind. Kombinierte, gleichzeitig gespielte Materiale unterschiedlicher Musiker können sehr unterschiedliche Musikstücke ergeben, so wie gleiche Farben unterschiedliche Bilder und Texturen ergeben können. Dass der Free-Jazz-Saxophonist Evan Parker das musikalische Material als tonal imagination bezeichnet, verdeutlicht nicht nur die zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten, die das Arbeiten mit dem Material zulässt, sondern auch das phantasierende, spielerische Moment, die Momente des Abhebens von Konventionalität, des Heraustretens aus der Alltagswelt und des veränderten Realitätsbezugs und Zeiterlebens während des Improvisierens (vgl. Rora 2008; Figueroa-Dreher 2008b). 195

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Der Begriff des Materials weist jedoch auch auf ein Moment des Vorbereiteten hin, denn über ihren Klangvorrat verfügen die Musiker aufgrund ihrer Praxiserfahrung: Obwohl bei der totalen Improvisation über alle musikalischen Parameter improvisiert werden kann, wird während des Spielens nicht alles neu erfunden. Das Material, über das die Musiker verfügen, haben sie sich erimprovisiert – ein gängiger Terminus der Free-Jazz-Welt, der den Aspekt des Materials als Resultat von Spieltechnik, Spielerfahrung und Experimentieren hervorhebt. Material ist somit nicht nur flexibel und veränderbar, sondern auch identifizierbar und wiederholbar, was etwa in folgenden Äußerungen von Musikern zum Ausdruck kommt: »Ich habe ein ähnliches Material benutzt wie vorher«; »Ich wollte wieder zu dem Anfangsmaterial zurückkehren« etc. Material bezieht ferner die interaktive Dimension des Improvisierens ein, indem es dank seiner Flexibilität und Vielfältigkeit die Option des Anknüpfens an das bietet, was die anderen spielen: Da das Material, das beim Improvisieren gespielt wird, konkrete Eigenschaften bezüglich verschiedener musikalischer Parameter hat, wie beispielsweise Tonhöhe, Tempo, Intensität, Lautstärke etc., ist das Spielen nahezu jeglichen Materials prinzipiell »richtig«, da es die Möglichkeit bietet, sich über verschiedene musikalische Parameter mit anderen Materialen zu »verzahnen«, beispielsweise über Verwandtschaft (Analogie). Darüber hinaus kann ein gespieltes Material unterschiedliche Materiale, die nicht »gebunden« oder verwandt sind, binden, da es sich gleichzeitig auf sie beziehen kann. So ist es beispielsweise möglich, dass das Saxophon das Klavier melodisch imitiert, während es sich gleichzeitig im Tempo auf das Schlagzeug bezieht und somit beide »bindet«. In der Tat ist das Spielen des eigenen Materials als Ableitung der Materiale der Mitmusiker – beispielsweise über das Imitieren auf einem oder mehreren Parametern – ein sehr gängiges Handlungsmuster. Die Bezugnahme auf das Material der Mitmusiker führt zu dialogischen Dynamiken, die sich zu sehr ereignisdichten Prozessen intensivieren können. Diese Dynamiken können sich zwischen zwei oder mehreren Instrumenten bzw. Stimmen ergeben. Die Regeln, nach denen das gleichzeitige Spielen musikalischen Materials zu einer gelungenen Musikform führt, die mit anderen Worten festlegen, welche Materiale zueinander passen, sind mit ästhetischen Kriterien verbunden und variieren je nach Musiker und Formation. Materialverwandtschaft beispielsweise, ein oft vorkommendes Muster, ist noch keine Garantie für eine »abgeschmeckte« Musik. Aus Sicht der Musiker gilt das allgemeine Prinzip, dass das eigene Material sich zu dem der Mitmusiker »verhalten« muss, es muss ein »Zusammenhang« bestehen. Im Vorgriff auf den abschließenden Abschnitt dieses Beitrags lässt sich bereits hier sagen, dass bei der Herstellung eines solchen Zusammenhangs das Phänomen der Repetition eine zentrale Rolle zu spielen scheint. So auch bei Noll (1977: 91–143), der bezüglich der »Handlungsoptionen« der Musiker ein Modell der Klangflächenimprovi196

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sation gestaltet, mit dem er versucht, auf »die Frage zu antworten, was in der totalen Improvisation an die Stelle motivischer Beziehungen treten kann, bzw. in welchen allgemeineren Strukturen diese aufgehen« (Noll 1977: 91). Dabei entdeckt er auf der Basis einer empirischen Erforschung von Free-JazzImprovisationen, dass die Repetition ein grundlegendes Handlungsmuster darstellt. Dieses Prinzip teilt er in drei Repetitionsarten: Wiederholung innerhalb einer Stimme (Repetition), Wiederholung durch eine andere Stimme (Imitation) und veränderte Repetition (Variation). Die Repetitionsarten ergeben weitere sieben Subformen, die zu einem komplexen Modell führen. Diese Systematik des Modells sollte jedoch nicht verdecken, dass es sich bei den einzelnen Arten und Formen, wie Noll bemerkt, teilweise um sehr verschiedene Phänomene handelt. So bezieht sich Wiederholung auf einen solistischen Prozess, während Imitation ein kollektiver Prozess ist (»aufgespaltene Repetition«). Ein weiteres Improvisationsmodell, das ebenfalls auf Repetition zurückgreift, stammt von Globokar (1971). Ahnlich wie Noll teilt dieser die Repetitionsphänomene in »imitieren«, »sich integrieren«, »das Gegenteil tun«, »sich zurückhalten« und »etwas Verschiedenes machen« ein. Die »integrierende Variation« erweist sich ihm zufolge als die eigentliche Methode beim Improvisieren. Die Phänomene der Repetition und der Nachahmung spielen eine zentrale Rolle für die Abstimmung innerhalb von Free-Jazz-Improvisationsprozessen, die in Abschnitt 4 detailliert betrachtet wird. In der interaktiven, dialogischen Situation des Free Jazz sind weiterhin Kriterien des turn-taking nicht im Voraus festgelegt. Sie ergeben sich, wie auch Anfang und Abschluss einer Improvisation, interaktiv im Spielprozess. Das Material ermöglicht dabei aufgrund seiner Gestaltbarkeit vielfältige Wege, es zu »verlassen«, zu intensivieren oder zu modellieren, um den Bedürfnissen der aktuell und interaktiv gespielten Musik zu entsprechen. Auf der Gruppenebene wird mit Material »verhandelt«, insofern man auf ein »Materialangebot« der Mitmusiker eingehen, es so weiter laufen lassen oder es problematisieren kann. Man »einigt« sich bzw. »einigt sich nicht« auf eine musikalische Richtung im Prozess des Spielens. Dabei ermöglicht das Free-JazzImprovisieren nicht nur harmonisches, sondern auch konfliktuelles Miteinanderspielen, indem musikalische »Verhandlungsprozesse« als ästhetisch akzeptabel und als Teil der sich entwickelnden Musik gesehen werden. Sogar das »battle playing« gilt als eine akzeptierte Form des Free-Jazz-Improvisierens. Da das Material erst im Spielprozess ›geformt‹ wird und sich nicht unbedingt automatisch in einer ästhetisch akzeptablen Form zu dem fügt, was die Mitmusiker spielen, sind Kontrollieren und Justieren für das improvisatorische Handeln relevante Verfahren, die auf das zentrale Moment der Kooperation und Koordination beim Improvisieren hinweisen. Sie ermöglichen eine ›Verzahnung‹ der von den einzelnen Musikern gespielten Materiale, wodurch eine musikalische »Form«, eine »abgeschmeckte« Musik der gesamten Grup197

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pe entstehen kann. Kontrollieren und Justieren dürfen nicht ausschließlich als Momente reflexiven Handelns gedeutet werden – obwohl auch dies der Fall sein kann –, vielmehr finden diese Verfahren oft in »automatischer« Form statt. Jedoch weisen diese beiden Kategorien darauf hin, dass spezifische ästhetische Kriterien eine Unterscheidung von ›funktionierender‹ und ›nicht funktionierender‹ Musik ermöglichen. Diese Kriterien sind dennoch von Musiker zu Musiker und je nach Ensemble sehr unterschiedlich. Ein letzter, jedoch fundamentaler Aspekt des improvisatorischen Schaffens ist in der Kategorie des Materials inkludiert und prägt alle anderen bisher beschriebenen Dimensionen: die Ästhetik. Material ist nicht nur etwas, was »man kann« und von dem man weiß, dass »es funktioniert«, sondern auch etwas, was der Musiker »gerne hört«. Um die dialogische Dynamik des interaktiven Free-Jazz-Improvisierens zu verstehen, muss berücksichtigt werden, dass es dabei nicht darum geht, ein festgelegtes musikalisches Werk zu spielen, sondern darum, eine musikalische Bewegung zu entwickeln, wie Alexander von Schlippenbach im Interview11 äußert: »Aber es geht ja nach vorne, nicht, das ist für unsere Musik sehr wichtig, die ja zum großen Teil vom Jazz [...] inspiriert ist. Und die Kunst besteht darin, weiterspielen zu können. Es ist improvisiert, aber es entsteht ein Zusammenhang und den dann wirklich weiter zu treiben, da besteht eigentlich also nach meiner Auffassung die Kunst, ja, wenn man das kann. Weil [...] eine schlechte Improvisation, die kann irgendwie ein interessantes Klangereignis erzeugen, und dann fällt das in sich zusammen und dann kommt wieder ein Neuer mit irgendwas, und so geht’s dann dahin. Aber wir sind auch bestrebt, einen musikalischen Fluss entstehen zu lassen. Eine Vorwärtsbewegung, das ist sehr wichtig.«

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Die Abstimmung bei der Free-Jazz-Interaktion

Es bleibt zu klären, wie Abstimmung in Free-Jazz-Improvisationsprozessen erfolgt. Bevor wir uns dieser Frage widmen, müssen die Kontextbedingungen, in deren Rahmen Abstimmung stattfindet bzw. stattfinden soll, grundlegender diskutiert werden. Oft wird beim Begriff der Abstimmung im Kontext einer fokussierten Interaktion eine Vor-Abstimmung vorausgesetzt in dem Sinne, dass im Vorfeld ein Ziel »vereinbart« wurde, das im aktuellen Prozess des Handelns erreicht werden soll. So können beispielsweise Abstimmungsprozesse beobachtet werden, die sich nach einem von allen Beteiligten geteilten 11 Das Interview führte Silvana K. Figueroa-Dreher mit Alexander von Schlippenbach im Rahmen der Datenerhebung des in Fußnote 7 genannten Forschungsprojekts. 198

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Ziel richten. Beim Free-Jazz-Improvisieren geht diese Idee des Sich-Abstimmens im Hinblick auf ein in Zukunft zu erreichendes Ziel verloren. Abstimmung, oder besser gesagt: sich immer wieder abstimmen, ist gewissermaßen das Ziel, das unter besonderen, sich ständig verändernden Bedingungen immer wieder erreicht werden soll, jedoch nur für einen Moment. Das »Ziel« des Free-Jazz-Spielens ist gleichzeitig das Mittel: die Musik zwischen Gewissheit und Ungewissheit in Bewegung zu halten – ein zentraler Antrieb für das Handeln, für die Interaktion und für die Musik. Insofern ist das »Ziel« im Free Jazz nicht, eine musikalische Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern es geht um Prozesse des immerwährenden Ordnens während des Spielens. Hier ist der Kontrast zur Bilderwelt von Orchester, Konzert und Partitur instruktiv, wie sie häufig für die Beschreibung von Abstimmungsprozessen genutzt wird. Der in der englischsprachigen Literatur häufig verwendete Begriff der concerted action (konzertiertes Handeln) versinnbildlicht symptomatisch, was mit »Abstimmung im Vorfeld« gemeint ist: Das Sprachbild des »Konzertierens« ruft die Vorstellung wach, dass das Harmonisieren von Handlungssträngen unterschiedlicher Akteure aufgrund einer Partitur erfolgen kann, die wiederum konventionalisierte Notations-, Mess- und Interpretationskriterien voraussetzt, die von allen Teilnehmern verstanden werden. Die Partitur im klassischen Sinne legt die individuellen Handlungen, die Rollen und die Rollenverteilung im Voraus fest. Ferner wird oft eine Koordinationsund Führungsinstanz (wie im Konzert der Dirigent) und somit eine hierarchische Organisationsform impliziert. Die (musikalischen) Handlungen werden somit im Voraus komponiert und im Laufe der konzertierten Aktion interpretiert. Die Abstimmung zwischen den Handelnden wird aus dieser Sicht zum großen Teil vor dem Handeln arrangiert. Die Metaphorik von Partitur und Konzert spiegelt die Idee des gemeinsamen Handelns als Reproduktion sozialer Ordnung wider. In dieser Bilderwelt erhalten Spontaneität, Improvisation, die Möglichkeit individueller, kreativer Ausdrucksmomente sowie der unmittelbare Kontext nur wenig Gewicht für die Erklärung von Abstimmungsprozessen. Stattdessen wird Handlungskoordination auf der Basis von geteilten Konventionen, Standardisierung, Festlegung und einer bestimmten Idee der (musikalischen) Ordnung konzipiert.12 Auf diese Weise bleiben Abstimmungsprozesse bzw. -momente, die nach anderweitigen Bedingungen erfolgen, weitgehend unberücksichtigt. Obwohl die »Orchestersituation« einen hoch konventionalisierten Handlungskontext darstellt, sind, wie uns unter anderem ethnomethodologische Studien zeigen, die Handelnden gezwungen, diese Regeln, Konventionen etc. situativ zu interpretieren und dementsprechend zu handeln. Auf der anderen 12 Ein Orchester charakterisiert sich darüber hinaus durch die »Unterordnung des Einzelnen bis zur Übernahme gleicher Techniken zugunsten eines Ensemblegeistes, der wesentlich vom Dirigenten geprägt wird« (Michels 2000: 65). 199

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Seite gibt es jedoch auch Situationen, die einen niedrigen Grad der Konventionalisierung aufweisen – dies wäre der Fall des Free-Jazz-Improvisierens – und in denen Spielregeln und ›Konventionen‹ erst im Handlungsprozess »verhandelt« bzw. abgestimmt werden. Wie stimmen sich Individuen in diesem Fall ab, wenn Konventionen ihre Handlungsstränge nicht »im Vorfeld« miteinander verknüpfen? Im vorherigen Abschnitt sind bereits die Eigenschaften des Materials erläutert worden, die zur Erklärung der Handlungskoordination zwischen den Musikern unter den oben genannten Umständen im Free-Jazz-Improvisieren beitragen. Jedoch sind es nicht nur die Eigenschaften des Materials, die zur Abstimmung im Free Jazz beitragen, sondern auch Phänomene der Repetition und der Nachahmung sind für die Erklärung von Abstimmungsprozessen im Free Jazz zentral. Im Folgenden wird zunächst der Interaktionskontext im Free Jazz ausführlicher beschrieben, bevor ich mich den Phänomenen der Repetition zuwende. Der Interaktionskontext beim Free-Jazz-Improvisieren gestaltet sich als face-to-face-Interaktion ohne körperlichen Kontakt zwischen den Spielenden. Abstimmung erfolgt hier nicht mittels verbaler Kommunikation, sondern durch das Hören von Klängen und Geräuschen und das Reagieren auf diese. Hören ist eine zentrale Instanz des Kommunizierens und des Handelns: Da der Handlungskontext des Free-Jazz-Improvisierens hochgradig kontingent ist, erhält das hoch konzentrierte Hören dessen, was die Mitmusiker spielen, eine zentrale Bedeutung für die Fähigkeit, unmittelbar und adäquat darauf zu reagieren. Free-Jazz-Dynamiken des Improvisierens ereignen sich innerhalb dezentrierter Interaktionsgruppen. Dies ist zurückzuführen auf die historische Entstehung des Free Jazz. Dieser (und insbesondere sein Vorläufer, der Bebop) entstand als eine Bewegung, die sich gegen die stark hierarchisierten Strukturen der Swing-Bands richtete, welche in hohem Grade durch die ökonomische Logik der Plattenfirmen und der Kulturindustrie geprägt waren und großen Wert auf einen hohen Standardisierungsgrad legten (vgl. Belgrad 1998: 179–195). Darüber hinaus folgen die Instrumente im Free Jazz keiner festgelegten Rolle, wie es in anderen Genres der Fall ist. So darf beispielsweise das Saxophon perkussive Elemente beisteuern, die herkömmlicherweise dem Schlagzeug zugeschrieben werden, während das Schlagzeug tonähnliche Klänge erzeugt, die üblicherweise melodischen Instrumenten zugeordnet werden: »Bedenkt man, dass das Schlagzeug in der freien Musik, befreit von der Aufgabe des ›timekeepers‹, eine Tendenz zur ›klanglichen‹ Durchgestaltung seines Parts hat und oft durch Ausnutzung ungefährer Tonhöhendifferenzen der Schlaginstrumente ›Klangmelodien‹ erzeugt, so korrespondiert die Verschlagzeugung der Bläser mit der ›Melodisierung‹ des Schlagzeugs« (Noll 1977: 125). Das Improvisieren wird unter diesen Umständen ungewisser, aber 200

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zugleich flexibler, so dass die Musiker intuitiv auf das Material ihrer Mitmusiker reagieren und ihre Handlungen koordinieren können. Dabei, und dieser Aspekt ist zentral, erfolgt Abstimmung ausschließlich im Spielprozess und wird nicht aufgrund fester Rollen und Partituren schon im Vorfeld geebnet. Beim Free Jazz geht es nicht um die Umsetzung einer Idee der musikalischen »Ordnung«, die im Vorfeld abgesprochen worden wäre, sondern um das immer neue Experimentieren und Erfahren des Prozesses des Ordnens. Im Improvisationsprozess des Free Jazz wird durch musikalische Kommunikation musikalisches Material ›angeboten‹ bzw. es wird auf dieses reagiert, was nicht durchgehend und automatisch Phänomene der Abstimmung erzeugt, sondern auch ›Konflikte‹ oder ›Missverständnisse‹, die sich zum einen aus der Divergenz zwischen musikalischen »Angeboten« und Erwartungshaltungen der Musiker sowie zum anderen aufgrund von Grenzen des eigenen Instruments oder des eigenen Körpers ergeben können. Solche ›Störungen‹ müssen sich im Nachhinein nicht zwingend als ästhetisch wertlos erweisen. Eine gelungene Improvisation kann sie durchaus einbeziehen. In diesem Sinne werden vermeintliche Fehler im Free Jazz nicht negativ sanktioniert, wie es in anderen musikalischen Genres der Fall ist. Einen weiteren der Abstimmung dienenden Faktor bildet die Tatsache, dass die Gruppen oftmals eine langjährige Erfahrung des Zusammenspielens aufweisen, sodass sich bestimmte gruppenspezifische Spielkriterien und eine eigene ›Sprache‹ entwickeln konnten, die der Kommunikation und somit der Abstimmung dienen. Andererseits ist es durchaus möglich, dass Free-JazzMusiker, die noch nie zuvor zusammen gespielt haben, gemeinsam musizieren und dabei gelungene Improvisationen hervorbringen. Umgekehrt ist der Umstand, dass Musiker schon sehr lange miteinander spielen, keine Garantie für das Gelingen einer Improvisation. Die Wahrnehmung dessen, was und wie die anderen aktuell spielen, ist für das Abstimmen entscheidend. Hören ist deswegen so zentral, weil die Ungewissheit darüber, was die anderen spielen werden, den jeweiligen Musiker dazu zwingt, sich intensiv auf die Musik der anderen zu konzentrieren, um sich schnell und spontan dazu »äußern« zu können. Improvisation erfordert in diesem Sinne einen hohen Grad an Wachheit. Beim Free Jazz entwickelt sich somit ein hoch dynamisches, vielschichtiges Ganzes, das aus wechselseitig aufeinander bezogenem musikalischem Handeln besteht. Wie wir gesehen haben, sind die »Eigenschaften« des musikalischen Materials entscheidend, das Improvisieren erst ermöglicht. Aber es bleibt noch die Frage offen, wie sich die Musiker konkret mit und durch ihr Material abstimmen, ihr Handeln koordinieren, eine »Ordnung« erzeugen. Nachahmung und Wiederholung sind – so meine These im Anschluss an Noll (1977) und Globokar (1971) – zentrale, der Abstimmung dienende Handlungsweisen, wenn

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auch nicht die einzigen, die eine Koordination der Interaktion zwischen den Musikern ermöglichen. Diese These wird im Folgenden ausführlich erläutert. Was heißt »Sich-Abstimmen« im Free Jazz? Für Free-Jazz-Musiker bedeutet es zunächst einmal, sich mit den eigenen Klängen auf die Klänge der anderen zu beziehen. Woraus besteht dieser Bezug? Zwei Phänomene, nämlich die Wiederholung bzw. Repetition einerseits und die Nachahmung bzw. Imitation andererseits sind häufig vorkommende Muster, die den wechselseitigen Bezug der Klänge ermöglichen. In der Musikwissenschaft umfassen die Begriffe der Repetition und der Nachahmung vielfältige Phänomene. Im Folgenden werden Repetition und Nachahmung als Handeln – das heißt aus der handlungstheoretischen Perspektive – betrachtet und nicht beispielsweise als ästhetische, formgebende Elemente in der Musik. Dabei gehe ich der Frage nach, weshalb Repetition und Nachahmung häufig vorkommende Handlungsweisen im Free-JazzImprovisieren darstellen. Warum »lösen« die Musiker das Problem des SichAbstimmens mittels Repetition und Nachahmung? Wiederholen und Nachahmen sind handlungstheoretisch betrachtet insofern unterschiedlich, als Wiederholen nur eine, Nachahmen hingegen mindestens zwei Personen voraussetzt. Ich kann meine musikalische Äußerung wiederholen, aber nur jemand anders kann mich nachahmen. Insofern ist Wiederholung in der Nachahmung enthalten, Nachahmung aber nicht in der Wiederholung. Wiederholung bzw. Repetition ist handlungstheoretisch deswegen interessant, weil durch die Inkorporierung motorischer Abläufe auf dem Wege repetitiver Übungen Automatismen ermöglicht werden, die keiner reflexiven Zuwendung bedürfen, ohne dass deshalb Variation ausgeschlossen wäre. So schließen sich automatisches und kreatives Handeln nicht mehr aus, zwei Handlungsmodi, deren vermeintlicher Gegensatz für die handlungstheoretische Erklärung des Improvisierens bislang ein schwer zu lösendes Problem darstellte. Dabei werden die Grenzen und Unterschiede zwischen bewusster und unbewusster Wiederholung fließend bzw. irrelevant, da etwa bewusste Wiederholung zu Hypnose- oder Trancezuständen führen kann. Wiederholung ermöglicht musikalische Abstimmung beim Improvisieren in dem Sinn, dass der Musiker, indem er eine »Äußerung« wiederholt, seinen Mitmusikern – und auch dem Publikum – die Möglichkeit gibt, diese Sequenz wiederzuerkennen und daran anzuknüpfen. Nehmen wir das SchlippenbachTrio (Alexander von Schlippenbach am Klavier, Evan Parker am Saxophon und Paul Lovens am Schlagzeug) als Beispiel: Indem Alexander von Schlippenbach eine Sequenz am Klavier wiederholt, ermöglicht er Evan Parker, sie zunächst zu erkennen13 (Tonhöhe, Rhythmus etc.) und dann mit dem Saxo13 Die gleiche Erkennungsfunktion sieht Kivy (1993: 352) für die Wiederholung in der Musik, jedoch auf die Aufführung komponierter Musik und ihr Publikum bezogen: »Musical repeats, then, perform an obvious and vital function in that 202

ABSTIMMUNGSPROZESSE IM FREE JAZZ

phon zu »wiederholen«, das heißt: ihn nachzuahmen. Die Nachahmung von Parker enthält zwangsläufig nicht nur eine Repetition, sondern auch eine unvermeidbare Variation der »Originalsequenz« Schlippenbachs, da er ein anderes Instrument spielt als der Klavierspieler. Schlippenbach (oder Lovens) wiederum ahmt eine Sequenz Parkers nach usw. So bleibt die Musik in Bewegung, entwickelt sich weiter. Dass Wiederholung und Erfindung ein und dasselbe Phänomen sind, wurde schon von dem französischen Soziologen Gabriel Tarde (1895/2009) Ende des 19. Jahrhunderts erkannt: »Das Moment der Erfindung ist bei Tarde auch in die Bewegung der Wiederholung eingelassen: Wiederholungen mögen noch so monoton anmuten – es gibt dennoch keine Wiederholung ohne ein Mindestmaß an Veränderung, die gerade durch die Tatsache des Wiederholtwerdens zustande kommt« (Borch/Stäheli 2009: 16). Wiederholung und Erfindung lassen sich also nicht voneinander trennen. Nachahmung als die Wiederholung der Handlung eines Mitspielers ermöglicht Abstimmung, denn sie knüpft an einer konkreten »Äußerung« des Gegenübers an. Damit mache ich aus seiner Äußerung »unsere« Äußerung und aus Agieren »Inter-Agieren«. Darüber hinaus entsteht durch Nachahmung ein Handlungsmuster und somit der Keim einer Interaktionsordnung. Wiederholung und Nachahmung ermöglichen jedoch nicht nur Ordnung, sondern auch Wandel: Da keine Nachahmung eine genaue Repetition dessen sein kann, was sie wiederholt, ist Variation immer in der Wiederholung enthalten. Somit fungiert das Phänomen der Repetition als Ordnungsstabilisator und gleichzeitig als Erzeuger von Wandel. Indem sich Interaktionsmuster gleichzeitig wiederholen und verändern, lösen sie sich immer wieder auf. Tarde betrachtet Wiederholung und Nachahmung als gesellschaftsfundierend. Gesellschaft ist für ihn ein Nachahmungsphänomen (vgl. Borch/Stäheli 2009: 9). Aber auch Negation von Wiederholung gehört für Tarde zum Begriffsumfang von Wiederholung, denn die Negation der Wiederholung verbreitet gleichwohl das ursprüngliche Motiv, indem sie sich darauf bezieht. Allerdings untersuchte Tarde in diesem Zusammenhang nicht die Relation von Körper und Nachahmung, die ein zentrales, Sozialität stiftendes Moment darstellt. Nachahmung dient der symbolischen Überwindung von Subjekt- und Körperbarrieren, insofern ich das Gleiche mit meinem Körper erzeuge/erzeugen kann, was du mit deinem Körper erzeugst. In Anlehnung an Canettis Begriff der Verwandlung betrachtet Lüdemann (vgl. Lüdemann 2009: 115) Nachahmung als die Verkörperung des Fremden im Material der eigenen Existenz und somit als den einzigen wahren Zugang zum anderen Menschen. Nachahmung liefert sothey are the composer’s way of allowing us [...] to retrace our steps so that we can fix the fleeting sonic pattern.« Auch für Schütz (1976: 46–67) findet die Identifizierung einer musikalischen Tonsequenz als Einheit (theme) auf der Basis von continuance und repetition statt. 203

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mit eine Basis für eine körperliche Mikrofundierung des Sozialen, deren Potenzial für die Erklärung sozialer Ordnung es noch auszuschöpfen gilt.

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Andere Form – anderer Rahmen. Körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung in Arbeitsorganisationen STEPHANIE PORSCHEN

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit körper- und leibbezogener Kommunikation in der Arbeitswelt. Hierbei handelt es sich um eine ›stille‹ Form der Kommunikation, mit der zahlreiche Abstimmungserfordernisse in Unternehmen, sei es in der Produktentwicklung oder in laufenden Prozessen bei Produktion und Dienstleistung, bewältigt werden.1 Welche Rolle spielt hier körpervermittelte bzw. leibliche Kommunikation? Wird eine solche – nicht vordergründig verbale – Kommunikation überhaupt wahrgenommen und darüber hinaus auch noch akzeptiert? Können Konzepte wie das der leiblichen Kommunikation (Schmitz et al. 2002) zu einer Erklärung für ›stumme‹ Abstimmungsprozesse in der Arbeit beitragen? Und welche Rolle spielen Gegenstände bei diesen Prozessen? Es geht in diesem Beitrag also um die Beleuchtung einer für das Funktionieren von Arbeitsprozessen relevanten anderen Form der Abstimmung als die in Arbeitsbereichen normalerweise in den Blick genommene diskursive Koordinierung (vgl. Braczyk/Schienstock 1996: 293–294).2

1

2

So wie in der Lebenswelt greifen auch in der Arbeitswelt verschiedene Formen der Kommunikation zur gegenseitigen Verständigung. Neben der verbalen Kommunikation wird hier häufig auf nonverbale Kommunikation im Sinne von Gestik, Mimik, Körpersprache und dergleichen verwiesen. Im Zuge der immer wichtiger werdenden Repräsentation bei direkt personenbezogenen Dienstleistungen, bei der Vermarktung von Produkten oder auch der eigenen »Vermarktung auf dem Arbeitsmarkt« (vgl. Bröckling 2007) spielt darüber hinaus die visuelle Kommunikation als ästhetische Vermittlung von Gesundheit und Kompetenz eine zunehmende Rolle. Diskursive Koordinierung bezeichnet die typischerweise verbal vermittelte Kooperation und Kommunikation im Rahmen von formalen Gremiengesprächen wie Meetings. Diese gelten in der einschlägigen Forschung wie auch in den Un207

STEPHANIE PORSCHEN

Anhand der einschlägigen Diskussion in der Arbeits- und Industriesoziologie wird zunächst reflektiert, wie es um die Erforschung von körper- und leibbezogener Kommunikation im Feld industrieller Arbeit bestellt ist (Abschnitt 1). Hier wird eine Lücke diagnostiziert. Das nun vorgestellte Konzept der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation und Kommunikation erscheint geeignet, diese Lücke zu schließen. Es folgt eine Darstellung der charakteristischen Merkmale dieses Ansatzes, die denen einer formellen planungsgeleiteten Kooperation und Kommunikation gegenübergestellt werden (Abschnitt 2). Exemplarische Szenen von Abstimmungssituationen in einem Industrieunternehmen verdeutlichen diesen Unterschied. Sie zeigen aber vor allem auch die Unterschiede der dabei jeweils auftretenden körper- und gegenstandsvermittelten Kommunikation (Abschnitt 3). Im Anschluss daran wird die Abhängigkeit der die Leiblichkeit und Stofflichkeit berücksichtigenden informellen und erfahrungsgeleiteten Kommunikation von den Strukturen und der Atmosphäre in der Organisation betrachtet. Anhand von Ausführungen zu einem anderen Rahmen soll näher erläutert werden, welche organisatorischen Rahmenbedingungen für das Gelingen dieser Form der Kommunikation geeignet erscheinen (Abschnitt 4). Abschließend wird die Brücke von der körper- und gegenstandsvermittelten Kooperation und Kommunikation im industriellen Arbeitskontext zu den gesellschaftlichen »Laborsituationen« Sport, Tanz und Musik geschlagen und deren Bedeutung in den verschiedenen Feldern resümiert (Abschnitt 5).

1 Arbeits- und Industriesoziologie: Auf dem Weg zur Analyse körper- und gegenstandsvermittelter Kooperation und Kommunikation? Im folgenden Abschnitt wird näher darauf eingegangen, ob und inwieweit »andere« Kommunikationsformen jenseits der diskursiven Koordinierung – also körper- und gegenstandsvermittelte – im Rahmen der Arbeits- und Industriesoziologie sowie einschlägiger Forschungsdisziplinen berücksichtigt werden. Seit der Durchsetzung des Taylorismus ist in der industriellen Arbeit die Trennung zwischen geistiger Planung und operativer Durchführung obligatorisch. Abstimmungsarbeit bzw. Koordination wird hier in der Regel mit Planung gleichgesetzt. So oblag die Koordination der arbeitsteilig organisierten Arbeit offiziell lange Zeit dem Management. In arbeits- und industriesoziologischen Untersuchungen geriet deshalb bis in die 1980er Jahre im Wesentlichen nur die verbale Kommunikation der planenden Bereiche in den Blick.

ternehmen selbst als vorherrschende und anzustrebende Abstimmungsform (Bolte et al. 2008: 20ff.; vgl. unten Abschnitt 2). 208

ANDERE FORM – ANDERER RAHMEN

Die operative Ausführung insbesondere von Produktions- und Verwaltungstätigkeiten wurde dagegen als weitgehend abstimmungsbereinigt begriffen. Einfache Beschäftigte müssen nicht kooperieren – sie müssen lediglich ausführen, so die vorherrschende Vorstellung. Damit wurde vielen Bereichen keine Notwendigkeit zu Kommunikation und Kooperation zugesprochen und es wurden kaum Untersuchungen zu einer dort eventuell vorliegenden anderen Form der Kommunikation angestrebt. Ein Blick auf die Kooperationsforschung bestätigt dies: Die wenigen Untersuchungen zu Kommunikationsanforderungen im »Shop-Floor-Bereich« identifizieren Kooperation und Kommunikation als über das Management oder über die Maschine vermittelt. Beispielsweise stellte Konrad Thomas in den 1960er Jahren die Erledigung und Umsetzung geplanter Aufgaben durch Arbeiter als von Kooperation bereinigt dar. Wenn tatsächlich eine Kooperation zwischen Entwicklung und Produktion erforderlich schien, dann sollte sie dem Autor zufolge über die Managementebene geregelt werden, aber nicht auf der Ebene derjenigen, die diese Tätigkeiten wirklich ausführen (Thomas 1964). In einem anderen frühen – 1964 von Popitz, Bahrdt und anderen herausgegebenen – Werk zur Kooperation in der Industriearbeit werden Formen der Zusammenarbeit beschrieben, die durch technische Anlagen definiert und vermittelt werden (Popitz et al. 1964). Herausgearbeitet wurde hier aber keine Interaktion mit der Maschine, die eine körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung erforderlich macht, sondern eine durch die technische Anlage determinierte »gefügeartige Kooperation«. In weiteren Untersuchungen aus den 1970er Jahren, wie der von Horst Kern und Michael Schumann, ist von einer »linienartigen Kooperation« am Band die Rede. Auch eine »kolonnenartige« Kooperation wird hier vorgestellt, die ebenfalls über technische Anlagen hergestellt wird (Kern/Schumann 1970). Erst in den 1980er Jahren wurde die Kooperation zwischen verschiedenen Berufsgruppen systematisch thematisiert, beispielsweise von der »Berliner Projektgruppe Automation und Qualifikation«. Von Interesse schien seitdem, wie Kooperation zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen gelingen kann (PAQ 1987; vgl. Bolte 2004: 47ff.). Eine körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation zur Koordination, Abstimmung und vor allem grundsätzlichen Verständigung spielt in all diesen Studien keine Rolle. Körperlich-gegenständliche Abstimmungsarrangements, wie sie in den Fabriken beobachtet wurden, galten als der verbalen Kommunikation unterlegene Handlungsformen und nicht als eigenes Potenzial. In späteren Untersuchungen wie denen der PAQ-Gruppe werden zwar Bedingungen für eine gemeinsam geteilte Sicht auf den Arbeitsgegenstand zum Thema. Wie diese körper- und gegenstandsvermittelt hervorgebracht wird, bleibt allerdings außen vor. Fündig wird man dagegen außerhalb der Arbeits- und Industriesoziologie. Hinweise auf eine körperlich-gegenständliche Kommunikation lassen sich 209

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beispielsweise in den »Workplace Studies« der 1990er Jahre finden. Darin wird das Arbeitshandeln in Koordinationszentren des Verkehrswesens und der Flugsicherung oder in U-Bahn-Leitstellen sowie in Notrufzentralen im Rettungswesen beschrieben. Die Studien machen auf eine Vielzahl sowohl sprachlicher als auch nonverbaler Mittel aufmerksam, mit denen die wechselseitige Abstimmung der Arbeitskräfte erfolgt. Es wird herausgestellt, dass das vorrangige Arbeitsmittel I&K-System nicht ausreicht, um die Koordination zu gewährleisten, und die Organisation auf Interaktionen ihrer Mitarbeiter von Angesicht zu Angesicht angewiesen ist. So wird in den Workplace Studies auch nicht-formalisiertes kooperatives Handeln berücksichtigt (zum Beispiel bei Heath/Luff 1992; Knoblauch 1996; Potthast 2007). Das äußert sich beispielsweise darin, dass handelnde Personen ihre Kollegen mittels Blickkontakten, Körperdrehungen oder Variationen der Sprechgeschwindigkeit auf besondere Situationen aufmerksam machen. Mit dem Konzept der leiblichen Kommunikation von Hermann Schmitz lässt sich die hierbei wirksam werdende stillschweigende Verständigung erklären (Böhle/Fross 2009). Körperhaltungen, Stimme, Blicke und Bewegungen unter den Kollegen stellen leibbezogen spürbare Qualitäten dar. Allein an Aktionen und Reaktionen ahnen Mitarbeiter beispielsweise einer Leitstelle, was los ist. Gebärden, zielgerichtete Eigenbewegungen und Blicke werden registriert und gegebenenfalls als Handlungsaufforderung verstanden. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe beziehen sich leiblich aufeinander, eine wechselseitige »Einleibung« (Schmitz 1985: 88), die zum Messfühler für die gegenseitige Abstimmung des Verhaltens wird. Damit erfassen die in einem Raum agierenden Interaktionspartner die impliziten Bedeutungszusammenhänge der Arbeitssituation intuitiv-spürend. Diese leiblich-spürende Vereinigung ist sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Gegenständen möglich, wenn die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Gegenüber gerichtet wird. Im Fall der ›Einleibung‹ von Gegenständen ist an Phänomene zu erinnern, wie sie Maurice Merleau-Ponty und Michael Polanyi beschrieben haben: Akteure werden »zum bearbeiteten Ding« (Merleau-Ponty 1966) und haben ein »fokales Bewusstsein« (Polanyi 1962: 55). Richard Sennett beschreibt derartige Phänomene als besondere Verbundenheit und Selbstvergessenheit im Bearbeitungsvorgang. Wenn wir uns nicht mehr unser selbst bewusst sind und auch nicht unseres körperlichen Selbst, sind wir zu dem Ding geworden, an dem wir arbeiten (Sennett 2008: 234). Durch am eigenen Leib spürbare Bewegungssuggestionen wird dann letztlich die »nonverbale« – von außen besehen »stumme« – Abstimmung zwischen den Interaktionspartnern ermöglicht. Wie am Beispiel einer Leitstelle zur Überwachung des U-Bahn-Verkehrs deutlich wird, spielen darüber hinaus aber auch die Anzeigen auf den Überwachungsmonitoren eine zentrale Rolle für die Koordination der Handlungen in der Leitstelle. Für die Berücksichtigung von Arbeitsgegenständen als im Koordinationsprozess eigenständig mit210

ANDERE FORM – ANDERER RAHMEN

wirkende Akteure zeigen sich in dem Ansatz der leiblichen Kommunikation allerdings nur sehr indirekte Hinweise. Direkt berücksichtigt wird die Rolle der Arbeitsgegenstände für Abstimmungssituationen dagegen in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zur empraktischen Kommunikation in den 1990er Jahren (vgl. Habscheid 2001). In diesen wird bei der Beobachtung eines computergestützten Arbeitssettings festgestellt, dass bei der Zusammenarbeit von zwei oder mehr Anwesenden am Computer gleichzeitig Ziele und Handlungen koordiniert werden und handlungsbegleitend »empraktisch« über die Problembe- und -verarbeitung gesprochen wird. Die in den Arbeitssituationen konstruierten Bedeutungen hängen dabei stark von den Ordnungsleistungen ab, die die Interagierenden am Arbeitsplatz »lokal« in jedem Augenblick durch Hören, Sprechen, Wahrnehmen und Handeln (audiovisuell) erbringen. Die Aufmerksamkeit richtet sich in solchen Situationen nicht primär auf den Partner, sondern auf die gemeinsame Praxis wie die Arbeit am Computer, der Maschine, der Skizze etc. Dabei ist manchmal Sprechen und manchmal Schweigen erforderlich. Die Gespräche sind also in die außersprachliche Handlung verflochten und beziehen daraus ihren Sinn. Habscheid stellt heraus, dass es sich bei einem solchen ›empraktischen Sprechen‹ nicht immer um ganze Gesprächssequenzen handelt, sondern oft nur um freistehende Äußerungen, die in einen praktischen Kontext eingebettet sind (ebd.: 18ff.). Bei der gemeinsamen Problemlösung an Objekten besteht lediglich eine »rudimentäre Kommunikationsverpflichtung« – sofern Kommunikation mit verbaler Kommunikation gleichgesetzt wird (vgl. Püschel 1993). Der praktische Kontext, in den das empraktische Sprechen eingebunden ist, kann sowohl eine hochgradig kommunikative Tätigkeit sein, etwa Symbolverarbeitung, als auch eine eher manuelle Praxis wie beispielsweise die Reparatur einer Maschine (vgl. Habscheid 2001: 21).3 Es lässt sich feststellen, dass spätestens seit den 1990er Jahren mit der Einführung neuer Produktionskonzepte und veränderter Arbeitsformen im Zeichen von Dezentralisierung und Selbstorganisation die Koordination der Arbeitsabläufe zunehmend auf die Schultern der Mitarbeiter verteilt wurde (vgl. Bolte et al. 2008). Damit kam es in der Arbeits- und Industriesoziologie (und natürlich auch der Organisationssoziologie) zu einer größeren Aufmerksamkeit gegenüber Kommunikation und Kooperation in Unternehmen (vgl. Böhle/Bolte 2002; Bolte/Porschen 2006). Wie allerdings bei der Bearbeitung von Aufgaben und Problemlösungen konkret – vor allem auch körper- und gegenstandsvermittelt – kooperiert wird, bleibt auch in den meisten neueren Ansätzen zur Ko3

In weiteren soziologischen Ansätzen, die den Einfluss von Gegenständen auf soziale Handlungen berücksichtigen, wird der Akzent anders gesetzt, beispielsweise bei der von Karin Knorr-Cetina beschriebenen Sozialität mit Objekten. Sie arbeitet an einer Überwindung herkömmlicher Theorien des Sozialen und beschreibt »postsoziale Beziehungen« (vgl. Knorr-Cetina 2007: 294f.). 211

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ordination bei Selbstorganisation ausgeblendet. Eine disziplinübergreifende Befruchtung, wie sie oben angedeutet wurde, bietet sich also an.

2 Andere Form betrieblicher Abstimmung: Informelle erfahrungsgeleitete Kooperation und Kommunikation Sowohl leibliche als auch gegenstandsvermittelte Kommunikation wird im Konzept der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation und Kommunikation berücksichtigt. Das in einem Forscherteam am ISF München auf der Grundlage verschiedener empirischer Arbeiten entwickelte Konzept beschreibt Selbstabstimmung in Unternehmen im Rahmen konkreter Arbeitsprozesse. Selbstabstimmung in laufenden Arbeitsprozessen fand bisher wenig »offizielle« Berücksichtigung – und zwar weder in der Forschung noch in der Organisationsgestaltung. Das liegt daran, dass trotz des Postulats der Selbstorganisation in der Managementlehre die Vorstellung der Trennung zwischen Planen und Ausführen noch nicht wirklich überwunden ist. Koordination gilt als am Managementhandeln zu orientierende planungsgeleitete Abstimmungsarbeit, die diskursiv und typischerweise im Rahmen von Meetings stattfindet. Ob in der Projektarbeit als Teamgespräche oder in der Produktionsarbeit als Arbeitsrunden – die Vielfalt der Meetings ist groß. Die dort stattfindenden planungsbezogen ausgerichteten Gremiengespräche (diskursive Koordinierung) gelten als probates Modell von Abstimmungsarbeit (vgl. Böhle/Bolte 2002; Porschen 2002). Das Konzept der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation und Kommunikation ergänzt die an abstrakter Planung ausgerichtete Abstimmung in den Gremiengesprächen (Meetings) und beschreibt einen bei der Bewältigung konkreter Arbeitssituationen wesentlichen Abstimmungsmodus, bei dem die Situationsgebundenheit der Kommunikation in Rechnung gestellt wird und sowohl leibliche als auch gegenstandsvermittelte (empraktische) Kommunikation berücksichtigt werden. Die jeweiligen Besonderheiten werden in der nachfolgenden grafischen Gegenüberstellung deutlich. Natürlich stellt sich in der Regel keine der beiden Seiten in Reinform dar. Wie zahlreiche empirische Erhebungen zeigen, gibt es aber sehr wohl Ausprägungen von Abstimmung, die eher in die eine oder eher in die andere Richtung tendieren (vgl. Bolte 2000; Porschen 2002; Bolte/Porschen 2006; Neumer 2007). Bei der planungsbezogenen Kooperation und Kommunikation in Gremien findet eine zeitliche und örtliche Festlegung des Gesprächs statt, das von der konkreten Problemsituation abgekoppelt ist. Es herrscht eine Fach- und Abteilungsorientierung vor, mit der mehr die gegenseitige Abgrenzung als das ge212

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meinsame Eintauchen in die Situation begünstigt wird. Es wird relativ abstrakt über einen Problemzusammenhang, ein Ziel, ein Koordinationsproblem etc. gesprochen. Die Planungsunterlagen dienen als Quelle für Hintergrundinformationen, Festlegungen, Anweisungen. Die bei konkreten Problemlösungshandlungen koordinierend wirkende körperliche bzw. leibliche Kommunikation – für die der umfassende Gebrauch von Körper und sinnlicher Wahrnehmung wesentlich ist – soll im Grunde ausgeschaltet werden. Last but not least arbeiten Untersuchungen heraus, wie sich Interaktionspartner in Meetings häufig als Funktions- und Positionsträger begegnen und dem Geltung verschaffen, was nicht immer dem Bedürfnis nach einer Begegnung von Experten verschiedener Bereiche auf gleicher Augenhöhe entspricht (vgl. Neumer 2007; Bolte et al. 2008).

Abbildung 1: Planungsbezogene Kooperation in Gremien und informelle erfahrungsgeleitete Kooperation Im Modus der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation steht die unmittelbare Problemlösung im Vordergrund – denn genau dazu wird die Kooperation situativ, anlass- und problembezogen hergestellt. Dieser Abstimmungsmodus beschreibt damit eine unmittelbar »vor Ort« – das heißt im Idealfall in einem räumlichen Zusammenhang zu den zu lösenden Problemen – stattfindende Kooperation und Kommunikation. In diesem Rahmen nehmen die Beschäftigten direkten Bezug auf den Gegenstand und mit Fokus darauf auch auf den Interaktionspartner. Sie tauchen in einen gemeinsamen Erfahrungs- und Erlebnisraum ein. Der Einbezug der Maschinen, der technischen Anlagen etc. wird dabei auch körperlich wahrgenommen. Abläufe werden als stimmig, rund oder kreischend beschrieben, Störungen sogar als schmerzhaft. So tritt bei sich anbahnenden Störungen bei manchem Werker ein kribbeliges 213

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Gefühl auf. Auch bei Projektarbeiten verspüren Ansprechpartner beim gemeinsamen explorativen Planen zuweilen ein mulmiges Gefühl, ein Unwohlsein, die Ahnung, dass etwas aus dem Ruder läuft. In der direkten Interaktion am Ort des Geschehens spüren die Beschäftigten Problemstellungen also regelrecht körperlich und sinnlich nach (vgl. Böhle/Milkau 1988). Der Gebrauch von Körper und Sinnen ist sowohl für die Interaktion mit dem Objekt als auch für die Bezugnahme der Interaktionspartner untereinander durchaus funktional. Damit wird eine dialogisch-explorative Bezugnahme möglich. Sie ermöglicht es den Interaktionspartnern, sich in den anderen hineinzuversetzen und beispielsweise Gesprächspausen als Aufforderung zum Einhaken bzw. als Signal des Verschnaufens wahrzunehmen. Eine Gesprächspause kann auch ein Signal dafür sein, sich in dieser Zeit ganz dem Arbeitsgegenstand zu widmen, sich diesen sozusagen »einzuleiben«. Das ist oftmals ein Schlüssel, um dem Problemzusammenhang auf den Grund zu kommen. Wenn die Gesprächspartner spürend und fühlend vorgehen und solchermaßen sowohl den Gegenstand als auch ihre Gesprächspartner einbeziehen, wird leiblich bzw. köper- und gegenstandsvermittelt kommuniziert. Die Rolle von Körper und Arbeitsgegenständen in der Kommunikation (Leiblichkeit und Stofflichkeit) kann in den oben aufgezeigten unterschiedlichen Abstimmungsmodi mit unterschiedlichen Akzenten versehen sein. Hier wird die These vertreten, dass sie bei der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation und Kommunikation eine sichtbare bzw. offensichtliche funktionale Rolle einnehmen, während sie bei der planungsbezogenen formellen Kooperation und Kommunikation der Intention nach ausgeschaltet werden sollen, dennoch aber subtil mitwirken. Dahinter steht die Feststellung, dass nicht nicht (körperlich/leiblich) kommuniziert werden kann – der Körper nimmt immer Einfluss auf die Interaktionssituation.4 Anhand verschiedener Szenen von Abstimmungssituationen aus einem produzierenden Industriebetrieb soll darauf etwas näher eingegangen werden.

3 Szenen kooperativen Arbeitshandelns – Funktionen körper- und gegenstandsvermittelter Kommunikation Im Folgenden werden drei typische Szenen aus einem produzierenden Industriebetrieb vorgestellt, um die oben gegenübergestellten Formen der Kooperation und Kommunikation und die jeweilige Rolle der körper- und gegenstandsvermittelten Kommunikation zu verdeutlichen. Die ersten beiden Sze-

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Diese Anmerkung ist an das erste der fünf kommunikationspsychologischen Axiome Watzlawicks angelehnt (Watzlawick et al. 2000).

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nen zeigen die als typisch vorgestellte diskursive Koordinierung in Teamgesprächen und die darin vorherrschende planungsbezogene Kooperation und Kommunikation auf, bei der die Wirkung des Körpers und der Gegenstände lediglich unterschwellig zum Tragen kommt. Die dritte Szene beschreibt ein Gespräch am Arbeitsgegenstand, bei dem die körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation deutlich hervortritt und gewissermaßen »ihren Platz eingeräumt« bekommt.5 Szene 1: Ein regelmäßiges Teamgespräch Szene 1 zeigt ein regelmäßig stattfindendes Teamgespräch zwischen Gruppensprechern. Solche Teamgespräche werden häufig zu einem festen Zeitpunkt in der Woche durchgeführt. Die Beteiligten sitzen im Kreis zusammen und äußern sich zu Koordinationsaufgaben und fachlichen Inhalten. Der Sitzplatz eines Herrn in der Runde hat eine besondere Position, dieser Teilnehmer bezieht sich bei seinen Ausführungen auf die vor ihm liegenden Planungsunterlagen. Offensichtlich muss er anliegende Aufgaben koordinieren. Die Vermutung, dass es sich hierbei um den Team- oder Gruppensprecher handelt, liegt nahe. Er und die übrigen Meetingteilnehmer sitzen relativ »fixiert« auf ihren Stühlen, sie haben gewisse Bewegungsmöglichkeiten mit Kopf, Hals, Rumpf sowie Armen und Händen. Ein Anwesender nutzt diesen Bewegungsradius, um mit gerichteten Kopfbewegungen seine Aufmerksamkeit bzw. Bezugnahme anzudeuten bzw. um eine bestimmte Vorgehensweise – wohl ob seines Einverständnisses – »abzunicken«. Ein älterer Protagonist bezieht sich körpersprachlich (Gerichtetheit des Körpers, Blickkontakt, gerichtete Gestik) direkt auf den Gruppensprecher und bringt sich zudem verbal in die Abstimmungssituation ein. Ein dritter Protagonist zeigt eine unbeteiligte Körperhaltung. Er verbleibt über Planungsunterlagen gebeugt, ohne sich weiter aktiv einzubringen (vgl. Porschen/Bolte 2005: 7, Filmsequenz 2). Jörg Potthast (2005) hat diese Szene als Handlungskoordination wahrgenommen und gefragt, wie Situationen zur Problematisierung und Rechtferti5

Vor dem dieser Publikation zugrunde liegenden Workshop wurde die Multimedia-CD »Zugänge zu kooperativer Arbeit« (vgl. Porschen/Bolte 2005) zur Interpretation verschiedener Abstimmungssituationen an die Teilnehmer versandt. Diese Multimedia-CD mit Begleitbuch war 2005 selbst auf der Grundlage eines Workshops entstanden, bei dem die Teilnehmer bereits vorab Filmsequenzen als Rohmaterial zur Interpretation zur Verfügung gestellt bekamen. Drei Sequenzen werden im Text illustrativ geschildert. 215

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gung von Problemstellungen initiiert und gehandhabt werden. Auf dem Hintergrund dieser Betrachtungsfolie legt er dar, dass der Gruppensprecher seine Autorität aus dem vor ihm geöffnet auf dem Tisch liegenden Ordner bezieht. Diesen physikalisch vorliegenden Arbeitsgegenstand – die Planungsunterlagen – beschreibt er als »äußere Ressource« des Gruppensprechers zur Rechtfertigung seiner Autorität. Der Gegenstand »Ordner« steht dabei für eine ingenieurtechnisch geprüfte und erprobte industrielle Ordnung. Diese äußere Ressource steht im Kontrast zu der »inneren Ressource« des »freien« Gestikulierens, das der ältere Mitarbeiter einsetzt. Dieser fällt dem auf den Planungsordner bezogenen Gruppensprecher ins Wort. Er spricht gestenreich, aber ohne Bezug auf die Unterlagen. Damit erscheint sein Sprechen offener und wirkt dynamischer. Er beruft sich auf sein inkorporiertes Erfahrungswissen (Potthast 2005). Körper und Gegenstände treten in dieser Kooperationssituation – die der planungsgeleiteten Kooperation in Gremien zuzuordnen wäre – somit weniger als Instanzen der Vermittlung, sondern eher als je unterschiedliche Ressourcen für Deutungsmacht (Planungsordner versus Gesten und Stimme) in den Vordergrund. Szene 2: Gruppengespräch bei der Schichtübergabe Szene 2 zeigt eine schichtübergreifende Kooperation zwischen Gruppensprechern, die ebenfalls in einer »Gremienrunde« im Planungsbüro zusammensitzen. Auch hier bringen sich zwei der vier anwesenden Teilnehmer in den Abstimmungsprozess ein. Die Teilnehmer der Runde wirken freier als die in Szene 1 beschriebenen, sie rauchen beispielsweise Zigaretten. Das ist im Gegensatz zum vorhergehenden Gruppengespräch wohl eher möglich, da sich hier Gruppensprecher als hierarchisch gleichgestellte Teilnehmer treffen. Ob sich die Mitarbeiter auch auf gleicher Augenhöhe treffen, gilt es zu hinterfragen (vgl. Porschen/Bolte 2005: 7, Filmsequenz 3). Wie Nagler (2005) bei der Interpretation dieser Situation herausgestellt hat, zeigt die Körpersprache »Übergriffshandlungen« und damit asymmetrische Machtverhältnisse: Sprecher 1 beginnt fast aggressiv, während Sprecher 2 sich erst einmal zurückhält. Mit nachhaltigem Aufforderungscharakter sagt Sprecher 1 zu Sprecher 2: »Setz Dich her mit dem Ding.« Er klopft dann auch noch auf die Unterlagen seines Sitznachbarn und nimmt sich einfach ein Blatt heraus. Sprecher 2 zeigt sich nicht weiter irritiert und weicht weder zurück, noch erwidert er die Geste – was auf eine gewisse Vertrautheit hinweisen könnte. Vielleicht haben die Beteiligten eine Art Spiel etabliert, um sich in die Situation einzubringen. Sie wirken auf eigenartige Weise aufeinander bezogen und fallen sich nicht wie in dem vorherigen Gruppengespräch ins Wort. Man sitzt einfach nebeneinander. Nagler hat diese Runde bei der Auswertung verschiedener Kooperations-

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situationen als »Männerspiel« gedeutet, bei dem jeder seine Rolle gefunden zu haben scheint (Nagler 2005). Auch hier spielen die in Gremiengesprächen als Bezugsobjekte hervortretenden Planungsunterlagen eine Rolle. Die jeweils davor sitzende Person widmet sich den Planungsunterlagen und hält Notizen darin fest. Ansonsten verweist Sprecher 2 zur Demonstration des Gemeinten mit einem Fingerzeig in die Werkhalle auf ein »da vorne stehendes Auto« – wodurch Sprecher 1 tatsächlich Genaueres zum besprochenen Sachverhalt zu erfahren scheint. Die Abstimmung der Übergabe wird prinzipiell aber über diskursive verbale Kommunikation mit klaren Anweisungen geregelt (»Die Hinterachsen müssen neu eingebaut werden«). Eine weitere Orientierung oder Verständigung wird hier als Wiederholung des Gesagten – »Grounding« (vgl. Moser 2005) – oder Hinterfragung verbal initiiert (»Die Vorderachsen sollen nicht ausgewechselt werden?«). Über den Körper werden in diesem Beispiel eher Rituale eines »Männerspiels« als sachliche Unterstreichungen vermittelt. Ansonsten werden die Planungsunterlagen vor allem als Gedächtnisstütze genutzt. Die Teilnehmer setzen sie nicht als Vermittlungsobjekt für ihre Verständigung ein. Szene 3: Ein Gespräch am Arbeitsgegenstand In Szene 3 treffen Mitarbeiter zum Gespräch am Arbeitsgegenstand in einem »Try Out Room« zusammen. Hier kommt es zu einer handlungsbegleitenden Kommunikation unter Einbezug des Arbeitsgegenstandes, also zu »empraktischer Kommunikation«: Die Abstimmung über die Problembe- und -verarbeitung findet direkt an der Motorhaube unter Einbezug ihres Innenlebens statt. Die Beteiligten deuten permanent auf Teile in der Motorhaube, schrauben, drehen, sprechen und schweigen, während sie etwas demonstrieren. In diesem Prozess werden zum Teil nur verbale Andeutungen gemacht und unvollständige Sätze gebildet. Solche freistehenden Äußerungen können nur in der gemeinsam erlebten Situation mit konkretem Bezug auf den »gemeinsamen Gegenstand« begriffen werden. Die Körperhaltung und Gestik lässt sich hier im Gegensatz zu den Gremiensituationen als offener, explorativer, flexibler, dynamischer beschreiben. In der Situation sieht man die Mitarbeiter beweglich. Es findet ein lebendiger Prozess des 217

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Austauschs statt – wenn auch subtile Machtdimensionen zu beobachten sind (Körperzu- und -abgewandtheit der Werker untereinander). Die Interaktionspartner sind dem Arbeitsgegenstand nahe (vgl. Porschen/Bolte 2005: 7, Filmsequenz 4). Der Arbeitsgegenstand – in diesem Fall das Innenleben der Motorhaube – übernimmt die Rolle eines das Geschehen beeinflussenden QuasiAkteurs. Er spricht mit, als wäre er ein Subjekt, er wird zum »vermittelnden Dritten«. Er ist nicht wie die Planungsunterlagen auf ein »Fixier- und Rechtfertigungsinstrument« reduziert, sondern wird zum Bezugspunkt für alle Interagierenden.6 Es liegt nahe, bei Entwicklungsaufgaben mehr als bei reinen Planungsund Koordinationstätigkeiten von einem notwendigerweise offenen und explorativen Vorgehen auszugehen, bei dem Arbeitsgegenstände sinnvoll einbezogen werden (können und sollen). Die obigen Ausführungen zur empraktischen Kommunikation (vgl. Abschnitt 1) verdeutlichen die Eigenarten der Kommunikation beim ›An-der-Sache-dran-Sein‹. Ist die körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung nun einerseits, wie gezeigt, durchaus funktional, letztlich aber sozial geächtet? In den Szenen 1 und 2 als formellen planungsbezogenen Abstimmungen diente die körperund gegenstandsvermittelte Kommunikation und Kooperation weniger der inhaltlich-funktionalen Verständigung. Sie wurde hier eher als Unterstreichung der Befugnisse eingesetzt. In Szene 3, in der vor Ort am Gegenstand eine gemeinsame Klärung gesucht wird, fließt die körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation und Kooperation offensichtlich in die funktionale Abstimmung selbst ein. Das kann, muss aber natürlich nicht immer so sein. Da bei der Kommunikation in Meetings die Präsentation und Repräsentation (des Produkts, der Abteilung, des Selbst) in der Regel jedoch weitaus mehr in den 6

Natürlich kann auch ein Stück Papier zur Vergegenständlichung des gemeinsamen Gedanklichen werden – wie aus Untersuchungen zu gemeinsam angefertigten Skizzen oder zu »Paper Prototyping« bekannt ist (Hornecker 2005). Mit in Modellen geronnenen Gedanken liegen dann bereits haptisch greifbare Vergegenständlichungen vor. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der damit in der weiteren Bearbeitung des Gegenstands einsetzbare Tastsinn Sinneseindrücke liefert, die über auditive und visuelle hinausgehen. Aus Richard Sennetts Ausführungen lässt sich ableiten, dass gerade dieser Sinn besondere kommunikationsbezogene Qualitäten besitzt: »In der Geschichte der Philosophie gibt es eine lange Debatte über die Frage, ob der Tastsinn dem Gehirn eine andere Art von Sinneseindrücken liefert als das Auge. Es scheint, dass der Tastsinn aufdringliche ›ungebundene‹ Daten, das Auge dagegen Bilder liefert, die in einen Rahmen eingebunden sind« (Sennett 2008: 205). Für die Verbesserung der Kommunikation und Kooperation mit den Kunden ist in neuen Entwicklungskonzepten der Softwareindustrie (»agile Entwicklungsprozesse«) die Vergegenständlichung in Form von Prototyping ein großes Thema. Den Kunden sollen jeweils funktionsfähige Zwischenstände vorgezeigt werden. Über deren Demonstration lässt sich am besten überprüfen, ob man bei der Entwicklung tatsächlich auf dem richtigen Weg ist (vgl. Cockburn 2003).

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Mittelpunkt gerückt werden als bei der problembezogen stattfindenden informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation (vgl. Bolte et al. 2008), wird hier die Annahme vertreten, dass die körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation im Rahmen der informellen erfahrungsgeleiteten Kooperation stärker in ihrer arbeitsbezogen funktionalen Rolle zu Tage treten kann. Im Rahmen der formalen planungsgeleiteten Kommunikation und Kooperation, bei der Körper und ›Dinge‹ eigentlich ausgeschaltet und nicht aktiv eingesetzt werden sollen, nimmt sie leichter eine verdeckte und manipulierende Rolle ein (Interessendurchsetzung). Im Sinne der geforderten Funktionalität der Kommunikation für den Arbeitsprozess wäre es demzufolge angemessen, dass die informelle Kooperation in Unternehmen unterstützt und gefördert wird. Das ist allerdings kaum der Fall. Praktiziert werden eine Formalisierung der (Selbst-) Abstimmung und eine Zurückdrängung des Informellen.

4 Anderer Rahmen für die Selbstorganisation betrieblicher Koordination In der betrieblichen Praxis gilt die informelle erfahrungsgeleitete Kooperation oftmals als allzu selbstverständlich, weshalb auch angenommen wird, dass sie ›einfach so‹ praktiziert wird. Das ist häufig ein Irrtum. Da ihr Wert nicht immer offiziell anerkannt ist, wird auch nicht in ihre Pflege oder ihren Aufbau investiert. Entweder wird sie durch den weit verbreiteten Planungsmythos und die damit einhergehende Meetingeuphorie zu ersetzen versucht, oder sie wird stillschweigend »vereinnahmt«, ohne Anerkennung zu erfahren. Damit sie sich entfalten kann, bedarf es jedoch gewisser Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für ihre Förderung und ihre Gestaltung. In Unternehmen ist für diese besondere selbstorganisierte betriebliche Koordination ein anderer Rahmen notwendig, als er mit der strikten formalen Aufteilung in Bereiche, Abteilungen und Funktionen mit ihren jeweiligen Zuständigkeiten gegeben ist. Dieser Rahmen muss über speziell eingerichtete Versuchsräume (Try Out Room) wie in dem obigen Beispiel hinausgehen. Dazu wurde schon einiges geschrieben (vgl. zum Beispiel Bolte/Porschen 2006; Porschen/Bolte 2007) – hier können lediglich ein paar Hinweise gegeben werden. Es reicht nicht aus, informelle erfahrungsgeleitete Kommunikation und Kooperation lediglich anzuerkennen. Ihr stehen die Macht der offiziellen Regelungen und zahlreiche betriebliche Faktoren wie Abteilungsegoismus bis hin zur individuellen Beurteilung der Arbeitsleistung entgegen. Dementsprechend bedarf es legitimierter Gelegenheitsstrukturen für solche Abstimmungsformen. Dabei ist zu beachten, dass die Abstimmung weiterhin als erfahrungsgeleitet informell bewertet wird – denn sie kann zwar unterstützt werden, lässt sich aber nicht von außen steuern, festlegen oder kontrollieren 219

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(vgl. Bolte/Porschen 2006: 67). Einem solchen Anspruch werden beispielsweise spezielle arbeitsorganisatorische und personalpolitische Kooperationsmodelle wie Tandem- oder Hospitationsmodelle gerecht. Das arbeitsorganisatorische Tandemmodell, die Bildung eines Tandems aus zwei Vertretern verschiedener Bereiche, dient insbesondere zur Verbesserung der Kooperation an den zwischen den Bereichen liegenden Schnittstellen. Mit dem offiziellen Charakter dieses Kooperationsmodells bekommen die beteiligten Kooperationspartner bessere Möglichkeiten, ihre unterschiedlichen Herangehensweisen, Prioritäten und Erfahrungen verstehen zu lernen. Durch die persönlich-bilaterale und langfristig-themenbezogene Zusammenarbeit wird es möglich, die über die diskursive Abstimmung hinausgehende körperund gegenstandsvermittelte Kommunikation aufzubauen: Die Ansprechpartner können sich bei Bedarf in der konkreten zu lösenden Situation direkt unter Einbezug des Arbeitsgegenstands aufeinander beziehen, ohne erst einmal diverse Barrieren aus dem Weg räumen zu müssen. Auf der Ebene der Personalpolitik ansetzende Hospitations- und Rotationsmodelle fördern die Möglichkeit zum Perspektivenwechsel, der mit dem Einsatz in anderen Bereichen »leibhaftig« erlebt werden kann. Über die Perspektive, die Arbeitslogik etc. des anderen Bereichs erfahren die Beteiligten dann nicht nur über Berichte, sondern sie bekommen diese durch ihre zeitweise Mitarbeit im anderen Bereich »vor Ort« mit allen Bezugsobjekten ganzheitlich mit. Es wird möglich, in verschiedene Situationen einzutauchen, den Rhythmus des anderen Bereichs erspüren zu lernen, die Handlungskoordination der Kollegen nachvollziehend zu begreifen. Somit bieten diese Kooperationsmodelle genauso wie beispielsweise das Tandemmodell Raum für körper- und gegenstandsvermittelte Abstimmung. Sie erlauben den Aufbau einer Nähe zu den Arbeitsgegenständen. Darüber hinaus ermöglichen sie eine selbstorganisiert auf den Weg zu bringende face-to-face-Kommunikation als Grundlage für die körpervermittelte (leibliche) Kommunikation. Noch direkter lässt sich die körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation mit dem aus der agilen Softwareentwicklung bekannten Kooperationsmodell »Pair Programming« unterstützen. Es wird häufig dazu eingesetzt, Know-how-Unterschiede zwischen Experten einer Disziplin, aber auch zwischen Experten verschiedener Disziplinen im laufenden Entwicklungsprozess abzubauen. Bei der Paarprogrammierung arbeiten beispielsweise zur Erstellung eines Quellcodes oder zur Durchführung eines Unit-Tests jeweils zwei »Softwerker« an einem Rechner. Die Partner schauen sich gegenseitig »auf die Finger«, sie kommentieren die Arbeit des anderen und bringen gegebenenfalls Ergänzungen ein. So wird es ihnen möglich, rechtzeitig Fehler – auf beiden Seiten der Kooperationsbeziehung – zu entdecken und diese gemeinsam zu korrigieren. Außerdem wird hier ein in den Arbeitsprozess eingebetteter, den Arbeitsgegenstand einbeziehender, sehr unmittelbarer empraktischer Wissensaus220

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tausch möglich. Die Paar-Programmierer können sich direkt vor dem Computerbildschirm empraktisch verständigen. Beim gemeinsamen Tun sehen sie, wo das Problem liegt, und können dieses dann auch gleich klären. Ein Entwickler meint dazu: »Es gibt nicht die Zeitverschiebung, die normalerweise entsteht, wenn einer eine Information von jemand anderem braucht« (Porschen 2009: 21). Das Lernen beim gemeinsamen Tun und die aktive Verschränkung der beiden Wissenswelten sowie der konkrete Bezug auf das Arbeitsergebnis des jeweils anderen sind entscheidende Potenziale des Pair Programming. Diese Art des Austauschs muss sich nicht auf ein eigens eingerichtetes Kooperationsmodell beschränken. Häufiger entsteht sie naturwüchsig, indem Mitarbeiter sich einen halben oder ganzen Tag mit jemandem zusammensetzen und sehen, wie der (oder die) andere beim Programmieren vorgeht, was als wesentlich erachtet wird, wie mit Fehlern umgegangen werden kann etc. Eine Programmiererin berichtet: »In den meisten Fällen ist es so, dass jemand auf Sie zukommt mit einer Fragestellung: ›Wie kann ich das und das lösen?‹ Und wenn Sie es nicht in zwei Sätzen erklären können, sagen Sie halt: ›Auf geht’s. Wir gehen bei Dir mal an den Arbeitsplatz und schauen uns das mal an‹« (Porschen 2009: 22). Gegenüber diesen naturwüchsigen Abstimmungen hat Pair Programming aber den Vorteil, offiziell anerkannt zu sein. Die in diesem Kooperationsmodell ermöglichte körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation wird so nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Eine Voraussetzung muss bei solchen Arbeitsszenarien allerdings erfüllt sein, wie es der Dirigent und Musikproduzent Christian Gansch für die Zusammenarbeit im Orchestergraben erkannt hat: Es bedarf des MiteinanderHarmonierens auf engstem Raum. Gansch schafft dafür in seinem Orchester organisatorische Voraussetzungen: Zwei Sitznachbarn, die sich ein Notenpult teilen und nicht harmonieren, dürfen und sollen das bei ihm offen ansprechen. Es wird dann innerhalb der Instrumentengruppe rotiert, bis sich nach einiger Zeit Paare zusammenfinden, die auf engem Raum gut miteinander arbeiten können (vgl. Gansch 2002). Beim Musizieren spielt die leibliche Kommunikation eine offensichtliche Rolle bis hin zu der Frage: »Kommt man sich in die Quere, oder schwingt man sich ein?« Die in diesem Abschnitt vorgestellten Kooperationsmodelle zeigen verschiedene Voraussetzungen und Möglichkeiten für die körper- und gegenstandsvermittelte Kooperation und Kommunikation in der Arbeit auf. Darüber hinaus ist in Unternehmen die Ausgewogenheit der betrieblichen Abstimmungskultur ein wesentlicher Schlüssel für die Nutzung dieser anderen Form der Abstimmung. Müssen die Mitarbeiter regungslos in Meetings verharren? Gibt es Zugänge zu anderen Bereichen im Unternehmen, zu den Werkstätten, vielleicht sogar zu Versuchsräumen? Hat der Betrieb eher offene oder geschlossene Türen? Schätzt das Unternehmen praktische Demonstration und Repräsentanten bildhafter Sprache ebenso wie Rhetoriker abstrakter Sprache? 221

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Werden die Mitarbeiter mit Aufgaben »zugeschüttet«, im Rahmen von Projektarbeit und Meetings »verschlissen« oder bleiben ihnen Freiräume und Gelegenheitsstrukturen für andere Formen der Kommunikation?

5 Körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation in Sport, Tanz, Musik – und Arbeit In diesem abschließenden Abschnitt wird die Rolle körper- und gegenstandsvermittelter Abstimmung in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern kursorisch verglichen. Es handelt sich also um den Versuch eines Brückenschlags zwischen Bereichen wie Sport oder Kunst und der (Erwerbs-)Arbeit. In den (Wettkampf-)Sport7 ist der Code Sieg/Niederlage eingeschrieben, der in den entsprechenden Abstimmungssituationen mit berücksichtigt werden muss. In der Jazz-Improvisation ist die permanente Abstimmung erklärtes Ziel der Konversation unter den Anwesenden (vgl. den Beitrag von Silvana Figueroa-Dreher in diesem Band). Bei der tänzerischen Kontakt-Improvisation ist eine wesentliche Voraussetzung, dass die Beteiligten dazu erst einmal »bei sich« sind (vgl. den Beitrag von Robert Gugutzer in diesem Band). Diese Charakteristika in den gesellschaftlichen Laborsituationen Sport, Musik und Tanz sind gar nicht so weit von den Anforderungen und Bedingungen entfernt, in deren Rahmen sich Beschäftigte mit den neuen (posttayloristischen bzw. postfordistischen) Arbeitsformen und -konzepten auseinanderzusetzen haben. Beschäftigte unterziehen sich im Anschluss an persönliche Zielvereinbarungsgespräche individuellen Leistungsbeurteilungen, um dann in den Unternehmen als High oder Low Performers gehandelt zu werden (vgl. Vormbusch 2008: 9f.).8 Die Offenheit der Abstimmung in der Jazz-Improvisation lässt sich im übertragenen Sinne ebenfalls gut mit modernen Arbeitssituationen vergleichen, in die Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit zurückgekehrt sind, was permanente Kommunikation erforderlich macht (vgl. Kühl 1998; Bolte et al. 2008). Und ohne Selbstbewusstsein und permanente Selbstdarstellung ist eine Karriere oder überhaupt Partizipation am qualifizierten Erwerbsleben kaum noch denkbar (vgl. Bröckling 2007). Wer dabei seine eigene Mitte verliert und seine Aufmerksamkeit nicht richtig zu lenken weiß, ist kaum vor Überforderung gefeit (vgl. Romhardt 2009). Brücken zwischen

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An der ersten der beiden Arbeitstagungen war Thomas Alkemeyer mit einem Beitrag über »Verkörperte Intelligenz. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden Handlungstheorie« beteiligt. Eine weitere im Umlauf befindliche Kategorisierung ist die in ›stars‹, ›workhorses‹ oder ›dead wood‹ (vgl. Vormbusch 2006).

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den verschiedenen »gesellschaftlichen Laborsituationen« lassen sich also leicht schlagen. Gilt das auch für die Rolle des Körpers und der Gegenstände im Abstimmungsprozess? Gibt es wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der körpervermittelten Kommunikation und der Rolle materieller und nicht-materieller Gegenstände in diesen verschiedenen Bereichen? Beim Sport und Tanz sticht die zu bewältigende Synchronisation des Bewegungsablaufs der Teilnehmer ins Auge. Dahinter steht eine höchst voraussetzungsvolle körper- und gegenstandsvermittelte Kommunikation, die von mittelbaren Vorbedingungen wie einer entsprechenden Sozialisation, Training und dem Erlernen eines Körpergefühls abhängig ist. Die darauf beruhende Synchronisation der Interaktionspartner untereinander und mit dem »Arbeitsgegenstand« (Instrument, Sportgerät etc.) im Akt der sportlichen oder musikalischen Handlungen wird im Wettkampf bzw. in der Darbietung, zumindest aber vor den anderen Beteiligten immer unmittelbar präsentiert. Von ihrem Gelingen oder Nicht-Gelingen ist der Erfolg der Aktivität abhängig, egal, ob diese amateurhaft oder professionell betrieben wird. Im Gegensatz zur materiellen Produktion, in der die Synchronisation Mittel zum Zweck ist, stellt sie sich hier gewissermaßen selbst als Zweck und Ziel dar. Die Synchronisation ist Bestandteil der visuellen Kommunikation und beeinflusst den zum Vorschein kommenden ästhetischen Ausdruck. Eine solche Fähigkeit zur leiblichen Abstimmung als Vermögen, sich beispielsweise mit dem Kunden entsprechend zu synchronisieren, spielt auch bei personenbezogenen Dienstleistungen eine Rolle. Ebenso wird die gegenstandsvermittelte Abstimmung in der Ko-Produktion des Dienstleisters und des Kunden wirksam. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang des Friseurs/der Friseurin mit der Schere in Korrespondenz zum Haar (vgl. Dunkel 2006). Bei materieller produktorientierter Industriearbeit stellt sich das etwas anders dar. Hier steht das (materielle) Produkt im Zentrum, die Abstimmung ist ausschließlich eine organisatorische Notwendigkeit zur Erstellung (bzw. Herstellung) des Produkts, die prinzipiell keinen eigenen Darstellungscharakter besitzt. Während bei den hier aufgeführten Beispielen Sport und Tanz die gelungene oder misslungene Abstimmung des gemeinsamen Bewegungsablaufs also als körper- und gegenstandsbezogene Kommunikationskompetenz (oder -inkompetenz) in Erscheinung tritt, stellt sie in der am materiellen Produkt orientierten Industriearbeit höchstens einen Schritt auf dem Weg zum Produkt dar, der im fertigen Produkt weitgehend untergeht. Oder merkt man einem materiellen Produkt etwa doch die in seinem ›Entstehungshintergrund‹ verborgene vielschichtige Abstimmungsarbeit an? In gewissem Sinne ja: Erfolgreiche Entwicklungsprojekte, gerade im Fall wissensbasierter intelligenter Produkte, sind auf gelungene Abstimmungsarbeit angewiesen, zu der auch das Gelingen der beschriebenen körper- und gegenstandsvermittelten Kooperation und Kommunikation gehört (vgl. Abschnitt 4). Das können der Mee223

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tings müde Mitarbeiter bestätigen, die ihre Arbeit am besten in direkter und dem Arbeitsgegenstand naher Kommunikation am Ort des Geschehens bewältigen (Bolte et al. 2008: 129ff.).

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Praktiken sozialer Abstimmung. Kooperative Arbeit aus der praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/THOMAS PILLE

1 Einleitung Klassische handlungstheoretische Ansätze der Geistes- und Sozialwissenschaften bringen vorwiegend einzelne, für sich handelnde Akteure in den Blick. Dies gilt auch für soziales Handeln, das – nach der berühmten Formulierung Max Webers (1922/1980, §§ 2 und 3) – in seinem Sinn und Ablauf am Verhalten anderer orientiert ist: Akteure sind danach Einzelmenschen, die ihr Verhalten dadurch als Handeln gestalten, dass sie es intentionalistisch mit einem »subjektiv gemeinten Sinn« verbinden. Dieser Individualismus engt den Blick auf das gesamte Spektrum menschlichen Handelns ein. Er führt nicht nur zu einer Vernachlässigung jener Dinge, die wir nicht bloß allein, sondern wahlweise auch gemeinsam tun können, wie spazieren gehen oder ein Essen zubereiten, sondern vor allem auch jener Praktiken, die von vornherein ein gemeinsames Wirken verlangen, wie kommunizieren, Fußball spielen oder Tango tanzen (vgl. Schmid/ Schweikard 2009: 11f.). Individuen können diese Tätigkeiten nur gemeinsam mit anderen vollziehen. Die gemeinsame Praktik konstituiert sich als ein – prinzipiell vom Scheitern bedrohter – dynamischer Verflechtungszusammenhang gegenseitiger Abhängigkeiten, Ermöglichungen und Konditionierungen; sie übergreift die individuellen Aktionen. Seit einiger Zeit erfahren derartige kollektive Phänomene in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften unter Stichworten wie »Kollektive Intentionalität« (Schmid/Schweikard 2009), soziale Praktiken (Schatzki 2002; Schatzki et al. 2001) oder Kollektivität (z.B. Kneer et al. 2008) eine erhöhte Aufmerksamkeit. Trotz erheblicher theoretischer und methodischer Unterschiede herrscht im Rahmen der Diskussion doch Übereinstimmung darüber, dass kol229

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lektive Praktiken keine bloße Summierung, Aggregation oder Koordination individuellen Verhaltens, sondern nicht aus individuellen Absichten oder singulären Handlungen abzuleitende Phänomene sui generis sind. In ihrem Vollzug verbinden sich verschiedene Handlungsträger (vgl. etwa Rammert 2007) – andere sprechen von Ko-Akteuren1 – zu Figurationen (Elias 1996: 139ff.), Netzwerken (Latour 2007) oder »Pluralsubjekten« (Gilbert 2009). Alle Handlungsträger leisten ihren besonderen Beitrag zum Kollektivgeschehen2, das dann seinerseits auf sie selbst zurückwirkt und ihre Eigenschaften (re-)definiert. Mit jedem Neuarrangement der beteiligten Handlungsträger verändern sich diese mithin selbst.3 Unterschiede betreffen vor allem die Beobachtungsebenen: Analytisch-philosophische Forschungen richten sich primär auf die unsichtbaren mentalen Voraussetzungen und Bedingungen gemeinsamen Handelns – auf kognitive Hintergrundfähigkeiten, »Wir-Absichten«, gemeinsame Handlungspläne und geteilte Überzeugungen der menschlichen Akteure (vgl. Schmid/Schweikart 2009). In praxeologischen Ansätzen stehen hingegen die Fragen im Zentrum, wie sich verschiedene Handlungsträger in lokalen, materiell gerahmten und symbolisch gedeuteten Kontexten situativ zu einer gemeinsamen Praxis verschränken und welche Rolle dabei ein verkörpertes, auf die aktuelle Praxis bezogenes, in ihr aktiviertes und sich bildendes (Erfahrungs-)Wissen4 spielt, das 1

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In Abgrenzung von Ansätzen, die an einer ontologischen Differenz von Technischem und Sozialem festhalten, gehen Latour und die an ihn anschließende Actor Network Theory von hybriden Netzwerken aus, in denen menschliche und nichtmenschliche ›Knotenpunkte‹ – wie natürliche und artifizielle Objekte, Tiere und Pflanzen – gemeinsam Handlungen vollziehen. Kollektive bilden sich danach aus dinglichen, gesellschaftlichen und diskursiven Einheiten (vgl. auch Kneer et al. 2008). Rammert und Schulz-Schaeffer (2002) plädieren hingegen für eine Betrachtungsperspektive, in der die Frage danach im Zentrum steht, »welche Techniken in welchen Handlungszusammenhängen und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen als (Mit-)Handelnde definiert und behandelt werden und inwieweit sich diese Sicht- und Handlungsweise mit welchen Folgen durchsetzt« (ebd.: 56). Dingen kann zwar keine Intentionalität unterstellt werden, sie können aber als »Aufforderungskomplexe« (Waldenfels 1994: 482) mit eigenen, diesseits von Reflexion und Sprache sich entfaltenden und deshalb reflexiv nur schwer zu kontrollierenden Wirkungen betrachtet werden. Diese Einsicht ist in der Soziologie nicht neu: Bereits für Durkheim waren soziale Tatbestände eine überindividuelle Realität »sui generis«. Durkheim hat sich insbesondere für die Machtwirkungen des aus den Interdependenzen zwischen Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen resultierenden Eigenlebens des Sozialen auf die Einzelnen interessiert: »Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt. Er ist in jedem Teil, weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist« (Durkheim 1976/1895: 111). Zur Bezeichnung eines derartigen Wissens sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften bereits etliche Begriffe ausprobiert worden: Körpertechniken

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PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

die menschlichen Akteure aus der Situation heraus in die Lage versetzt, das Verhalten ihrer Interaktionspartner praktisch zu deuten, Urteile hervorzubringen und das eigene Agieren auf die anderen Handlungsträger abzustimmen (vgl. Schatzki et al. 2001).5 In unserem Beitrag knüpfen wir an diese praxeologische Perspektive an. Ohne zu leugnen, dass eine gemeinsame Praxis auch geteilte Absichten, Pläne und kognitives Hintergrundwissen voraussetzt, gilt unser Interesse nicht primär diesen Handlungsvoraussetzungen, sondern den beobachtbaren, in der Praxis selbst sich dokumentierenden Wissensformen, Kompetenzen, Mechanismen und Prozessen, mit und in denen sich die beteiligten Akteure aufeinander beziehen, füreinander verständlich machen, miteinander abstimmen und so eine kollektive Praxis etablieren, die von keinem einzelnen Akteur vollständig zu kontrollieren ist. Damit einher geht eine Verschiebung der Beobachtungsperspektive gegenüber etablierten sozialtheoretischen Ansätzen, in denen die Koordination von Einzelhandlungen vorrangig über dem Handeln vorgelagerte Strukturen, Rollen und Normen erklärt wird. Demgegenüber richtet sich die praxeologische Untersuchungsperspektive stärker auf die Bedeutung eines verkörperten Praxiswissens, das ein prä-reflexives Beherrschen der sozialen Welt sowie einen adaptiven Umgang mit Unsicherheit möglich macht und sich durch eine praktische Logik der Situationsbezogenheit und Prozeduralität auszeichnet.6 Dieses Interesse trägt auch dem Problem Rechnung, dass selbst dann, wenn Handlungsverläufe durch Choreographien, Raumordnungen, Organisation oder Technik vorgegeben bzw. reguliert werden, formal nicht geregelte Leerstellen und Spielräume bleiben, die von den menschlichen Akteuren ad hoc praktisch gefüllt und interpretiert werden müssen. Der Theorie »Reflexiver Modernisierung« (Beck et al. 2001) zufolge sind diese Leerstellen in der »Zweiten« im Vergleich mit der »Ersten Moderne«

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(Mauss), Fertigkeiten und Routinen (Schütz/Luckmann), skills (Garfinkel), knowing how (Ryle), tacit knowledge (Polanyi), Disziplin (Foucault), Habitus bzw. praktischer Sinn (Bourdieu) usw. (vgl. Hirschauer 2008b: 977). Alle diese Begriffe zielen auf ein eigenes, nicht kognitives, der Reflexion weitgehend unzugängliches und nur schwer zu versprachlichendes Wissen, das ausschließlich im Handlungsvollzug generiert wird und diesen trägt. In handlungstheoretischen Ansätzen wird diese Ebene deshalb vernachlässigt, weil der beobachtbare körperliche Handlungsvollzug hier nichts weiter ist als die Ausführung mental bereits existierender Entwürfe. In praxistheoretischer Perspektive erfolgt hingegen eine Neubewertung des (sozialisierten, feldspezifisch geübten) Körpers und des physischen Handlungsvollzugs: Jener wird als Agens in der Praktik, dieser als Ort der Generierung und des Erlernens eines für die Handlungsausführung unabdingbaren praktischen Wissens verstanden (vgl. ausführlicher Brümmer 2009). Dies kann insbesondere an den Wettkampfspielen des Sports modelliert werden. Diese dramatisieren auf ihren öffentlichen Bühnen ein Handeln unter Unsicherheit geradezu (vgl. Alkemeyer 2009). 231

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noch erheblich größer geworden: Die Unsicherheitszonen hätten sich ausgeweitet, die Akteure müssten in Eigenregie leisten, was ihnen in den vergleichsweise kalkulierbaren Umwelten der Vergangenheit noch vorgegeben gewesen sei. Um Rationalität bemühte Entscheidungen seien zwar nach wie vor zentral für die Kausalität von Handlungen und Ereignissen, jedoch mangele es an hinreichend gesicherten Entscheidungsgrundlagen (vgl. Wiesenthal 2009). Damit büßten handlungstheoretische Ansätze, die sich am Modell eines planmäßig-rationalen, verstandesgeleiteten und/oder regelhaften Vorgehens orientieren, an Erklärungskraft ein: Während ein solches Vorgehen den Bedingungen berechenbarer Umwelten noch gerecht werden könne, erweise es sich dann als wenig tauglich, wenn sich Handlungsspielräume vergrößerten, Handlungsoptionen vervielfältigten und gleichzeitig institutionalisierte Problembewältigungsstrategien an Bindungskraft verlören (vgl. Böhle et al. 2004; Böhle 2008). Man wisse dann nicht genau, was einen erwarte, es bleibe keine Zeit, sich über die nächsten Handlungsschritte Gedanken zu machen, und es fehlten verbindliche Handlungsanleitungen, an denen man sich orientieren könne. Erfolgreiches Agieren in labilen sozialen Konstellationen setzt in besonderer Weise ein erfahrungsbasiertes Handlungswissen voraus, das infolge der für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften konstitutiven, markanten Trennlinien und Hierarchisierungen von Körper und Geist, Praxis und Theorie, Durchführung und Planung, Technik und Wissenschaft entwertet, als irrational abgespalten oder sogar vollständig geleugnet worden ist (vgl. Alkemeyer et al. 2009; Böhle 2009). Ein prominenter Ausdruck und zugleich Motor seiner Entwertung ist die von Pierre Bourdieu vielfach kritisierte »scholastische Sicht« (Bourdieu 1998: 203) der akademischen Wissenschaften auf die soziale Welt. Der in ihrer institutionellen Freisetzung vom Zeit- und Handlungsdruck der sozialen Praxis begründeten Affinität dieser Wissenschaften zu Geist, Bewusstsein und Sprache korrespondiert eine Vernachlässigung jener vielfältigen Formen des Begreifens und Verstehens, die auf einem (feldspezifisch) sozialisierten Körper beruhen. In der reflexiv gewordenen, ihrer eigenen Grundlagen und ›Verdrängungen‹ gewahr werdenden Moderne ist nun eine neue Aufmerksamkeit für die körperlich-materiellen Dimensionen des Sozialen entstanden. Als Symptome dafür können die Wieder- bzw. Neuentdeckungen von Räumen, Dingen und Artefakten ebenso gelten wie das wachsende Interesse am Körper, seinen Praktiken sowie verkörperten Wissensformen und Verstehensfähigkeiten. Im Zuge eines ökonomisch und politisch forcierten Ringens um Aufmerksamkeit innerhalb des akademischen Feldes sind diese Wieder- bzw. Neuentdeckungen oft vollmundig als (spatial, practical oder body) turns ausgeflaggt worden. Man mag diesen großspurigen Gestus nicht sympathisch finden, immerhin haben die derartig etikettierten Neuausrichtungen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissen232

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schaften aber den Resonanzboden für eine erneute Thematisierung dieser lange Zeit stiefmütterlich behandelten und in der Folge unverstandenen Aspekte sozialer Praktiken erzeugt. Es geht nun darum, in der theoretisch geleiteten Auseinandersetzung mit empirischem Material Analyseinstrumente zu entwickeln, zu erproben und zu verfeinern, mit deren Hilfe diese aufgrund wissenschaftlicher Vernachlässigung implizit gebliebenen Wirklichkeitsdimensionen expliziert und verständlich gemacht werden können. Zwei vom Sonderforschungsbereich 536 »Reflexive Modernisierung« ausgerichtete und aufeinander aufbauende Workshops dienten eben diesem Zweck. Ihre Organisatoren forderten die Teilnehmer dazu auf, in einer ersten Arbeitstagung zunächst auf die angedeuteten Verkürzungen etablierter Handlungstheorien zu reagieren: Es sollten Überlegungen für eine Theorie sozialen Handelns skizziert werden, die insbesondere dessen körperlich-leibliche sowie gegenständlich-materielle Vermitteltheit und damit dessen Situationsgebundenheit in Rechnung stellt. In einer zweiten Arbeitstagung sollten die skizzierten theoretischen Entwürfe dann in der Auseinandersetzung mit empirischem Material erprobt werden. Dabei handelte es sich um von den Organisatoren bereitgestellte Videoaufzeichnungen von Arbeitsprozessen in unterschiedlichen Bereichen. Diesem Arbeitsauftrag lagen – unserem Verständnis zufolge – die Annahmen zugrunde, a) dass jedem Material Erkenntnis ausschließlich mittels eines theoretisch fundierten und justierten Blicks abzugewinnen ist, b) dass sogenannte theoretische Probleme oft anhand »scheinbar völlig belangloser [...] empirischer Objekte zu erschließen« (Bourdieu 1996: 254) sind, und schließlich c) dass theoretische Werkzeuge aus ihrem Gebrauch keineswegs unverändert hervorgehen müssen, sondern durch diesen irritiert, modifiziert und präzisiert werden können.

2 Theoretische Grundlagen und methodologische Vorüberlegungen Unser Beitrag ist das Ergebnis des angedeuteten zweistufigen Vorgehens.7 Aus dem uns zur Verfügung gestellten Videomaterial haben wir eine Szene kooperativer Arbeit an einem Motorblock in der Kraftfahrzeugproduktion ausgewählt und diese auf der Folie der Praxeologie Pierre Bourdieus zu analysieren versucht. Bourdieus Ansatz schien uns deshalb besonders geeignet, weil er dem Körper und einem verkörperten Wissen im Kontrast zu mentalistischen Erklärungsansätzen eine unhintergehbare Bedeutung für die Bewältigung in der Praxis situativ sich stellender Probleme sowie die (Re-)Produktion sozialer Ord7

An der ersten der beiden Arbeitstagungen war Thomas Alkemeyer mit einem Beitrag über »Verkörperte Intelligenz. Zur Perspektive einer vom Sport ausgehenden Handlungstheorie« beteiligt. 233

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nungen zuweist. Mentalistische, Geist und Materie konfrontierende Sichtweisen entspringen, so Bourdieu (1998: 203), einem scholastischen, quasi-anatomischen, objektivierenden Blick auf den Körper, der von den Kontexten, Existenzzwängen und Zielen der sozialen Praxis abstrahiert. Bourdieu hat dagegen immer wieder betont, dass der Körper in der sozialen Praxis nach und nach eine eigene praktische Vernunft entwickelt: Das in die Praxis verwickelte Individuum macht permanent Erfahrungen in der sozialen Welt, die sich im Körper niederschlagen und dort als verkörpertes Wissen gespeichert werden. Jedes Individuum verkörpert damit »die Gesamtheit des Sozialen, in dem es lebt und handelt« (Krais/Gebauer 2002: 76). Das gesellschaftliche Sein des Körpers wird vor diesem Hintergrund als Kehrseite des körperlichen Seins der Gesellschaft erkennbar (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 54ff.): Das Soziale ist in den körperlichen Praktiken, in Haltungen, Bewegungen, Gesten und Verhaltensweisen selbst gegenwärtig und damit auch mittels der sozialisierten Sinne eines feldspezifisch gebildeten und in diesem Sinne ›wissenden‹ Körpers erfassbar. Ein in einem spezifischen sozialen Geschehen – Bourdieu betrachtet dies als ein Spiel, um sowohl das Wirken unterschiedlicher Kräfte als auch die Regelmäßigkeit des Sozialen hervorzuheben (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 127ff.) – geübter Akteur erfasst dieses Geschehen deshalb wie intuitiv, weil seine Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Deutungsschemata aus der Einverleibung der Regeln und Strukturen des Spielgeschehens selbst resultieren. Bei diesem Erfassen handelt es sich nicht um ein bloß passives Aufnehmen, sondern um eine aktive Verarbeitung und Konstruktion auf der Grundlage jener inkorporierten Schemata, die Bourdieu zunächst als Habitus, später als »sozialen Sinn« oder »Spielsinn« (Bourdieu 1987) bezeichnet hat. Im subjektiven Erleben des geübten Akteurs äußert sich dieser Sinn als ein leibliches Gespür für alle am Spiel beteiligten Handlungsträger und deren situationale Figurationen.8 In seinem letzten Hauptwerk, den Méditations pascaliennes, hat Bourdieu sein Verständnis des Spielsinns nochmals präzisiert. Er spricht dem feldspezifisch geübten Akteur hier die Fähigkeit zu einem »praktische[n] Reflektieren« (Bourdieu 2001: 209; im Original kursiv) zu, das es ermögliche, eine Spielaktion9 (wie beispielsweise einen Schlag im Tennis) bereits während ihres Vollzugs zu evaluieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Der Spielsinn gestattet es in aller Regel (jedoch nicht immer – mitunter erweist er sich als Hindernis für ein situa8

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Bourdieu interessiert sich allerdings zunächst kaum für diese subjektive Dimension eines sozialisierten Spürsinns. Sie ist von Robert Gugutzer (2002, besonders 88ff.) in einer Zusammenführung von Hermann Schmitz und Bourdieu herausgestrichen worden. Zur Relevanz von Schmitz für das Verständnis von Kooperationen und Mensch-Maschine-Interaktionen in der Arbeitswelt vgl. auch Böhle/Fross (2009). Von Aktion ist hier deshalb die Rede, weil es sich dabei im Bourdieu’schen Verständnis nicht um eine Handlung im Sinne der klassischen Handlungstheorie handelt.

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tionsangemessenes Handeln), aus dem Stegreif adäquate Aktionen zu erzeugen. Auch wenn diese in der sozialen Praxis überwiegend ohne geistige Planungen und bewusste Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen auskommen, entsprechen sie in überraschend vielen Fällen den jeweils geltenden Spielregeln, sind sie doch das Produkt einer weitgehend prä-reflexiven und in diesem Sinne spontanen, mehr oder minder kreativen Übertragung im Körper abgelegter Dispositionen auf die aktuelle Situation (vgl. z.B. Bourdieu 2001: 177ff.; Bourdieu 1979: 169).10 Wir benutzen diese – von Bourdieu stets im Kontext empirischer Forschungen als Such- und Analysewerkzeuge erarbeiteten – Einsichten und Konzepte im Folgenden, um der Frage nachzugehen, wie sich die beteiligten Akteure bei ihrer gegenstandsvermittelten Arbeit am Motorblock koordinieren und ihre Praktik dadurch ›am Laufen halten‹. Mit einem durch Bourdieus Konzepte orientierten analytischen Blick sichteten wir deshalb in der Vorbereitung auf den zweiten Workshop die von uns ausgewählte Videosequenz. Die vielleicht größte Herausforderung bestand darin, insbesondere zwei Fallstricken zu entgehen, nämlich sowohl der Subsumtionshaltung eines theoretischen Universalismus, der alle Empirie nur zur Illustration und Plausibilisierung dient (Hirschauer 2008a), als auch der Illusion eines unmittelbaren inneren Verstehens11 aufgrund eigener – impliziter und expliziter – Wissenssysteme. Wir haben deshalb die Bourdieuschen Konzepte zum einen als – veränderbare – Untersuchungsinstrumente eingesetzt, um mit ihrer Hilfe die in der Praxis sich selbst dokumentierenden Prozesse sozialer Abstimmung zu beobachten und im Hinblick auf ihre Dimensionen und Strukturprinzipien zu beschreiben.12 Zum anderen haben wir uns darum bemüht, eine Haltung der Offenheit zu bewahren und die in Anschlag gebrachte Analyseoptik in der Konfrontation mit dem empirischen Material stets auch irritieren zu lassen. Schon die technischen Möglichkeiten des Umgangs mit dem Videomaterial trugen zur Befremdung des eigenen Blicks bei und wurden damit als Korrektiv gegen die Illusion unmittelbaren Verstehens wirksam. Sie erlaubten es, die Situation distanziert und aus unterschiedlichen Positionen sehen zu lernen: Das wiederholte Abspielen der Sequenz, Zeitlupeneinstellungen, das Fokussieren von Bildausschnitten und das vergleichende Sehen auf dem split screen ermög10 Zu den drei Bedeutungen des Körpers in Bourdieus Theorie: Speicher sozialer Strukturen, Erkenntnismedium und intelligentes Agens, vgl. auch Alkemeyer/ Schmidt (2003) sowie Schmidt (2004). 11 Zu dieser Illusion vgl. Bourdieu et al. (1991: 14) sowie Hirschauer/Amann (1997: 10). 12 Inspiriert ist dieses beobachtende und beschreibende Vorgehen durch die Ethnomethodologie, die Prozesse der Sinnkonstitution in der Interaktion lokalisiert, diese somit als ein soziales, vollständig öffentliches und sichtbares Geschehen begreift und deren Strukturprinzipien zu erschließen sucht (vgl. Bergmann 2004: 124f.). 235

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lichten es, Feinheiten sowie die Sequenzialität und Simultanität der Situation zu erfassen, die dem teilnehmenden Beobachter in der Praxis entgehen. Nach einer ersten, oberflächlichen Betrachtung des Videos in Normalgeschwindigkeit schien es uns, dass die gezeigten Arbeitsprozesse allein der kooperativen Bewältigung eines im Umgang mit dem Motorblock sich stellenden technischen Problems dienten. Auf der Grundlage der medientechnisch ermöglichten Blickbefremdung wurde uns jedoch nach und nach deutlich, dass in der problembezogenen Zusammenarbeit zugleich Auseinandersetzungen um soziale Positionierungen, also Status- und Machtkämpfe, ausgetragen wurden. Wir bezeichnen die erste als die funktionale und die zweite als die politische Dimension kooperativen Arbeitshandelns. Eine genauere Sichtung des Materials legte es mithin nahe, unsere zentrale theoretische ›Brille‹ – Bourdieus Konzept des praktischen Sinns – zu differenzieren und damit zu präzisieren. Die Arbeit am empirischen Material stieß uns geradezu darauf, dass dieses Konzept in Bourdieus Werk gleichsam doppelt auftaucht: einmal als praktische Mitspielfähigkeit in einer zweckbezogenen Bedeutung (a), das andere Mal als ein Sinn für soziale Abstände und Unterschiede (b). (a) In der ersten Bedeutung ermöglicht das Konzept des praktischen Sinns ein Verständnis des Agierens in Handlungszusammenhängen, in denen ein individueller oder kollektiver Akteur zumeist unter Zeitdruck und bereits deshalb ohne Überlegenssicherheit eine praktische Antwort auf die Aktionen eines anderen Akteurs finden muss, und zwar entweder, um sich selbst in einer Auseinandersetzung zu behaupten, oder aber, um seinen individuellen Part zum Erfolg seines ›Teams‹ beizusteuern. Der praktische Sinn hat in dieser Perspektive die Funktion einer prä-reflexiven Ressource zum raschen Erfassen und Beurteilen einer Situation sowie zum Finden einer zweckdienlichen Antwort auf situational sich stellende Sachprobleme. (b) Als Produkt der Einverleibung des Sozialen ist der praktische Sinn zugleich ein sozialer Sinn. Als ein derartiger »sense of one’s place« (Goffman, zit. nach Bourdieu 2001: 236) richtet er sich auf das Erfassen des eigenen sozialen Ortes in einem Gefüge relationaler Positionen und äußert sich subjektiv als ein Gespür für soziale Abstände und »Grenzen«, das heißt als ein »Realitätssinn« (Bourdieu 1979: 324; im Original kursiv), der ein SichEinrichten in bestehenden sozialen Ordnungen bewirkt oder zumindest befördert. In Bourdieus Texten sind beide Lesarten des praktischen Sinns angelegt, sie werden jedoch nicht analytisch auseinandergehalten und es wird nicht ausdrücklich auf ihr Verhältnis zueinander reflektiert. Man kann sie aber aus seinen empirischen Beobachtungen und Beschreibungen erschließen. Diese deuten darauf hin, dass die für soziale Abstände und Grenzen sensiblen Dimensionen des praktischen Sinns in bestimmten Handlungskontexten in den Hintergrund gedrängt, also nebensächlich werden (können). Der praktische Sinn 236

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

richtet sich dann primär auf die Lösung eines in einer sozialen Situation auftauchenden Sachproblems. Bourdieu (1987: 147f.) modelliert diese Bedeutung des praktischen Sinns beispielsweise im Rekurs auf George Herbert Mead an der sozialen Praktik des Boxens. Er zeigt daran, dass die Athleten für Außenstehende unmerkliche körperliche Äußerungen – eine leichte Bewegung des Kopfes, einen flüchtigen Blick, ein Zucken des Bizeps – als Hinweise auf Zukünftiges zu ›lesen‹ wissen müssen. Im schroffen Gegensatz zum Beobachter muss der ins Kampfgeschehen unmittelbar Involvierte für jedes Zaudern praktisch bezahlen. Ihm bleibt keine Zeit, den Vollzug einer Geste erst abzuwarten, um dann ihre Bedeutung aufzuschlüsseln, vielmehr erfolgen Wahrnehmung und Deutung zeitgleich. Infolge des Zeitdrucks ist eine Beaufsichtigung des Handlungsverlaufs durch das reflektierende Bewusstsein kaum möglich: Die Antwort auf die Aktionen des Gegenübers muss »reflexartig vor der Reflexion kommen, weil das Denken das Handeln nur verzögern würde« (Blamberger 2005). Wacquant (2003) füllt diese Ideen in seiner (auto-)ethnografischen Studie der Boxerwerdung empirisch weiter auf. In Fortführung der am Sport gewonnenen Einsichten Bourdieus zeigen seine Analysen, dass sich die Achtsamkeit des Boxers in Sparring und Wettkampf nicht auf die soziale Position des Gegners – nicht einmal auf dessen sozialen Ort im boxerischen Universum, geschweige denn auf seine Position außerhalb des sportlichen Feldes – bezieht, sondern ausschließlich auf dessen boxspezifische Bewegungen. Offenbar wurde Wacquant diese Lesart des praktischen Sinns von der Empirie gleichsam aufgedrängt. Denn der sportliche Wettkampf prägt eine eigene Welt aus, in der von der Bedeutung sozialer Unterschiede (weitgehend) abstrahiert wird: In der vom Sieg-Niederlage-Code geprägten Wettkampfsituation spielen soziale Herkunft und Zugehörigkeit keine Rolle für das Handeln, und eine für das soziale Prestige von Gegnern oder Mitspielern sich interessierende Wahrnehmung wäre alles andere als zweckdienlich. In der Sonderwelt des sportlichen Wettkampfs erfassen sich die Akteure mithin nicht als soziale Personen, sondern als bloße Körper in dem Sinne, dass die symbolisch-distinktiven Qualitäten des körperlichen Habitus hier zumindest keine dominante Rolle spielen (im Training außerhalb der Wettkampfsituation ist dies schon anders). Der organisierte sportliche Wettkampf ist in dieser Perspektive geradezu ein Modell für funktionale Antworten, Reaktionen und Abstimmungen, die unter Zeitdruck ohne eindeutig vorgegebene Handlungsskripte, sichere Entscheidungsgrundlagen und Überlegenssicherheiten flexibel erfolgen müssen. Die Eigenheiten des Interaktionsgeschehens im sportlichen Wettkampf lassen sich nun in der Folge als Such- und Sehhilfen zum Aufspüren ähnlicher Strukturprinzipien auch in anderen Handlungskontexten wie zum Beispiel der industriellen Arbeit einsetzen. Die Suchthese würde dann lauten, dass die sozia237

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le Stellung der Akteure in der gemeinsamen professionellen Arbeit an einem Sachproblem auch hier – zumindest temporär – gleichgültig werden kann. Das Ineinandergreifen der Einzelaktionen, ihre Abstimmung in einer kollektiven Praktik, würde dann nicht primär von (bereichsspezifischen) sozialen Rangordnungen bestimmt werden, sondern von dem die individuellen Aktionen übergreifenden Ziel der gemeinsamen Lösung dieses Problems. Es ist vorstellbar, dass im Eifer der gemeinsamen Problemlösepraxis soziale Hierarchien zeitweilig sogar dann irrelevant werden, wenn sie im entsprechenden Feld ansonsten eine das (Zusammen-)Handeln stark beeinflussende Rolle spielen, ja dass sonst als gültig anerkannte soziale Hierarchien sogar gänzlich verkehrt werden können und diejenigen die Führung übernehmen, die in der sozialen Hierarchie ansonsten ›unten‹ stehen. Am Videomaterial haben wir auf der zweiten Arbeitstagung vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zweierlei vorzuführen versucht: Zum einen wollten wir zeigen, in welcher Weise die verschiedenen Interpretationslinien des Konzepts des praktischen Sinns unterschiedliche Auslegungen derselben Sequenz provozieren. Zum anderen sollte herausgestellt werden, inwiefern die kooperative Bewältigung eines Sachproblems und die sie fundierenden Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse mit Auseinandersetzungen um soziale Positionen ineinander greifen, also von Machtstrukturen und -spielen durchdrungen sind. In der empirischen Analyse des Videomaterials haben wir deshalb in einem ersten Schritt analytisch zwischen einer funktionalen und einer politischen Lesart unterschieden: Stand in der funktionalen Lesart die Frage im Vordergrund, wie zusammengearbeitet wird, um zweckgerichtet ein Sachproblem zu lösen, so ging es in der politischen Lesart desselben Geschehens um die Frage, wie im Arbeitsprozess Über- und Unterordnungen stabilisiert, modifiziert oder auch generiert werden, wie sich die Akteure in der kollektiven Praktik selbst positionieren und wie sie darin positioniert werden. In einem zweiten Schritt sollten dann die Fragen nach dem Verhältnis beider Lesarten beantwortet werden: Behindern oder befördern sich beide Dimensionen in der Zusammenarbeit? Zeigen sich in der Kooperation nur institutionell festgezurrte Rangordnungen, oder kann eine in Sachkompetenz begründete Autorität diese im Arbeitsprozess auch unterlaufen?13

13 Um Fragen wie diese wirklich beantworten zu können, wäre es allerdings unabdingbar, eine im Rahmen dieses Beitrags nicht zu realisierende Analyse des betreffenden Feldes vorzunehmen, die unter anderem Antworten auf folgende Fragen gäbe: Welche Kompetenzen werden als feldspezifisches Kapital anerkannt? Was gilt im Feld als adäquates Auftreten? Wie ist das Verhältnis von habituellen Dispositionen und im Feld vorgesehenen Positionen? Was sind die zentralen Gegenstände und Regeln des Feldes, die nur ›berühren‹ oder ›übergehen‹ darf, wer eine entsprechende Position im Feld besetzt? 238

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

Unser Ziel war es, über die Explikation der zwei Lesarten des praktischen Sinns ein vertieftes Verständnis sozialer Abstimmungsprozesse zu erreichen, das nicht nur deren materielle, körperlich-leibliche Fundierung in Rechnung stellt, sondern auch über die mit ihnen verbundenen Auseinandersetzungen um Macht und soziale Positionen aufklärt. Zugleich ging es uns darum, die theoretischen Konzepte in einer detaillierten Analyse des Videomaterials zu erproben und zu präzisieren, also Theorie und Empirie im Sinne einer »theoretischen Empirie« (Kalthoff et al. 2008) in »›fruchtbare‹ Austauschbeziehungen« (Hirschauer 2008a: 168) zu bringen und damit den klassischen, mit der Hierarchisierung von Körper und Geist zusammenhängenden wissenschaftstheoretischen Dualismus von Empirie und Theorie zu überwinden.

3 Analyse der Videosequenzen am Motorblock Zu sehen sind fünf um den Motorblock eines Autos gruppierte Personen im Try Out Room eines Autoherstellers.14 Einem einführenden Kommentar aus dem Off lässt sich entnehmen, dass es in dieser Szene um die Montage neuer Teile geht. Gemeinsam wird darüber diskutiert, ob die bisherige Positionierung eines speziellen »abgewinkelten Anschlusses« im Motorblock für die Montage funktional sei oder nicht. Im Zentrum der folgenden Beobachtungen stehen die Abstimmungsprozesse der Akteure.

3.1 Deutung als funktionale Abstimmung Auch für fachkundiges Personal, das täglich mit Autos und Motoren zu tun hat, scheint die Abstimmung am Motorblock eine Herausforderung zu sein. Längst nicht alle Arbeitsschritte und Motorteile, geschweige denn ihre Lage im Motorraum, können von den Beteiligten sprachlich benannt oder beschrieben werden. Immer wieder werden Sätze begonnen, plötzlich abgebrochen und Leerstellen sprachlicher Kommunikation gestisch gefüllt. Die Verständigungsprobleme sind zahlreich. So haben sich die Akteure zu Beginn der Szene noch nicht darüber geeinigt, über welches Motorteil sie überhaupt sprechen. Erst durch ein hinweisendes, verortendes Zeigen wird für alle ersichtlich, um welchen der Anschlüsse es sich handelt.

14 Vgl. dazu den Beitrag von Stephanie Porschen in diesem Band, der sich mit derselben Szene befasst. 239

240

32

28 29

25

20

Federbandschelle

Macht die Form der Schelle mit Zeigefinger und Daumen nach

Simuliert Arbeit mit einem Drehmomentschlüssel

Zeigt auf den Anschluss

Beobachtung

Zeigt und bedeuGuck mal. Da ist ja gar kein tet den knappen Platz und so, ne? Platz

Nun hab ich ja erst einen montiert, aber das ging sich beschissen aus.

Weißte ich …

Ja!

Sprache

15

Zeigt auf den Ort, wo die Federbandschelle montiert werden soll

Beobachtung

Den hier! Den hier meinte ich!

Wenn hier zum Beispiel kommt diese

Sprache

11 12

9 10

Sprache

Beobachtung

Mhm

dann

Wie? Wolltste den so nach vorne holn?

Nickt mit dem Kopf

Stützt sich im Motorraum ab. und macht Platz für Person 2

Zeigt auf den Anschluss, dann nach vorne

Den abgewinkelZeigt auf ein Teil ten Anschluss, im Motorraum meinst du den hier? Den?

(unverständlich)

Vor allen Dingen: Du musst das auch mal im Ganzen sehn, ob du da überhaupt noch ran ... rankommst!

Den hier! Siehste?

Sprache

Kommt ins Bild. Steht dann gebeugt unter der Motorhaube und sieht in den Motorraum

Beobachtung

Wechselt hinter dem Rücken von Person 3 seine Zeigt Position, um sich bessere Sicht auf Zeichnet mit den Motor zu Armbewegungen verschaffen den Radius nach, den man zum Arbeiten benötigt

Zeigt auf den Anschluss

Beobachtung

THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/THOMAS PILLE

241

Ja, er ist nicht ... er ist trocken erstmal und sonst drückst du einfach drauf und is drin. Ich weiß es nicht …

weil du Winkel hast und das is ja auch …

Zeigt, wie viel Platz das Montieren mit einem kleinen Drehmomentschlüssel benötigen würde

Simuliert eine greifende Arbeitsbewegung

Zeigt mit Daumen und Zeigefinger die Stelle an

Ich weiß es auch nicht so. Ich hab erst einmal probiert. Ich hab den eben angefettet, wie immer, wie gehabt, weißt ja, ne? Und dann hatte ich halt ... ich hatte halt’n bisschen Schwierigkeiten, den draufzukriegen. Bedeutet das Einfetten mit einer haltenden und einer streichenden Hand

Arm entfernt sich vom Körper und kehrt wieder zurück

Greift nach einem Stecker Mir kam es ... mir kam es halt so vor… beim Zieht ruckartig Steck... beim an dem Stecker Draufstecken. Das war unbequem sag ich mal vielleicht auch ungewohnt aber …

Nein, das

Tabelle 1: Deutung als funktionale Abstimmung

57

55

50

48

45

42 43

37

36

35

33

kannst du so auch arbeiten oder nicht? …

hier

Ja, aber …

Blickt kurz zu Person 1

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

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Person 3: »Den abgewinkelten Anschluss, meinst du den hier?Den?« (Zeigt auf ein Teil im Motorraum) Person 2: »Den hier! Den hier meinte ich!« (Zeigt auf den Anschluss) Person 4: »Den hier! Siehste?« (Zeigt auf den Anschluss)

Abbildung 1: Person 3 zeigt auf den »abgewinkelten Anschluss« Der Blick von Person 3 liegt zunächst auf einem Anschluss, der von den anderen offenbar nicht gemeint war. Erst das hinweisende Zeigen der Personen 2 und 4 lenkt die Aufmerksamkeit aller auf denselben Anschluss. Sie wird dabei nicht nur auf den Gegenstand gerichtet, sondern auch auf bestimmte Details, wie eine Seite, Stelle oder Fläche. Das Zeigen bringt den Gegenstand als gemeinsamen Brennpunkt des Austauschs ins Spiel; es initiiert und trägt über die Herstellung eines Gegenstandsbezugs den Verständigungsprozess. Entsprechend ist es vermehrt zu Beginn der Situation zu beobachten; im weiteren Verlauf der Situation taucht es immer dann auf, wenn neue Objekte oder Perspektiven auf einzelne Gegenstände ins soziale Geschehen eingeführt werden. Die Verständigung über den Gegenstand scheint für die Problemspezifikation und die Entwicklung eines geteilten Problemverständnisses jedoch nicht hinreichend. Als schließlich alle Beteiligten dasselbe Objekt fokussieren, werden auch dessen Ausrichtung und Lage im Raum problematisiert. Wiederum gelangt die Sprache als Verständigungsmedium rasch an ihre Grenzen und muss körperlich-gestisch ergänzt werden. Exemplarisch kann dies an Person 3 beobachtet werden: Ihre verbalen Fragen gewinnen erst durch eine Handbewegung an Eindeutigkeit, die von der derzeitigen Position des Anschlusses auf seine für die Zukunft projektierte Position führt. Nun erst wird eine Verständigung über das Problem möglich. Person 3: »Wie? Wolltste den so nach vorne holn?« (Zeigt auf den Anschluss, dann nach vorne)

Dem verortenden Zeigen schließt sich mithin eine gestische Demonstration der Ausrichtung und Lage der Dinge im Raum an. Sie ist für die beobachtete Interaktion besonders wichtig, da es hier um die Optimierung der Ausrichtung eines »abgeknickten Anschlusses« geht. Bis zu diesem Punkt sind unseres Erachtens durchaus auch fachfremde, mit Motoren, Autos und Montagetechniken unvertraute Personen in der Lage, dem Geschehen zu folgen: Man versteht zumindest bei wiederholtem Betrachten, worum es geht.

242

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

Komplizierter wird dies, wenn spezifische Montagetechniken thematisiert werden. Fachfremde können deren Schwierigkeiten und Voraussetzungen kaum einschätzen. Neben der räumlichen Identifizierung des Anschlusses und seiner Teile stehen diverse Probleme im technischen Umgang mit Werkzeugen, der Montage und der Zugänglichkeit zum inkriminierten Objekt für den Monteur im Vordergrund. Immer wieder werden verbale Erklärungen durch Gesten unterstützt oder auch ersetzt. Person 2 beschreibt die Schwierigkeiten beim Montieren zunächst verbal-sprachlich. Ergänzend macht sie eine ausladende Armbewegung, die aussieht, als würde mit einem Drehmomentschlüssel gearbeitet werden: Sie demonstriert die typische Montagetechnik und verdeutlicht im Akt des Zeigens zugleich die für die Montage ungünstige Lage des Anschlusses, indem sie ihren Ellbogen abweichend von der für die Montage üblichen Bewegung seitlich am Körper extrem weit nach oben führt.

Person 2: »Nun hab ich ja erst einen montiert, aber das ging sich beschissen aus.«

Abbildung 2: Person 2 demonstriert die Arbeit mit einem Drehmomentschlüssel Im mimetischen15 und zugleich übertreibend darstellenden Nachvollzug der üblichen Arbeitsbewegung scheint sich der Akteur diese zu vergegenwärtigen und sich dabei leiblich des unangenehmen Gefühls oder sogar der Unmöglichkeit ihrer Durchführung zu vergewissern. Mit Bourdieu ließe sich dies als ein praktisches Reflektieren konzeptualisieren. In ihrer Darstellungsfunktion vergegenwärtigt die starke Verdrehung des Körpers von Person 2 aber auch den Kollegen die Schwierigkeiten der Montage, wie das ungünstige Verhältnis von aufzubringender Kraft und verfügbarem Raum. Die Verkörperlichung des Problems zielt offenbar darauf ab, einen Konsens mit den Kollegen herzustellen. Die gesamte Demonstration ist nur sinnvoll vor dem Hintergrund der Erwartung von Person 2, dass sie die anderen aufgrund ihres professionellen Praxiswissens auch verstehend mitvollziehen können. Ebenso macht in der nächsten Sequenz Person 1 ihre Problemdeutung durch eine Verzahnung verbaler und körperlicher Darstellungen verständlich.

15 Unter mimetischen Praktiken verstehen wir in Anlehnung an Gebauer/Wulf (1998) Akte, die körperlich auf andere Akte Bezug nehmen und ihnen in der Bezugnahme eine eigene symbolische Dimension hinzufügen. 243

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Für sich betrachtet sind weder ihre gestischen Imitationen der Arbeitstechniken noch ihre bruchstückhaften Äußerungen nachzuvollziehen. Person 1: »Wenn hier zum Beispiel kommt diese Federbandschelle hier ... kannst du so auch arbeiten oder nicht? ... weil du Winkel hast und das is ja auch ...«

Abbildung 3: Person 1 krümmt ihre Finger so, dass der entstehende Kreis einer Federbandschelle ähnlich sieht Insbesondere Worte wie »hier« und »diese« bedürfen Gesten eines verortenden, hinweisenden Zeigens, während das Wort »so« ohne die Demonstration entsprechender Körpertechniken unverständlich bliebe. Das folgende zweifache Öffnen und Schließen der rechten Hand erinnert an die Techniken der Handhabung einer Flachzange; mit Hilfe dieser Geste demonstriert Person 1 den voraussichtlich benötigten Platz für die Arbeit an der Federbandschelle.

Abbildung 4: Demonstration der Arbeit mit einer Flachzange Das Verstehen der Schwierigkeiten bei der Umsetzung bestimmter Techniken setzt Erfahrungen im Umgang mit den benötigten Geräten voraus: Man muss die Funktionsweisen der Flachzange kennen und ein haptisches Gespür für sie gewonnen haben, um das gestisch veranschaulichte Problem zu erfassen. Die Verständigung kann nur gelingen, wenn die Akteure einen geteilten praktischen Sinn für die Gegenstände, den Umgang mit ihnen sowie mögliche Komplikationen entwickelt haben. Nur dem, der in der Lage ist, sich der Zange in seiner Hand auch dann gewahr zu werden, wenn er sie nicht tatsächlich handhabt, der ihren Widerstand spürt und weiß, wie viel Platz man benötigt, um sie adäquat zu bedienen, erschließt sich das Gesehene, und er kann die demonstrierten Probleme leiblich wie geistig antizipieren. Weiterhin wird in der Szene deutlich, dass die Beteiligten ein Gefühl für die Eigenschaften des Materials entwickelt haben müssen, um an der gemeinsamen Praxis partizipieren zu können. Person 1 ›beschreibt‹ kaum sichtbar mit Daumen und Zeigefinger die Form der Federbandschelle. Man benötigt 244

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

ein geübtes Auge und Praxiswissen, um diese Geste in Echtzeit überhaupt wahrnehmen und identifizieren zu können. Über die Form und die Geschwindigkeit der Fingerbewegungen werden die Materialeigenschaften und die Mechanik der Federbandschelle sinnlich vergegenwärtigt. Die Geste zielt – ob bewusst oder unbewusst – darauf ab, bei den anderen ein implizites, verkörpertes Wissen über die Widerständigkeit und Biegsamkeit des Materials, über sein Gewicht und seine Form zu aktivieren, und ermöglicht so eine in die Praxis eingewobene Einschätzung des Zusammenspiels zwischen den physischen Voraussetzungen des eigenen Organismus auf der einen Seite und den materiell-räumlichen Bedingungen des Arbeitens auf der anderen. Die Frage danach, wie viel Platz für die Montage notwendig ist, lässt sich nur auf der Grundlage eines im Feld erworbenen Erfahrungswissens beantworten. In Sekunde 37 der Szene nähert sich die gestische Demonstration ›wirklicher‹ Arbeit am Gegenstand an: Person 2 zerrt und wackelt mit beiden Händen am Stecker. Sie kommentiert ihr Gefühl im Umgang mit dem Problemgegenstand dabei als unbequem und ungewohnt, ohne die Gründe dafür sprachlich darzulegen; vermutlich wäre dies auch sehr schwer. Person 2: »Mir kam es ... mir kam es halt so vor ... beim Steck... beim Draufstecken. Das war unbequem sag ich mal vielleicht auch ungewohnt aber ...«

Ein im Feld erworbenes ›Arbeitsgefühl‹ wird hier also zum Maßstab einer beurteilenden Einschätzung der Tätigkeit. Für die anderen wird dieses Gefühl im Zusammenspiel von verbaler Umschreibung und der Demonstration des Steckvorgangs plastisch gemacht. In der gesamten Szene ist der praktische Sinn der Akteure Grundlage eines kollektiven praktischen Reflektierens. Vor dem Hintergrund eingefleischter gegenstandsbezogener Routinen, Handgriffe und Bewegungsmuster führt jede Veränderung üblicher Abläufe und Verfahrenstechniken zu Irritationen und als unangenehm wahrgenommenen Empfindungen. Im vorliegenden Fall werden in der Folge dieser Irritation zwei mögliche Lösungswege diskutiert: Während die Personen 2 und 4 verbal und gestisch dafür plädieren, die Veränderungen rückgängig zu machen, damit die gewohnten Körperroutinen wieder greifen können, demonstriert Person 1 bereits ab Sekunde 29 mithilfe präziser Gesten neue, an die veränderten Bedingungen angepasste Lösungswege, die das Zurücksetzen des Anschlusses an seinen alten Ort überflüssig machen würden. Die ›funktionale‹ Interpretation der Sequenz verdeutlicht mithin, dass die gemeinsame Bearbeitung eines Problems keineswegs ausschließlich planmäßig-rational, auf der Basis eines expliziten (theoretischen) Wissens und im Leitmedium der Sprache geschieht, sondern der Mitwirkung eines ›intelligenten‹ Körpers bzw. eines verkörperten Wissens bedarf. Die Akteure verständigen sich und erörtern das sich stellende Sachproblem durch die Verzahnung 245

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verbal-sprachlicher und gestischer Kommunikationsweisen. Das Fundament dieser Verständigung sind sozialisierte, kontextbezogene Körpertechniken, Empfindungen und Spürfähigkeiten. Auch der sprachliche Austausch ruht gleichsam auf einem verkörperten Erfahrungswissen auf: Die geäußerten Worte und – überwiegend unvollständigen – Sprachsequenzen sind auf die Praxis bezogen und nur im Kontext dieser überhaupt zu verstehen. Das Gelingen einer solchen »empraktischen Kommunikation«16 verlangt von den Adressaten die Fähigkeit zu einem inneren, virtuellen Mitvollzug des im Zusammenspiel von Sprache und Gestik Gezeigten.

3.2 Deutung als politische Abstimmung Die Akteure am Motorblock unterscheiden sich bereits in ihrer Kleidung: Person 3 trägt unter einem blaugrauen Arbeitskittel ein einfarbiges Oberhemd. In der Brusttasche dieses »Meisterkittels« – wie er auch genannt wird – stecken Kugelschreiber. Alle anderen Personen tragen gewöhnliche Arbeitskleidung – Latzhosen, Pullover, kariertes Hemd. Person 3 eröffnet die Situation, indem sie sich erkundigt, um welchen Anschluss es sich überhaupt handelt: Person 3: »Den abgewinkelten Anschluss, meinst du den hier?Den?« (Zeigt auf ein Teil im Motorraum)

Nachdem ihm Person 2 und 4 den entsprechenden Anschluss gezeigt haben, stützt sich Person 3 mit der rechten Hand im Motorblock ab. Das Abstützen verändert augenblicklich die Akteurskonstellation: Person 3 bemächtigt sich mit dieser Geste des Motorblocks gegenüber den anderen; sie berührt diesen mindestens elf Sekunden lang (danach ist das Videomaterial geschnitten) mit der Hand und nimmt ihn derart für sich in Beschlag. Ihr Körper befindet sich dabei in einer lässig und souverän wirkenden Schräglage. Durch diese Zwanglosigkeit des Auftretens und ein ruhiges, aber bestimmtes Sprechen zeigt sich Person 3 als Inhaber einer Machtposition im Feld. Ohne auch nur die geringste Notiz von Person 5 zu nehmen, schiebt sie entsprechend ihren Körper im Akt des Aufstützens vollständig vor diese Person, die bis zu diesem Zeitpunkt oh-

16 Das Konzept der empraktischen Kommunikation geht zurück auf Stefan Habscheid, der sich wiederum auf Überlegungen des Sprachpsychologen Karl Bühler bezieht. In Rechnung gestellt wird mit diesem Konzept, dass Bedeutungen in Kommunikationen zwischen verschiedenen Akteuren lokal, situativ und in praxi durch »Hören und Sprechen, Wahrnehmen und Handeln« hervorgebracht werden (vgl. Porschen 2008: 206 sowie den Beitrag von Porschen in diesem Band). 246

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

nehin bereits geduckt unter der Motorhaube stehen musste, und versperrt ihr damit nun vollständig die Sicht auf den Motorblock.

Abbildung 5: Person 3 stützt sich im Motorraum ab und versperrt Person 5 die Sicht Nachdem Person 5 zunächst vergeblich versucht hat, am ›Meister‹ vorbei aus zweiter Reihe zu partizipieren, verlässt sie nach wenigen Sekunden ihre Position, ohne ausdrücklich gegen ihren Ausschluss zu protestieren oder den ›Meister‹ auch nur darum zu bitten, ein wenig zur Seite zu treten. In der Situation manifestieren sich für alle Beteiligten offenbar evidente und deshalb akzeptierte Hierarchien: Die Akteure wissen implizit, wer sich wann, wie und wo positionieren darf, wem es gestattet ist, die ›wertvollen‹ Gegenstände des Feldes zu besetzen, wem es erlaubt ist, sich und seinen Ideen Raum und Gehör zu verschaffen, und wem es andererseits ansteht, sich anzupassen, auszuweichen und so seinen eigenen Beitrag zur Performanz und (Re-)Produktion der Ordnung zu leisten. Während Person 5 durch die Bewegung des Aufstützens aus der gemeinsamen Kommunikation ausgeschlossen wird, eröffnet Person 3 durch die seitliche Verdrehung ihres Körpers im Akt des Aufstützens dagegen gleichzeitig Person 2 und später auch Person 4 einen Zugang zum Motorraum. Über die Positionierung und Bewegung des ›Meister-Körpers‹ werden so implizit Positionen zugewiesen und Rederechte verteilt: Die einen werden ins Spiel gebracht, der andere wird aus dem Spiel genommen. Person 2 ergreift das performativ erteilte Rederecht augenblicklich und macht gestisch auf die Schwierigkeiten beim Montieren aufmerksam.

Person 2: »Weißte ich ... Nun hab ich ja erst einen montiert, aber das ging sich beschissen aus. ... Guck mal. Da ist ja gar kein Platz und so, ne?«

Abbildung 6: Person 2 karikiert die Arbeit mit dem Drehmomentschlüssel

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Ein ›machtanalytischer‹ Blick auf die Demonstration von Person 2 gibt zu erkennen, dass sie die adäquate Montagetechnik dabei gleichsam karikiert. So nehmen die Demonstrations-Bewegungen mehr Raum ein als üblich und werden bis zur Dysfunktionalität überzeichnet: Person 2 verdreht ihren Körper und zieht den linken Arm seitlich am Körper weit nach oben – eine Position, in der kaum Kraft ausgeübt werden kann. Mittels dieser erkennbar ungewöhnlichen und unangenehmen Körperhaltung untermauert sie die von ihr gleichzeitig in vorwurfsvollem Ton geäußerte Ansicht, die jetzige Position des »abgeknickten Anschlusses« lasse der Montage viel zu wenig Platz. Person 4 ist damit ebenfalls unzufrieden:

Person 4: »Vor allen Dingen: Du musst das auch mal im Ganzen sehn, ob du da überhaupt noch ran ... rankommst!«

Abbildung 7: Person 4 deutet mit ausladenden, kreisenden Armbewegungen den Platz an, den sie zum Arbeiten an der Federbandschelle benötigt Person 4 setzt ebenso wie Person 2 neben einem anklagenden Tonfall vor allem ihren Körper ein, um ihre Schwierigkeiten plastisch zu veranschaulichen. Mit ausladenden Armbewegungen umreißt sie den für die Arbeit an der Federbandschelle benötigten Raum, drängt damit die anderen Akteure zugleich ein wenig zur Seite und verschafft sich selbst Raum für eine Performance, die nahtlos an die Darstellung von Person 2 anschließt: Sie fragt, ob man an den Anschluss »überhaupt noch rankommt«, und zeichnet gleichfalls mit großflächigen, übertreibenden Armbewegungen den für die Montage notwendigen Raum nach. Beide – Person 2 und Person 4 – bilden so eine sinnlich erkennbare Koalition: Sie positionieren sich nebeneinander, bestärken und ergänzen einander sprachlich und gestisch; ihre Bewegungen und selbst ihre Intonationen und Stimmlagen gleichen sich an. Sie konstituieren und zeigen sich auf diese Weise performativ als ein Kollektivsubjekt, das sich mit vereinten Mitteln Gehör zu verschaffen und seine Problemdeutungen durchzusetzen versucht. Hauptadressat ihrer Performance ist neben Person 3 auch Person 1. Deren Einwand, auch in der momentanen Position des »abgeknickten Anschlusses« reiche der Platz für eine Montage unbedingt aus, korrespondiert eine von den vorhergehenden Übertreibungen durch ostentative Sachlichkeit sich abhebende Demonstration des Montagevorgangs: Im Gegensatz zu den Bewegungen ihrer Vorgänger sind die Bewegungen von Person 1 abgemessen und präzise; sie wirken nüchtern und kontrolliert und strahlen dadurch eine Kompetenz und Autori248

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

tät aus, welche die anderen Akteure offenbar nach und nach zum ›Einlenken‹ bringt. Person 1: »Wenn hier zum Beispiel kommt diese ... Federbandschelle ... hier ... kannst du so auch arbeiten oder nicht? ...«

Abbildung 8: Person 1 demonstriert die Arbeit mit der Flachzange Person 2 jedenfalls, die das »Draufstecken« des Anschlusses zuvor noch dezidiert als »unbequem« bezeichnet hatte, beschreibt es nun nur noch als »vielleicht auch ungewohnt«; das ursprünglich allein in der ›falschen‹ Positionierung des Anschlusses verortete Problem wird nunmehr stärker in den noch nicht ausreichend an die neue Position des Anschlusses adaptierten Monteurskörper verlegt. Am Schluss der Szene macht sich Person 2 schließlich vollständig selbst für die aufgetretenen Probleme verantwortlich: »Ich hatte halt’n bisschen Schwierigkeiten, den draufzukriegen.« Person 2: »Mir kams mir kams halt so vor... beim Steck... beim Draufstecken. Das war unbequem sag ich mal vielleicht auch ungewohnt aber... Ich weiß es auch nicht so. Ich hab erst einmal probiert. Ich hab den eben angefettet, wie immer, wie gehabt, weißt ja, ne? Und dann hatte ich halt ... Ich hatte halt’n bisschen Schwierigkeiten, den draufzukriegen.« Person 4: »Ja, aber....«

Abbildung 9: Person 2 demonstriert den Akt des Steckens am Material Zwar hat Person 4 offenbar weiterhin Einwände, die sie durch ein eingeworfenes »Ja, aber...« mitteilt, sie scheint nun allerdings ebenfalls keine weiteren Argumente mehr zu finden, die für die Umsetzung des Anschlusses sprächen, sondern gibt schließlich klein bei.

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250

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28 29

25

20

Federbandschelle

Macht die Form der Schelle mit Zeigefinger und Daumen nach

Karikiert mit extremer Armbewegung die Arbeit mit einem Drehmomentschlüssel

Zeigt vehement auf den Anschluss

Beobachtung

Veranschaulicht, Guck mal. Da ist ja gar kein wie mühsam die Platz und so, ne? Bewegungen aufgrund des knappen Platzes sind

Nun hab ich ja erst einen montiert, aber das ging sich beschissen aus.

Weißte ich…

Ja!

Sprache

15

Zeigt ruhig auf den Ort, wo die Federbandschelle montiert werden soll

Beobachtung

Person 2

Den hier! Den hier meinte ich!

Wenn hier zum Beispiel kommt diese

Sprache

Person 1

11 12

9 10

Zeit in Sek Beobachtung

Mhm

dann

Wie? Wolltste den so nach vorne holn?

Den hier! Siehste?

Sprache

(unverständlich)

Karikiert mit extremen Körperund Armbewegungen das raumgreifende Arbeiten am Motor

Zeigt

Zeigt auf den Anschluss

Beobachtung

Person 4

Besetzt den Motorblock durch Abstützen mit der Hand, versperrt Person 5 die Sicht und macht Platz für Person 2 durch Körperdrehung Vor allen Dingen: Du musst das Nickt mit dem auch mal im Kopf Ganzen sehn, ob du da überhaupt noch ran ... rankommst!

Zeigt auf den Anschluss, dann nach vorne

Den abgewinkelZeigt auf ein Teil ten Anschluss, im Motorraum meinst du den hier? Den?

Sprache

Person 3

Sieht nach der Körperdrehung von Person 3 nun nichts mehr und gibt seine Stehposition auf

Kommt lautlos ins Bild. Steht dann gebeugt unter der Motorhaube und kann den Motorraum nur schlecht einsehen

Beobachtung

Person 5

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Ja, er ist nicht ... er ist trocken erstmal und sonst drückst du einfach drauf und is drin. Ich weiß es nicht …

weil du Winkel hast und das is ja auch …

Zeigt sachlich, wie viel Platz das Montieren mit einem Drehmomentschlüssel benötigen würde

Greift nach einem Stecker

Ich weiß es auch nicht so. Ich hab erst einmal probiert. Ich hab den eben angefettet, wie immer, wie gehabt, weißt ja, ne? Und dann hatte ich halt ... ich hatte halt’n bisschen Schwierigkeiten, den draufzukriegen. Bedeutet das Einfetten mit einer haltenden und einer streichenden Hand

Macht resignierende Geste mit dem rechten Arm

Mir kam es ... mir kam es halt so vor… beim Zieht ruckartig Steck... beim an dem Stecker Draufstecken. Das war unbequem sag ich mal vielleicht auch ungewohnt aber…

Simuliert Arbeitstechnik in präzisen, greifenden Bewegungen Nein, das

Zeigt mit Daumen und Zeigefinger die Stelle an

Tabelle 2: Deutung als politische Abstimmung

57

55

50

48

45

42 43

37

36

35

33

kannst du so auch arbeiten oder nicht? …

hier

Ja, aber…

Blickt zögernd zu Person 1 und sofort wieder weg

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

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Die ›politische‹ Analyse der Szene lässt mithin unterschiedliche Dimensionen der körperlich-praktischen Konstruktion einer von Machtbeziehungen durchwirkten sozialen Ordnung erkennen. Die Akteure unterscheiden sich in Kleidung, Sprache und der Souveränität ihres Auftretens. Über ihre Bewegungen, Haltungen und Gesten vollziehen und dokumentieren sie eine hierarchische Ordnung feldspezifischer Positionen, für deren Einnahme sie aufgrund ihres Besitzes an feldspezifischem Kapital offenbar disponiert sind. Zu Beginn der Szene zentriert sich die gemeinsame Praxis hauptsächlich um Person 3. Diese besetzt in der institutionalisierten Hierarchie der an der Praktik mitwirkenden Personen augenscheinlich die höchste Position und ist in der Lage, diese auch für die anderen überzeugend auszufüllen, indem sie die Interaktionen körpersprachlich koordiniert, die anderen durch verbal-sprachliche wie gestische Adressierungen je besonders positioniert, Rederechte verteilt, den einen in die gemeinsame Praktik einbezieht und den anderen ausgrenzt. Die betroffene Person 5 nimmt diesen Ausschluss jedoch nicht passiv hin, sondern bringt sich durch ihren stillschweigenden Ortswechsel selbst wieder in die Praktik ein – und zwar auf eine Weise, welche die Position des Meisters nicht in Frage stellt und es diesem gestattet, sein Gesicht zu wahren: Die Selbstpositionierung von Person 5 bleibt in der Ordnung, sie trägt zu deren Reproduktion bei. Auch die körperlich-gestischen und stimmlichen Problemübertreibungen der Akteure 2 und 4 sind in politischer Hinsicht als Aktionen innerhalb von Machtauseinandersetzungen zu verstehen. Sie adressieren vornehmlich den Meister und versuchen diesen zur Rücknahme der Veränderungen im Motorblock zu bewegen. Seine Zustimmung dazu wäre in dieser Lesart zugleich ein kleiner Triumph in einem Machtspiel gewesen. Person 1 hingegen schlägt sich performativ auf die Seite des Meisters, indem sie die dramatisierende Performance ihrer Kollegen mit einer ostentativ entdramatisierenden Darstellung kontert – um genau dadurch die Zustimmung der übrigen Kollegen zu erlangen. Die sich zunächst im Gestus des Aufbegehrens artikulierenden Personen 2 und 4 rudern daraufhin gewissermaßen zurück und fügen sich erkennbar in ihre ›Niederlage‹. Neben den institutionell mit Macht ausgestatteten Personen finden in diesem Beispiel offenbar diejenigen Gehör und setzen sich durch, die einen im Feld anerkannten, legitimen (Herrschafts-)Gestus der Sachlichkeit und Ruhe beherrschen, der sich in technisch angemessenen und unprätentiösen Bewegungen zeigt.

4 Fazit und Ausblick Unser Ziel war, komplexe Abstimmungsprozesse im Try Out Room eines Autoherstellers in den Blick zu nehmen. Dabei diente uns Bourdieus Konzept des praktischen Sinns als theoretische Sehhilfe. Dieser in Auseinandersetzung 252

PRAKTIKEN SOZIALER ABSTIMMUNG

mit feldspezifischen Anforderungen sich ausbildende und in die Körper eingehende Orientierungssinn dient in unserem Beispiel zum einen als Handlungsressource bei der gemeinsamen Lösung eines Sachproblems; zum anderen wirkt er sich als sozialer Sinn für relationale (Selbst-)Positionierungen in Machtgefügen aus, die im Vollzug der gemeinsamen Arbeit von den Akteuren etabliert werden. Vor allem in ihrer funktionalen Dimension beruht die wechselseitige Abstimmung auf dem Zusammenspiel für die Arbeitsvollzüge charakteristischer expliziter, formalisierbarer sowie impliziter, verkörperter Wissensformen; die während der Montage auftauchenden Schwierigkeiten werden entsprechend sowohl verbal-sprachlich als auch körperlich-gestisch kommuniziert. Die politische Ebene läuft demgegenüber ›nur‹ unterschwellig mit: Positionierungen im Machtgefüge des Feldes sind in den Prozess der gemeinsamen Problemlösung eingelassen, ohne von den Akteuren explizit zum Thema gemacht zu werden. Dass die Akteure ein implizites Wissen über die Feldhierarchien haben, scheint offenkundig. Über ihr diesbezügliches explizites Wissen können jedoch keine Aussagen gemacht werden. Im Vollzug der bereits über seine Verortung im Try Out Room als Versuchshandeln ausgezeichneten Praxis muss deren politische Dimension schon deshalb implizit bleiben, weil ihre explizite Thematisierung diesen Definitions- und Deutungsrahmen sprengen und das offizielle Ziel einer gemeinsamen Problemlösung gefährden würde. Es ist nicht erstaunlich, dass die Körperlichkeit und Materialität des Sozialen aus der hier eingenommenen Perspektive Bourdieus auf soziale Praxis stärker in den Blick treten als durch viele andere theoretische Brillen. In der Arbeit am Material wird darüber hinaus aber auch – zumindest ansatzweise – deutlich, auf welche Weise Sprache und Körper in der gegenstandsvermittelten Arbeit ineinander greifen. Es zeigt sich, dass sprachliche Äußerungen überwiegend nur vor dem Hintergrund eines gemeinsamen verkörperten Wissens und der erlernten Fähigkeit zum virtuellen (spürenden) Mitvollzug gestisch simulierter oder verbal-sprachlich erklärter Körpertechniken verständlich sind. In der analysierten Szene reicht das Spektrum der die Praktik am Laufen haltenden Zeige- und Aushandlungsakte von recht komplexen verbalen Erklärungen über gestische Demonstrationen von Arbeitstechniken und ein verortendes Zeigen bis hin zur konkreten Demonstration am wirklichen Material. Wie intuitiv greifen die Akteure situational auf ihnen angebracht erscheinende sprachliche wie körperliche Kommunikationstechniken zurück, um ihre Sichtweisen in der Reaktion auf das Tun der anderen zu artikulieren, verständlich zu machen und durchzusetzen. Dabei spielt das Aktivieren des ›Körperwissens‹ der anderen sowohl durch ein der Praxis zugewandtes, empraktisches Sprechen als auch durch körperlich-gestische Demonstrationen eine zentrale Rolle. Obwohl wir die politische und die funktionale Lesart des praktischen Sinns getrennt voneinander erläutert haben, behaupten wir damit keineswegs, 253

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dass beides unverbunden nebeneinander stünde. Es handelt sich um eine analytische Unterscheidung, die einen sich für das Verhältnis beider Dimensionen interessierenden Blick auf soziale Prozesse erlaubt: Greifen die funktionale und die politische Dimension sozialer Abstimmung mehr oder weniger konfliktfrei ineinander? Stützen sie sich gegenseitig? Oder können sie auch miteinander in Konflikt geraten und sich gegenseitig behindern? Im vorliegenden Beispiel scheint das sich stellende Sachproblem und seine in der kollektiven Praktik sich anbahnende Lösung zugleich zum Ausgangspunkt und Austragungsort von Machtauseinandersetzungen zu werden: Eingefaltet in die gemeinsame Arbeit am Sachproblem werden Machtkämpfe ausgetragen, ohne jedoch offen als solche angesprochen zu werden; sie bleiben vielmehr in der Praktik als Machtfragen de-thematisiert und sind nur latent als Spannungen zwischen den Akteuren spürbar. Im Umkehrschluss kann vermutet werden, dass eine spannungsfreie Zusammenarbeit so lange wahrscheinlich ist, wie eingeschliffene Spielmuster und Routinen greifen, wie jeder Handgriff sitzt und – in der Theoriesprache Bourdieus – die vom Akteur inkorporierte Geschichte (sein Erfahrungswissen, seine Körpertechniken etc.) und die in den Institutionen und Dingen der Umgebung objektivierte Geschichte in »ontologischer Komplizität« (Wacquant 1996: 42) zueinander passen, solange also das Setting (im Sinne von Schauplatz und Umgebung) das Habitat für einen auf es abgestimmten Habitus bildet. Es ergibt sich dann – ähnlich wie bei einem gut eingespielten Fußballteam, dessen Mitglieder ebenfalls verschiedene Positionen besetzen und unterschiedliche Spielanteile haben – ein Spielfluss, der die individuellen Aktionen übergreift und Statushierarchien zumindest temporär überlagert; die positionsspezifischen Tätigkeiten greifen dann wie nahtlos ineinander. Im vorliegenden Fall führt die Versetzung des abgewinkelten Anschlusses jedoch zu Irritationen des Gewohnten und damit – um im Bild zu bleiben – zu einer Störung des Spielflusses. Der Try Out Room scheint unter anderem ein institutionalisierter, von den Notwendigkeiten und Zwängen der normalen Produktion entlasteter Ort zur praktischen Reflexion und erprobenden Bearbeitung solcher Störungen zu sein. In den in diesem ›Spielraum‹ ermöglichten Probehandlungen stehen zusammen mit den funktionalen Arbeitsabläufen offenbar ein Stück weit auch die institutionell auf Dauer gestellten Hierarchien des Feldes zur Debatte; sie werden im Vollzug des problembezogenen Vorgehens performativ mitverhandelt. Der Meister (Person 3) führt in der analysierten Szene gleichsam Regie und orchestriert das Geschehen, indem er durch sein Agieren Positionen zuweist. So gibt er den Personen 2 und 4 durch seine – Person 5 gleichzeitig ausschließende – Selbstpositionierung am Motorblock als ersten die Möglichkeit, ihre Sichtweisen vorzutragen. Beide scheinen mithin Ansehen bei ihm zu genießen. In ihrem vehementen Einsatz für eine Rücknahme der Änderung kann auf der Folie der Theorie Bourdieus der Ver254

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such gesehen werden, einen Zustand wiederherzustellen, der ihr eigenes verkörpertes Praxiswissen privilegiert und darüber ihre gute Positionierung in den Rangordnungen des Feldes sicherstellt. Die von ihm nicht in den Vordergrund gespielte und sich auch nicht selbst dorthin spielende Person 1 zeigt hingegen anschließend mit zurückhaltenden Gesten und maßvollen Bewegungen, wie man mit den neuen Bedingungen praktisch umgehen könnte. Sie überzeugt dabei allem Anschein nach, indem sie im Feld anerkannte, das heißt als feldspezifisches Kapital fungierende Kompetenzen der Präzision, Sachlichkeit und Fachkenntnis belegt. Mit Bourdieu ließe sich im Vorgriff auf weitere Forschung als Hypothese formulieren, dass Person 1 von einer Veränderung der materialen Bedingungen des Motorblocks insofern profitieren könnte, als diese ihr aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit und Kreativität beim Finden von Problemlösungen eine verbesserte Position in der sozialen Hierarchie des Feldes einbringen könnte. Das sich an das Aufbrechen von gewohnten Strukturen anschließende Probehandeln scheint hier also nicht nur die Chance zur Transformation von Arbeitstechniken und -abläufen, sondern in Grenzen auch von feldspezifischen Hierarchien zu bieten; die gemeinsame Suche nach neuen Wegen und funktionalen Lösungen eröffnet offenbar zugleich einen Raum für Machtspiele. Um die Mechanismen und körperlich-materialen Voraussetzungen einer gemeinsamen Praktik auszuleuchten, haben wir eine an Bourdieu orientierte theoretische Analyseoptik, insbesondere sein Konzept des praktischen Sinns, verwendet. Ohne diese Optik hätten wir dem empirischen Material unsere Erkenntnisse kaum abgewinnen können. Die von ihr nahegelegte Aufmerksamkeit für die Relevanz eines verkörperten Wissens im Vollzug einer gemeinsamen Praktik trifft in neueren körpersoziologischen und praxistheoretischen Debatten17 auf einen vielstimmigen Resonanzboden. Gemeinsamer Fluchtpunkt dieser Debatten ist eine Kritik am Mentalismus klassischer Handlungstheorien, der mit Hinweisen auf die Bedeutung des Körpers nicht nur als Objekt gesellschaftlicher Einschreibungen und kultureller Kodierungen oder als Medium sozial-distinktiver (Selbst-)Darstellungen, sondern vor allem auch als Agens oder gar als »Handlungssubjekt« (Gebauer 1997; vgl. auch Gugutzer 2004: 14ff., 118ff.) gekontert wird. Damit werden vom sozialwissenschaftlichen Mainstream lange Zeit vernachlässigte Handlungsdimensionen zwar einerseits grundlegend aufgewertet. Andererseits verbindet sich mit dieser Aufwertung jedoch auch die Gefahr einer bloßen Umkehrung traditioneller Körper-Geist-Hierarchien, wenn nunmehr – wie es mitunter geschieht – das Geistige in Relation zum Körperlichen randständig behandelt wird. Demgegenüber führte uns die theoriegeleitete Analyse der Videosequenz zu der Einsicht, dass für den Vollzug einer gemeinsamen Praxis nicht entwe17 Für einen Überblick vgl. Reckwitz 2003; Gugutzer 2004. 255

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der geistige und sprachliche oder körperlich-sinnliche und gestische Fähigkeiten ausschlaggebend sind, sondern deren Zusammenspiel. Exemplarisch wurde deutlich, dass Theorie für empirisch induzierte Irritationen, Erweiterungen und Präzisierungen offen sein muss, um ein genaueres Begreifen des Sozialen zu ermöglichen. Diese betrifft ebenso die Schärfung und Differenzierung unseres Leitkonzepts des praktischen Sinns: Nachdem wir im Anschluss an eine erste oberflächliche Sichtung des Videomaterials noch den Eindruck hatten, es ginge ausschließlich um die Lösung eines Sachproblems, ergab die genauere Analyse, dass die gemeinsame Suche nach einer Problemlösung auf einer zweiten, unterschwelligen Ebene zugleich von Machtspielen begleitet und überlagert wird. Wir haben daraufhin beide Ebenen in getrennten Erzählsträngen zu rekonstruieren und so das Wirken des praktischen Sinns in beiden Dimensionen zu plausibilisieren versucht. Im Sinne einer empiriebasierten Weiterentwicklung praxeologischer Theorieansätze müsste es in weiteren Untersuchungen nun erstens darum gehen, das Verhältnis und Zusammenspiel verschiedener Verstehensfähigkeiten und (impliziter, expliziter, geistiger und körperlich-sinnlicher) Wissenskomponenten in der gemeinsamen Praxis noch viel genauer zu reflektieren und auszuarbeiten, als es uns möglich war. Und zweitens gilt es, sowohl die von uns angedeutete analytische Differenzierung zwischen einer funktional-sachproblembezogenen und einer politisch-machtbezogenen Dimension sozialer Abstimmung weiter zu entfalten als auch empirisch genauer die Beziehungen und Verschränkungen beider Dimensionen in konkreten sozialen Praktiken herauszuarbeiten. Erst damit wäre es möglich, die (Dominanz-)Verhältnisse zwischen den körperlichen und geistigen sowie zwischen den funktionalen und politischen Bedeutungsaspekten sozialer Praktiken aufzuschlüsseln.

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Verkörperte Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialen Handelns. Eine praktisch-theoretische Forschungsperspektive BARBARA PIEPER/DANIEL CLÉNIN

1 Einleitung: Der prismatische Zugang  eine praktisch-theoretische Forschungsperspektive1 Wird die Körperlichkeit sozialen Handelns erforscht, erhebt sich die Frage, wie sie sich angemessen  und das kann nur heißen: leiborientiert  empirisch erfassen lässt. In unserem Beitrag stellen wir dazu einen Operationalisierungsweg vor, bei dem die Körper- und Leibkomponente2 konsequenter als sonst üblich berücksichtigt wird: Die Forschenden verstehen sich hier auch in ihrer Forschungstätigkeit als verkörpert Handelnde und bringen sich als »Konstituens von Wissen« leiborientiert in den Forschungsprozess ein. Die Dynamik in Fragestellung und Vorgehen entwickelt sich in unserem Untersuchungsdesign darüber, dass die am Forschungsprozess Beteiligten verschiedene Erkenntniswege kombinieren und deren Bezüge untereinander erkunden: Leiberfahrung, Notation des Beobachteten, Reflexion, Dialog über Gegenstand und Prozess, Rückgriff auf erarbeitete Materialien und Vergleich dieser Mate1

2

Im Text werden die Beteiligten zur besseren Lesbarkeit nur in der männlichen Sprachform bezeichnet. Wir danken den Teilnehmern der Workshops in München (SFB 536) und Heidelberg (DISCOS) für die anregende Zusammenarbeit, insbesondere Fritz Böhle, Hanne De Jaegher und Thomas Fuchs; Katrin Dirschwigl und Michael Pieper für sorgfältige Durchsicht des Manuskripts, Frank Arnsperger für die grafische Gestaltung der Abbildungen, Margit Weihrich und Frank Seiß für ihre editorische Tätigkeit. Der Körperbegriff wird hier pragmatisch für die »Sachebene« der Verkörperung und Körpergebundenheit sozialen Handelns verwendet; der Leibbegriff für die methodische Ebene. Zum Körper-Leib-Diskurs vgl. Fuchs 2008a: 99ff. (Doppelaspekt von Leib und Körper); Uzarewicz 2005. 261

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rialien. Über diese Perspektivenwechsel entfalten sich vertiefte oder neue Erkenntnisse zum Untersuchungsgegenstand. Dieses Vorgehen erfordert ein eigenes Konzept mit entsprechender Begrifflichkeit (Abschnitt 3), spezifischem Untersuchungsdesign (Abschnitt 4) und besonderer Methodik (Abschnitt 5). Bewährte Standards wie Systematik, Reflexion, Nachvollziehbarkeit und Dokumentation von Ansatz und Vorgehen müssen dabei nicht aufgegeben werden. Unsere praktisch-theoretische Forschungsperspektive hat sich in den letzten zehn Jahren über drei Entstehungsstränge (Abschnitt 2) entwickelt: Subjektorientierte Soziologie, Feldenkrais und die Künste. Jeweils zwei davon finden sich in unseren Biografien wieder. Wir arbeiten beide als FeldenkraisPractitioner in eigener Praxis, Barbara Pieper ist zudem Sozialwissenschaftlerin, Daniel Clénin hat einen nebenberuflichen Hintergrund in Schauspiel und Pantomime.3 Da wir im Rahmen unserer Feldenkrais-Tätigkeit Theorie und Praxis miteinander verschränken, können wir theoretische Fragestellungen und Aussagen in unserer Praxis auf ihre Anwendbarkeit hin ausprobieren und umgekehrt Erfahrungen und Erkenntnisse einer leiborientierten Praxis in die theoretische Entwicklung einbringen. Entsprechend ist unser Beitrag aufgebaut. Wir haben weniger einen linear argumentierenden Text verfasst als einen »prismatischen«, in dem sich die verschiedenen Untersuchungsperspektiven aufeinander beziehen und miteinander vermitteln. Die theoretische Darstellung von Konzept, Begrifflichkeit und Methodik wird mehrfach unterbrochen und immer wieder auf Forschungspraxis (rück-) bezogen: Wir schildern ein Kurzexperiment aus einem Workshop, der im November 2008 im Rahmen des SFB 536 »Reflexive Modernisierung« veranstaltet worden ist und bei dem 13 Wissenschaftler Erfahrungen mit unserem Ansatz machen konnten (Abschnitte 4 und 6). Thema waren Fragen sozialer Abstimmung beim Arbeitshandeln, u.a. am Beispiel einer Arbeitssituation in einem türkischen Friseursalon (Filmsequenz von Agneskirchner 1999, auch in Dunkel/Rieder 2004). Im Zentrum steht hierbei der »Doppelaspekt der Wahrnehmung« als ein allgegenwärtiges Lebensprinzip (Abschnitt 3.3). Dieser Begriff beschreibt die wechselseitige sinnhafte Orientierung der Akteure aneinander. In diesem Prozess ist die (gleichzeitige) Selbstwahrnehmung des einen genauso zwingend notwendig wie die Wahrnehmung des anderen. Dennoch und erstaunlicherweise wird die Selbstwahrnehmung der Akteure in soziologischen (Hand3

Barbara Pieper hat viele Jahre im Sonderforschungsbereich 101 der Universität München gearbeitet (dem Vorvorgänger des SFB 536) und hier die subjektorientierte Soziologie mit entwickelt. Mit diesem Beitrag ergänzt sie ihre Darlegung zur Körpergebundenheit sozialen Handelns (Pieper 1997) um konzeptionelle Entwicklungen und Operationalisierungswege, wie sie in Zusammenarbeit mit Daniel Clénin seit 2000 entstanden sind.

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VERKÖRPERTE SELBST- UND FREMDWAHRNEHMUNG SOZIALEN HANDELNS

lungs-)Theorien wenig thematisiert oder in ihrer Ausprägung und Bedeutung für soziales Handeln unterschätzt (Abschnitte 2.1 und 3.3). Ob das daran liegt, dass die Forschenden die Wahrnehmung ihrer selbst aus dem Forschungsprozess heraushalten und es bei der Sicht auf die Phänomene belassen (wollen)? Unsere Forschungsperspektive ergänzt diese herkömmliche »Drauf-Sicht«. Beziehen die Forschenden Selbst- und Fremdwahrnehmung in ihr forschendes Tun ein, entfaltet sich eine Dynamik mehrerer Wahrnehmungsbezüge mit jeweils unterschiedlichen Wahrnehmungsqualitäten (Abschnitt 3.2). Es macht einen signifikanten und spürbaren Unterschied, von wo nach wo (und wozu) die Akteure einander wahrnehmen. Die Wahrnehmung bei einer Unterhaltung auf sich selbst zu richten ist ein prinzipiell anderer Vorgang, als sich dabei (gleichzeitig) auf den Gesprächspartner zu beziehen, sich in ihn hineinzuversetzen. Allerdings: Um diesen Unterschied zu empfinden, zu erkennen und in Wissenschaft (und Alltag!) methodisch zu nutzen, braucht es leiborientierte praktische Erfahrung. Wir bezeichnen unsere Forschungsperspektive als »prismatisch«, passend zu Absicht, Konzept und Vorgehensweise: Ein Prisma ermöglicht durch Auffächern in verschiedene Farben unterschiedliche Perspektiven auf die Wahrnehmung von Licht, ohne dass das Licht in seine Bestandteile zerlegt und seine Einheit damit zerstört wird. Wird die Brechung später aufgehoben, verbleiben neue und vertiefte Kenntnisse über seine Beschaffenheit.4 Entlang des Kurzexperiments zeigen wir, dass die Körperlichkeit sozialen Handelns über einen prismatischen Zugang »greifbar(er)« wird (Abschnitt 6). Damit können komplexe Forschungsfragen in einem anderen Licht erscheinen und bearbeitet werden: Die Wechsel zwischen implizitem und explizitem Wissen lassen sich als »mäandernde« beschreiben, wenn Forschungsprozesse »wahr-nehmend« und »wahr-gebend« gestaltet werden. Wir zeigen den Erkenntnisgewinn einer verkörperten Forschungspraxis bei der Generierung und Verallgemeinerung von Wissen. Der Grad der Komplexität dürfte sich in einer verkörperten Forschungspraxis entgegen der Erwartung eher verringern als erhöhen; denn soziales Handeln wird in dem leiborientierten, adäquaten Zusammenhang erforscht, der in ihm ohnehin angelegt ist (Abschnitt 7).

4

Den prismatischen Zugang haben wir entwickelt im Rahmen eines internationalen Projekts zur Qualitäts- und Kompetenzentwicklung des professionellen Feldes Feldenkrais. Statt von oben Kompetenzprofile und Qualitätsmaßnahmen zu verordnen, orientierte sich unser Zugang an Erleben und Erfahrungen der Arbeitstätigen, um mit ihnen entlang ihrer Praxis das Wissen um eigene Kompetenz und Qualität der auszuübenden Tätigkeit »hervorzuholen«, aber gleichwohl zu Verallgemeinerungen (zum Beispiel Qualitätskriterien beruflicher Praxis) zu gelangen (Clénin 2000; Überblick: Black et al. 2009). 263

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2 Entstehungszusammenhang In unsere Projektarbeit haben wir über die Tätigkeit als Feldenkrais-Practitioner hinaus unterschiedliche berufliche und nebenberufliche Kenntnisse und Erfahrungen eingebracht. Statt systematischen Suchens nach zueinander passenden Konzepten und Praktiken hat eher Biografisches eine Rolle dabei gespielt, gerade die drei folgenden Denk- und Erfahrungsrichtungen in die prismatische Forschungsperspektive einzubeziehen.

2.1 Subjektorientierte Soziologie Subjektorientierte Soziologie5 nimmt »systematisch die (wechselseitigen) Einwirkungen von Individuum und gesellschaftlichen Strukturen aufeinander in den Blick [...]« (Bolte 1997: 35). Sie ist keine soziologische Theorie oder Schule, sondern eine allmählich entstandene Forschungsperspektive, angelegt auf permanente Transition und Transformation (Pongratz/Voß 1997b: 23) und »forschungspraktisch gelebte Offenheit« (ebd.: 13). Das Forschungsinteresse bezieht sich zwar auf die Subjekte, aber nicht, um deren Verhalten losgelöst von Gesellschaft zu erfassen. Ebenso wenig werden gesellschaftliche Normen und Institutionen ungeachtet der von ihnen betroffenen und in ihnen agierenden Individuen erforscht. Vielmehr untersucht die subjektorientierte Soziologie in einer spezifischen Weise das »Zwischen«  die Verbindungsstellen: Sie rückt »das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Mensch und Gesellschaft ins Blickfeld« (Bolte/Treutner 1983: 15), indem sie die Menschen in einer Doppelrolle sieht, als »Produkte und Produzenten sozialer Verhältnisse« (ebd.: 29). Die Betonung der gesellschaftspraktischen Vermittlung zwischen Mensch und Gesellschaft (ebd.: 33) ermöglicht, von einem Pol (Individuum) zum anderen (Gesellschaft) und umgekehrt zu denken, mitzugehen und mitzuverfolgen, wie Individuum und Gesellschaft aufeinander einwirken. Der systematische Wechsel der Perspektiven ist hierbei Methode (Pieper 1997: 300ff.). So verbleibt die Untersuchung in der dynamischen Wechselseitigkeit von Subjekt und Struktur, anstatt (wie so oft) aufgeteilt zu werden in eine Mikro- und eine Makrobetrachtung.

5

Ein Überblick findet sich in Pongratz/Voß1997a und Weihrich o.J; einführend: Bolte/Treutner 1983; Bolte 1997; zum Verfahren: Pieper 1983; zur Verkörperung gesellschaftlicher Strukturen im Handeln von Subjekten unter Berücksichtigung der Feldenkrais-Methode: Pieper 1997.

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VERKÖRPERTE SELBST- UND FREMDWAHRNEHMUNG SOZIALEN HANDELNS

2.2 Feldenkrais Die Feldenkrais-Methode6 wurde entwickelt von Moshé Feldenkrais (1904 bis 1984), Physiker, »Martial Artist« (Judo-Kampfkunst) und Praktizierender seines Lernverfahrens. Feldenkrais erforschte Zusammenhänge von menschlicher Entwicklung mit Bewegung, Lernen und Handeln. Seiner Zeit weit voraus, untersuchte er hierbei unter anderem Schwerkraft als Bedingung für Verhalten. Er fragte nicht nur: Was geschieht und warum, sondern auch: Wie geschieht was und wozu? Körperhaltung verstand er deshalb nicht als statischen Zustand (»posture«), sondern als dynamisches Geschehen, das sich auf Verhalten bezieht (»acture« aus action und posture). Feldenkrais orientierte sich an der Schlüsselstellung von Sinneswahrnehmung und Bewegung (Sensomotorik) für Entstehung, Stabilität, Verfestigung und Wandel von Verhalten. Der Bewegungssinn (Kinästhesie) geht zurück auf die altgriechischen Wörter kinein = sich bewegen und aísthesis = Wahrnehmung. Je ausgebildeter dieser Sinn ist, desto angemessener können Gegenstände, Lebewesen und Sachverhalte voneinander unterschieden werden. Das ist eine der Voraussetzungen für Erleben, Erkennen, Verstehen, Erfinden und zweckgemäßes Handeln. Handeln geht stets einher mit Bewegung. Wer sie ausführt, möchte etwas Bestimmtes tun oder ausprobieren. Feldenkrais erkannte die »Handlungsrelevanz von Bewegung« (Pieper/Weise 1996: 15) und nutzte sie für Entwicklung und Veränderung von Verhalten. In jedem Menschen ist die Fähigkeit angelegt, sich immer wieder auf veränderte Bedingungen einzustellen und Lebensbedingungen neu zu gestalten. Potenzial und Individualität des Menschen haben sich über verkörperte Erfahrung im Spüren (Sinnesempfinden), Fühlen, Denken und Tun entwickelt und sind im Subjekt, in dessen Selbstbild und leiblicher Bewegungsorganisation verwoben und »gespeichert«. Darum sollte Verhalten auf demselben Wege auch wieder verändert werden (können). Das Wie rangiert hierbei vor dem Was: »Wenn Sie wissen, ›was‹ Sie tun, und noch viel wichtiger, ›wie‹ Sie dabei von sich Gebrauch machen, werden Sie auch so handeln können, wie Sie’s möchten« (Feldenkrais 1987/2007: 109). Bewusstheit meint hier also, sich seiner selbst inne »sein für die Art und Weise, wie man sich im Leben beim Handeln oder Funktionieren selber leitet« (ebd.: 140). Damit wird Bewusstheit zur grundlegenden Orientierung und Praxis im Handeln. Sich im Handeln selbst (und möglichst auch andere und anderes) gleichzeitig wahrzunehmen gilt als Voraussetzung für Zutrauen und Kompetenz in Handlungsoptionen über bisherige Grenzen hinaus. 6

Grundlegende Texte: Feldenkrais 1952, 1957/1989, 1968/2008, 1987/2007; Kurzinformation zu Feldenkrais www.barbarapieper.de, Beschreibung der Methode: Pieper/Weise 1996; Subjektorientierte Soziologie und Feldenkrais-Methode: Pieper 1997; Feldenkrais im Kontext somatischer Bildung: Pieper 2003. 265

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2.3 Die Künste Die künstlerische Annäherung an die Welt ist fast immer leibgebunden. Deutlicher als anderswo steht die Auseinandersetzung mit dem Formalen im Vordergrund. Bei Pantomime, Tanz, Schauspiel ist es das körperbetont Leibgebundene, in Musik und Literatur das (Klang-)Sprachliche, um das gerungen wird in dem Versuch, eine adäquate Form der Darstellung und Äußerung zu finden und zu gestalten. In der Musik prägt das Materiell-Konkrete der Instrumente, auf denen sie gespielt wird, die Struktur des Musikalischen und die daraus abgeleiteten Theorien. Die (literarische) Sprache geht immer zurück auf die gesprochene Sprache, die noch ursprünglicher eine Form der Gebärde ist, mit der Inhalte leibgebunden angemessen vermittelt werden. In vielen Künsten ist es selbstverständlich, sich auf die Phänomenologie des Wahrnehmens und Erlebens vielfältig einzulassen. Die (Selbst-)Reflexion der dabei eingenommenen Perspektive gehört intuitiv oder sehr bewusst dazu. Durch die anspruchsvolle Verdichtung entsteht ein Werk, das oftmals noch durch einen Interpreten vermittelt wird – und dieser ist gefordert, die ihm zur Verfügung stehenden leiblichen Gegebenheiten werk- und publikumsgerecht einzusetzen.

2.4 Vorzüge und Leerstellen Wir greifen hier vier Eigenschaften der genannten Ansätze heraus, die für die prismatische Perspektive im Kontext der Körperlichkeit sozialen Handelns von besonderer Bedeutung sind: (1) Offenheit und Dynamik. Subjektorientierte Soziologie und Feldenkrais kennzeichnet theoretische (bei Feldenkrais auch praktizierte) Offenheit. Entworfen werden Perspektiven in Forschung und Praxis, aus denen sich Theorien erst entwickeln. Auf diesem Wege kommen immer wieder neue Interdependenzen in den Blick; rekursive Wechselwirkungen, in denen eine dynamische Betrachtung von Gegebenheiten (»Struktur«) und deren Gebrauch (»Funktion«) angelegt (und gewünscht) ist. Dazu ein Beispiel: Im Menschen sind phylogenetisch Bewegungsmuster wie Stehen, Gehen, Greifen, Sexualakt etc. »vorarrangiert«. Im Verlauf seiner Lebensgeschichte (Ontogenese) überformt der Mensch diese Dispositionen. So entwickelt sich eine ihm eigene Bewegungsorganisation, die sich so weit verfestigen kann, dass sie ihm schließlich wie vererbt, wie ein von seinem Verhalten unabhängiges strukturelles Bewegungsmuster erscheint. Dabei wirkt die Art und Weise, wie ein Mensch ›funktioniert‹, d.h. wie er die in ihm angelegte Bandbreite von Bewegungen aktualisiert, auf die Struktur seines 266

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Organismus zurück: Seine Denk-, Gefühls- und Körperstruktur entspricht im Laufe der Zeit immer mehr seinem Verhalten; denn solange ihm dies Zusammenwirken nicht bewusst ist, wählt er nur mehr diejenigen Bewegungen aus, die seinem Selbstbild entsprechen, nach dem er handelt. (2) Handlungskonzept. In der Soziologie gehört die soziale Konstituierung von Handeln zu den ausgewiesenen Wissensbeständen. Akteure bewegen sich in einem sozialen Kontext und beziehen sich in ihrem Verhalten intentional aufeinander  weit mehr, als ihnen bewusst ist. Subjektivität und Objektivität vermitteln sich  zumindest in der subjektorientierten Soziologie  über die »Zwischenmenschlichkeit« oder Intersubjektivität. Für einen Physiker ungewöhnlich, verwendet Feldenkrais ebenfalls ein Handlungskonzept, in dem er die Intentionalität von Bewegung hervorhebt. Der Mensch hat die Chance, gesellschaftliche Prägungen zu überwinden und zu Wachstum, Reife und Autonomie zu gelangen, indem er davon absieht, ein »nützlich funktionierendes Glied« der Gesellschaft (Feldenkrais 1968/2008: 40) sein zu wollen, und sich selbst lenken lernt. Dass der Mensch zwar Geformter, aber auch Formender der Gesellschaft ist – nicht nur seiner selbst –, thematisiert Feldenkrais nicht. Zwar wird in der praktischen Anwendung der Methode insbesondere in der Einzelstunde sehr subtil die enge Verbindung und Verbundenheit zweier Personen erkannt, genutzt und geschult. Sein Handlungskonzept übersieht aber die Dialektik sozialen Handelns als intersubjektiv verfasstes Prinzip. (3) Leibgebundenheit von Handeln. Die Soziologie, auch die subjektorientierte, bleibt weitgehend abstrakt (Pieper 1997: 144ff.). Sie hat die Körpergebundenheit von Handeln lange Zeit übersehen (wollen). Bei Feldenkrais ist Leiborientierung hingegen konstitutiv für Verhalten, systematisch berücksichtigt und elaboriert. Unterschieden werden vier Bestandteile des Tuns – Spüren, Fühlen, Denken und Bewegen. Sie aktualisieren sich in dem Bild, das sich ein jeder von sich macht und das handlungsleitend ist (Feldenkrais 1968/2008: 19). (4) Betrachtung der ersten, zweiten und dritten Person. Die subjektorientierte Soziologie bringt zwar die erste, zweite und dritte Person zueinander in Beziehung, erkennt Intersubjektivität als Vermittlungsinstanz, konzentriert sich dann aber doch (wieder) auf zwei Pole (Individuum und Gesellschaft), wenn auch in wechselnden Perspektiven. Beim alltäglichen Praktizieren von Feldenkrais in Kursen und Einzelstunden sind die Bezüge auf die erste und zweite Person vorrangig. In theoretischen Darlegungen zur Feldenkrais-Methode wird die Person zumeist der Gesellschaft entgegengesetzt und die Dynamik des Zweite-Person-Bezugs für die Vermittlung zwischen erster und dritter Person unterschätzt. 267

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Die Künste beschreiben, überzeichnen, verfremden Lebenswelten, ermöglichen Einblicke in Selbst- und Fremdwahrnehmung dargestellter Personen oder darstellender Künstler in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sie beanspruchen zumeist nicht, Systematiken vorzulegen oder über die dargestellten Phänomene zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Fazit: In der subjektorientierten Soziologie wird in der Wechselseitigkeit sozialen Handelns die (abstrakt gefasste) Wahrnehmung des jeweils anderen betont. Jeder ist Wahrnehmender und Wahrgenommener zugleich. Übersehen wird, dass sich die Akteure hierbei auch selber wahrnehmen. Umgekehrt bei Feldenkrais: Hier steht die leiborientierte Selbstwahrnehmung im Zentrum. Die Wahrnehmung des anderen als konstitutives Element von Handeln (und Entwicklung!) bleibt dahinter zurück. In der prismatischen Perspektive haben wir die jeweiligen Vorzüge der drei Denk- und Erfahrungsrichtungen aufgegriffen und sie konzeptionell und methodisch in einer Weise verknüpft, dass sich bisher vorhandene Leerstellen füllen können.

3 Einführung in Konzept und Begrifflichkeit 3.1 Praxis vor Theorie Wir bezeichnen unseren Ansatz als eine »praktisch-theoretische Forschungsperspektive«. Damit möchten wir den Vorrang der Praxis vor der Theorie (Böhme 2003: 9) unterstreichen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um körperbezogene Projekte und Analysen handelt. Unser Beitrag enthält deshalb auch einen praktischen Teil (Abschnitte 4 und 6). Wir stellen ein Konzept vor, das Operationalisierungsmöglichkeiten zur Thematik der Körperlichkeit sozialen Handelns bietet und hierbei die Leibkomponente systematisch und konsequent berücksichtigt. Dazu verwenden wir einen intersubjektiven funktionalen Zugang. Die hieran beteiligten Personen betrachten und nutzen sich selbst als körperbezogenes Instrument (»tool«), um Erkenntnisse zu einer bestimmten Fragestellung zu erarbeiten. Wir haben eine strukturierte, körperorientierte Methode entwickelt, bei der die Forschenden über eine Abfolge von Perspektivenwechseln in eine handelnde Beziehung zu ihrem »Untersuchungsgegenstand« eintreten. Üblicherweise treten die Forschenden beim Beobachten aus der zu beobachtenden Situation heraus. Sie bedienen sich einer Sicht von außen auf den Untersuchungsgegenstand (»Drauf-Sicht«) und halten auf diese Weise Abstand, der ihnen eine gewisse Neutralität oder Objektivität beim Beobachten ermöglichen soll. Diese »eingefleischte« Trennung von Wissens- und Erfahrungsbereichen hat sich über Jahrhunderte herausgebildet. Sie hat zu im268

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mensem Wissenserwerb und vielen Erkenntnissen beigetragen – allerdings eben um den Preis der Trennung. Forschende sind von ihrem Selbstverständnis und Handeln in der Tradition aufgewachsen, dass Forschungsergebnisse je verlässlicher sind, je besser es ihnen gelingt, subjektives Erleben außen vor zu lassen. Beim prismatischen Zugang endet die Körperbezogenheit nicht beim »Untersuchungsgegenstand«. Die Forschenden nehmen die Körperlichkeit sozialen Handelns ernst, indem sie sie auch auf sich beim Forschen beziehen. Sie bringen ihre eigenen Wahrnehmungen gestaltend in den Untersuchungsprozess ein. Diese erweiterte, herausfordernde Aufgabenstellung ist für die Forschenden und den Forschungsprozess mit einem erheblichen Qualitätssprung verbunden. Konzept und verwendete Begrifflichkeit7 haben sich im Wechsel von gelebter Praxis und Theorie allmählich herausgebildet. Wir verwenden unsere Forschungsperspektive fortlaufend in praktischen Projekten und können sie entsprechend rasch überprüfen, präzisieren, abwandeln oder auch fallen lassen.

3.2 Unterscheidung von Wahrnehmungsbezügen in raumzeitlichem und sozialem Kontext Mit dem Begriff Wahrnehmungsbezüge lässt sich beschreiben, von wo nach wo eine Wahrnehmung erfolgt, hergestellt wird oder sich herstellt. Der Begriff bezieht sich auf die Gerichtetheit der Wahrnehmung in einem raumzeitlichen, aber auch in einem sozialen Bezugssystem. Die Wahrnehmung kann erfolgen (oder vermieden werden!) von rechts nach links, von oben nach unten, von rückwärts nach vorne, von draußen nach drinnen oder umgekehrt; vom Kopf zum eigenen Fuß, vom Kopf zum Fuß eines anderen, von der Zimmerdecke zum Kopf, von einem Zimmer zum anderen, vom Flugzeug auf die Stadt oder umgekehrt.

7

Unser Ansatz stellt sich in die Denktraditionen von Böhle 2009 (Erfahrungswissen); Bolte/Treutner 1983; Bolte 1997; Berger/Luckmann 1969; Bühler 1927 (reflexive Wahrnehmung); Feldenkrais 1987/2007; Fuchs 2008b: 357 (»Doppelaspekt der Person«); Mead 1973 (Identität – I & Me – als gesellschaftlicher Prozess); Merleau-Ponty 2003 (Zwischenleiblichkeit), Noé 2005 (Wahrnehmung als Tätigkeit); Pfeifer/Bongard 2007 (Embodied Intelligence); Plessner 1928/ 1975 (exzentrische Positionalität); Schmitz 1992: 57 (wechselseitige Einleibung als Basis der Sozialkontakte); Schön 1984 (reflection in action); Weber 1922/ 1956, Kapitel 1 (wechselseitige sinnhafte Orientierung Handelnder aneinander). Die Körperlichkeit sozialen Handelns wird in der Literatur allerdings – im Unterschied zu den Autoren dieses Bandes – eher selten systematisch einbezogen. Falls doch, fehlen häufig Schritte in eine leiborientierte Operationalisierung theoretischer Fragestellung. 269

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Das klingt alltäglich. Der Begriff umfasst jedoch mehr, als lediglich einen Fokus in einer bestimmten Weise auszurichten. Bei jedem Wahrnehmungsbezug entstehen andere Eindrücke. Je nachdem, von wo nach wo eine Wahrnehmung erfolgt, welche Wahrnehmungsbezüge sich also jeweils konstellieren, ist die Art und Weise der Wahrnehmung eine andere: Sie fühlt sich anders an, ist von anderem Denken begleitet, ist auch sensorisch anders; und so gestaltet sich auch die damit einhergehende Ausführung unterschiedlich. Machen Sie dazu ein kleines Experiment (im Stehen oder Sitzen): Legen Sie Ihre rechte Handfläche auf Ihren linken Unterarm und bewegen Sie Ihre rechte Hand auf Ihrem linken Unterarm zwischen Handgelenk und Ellbogen hin und her. Ihre rechte Hand erkundet also den linken Unterarm. Achten Sie dabei auf die Empfindung der Berührung in Ihrer Hand. Fahren Sie mit der Bewegung fort, aber jetzt ändern Sie Ihre Absicht und damit auch die Gerichtetheit Ihrer Wahrnehmung. Jetzt soll Ihr linker Unterarm Ihre rechte Hand wahrnehmen. Beobachten Sie sich: Was passiert jetzt? Sie haben lediglich Ihren Wahrnehmungsbezug geändert: Erst war Ihre rechte Hand »Initiator« der Wahrnehmung Ihres Arms. Jetzt initiieren Sie die Wahrnehmung von Ihrem linken Unterarm in Richtung zur rechten Hand. Dieser zweite Wahrnehmungsbezug dürfte für Sie sehr wahrscheinlich ungewohnter sein. Worin hat sich das bei Ihnen gezeigt? Haben Sie zum Beispiel die Bewegung Ihrer rechten Hand auf Ihrem linken Unterarm ein wenig »abgebremst«, um die ungewohnte Aufgabe ausführen zu können? Das bedeutet: Sie haben einen Unterschied gespürt, sonst hätten Sie nicht das Timing der Bewegung verändert.

Wahrnehmungsbezüge sind per se gegeben und als Phänomene in vielen Disziplinen bekannt (Architektur, Künste, Philosophie). Uns interessiert ihre Bedeutung für soziales Handeln. Wahrnehmungsbezüge sind erfahrungsgebunden und damit je nach Situation und Absichten der Akteure unterschiedlich ausgerichtet und ausgeprägt. Sie entwickeln sich intentional und »zirkulär«: Was ich wahrnehme, hängt davon ab, wie ich wahrnehme; und wie ich wahrnehme, hängt davon ab, was ich wahrnehme. Was ich spüre bei der Berührung meines Unterarms durch meine Hand, hängt davon ab, wie  von wo nach wo  ich meinen Unterarm wahrgenommen habe: von der Hand zum Unterarm oder vom Unterarm zur Hand. Im alltäglichen Erleben fließen solche Unterschiede in den Wahrnehmungsbezügen zumeist ineinander und sind nicht ohne weiteres erkennbar oder der Reflexion zugänglich. Die Bedeutung der Unterschiede im Erleben, wie sie im Zuge der Gerichtetheit von Wahrnehmung entstehen, wird weithin unterschätzt. Ohne eigene praktische Erkundung über den Leib wird man sich fragen: Wieso sollte es einen Unterschied geben, von welchem Bezug her die Berührung und Bewegung zwischen Hand und Arm erfolgt? An diesem Beispiel zeigt sich, wie eng die eigene körperliche Erfahrung mit theoretischer Erkenntnis einhergeht. Es gibt bisher unseres Wissens keine 270

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Theorie, die körperbezogene Unterschiede im Erleben der Wahrnehmungsbezüge als grundlegend für Verhalten thematisiert. Es wurde z.B. nicht empirisch untersucht, inwieweit je nach Wahrnehmungsbezug unterschiedliche neuronale Prozesse ablaufen, wenn bei der Berührung von Hand und Unterarm die Hand den Unterarm oder der Unterarm die Hand wahrnimmt. Dazu müsste eine Fragestellung erst einmal aus der Erfahrung heraus gestellt worden sein und nicht, wie zumeist, von einer Theorie her, die es dann zu bestätigen oder zu falsifizieren gilt.

3.3 Doppelaspekt der Wahrnehmung: Selbst- und Fremdwahrnehmung Der Weg über reflektierte körperbezogene Praxis macht es leichter, die grundlegende Bedeutung der Wahrnehmungsbezüge zur Erforschung der Körperlichkeit sozialen Handelns konzeptionell und methodisch zu nutzen. Hierzu ein weiteres Experiment mit Hand und Arm. Sie brauchen dazu einen Mitspieler. Legen Sie Ihre Hand (Innenseite) auf den Unterarm Ihres Mitspielers. Bewegen Sie Ihre Hand auf dem Unterarm des Mitspielers zwischen Handgelenk und Ellbogen hin und her. Nehmen Sie jetzt zuerst wahr, was Sie bei sich selbst spüren, während Ihre Hand sich auf dem Unterarm des anderen entlang bewegt. Setzen Sie die Bewegung fort. Doch jetzt wechseln Sie den Wahrnehmungsbezug. Sie versetzen sich in den Mitspieler hinein: Was wird der andere wohl bei der Bewegung Ihrer Hand auf seinem Unterarm spüren? Schreiben Sie ganz kurz beide Eindrücke auf – erst Ihre Wahrnehmung zu sich selbst und dann Ihre Wahrnehmung beim Hineinversetzen in den anderen. Erst dann wechseln Sie die Rollen, bis auch Ihr Mitspieler zwei kurze Äußerungen zu seinen beiden Wahrnehmungsbezügen notiert hat. Bei diesem Experiment haben Sie sich selber gespürt und Ihren Mitspieler und Ihr Mitspieler hat Sie gespürt und auch sich selber. Vergleichen Sie Ihre notierten Äußerungen zu Ihren Wahrnehmungen.

In Interaktionen von zwei Akteuren finden vier grundlegende Wahrnehmungsbezüge mehr oder weniger gleichzeitig statt. Wir verwenden hierfür den Begriff des »Doppelaspekts der Wahrnehmung«. In dem Experiment hat jeder der beiden Mitspieler den jeweils anderen wahrgenommen und dabei auch sich selbst. Im alltäglichen Erleben der interagierenden Subjekte gehen diese vier Wahrnehmungsbezüge zumeist ineinander auf. Je nach Situation und Erleben mag der eine oder andere Bezug mehr oder weniger registriert oder unbeachtet geblieben sein. Gleichwohl lohnt es sich, die Systematik der Bezüge genauer anzuschauen und methodisch zu berücksichtigen. In Abbildung 1 sind sie optisch dargestellt: Die Kugel stellt die Handlungssituation der Akteure dar. Die Ver271

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bindungslinien zeigen die beiden Wahrnehmungsbezüge pro Akteur. Sie gehen jeweils über die Kugel hinaus. Damit wird symbolisiert, dass es sich hier nicht um ein geschlossenes Interaktionssystem handelt.

Mit dem Begriff Doppelaspekt der Wahrnehmung wird ihre grundlegende Bezogenheit berücksichtigt. Jeder Akteur nimmt den jeweils anderen wahr und dabei auch sich selbst. Die gewählte Richtung prägt hierbei Art und Qualität der Wahrnehmung mit. Diese Interaktionsdynamik von Selbst- und Fremdwahrnehmung fächert sich weiter auf, wenn die Akteure wissen, dass sie gleichzeitig auch Wahrgenommene des jeweils anderen sind. (Diese Bezüge des Wahrgenommenwerdens sind in der Grafik nicht berücksichtigt.) ©Daniel Clénin, Barbara Pieper, PRISMA Projekte München/Bern, Grafik: Arthleten VISUAL Design, München

Abbildung 1: Doppelaspekt der Wahrnehmung (zwei Akteure). Handlungssituation (Kugel) Sich selbst und andere gleichzeitig wahrzunehmen ist ein Lebensprinzip, das jeder alltäglich erlebt. Kommt mir z.B. jemand entgegen, läuft eine ganze Kaskade von Wahrnehmungen in mir ab: Kenn’ ich den? Ist der okay? Wird er etwas wollen? Wenn ja, was mache ich dann und wie wird er reagieren? Dabei sind Atem, Herztätigkeit, auch Gefühle und Gedanken beteiligt – manches davon wird bewusst (z.B. Herzklopfen), vieles nicht oder nicht gleich. 272

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Entsprechende Prozesse laufen im anderen ab. Wahrnehmung als Doppelaspekt von Selbst- und Fremdwahrnehmung ist Voraussetzung für und Folge von sozial konstituiertem Handeln – wobei sich der Doppelaspekt je nach gesellschaftlichem, kulturellem, milieuspezifischem und persönlichem Kontext empirisch sehr unterschiedlich konstelliert. Für die Soziologie beschreiben Berger/Luckmann (1969: 31) den Grundzug aufeinander bezogener Wechselbeziehungen als »ständige Reziprozität« und verweisen hier auf Theodor Litts Ausdruck der »Reziprozität der Perspektiven« (Litt 1926: 109ff.) beim Handeln: »Es spricht sogar einiges dafür, dass der Andere als Vis-à-vis für mich wirklicher ist, als ich es mir selbst bin [...]. ›Was er ist‹, das nehme ich kontinuierlich wahr [...]. Will ich mich erfassen, so muß ich einhalten, der fließenden Spontaneität meiner Wahrnehmung Stillstand gebieten und mein Augenmerk absichtlich rückwärts, nämlich zu mir hin richten. Der typische Anlaß für diese Kehrtwendung zu mir, die ›Reflexion‹ auf mich selbst, ist die Stellung des Anderen mir gegenüber. Meine Einstellung auf mich selbst ist ein typischer ›Spiegelreflex‹ auf Einstellungen des Anderen zu mir« (Berger/Luckmann 1969: 32, Hervorhebung im Original).

Berger/Luckmann betrachten die Selbstwahrnehmung in der Interaktion als weniger selbstverständlich (spontan) als die Fremdwahrnehmung. Sich selbst zu erfassen verlange einen »Stillstand«, um Reflexion zu ermöglichen. Bergers und Luckmanns Beschreibung führt im Ergebnis dazu, dass sie der Fremdwahrnehmung eher die kontinuierliche, spontane Wahrnehmung, der Selbstwahrnehmung eher die reflexive zuschreiben. Wäre es nicht ebenso möglich, dass in der Interaktion auch der andere reflexiv wahrgenommen wird und die Person sich kontinuierlich selber wahrnimmt, ungeachtet dessen, ob sie sich nun selbst wirklicher ist als der andere oder nicht? Wir haben Bergers und Luckmanns Verständnis von alltäglichen gesellschaftlichen Interaktionen hier einbezogen, weil sie die Selbstwahrnehmung des Akteurs im Unterschied zu anderen soziologischen Ansätzen gebührend berücksichtigen – wenn auch, wie wir meinen, verkürzt. In unserer Konzeption sind die vier Wahrnehmungsbezüge, wie sie sich im Doppelaspekt von Wahrnehmung zeigen, prinzipiell gleichgewichtig. Es wäre viel zu gefährlich für das Subjekt, wenn es sich im »Sich-selbst-Erfassen« nur reflexiv verhielte, anstatt ebenfalls permanent seine gegenwärtige raumzeitliche und soziale Orientierung und die des anderen präsent zu halten und zu registrieren. Reflexivität, wenn sie denn stattfindet, kann sich ebenso auf die eigene Stellung wie auf die des anderen richten. Würde bei der Untersuchung sozialen Handelns die Körperlichkeit ebenso berücksichtigt wie zum Beispiel Einstellungen und

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soziale Normen, käme die grundlegende Dynamik des Doppelaspekts der Wahrnehmung für soziales Handeln eher zum Vorschein.8 Feldenkrais hat der Selbstwahrnehmung eine so große Bedeutung beigemessen, dass er eine Methode entwickelte, sich darin zu schulen, sich seiner selbst inne zu sein im Tun (Feldenkrais 1987/2007: 140). In Feldenkrais-Einzelstunden wird das Wahrnehmungsvermögen des Feldenkrais-Practitioners beim Wahrnehmen des anderen und Hineinversetzen in dessen Selbstwahrnehmung zum Schlüssel des Erkennens (seiner selbst und des anderen). Hierbei nimmt der andere (der Klient) seinerseits den Feldenkrais-Practitioner wahr. Die Bedeutung der Fremdwahrnehmung des Klienten für den Dialog zwischen Practitioner und Klient hat Feldenkrais weniger berücksichtigt als die anderen drei Wahrnehmungsbezüge. In den Künsten (vgl. Abschnitt 2.3) ist der Doppelaspekt der Wahrnehmung schon fast eine Selbstverständlichkeit. Darin liegt ein »ErkenntnisPotenzial«, das wir in unserem Ansatz nutzen. Zurück zum Experiment. Stellen Sie sich vor, Sie würden zwei Akteure beobachten, die gerade das Experiment mit Hand und Unterarm machen. Wie konstellierte sich der Doppelaspekt der Wahrnehmung für Sie als Beobachter dieser Interaktion? Mit welchen Selbst- und Fremdwahrnehmungsbezügen hätten Sie es zu tun?

Abbildung 2 zeigt den Doppelaspekt der Wahrnehmung für den Beobachter zweier Akteure. Der Beobachter befindet sich in einer gewissen Distanz zur beobachteten Interaktion. Der Beobachter ist deshalb in einem transparenten Band dargestellt, das die Kugel (= die Handlungssituation) horizontal umgibt. Bei der Interaktion zweier Akteure hat der Beobachter vier Wahrnehmungsbezüge zu bewältigen, symbolisiert durch zwei mal zwei Verbindungslinien. Die Linien gehen in den Interaktionsraum der beiden Akteure hinein. Damit wird angedeutet, dass der Beobachter zwar nicht Teil der Interaktion, aber auf sie bezogen ist. Die Grafik mag zunächst reichlich komplex erscheinen, beschreibt aber nichts anderes als eine alltägliche Situation: Zwei Leute unterhalten sich, ein Dritter schaut zu. Im Untersuchungsdesign in Abschnitt 4 wird diese Beobachterperspektive eingenommen und entfaltet.

8

Vgl. auch die dynamische Betrachtung gegenseitiger Steuerung der Interaktion von Ego und Alter bei Karl Bühler im Begriff des »reflexiven Wahrnehmens« (Bühler 1927: 50); siehe auch den Beitrag von Patrick Linnebach in diesem Band.

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Der Doppelaspekt der Wahrnehmung dargestellt in einer alltäglichen Situation: Zwei Leute unterhalten sich, ein dritter schaut zu. Der Beobachter nimmt – aus einer Distanz heraus – jeden der beiden Akteure wahr und dabei jeweils auch sich selbst. Wüssten die Akteure, dass ihre Interaktion beobachtet wird, entfalteten sich die wechselseitigen Wahrnehmungsbezüge zwischen Akteuren und Beobachter noch weiter. (In dieser Grafik bleiben die Bezüge des Wahrgenommenwerdens außer Acht.) ©Daniel Clénin, Barbara Pieper, PRISMA Projekte München/Bern, Grafik: Arthleten VISUAL Design, München

Abbildung 2: Doppelaspekt der Wahrnehmung: Beobachter der zwei Akteure. Handlungssituation (Kugel). Fazit: Wir verstehen unseren Zugang als Interaktions-Konzept. Im Begriff »Doppelaspekt der Wahrnehmung« kommt zum Ausdruck, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in engster Wechselbeziehung zueinander stehen und leibgebunden erfolgen. Alle genannten Bezüge des Doppelaspekts der Wahrnehmung sind per se gegeben, grundsätzlich sozial konstituiert und prinzipiell gleichgewichtig: Selbst- und Fremdwahrnehmung findet  sei es unerkannt (implizit) oder bemerkt (explizit)  bei jedem Akteur und jedem sozialen

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Handeln statt.9 Selbst- und Fremdwahrnehmung sind für soziales Handeln zwingend nötig, um sich selbst und den anderen wahrnehmen und sich in sich selbst und in den anderen hineinversetzen zu können. Da dies im Alltäglichen zumeist in größter Selbstverständlichkeit geschieht, mag es nicht überraschen, dass die Bedeutung der Selbstwahrnehmung für soziales Handeln in Theorie und Empirie unterschätzt oder je nach Ansatz der eine oder andere der vier grundlegenden Wahrnehmungsbezüge übersehen wird.

3.4 Wahrnehmungselemente: Spüren, Fühlen, Denken Beim Wahrnehmen sind Spüren, Fühlen, Denken beteiligt. Geprägt durch unsere Erfahrungen als Feldenkrais-Practitioner nehmen diese drei Wahrnehmungselemente in unserem Konzept einen besonderen Stellenwert ein. In der Feldenkrais-Methode werden Spüren, Fühlen, Denken und Bewegen als Bestandteile des Tuns betrachtet (Feldenkrais 1968/2008: 31ff.), beschrieben (ebd.: 56) und in der Praxis sehr facettenreich eingesetzt. Allerdings gibt es begriffliche Unklarheiten in der Zuordnung der Bestandteile zueinander. Bewegung wird in unserer Begrifflichkeit nicht in derselben Zuordnung gesehen wie Spüren, Fühlen, Denken, sondern als »Ausdrucksweise« von Handeln.10 Mit Spüren meinen wir Sinnesempfinden wie Temperatur- und Lichtunterschiede, räumliche Verortung wie Bodenkontakt, Raumzeitorientierung, Rhythmus usw. Beim Fühlen werden Sinneseindrücke eingeschätzt und bewertet, bewusst oder unbewusst, etwa Angst vor Alleinsein im Dunkeln oder Herzklopfen aus Angst oder Freude. Unter Denken verstehen wir weit mehr als logisch-analytisches Denken, Regelverständnis oder Vorstellungsvermögen. Um das oben in verschiedenen Variationen beschriebene Experiment ausführen zu können, braucht es eine sozial vermittelte Idee von »Hand« und »Arm« und darüber hinaus die kognitive Fähigkeit, beides auch in anderen Kontexten, z.B. als »Pfote« und »Vorderlauf«, wiederzuerkennen. Die drei Wahrnehmungselemente in ihren Eigenschaften voneinander zu unterscheiden ist nicht einfach; denn Spüren, Fühlen und Denken werden im Verlauf des Lebens sehr unterschiedlich geschult und greifen zur Alltagsbewäl9

Hierin unterscheidet sich der prismatische Zugang von Introspektionsverfahren in Supervision und Coaching, der Gegenübertragung in der Psychoanalyse und von kognitionswissenschaftlichen Konzepten (kritisch zu diesen: De Jaegher/Di Paolo 2008, McGann/De Jaegher 2009). 10 Konsequenter wäre es, von Sensomotorik als Ausdrucksweise von Handeln zu sprechen, da Sensorik und Bewegung miteinander einen »Gestaltkreis« bilden (Weizsäcker 1940). Für die Operationalisierung von Selbst- und Fremdwahrnehmung sozialen Handelns ordnen wir Sinnesempfinden zusammen mit Fühlen und Denken den Wahrnehmungselementen zu, da diese drei voneinander unterscheidbar sind, ungeachtet dessen, dass sie stets mit Bewegung einhergehen. 276

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tigung ineinander.11 Eine Unterscheidung ist jedoch über Wahrnehmungsdifferenzierung und Reflexion möglich und zur Generierung von Wissen in Praxis und Wissenschaft auch viel versprechend, insbesondere wenn es um Operationalisierung der Körperlichkeit sozialen Handelns geht (Abschnitte 4 und 6).

3.5 Wahrnehmungsperspektiven: Die strategische Nutzung Den Begriff Wahrnehmungsperspektiven verwenden wir im Sinne eines Wechsels der Blickrichtungen, die für Forschungs- und Praxisfortschritte strategisch und mit Bedacht eingesetzt werden. Perspektivenwechsel ermöglichen, genauer oder anders – oder auch anderes – zu erkennen, was und wie gerade wahrgenommen oder beobachtet wird. Darüber kann die Begriffsbildung präzisiert, können andere Bedeutungszuschreibungen vorgenommen und neue Zusammenhänge generiert werden. Um zu beschreiben, was wir mit Perspektivenwechsel meinen, verwenden wir die Metapher des Prismas: Ein Prisma ist ein Kristallkörper, in dem sich weißes Licht in Spektralfarben bricht. Das Prisma ermöglicht dadurch unterschiedliche Perspektiven auf die Wahrnehmung von Licht. Mit den unterschiedlichen Farben verwandelt und ergänzt sich das bisher Wahrgenommene von selbst. Ein Prisma ermöglicht eine Analyse, ein Auffächern in verschiedene Farben, ohne dass das Licht in seine Bestandteile zerlegt und seine Einheit damit zerstört wird. Das Licht kann mittels des Prismas reflektiert werden und bleibt weiterhin bestehen. Wird die Brechung aufgehoben, ist eine Differenz zum Anfang dadurch entstanden, dass neue Kenntnis über die komplexe Beschaffenheit des Lichts gewonnen ist. Im Licht dieser Erkenntnis werden neue Handlungsweisen möglich. Absicht, Konzept, Vorgehensweise (und Name!) unseres Ansatzes entsprechen diesem Prozess der Reflexion des Lichts.

3.6 Vom Erkenntniswert der Differenz beim Wahrnehmen Thomas Fuchs’ Konzeption des »Doppelaspektes des Lebewesens bzw. der Person« (2008b: 356) berücksichtigt die »Wechselbeziehungen und Kreisläufe« (ebd.: 355), in denen das Subjekt in seiner Lebenswelt steht. Die »Übernahme der Perspektive anderer, als entscheidendes Moment der Entwicklung von Selbstbewusstsein, [setzt] die leibliche Resonanz und Empathie voraus, die sich bei der Wahrnehmung ihrer Handlungen spontan einstellt« (ebd.: 30),

11 Personen »modulieren« ihr Denken, ihr Fühlen und ihre Sinneseindrücke. Auf die jeweilige Ausgestaltung der »Wahrnehmungsmodi« wird hier nicht eingegangen. 277

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»indem wir die Intentionen der anderen mitvollziehen« (Fuchs zitiert hier Spaemann 1996: 67). Mitvollziehen heißt für uns nicht, dass das Subjekt ganz genauso spürt, fühlt, denkt wie der andere, in den es sich hineinversetzt hat. Es bleibt bei der »zwischenleiblichen Wahrnehmung« (Fuchs 2008b: 31) eine entscheidende Differenz von erster und zweiter Person hinsichtlich deren Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Interaktion. Wird der Doppelaspekt der Wahrnehmung konsequent berücksichtigt und methodisch ernst genommen, lässt sich zeigen, dass – und wie – die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung als Hineinversetzen in den anderen unterschiedliche Wahrnehmungsqualitäten sind. Diese Unterschiedlichkeiten gilt es erst einmal zu erkennen, zu benennen und nicht zu rasch konzeptionell in eins zu setzen oder als per se ineinander integriert erlebbare Phänomene zu betrachten, bloß weil sie sich im Erleben von Personen zunächst so zeigen. Werden die oft sehr subtilen Differenzen im Erleben von Wahrnehmungsbezügen dargelegt, eröffnen sich Wege, Theorie und Praxis sozialen Handelns in seiner Leibgebundenheit zu untersuchen und zu bereichern.

4 Beobachtungspraxis I: Beispiel »Das türkische Handwerk« (Friseursalon) – Soziale Abstimmung beim Arbeitshandeln 4.1 Beobachtungsmaterial Filmsequenz Unser Vorgehen wird getragen von der Annahme, dass in den Teilsystemen der einzelnen Akteure und deren Interaktion Information zur Erkennung der Forschungsfrage bereits »mit drin« ist. Wir haben uns deshalb mit der Frage befasst, wie dieses Wissen »eingesammelt« werden kann (Clénin/Pieper 2007, 2009). Im Rahmen des Workshops haben wir unser Konzept auf die körperbezogene soziale Abstimmung beim Arbeitshandeln in einem türkischen Friseursalon angewendet. Die Veranstalter hatten hierzu aus einer Veröffentlichung von Dunkel und Rieder (2004) eine kurze Sequenz des Dokumentarfilms »Waschen und Legen« von Alice Agneskirchner zur Verfügung gestellt: »Das türkische Handwerk« (Agneskirchner 1999). Entsprechend unserem Anliegen einer praktisch-theoretischen Forschungsperspektive erhielten die Workshop-Teilnehmer Gelegenheit, sich selbst als körperbezogenes »Forschungsinstrument« einzubringen und das Prisma-Beobachtungsdesign in einer Kurzversion zumindest ansatzweise selber praktisch auszuprobieren.

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4.2 Untersuchungsdesign (Kurzversion)12 Die Filmsequenz (zwei Minuten) zeigt den Kunden und den Friseur, zwei Türken, während der Friseursitzung. Untertitel, Randfguren und ein zweiter anwesender Friseur, Fragen der Interviewerin etc. sollen beim Beobachten nicht weiter beachtet werden. Die Filmsequenz wird zweimal gezeigt. Die Teilnehmer werden gebeten, sich in eine ihnen angenehme Sitzposition zu begeben und möglichst mit »weichem Fokus« das Geschehen zu beobachten, d.h. ihre Wahrnehmung bei der Aufgabenstellung offen zu halten, sich also nicht gleich auf ein Detail zu konzentrieren. Jeweils ein Drittel der Teilnehmer erhält die Aufgabe, ihre Beobachtungen auf den Kunden zu beziehen, ein weiteres Drittel auf den Friseur und die dritte Gruppe auf die Interaktion zwischen beiden. Für die Beobachtung wird hier nur eins der drei Wahrnehmungselemente (Abschnitt 3.4) ausgewählt: Spüren. Sinneseindrücke sind relativ leicht erkennbar, weil sie mit unmittelbarer Leiberfahrung verbunden sind  z.B. der Art der Atmung, Veränderungen der Herztätigkeit, Wärme-Kälte-Verhältnissen oder Körperbewegungen. Fühlen und Denken, sonst ebenfalls einbezogen, sind möglichst auszublenden. Im ersten Durchgang sollen sich die Teilnehmer selbst wahrnehmen, während sie in der Filmsequenz ihren »Protagonisten« (Kunde, Friseur oder deren Interaktion) beobachten. Der Wahrnehmungsbezug richtet sich hierbei also auf den Beobachter selbst; auf die eigene Befindlichkeit hinsichtlich Sinneseindrücken (Selbstwahrnehmung, SW). So spürt ein Beobachter bei sich »Enge«; ein anderer, dass er »zurückzucken« will. Anschließend notieren die Teilnehmer auf kleine verschiedenfarbige Zettel nur das, was ihnen  passend zur Aufgabe  gerade in den Sinn kommt; was also ohnehin schon an der Oberfläche des Mitteilens liegt. Die allerersten Äußerungen erweisen sich oft als die zutreffendsten. Für deren Notation braucht es nicht viel Zeit. Bei der zweiten Video-Runde sollen sich die Beobachter in einen der »Protagonisten« bzw. in die Interaktion der beiden hineinversetzen (= Fremdwahrnehmung, FW); sich fragen, wie der Kunde bzw. der Friseur sich wohl wahrnimmt oder was wohl in der Interaktion der beiden geschieht. Der Wahrnehmungsbezug ist hierbei auf den jeweiligen Akteur gerichtet, auf dessen vermutliche Sinneseindrücke bzw. auf Sinneseindrücke hinsichtlich der Inter12 Die Kurzversion wurde für den Workshop im November 2008 verfasst. Das zugrunde liegende Untersuchungsdesign nennen wir PRISMA grün im Unterschied zu anderen PRISMA-Projekten, vgl. Clenin/Pieper 2007, 2009; Clénin et al. 2009b. 279

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aktion. Die Beobachter verwenden hierzu notwendigerweise auch ihr Sensorium, jetzt aber »stellvertretend«: Sie begeben sich in den Kontext der »Protagonisten« bzw. deren Interaktion hinein. So spürt ein Beobachter, hineinversetzt in den Kunden, »Müdigkeit, Passivität«; oder, mit dem Handeln des Friseurs mitgehend, der dem Kunden kleine Haare auf der Gesichtshaut wegbrennt, »Temperatur des Feuers an der Handfläche«; oder, bezogen auf die Interaktion, »Routine spüren, Alltag spüren«. Nach erneuter Notation der (Sinnes-)Erfahrung bilden sich Dreiergruppen: Es treffen jeweils ein Beobachter des Kunden, einer des Friseurs und ein Beobachter der Interaktion von Kunde und Friseur zusammen. Jeder bringt seine beiden Äußerungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mit. Die (in dieser Kurzversion getrennt erhobenen) sechs Wahrnehmungsbezüge können damit in der Kleingruppe komplettiert werden. Beim anschließenden Erfahrungsaustausch werden die Teilnehmer gebeten, sich auf ihre notierten Äußerungen zu beziehen. Nur so bleibt die Diskussion im Bereich der zuallererst registrierten Wahrnehmungen. Bei vollständiger Bearbeitung (»Full Set«) wären jeweils mehrere Filmdurchgänge nötig gewesen, damit jeder Beobachter alle drei »Protagonisten« jeweils in Selbst- und Fremdwahrnehmung hätte erfassen können, einschließlich aller drei Wahrnehmungselemente (Spüren, Fühlen, Denken). So ergäben sich 18 unterschiedliche Äußerungen pro Beobachter. Die empirische Basis bestünde bei 13 Teilnehmern (wie im Workshop) damit in 234 Äußerungen zur sozialen Abstimmung von Kunde und Friseur. Bevor wir die Befunde der Beobachtungspraxis vorstellen (Abschnitt 6), möchten wir einige konzeptionelle und methodische Kennzeichen des prismatischen Zugangs erläutern und hierbei den Stellenwert von Selbst- und Fremdwahrnehmung in leiborientierten Analysen im Einzelnen darstellen.

5 Charakteristika der prismatischen Forschungsperspektive 5.1 Suche nach Ähnlichkeiten Anhand der kleinen Zettel wird in den notierten Äußerungen  und nur in diesen  nach Ähnlichkeiten gesucht. Die Suche nach Ähnlichkeiten ist in uns angelegt. Sie entspricht der Neigung des Menschen, durch Wiedererkennen neue Situationen einzuordnen. Die erfahrenen Ähnlichkeiten sind »maßgebend«. Sie schaffen ein »Maß«, einen Vergleichsmaßstab und damit eine gemeinsame Arbeitsbasis für die weiteren Schritte. Ähnlichkeiten in den notierten Äußerungen können zum Beispiel zusammengeführt werden, indem eine neue Formulierung gefunden oder eine Äußerung ausgewählt wird, die die 280

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»Essenz« mehrerer Äußerungen bündelt. Die unmittelbare Sinneserfahrung kann dann so, wie sie erlebt worden ist, nicht »mitwandern«. Es findet ein Schritt in die Distanz zum Erlebten statt. Damit werden Voraussetzungen geschaffen, zu allgemeineren Aussagen zu gelangen, die das Wesentliche der individuell geäußerten Wahrnehmungen weiterhin enthalten. Der Weg zur Verallgemeinerung erfolgt allerdings nicht darüber, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Bearbeiten der Zettel über Ähnlichkeiten einigen. Der Bearbeitungsprozess ist so angelegt, dass das Einheitliche zur Wirkung kommt, das ohnehin in den zu untersuchenden Phänomenen (verborgen) liegt und nun der Erkenntnis zugänglich wird.

5.2 Kurznotation als methodisch gewollte Einschränkung Der knappe Platz auf den Zetteln stört die Teilnehmer zunächst. Sie fühlen sich daran gehindert, möglichst viele Eindrücke aufzuschreiben. Diese Einschränkung haben wir methodisch und konzeptionell bewusst gewählt. Die erste Äußerung zählt. Wir haben im Verlauf der Prisma-Projekte immer wieder festgestellt, dass das, was zuerst auf den kleinen Notationszetteln landet, sich als die zutreffendste Wahrnehmung erweist. Spätere Äußerungen differenzieren diese erste lediglich aus. Es fällt den Teilnehmern auch schwer, bei den Zetteln zu bleiben und sich zufrieden zu geben mit dem, was aufgetaucht ist. In den Besprechungen zur Aufgabenstellung »vergessen« sie, sich auf die notierten Erfahrungen zu beziehen, oder bedauern, dass sie nur mit diesen weitergehen sollen. Die Zettel fordern zur Verbindlichkeit auf. Bei den notierten Äußerungen zu bleiben erschwert es, in eine Unterhaltung über die beobachteten Protagonisten abzuschweifen. Jedoch kann auch im freien Assoziieren oder offenen Dialog Wissenswertes über den Untersuchungsgegenstand »eingesammelt« werden. Unsere Vorgehensweise ermöglicht es, körperbezogene Einzelerfahrungen über deren allererste auf Zetteln notierte Äußerungen »dingfest« zu machen. Dadurch lassen sie sich im Untersuchungsprozess für weitere Bearbeitungsschritte nutzen, indem auf sie zurückgegriffen und der Erkenntnisgewinn zur jeweiligen Thematik mitverfolgt bzw. nach Bedarf rekonstruiert werden kann.

5.3 Analytische Auffächerung von Erfahrung beim Wahrnehmen Wir nutzen methodisch, dass über gezielten Einsatz unterschiedlicher Wahrnehmungsbezüge jeweils andere »Qualitäten« der beobachteten Akteure zu Tage treten (können) (vgl. Abschnitt 3.2). Die forschenden Beobachter wer281

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den hierbei durch einen Prozess geführt, in dem sie nacheinander wahrnehmen, was sie sonst »in eins« oder integral wahrnehmen. Unser Verfahren erschwert das Verwenden gewohnter Wahrnehmungsmuster. Dafür fördert es anderes, Neues zutage, das sonst »im Verborgenen« bliebe. Die erste analytische Auffächerung beim Beobachten betrifft die interagierenden Akteure (hier Kunde und Friseur). Die Forscher sollen jeden der beiden erst einzeln wahrnehmen und davon absehen, dass sich Kunde und Friseur im Kontakt miteinander befinden. Gleichwohl bleibt auch in der Einzelbetrachtung das intersubjektive Element erhalten; denn die Beobachter sind über die verschiedenen Wahrnehmungsbezüge permanent mit den Akteuren und deren Interaktion »zugange«. Die zweite analytische Auffächerung erfordert, dass die beobachtenden Forscher ihre Wahrnehmung beim Beobachten der Protagonisten zuerst auf sich selbst konzentrieren (Selbstwahrnehmung). Erst dann erfolgt die Fremdwahrnehmung. Und bei der dritten analytischen Auffächerung ist vorgesehen, sich jeweils nur auf ein Wahrnehmungselement einzustellen. Spüren, Fühlen und Denken zu unterscheiden ist gar nicht so einfach. Wie sehr sie »gemischt« vorkommen, wird oft erst bemerkt, wenn verlangt wird, sie voneinander getrennt zu beachten. Nacheinander bearbeiten zu sollen, was als zusammengehörig erlebt wird, ist neben der Kurznotation eine weitere bewusst herbeigeführte Einschränkung, wie wir sie in der Feldenkrais-Methode oft benutzen. Auch dort werden über »constraints« andere als die eingeschliffenen Bewegungsmuster entdeckt, neue Erfahrungen möglich gemacht und damit Wissen über sich selbst und andere generiert und in das Selbstbild der Person integriert. Voraussetzung für den »Erfolg« dieses Vorgehens ist allerdings, dass zumindest die Moderatoren »das ganze Bild« kennen und die vorübergehend gewählten Einschränkungen jeweils mit Bezug zum funktionalen Gesamtzusammenhang einsetzen. Das ist ein Unterschied zu herkömmlichen analytischen Verfahren, bei denen über der Untersuchung von Einzelaspekten oft der Gesamtzusammenhang verloren geht oder sogar zerstört wird. Dazu eine Metapher: Bei der getrennten Bearbeitung von Wahrnehmungsbezügen geht es im prismatischen Zugang darum, zunächst einmal die Ingredienzien einer Suppe zu »schmecken« und unterscheiden zu können, hierbei aber sehr wohl zu wissen, dass es sich um solche einer Suppe handelt, nicht um irgendwelche Ingredienzien und irgendein Gericht. Die Einschränkungen beim Unterscheiden-Lernen ermöglichen, verfeinerte Kenntnisse der Ingredienzien zu erwerben. Das erlaubt es, die Suppe nicht nur besser zu »schmecken«, sondern sie auch schmackhafter zu machen. Was also zunächst als »straffe Struktur« in der Durchführung des Untersuchungsprozesses erscheint (und anfangs von den Teilnehmern auch kritisiert wird), bildet den Rahmen für eine dann sehr offene Bearbeitungsweise –

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die Teilnehmer sind dabei immer wieder überrascht, was alles in ihnen steckt und dem Erkenntnisprozess zugute kommt.

5.4 Verschränkung unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungszugänge Dass die Auffächerung von Erfahrung nicht zu einer Trennung der Betrachtungsweisen wird, liegt an einem dynamischen Verständnis von körperbezogenen Verfahren. Wir trennen zwar methodisch, aber nicht konzeptionell. Subjektives Erleben enthält immer auch Denkanteile; objektive Betrachtungsweisen können ohne Sinneswahrnehmung gar nicht zustande kommen; verallgemeinertes Wissen (Verstehen!) wird zur Basis neuen Erlebens etc. Der prismatische Zugang sieht deshalb mit Bedacht vor, dass sich Leiberfahrung und Bearbeitung von Materialien, Austausch von Ergebnissen, Kleingruppenarbeit und Plenumsbesprechungen miteinander abwechseln. Die am Untersuchungsprozess Beteiligten schulen dabei ihr eigenes leiborientiertes »Untersuchungsinstrumentarium«, und das umso leichter, je besser die Leiberfahrung passgenau zur Fragestellung angeboten wird. Wird zum Beispiel über Leiberfahrung ausprobiert, wie Sinneseindrücke wahrgenommen werden können, erleichtert das die nachfolgende Beobachtung der Untersuchung selbst. Die Verschränkung unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsbereiche fördert Kreativität, bringt synergistische Effekte hervor und hält den Untersuchungsprozess in der Dynamik. Vor allem aber wird Wissen generiert, das über herkömmliche Verfahren gar nicht auftauchte.

5.5 Rekombination, Rekursivität und Reflexivität In Prisma-Untersuchungsdesigns wird subjektives Erleben aus verschiedenen Wahrnehmungsbezügen »eingesammelt«, notiert, umgruppiert oder eigens hervorgehoben (»verstärkt«), um andere Aspekte hervortreten zu lassen. Eine Strategie dazu ist, dass eine der »eingesammelten« Äußerungen  zum Beispiel subjektiv erlebte »Enge« beim Beobachten des Kunden  eigens produziert wird, d.h. sich die BeobachterInnen absichtlich in einen Zustand der »Enge« begeben, während sich je ein Beobachtender in Kunde, Friseur oder deren Interaktion hineinversetzt. Die notierten Sinneseindrücke der Beobachter können dann mit früheren Äußerungen zum Kunden, Friseur und deren Interaktion verglichen werden. So kommt über diese methodisch induzierte (eigens produzierte) Erfahrung auf der Metaebene nicht nur eine Reflexion zur bisherigen Wahrnehmung in Gang; es entstehen auch weitere Erkenntnisse

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zum beobachteten Geschehen; und es erweitert sich dabei auch das leibliche Vorstellungsvermögen der Beobachtenden. Der Rückgriff auf früher notierte Äußerungen wird hierbei zum Gestaltungsprinzip. Dieses Vorgehen nennen wir »wahr-gebend« im Unterschied zu »wahr-nehmend« (vgl. auch Abschnitt 7.2). Rekursivität beim Generieren von Wissen ist hier kein Schritt zurück, sondern Mittel, um individuelle Äußerungen allmählich zu Aussagen über die soziale Abstimmung von Kunde und das Dienstleister werden zu lassen, die über die notierten Einzelerfahrungen hinausreichen, deren Essenz aber weiterhin enthalten.13

5.6 Indirektes Vorgehen In dem hier beschriebenen Beispiel wird soziale Abstimmung nicht als solche und nicht unmittelbar beobachtet. Vielmehr wird ein ergebnisoffener Untersuchungsprozess gestaltet, in dessen Verlauf sich aus Erleben und verkörperten Erfahrungen der beobachtenden Forscher heraus Äußerungen über die Interaktion der Akteure »erschließen« (lassen) und darüber dann zu Aussagen zur sozialen Abstimmung werden. Das ist ein Unterschied in der Wahrnehmungsrichtung (Wahrnehmungsbezug) im Vergleich zu Vorgehensweisen, bei denen der Fokus auf den Untersuchungsgegenstand gerichtet ist, nicht auf die Forschenden und ihre Befindlichkeit. Der indirekte Zugang zeigt sich auch in den gewählten Formulierungen. Wir verwenden bei der Aufgabenstellung den umfassenderen Oberbegriff »Interaktion« und vermeiden in der empirischen Phase, direkt nach der »sozialen Abstimmung« der Akteure zu fragen. Unbeeinflusst von der spezifischen Begrifflichkeit der Fragestellung entsteht aus der Vielfalt notierter Äußerungen ein facettenreiches Bild, aus dem sich dann Befunde zur sozialen Abstimmung im Arbeitshandeln herausfiltern lassen.

5.7 Fortlaufende Dokumentation Einwände, dass rein subjektive Äußerungen viel zu beliebig seien, um über den Einzelfall hinaus etwas auszusagen, lassen sich zerstreuen. Jeder Schritt hin zu allgemein(er)en Aussagen ist über die Prozessgestaltung methodisch »kontrolliert«, über die handschriftlichen Äußerungen (»Zettelwirtschaft«) bereits während des Untersuchungsprozesses fortlaufend schriftlich dokumen13 Im Workshop konnten diese methodischen Schritte auf verschiedenen Metaebenen (Was? Wie des Was? Wie des Wie? vgl. Foerster 1995) nicht einbezogen werden. Zu Ergebnissen der Beobachtung mit mehreren Metaebenen zum selben Beobachtungsmaterial vgl. Clénin et al. 2009a. 284

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tiert und wird anschließend in der Auswertung transkribiert. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich über die Systematik des »nebenbei« vorgenommenen Dokumentierens die anfangs nur kurz hingeschriebenen Äußerungen »ordnen«, vervollständigen und allgemeiner werden; wie sich eine sichtbare, nachvollziehbare und geradezu »selbstverständliche« Ordnung in den Ergebnissen herausbildet.

6 Beobachtungspraxis II: Befunde Selbst- und Fremdwahrnehmung leiborientiert in den Forschungsprozess aufzunehmen ist gewöhnungsbedürftig: Als die Teilnehmer des Workshops merkten, dass sie sich selber als (wie eine Teilnehmerin es nannte) »Konstituens für Wissenserwerb« einbringen sollten, waren sie zunächst verblüfft, etwas verunsichert oder nahmen die Herausforderung von der humorvollen Seite: »Wenn ich hier etwas spüren soll, dann komme ich ja ganz verändert nach Hause.« Diese Reaktionen sagen weniger über die Teilnehmer aus als über die gesellschaftlich etablierte Trennung von Erfahrungsbereichen. Obwohl die vorgesehene praktische Vorbereitung zur leiborientierten Wahrnehmung (Feldenkrais) aus Zeitgründen entfiel, fanden sich die Teilnehmer in der für sie ungewohnten Beobachtungssituation rasch zurecht.

6.1 Ergebnisse im Überblick Zusammenstellung der notierten Äußerungen. In dem Überblick (Tabelle 1) finden sich alle Äußerungen zur Selbst- und Fremdwahrnehmung von 13 Forschern beim Beobachten von Arbeitshandeln im Friseursalon (Filmsequenz »Das türkische Handwerk«). Die Äußerungen der Teilnehmer (TN) sind bezogen auf den Kunden (TN 1 bis 5), den Friseur (TN 6 bis 9) und die Interaktion von Kunde und Friseur (TN 10 bis 13). Berücksichtigt wurde in der Kurzversion des Designs (Abschnitt 4.2) nur das Wahrnehmungselement Spüren. Das vorliegende Material ist in nur 40 Minuten generiert und in Kleingruppen kurz reflektiert worden.

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Tabelle 1: Beobachtungsergebnisse im Überblick

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6.2 Fragen zur Weiterbearbeitung der Ergebnisse Es handelt sich bei den Äußerungen in Tabelle 1 zunächst um subjektives Erleben. Um von diesen Befunden im Verlauf eines prismatischen Forschungsprozesses zu verallgemeinerten Aussagen zu gelangen, können die bisherigen Ergebnisse entlang bestimmter Fragestellungen und in einer interaktiven Prozessgestaltung weiterbearbeitet werden. Wir möchten den Lesern und Leserinnen von diesem Vorgehen einen Eindruck vermitteln. Dazu bieten wir einige Fragen an, wie wir sie in unseren praktisch-theoretischen Forschungsprozessen verwenden (z.B. Clénin et al. 2009a). Schauen Sie sich die Zusammenstellung der eingesammelten Beobachtungspraxis in der Tabelle 1 an: (1) Was fällt Ihnen als allererstes in den notierten Äußerungen und bei sich selbst (Sinnesempfinden) auf, während Sie die »Ergebnisse im Überblick« anschauen? (2) Inwieweit lassen sich Unterschiede erkennen zwischen Äußerungen zur Selbstwahrnehmung und zur Fremdwahrnehmung und worin bestehen sie? (3) Wie sind die Teilnehmer mit der Vorgabe umgegangen, sich auf Sinneseindrücke zu beschränken? Haben sie sie eingehalten? (4) In der Aufgabenstellung waren Sinneseindrücke zu sechs verschiedenen Wahrnehmungsbezügen zu notieren. a) Vergleichen Sie die Äußerungen für denselben Wahrnehmungsbezug (sie sind in den Spalten untereinander aufgeführt): Welche Ähnlichkeiten entdecken Sie? b) Worin unterscheiden sich die einzelnen Wahrnehmungsbezüge voneinander? (5) In den Äußerungen sind Leiberfahrungen geschildert. Was fällt Ihnen an der Qualität dieser Schilderungen auf?

6.3 Folgerungen Bereits das Kurzexperiment erlaubt Folgerungen zu sozialen Abstimmungsprozessen beim Arbeitshandeln in dem beobachteten Friseursalon: (1) Aussagen zur sozialen Abstimmung im Beispiel »Das türkische Handwerk«. Die körperbezogene Abstimmung von Kunde und Friseur lässt sich kennzeichnen durch Ambivalenz hinsichtlich rascher Wechsel im Aufeinanderbezogen-Sein und asynchroner Aktivitäten der beiden Akteure auf der Basis von Vertrauen, Professionalität, Alltagsgestaltung. Aus Vielfalt und Detailbeschreibungen in den notierten körperbezogenen Äußerungen greifen wir zur Veranschaulichung einige Beobachtungen heraus: Von 26 notierten Äußerungen belegen zwölf bis in sprachliche Formulierungen hinein eindeutig ambivalentes Verhalten der Akteure; sechs weitere Äußerungen liefern Hinweise darauf. In vielen Äußerungen werden die Beob288

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achtungen, der Beobachtungsaufgabe gemäß, als sensorische Empfindungen ausgedrückt. Solche Feinheiten könnten bei einer vorrangig visuell geprägten Beobachtung sicher nicht wahrgenommen, geäußert und notiert werden, denn sie setzen eine spürende Körpererfahrung voraus. Entsprechende AmbivalenzBeispiele finden sich bezogen auf den Kunden: »Ziepen, Hitze, die nur so kurz zu spüren ist, dass es auch eine sehr kalte Berührung sein könnte« (FW1-S/TN 2), »Doppelempfindungen beim Reiben der Augen« (FW1-S/TN 5); bezogen auf den Friseur: »Ekel vor kleinen Haaren und fremder Haut« (SW2-S/TN 9), Temperatur des Feuers an der Handfläche (FW2-S/TN 7); und bezogen auf die Interaktion von Kunde und Friseur: »ein wenig Ungeduld, aber auch Aufgehobenheit, will aber auch zurückzucken, bin ich draußen oder drin?« (SW3-S/TN 12). Die Beispiele veranschaulichen, wie beim prismatischen Zugang die Körperbezogenheit sozialer Abstimmungsprozesse erforscht wird. Die Beobachtungsperspektive richtet sich nicht wie in gewohnter Weise AUF die Interaktion von Kunde und Friseur. Das Wesentliche im Untersuchungs- und Erkenntnisprozess entfaltet sich im »Mit-Tun«, in der methodisch gestalteten Selbst- und Fremdwahrnehmung der Forschenden, in ihren notierten und auf Meta-Ebenen im Dialog weiter bearbeiteten Äußerungen. (2) Zu erwartende grundsätzliche Ergebnisse zur Körperbezogenheit sozialer Abstimmungsprozesse. Auf diese Weise kommen erweiterte und vertiefte Sachverhalte über soziale Abstimmungsprozesse zum Vorschein, die anderweitig übersehen würden. Mehr noch: Die »Befunde« sind auch qualitativ andere; sie enthalten per se körperbasierte Aussagen. Mit dem prismatischen Zugang werden präzise Angaben und Aussagen darüber gewonnen, worin die soziale Abstimmung der Akteure besteht, d.h. wie sie sich körperbezogen jeweils vollzieht; denn die forschenden Beobachter nutzen ihre eigene körperbezogene Wahrnehmung für die Beobachtung. Die generierten Daten werden verlässlich(er) sein, denn eine umfassende Sinneswahrnehmung ist weniger leicht zu täuschen als die vorrangig visuelle Wahrnehmung. Hinzu kommt: Die verschiedenen Perspektiven der Selbstund Fremdwahrnehmung sehen unterschiedliche Wahrnehmungsbezüge zu denselben Akteuren in derselben Situation sozialer Abstimmungsprozesse vor und schaffen damit körperbasierte Vergleichsmöglichkeiten. Mit der hier vorgestellten praktisch-theoretischen Forschungsperspektive lassen sich Kategorien und Thesen zur sozialen Abstimmung entwickeln, in denen Sachverhalte der Körperlichkeit sozialen Handelns von vorneherein berücksichtigt sind  auch im empirischen Vorgehen. In den generierten Daten ist Körperbezogenheit sozialer Abstimmung bis in die Formulierungen hinein bereits vorhanden und muss nicht erst hineininterpretiert werden.

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(3) Zur erweiterten Rolle der Forschenden. Unser Untersuchungsdesign zeigt, dass Wissenschaftler wenig vertraut sind mit Selbstwahrnehmung als Bestandteil ihrer Untersuchungsprozesse und dass sie deren methodisches Potenzial für wissenschaftliche Erkenntnis kaum nutzen. Mit dem Kurzexperiment möchten wir Interesse wecken und Wege aufzeigen, Körperlichkeit sozialen Handelns nicht nur begrifflich zu erfassen, sondern auch leiborientiert empirisch zu untersuchen. So fanden auch zunächst skeptische WorkshopTeilnehmer zu ihrer Überraschung und entgegen ihrer Vermutung heraus, dass tatsächlich ein aufschlussreicher Unterschied festzustellen ist zwischen einer auf sich selbst bezogenen Wahrnehmung beim Beobachten des Friseurs und der Fremdwahrnehmung, bei der sich der Beobachter in den Friseur hineinversetzt, um über die eigene Sensorik herauszufinden, was denn der Friseur wohl gespürt haben mag. Gleichzeitig verfeinern die Forschenden ihr Wahrnehmungsinstrumentarium. Sie sensibilisieren die eigene Körperlichkeit und ihre Bewusstheit über die Verkörperung von Wahrnehmung. Mit unserem Ansatz hinterfragen wir die (ohnehin illusionäre) »Neutralität« der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Forschungsprozess. Sich methodisch nachvollziehbar als verkörpertes »Forschungsinstrument« in den Forschungsprozess einzubringen schafft demgegenüber neue Erkenntnis- und Anwendungsmöglichkeiten in Wissenschaft und Praxis. (4) Anwendung in anderen Projekten. Der prismatische Zugang eignet sich auch für andere wissenschaftliche Kontexte, die eine Operationalisierung körperbasierter Fragestellung suchen oder vom subjektiven Erleben ausgehend zu Verallgemeinerungen gelangen wollen. Konzept und Vorgehen sind erprobt im Bereich von Professionalisierung, Qualitätsentwicklung und Evaluation, um Arbeitspotenziale zu wecken und im selben Prozess zu fördern (vgl. Clénin 2000; Black et al. 2009) oder um (diagnostisch) herauszufinden, was sich in sozialen Abstimmungsprozessen in Organisationen oder im Rahmen von Personalführung abspielt.14 Wie im Workshop angeregt, ließe sich auch der Kategorie »Gespür« (Bauer et al. 2002) weiter auf die Spur kommen. Anteile und Unterschiede von Spüren und Fühlen, wie sie in der (beides übergreifenden) Kategorie »Gespür« enthalten sind, könnten leiborientiert ausdifferenziert werden. (5) Versprachlichung von Erfahrung. Unser Vorgehen erfasst vorsprachliches

und subjektives Erleben. Wird spontan eine Wahrnehmung notiert, liegt diese ohnehin schon an der Oberfläche des Mitteilens. Durch die weitere Bearbei-

14 Bourdieus Begriff des praktischen Sinns ließe sich hier gegebenenfalls operationalisieren; vgl. dazu den Beitrag von Alkemeyer, Brümmer und Pille in diesem Band. 290

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tung wird ihre Stimmigkeit  auch die sprachliche  überprüft, präzisiert oder neu gestaltet, um so vertieft ins Verständnis der beobachteten Phänomene einzutreten. Was genau die Versprachlichung in diesem Prozess erfasst, erfassen kann und was nicht, bleibt eine noch weiter zu untersuchende Frage.

7 Ausblick: Weiterführende Forschungsaufgaben Abschließend beziehen wir unsere Forschungsperspektive und Befunde auf drei Themenbereiche, an denen wir im Kontext der Körperlichkeit sozialen Handelns praktisch und theoretisch weiterarbeiten.

7.1 Das »Mäandern« zwischen implizitem und explizitem Wissen Das prismatische Verfahren bringt Wissen an der Schwelle vom Impliziten zum Expliziten hervor. Implizites Wissen lässt sich aus der Leiberfahrung »herausziehen«, bearbeiten und wieder ins Implizite »hineingeben«, indem Leiberfahrung, Transfer ins Sprachliche, Reflexion, Erkenntnis und erneute Leiberfahrung methodisch kombiniert werden. In unserem Vorgehen erfolgt keine Abkoppelung eines Wissensbereichs vom anderen.15 Dazu gehört, dass der Beobachter nicht heraustritt aus der Handlung, die er beobachten will; er bringt sich vielmehr leiborientiert in sie ein. Erst über diese Dynamik im Vorgehen wird es dem Forschenden möglich, zu erfahren und zu erkennen, dass – und in welcher Mischung – Implizites und Explizites als Bestandteile sozialen Handelns auftauchen und in beiden Richtungen »mäandrieren«. Unser Vorgehen liefert keine exakte Messung. Durch wohlüberlegte Methodik hinsichtlich der erfassten Komplexität des Untersuchungsgegenstands kommen wir dessen Charakteristika gleichwohl näher. Wir verwenden ein »Plizites«, mit dem, statt dualistischer Betrachtungen des Expliziten und des Impliziten, multimodal in verschiedenen Richtungen (z.B. Wahrnehmungsbezügen) vorgegangen wird, um zu Erkenntnis und deren lebenspraktischer Anwendung (hier zur Körperlichkeit sozialen Handelns) zu gelangen.

15 Im Unterschied zu Stern 2005 und Fuchs 2008b: 37ff, 193ff sieht Ginsburg 2009 eher Hürden beim Zusammenführen von Wissensbereichen. 291

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7.2 Gestaltung sozialen Handelns als Wahr-Nehmen und Wahr-Geben Unser Ansatz erweitert das Verständnis sozialen Handelns um die Bedeutung unterschiedlicher Wahrnehmungsbezüge, wie sie sich in verkörperter Selbstund Fremdwahrnehmung im alltäglichen Tun zeigen  auch im Kontext von Forschungsprozessen. Wir beschreiten damit dynamische, leiborientierte, die Beobachtung gestaltende Wege. Die Forschungstradition legt nahe, generiertes Wissen möglichst bald in bestehende Wissensbestände zu integrieren. Wir lassen stattdessen subtile Differenzen im Selbst- und Fremdwahrnehmen erst einmal bestehen, nutzen sie methodisch, verstärken sie sogar in der Absicht, eine paradigmatisch neue Qualität des Vorgehens, der Erkenntnis und ihrer Anwendung zu befördern. Wir gehen damit einen konkreten Schritt weg von der vorherrschenden Annahme, es gäbe tatsächlich so etwas wie eine Wahrnehmung, die vom Wahrnehmenden unbeeinflusst wäre. Jeder Beobachter (wie jeder andere Akteur auch) ist verkörpert; sein Spüren, Fühlen, Denken beruht immer auch auf unbewussten Vorannahmen, die seine angeblich objektive Wahrnehmung beeinflussen. Wir stellen uns dem Objektivitätsinteresse, indem der forschende Beobachter im Untersuchungsprozess seine geäußerte Wahrnehmung bewusst und strategisch als erweiterte Wahrnehmungsperspektive handelnd einsetzt und dokumentiert. Im Wissen, dass die eigene Körperlichkeit dem Ideal wissenschaftlicher Neutralität und Objektivität ohnehin entgegensteht, fügt unser Vorgehen der Wahr-Nehmung konkrete Schritte von Wahr-Gebung hinzu. Die »Wahrheit«, nach der gesucht wird, wird also immer sowohl genommen als auch gegeben. Damit findet auch im Forschungsprozess statt, was Forscher und Literaten über soziales Handeln oder Intersubjektivität dargelegt haben: Die sozial verfasste Orientierung eigenen Tuns am jeweils anderen ist eine gestaltende.16

7.3 Vom Erleben über Interaktion zu verallgemeinerten Aussagen Wir liefern hier keine theoretische Darlegung körperbasierter, sozial konstituierter Intersubjektivität. Unser Verfahren kann zeigen, dass und wie soziales Handeln mit körpergebundenen Wahrnehmungsqualitäten einhergeht (Spüren, Fühlen, Denken im Tun) und in welch enger, komplexer ständiger Verschränkung und Reziprozität der Perspektiven sich die Körperlichkeit sozialen Handelns konstituiert. 16 Dazu auch Noé 2005; Gebser 1978. 292

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Wir arbeiten an Untersuchungsverfahren, in denen Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität in ihrer Bezogenheit erkannt und in praktikabler Weise genutzt werden. Dabei transformieren sich die subjektiven Äußerungen, indem sie intersubjektiv weiter bearbeitet werden, schrittweise in objektivere Aussagen, die über den Einzelfall hinausreichen, ohne dass sich ein bestimmtes Ergebnis lediglich bestätigte oder gar erzwungen würde oder mit Sicherheit erreicht werden könnte im Sinn eines Objektivitätsanspruchs. Im prismatischen Zugang hat der Beobachter eine intersubjektive Rolle. Die Dritte-Person(en)-Sichtweise entsteht im Verlauf des Untersuchungsprozesses aus diesem selbst heraus, aber nicht, indem einzelne Personen die »Objektivitäts-Funktion« übernehmen (müssen). Dieses leiborientierte Vorgehen hin zur Verallgemeinerung ist für die an diesem Prozess Beteiligten einsehbar und führt von dort aus wieder zurück ins subjektive Erleben und in die praktische Anwendung. Mit unserem Projekt machen wir einen Schritt in Richtung verkörperter Forschungspraxis. Wir versprechen uns davon, dass sich der Komplexitätsgrad eher verringert statt erhöht, wenn soziales Handeln in dem leiborientierten Zusammenhang untersucht wird, der ohnehin darin angelegt ist.

Literatur Agneskirchner, Alice (1999): »Das türkische Handwerk«. In: dies. (Regie)/ Markus Winterbauer (Kamera)/Ulla Kösterke (Ton), Waschen und Legen. Dokumentarfilm, SFB. Auch in Dunkel/Rieder 2004. Bauer, Hans G./Böhle, Fritz/Munz, Claudia/Pfeiffer, Sabine/Woicke, Peter (2002): Hightech-Gespür – Erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen in hoch technisierten Arbeitsbereichen. Schriftenreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung, Bielefeld: W. Bertelsmann. Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer. Black, Robert/Clénin, Daniel/Pieper, Barbara/Randerson, Janie (2009): Perspectives on the IFF Academy Process 2000 to 2008 (Open letter), March 2009. Zugänglich unter http://feldenkrais-method.org/en/node/2005. Böhle, Fritz (2009): »Erfahrungswissen  Wissen durch objektivierendes und subjektivierendes Handeln«. In: Axel Bolder/Rolf Dobischat (Hg.), EigenSinn und Widerstand. Kritische Beiträge zum Kompetenzentwicklungsdiskurs, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7088. Böhme, Gernot (2003): Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug/Schweiz: Die Graue Edition.

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Drittes Kapitel: Körperliche Vergesellschaftung

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Die körperliche Konstruktion des Sozialen. Ein soziologischer Blick auf die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson STEPHANIE STADELBACHER

1 Einleitung Soziale Ordnung ist ein interaktiv herzustellendes Konstrukt, ein Effekt wechselseitigen Verständigungshandelns in einer immer schon intersubjektiven und pragmatischen Sozialwelt. Mit einem solchen Verständnis von Sozialität wird an den paradigmatischen Wechsel von der normativen hin zur interpretativen Perspektive auf soziale Ordnung, kurz: an den »cognitive turn« (vgl. Knorr-Cetina 1981: 3) in der Soziologie angeknüpft. Anstatt Handeln allein durch die Orientierung an internalisierten Werten, Normen und Rollenvorgaben zu erklären (wie in der an Parsons orientierten Tradition; vgl. Parsons 1949), werden vielmehr die aktiven Deutungs- und Interpretationsleistungen der handelnden und verstehenden Akteure betont. Soziale Ordnung wird nicht primär als aufrechtzuerhaltende, sondern als erst herzustellende Konstruktionsleistung der Subjekte verstanden. Zentral ist hierbei das wechselseitige Verstehen des jeweils gemeinten Sinns bzw. das mit subjektivem Sinn verbundene Am-Anderen-orientiert-Sein (Weber 1980: 1). Die wesentliche Voraussetzung hierfür ist Wissen, genauer: gemeinsam geteiltes, gesellschaftliches (Deutungs-)Wissen als Basis eines gemeinsamen Weltzugangs, welches deshalb auch als ›Fundament des Sozialen‹ gelten kann. Auf der Grundlage gemeinsamer Deutungen, Vorstellungen und Relevanzen erzeugen soziale Akteure aktiv eine gemeinsame Definition der Situation und damit auch soziale Ordnung. Wissen ist also konstitutiv für soziale Abstimmungsprozesse. Hier wird bereits etwas Entscheidendes deutlich: Die Frage nach den Voraus299

STEPHANIE STADELBACHER

setzungen erfolgreicher Interaktion im Sinne wechselseitiger Verständigung – also wie genau es Menschen gelingt, eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit zu erzeugen – wurde und wird primär noch immer mit mentalen Konzepten rationaler Modellakteure beantwortet. Die Frage, welche Rolle der Körper der Akteure hierbei spielt, blieb lange ein blinder Fleck soziologischer Theorie und Empirie. Besonders das Durkheim’sche Diktum, Soziales durch Soziales zu erklären und eben nicht durch die bloße Aggregation psychischer Individuen oder durch evolutionär-biologische Determinanten, führte – verbunden mit dem modernen Körperverständnis1 – zur Vernachlässigung alles Körperlichen bei der Erklärung sozialer Prozesse. Sozialität, so die klassische Soziologie, spielt sich vorwiegend »in den Köpfen ihrer Mitglieder« (Schroer 2005: 13) ab. Individuen als soziale Akteure brauchten zur wechselseitigen Verständigung nicht zwingend einen Körper, entscheidend sei die Verinnerlichung theoretischen und abstrakt-symbolischen Wissens in Form von (in der Situation aktualisierten) Werten, Normen und vor allem Sprache. Dabei ist es doch eine selbstevidente, unbestreitbare Faktizität, dass das Soziale bzw. Sozialität (als praktische Intersubjektivität) auch und gerade mit der Körperlichkeit der Akteure unmittelbar verbunden ist. Denn qua definitionem entsteht die kleinste Einheit, gleichsam die Quelle oder Basis von Gesellschaft bereits dort, wo mindestens zwei Subjekte direkt aufeinandertreffen, sich wechselseitig als Subjekte wahrnehmen und ihr Handeln mehr oder weniger explizit aufeinander beziehen. Dieser Prozess ist von Grund auf körpervermittelt, zumindest dann, wenn man soziale Akteure als Menschen und damit immer auch als körperliche Wesen begreift. Daher wundert es umso mehr, dass gerade der das Soziale (mit-)konstituierende, omnipräsente Körper in der Soziologie bis heute nicht zu den Grundannahmen sozialen Handelns gehört, sondern stattdessen noch immer das Wissen der Akteure als interaktionsleitend im Vordergrund steht. Freilich ist mit der Etablierung der ›Soziologie des Körpers‹ dieser in den letzten Jahren zunehmend thematisiert worden, so dass man von einem Körperboom oder gar einem »body turn« sprechen könnte (Gugutzer 2004, 2006; Meuser 2004).2 Ob als Produkt von Gesellschaft (Kör1

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Dieses moderne Körperbild geht auf den cartesianischen Körper-Geist-Dualismus zurück, der zu einer ›Vergeistigung‹ des spezifisch Menschlichen führte. Alles, was den Menschen in seiner Spezifität ausmacht und wesentlich vom Tier unterscheidet, ist geistiger Natur: neben der Vernunft (cogito ergo sum) eben auch seine Sozialität. Über die Etablierung als eigene soziologische Disziplin hinaus beansprucht die Körpersoziologie, keine reine ›Bindestrich-Soziologie‹ zu bleiben, sondern die grundlegende Bedeutung des Körpers für Prozesse des Sozialen auch in der Allgemeinen Soziologie durchzusetzen (vgl. hierzu beispielsweise Gugutzer 2004: 156; Schroer 2005: 11). Dieser Beitrag zielt nicht zuletzt darauf ab, diesem Anspruch ein Stück näher zu kommen, indem neben einer körperbezogenen Erwei-

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DIE KÖRPERLICHE KONSTRUKTION DES SOZIALEN

per als Zeichenträger, Identitätsmedium oder Effekt von Machtprozessen)3 oder als Produzent von Gesellschaft (Körper als agens sui generis und strukturierende Struktur)4, der Körper ist in den Fokus des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt. Dennoch trifft diese Feststellung nur bedingt zu, denn in den Kanon soziologischer Grundbegriffe ist der Körper noch nicht aufgenommen. Mit anderen Worten: Der Anspruch auf gesamtsoziologische Relevanz konnte noch nicht eingelöst werden; die Allgemeine Soziologie ist noch keine Körpersoziologie. Vor dem Hintergrund des Gesagten – Wissen als Konstituens des Sozialen einerseits und die inzwischen vermehrt konstatierbare Berücksichtigung des Körpers in Interaktionsprozessen andererseits – wird in den folgenden Abschnitten zum einen exemplarisch die ›Körperlichkeit‹ sozialer Verständigung in der Wissenssoziologie, genauer: der phänomenologisch fundierten, sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie nach Alfred Schütz respektive Peter L. Berger und Thomas Luckmann skizziert (Abschnitt 2). Diese sog. Neue Wissenssoziologie gilt als Grundlagentheorie, die Wissen und Handeln elementar miteinander verknüpft und damit die wissensbasierte Konstruktion des Sozialen als Basisparadigma in der Soziologie etabliert hat.5 Es gilt zu zeigen,

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terung soziologischer Handlungstheorien gleichzeitig eine handlungstheoretische Erweiterung der Körpersoziologie vorgeschlagen wird. Der Körper als Zeichenträger findet vor allem bei Goffman und Bourdieu Beachtung. Bei Goffman repräsentiert der Körper die personale und soziale Identität seines ›Besitzers‹ und damit immer auch die soziale Struktur der Gesellschaft, in der er lebt (vgl. Goffman 1971, 1975, 1994). Bourdieu interessiert darüber hinaus, wie der Körper von sozialen Machtverhältnissen geformt wird: Der Körper als Sitz und gleichzeitig Ausdruck des Habitus ist bei ihm strukturierte Struktur (vgl. Bourdieu 1976; Bourdieu/Wacquant 1996). Auch Foucault legt den Fokus auf Machtprozesse, die den Körper erst als das erzeugen, was er immer schon ist – Effekt von Diskursen bzw. Dispositiven diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken (vgl. Foucault 1977, 1994, 2005). Mit der Funktion als Zeichenträger ist aber zugleich auch die Bedeutung als Produzent des Sozialen verbunden. Jede Handlung und jedes Verhalten ist informativ, zeigt dem Gegenüber etwas an, vermittelt und erzeugt Wissen. Der Körper (re-)produziert im Handeln das Soziale erst, ist somit auch strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 1976). Die handlungstheoretische Bedeutung des Körpers hat bereits Mead stark gemacht, indem er praktische Kooperation als primären Modus des sozialen Handelns auswies (vgl. Mead 1968). Berger/Luckmann rückten mit ihrem Hauptwerk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Orig. 1966) die Wissenssoziologie aus der bis dahin weitgehend auf Ideologiekritik und Weltanschauungsanalyse verengten Perspektive und machten sie zu einer allgemeinen Gesellschaftstheorie, die Genese und Struktur des Alltagswissens sozialer Subjekte in den Mittelpunkt stellt. Insofern ist ihr Werk ein »Meilenstein in der Geschichte der Wissenssoziologie« und der Soziologie überhaupt (Knoblauch 2005a: 153). Da sich Berger/Luckmann gerade bei (mikrosozialen) Fragen nach dem Körper und dessen Rolle in sozialer Interaktion, Verständigung und Alltagswissen explizit auf Schütz beziehen, werde 301

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dass die Wissenssoziologie gleichwohl auch (zwar zuweilen implizite) körpersoziologische Bezüge hat und vor allem unter handlungstheoretischer Perspektive den Leib bzw. Körper der Interaktanten als Quelle sozialer Abstimmung konzipiert. Zu zeigen ist aber ebenfalls, wo die Grenzen des Körpers sind, wo er als noch oder eben gerade nicht mehr verständigungsrelevant gilt. Kurz, es gilt zu fragen: Inwiefern kann man aus wissenssoziologischer Perspektive von der körperlichen Konstruktion des Sozialen sprechen? Zum anderen dienen diese Ausführungen als Hintergrundfolie, vor der eine Erweiterung der (wissens-)soziologischen Perspektive auf Verständigung und Körper durch die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson vorgeschlagen wird (Abschnitt 3). Der Linguist Lakoff und der Philosoph Johnson postulieren einen grundsätzlich körperlichen Zugang zur Welt, der über bisherige soziologische Ansätze (wie etwa die pragmatistisch fundierte Sozialtheorie von Mead) noch hinausgeht. Denn nach Lakoff/Johnson ist auch und vor allem unser Alltagswissen und hier besonders die symbolische Form der Kommunikation – Sprache – im Wesentlichen körperbasiert. Sie heben damit die Bedeutung des Körpers für Prozesse sozialer Interaktion in bislang einzigartiger Weise hervor. Damit erhält die körperliche Konstruktion des Sozialen eine bedeutende Erweiterung um die epistemische Dimension sozialer Verständigung. In einem ersten Abschnitt werden zunächst die Bedeutung, Entstehung und Funktionsweise von Metaphern vorgestellt, um dann deren Rolle in Verständigungsprozessen aufzuzeigen. Zum Abschluss werden speziell heutige Bedingungen und Probleme sozialer Abstimmungsprozesse kurz angerissen. Denn die hier verhandelte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen körperbasierter sozialer Verständigung ›jenseits geistiger Planung‹ erhält angesichts modernisierungstheoretischer Gegenwartsdiagnosen zusätzliche Relevanz. Betrachtet man aktuelle gesellschaftliche Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse, die diejenigen der einfachen Moderne noch radikalisieren, lässt sich die Frage nach einer gemeinsamen Basis wechselseitiger Abstimmung noch einmal neu stellen.6 Denn kollektiv geteiltes Wissen kann in der ›reflexiven Moderne‹ immer weniger einfach vorausgesetzt werden. Soziale Ordnung muss mehr denn je interaktiv ausgehandelt werden. Die Unsicherheit des Handlungsausgangs und damit auch des Handlungserfolgs lässt ein Gelingen von Verständigung auf der Basis gemeinsamen Deutungswissens in vielen Situationen nur mehr als möglich – und nicht mehr ohne weiteres als wahrscheinlich – erscheinen. Welche Rolle der Körper hierbei spielen kann, soll im Folgenden anhand der Analyse des Verhältnisses

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ich in diesem Beitrag nicht weiter zwischen phänomenologischer und sozialkonstruktivistischer Wissenssoziologie differenzieren. Vgl. die Theorie Reflexiver Modernisierung, die mittlerweile in einigen Werken und empirischen Studien elaboriert wurde (zur Theorieentwicklung vgl. Beck et al. 1994; Beck et al. 2001; Beck/Lau 2004).

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DIE KÖRPERLICHE KONSTRUKTION DES SOZIALEN

von Körper, Wissen und Interaktion aufgezeigt werden. In einem Fazit wird die hier vorgeschlagene weitergehende ›Verkörperung des Sozialen‹ abschließend noch einmal auf den Punkt gebracht (Abschnitt 4).

2 Wissenssoziologie 2.1 Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie und der Körper Im Zentrum der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie stehen wechselseitig aneinander orientierte Handlungen Einzelner. Die Alltagswelt ist im Wesentlichen inter-aktive Sozialwelt, d.h. Wirklichkeit wird in einem immerwährenden Prozess praktischer Aushandlungen von den Akteuren selbst konstruiert (und in der Folge als objektive Gegebenheit institutionalisiert; vgl. Berger/Luckmann 2004: 56ff.). Damit ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Rolle des Körpers eben jener Akteure. Auch wenn dieser (vermeintlich) keinen prominenten Platz einnimmt, ist eine Rezeption der Neuen Wissenssoziologie als (rein) kognitivistische Theorie zu kurz gegriffen, wie sich bereits im grundlegenden Verständnis von Wirklichkeit und Sozialität zeigt. Zunächst gilt es den Körperbegriff von Schütz bzw. Berger/Luckmann zu klären. Hier zeigen sich die phänomenologisch-anthropologischen Wurzeln dieses Ansatzes, denn im Zentrum steht der duale Leibkörper. In der phänomenologischen Tradition nach Husserl versteht man darunter die Gleichzeitigkeit von ›fungierendem Leib‹ einerseits und materiellem ›Körperding‹ andererseits.7 Als »Nullpunkt des Koordinatensystems« (Schütz/Luckmann 1979: 64) ist der Leibkörper der absolute Ort jeder Wahrnehmung, der primäre Zugang zur Welt. Der Leib wirkt aktiv in die Außenwelt ein, verschafft sich Zugang zu dieser und erzeugt sie letztendlich damit erst: der Leibkörper als Ausgangspunkt von Wirklichkeit. Zugleich ist dieser aus seiner exzentrischen Position heraus fähig zur Selbstreflexion. Er kann sich selbst zum Objekt machen, indem er aus sich heraustritt und sich gleichsam ›von außen‹ betrachtet: der Leibkörper als Teil der Wirklichkeit (vgl. Plessner 1965).8 Der Leibkörper als Standort des Hier und Jetzt ist ein Grundelement des menschlichen Wissens, eine »ständig in jeder Erfahrung und jeder Situation gegenwärtige Dimension des Wissensvorrats« (Schütz/Luckmann 1979: 143). 7 8

Vgl. als Überblick zum Leibkörper in der Phänomenologie allgemein Waldenfels 2000. Vor allem Berger und Luckmann beziehen sich in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit auf Plessners Konzept der Positionalität des Menschen und die darin enthaltenen Implikationen für das Verhältnis von Natur und Kultur, Körper und Gesellschaft. 303

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Das Erleben meines Körpers, seiner Grenzen und Möglichkeiten, seines gewohnheitsmäßigen Funktionierens wie Atmen oder Schlucken, die Orientierung in Raum und Zeit sind die ersten Selbstverständlichkeiten, ohne dass sie selbst Gegenstand von Reflexion werden müssten – ich bin einfach mein Leib und habe meinen Körper, er ist immer da, ich bin immer bei mir. Leibliches Erleben und Wahrnehmen gelten als anthropologische Universalien, bleiben als solche jedoch unter der Oberfläche des eigentlichen gesellschaftlichen Wissens. Sie werden als präreflexives Erleben in der Regel nicht zur Erfahrung, werden nicht objektiviert, und das heißt vor allem: nicht versprachlicht (ebd.).9 Somit dienen Leiblichkeit und Körperlichkeit nur bedingt der kommunikativen sozialen Abstimmung. Andererseits bildet die Doppelheit des Bei-sich-Seins und Aus-sich-heraustreten-Könnens aber auch die wesentliche Voraussetzung jeder Sozialität. Nur durch die Selbstobjektivierung als ›Körperding‹ kann ego sein Gegenüber als ebenfalls leibliches Wesen identifizieren. Denn zu den Grundelementen gehört auch das ›Wissen‹ um das spezifische Appräsentationsverhältnis zwischen Körper und Leib: Der von außen wahrnehmbare Körper steht in einem bestimmten Verweisungszusammenhang zum Leib, genauer: zu typischen, leiblich vermittelten Bewusstseinsvorgängen.10 Der wahrnehmbare Körper und der (appräsentierte) wahrnehmende Leib gehören zusammen. Der ego prinzipiell ähnliche Körper von alter ego wird so zum Ausgangspunkt für die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven, die Basis jeder Intersubjektivität. Zum einen gehört die ›Idealisierung der Austauschbarkeit der Standorte‹ zur natürlichen Einstellung egos. Ego und alter ego ›wissen‹, dass die körperlichen (!) Standorte jederzeit vertauscht werden können, mit der Konsequenz, dass das ›Dasein‹ alter egos typischerweise auch das ›Hiersein‹ egos werden könnte und vice versa (vgl. Schütz 1971: 364f.). Zum anderen gilt auch die damit verbundene ›Idealisierung der Übereinstimmung der Relevanzsysteme‹, also die Annahme der prinzipiell gleichen Erfahrung als fraglos hingenommene Gegebenheit. Und auch diese basiert auf der Exzentrizität des Leibkörpers. Denn indem ego seine Wahrnehmungen, Erfahrungen etc. als aus einer bestimmten leibvermittelten Perspektive heraus auffasst und alter ego als einen sich typisch ähnlichen Körper deutet, projiziert ego aus seiner exzentrischen Position heraus automatisch Vgl. zu den Begriffen des Erlebens und der Erfahrung Schütz: »Erlebnisse heben sich im Bewußtseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse; manche Erfahrungen werden durch reflektierte Bewußtseinsleistungen, welche die Erfahrungen zu etwas in Beziehung setzen, sinnvoll« (Schütz/Luckmann 1984: 14). Erst durch reflexive Sinnsetzung wird das Erlebte im Nachhinein zur (immer schon gesellschaftlichen) Erfahrung. Da die Grundelemente aber nicht Gegenstand reflexiver Zuwendung sind, werden sie auch in der Regel nicht zur Erfahrung in diesem Sinn und können deshalb als von sozio-kultureller Prägung unabhängige Universalien gesehen werden. 10 Vgl. zum Begriff der Appräsentation Husserl 1977: 111ff.

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DIE KÖRPERLICHE KONSTRUKTION DES SOZIALEN

seine typisierten (leiblichen) Wahrnehmungen, Erfahrungen etc. auf alter ego. Oder anders: Nur durch die Fähigkeit des ›Aus-sich-heraus-Setzens‹ kann ego sich in alter ego hinein versetzen und ihm prinzipiell ähnliche oder gleiche Grunderfahrungen unterstellen. Der Körper, genauer: der Leibkörper spielt also bereits auf der basalen Ebene eine ganz wesentliche Rolle in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Er ist gleichsam die Grundlage des Sozialen überhaupt.11

2.2 Leib und Körper in wechselseitigem Verständigungshandeln Verständigung beinhaltet automatisch auf Wechselseitigkeit ausgerichtete Formen des sozialen Handelns. Ego versetzt sich in die Lage alter egos und antizipiert »modo futuri exacti«12 seine Handlung und die Reaktion des Rezipienten mit dem Ziel, dass das Um-zu-Motiv egos zum Weil-Motiv alter egos wird und umgekehrt. Wechselseitiges Handeln ist eine »intersubjektive Verkettung der Motive und Entwürfe« sozialer Handlungen (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 119ff.).13 Dabei ist der Ausgang solcher Abstimmungsprozesse immer unsicher. Eine notwendige Voraussetzung für gelingende Verständigung (d.h. die Erzeugung einer gemeinsamen Deutung der Situation) ist das gegenseitige Verstehen. Die Interaktanten müssen auf der Grundlage der Reziprozität der Perspektiven und der im subjektiven Wissensvorrat abgelagerten Typen (von 11 Der hier aufgezeigte Horizont der ›Körperlichkeit‹ der Wissenssoziologie ist natürlich noch um den Aspekt der sozialen Konstruiertheit von Leib und Körper zu ergänzen. Denn indem er Leib ist und einen Körper hat, ist der Mensch gleichzeitig Natur- und Kulturwesen (vgl. Plessner 1965). Das bedeutet, wir sind nie einfach nur ein natürlicher, sondern haben immer schon einen kulturellen Leibkörper. Ob in Form praktischen Handlungswissens (implizites Wissen im Körper, z.B. Fertigkeiten wie Essen, Gehen, Sitzen, aber auch der mimisch-gestische Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken) oder theoretischen Körperwissens (explizites [Experten-]Wissen über den Körper, z.B. biologischer, medizinischer oder sportwissenschaftlicher Natur), in jedem Fall ist der Leibkörper auch Speicher bzw. Träger von gesellschaftlichem Wissen und als solcher Teil von Verständigungshandeln (vgl. Schütz/Luckmann 1979; Berger/Luckmann 2004). Zu den verschiedenen Dimensionen des Körpers in der Wissenssoziologie vgl. auch Knoblauch 2005b. 12 Mit »modo futuri exacti« bezeichnet Schütz den (Denk-)Modus der vollendeten Zukunft (Futur II). Damit verweist er auf die mental antizipierte Handlung, die in der Phantasie des Sprechers als bereits vollbracht worden seiend dem Sprechakt vorangeht (vgl. Schütz 1991: 177f.). 13 Die Reziprozität der Motive besagt, dass »der andere [...] ungefähr durch solche Motive zu bestimmten Handlungen veranlaßt [ist], die ein entsprechendes Handeln auch bei mir motivieren würden« (Schütz/Luckmann 1984: 119). 305

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Handlungsabläufen, Akteuren, Situationen etc.) den jeweils vermeintlichen Sinn hinter den Äußerungen des Anderen erfassen. Schütz spricht hier vom ›echten Fremdverstehen‹, das in Form der Selbstauslegung eigener Erfahrungen von alter ego ein Verstehen der Erfahrungen, Gedanken, Wahrnehmungen des alter ego gewährleisten soll (Schütz 1991: 148ff. und 186ff.). Damit dies gelingt, bedarf es des wechselseitigen Austauschs, angetrieben durch den »Um-zu-Zusammenhang des Verstanden-werden-Wollens« auf der Seite des Sendenden und den »Um-zu-Zusammenhang des Verstehen-Wollens« (Schütz/Luckmann 1984: 192) auf der Seite des Rezipienten. Entscheidend ist dabei die Frage, wie es Subjekten gelingt, sich wechselseitig die eigenen Bewusstseinsabläufe (Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Absichten etc.) so anzuzeigen, dass der Andere sie versteht und der Prozess der Interaktion aufrechterhalten und möglichst ›erfolgreich‹ wird. Je nachdem, welche Form der kommunikative Austausch hat, stehen den Interaktanten hierbei unterschiedliche Kanäle zur Verfügung. Schütz/Luckmann differenzieren idealtypisch zwischen wechselseitig-unmittelbarer (d.h. direkter) und wechselseitig-mittelbarer (d.h. indirekter) sozialer Interaktion (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 101ff.; Luckmann 1992). Was die unmittelbare Begegnung gegenüber allen anderen Formen der Kommunikation auszeichnet, ist die leibkörperliche Anwesenheit der Interaktanten, die zeitliche, räumliche und körperliche Koinzidenz des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens. Diese Bewusstseinsvorgänge von alter ego sind ego zwar niemals unmittelbar zugänglich, der Körper von alter ego als dessen appräsentierter Leib ermöglicht ego jedoch, sich diese zu erschließen. Da mir in der direkten Interaktion das »Maximum an Symptomfülle« zur Verfügung steht, »da er mir leiblich gegenübersteht, kann ich die Vorgänge in seinem Bewußtsein nicht nur durch das, was er mir vorsätzlich mitteilt, erfassen, sondern auch noch durch die Beobachtung und Auslegung seiner Bewegungen, seines Gesichtsausdrucks, seiner Gesten, des Rhythmus und der Intonation seiner Rede usw.« (Schütz/Luckmann 1979: 95). Die leiblichen Anzeichen14 werden im Deutungsakt des Wahrnehmenden zu verständigungsrelevanten Proto-Zeichen15. Neben situativen 14 Wenn von ›leiblichen Anzeichen‹ die Rede ist, sind eigentlich formal körperliche, leibvermittelnde Anzeichen gemeint, da sich jede Äußerung leiblicher Vorgänge nur körperlich ausdrücken lässt bzw. wahrgenommen werden kann (Appräsentationsverhältnis). Um aber den leiblichen Verweisungsgehalt zu betonen, wird hier und im Folgenden von leiblichen Anzeichen gesprochen. 15 Proto-Zeichen sind anzeichenhafte Informationen im direkten Austausch. Sie sind keine Zeichen, weil sie zur Deutung und als Medium der Verständigung auf die situative Aktualität und die räumlich-körperlichen Bedingungen der direkten Interaktion angewiesen sind. Vgl. hierzu und zur Zeichentheorie allgemein Schütz 1971; Schütz/Luckmann 1979, 1984. Zur Weiterführung durch Luckmann vgl. die Beiträge in den Aufsatzsammlungen Wissen und Gesellschaft (Luckmann 2002) und Lebenswelt, Identität und Gesellschaft (Luckmann 2007). 306

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Ausdruckshandlungen und -bewegungen16, die auf die momentane Verfasstheit des Partners verweisen, bildet der Körper eine Reflexionsfläche der sozialen Identität seines ›Besitzers‹. Kleidung, Expressivität, Gang etc. werden als Anzeichen für die sozialstrukturelle Verortung des Gegenübers interpretiert und von diesem mitunter auch intentional eingesetzt. Der Körper als Träger von Individualität sowie der sozialen Position verweist über die aktuelle Situation hinaus auf den Anderen als Person. Als dritte Quelle der Verständigung dienen körperliche Handlungsstandardisierungen wie etwa das Händereichen zur Begrüßung bzw. Verabschiedung oder andere interaktionsstrukturierende Handlungen (Tür aufhalten, den Vortritt gewähren etc.). Generell kann man sagen: Körperliche Äußerungen verschiedenster Art fließen als performative und repräsentative Akte bewusst oder unbewusst in das »Handeln in lebendiger Gegenwart« (Schütz/Luckmann 1984: 122) ein. Der Leib bzw. der Körper als dessen Ausdruck wirkt kommunikativ, indem er als Apperzeptionsschema nonverbaler, para-linguistischer Kommunikation fungiert. Er ist in Form indexikaler Verweise eine Quelle des Fremdverstehens und damit der Verständigung. Denn sobald ego die leiblichen Anzeichen von alter ego als Proto-Zeichen versteht und auf sein Handeln rückbezieht bzw. dieses darauf ausrichtet, werden sie zu ›Weil-Motiven‹ für ego. Auf der Basis fortwährender Spiegelungsprozesse, der darin impliziten Generalthese der Reziprozität und eines gemeinsamen Wissensvorrats aus typischen Anzeichen und deren Deutung fungiert der Körper somit als wesentliches Medium im alltäglichen wechselseitigen sozialen Handeln unmittelbarer Präsenz. Alle Formen leibkörperlicher Kommunikation sind aber gerade ob ihrer Körpergebundenheit auf die konkrete Situation fixiert, überdauern diese nicht und verweisen nur beschränkt auf andere Zeit- und Raumhorizonte als das aktuelle Hier und Jetzt. Genau aus diesem Grund bildet Sprache das wichtigste Kommunikationsmedium, denn sie eröffnet einen ungleich komplexeren Horizont der Verständigung. Sowohl in direkter als auch indirekter Begegnung ist der sprachliche Austausch deshalb das Kommunikationsmedium erster Ordnung. Wie alle Zeichensysteme ist Sprache ein vom (notwendig subjektiven) pragmatischen Erfahrungszusammenhang abstrahiertes objektives Sinnsystem. Nur durch diese Entsubjektivierung ist es überhaupt erst möglich, eine gemeinsame Wirklichkeit zu konstruieren, da die zwangsläufige Perspektivität der Weltwahrnehmung mittels typisierten Wissens dieser Form überwunden und der Anspruch auf intersubjektive Geltung verwirklicht werden kann 16 Schütz bezeichnet Ausdrucksbewegungen als bloßes Verhalten, das insofern kein soziales Handeln ist, z.B. das »Mienenspiel und die Gesten, mit welchen wir unsere Reden begleiten, ohne damit eine ausdrückliche Absicht zu verbinden« (Schütz 1991: 163). Ausdruckshandlungen hingegen sind bewusste kommunikative Akte wie das »Setzen von Zeichen, sei es, daß ein Artefakt, sei es, daß eine Körperbewegung gesetzt wurde« (ebd.: 165). 307

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(vgl. Srubar 1979). Sprache als wichtigstes der objektiven Deutungsschemata zeichnet sich also durch ihren quasi-idealen Status aus (Luckmann 1969: 1061). Sie ist auf der Begriffs- und Bedeutungsebene unabhängig von allem Subjektiven, d.h. auch des Leiblich-Körperlichen, weil nur so die »selbstverständliche Wechselseitigkeit gesellschaftlichen Handelns« zu gewährleisten ist (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 208f.).17 Und gerade wegen ihrer Objektivität und Abstraktion von allem Subjektiven macht Sprache komplexere Verständigung überhaupt erst möglich. Gleichwohl hat der Körper auch in der sprachlich vermittelten Interaktion Verständigungsfunktion. Sprache enthält nämlich als »phonetisch-semantischsyntaktisches Ganzes« (Knoblauch 1995: 43) auch para-linguistische Elemente18: Lautstärke, Tonhöhe, Rhythmus und Melodie fungieren als körperlich vermittelte Anzeichen für die konventionalisierten Bedeutungen des Gesagten, aber auch für den ›inneren Zustand‹ des Sprechers. Auf diese Weise ist ein Verstehen des Anderen auf leiblicher Ebene möglich, da bestimmte Wahrnehmungsmodalitäten dem Hörenden einen (typisierten) Zugang zum Sprechenden gewähren (s.o.). Luckmann nennt dies die indikative Funktion der Sprache. Die damit verbundene phatische Funktion bezeichnet die identifikatorische Kraft des Sprechens. Durch die Art, sich auszudrücken, verweist der Sprecher auf seine soziale Position, mit entsprechenden Effekten beim Zuhörer.19 Der Körper hat im sprachlichen Austausch also sinnliche Vermittlungsfunktion, die ein leibliches Wahrnehmen des Anderen voraussetzt. Realiter findet sozialer Austausch nun in vielfachen Mischformen ›echter‹ unmittelbarer, quasi-unmittelbarer mittelbarer und ›echter‹ mittelbarer Interaktion statt. Das reicht von vis-à-vis-Situationen über Telefongespräche und Videotelefonie, bei denen jeweils bestimmte leib-körperliche Kanäle als Informationsquelle zur Verfügung stehen, bis hin zu Schriftwechsel, bei dem der Austausch weitgehend entsinnlicht ist. Generell gilt: Je indirekter die Interaktion wird, desto stärker sind die Partner auf transsituative, überindividuelle, abstrakte und damit ent-körperlichte Medien angewiesen. In ›echten‹ mittelbaren Interaktionen, in denen kein wechselseitiges aktuelles Wahrnehmen möglich ist, ist darum anonymisiertes, objektives Wissen, das beiden gemeinsam ist (allen voran die Sprache bzw. Schrift), die unbe17 »Die sprachlich objektivierte Welt ist transsubjektiv, insofern das, was geteilt wird, nicht die [subjektiven] Erfahrungen sind, sondern die [objektiven; Anm. S. S.] sprachlichen Symbole« (Knoblauch et al. 2003: 26; Hervorhebung S.S.). 18 Paralinguistische Elemente der Sprache sind jene, die nicht zum syntaktischen und semantischen Sprachinhalt gehören, aber in der Produktion und Rezeption von Gesprochenem als sinnhaft angezeigt und gedeutet werden können (vgl. Schütz/Luckmann 1984: 211). 19 »Durch Verortung des Sprechers in der sozialen Wirklichkeit kommt es zu Identifikation, Solidarität, Abneigung, Hass« (Luckmann 2007: 111). Zu diesen »Nebenfunktionen« der Sprache vgl. auch Luckmann 1969: 1084. 308

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dingte Voraussetzung gelingender Interaktion.20 Sprache (bzw. Schrift) als abstrakt-symbolisches Bedeutungssystem wird dann zur einzigen Bezugsquelle wechselseitigen Verstehens. Die Rolle des Körpers beschränkt sich in der ›echten‹ mittelbaren Interaktion letztendlich auf die erinnernde oder phantasierende Appräsentation des Anderen. Ego stellt sich seinen Interaktionspartner auch im Falle der reinen Mittelbarkeit als leiblich-körperliches Wesen vor. Es wird eine »Schein-Unmittelbarkeit« erzeugt, die als »hypothetische Intersubjektivität« (Schütz/Luckmann 1984: 110 und 122) interaktionsrelevant ist, und zwar insofern sie das Handeln egos, die Umsetzung seines Umzu-Motivs beeinflussen kann. Der entscheidende Unterschied ist aber das erkennbare Fehlen jeder Möglichkeit des leiblichen Informationsaustauschs. Der Körper ist im mittelbaren Austausch nicht verständigungsrelevant. Zusammenfassend lässt sich sagen: Je weiter die räumliche und zeitliche Unmittelbarkeit zur Mittelbarkeit wird, desto mehr nimmt die Symptomfülle ab und mit ihr die Bedeutung, die der (als Teil des Persönlichen, des Subjektiven verstandene) Körper in der aktuellen Situation der Verständigung hat. Der Körper gerät in den Hintergrund, verschwimmt bis hin zur bloßen Vorstellung des Anderen als leibkörperliches Individuum. Und diese Entpersönlichung, die Abstraktion des Subjektiven (und damit des Körperlichen), kennzeichnet Verständigungshandeln in modernen Gesellschaften. »In diesem Prozess wird die [...] wirklichkeitsbildende Funktion des Leibes zu einer unter vielen anderen« (Srubar 2005: 159).

2.3 Fazit: Körperliche Konstruktion des Sozialen in der Wissenssoziologie Bezüglich der Frage nach der körperlichen Konstruktion des Sozialen in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie bleibt als Fazit festzuhalten: (1) Der exzentrische Leibkörper ist die Basis des Sozialen: Exzentrizität ist die Voraussetzung von Perspektivenübernahme und Spiegelungsprozessen. (2) Im Prozess sozialer Abstimmung appräsentieren wir darum auch unseren Interaktionspartner als leibliches Wesen; die Reziprozität der (leibkörperlichen) Perspektiven bleibt idealisierte Vorstellung. (3) Der Körper ist in direkter Interaktion als Ausdrucksfeld aktueller Bewusstseinsvorgänge (kognitiver und leiblicher Art), Projektionsfläche sozialer

20 »Was immer sonst noch die Bedeutung objektivierter Deutungsschemata für den Menschen und die Gesellschaft, in der er lebt, sein mag, im mittelbaren gesellschaftlichen Handeln helfen sie, ›erfolgreiche‹ Wechselseitigkeit herzustellen« (Schütz/Luckmann 1984: 126; Hervorhebung S.S.). 309

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Formierung (Identitätsmedium) und agens auf eigener Handlungsebene verständigungsrelevant.21 Aber abgesehen von dieser generell appräsentativen – und auf der Ebene asemiotischer Kommunikation performativen und repräsentativen – Funktion tritt der Körper bei der Erklärung alltäglichen Verständigungshandelns gegenüber dem reflexiven Wissen zurück: »Das Verstehen von Handeln und von Sinn [und damit auch Verständigung; Anmerkung S.S.] vollzieht sich im gedanklich-idealen Raum«, dessen zentrales Medium die Sprache ist (Abraham 2002: 75). Und diese besteht auf der Begriffs- und Bedeutungsebene aus formal körperunabhängigen, kognitiven Elementen gesellschaftlichen Wissens. Mit der Erklärung der Wirklichkeitskonstruktion als vornehmlich symbolgebundener (also sprachlicher und rationaler) Prozess und der Definition symbolischen Wissens als entsubjektiviertes (entleiblichtes/entkörperlichtes) Wissen wird die Trennung von Denken und Wirken, Geist und Leib, Kognition und Körper letztlich beibehalten. Es sind primär eben nicht leiblich empfindende, spürende, sinnlich wahrnehmende Subjekte, die sich verständigen, sondern denkende, interpretierende, deutende, kurz: wissende Subjekte. Neben konkretem Körperwissen ist das symbolisch-abstrakte, vom Körper losgelöste Wissen die entscheidende Grundlage wechselseitigen Verstehens. Verstehen ist somit ein kognitiver Vorgang. Diese Trennung von Körper und (Deutungs-)Wissen bildet die Grenze der ›Körperlichkeit‹ der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie.

3 Die Theorie kognitiver Metaphorik von George Lakoff und Mark Johnson 3.1 Grundlagen: Konzeptuelle Metaphern und der Leibkörper Genau an diese ›Grenze‹ der Wissenssoziologie schließt nun die Theorie kognitiver Metaphorik von Lakoff/Johnson an (Lakoff/Johnson 1999, 2004; Johnson 1987; Lakoff 1987). Denn mit der bislang vorherrschenden Perspektive auf wahrnehmende, wahrgenommene und handelnde Körper ist nur ein Aspekt sozialer Interaktion benannt. Die Relevanz unserer Leibkörperlichkeit erschöpft sich eben gerade nicht, wie zu zeigen sein wird, in der grundsätzlichen Fähigkeit zur Perspektivenübernahme sowie der bloßen Anwesenheit und Möglichkeit körpervermittelter bzw. leiblicher Kommunikation, also der 21 Knoblauch spricht hier vom Kulturkörper, der »die Verkörperung der Dialektik [bildet], indem er die verinnerlichte Außenseite als veräußerlichte Innenseite darstellt« (Knoblauch 2005b: 105). Insofern sei der Körper »eine zentrale Voraussetzung zumindest für die unmittelbaren Formen des kommunikativen Handelns« (ebd.: 106; Hervorhebung S.S.). 310

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pragmatischen Konstruktion des Sozialen. Auch das abstrakt-symbolische Alltagswissen ist wesentlich körperbasiert.22 Zunächst ist anzumerken, dass das Grundinteresse von Lakoff/Johnson nicht primär die Frage nach sozialer Verständigung, sondern die Ergründung des menschlichen Denkens und Wahrnehmens ist. Es interessiert sie, wie es dem Einzelnen möglich ist, sich die Alltagswelt als Komplex aus direkten und abstrakten Elementen zugänglich zu machen, sie zu verstehen (vgl. Lakoff/ Johnson 2004: 136). Hierfür werden einfache und direkt emergente Konzepte, die sich aus unserer Eingebundenheit in die physische und soziale Welt ergeben, auf komplexe und abstrakte, d.h. nicht klar umrissene Phänomene projiziert und diese so denk- und fassbar gemacht.23 Solche Phänomene besitzen nur wenige inhärente Merkmale, was ein Verstehen ohne metaphorisches ›Ausschmücken‹ schwer vorstellbar macht. Kurz: Wir übertragen systematisch physische, relativ klar konturierte Konzepte unserer Erfahrung auf nichtphysische, weniger klar konturierte Konzepte: »Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch« (Lakoff/Johnson 2004: 11; Hervorhebung S.S.). Hier wird deutlich: Der dieser Theorie zugrunde liegende Metaphernbegriff unterscheidet sich wesentlich von der klassisch-aristotelischen Rhetorikund Poesiemetapher. Die Bildübertragung von einem Quell- auf einen Zielbereich ist nach Lakoff/Johnson nicht ein Element der Sprache, der Kommunikation, sondern Modus des Denkens – und zwar des alltäglichen, vorbewussten, alle Lebensbereiche strukturierenden Denkens. Die sprachliche Metapher ist nur der Effekt, die Manifestation der zugrunde liegenden systematischen metaphorischen Kognition. Deshalb sprechen Lakoff/Johnson auch genauer von konzeptuellen Metaphern, um zu verdeutlichen: »Conceptual metaphor is a natural part of human thought, and linguistic metaphor is a natural part of human language« (Lakoff/Johnson 2003: 247). Eben weil wir primär metaphorisch denken und wahrnehmen und dies handlungspraktische Konsequenzen hat, sind Metaphern Teil des alltäglichen, ,normalen‹ Existierens und (Inter-)Agierens. Sie sind konventionelle, ubiquitäre Denk- und Redeweisen. Aus dieser Perspektive erscheinen die sprachlichen Bilder in Phantasie, Poesie oder Rhetorik nicht mehr als der Regelfall der Metapher, sondern vielmehr nur als ihre ›Sonderformen‹. Das Entscheidende für unsere Fragestellung ist nun die Tatsache, dass diese Metaphern, ›in denen wir leben‹, in denen wir wahrnehmen und denken, verkörpert sind.

22 Vgl. zur Integration von Lakoff/Johnson in die Soziologie ausführlicher Stadelbacher 2009. 23 Beispiele für solche ›abstrakten‹ Bereiche sind komplexe Emotionen wie Liebe oder Wut (›nicht klar umrissen‹), Verhalten in sozialen Situationen (Argumentieren, Kommunikation), Zeit, Moral oder Geist/Seele. 311

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Die kognitive Linguistik von Lakoff/Johnson ist in den großen Rahmen des sog. embodied-mind-Ansatzes eingebettet, der die bisherige Perspektive auf den handelnden, wahrnehmenden und fühlenden Leibkörper um die kognitive Dimension erweitert. Ihr erfahrungsbasierter Ansatz (sie selbst nennen ihn auch ›Experientialismus‹) ist ein Beitrag zu dieser Debatte, die den Menschen als Einheit aus Subjektivität, (körperbasierter) Interaktion und Kognition konzipiert.24 Das embodied-mind-Paradigma kommt zu wesentlichen Teilen aus der Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys und knüpft an dessen empirische Phänomenologie an. Im Zentrum steht also – wie bei Schütz, Berger und Luckmann – auch hier der wahrnehmende und wirkende Leibkörper. Der Zugang zur Welt erfolgt auch hier nicht als mentale Repräsentation des objektiv Gegebenen, sondern als ein sehendes und tastendes ›In-der-Welt-Sein‹ (Lakoff/Johnson 2004: 263). Die wichtigsten metaphorischen Quellbereiche, nämlich räumliche Orientierung, Sinneswahrnehmungen und die Erfahrung mit Substanzen/Objekten/Personen, verbinden das Erleben mit und mittels unseres Leibkörpers mit dem kognitiven Erfassen abstrakter Phänomene. Die zweite Säule des embodied-mind-Ansatzes sind die Kognitionswissenschaften, allen voran die Neurologie. Lakoff/Johnson plädieren, durchaus in Weiterführung der Gedanken Merleau-Pontys, für die Integration kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse der ›zweiten Generation‹ in philosophische Grundfragen und verleihen vor allem in ihrem zweiten gemeinsamen Hauptwerk Philosophy in the Flesh ihrem Verständnis des embodiment eine neurowissenschaftliche ›Fundierung‹.25 Demnach strukturiert unser sensomotorisches und zerebrales (körperliches) System unseren leiblichen Zugang zur Welt und unser Verständnis von Wirklichkeit.26 Gleichzeitig objektiviert sich 24 Der embodied-mind-Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel in den Kognitionswissenschaften dar, der sich in Reaktion auf die Schwierigkeiten der KünstlicheIntelligenz-Forschung etablierte (vgl. hierzu u.a. Varela et al. 1991; Lakoff/ Johnson 1999: 74ff.). Ziel des embodied-mind-Ansatzes ist die Überwindung des cartesianischen Dualismus aus res cogitans und res extensa. Der Körper wird in seiner erkenntnisleitenden Funktion nicht in ein dualistisches, sondern in ein duales Verhältnis zum Geist gestellt. Wahrnehmen und Denken sind immer auch körperlich. »The proper subject of perception is not the brain, but rather the whole embodied animal interacting with its environment« (Pessoa et al., zit. nach Gärtner 2007: 217). Zu den Hauptvertretern gehören u.a. Francisco Varela, Alva Noe und Evan Thompson. 25 Lakoff/Johnson ordnen dieser ›zweiten Generation‹ in erster Linie den angesprochenen embodied-mind-Ansatz zu: »[...] second-generation cognitive science is in every respect a cognitive science of the embodied mind« (1999: 78, vgl. auch 16ff., 74ff., 569ff.). Zur Forderung einer ›empirischen‹ Phänomenologie bei Merleau-Ponty vgl. dessen Analysen zum Fall Schneider in Merleau-Ponty 1966: 128ff. Zur Verbindung von Phänomenologie und Kognitionswissenschaft im embodied-mind-Ansatz vgl. auch Varela et al. 1991. 26 »Our sense of what is real begins with and depends crucially upon our bodies, especially our sensorimotor apparatus, which enables us to perceive, move, and 312

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dieses Wirklichkeitsverständnis in Form neuronaler Netze und wird dadurch selbst körperlich, genauer: anatomisch wirklich. Die Doppelaspektivität des körperlichen Weltzugangs (d.h. leiblich und anatomisch) zeigt sich auch bei der Definition des Begriffs embodied: »A concept is embodied when its content or other properties are motivated by bodily [d.h. leibkörperliche; Anmerkung S.S.] or social experience« (Lakoff 1987: 154). Und gleichzeitig ist »an embodied concept [...] a neural structure that is actually part of, or makes use of, the sensorimotor system of our brains« (Lakoff/Johnson 1999: 20). Embodied concepts sind zum einen leibund körpervermittelte, zum anderen verkörperte/inkorporierte Konzepte. Aus unserem biologisch bedingten und leiblich wahrnehmenden und wirkenden In-der-Welt-Sein ergeben sich nun basale Erfahrungen, die den universellen Status der Schütz/Luckmann’schen Grundelemente haben.27 Zum einen sind hier die sog. image schemas zu nennen. Diese sind »relatively simple structures that constantly recur in our everyday bodily experience: CONTAINERS, PATHS, LINKS, FORCES, BALANCE, and in various orientations and relations: UP-DOWN, FRONT-BACK, PART-WHOLE, CENTER-PERIPHERY, etc.« (Lakoff 1987: 267). Als zweite Form der Grunderfahrung gelten Kategorien der basalen Ebene (basic-level categories). Diese sind Prototypen von Objekten, Handlungen, Emotionen oder sozialen Situationen, die auf Gestaltwahrnehmung, motorischen Programmen und mentalen Bildern basieren.28 Kinästhetimanipulate, and the detailed structures of our brains, which have been shaped by both evolution and experience« (Lakoff/Johnson 1999: 17; Hervorhebung S.S.). 27 Hier eine Anmerkung zum Erfahrungsbegriff bei Lakoff/Johnson: Wenn sie von erfahrungsbasierten Metaphern sprechen, legen sie damit immer einen subjektrelativen, erlebnisbasierten Erfahrungsbegriff zugrunde. Im Unterschied zu Schütz/ Luckmann wird dem Erlebten aber nicht erst im Nachhinein Sinn zugeschrieben, sondern unmittelbar im Erleben selbst, das dann zur ›sinnvollen‹ Erfahrung und der präreflexiven Basis abstrakten Wissens wird: »Since we are neural beings, our categories are formed through our embodiment. What that means is that the categories we form are part of our experience! They are the structures that differentiate aspects of our experience into discernible kinds. Categorization is thus not a purely intellectual matter, occuring after the fact of experience« (Lakoff/Johnson 1999: 19; Hervorhebung im Original). Deshalb differenzieren Lakoff/Johnson auch nicht zwischen präreflexivem Erleben (Grundelemente) und leibkörperlicher Erfahrung (als reflexive Zuwendung zum Erlebten). Die universellen und präreflexiven Grundelemente sind demnach kein dem gesellschaftlichen Wissen vorgängiges ›Quasi-Wissen‹, sondern in Form konzeptueller und sprachlicher Metaphern selbst Teil des gesellschaftlichen Wissens. 28 Hier beziehen sich Lakoff/Johnson auf die Studien von Eleanor Rosch. Anzumerken ist, dass die spezifische Ausbildung von ›basic-level-categories‹ (und beispielsweise aus poststrukturalistischer Sicht auch die ›image schemas‹) natürlich nicht im vorsozialen Raum stattfindet. Aber Lakoff/Johnson geht es vor allem um die anthropologische Dimension des embodiment. Sie zeigen an empirischen (Sprach-)Beispielen, dass nicht nur die Tatsache, dass wir in Metaphern denken und wahrnehmen, universell ist, sondern großenteils auch, wie wir dies 313

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sche image schemas und körperbasierte Prototypen von Erfahrungen und Situationen (bzw. deren neuronale Repräsentationen) sind die für Metaphorisierungen wichtigsten primären, zunächst noch präkonzeptuellen Erfahrungen, die im alltäglichen In-der-Welt-Sein gemacht werden und auf unserer sensomotorischen und neuronalen Verfasstheit gründen. Diese präkonzeptuellen Erfahrungen korrelieren nun typischerweise mit bestimmten anderen (Ziel-)Erfahrungen. So kommt es in alltäglichen Interaktionen mit der physikalischen und sozialen Welt zu einer Verschmelzung (›conflation‹) von konkreten sensomotorischen Erfahrungen einerseits (image schemas und basic-level categories) und ›subjektiven‹ Erfahrungen andererseits.29 Diese konvergierenden Erfahrungen werden dann als neuronale Verknüpfungen im Gehirn verfestigt und dienen fortan als kognitive Primärmetaphern.30 Beispiele hierfür sind Metaphern wie VERSTEHEN IST BEGREIFEN, eine Metapher, die in der frühkindlichen Erkundungsphase entsteht, in der Kinder alles anfassen, begreifen, was sie sehen, und so ein erstes Verständnis der Dinge entwickeln (»ich habe es erfasst«, »er hat es nicht begriffen«), oder INTIMITÄT IST NÄHE, eine Metapher, die sich aus der Korrelation der subjektiven Erfahrung ›Zuneigung‹ mit der sensomotorischen Erfahrung ›Wärme‹ bei der intensiv-körperlichen Mutter-/Vater-Kind-Interaktion ergibt (»ein enger Freund«, »jemandem zu nahe treten«).31 Aus unserem alltäglichen leiblichen Wahrnehmen und Wirken, unserem selbstverständlichen In-der-Welt-Sein ergeben sich so präreflexiv unzählige neuronal verankerte metaphorische Konzepte.32 Das Entscheidende für die

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tun; und zwar indem die Basis von Metaphern basale Grunderfahrungen sind, die, bedingt durch die anatomische Ausstattung und das leibliche In-der-WeltSein, (zumindest im Kern) universellen Charakter haben. Als ›subjektiv‹ bezeichnen Lakoff/Johnson nicht klar umrissene Erfahrungen wie Emotionen und Bewertungen (Wichtigkeit, Schwierigkeit), also den jeweiligen Zielbereich der Metapher (vgl. Lakoff/Johnson 1999: 45). Diese Metaphern sind primär, weil sie zum einen aus dem alltäglichen Wahrnehmen und Wirken entstehen und zum anderen wichtige ›Bausteine‹ Komplexer Metaphern darstellen (s.u.). Andere Beispiele sind einfache Orientierungsmetaphern wie GLÜCKLICH SEIN IST OBEN – TRAURIG SEIN IST UNTEN (»obenauf/niedergeschlagen sein«), KONTROLLE/ MACHT AUSÜBEN IST OBEN – KONTROLLE/MACHT AUSGESETZT SEIN IST UNTEN (ergibt sich aus der Kampferfahrung; »Kontrolle/Macht über jemanden haben«, »Überlegenheit«) (vgl. Lakoff/Johnson 2004: 24f.). Ein weiteres Konzept auf der Grundlage von ›basic-level categories‹ ist z.B. ARGUMENTIEREN IST KAMPF (ergibt sich aus der Korrelation von zunächst vor allem körperlicher Behauptung gegenüber anderen und sprachlicher Auseinandersetzung; »unterlegen sein«, »an diesem Punkt hat er mich gepackt«). Für zahlreiche weitere Beispiele vgl. Lakoff/Johnson 2004, 1999; Johnson 1987; Lakoff 1987. »We do not have a choice as to whether to acquire and use primary metaphor. Just by functioning normally in the world, we automatically and unconsciously acquire and use a vast number of such metaphors. Those metaphors are realized

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Frage nach wissensbasierter Verständigung ist nun, dass »the cross-domain associations persist. These persisting associations are the mappings of conceptual metaphor that will lead the same infant, later in life, to speak of ›a warm smile‹, ›a big problem‹, and ›a close friend‹« (Lakoff/Johnson 1999: 46). Es findet also keine Abstraktion auf der Konzeptebene statt. Neben den eben beschriebenen emergenten, also erfahrungsvermittelten ›einfachen‹ Metaphern strukturieren Komplexe Metaphern unseren Erfahrungsund Wissensraum weiter. Diese basieren auf Primärmetaphern, setzen sich aber zusätzlich aus kollektiv geteiltem Deutungswissen zusammen: »[...] complex, everyday metaphors are built out of primary metaphors plus forms of commonplace knowledge: cultural models, folk theories, or simply knowledge or beliefs that are widely accepted in a culture« (ebd.: 60).33 Ein Beispiel ist die konzeptuelle Metapher LIEBE IST EINE REISE, bei der wir auf das ›nicht klar umrissene‹ und aus sich selbst heraus nur begrenzt fassbare Konzept LIEBE eine komplexe Entitätsstruktur projizieren, die »einen Beginn, ein Ziel, eine Route, eine Entfernung usw. in sich schließt« (Lakoff/Johnson 2004: 251) – und so denken wir, weil eine Beziehung nirgendwo mehr hinführt, müssen die Partner getrennte Wege gehen. Auch ARBEIT IST EINE RESSOURCE (Arbeit soll sinnvoll eingesetzt werden) bzw. ZEIT IST EINE RESSOURCE (Zeit kann verschwendet werden oder verloren gehen) sind Beispiele für Komplexe Metaphern. Hier werden die kulturelle Erfahrung und Vorstellung von Arbeit und – damit empirisch verbunden – Zeit als wertvolle Güter mit der Primärmetapher ARBEIT IST EINE SUBSTANZ bzw. ZEIT IST EINE SUBSTANZ verbunden.34 Aufgrund ihrer Kompositionalität sind auch die Komplexen Metaphern ›verkörpert‹: »The grounding of the whole is the grounding of its parts.« Sie selbst haben zwar keine direkte experimentell-leibliche Entsprechung, aber »that grounding is preserved when the primary metaphors are combined into the larger complex metaphor« (Lakoff/Johnson 1999: 63).

in our brains physically and are mostly beyond our control. They are a consequence of the nature of our brains, our bodies, and the world we inhabit« (Lakoff/Johnson 1999: 59; Hervorhebung S.S.). 33 Jäkel schlägt für folk theories die Übersetzung »Alltagstheorie« vor und verdeutlicht damit die Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit solchen – mit Schütz und Berger/Luckmann zu sprechen – ›Allgemeinwissens‹ einer Gesellschaft (vgl. Jäkel 1997: 25). 34 Beide Metaphern gründen zum einen in der leiblichen Erfahrung mit Substanzen, die zur prinzipiellen Konzeptualisierung von Arbeit und Zeit herangezogen werden (»primary metaphors«), zum anderen werden diese differenziert durch die kulturellen Deutungen von (meint: Erfahrungen mit) Arbeit und Zeit, die in den westlichen Industriegesellschaften hegemonial sind (»commonplace knowledge«): So »sind beide Metaphern in unserer Erfahrung verankert und dadurch Strukturmetaphern, die in den westlichen Industriegesellschaften grundlegend sind« (Lakoff/Johnson 2004: 81). 315

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Prinzipiell gibt es unendlich viele Möglichkeiten der Metaphorisierung. Das spezifische Metaphernsystem einer Gesellschaft ist letztendlich das Ergebnis kultureller Aushandlungsprozesse, die bestimmte korrelative Grunderfahrungen in typisierter Form als konventionalisierte Metaphern etablieren und andere bloße Erfahrung bleiben lassen (Phylogenese). Das heißt, der Einzelne wird immer schon in eine Welt aus Metaphern hineingeboren, die ihm dann als objektive Gegebenheit entgegentreten und die gleichzeitig seinen primären Erfahrungen entsprechen (Ontogenese). Das Kind versteht und erwirbt Metaphern im Lauf des Sozialisationsprozesses also im beständigen Austausch mit seiner sozialen Umwelt und unter Rekurs auf eigenleibliche Erfahrungen (Primärerfahrungen). Konzeptuelle Metaphern als körperliche Realisation in Form neuronaler Verknüpfungen wirken fortan auf präreflexiver Ebene als systematische Vernetzung von leiblichem Erleben und abstraktem Denken. Die kognitiven Topologien des Quellbereichs werden via Schlussfolgerungen auf den Zielbereich projiziert. Lakoff spricht hier vom sog. Invarianzprinzip (vgl. Lakoff 1993: 215f.).35 Das bedeutet, metaphorisches Denken funktioniert mittels invarianter Übertragung der Gesamtstruktur des nichtmetaphorischen Konzepts, das als aus leiblich-körperlicher Erfahrung entspringende Quelle für Metaphern fungiert, auf das Abstraktum, das durch solche Metaphern erst sinnhaft wird und damit immer schon metaphorisches Konzept ist. Das leiblich-körperliche Erleben und das darin enthaltene Wissen, also sowohl ontologische als auch epistemische Elemente, werden unverändert auf den Zielbereich projiziert: »The heart of metaphor is inference« (Lakoff/Johnson 2003: 244). Dadurch entsteht eine innere Kohärenz zwischen Quell- und Zielbereich. Und auch wenn nur bestimmte Elemente des Quellbereichs in konventionalisierten Metaphern verwendet werden (Lakoff/Johnson 2004: 66f.), erhalten sie als kognitive Modelle aufgrund der appräsentativen Beziehung zwischen Quellund Zielbereich Systemcharakter. Genau das macht ihre ›Lebendigkeit‹ aus.36

35 Ein Beispiel einer solchen Topologie ist für die Metapher VERSTEHEN IST BEGREIFEN die aktive und intentionale Aneignung einer Sache/eines Phänomens. Hingegen legt beispielsweise die Metapher KNOWING IS SEEING einen eher passiven Rezeptionsprozess nahe. Für weitere Beispiele solcher »Inventarisierungen« der Quellschemata vgl. Jäkel 1997: 288f. Zur Vagheit des Übertragungsprozesses (vor allem bezüglich des Umfangs) vgl. Lakoff/Johnson 1999: 289; Jäkel 1997: 286ff. 36 Metaphern sind nicht ›tot‹, d.h. sie sind nicht nur Ausdruck des Gedachten, sondern das Denken selbst. Sie wirken durch systematische Vernetzungen und Aktivierungen, die ein Verstehen und Verwenden komplett neuer Ausdrücke aus dem Bedeutungsfeld des Quellbereichs ermöglichen: »One type of evidence that conceptualized everyday conceptual metaphors are alive is that we can use them in a systematic way to understand new extended metaphors automatically and without conscious reflection« (Lakoff/Johnson 1999: 66). 316

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Als erstes Fazit bleibt festzuhalten: Nicht nur in der Entstehung, auch in ihrer Wirkung bleiben Metaphern körperverbunden. Der leiblich vermittelte Erfahrungszusammenhang bleibt bestehen, Konzepte werden keine abstrakten Modelle des Denkens und Wahrnehmens, sondern sind embodied – in allen damit verbundenen Dimensionen. »Konzeptuelle Metaphern sorgen durch die Rückbindung des abstrakt-begrifflichen Denkens an die sinnliche Anschauung für die körperlich-biophysische [bzw. leibliche; Anmerkung S. S.] Fundierung der Kognition [...]« (Jäkel 1997: 42). Durch ihre Verankerung im eigenleiblichen, subjektiven Erfahrungsraum und die damit gegebene Nachvollziehbarkeit und Direktheit fungieren Metaphern als Deutungswissen auf vorbewusster Ebene, als Wahrheit, die in der Regel nicht hinterfragt, sondern einfach als wirklich hingenommen wird. Metaphern zeichnen sich durch eine hohe ›Vertrautheitsstufe‹ aus und ermöglichen ein Verstehen von und Leben in Metaphern ohne kognitiven Aufwand, meint: ohne reflexive Zuwendung. Aus wissenssoziologischer Perspektive können Metaphern deshalb als wesentliches Element der natürlichen Einstellung des Einzelnen gesehen werden.

3.2 Imagination und Projektion als Modus des Verstehens Das zentrale Thema des vorliegenden Sammelbandes ist die Rolle des Körpers in Prozessen sozialer Abstimmung. Nun zählt, wie eingangs angemerkt, wechselseitige Verständigung nicht zu den primären Fragen Lakoffs und Johnsons. Dennoch soll in den folgenden Abschnitten der fruchtbare Beitrag der kognitiven Metapherntheorie zu bisherigen (körperbasierten) Handlungstheorien – exemplarisch als Erweiterung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie – gerade bezüglich des zugrunde liegenden Anliegens einer ›Mikrofundierung des Sozialen‹ aufgezeigt werden. Um sich der Frage nach Verständigung auf der Basis von Metaphern und damit der Bedeutung des Körpers im Einzelnen zu nähern, lohnt es, sich die verschiedenen Interaktionsebenen zu vergegenwärtigen, auf denen Metaphern wirken (vgl. Lakoff/Johnson 2004: 147ff.). Zunächst ist hier natürlich die Sprache zu nennen. Die bisher im Vordergrund stehenden sprachlichen Metaphern (sog. Wortmetaphern oder Lexeme) sind dabei jedoch nur ein Aspekt. Auch syntaktische und phonetische Elemente der Kommunikation gründen auf Metaphern und damit indirekt auf leiblich-körperlicher Erfahrung. So verstehen wir beispielsweise die unterschiedliche Bedeutung von Sätzen wie »Er ist nicht glücklich« im Gegensatz zu »Er ist unglücklich« aufgrund der Metapher NÄHE IST EINFLUSS. Die gegenüber dem Negationsaffix schwächere Bedeutung des Negationsworts ergibt sich aus der auf dieser RAUM-Metapher beruhenden Satzstellung: Je näher zwei Worte/Wortteile zusammenstehen, desto stärker ist ihr

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Bezug zueinander.37 Auch die Phonetik von Frage- oder Aussagesätzen ist überzufällig. Die steigende bzw. fallende Intonation ist kohärent mit der Metapher UNBEKANNT IST OBEN/BEKANNT IST UNTEN, die sich aus der Erfahrung der Erreichbarkeit und damit zusammenhängender ›Erkenntnis‹ ergibt: Nur Dinge in unserer Reichweite (›unten‹) können wir im wahrsten Sinne des Wortes begreifen und damit verstehen, wir ›wissen‹ diese Dinge dann (vgl. VERSTEHEN IST BEGREIFEN). Auf dem Sprecher unbekannte Sachverhalte weist demzufolge seine steigende Intonation hin, die den gesprochenen Satz als Frage ausweist. All diese (und weitere) Regelmäßigkeiten der Sprache sind nicht ausschließlich formal zu erklären oder auf beliebige Konventionen zurückzuführen. Ihre Bedeutung erschließt sich erst vor dem Hintergrund der entsprechenden Metaphern. Form (NÄHE, RAUM, OBEN) und Bedeutung (EINFLUSS, INHALT, UNBEKANNT) werden also nicht nur auf semantischer, sondern auch auf syntaktischer und phonetischer Ebene verbunden. Und Metaphern wirken noch auf einer weiteren interaktionsrelevanten Ebene: der nonverbalen Kommunikation, genauer der Gestik.38 Sprachbegleitend dient diese auf eigener Ebene der Verständigung, indem sie zusätzlich auf die Konzeptualisierungen des abstrakten Bedeutungsgehalts abstellt. So verweist die Wiegebewegung der Hände, wenn es um Entscheidungen geht, auf die Metapher AUSWÄHLEN/ENTSCHEIDEN IST WIEGEN (vgl. auch »abwägen«, »ein [ge-]wichtiger Entschluss«), wobei die Hände die ›Waage‹ und die Optionen die jeweiligen ›Gewichte‹ sind.39 Gesten sind demnach gleich auf zwei Arten verkörpert: formal als körperliches Protozeichen und inhaltlich als Materialisierung erfahrungsbasierter Metaphorik.40 37 Warum wir Sprache überhaupt als Raum konzeptualisieren, liegt in der Korrelationserfahrung von Sprechen und Zeit begründet (im Sprechen vergeht die Zeit) – und da wir Zeit wiederum als Raum verstehen (»innerhalb einer Stunde«), konzeptualisieren wir analog dazu auch Sprache als Raum. Weitere Beispiele für syntaktische Metaphern: Aus der GEFÄSS-Metapher stammt beispielsweise MEHR FORM IST MEHR INHALT, wobei mit Form der ›Raum‹ gemeint ist. Diese spiegelt sich in Reduplikationen wider (»Er rannte und rannte und rannte«, »er ist sehr, sehr groß«). Basierend auf der Erfahrung mit (Inhalte fassenden) Gefäßen wird hier Bedeutung auf der formalen Ebene der Sprache transportiert. Den gleichen Effekt hat diese Metapher auf phonetischer Ebene durch die Dehnung eines Vokals (»Er ist sooo groß«) oder die Variation der Lautstärke einzelner Worte (»Ich habe schon IMMER gesagt«). Je mehr ›Raum‹ ein Wort, Satz oder Satzteil einnimmt, desto stärker wird dessen inhaltliche Bedeutung hervorgehoben. 38 Vgl. hierzu vor allem McNeill 1992. Mit empirischen Analysen verschiedener Gesten zeigt er anschaulich die Bedeutung dieser Form der kommunikativen Manifestation metaphorischen Denkens für soziale Verständigung. 39 Ein anderes Beispiel ist die Handbewegung nach hinten, wenn über die Vergangenheit gesprochen wird (ZEIT IST EIN BEWEGLICHES OBJEKT). 40 Die Regelmäßigkeiten der Sprache sowie die Gestik können kulturell variieren, das sagt jedoch nichts über deren metaphorischen Charakter aus. Genau wie sprachliche Metaphern können freilich auch phonetische, syntaktische oder ges318

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Metaphern kommen so in vielerlei Form in unserem (sozialen) Alltag vor. Wie ist mit Lakoff/Johnson gegenseitiges Verstehen als Basis von Verständigung nun grundsätzlich zu erklären? Zunächst bedarf die handlungstheoretische Interpretation dieser Theorie einer phänomenologisch-anthropologischen Erweiterung. Denn die Positionalität des Menschen (Plessner) ist nicht nur eine wesentliche Voraussetzung metaphorischen Denkens,41 sondern auch metaphernbasierten Kommunizierens. Erst die exzentrische Position befähigt uns, von der metaphorischen Verwendung eigenleiblicher Erfahrungen (wenn also die von unserem Gegenüber verwendete Metapher eine von uns subjektiv erlebte, eigenleibliche Erfahrung adressiert) auf diese selbst zurückzuschließen – so können wir sprachliche und anders objektivierte Metaphern bzw. das damit erfasste Zielphänomen verstehen. Interaktionsrelevant ist weiterhin die notwendige Konzeption des Anderen als Leibkörper ›gleich mir‹.42 Leibliche Erfahrungen und deren Deutung (Quellbereich) werden als typischerweise gleich idealisiert: Ego antizipiert bei alter ego (implizit) die gleiche Obenunten-Orientierung, Gestaltwahrnehmung und Erfahrung mit Objekten sowie prinzipiell ähnliche Korrelationserfahrungen (d.h. Primärerfahrungen). Immer wenn Metaphern (bewusst oder vorbewusst) verwendet und verstanden werden, basiert dies auf der leiblichen Verfasstheit, dem exzentrischen Leibkörper. Stellen wir uns im Folgenden nun vor, ego und alter ego wollen sich verständigen. Allgemein gilt vor dem Hintergrund des Gesagten: Gemäß dem Verständnis kognitiver Metaphern sind deren Manifestationen unmittelbar auf die zugrunde liegenden kognitiven Konzepte rückbeziehbar. Mit anderen Worten: Der Rezipient (ego) kann von gestischen und semantischen, aber auch phonetischen und syntaktischen Äußerungen seines Gegenübers (alter ego) auf dessen Denken schließen. Denn indem die Äußerungen von alter ego die für ihn gültige konzeptuelle Metapher indizieren, versteht ego auf der Grundlage dieser Äußerungen, die ja dem Quellbereich der Metapher entspringen, mittels (präreflexiver) Projektion und Imagination die zugehörige Zielkonzeptualisierung. Kurz: Die Form (Quelle) appräsentiert den Inhalt (Ziel). Gleichzeitig werden entsprechend dem Invarianzprinzip (nimmt man es als gültigen Modus metaphorischen Denkens an) alle mit dem Quellbereich verbundenen Erfahrungen imaginiert. Das heißt, auch andere (in der Äußetische Metaphern von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein, verstanden werden sie aber – nach Lakoff/Johnson – immer auf der Grundlage unserer leibkörperlichen Erfahrung. Vgl. zur Kulturalität von Metaphern Stadelbacher 2009. 41 Die Eigenwahrnehmung als gegenständlicher Körper in der Welt und die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion und Projektion machen bildhafte Übertragung von eigenleiblichem Erleben auf Abstrakta überhaupt erst möglich. 42 Vgl. die soziale Bedeutung der Exzentrizität nach Plessner: Mit dem Aus-sichheraus-Setzen ist gleichzeitig die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, gegeben. Diese kreiert die quasi-natürliche Annahme der bei gleicher leiblicher Verfasstheit gemeinsamen Erlebnis- und Erfahrungsstruktur. 319

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rung nicht direkt angesprochene) kognitive und wahrnehmungsbezogene Komponenten des bildgebenden Erfahrungskonzepts werden automatisch mit appräsentiert. Kognitionswissenschaftlich ausgedrückt: Durch die bildhaften Äußerungen (welcher Art auch immer) von alter ego werden bei ego die neuronalen Verknüpfungen aktiviert, die sich im Zuge von Primärerfahrungen gebildet haben. Die Systemhaftigkeit von konzeptuellen Metaphern ermöglicht es ego, alter egos Verständnis des abstrakten Zielbereichs auf einer komplexeren Ebene nachzuvollziehen. Ego versteht dann z.B. nicht nur die aktuelle Aussage von alter ego, sondern die ganze dahinter stehende Denk- und Wahrnehmungsweise. Angenommen, ego und alter ego leben in der Metapher LEBEN IST EINE REISE. Wenn alter ego beispielsweise von einem »steinigen Weg« spricht, appräsentiert ego automatisch damit verbundene Hindernisse, Unwägbarkeiten und Mühsal, vielleicht auch Frustration o.ä. Dieses konzeptuelle Erfassen des Anderen ermöglicht es ego schließlich auch, für ihn neue bzw. unbekannte Ausdrücke/Gesten einer konzeptuellen Metapher ohne kognitive Anstrengung zu verstehen. Analog zum obigen Metaphernbeispiel verstünde ego die Aussage »Ich habe mir durch diesen Weg zwar aufgeschürfte Knie geholt, aber ich bin trotzdem weitergegangen« als Beschreibung für eine Haltung zum Leben, die sich durch ›Standhaftigkeit‹ auszeichnet und illustriert, dass auch ›Rückschläge‹ alter ego nicht ›aus der Bahn werfen‹ können. Entscheidend ist, dass ego diese und andere Äußerungen wie »Die Preise steigen« (MEHR IST OBEN), »Wir haben eine enge Beziehung« und »Bin ich dir gerade zu nahe getreten?« (jeweils INTIMITÄT IST NÄHE) sowie bestimmte Gesten nicht deshalb versteht, weil er diese im Zuge seiner Sprachsozialisation erlernt hat, sondern weil sie auf einer präreflexiven Metaebene die eigenen leibkörperlichen Erfahrungen ansprechen. Und nimmt man Lakoff/Johnson ernst, so verstehen wir auch die Frageintonation, Betonungen oder Reduplikationen intuitiv auf der Basis eigener Erfahrungen und übernehmen diese Regeln nicht einfach mit dem mimetischen Spracherwerb. Gerade weil also weder metaphorische Protozeichen noch metaphorische Zeichen vom leiblichen Erfahrungszusammenhang abstrahiert werden, sondern in ihrer Bedeutung an das subjektrelative Erleben des Einzelnen gebunden bleiben, sind sie intuitiv verstehbar und Basis präreflexiver, leiblich vermittelter sozialer Verständigung. Denn in der Folge bauen auch die konkreten Handlungen von ego und die Reaktionen von alter ego etc. – kurz: das Verständigungshandeln – auf diesen kognitiven Mustern auf, die den Rahmen der Situation bilden.

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3.3 Verständigung jenseits gemeinsamen Deutungswissens? Nun gilt es die Frage zu klären, ob die Theorie kognitiver Metaphorik einen Weg aufzeigt, Verstehen und Verständigung auch jenseits einer gemeinsamen Wissensbasis zu ermöglichen. Denn wie bereits angedeutet, ist das spezifische Metaphernsystem einer Gesellschaft (auch) Effekt sozialer Konvention, d.h. die metaphorischen Konzeptualisierungen können sowohl inter- als auch intrakulturell variieren. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist Verstehen auch trotz differenter subjektiver (Deutungs-)Wissensvorräte möglich, denn wie oben erläutert, versteht ego die Metaphern und damit die kognitiven Muster von alter ego auf der Grundlage gemeinsamer Primärerfahrungen. Dabei ist es prinzipiell irrelevant, ob ego nach den gleichen Primär- oder gar Komplexen Metaphern lebt, entscheidend ist die gemeinsame Erfahrungsstruktur (also die Primärerfahrungen, unabhängig davon, ob diese als Metapher konventionalisiert wurden oder nicht). Neben Primärmetaphern und deren inhaltlicher Auffüllung können vor allem Komplexe Metaphern variieren. Ego und alter ego kompensieren eventuell fehlendes Wissen über die ›Alltagstheorie‹ des Anderen (als wichtiges Element der Komplexen Metapher), indem sie von den gemeinsamen Grund-/Korrelationserfahrungen auf das der Komplexen Metapher zugrunde liegende Deutungswissen schließen. Angenommen, für alter ego hat die Metapher DAS LEBEN IST EIN FLUSS kognitiven Wert, um das Prozesshafte des Lebens zu denken.43 Ego teilt diese Metapher aber nicht, d.h. für ego ist diese Konzeptualisierung kein ›gültiges Wissen‹. Trotzdem versteht er aufgrund der eigenen Erfahrung mit Wasser/Flüssen/Wellen Texte wie: »Mein Leben hat die eine oder andere Biegung gemacht und Veränderungen kamen in Wellen auf mich zu. Am Ende mündete alles in einem großen Strudel von Unwägbarkeiten, weil ich mich einfach habe treiben lassen.« Die darin implizierte passive Grundhaltung und ›Ohnmächtigkeit‹ gegenüber dem Leben appräsentiert ego auf präreflexiver Ebene und kann so das Denken und Wahrnehmen von alter ego nachvollziehen. Ähnlich muss man sich die Ver-

43 An dieser Stelle ein Hinweis auf die Komplexität der metaphorischen Erschließung eines Phänomens: In der Regel gibt es für komplexe Phänomene mehrere Metaphern, die je einen bestimmten Aspekt erschließen, da eine Metapher allein unterkomplex ist und daher – im Sinne des Prinzips der Bildübertragung – mit dem Zielbereich nicht konsistent sein kann. Ein Beispiel für eine multiple Metaphorisierung eines Phänomens ist eben das Konzept LEBEN: So beschreibt das Bild des FLUSSES oder der REISE das Prozesshafte des Lebens, das GEFÄß-Schema dagegen die Begrenztheit. Um diese zu denken bzw. zu kommunizieren, sprechen wir beispielsweise von einem erfüllten Leben. Ähnlich bei ZEIT: Zeit als RESSOURCE beschreibt den Wert, der Zeit zugeschrieben wird; Zeit als BEWEGLICHES OBJEKT bezieht sich auf den Verlauf von Zeit. 321

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ständigung mittels Konzepten wie ARBEIT IST EINE RESSOURCE, LEBEN IST KAMPF oder ARGUMENTIEREN IST KAMPF/KRIEG vorstellen.44 So können sich ego und alter ego trotz fehlender gemeinsamer Deutungsbasis verstehen und verständigen, indem sie auf den gemeinsamen Erfahrungsvorrat zurückgreifen. Soziale Grenzen (wie Geschlecht, Milieu oder Alter) sind mittels metaphorischer Kommunikation (zumindest bis zu einem gewissen Grad) überwindbar: »Such cross-linguistic and cross-cultural variation [also Variationen des Deutungswissens; Anmerkung S.S.] doesn’t make primitive image schemas [und Grundkategorien, basic-level categories; Anmerkung S.S.] any less universal, or any less body-based. Indeed, it is the fact of shared bodily structures that even makes it possible for us to understand different cultures, their conceptual systems, and their symbolic expressions« (Johnson/Lakoff 2002: 252).

Lakoff/Johnson selbst legen diesbezüglich den Fokus auf die Möglichkeit interkultureller Kommunikation. Gerade diese Möglichkeit, die in der erfahrungsbasierten Theorie kognitiver Metaphern liegt, scheint in reflexiv modernen, globalisierten Gesellschaften wichtiger denn je. Denn statt nur auf »different cultures« im uns geläufigen interkulturellen Sinn kann dieses Zitat auch auf das innerhalb einer Kultur sozial verteilte Deutungswissen angewandt werden. In diesem Zusammenhang ist auf Knoblauchs Charakterisierung der (reflexiv-) modernen Gegenwartsgesellschaften als »immanent ›multikulturell‹« hinzuweisen: Aufgrund der Differenzierung und Pluralisierung des Wissens und der (möglichen) Kontexte sowie der »dem kommunikativen Handeln immer innewohnenden Kontingenz subjektiver Handlungsmöglichkeiten« ist »interkulturelle Kommunikation [...] zu einem durchgängigen Merkmal der modernen [und noch mehr der reflexiv modernen; Anmerkung S.S.] Gesellschaft geworden.« Weiter stellt er fest: »Man könnte natürlich vermuten, dass sie [d.h. die Mitglieder einer Kultur; Anmerkung S.S.] dazu eine ›gemeinsame‹ Grundausstattung besitzen, wie etwa die der geteilten Sprache. Allerdings handelt es sich dabei auch um eine Romantisierung [...]« (Knoblauch 2005c: 192). Und genau hier könnten Metaphern ›helfen‹. Denn eben weil metaphorische Sprache nicht entsubjektiviert und abstrakt ist, sondern die subjektive (aber gerade nicht individuelle) leibliche Basis bei der Verwendung von Me44 Der RESSOURCEN-Metapher liegt beispielsweise die gemeinsame Erfahrung mit wertvollen, begrenzt verfügbaren Substanzen zugrunde. Die KAMPF-Metapher beinhaltet Ohnmachtserleben, stete Anstrengung, Sieg und Niederlage oder strategisches Handeln. Das KRIEGS-Konzept wiederum enthält stärker kulturelle Elemente und muss damit als Ausdifferenzierung des Kampf-Konzepts gelten. Die universelle Basis ist hier zwangsläufig eingeschränkt. Mögliche alternative Konzeptualisierungen wären ARBEIT IST EINE LAST, LEBEN IST EIN SPIEL oder ARGUMENTIEREN IST TANZ (vgl. zu Letzterem Lakoff/Johnson 2004: 13). 322

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taphern erhalten und appräsentiert wird – vom Sprecher und vom Rezipienten –, wirkt sie integrativ.45 Indem gerade der Rahmen biologischer Gemeinsamkeiten jenseits kultureller Prägung eine wesentliche Ebene der körperlichen Konstruktion des Sozialen bildet, wäre der Rekurs auf diese anthropologischuniversellen (weil biologischen) Grundgegebenheiten eine denkbare Basis der kreativen Koordination und Kooperation in Zeiten differenzierter und pluraler Wissensformen, in denen die Menschen sich die Grundlagen mikrosozialer Ordnung weitgehend selbst schaffen müssen. Unsicherheit könnte reduziert werden, da mit Metaphern ein ganzer Deutungshorizont eröffnet wird, der (scheinbar) keiner weiteren Erklärung bedarf, da er ja auf universellem Erfahrungswissen beruht. Damit soll nicht naiverweise unterstellt werden, dass Verständigung ausschließlich und immer auf der präreflexiven Basis gemeinsamer körperlicher Erfahrung erfolgreich funktionieren kann. Denn Verständigung mittels Imagination und Projektion durch Selbstauslegung bleibt zwangsläufig vage und fragil. Dennoch ist hier ein Ansatz aufgezeigt, wie bestimmte Grunderfahrungen in und mit der Umwelt eine mögliche Quelle von Verständigung auch jenseits gemeinsamen Deutungswissens sein können. Denn indem gemeinsame Metaphern ausgehandelt werden, können die Interaktanten eine gemeinsame Definition der Situation erarbeiten. Die Basis hierfür ist der ›gemeinsame‹ Leibkörper: Eben weil wir einen ,Körper bestimmter Bauart‹ (Lakoff/Johnson) haben und mit diesem bzw. mittels dessen universelle Erfahrungen machen, ermöglicht der Leibkörper Abstimmung über kulturelle und soziale Grenzen hinweg.46 Und zwar nicht nur auf der Basis von Primärmetaphern, sondern via Imagination, Projektion und Inferenz auch und gerade bezüglich komplex strukturierter Wissenselemente.47 45 Ich greife Sprache wegen ihrer generellen Bedeutung für soziale Abstimmung als Hauptmedium konzeptueller Metaphern heraus. Natürlich wären hier auch Gesten oder Intonation zu nennen. 46 »There are [...] many basic experiences that one can pretty reasonably take as being universal. Among them are the basic-level perception of physical objects and what we have called ›kinesthetic image schema‹: structured experiences of vertical and horizontal dimensions, balance, inside and outside, and many others« (Lakoff 1987: 312). Und als logische Schlussfolgerung: »When the embodied experiences in the world are universal, then the corresponding primary metaphors are universally acquired. This explains the widespread occurrence around the world of a great many primary metaphors« (Lakoff/Johnson 1999: 56). 47 An dieser Stelle zeigt sich aber auch das Konfliktpotenzial der Theorie im Rahmen der Naturalismus-Konstruktivismus-Debatte. Denn mit der Universalität bestimmter Erfahrungen steht und fällt ihr ›revolutionärer‹ Gehalt für die Frage nach sozialer Verständigung. Nur wenn man Primärerfahrungen einen gemeinsamen, intersubjektiven Kern zuschreibt (was inter-/intrakulturelle Prägung der Erfahrung ja nicht ausschließt) und diesen wiederum als Quelle für Metaphern ernst nimmt, kann von sozialer Abstimmung auf der Basis einer gemeinsamen Erlebnis- und Erfahrungsstruktur und damit von (mittelbarer und unmit323

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4 Fazit: Eine neue Dimension der körperlichen Konstruktion des Sozialen Das Ziel dieses kursorischen Abrisses war es zum einen, die Dimensionen der ›Körperlichkeit‹ in der interaktionistischen Wissenssoziologie zu erweitern. Zu zeigen war, dass die Theorie kognitiver Metaphorik bzw. metaphorischer Verständigung die bisherige Konzeption körperbasierter sozialer Abstimmung in entscheidendem Maße erweitert. Denn der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie (und der Soziologie überhaupt) ist es bisher nicht gelungen, die cartesianische Dichotomie zwischen Körper und Geist konsequent zu überwinden. Verstehen bleibt ihr letztendlich ein bewusster, kognitiver Vorgang. Des Weiteren ist in dieser wissenssoziologischen Perspektive das, was Verständigung und damit soziale Ordnung in letzter Konsequenz erzeugt, das gemeinsame Deutungswissen der Akteure, entkörpert. Denn teilt man die Prämisse, dass erst die reflexive Sinnsetzung jedes Erleben zur Erfahrung und damit zum Wissen macht, bedeutet das, dass die Erkenntnisfähigkeit des Leibkörpers kognitiv überlagert wird. Und auch auf der Bedeutungsebene jenes Wissens spielen Leib und Körper dann formal keine Rolle mehr. Sprache als das wichtigste Kommunikationsmedium ist demzufolge ein objektives, entsubjektiviertes (und entleiblichtes) Symbolsystem.48 Insofern ist Lindemann zuzustimmen, wenn sie hinsichtlich der »Vorliebe für Wissen, Sprache und Semantik« in der Soziologie von deren »quasimentalistische[r] Bornierung« (Lindemann 2005: 115) spricht. Genau hier liegt der Gewinn der Theorie kognitiver Metaphorik für eine epistemologische Erweiterung körperrelativer Handlungstheorien. Folgt man deren oben dargelegten Grundannahmen, ist eine Trennung zwischen leibkörtelbarer) intuitiver Verständigung über abstrakte Inhalte jenseits von Wissen im eigentlichen Sinn gesprochen werden. Freilich ist die Theorie von Lakoff/Johnson insofern ›soziologisierbar‹, als jede leibkörperliche Erfahrung immer schon sozial vermittelte Erfahrung ist und damit dem gemeinsamen Wissensvorrat angehört. Wenn es aber um die Verständigung jenseits eines gemeinsamen gesellschaftlichen Wissensvorrats geht, muss zwangsläufig auf die gemeinsame anthropologische Basis leibkörperlichen Erlebens zurückgegriffen werden. In beiden Fällen aber (ob man also von vornherein sozial vermitteltes oder basal-humanes Erleben annimmt) ist die gemeinsame Erfahrungsstruktur Bedingung und Möglichkeit wechselseitiger Verständigung zugleich, wird der Leibkörper als Quelle der sozialen Abstimmung auch jenseits ›sozial verteilten‹ Wissens in soziologische Handlungstheorien integrierbar. 48 Vgl. die Definition von Sprache bei Schütz/Luckmann, nämlich als »System typisierender Erfahrungsschemata, das auf Idealisierungen und Anonymisierungen der unmittelbaren subjektiven Erfahrung beruht. Diese von der Subjektivität abgelösten Erfahrungstypisierungen sind sozial objektiviert, wodurch sie zu einem Bestandteil des dem Subjekt vorgegebenen gesellschaftlichen Apriori werden« (Schütz/Luckmann 1979: 282; Hervorhebung S.S.). 324

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perlicher und ›geistiger‹ Interaktion nicht mehr sinnvoll: »Because concepts and reason, both derive from, and make use of, the sensorimotor system, the mind is not separate from or independent of the body« (Lakoff/Johnson 1999: 555).49 Demzufolge verstehen wir uns in der alltäglichen Interaktion auf der (inhaltlich abstrakten) Ebene gerade nicht deshalb, weil wir in der Sozialisation das Gleiche gelernt haben, also gemeinsames Deutungswissen besitzen, sondern weil wir die gleichen basalen leibkörperlichen Erfahrungen gemacht haben, also gemeinsames Erfahrungswissen haben. Verstehen und Verständigung sind in dieser Perspektive intuitive, präreflexive Prozesse ›unterhalb‹ der Kognition. Der Körper fungiert dabei als Ressource für Verstehen und Verständigung – sowohl in direkter als auch in indirekter (Schrift), sowohl in verbaler als auch in nonverbaler Kommunikation. Bedingung erfolgreicher Verständigung welcher Art auch immer müssen also nicht gemeinsame Relevanzund Deutungssysteme sein. Bereits die gemeinsame Erfahrungsstruktur der Akteure bietet bis zu einem gewissen Grad eine Quelle des Verstehens und der Abstimmung. Subjektives Erleben und Empfinden erscheinen damit nicht als Störfaktoren der Vernunft und der sozialen Abstimmung, sondern gehören (als Quelle von Metaphern) zu ihren wichtigsten Voraussetzungen. Denn sofern abstrakt-symbolisches Wissen verkörpertes Wissen ist, konstituiert das phänomenale Substrat von Metaphern das Soziale wesentlich mit – ›cognitive turn‹ und ›body turn‹ ergänzen sich wechselseitig. Soziale Abstimmung ist, so lässt sich der Ertrag der Theorie kognitiver Metaphorik für eine körperliche Konstruktion des Sozialen resümieren, über die konkrete Körperlichkeit der unmittelbaren Interaktion (An-/Protozeichen) hinaus auch auf der Bedeutungsebene grundlegend embodied, Verstehen und damit Verständigung sind auch und vor allem auf inhaltlich abstrakter Ebene durch und durch leib-/körperbasiert. Überall, wo Metaphern zu finden sind, spielt der Leibkörper eine wichtige, ja sogar entscheidende Rolle für den Zugang zum Anderen. In ›echter‹ unmittelbarer und quasi-unmittelbarer mittelbarer Interaktion als gestische, linguistische und/oder para-linguistische (Proto-)Zeichen, in ›echter‹ mittelbarer Interaktion als linguistische (Schrift-)Zeichen (genauer: manifeste Metaphern) – stets bleibt auf der Bedeutungsebene der leiblich-körperliche Erfahrungsbezug erhalten. Die körperliche Konstruktion des Sozialen beschränkt sich also keineswegs auf das praktische Tun, das konkrete Inter-Agieren, sondern umfasst gleichsam alle Dimensionen des sozialen Austauschs.

49 Analog könnte man statt vom sensomotorischen System auch vom leiblichen Inder-Welt-Sein sprechen. Vgl. hier die verschiedenen Ebenen des embodiment bei Lakoff/Johnson. 325

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Verkörperte Gemeinschaftlichkeit. Bewegungen als Medien und Existenzweisen des Sozialen THOMAS ALKEMEYER

1 Einleitung Warnungen vor dem Zerfall des Gemeinwesens in solipsistische Individualatome und dem Rückgang zivilgesellschaftlichen Engagements in klassischen Organisationen der Moderne wie politischen Parteien, Kirchen, Berufsverbänden und Vereinen gehören zum Kernbestand soziologischer Zeitdiagnostik. Gleichzeitig lassen sich jedoch zahlreiche neue, überwiegend als posttraditional etikettierte Formen der Vergemeinschaftung feststellen – vom Engagement in Drittsektororganisationen wie NGOs und NPOs über die so genannten virtuellen Gemeinschaften des Internets bis hin zu den vielfältigen Lebensstilszenen und Events der populären Kultur (vgl. Hitzler 1998; Gebhardt et al. 2000). In den urbanen Zentren moderner Gesellschaften scheinen die Menschen von Zeit zu Zeit gern einmal eng aneinander zu rücken. Das Internet und Fernseh-Live-Übertragungen von Fußballspielen, Stadtmarathons oder Karnevalsumzügen können sie nicht davon abhalten, selbst hinzugehen. Dichtes Gedränge in Stadien, auf Straßen und Plätzen? Umso besser! Die bereits von Georg Simmel (1903/1995) als exemplarisch für die Moderne beschriebene Erfahrung der Großstadt als Ort von Fremdheit, Anonymität und sozialer Distanz scheint in solchen Veranstaltungen temporär durch ein reflexives Gemeinschaftserleben ersetzt zu werden. Ob »lange Nächte der Museen«, bei denen Hunderttausende in kalten Winternächten von einer Kunsthalle in die andere pilgern, begleitet von kleinen Performances mit Lachshäppchen und fein moussierendem Prosecco, Filmfestivals, bei denen die Menschen in kilometerlangen Warteschlangen nach Eintrittskarten für Filme anstehen, für die sie sich sonst kaum interessierten, »Blade-Nights« mit 331

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bis zu 50.000 surrend über den Asphalt gleitenden Inline-Skatern, bunte »Karnevals der Kulturen der Welt«, Public Viewing oder jene popkulturellen Szenen von Skateboard-Fahrern und HipHop-Tänzern, die in der urbanen Öffentlichkeit ihre virtuosen Körperkünste aufführen: Die Menschen feiern sich und ihr Lebensgefühl in kulturellen Räumen, in denen Volksfest und Spektakel, Kunst und Kommerz, Subkultur und Mainstream, Individualismus und Gemeinschaftsbezug eigenartige Mischungen eingehen.

2 Kollektive Repräsentationen und »Gemeinden der Gefühle« Aus diesen Gesellungsformen gehen längerfristige emotionale Bindungen allenfalls in Einzelfällen hervor. Jedoch scheint es den Beteiligten wichtig zu sein, Zusammengehörigkeit zumindest vorübergehend einmal konkret am eigenen Leib zu spüren. Folgt man Max Webers (1922/1980: 21) Minimaldefinition – »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns [...] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« (Hervorhebung im Original) –, dann handelt es sich dabei durchaus um Formen der Vergemeinschaftung. Allerdings unterscheiden sich diese von traditionalen Gemeinschaftsbildungen wie Vereinen, Parteien oder Ehen unter anderem durch das Fehlen institutionell auf Dauer gestellter Bindungen, bürokratischer Strukturen, klarer Rollenverteilungen und normativ begründeter Verbindlichkeit. Zwar sind auch »posttraditionale« Vergemeinschaftungen auf institutionell-organisatorische Vorgaben wie die Bereitstellung öffentlicher Räume durch Stadtverwaltungen oder die Konsumangebote der Kulturindustrie angewiesen, jedoch gibt es weder formelle Mitgliedschaften noch verbindlich eingegangene Verpflichtungen. Vielmehr müssen diese Gemeinschaften immer wieder aufs Neue hergestellt werden: Sie existieren nicht, wenn niemand hingeht, und sie verschwinden, wenn die Beteiligten ihre Entscheidungen zum Mitwirken widerrufen. Es handelt sich mithin um eine vorwiegend performativ erzeugte, episodenhafte Gemeinschaftlichkeit. Weder wird diese hinreichend durch institutionell-organisatorische Strukturen begründet, noch bildet kommunikatives Handeln im Sinne einer rational-diskursiven Herstellung von Konsens ihr Fundament; in ihrem Zentrum stehen vielmehr das gemeinsame physische Agieren und dadurch erzeugte oder bekräftigte Stimmungen und Gefühle. Aufgrund dieser Merkmale hat Maffesoli (1988) diesen Gemeinschaftstypus als neo-tribal bezeichnet. Mit diesem Terminus soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich zwar nicht, wie bei aus ethnografischen Berichten bekannten archaischen Stammeskulturen, um integrierte soziale Verbände mit 332

VERKÖRPERTE GEMEINSCHAFTLICHKEIT

straffer Organisation handelt, aber doch insofern Ähnlichkeiten mit diesen bestehen, als die Beteiligten eher kultisch denn organisatorisch miteinander vereint werden. Diese Gemeinschaften kämen deshalb der sozialen Kategorie der religiösen Gemeinde recht nahe (vgl. ebd.: 146) – einer Gemeinde freilich, so muss hinzugefügt werden, ohne schriftlich konservierten Glauben und eine Institution wie die Kirche. Aufgrund dieses Fehlens dauerhafter Institutionen bedarf der Glaube dieser Gemeinschaften der iterativen Bestätigung in gemeinsamen Praktiken. Gewinnbringend lassen sich die Mechanismen und Dynamiken dieser kultähnlichen Gemeinschaftsbildungen mit Emile Durkheims (1912/1981) Konzepten des Religiösen und der kollektiven Repräsentationen beschreiben. In seiner Theorie der »elementaren Formen des religiösen Lebens« geht Durkheim erstens davon aus, dass jede Gesellschaft ihre eigenen »heiligen« Gegenstände, Personen und Ideen hervorbringt. Deren Heiligkeit beruht, Durkheim zufolge, nicht auf ihrem inhaltlich zu bestimmenden Wesen, sondern wird gesellschaftlich erzeugt, indem sie dem profanen Gebrauch entzogen und in einen durch Abtrennung von der Alltagswelt geheiligten Zeit-Raum überführt werden.1 Die religiöse Welt ist in dieser Perspektive keine reine Phantasie- oder gar Gegenwelt zur Gesellschaft, aber sie liefert auch nicht deren bloßes Abbild, sondern entsteht durch »systematische Idealisierung«: In den künstlich vom Alltagsleben abgesonderten Bezirken des Heiligen werden Objekte, Anschauungen und Geschöpfe des »wirklichen« Lebens mit »Ausnahmekräften« und »Tugenden« ausgestattet, über die sie im profanen Alltag nicht verfügen (ebd.: 564f.). In der Konsequenz zeigen die »kollektiven Repräsentationen« der religiösen Welt ein Idealbild der Gesellschaft: Sie sind »die herausragende Form und gewissermaßen der konzentrierte Ausdruck des gesamten kollektiven Lebens« (ebd.: 561), Expression der »Idee«, die sich die Gesellschaft »von sich selbst macht« (ebd.: 566), das heißt sinnlich-sinnhaft verdichtete und überhöhte Darstellungen der grundlegenden Strukturen, Interaktionsformen und Personenauffassungen eben jener Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Als ein durch Aussonderung und Idealisierung geheiligtes Soziales wirken diese Repräsentationen ihrerseits steuernd und regulierend auf das Alltagsleben zurück, so dass die Repräsentation für das Repräsentierte mit konstitutiv ist. Zweitens hebt Durkheim die Materialität und Bildlichkeit kollektiver Repräsentationen hervor. Sein Konzept unterscheidet sich damit deutlich von anderen, später entwickelten Repräsentationsmodellen, die soziale Repräsentationen als bloße Instrumente zur Erkenntnis der Welt begreifen und das Repräsentationskonzept damit kognitivistisch verkürzen.2 Durkheim dagegen 1

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In Durkheims Perspektive konstituiert sich das Religiöse über den absoluten Gegensatz zwischen einem Bereich des Profanen und einem Bereich des Heiligen, der durch räumliche und zeitliche Barrieren vom Profanen abgegrenzt wird. So etwa Moscovici (1984); vgl. ausführlicher Alkemeyer (2000: 137–144). 333

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betont ihre Bedeutung für die Erzeugung und Gestaltung, für die Bündelung und Bekräftigung körperlich-leiblicher3 Zustände, sinnlicher Eindrücke und sozialer Gefühle. Denn andernfalls könnten sie ihre Funktion einer zumindest temporären affektiven Zusammenführung der Gesellschaftsmitglieder nicht erfüllen. Bindend und damit realitätsmächtig werden die gesellschaftlich produzierten religiösen Ideen und moralischen Werte nämlich nur dann, so Durkheim, wenn sie sich an materielle Objekte anheften und ins gemeinschaftliche Handeln hineingenommen werden: Nur über Symbole, gemeinsame Bilder und soziale Praktiken4 (wie Rituale) könne einer ansonsten abstrakten Gesellschaft eine greifbare Wirklichkeit verliehen werden; allein im praktizierten Kult, in dem die Individuen periodisch wiederkehrend aus ihrer alltäglichen Isolierung hinausträten und sich anderen Menschen annäherten, sei die Gemeinsamkeit aufrechtzuerhalten, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und der Glaube an gemeinsame Leitbilder zu bewahren (vgl. ebd.: 559). »Ohne Symbole«, schreibt Durkheim (ebd.: 316), hätten »die sozialen Gefühle nur eine ungewisse Existenz«. Zwar sind die Totemsysteme Australiens und Nordamerikas, die er als Urbilder einer gelungenen sozial-moralischen Integration vorführt, längst untergegangen, der Mechanismus der Beteiligung der Einzelnen an einem übergeordneten Allgemeinen über heilige Gegenstände, Bilder und rituelle Handlungen habe jedoch nicht an gesellschaftlicher Bedeutung verloren: »Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen. Diese moralische Wiederbelebung kann nur mit Hilfe von Vereinigungen, Versammlungen und Kongregationen erreicht werden, in denen die Individuen, die einander stark angenähert sind, gemeinsam ihre gemeinsamen Gefühle verstärken. Daher die Zeremonien, die sich durch ihren Zweck, durch die Ergebnisse, die sie erzielen, durch die Verfahren, die dort angewendet werden, ihrer Natur nach nicht von den eigentlichen religiösen Zeremonien unterscheiden« (ebd.: 571). Durkheims Theorie des Religiösen sensibilisiert den Blick dafür, dass Gesellschaften ihre Selbst- und Weltbilder in Repräsentationen ausstellen und feiern und dass diese Repräsentationen keine bloß geistigen Gebilde sind, sondern aufgrund der ihnen eigenen Materialität durchaus reale Wirkungen

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Ich folge damit der in der Phänomenologie üblichen analytischen Unterscheidung zwischen Körper und Leib. Gilt der Körper in dieser Perspektive als instrumentell und/oder expressiv einsetzbare Größe, so wird mit dem Leibbegriff die wahrnehmende, spürende subjektive Erfahrung in den Blick gebracht. Empirisch ist jede leibliche Erfahrung durch den vergesellschafteten Körper geprägt. Darunter verstehe ich im Anschluss an Schatzki (1996: 53) »a set of doings and sayings organized by a pool of understandings, a set of rules, and a teleoaffective structure«. In praxistheoretischer Perspektive sind Praktiken der Ort, an dem in verkörperten Akten soziale Ordnungen etabliert werden.

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entfalten.5 Durch die ›Brille‹ Durkheims treten die kultischen Dimensionen auch gegenwärtiger, posttraditionaler Vergemeinschaftungen deutlich hervor. Es wird beispielsweise sichtbar, dass sich das ›Gemeindeleben‹ dieser Gemeinschaften ebenfalls um bestimmte Gegenstände oder Lokalitäten herum organisiert. Dabei handelt es sich vorrangig um kulturindustriell gefertigte Markenprodukte wie technische Geräte (Sportartikel, Mobiltelefone und Ähnliches), (Körper-)Bilder und Lifestyle-Accessoires sowie Orte mit eigenen ästhetischen Signaturen, zum Beispiel signifikante öffentliche Plätze, Clubs, Sport-, Mode- oder Musikshops. Die Akteure beziehen diese Objekte einer globalen Konsumkultur in ihre lokalen kulturellen (Konsum-)Praktiken ein und nutzen sie – durchaus kreativ – zum Aufbau distinktiver Spezialkulturen, in denen sie leben, was ihnen lebenswert erscheint. Zwischen Angebot und Nachfrage entwickeln sich interaktive Beziehungen: Die Angebote werden von ihren Konsumenten auf der Grundlage ihres sozialen Geschmacks ausgewählt6 und innerhalb von Definitions- und Deutungsrahmen benutzt, die durch die Materialität und Symbolik (ästhetische Gestaltung, kommentierende Texte usw.) der Angebote selbst ebenso abgesteckt werden wie durch Gruppenstrukturen und situationale Gebrauchskontexte. Sie besitzen ihre Bedeutung und ihren Wert für eine Gesellschaft oder Gruppe also nicht bereits von sich aus, sondern werden erst in den Interaktionen der sozialen Praxis symbolisch aufgeladen und affektiv besetzt – und damit zu etwas Bedeutendem, mehr oder weniger Kostbarem (also im Sinne Durkheims: Heiligem) gemacht. Bedeutung und Wert sind in dieser praxistheoretischen, von einer kulturkritischen Sichtweise sich abhebenden Perspektive stets auch Resultate von Rezeptions- und Konsumpraktiken, in deren Vollzug Akteure ihre Wünsche und Phantasien, ihre Leidenschaften und Erinnerungen an die von ihnen ausgewählten Artefakte herantragen. Durch die gemeinsame Praxis wertvoll gemacht, übernehmen diese die Funktion religiöser Kultgegenstände: Sie vermitteln zwischen dem Einzelnen und seiner Umgebung, mischen sich in die Selbstidentifikation ihrer Konsumenten ein und verleihen einer der labilsten Währungen im sozialen Haushalt, den Emotionen, eine sichere Existenz, indem sie die Individuen in »Gemeinden der Gefühle« (Soeffner 1992) zusammenführen.7

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Sie können deshalb als kulturelle Aufführungen (cultural performances) konzeptualisiert werden. Darunter sind kulturelle Veranstaltungen zu verstehen, in denen sich eine Gesellschaft oder Gruppe für ihre eigenen Mitglieder wie für andere in verschiedenen Medien (Sprache, Musik, Bilder, Körper etc.) darstellt: Theater, Tänze, Konzerte, (religiöse, sportliche etc.) Feste, Umzüge etc. Zu diesem Konzept vgl. ausführlicher Alkemeyer (2000: 149–157). Der Geschmack wirkt deshalb wie ein »innerer sozialer Schiedsrichter« (Soeffner 2001: 84). Für Gemeinschaftsbildungen im Sport vgl. auch Gebauer (1999). 335

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Warenästhetik und Konsum sind in dieser Sicht also keine bloßen Begleiterscheinungen oder gar Pervertierungen posttraditionaler Gemeinschaftsbildungen, sondern konstitutiv für sie (vgl. auch Hitzler 1998: 86). Konsumpraktiken und die mit ihnen verknüpften Emotionen fördern die Binnenintegration durch gleichzeitige Abgrenzung nach außen. Sie gehören zu einem öffentlichen Theater der Distinktionen, auf dessen Bühnen unterschiedliche Gemeinschaften ihre Selbst- und Weltbilder ostentativ ausstellen und symbolische Statuskämpfe austragen. Gruppenmythologien artikulieren sich, so wird daran deutlich, keineswegs nur in den Medien von Sprache und Schrift, sondern auch in den verkörperten Formen kultureller Aufführungen, in Selbstinszenierungen und konsumatorischen Praktiken. Gerade in dieser an den praktischen Vollzug von Handlungen gebundenen Form durchsetzen sie vielfältig das gesellschaftliche Leben. Zwar gibt es in der ökonomisch, kulturell und ethnisch vielgestaltigen modernen Gesellschaft kaum mehr Repräsentationen des ›Ganzen‹, jedoch kann Durkheims Modell auch zum Verständnis der miteinander konkurrierenden, partikularen Repräsentationen von Milieus, Szenen und Subkulturen beitragen. In Fortführung Durkheims lassen sich deren performative Selbstdarstellungen als Ausprägungen einer »Repräsentationsarbeit« (Bourdieu 1991: 16) verstehen, mit der die verschiedenen Gruppen versuchen, ihre gesellschaftliche Identität durch ein »Sichtbarmachen des Andersseins« (Krais 1990: 342) durchzusetzen. Allein in ihren Auftritten und Praktiken erlangen die diversen Gruppen eine sichtbare soziale Existenz. Sie erzeugen, beleben und bekräftigen darüber den Glauben an gemeinsame Leitbilder, Mythen und Überzeugungen.8

3 Bewegung, Gemeinschaft und Gesellschaft In lebensstilsoziologischen Untersuchungen werden vor allem die nach außen gut sichtbaren Zeichen und Codes von Sprache, Kleidung oder Gestik und die mit dem Zeichengebrauch verfolgten Distinktionsstrategien der Lebensstilgruppierungen herausgestellt. Die Körperlichkeit der gemeinsamen Handlungspraxis und die dadurch erzeugten Zugehörigkeitsgefühle werden hinge8

Eindrucksvoll zeigt dies Schmidt (2002: 244–250) in seiner Ethnografie des Berliner Yaam-Clubs. Es ist eine empirische Frage, ob sich in diesen Praktiken ausschließlich eine Unterscheidung der Milieus, Szenen und Subkulturen voneinander ausdrückt oder ob sich diese damit auch als Teil des »kommunikativen Haushalts« ihrer Gesellschaft zeigen, das heißt – im Sinne Luckmanns (1986) – jener »Summe generalisierter Kommunikationsmöglichkeiten, in deren Spielraum sich die Interaktionen einer Gesellschaft bewegen« (Keppler 1994: 277). Die Frage ist dann, inwieweit in Gruppenpraktiken allgemeine Handlungsmuster auf besondere Weise aktualisiert und interpretiert werden.

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gen vernachlässigt. Sie kommen stärker in den Blick, wenn man das Instrumentarium ethnologischer bzw. kulturanthropologischer Disziplinen wie der US-amerikanischen Folklore Studies, der französischen Ethnologie de la Performance oder der historischen Anthropologie in Anschlag bringt. Auf die gemeinschaftsbildende Wirkung geteilter Bewegungen ist bereits mehrfach hingewiesen worden.9 Im Zuge einer neuen Aufmerksamkeit für die physische Fundierung des Sozialen10 hat Mitte der 1990er Jahre auch der USamerikanische Historiker William H. McNeill (1995) dem Phänomen der Gemeinschaftsbildung durch Bewegung ein eigenes Buch gewidmet. Er beschäftigt sich darin aufgrund eigener Erfahrungen als »Marsch-Mensch« in der Armee mit kollektiven Praktiken des Marschierens und Tanzens, der Gymnastik und des Drills. Der Titel seines Buches – Keeping together in time – bedeutet so viel wie »gemeinsam den Takt halten«, aber auch »zusammen in der Zeit bleiben«. McNeill sucht in seiner Studie nach dem gemeinsamen Nenner aller rhythmisch gegliederten Kollektivbewegungen, unabhängig davon, ob diese religiösen oder ökonomischen, ob sie kriegerischen oder sportlichen Zwecken dienen, ob sie im Tanz vollzogen werden oder in der Liturgie, im Militär oder im Rave. Und er glaubt zu wissen, was all diesen Bewegungen gemeinsam ist: Sie erzeugen, so der Autor, ein intensives Wohlgefühl, eine rauschhafte Euphorie, die ansteckend wirkt und alle Beteiligten unmittelbar-sinnlich miteinander vereint. »Muscular bonding«, so nennt er diese eigenartigen, auf physischen Phänomenen gegründeten sozialen Beziehungen. Auch dieser Begriff hat einen durchaus erhellenden Doppelsinn von Muskelanspannung einerseits und sozialer Bindung dank Muskelspiel andererseits. Gemeinschaftliche Bande »sind in Wahrheit Muskelstränge«, so fasst Ulrich Raulff (1996) die leitende These in seiner Rezension des Buches zusammen. Gemeinsam geteilte Körperbewegungen lassen, so der Autor selbst, einen »esprit de corps« entstehen, der temporär sogar Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zu verbinden in der Lage sei (McNeill 1995: 3). Das erinnert an Passagen im Werk Bourdieus (1992: 206), in denen es heißt, es existiere ein Zusammenhang »zwischen dem Leib beziehungsweise Körper oder Korpus und dem, was im Französischen ›esprit de corps‹, ›Korpsgeist‹, genannt wird«, und vorwiegend die Frage behandelt wird, wie sich gesellschaftliche Institutionen der Körper ihrer Mitglieder bemächtigen, um sich deren Loyalität zu sichern – gerade so wie das Militär, dem McNeill angehörte.

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Beispielsweise von Elias Canetti (1980: 29ff.) in seinen Überlegungen über den Rhythmus der Füße oder von Georg Simmel in seiner Soziologie der Mahlzeit (1957/1910); ich komme darauf zurück. 10 Ein Ausdruck dieser Aufmerksamkeit ist beispielsweise der sogenannte performative turn in den Kulturwissenschaften, an den sich seither weitere, vollmundig verkündete »turns« angeschlossen haben – vom practice bis hin zum body turn. 337

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Allerdings gibt es auch gravierende Differenzen zwischen den Perspektiven McNeills und Bourdieus. McNeill interessiert sich vornehmlich für die psychologischen und sozialen Wirkungen biologisch-physiologischer Prozesse. Wer tanzt, stampft oder marschiert, induziere das vegetative Nervensystem, stimuliere die Hormonausschüttung und rufe gleichzeitig somatische Erinnerungen an fötale Zustände wach, so dass eine solidarisierende Euphorisierung der gemeinsam sich Bewegenden bewirkt werde (vgl. McNeill 1995: 13ff.). McNeill erklärt die vergemeinschaftenden Wirkungen kollektiver Bewegungen somit im Wesentlichen durch überhistorische, natürliche Vorgänge. Er abstrahiert damit von den sozio-kulturellen Dimensionen jeder Bewegungspraxis. In sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive sind Bewegungen aber keine bloß natürlichen, sondern soziale Tatsachen, insofern sie zugleich Produkte und nicht-sprachliche Existenzweisen des Sozialen sind (vgl. Gebauer 1997; Alkemeyer 2003; Klein 2004): Sie werden von Geburt an gesellschaftlich geformt und erlangen kontextspezifische Bedeutungen.11 Denn die Umgebungen, in denen sich Menschen von klein auf bewegen, sind keine amorphen Welten freier Beliebigkeit, sondern stets materiell (vor-)geformte, symbolisch gedeutete, von Kulturtechniken und Machtbeziehungen geprägte soziale Welten. Im Rahmen eines materialistischen Tätigkeitskonzepts hat Alexej Leontjew (1931/1973) die sozio-kulturelle Formatierung von Bewegungen an einem recht einfachen Beispiel verdeutlicht. Er zeigt, wie sich die Handbewegungen des Kindes beim Erlernen des Löffelgebrauchs nach und nach »der objektiven Logik des Umgangs« (ebd.: 239) mit diesem ›Werkzeug‹ unterordnen:12 Indem Menschen die Dinge ihrer Umwelten auf eine als legitim akzeptierte Weise zu benutzen lernen, bilden sie spezifische »Körpertechniken« (Mauss 1989) aus und erschließen sich in eins damit die in den Dingen objektivierten »sachlich-sozialen Gegenstandsbedeutungen« (Holzkamp 1995: 282).13 Die Bewegungen erhalten in ein und demselben Vorgang eine wiedererkennbare gesellschaftliche Form, eine praktische Bedeutung und oft auch einen über die rein funktionalen Erfordernisse des Gegenstandsgebrauchs hinausgehenden, gern als Stil bezeichneten ästhetischen Wert mit sozial-distink11 So bedeutet zum Beispiel ein Faustschlag auf der Straße etwas anderes als im Rahmen eines Boxkampfes. 12 »Das Kind erwirbt ein System funktionaler Bewegungen, ein System von Handlungen mit Werkzeugcharakter [...]« (Leontjew 1973/1931: 239f.). Leontjew vernachlässigt dabei allerdings, dass Artefakte immer auch anders gebraucht werden können als vorgesehen – und damit den Einfluss kultureller (Geschmacks-)Normen und Regeln, deren Einhaltung in aller Regel entweder durch explizite Überwachung und Normierung oder durch in die Praktik eingewobene gegenseitige Aufmerksamkeiten und Sanktionen gewährleistet wird. 13 Bourdieu (1981) spricht entsprechend von der in den Dingen objektivierten Geschichte. 338

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tiver Kraft.14 Aus zunächst natürlichen, »unbedingt-reflektorischen« Bewegungen (Leontjew) werden auf die Umweltbedingungen15 abgestimmte, technisch-funktionale und kulturell gestaltete Könnensbewegungen. An dieser Bewegungsgestaltung sind entscheidend auch die Mechanismen sozialer Mimesis16 und eines in jede soziale Praktik eingelassenen Zeigens beteiligt. Soziale Praktiken werden dadurch erzeugt und aufrechterhalten, dass sich die Teilnehmer gegenseitig praktikspezifische Aufmerksamkeiten entgegenbringen: Sie nehmen im Vollzug einer Praktik permanent aufeinander Bezug und unterscheiden dabei zwischen kompetenten und inkompetenten, regelhaften und regelwidrigen, passenden und unpassenden Aktionen. Akte, die aus der Praktik herausfallen, werden entsprechend sanktioniert. Andere Aktionen bewegen sich auf der Grenze, und wieder andere werden von allen Beteiligten als adäquate Ausdrucksformen der Praktik behandelt. In actu wird also durch kontinuierliche praktische Kritiken, Korrekturen und Sanktionen ein geteiltes praktisches Verständnis darüber hergestellt, was eine regelgerechte Ausführung der Praktik ist. Die Praktik übergreift gleichsam alle individuellen Aktionen: Sie fordert die Teilnehmer dazu auf, individuelle Akte als regelkonforme Verhaltensweisen17 (des Begrüßens, Essens, Fußballspielens etc.) zu erzeugen, »bringt ihnen fortlaufend praktisches knowing how bei und macht sie auf diesem Weg zu kompetenten [...] Mitspielern [...]« (Schmidt 2008: 131). Die subjektivierende Sozialisation in eine Praktik erfolgt somit im Wesentlichen über verkörperte Darstellungen. Diese zeigen den Beteiligten unmittelbar sinnlich, was geht, was nicht geht und wie es geht. Auf diese Weise entstehen einfache, konkrete Formen der Gemeinschaftlichkeit, auf die komplexere, abstraktere Formen der Sozialität aufbauen können. So hat bereits Simmel (1910/1957) in seiner kleinen Studie über die Soziologie der Mahlzeit deutlich gemacht, dass der Gleichtakt der Hand- und 14 So kann man beispielsweise eine Teetasse mit abgespreiztem kleinem Finger in maßvollem Tempo zum bereits leicht geschürzten Mund führen. 15 Dazu gehören beispielsweise Dingqualitäten, Raum- und Zeitstrukturen oder in Sprache oder Musik objektivierte Rhythmen. 16 Dieses von Gebauer und Wulf (1998) ausgearbeitete Konzept bezieht sich auf Prozesse, die erstens Bewegungen sind, welche sich auf andere Bewegungen beziehen, zweitens als Aufführungen betrachtet werden können, insofern sie über Darstellungs- und Zeigeaspekte verfügen, und drittens sowohl eigenständige Handlungen sind, »die aus sich selbst heraus verstanden werden« können, »als auch auf andere Akte oder Welten Bezug« nehmen: »Nur wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, sprechen wir von mimetischen sozialen Handlungen. Ausgegrenzt werden damit nicht-körperliche Akte wie mentale Kalküle, Entscheidungen, strukturelle Zusammenhänge ebenso wie reflexhaftes oder routiniertes Verhalten, aber auch einmalige, einzigartige Akte und Regelbrüche« (ebd.: 11f.; Hervorhebungen im Original). 17 Dabei kann es sich sowohl um explizite, formelle als auch um implizite, informelle Regeln handeln. 339

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Mundbewegungen und der ihnen angeschlossenen physiologischen Abläufe beim gemeinsamen Essen zu einer Vereinheitlichung der individuellen Perspektiven führt und damit eine soziale Einheit in Zeit und Raum schafft. Für die Ausbildung eines solchen Gleichtakts war, so Simmel, die historisch zunächst bei den oberen sozialen Schichten erfolgende Einführung des Gebrauchs von Essbesteck sehr wichtig, führte sie doch zu einer »Fixierung der Essgebärden«, also einer für die Praktik des Essens spezifischen »überpersönliche[n] Reguliertheit« (ebd.: 188) der Körperbewegungen, die beim Essen mit der bloßen Hand schwerlich zustande gekommen wäre: Indem ihre Bewegungen qua Artefaktgebrauch strukturiert werden, bilden die Essenden eine ›familienähnliche‹ Körpertechnik des Essens aus, das heißt eine identifizierbare »soziale Motorik« (Gebauer 1998), die die Akteure sowohl nach innen (zum Beispiel für die Familienmitglieder) als auch für Außenstehende sinnlich als Gemeinschaftlichkeit erkennbar macht. Vor diesem Hintergrund kann nun auch genauer auf die sozialen Bedingungen und Grenzen der nicht erst von McNeill, sondern bereits in der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts oder aus phänomenologischer Perspektive behaupteten ›ansteckenden‹ Energie gemeinsamer Bewegungen reflektiert werden. Diesen Sichtweisen zufolge berühren uns Bewegungen (wie auch Töne) unmittelbar und induzieren spontan ein wirkliches oder virtuelles Mitbewegen.18 Das (körper- und bewegungs-)soziologische Interesse gilt dagegen der gesellschaftlichen Vermitteltheit dieser Unmittelbarkeit ›leiblicher Resonanz‹19: Es richtet sich sowohl auf die den Bewegungsvollzügen einer Praktik impliziten gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen als auch auf die (erlernten) Dispositionen, die einen Akteur für diese Konstruktionen so empfänglich machen, dass er wie intuitiv auf sie reagiert und sich eventuell mitreißen lässt.20 ›Ansteckung‹ setzt in dieser Perspektive voraus, dass der in gesellschaftlich formatierten Bewegungen steckende soziale Sinn direkt – ohne Umweg über Sprache und reflektierendes Bewusstsein – im ›Körpergedächtnis‹ des Sub-

18 »Motorisch und visuell besonders veranlagte Naturen werden durch gutes rhythmisches Vorturnen so stark in ein innerlich erlebendes Mitbewegen hineingezogen, dass sie bereits den Bewegungsablauf der gesehenen Übung in seinen Impulsen und Phasen unmittelbar erfassen, ohne schon selbst die Übung am Gerät versucht zu haben«, schreibt in phänomenologischer Perspektive beispielsweise Otto Hanebuth (1964: 99; zit. nach Ennenbach 1989: 218). 19 ›Resonanz‹ scheint mir für die Bezeichnung derartiger Phänomene geeigneter als ›Ansteckung‹ (vgl. auch Schaub et al. 2005), insofern dieser Begriff ihre Zweibahnigkeit bzw. Interaktivität akzentuiert. »Ansteckung« suggeriert hingegen Einbahnigkeit: die Einwirkung eines aktiven Parts auf einen passiven. 20 Körperliche Vergemeinschaftung ist damit weder ein rein somatischer Prozess, wie es Gumbrecht (2005) mit anti-hermeneutischer Stoßrichtung postuliert, noch ein rein hermeneutischer, sondern insofern beides zugleich, als in alle Bewegungen sozialer Sinn gleichsam eingefaltet ist. 340

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jekts gespeicherte Erinnerungen, Gefühle und Gedanken wachruft.21 Aktives Mitmachen, aber auch schon die innere, virtuelle Mitbewegung beim Zuschauen erneuert und bekräftigt dann die Zugehörigkeit zu einer Sozialität, die ihren – mehr oder minder diffusen – habituellen Übereinstimmungen, Selbst- und Weltbildern in familienähnlichen Bewegungen Gestalt und Physis, Emotionalität und affektive Wucht verleiht. Zugehörigkeit bleibt dann kein bloßes Versprechen, sondern wird temporär fühlbar: Die gemeinsame Praxis (bei Stadtmarathons, Rockkonzerten, in Sportstadien etc.) gestattet es, sich als eine Gruppe von Menschen zu erfahren, deren Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen und sie damit von anderen Gruppen als Einheit abheben. Denn die Kehrseite der Konjunktion ist die Distinktion, der Inklusion korrespondiert die Exklusion, der Resonanz die Dissonanz: Auch ›Zwischenleiblichkeit‹ hat ihre kulturellen und sozialen Grenzen. Ausgeschlossen bleiben diejenigen, in deren ›anders‹ sozialisierten Körpern die im jeweiligen Kontext als rechtens oder passend akzeptierte soziale Motorik keinen Resonanzboden findet.22 In dieser historisch-anthropologischen Perspektive sind die menschlichen Akteure mithin keine isolierten Individuen, die einer ihnen fremden Welt von Objekten und anderen vereinzelten Individuen gegenüberstünden, sondern von früher Kindheit an – und damit auch vor jedem Spracherwerb – körperlich-leiblich mit ihrer Umgebung verbunden: »Der Körper ist Teil der Sozialwelt – wie die Sozialwelt Teil des Körpers«, so hat Pierre Bourdieu (1991: 69) diese Verschlingung von Körper und Sozialwelt in seiner soziologischen Reinterpretation von Merleau-Pontys Chiasmus-Konzept (Merleau-Ponty 1964: 172–191) formuliert. Dieses körperliche In-der-gesellschaftlichenWelt-Sein des Individuums ist kein »passives Ruhen«, sondern »von vornher-

21 Zum Körper als »Speicher für bereitgehaltene Gedanken« vgl. Bourdieu (1987: 127f.). Bourdieu interessiert sich hier vor allem für die Körperlichkeit symbolischer Gewalt. Gedanken und Gefühle können, wie er schreibt, »aus der Entfernung und mit Verzögerung schon dadurch abgerufen werden [...], dass der Leib wieder in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist. Daher die Sorgfalt, die bei der Inszenierung großer Massenfeierlichkeiten nicht nur auf das [...] Bemühen um feierliche Darstellung der Gruppe zurückgeht, sondern auch [...] auf die sicher unbestimmte Absicht, Gedanken zu ordnen und [...] besonders durch leibliche Ausdrucksformen [...] Gefühle zu suggerieren. Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch die verschiedensten Mittel auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder um sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren lässt« (ebd.). 22 Zu den sozialen Grenzen körperlicher Vergemeinschaftung vgl. auch Meuser (2002: 42). 341

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ein Tätigkeit, aktive Auseinandersetzung mit der sozialen Welt« (Krais/Gebauer 2002: 78), in deren Verlauf, wie Bourdieu in seinen ethnografischen Studien gezeigt hat, zusammen mit der Einübung, Formatierung und Schematisierung von Bewegungen zugleich innere Haltungen, Einstellungen und Schemata des Wahrnehmens, Erkennens und Beurteilens entwickelt werden. Da Sinnkonstruktionen, Werte und Vorstellungen nicht unabhängig von konkreten sozialen Situationen und den für sie typischen Bewegungsmustern, Haltungen und Gesten existieren, werden sie von den Heranwachsenden auch nicht losgelöst von dieser sinnlich erkennbaren Realitätsebene erfahren und in die eigene, subjektive Praxis umgesetzt. Die je nach sozialer Umgebung und Position unterschiedlichen Weisen zu gehen, zu stehen, zu gestikulieren, zu sprechen oder zu lachen und, in Verbindung damit, wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen und zu beurteilen, weisen in dieser – gängige Dichotomien zwischen Außen und Innen, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Geistigem und Körperlichem überwindenden – Perspektive stets über das Individuum hinaus auf den Zustand der Sozialwelt, zu der das Individuum gehört. Sie machen seine Zugehörigkeit zu dieser Welt anschaulich und werden vom sozialen Geschmack in signifikante Zeichen übersetzt, anhand derer sich die Individuen gegenseitig sozial klassifizieren.23

4 Verkörperte Gemeinschaften als Indikatoren Soziologische Zeitdiagnosen begreifen die eingangs skizzierten verkörperten Gemeinschaften gern als Gegenbewegungen zu modernen Individualisierungs-, Atomisierungs- und Entkörperlichungstendenzen (vgl. z.B. Bette 1997). Es ist aber auch ein anderer Blick möglich, der ihre Indikatorfunktion betont. In dieser Perspektive wären sie weniger Komplementär- oder Kompensationserscheinungen als soziale Phänomene, die normalerweise unerkannt in das Alltagsleben eingelassene Mechanismen des Sozialen bühnenartig gerahmt ausstellen. Sie zeigen in dieser Sicht ostentativ auf die Körperlichkeit des Sozialen als Kehrseite der Sozialität des Körpers und sind deshalb besonders geeignet, diesen Zusammenhang zu untersuchen. Begreift man sie als Indikatoren, dann lässt sich ihnen der Hinweis entnehmen, dass soziale Gebilde auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen körperlich fundiert sind. So ruht auch die Identität von sozialen Milieus oder Organisationen auf geteilten Bewegungsmustern und -stilen gleichsam auf. Sie lässt sich in dieser 23 »Der Geschmack bildet mithin den praktischen Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilungen in diskontinuierliche Gegensätze: durch ihn geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen« (Bourdieu 1993: 284; Hervorhebungen im Original). 342

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Perspektive nicht allein aus ideellen Konstrukten (Ideen, Werte, Überzeugungen) ableiten, sondern ist auf materielle Anordnungen und Praktiken angewiesen, in denen diese Konstrukte anschaulich werden und der Glaube an sie zementiert wird. Eine – in den verschiedenen Institutionen und Praxisformen expliziter und impliziter Pädagogik24 erfolgende – Ausprägung gesellschafts-, milieu- oder organisationstypischer Haltungen, Gesten und Bewegungsmuster sichert sowohl Erkennbarkeit und damit Adressierbarkeit nach außen als auch eine reflexiv nur schwer zugängliche Loyalität nach innen. Nicht zuletzt deshalb scheinen insbesondere starke, traditionsbewusste Organisationen, wie Krankenhäuser, Gerichte, Militär, Kirchen oder Schulen, so großen Wert auf die Ausbildung einer organisationstypischen Gestik zu legen.25 Die durch Ko-Präsenz sich auszeichnenden Gemeinschaften von Events und Szenen wären in dieser Sicht außeralltägliche Formen des Sozialen, in denen in sinnlich-sinnhafter Verdichtung körperliche und mentale Gemeinsamkeiten aufgeführt werden, die virtuell auch die praktischen Alltagsvollzüge und kollektiven Identitäten in anderen Sozialbereichen tragen.

5 Ausblick Aufgrund ihrer historisch gewachsenen Affinität zu Geist, Bewusstsein und Sprache haben die akademisch institutionalisierten Sozialwissenschaften die körperlich-leiblichen Ebenen des Sozialen überwiegend ignoriert oder in den Bereich des Nicht-Thematisierbaren, mitunter sogar Irrationalen, abgedrängt.26 In der deutschsprachigen Soziologie nach 1945 ist diese Tendenz durch den Nationalsozialismus zweifellos noch verstärkt worden. Denn wie in kaum einem anderen Herrschaftssystem haben es die Machthaber hier auf allen Ebenen – von den großen öffentlichen Aufmärschen bis hinunter zum edukativ-formativen Geschehen im Klassenzimmer – verstanden, die Energie und Dynamik körperlicher Vergemeinschaftungen zu nutzen, um abstrakte Versprechen und rückwärtsgewandte Utopien, insbesondere das imaginäre Konstrukt einer »Volksgemeinschaft«, in performativen Akten ›wirklich‹ werden zu lassen.

24 So unterscheidet Bourdieu (1987: 138) zwischen einem in den Alltag eingelassenen, impliziten »Lernen durch schlichte Gewöhnung einerseits [...] und der expliziten und ausdrücklichen Übertragung durch Vorschriften und Regeln andererseits«. Dazwischen siedelt er »Strukturübungen« wie Rituale, Spiele oder (Sport-)Wettkämpfe an, in denen vorwiegend stumm, von Körper zu Körper, »diese oder jene Form praktischer Meisterschaft« übertragen werde. 25 Vgl. Gebauer/Wulf (1998: 96f.) sowie speziell für die Schule Alkemeyer/Pille (2008). 26 Vgl. auch den Beitrag von Alkemeyer, Brümmer und Pille in diesem Band. 343

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Ein exemplarisches Beispiel mögen die Bemühungen zur Reformierung des Deutschunterrichts sein: An die Stelle eines stillen Lesens und einer intellektuellen, sich im Kopf des Lesers vollziehenden und deshalb für Außenstehende nicht zu kontrollierenden Aneignung literarischer Inhalte sollte ein lautes gemeinsames, oft rhythmisch akzentuiertes Sprechen treten, unterstützt durch das Einnehmen ›korrekter‹ Sprechhaltungen und die Ausführung angemessener Gebärden (vgl. Hopster/Nassen 1983). Eine individuelle, reflektierende Auseinandersetzung mit Texten – das Ideal bürgerlicher Pädagogik – sollte mithin durch deren Einverleibung und Verkörperung in sinnlich wahrnehmbaren Aufführungen ersetzt werden, um das Ideologem der »Volksgemeinschaft« so auch im Mikrokosmos des Klassenzimmer spürbar zu machen. Diese Entmächtigung des geschriebenen Wortes zugunsten gestischen Sprechens, expressiver Bilder und der Inszenierung von Kollektivkörpern charakterisierte das gesamte Spektrum ästhetischer Herrschaft und Beherrschung; sie stand auch hinter der Aufwertung der Körpererziehung in den Bildungsorganisationen von Staat und Partei:27 Flächendeckend sollten im Gedächtnis des Körpers bereitgehaltene Gedanken und Gefühle für eine Herrschaftsausübung mobilisiert werden, die von den Beherrschten aktive Beiträge zu ihrer eigenen Beherrschung erzwingt, indem sie das Bewusstsein umgeht.28 Wie groß der Anteil dieser politisch-pädagogischen Praktiken daran ist, dass die körperlich-sinnlichen ›Tiefenschichten‹ des Sozialen seither in weiten Teilen der (deutschen) Soziologie als dessen ›dunkle‹ Seite – und damit als illegitimer Gegenstand – abgespalten wurden, ist präzise nicht einzuschätzen. In jedem Fall haben zahlreiche Forschungen zur politischen Ästhetik des Dritten Reiches tief in der abendländischen Geschichte verwurzelte Entmischungen und Hierarchisierungen von Geist und Körper, von kontrollierender Ratio und unkontrollierten Affekten, von autonomem Individuum und heteronomer Masse nicht nur reproduziert, sondern zusätzlich noch verstärkt, indem sie jede kollektive Körperpraxis am Maßstab der theoretischen Fiktion des autonomen, rationalen Individuums beurteilten.29 In der Folge dieser theoretischen Dichotomisierungen hat sich die Beschäftigung mit der Beteiligung von Körper und Leib an sozialen Prozessen leicht dem Irrationalismus-Verdacht ausgesetzt: Wissenschaftlich entwertet und de-thematisiert, blieben die körperlich-leiblichen Dimensionen von Vergesellschaftung, Vergemeinschaftung und Subjektbildung lange Zeit überwiegend unbegriffen.

27 Vgl. ausführlicher Alkemeyer (1996: 254ff.). 28 Bourdieu bezeichnet dies als symbolische Gewalt. Zu diesem Konzept vgl. ausführlich Schmidt/Woltersdorff (2008). 29 Vgl. die Beispiele dafür in Alkemeyer (1996: 416–422). 344

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Zwar ist diese Berührungsscheu in der inzwischen auch institutionell etablierten Körpersoziologie30 einem regelrechten Körperboom gewichen und scheint sich damit – parallel zum alltäglichen Körperkult – geradezu in ihr Gegenteil verkehrt zu haben, nach wie vor wird der Körper jedoch selbst in gegenwärtigen, die beobachtbare materielle Seite des Sozialen fokussierenden praxistheoretischen Konzepten überwiegend als eine Art Automat begriffen, der – einmal durch von außen kommende Initialzündungen in Gang gesetzt – vorwiegend eingeschliffene Routinen abspult. Allenfalls an den Rändern der Sozialwissenschaften und in den Kulturwissenschaften gerät er darüber hinaus auch als ein (sozialisiertes) Agens in den Blick, das heißt als Träger, Speicher und Vollzugsmedium eigener Wissens-, Erkenntnis- und Verstehensleistungen, die den Akteuren auch dann ein intelligentes, situationsadäquates Handeln ermöglichen, wenn keine Zeit zum Nachdenken bleibt (vgl. Alkemeyer 2009). Für ein tieferes Verständnis der aktiven Beteiligung von Körper und Leib an sozialen Praktiken sind weitere empirische Studien unentbehrlich. Dabei wäre es sinnvoll, orientierte sich die Wahl der Forschungsfelder an Extremen: Kontrastierend wären dezidiert körperthematische (z.B. Sport) mit scheinbar rein geistigen Sozialbereichen (z.B. Wissenschaft) zu untersuchen, um so Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten hervortreten zu lassen. Der Fluchtpunkt solcher Untersuchungen läge nicht in der weiteren Ausarbeitung einer Soziologie des Körpers, sondern einer Soziologie, die die Rolle von Körper und Leib für die zusammengehörigen Prozesse der Produktion des Sozialen und seiner Subjekte in allen gesellschaftlichen Bereichen theoretisch-empirisch genau beschreibt und auslotet.

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30 In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) existiert seit einigen Jahren eine Sektion »Soziologie des Körpers und des Sports«. 345

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Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung. Leiblich fundierte Mechanismen sozialer Ordnung FRITZ BÖHLE

Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft gehört zum grundlegenden Bestand soziologischer Theorie. Ferdinand Tönnies zielte in seinem einflussreichen Werk mit der Unterscheidung dieser beiden Begriffe vor allem darauf, den sozialen Wandel von der traditionellen zur modernen Gesellschaft zu erfassen. Im weiteren Verlauf wurde »Gesellschaft« zunehmend zum allgemeinen Synonym für soziale Beziehungen, soziale Ordnung und Institutionen. Die Kategorie Gemeinschaft erlangte demgegenüber kaum mehr größere Aufmerksamkeit und wurde auch bei der Untersuchung traditioneller, vormoderner Lebensformen durch den Begriff Gesellschaft ersetzt. Seit Mitte der 1980er Jahre stößt jedoch das Thema Gemeinschaft auf ein neues sozialwissenschaftliches wie auch philosophisches und sozialpolitisches Interesse (vgl. Opielka 2006: 10). Die folgenden Überlegungen knüpfen hieran an, setzen aber einen anderen Akzent: In Anknüpfung an die neuere Diskussion werden Überlegungen vorgestellt, die Vergemeinschaftung als ein substanzielles Element (auch) moderner Gesellschaften begreifen und damit die traditionelle Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft im Sinne einer historisch-evolutionären Entwicklung überwinden. Im Unterschied zum vorherrschenden Verständnis des wiederentdeckten Begriffs wird hier jedoch Vergemeinschaftung nicht auf die Funktion sozialer Integration beschränkt. Zur Diskussion steht, inwiefern Vergemeinschaftung als sozialer Mechanismus sowohl eine soziale (personale) Integration erzeugt als auch politisches, wirtschaftliches und technisch-instrumentelles Handeln reguliert und koordiniert. Eine zentrale Frage ist dabei, ob und wie Vergemeinschaftung auch in großräumigen, über unmittelbar interpersonelle Beziehungen hinausgehenden sozialen Ordnungen möglich ist. 349

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In dieser Perspektive wird im Besonderen geprüft, ob sich mit Vergemeinschaftung soziale Prozesse und Mechanismen erfassen lassen, durch die soziale Ordnungen auf der Grundlage körperlicher Abstimmung generiert und stabilisiert werden. Damit verbindet sich die These, dass soziale Ordnungen auf der Grundlage körperlicher Abstimmung – ebenso wie soziale Normen und Institutionen – eine eigenständige, über das individuelle Handeln hinausgehende soziale Realität darstellen, die durch individuelles Handeln (mit-)erzeugt wird, aber ebenso auch auf dieses einwirkt. In dem vorliegenden Beitrag wird zunächst kurz die traditionelle Gegenüberstellung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung beleuchtet (Abschnitt 1). Daran anschließend folgen einige Anmerkungen zur Wiederentdeckung der Vergemeinschaftung in der neueren Diskussion (Abschnitt 2). Es wird ein Konzept von Vergemeinschaftung als substanzielles Element einer über interpersonelle Beziehungen hinausgehenden sozialen Ordnung auf der Grundlage körperlicher Abstimmung umrissen (Abschnitt 3). Vor diesem Hintergrund wird abschließend vorgeschlagen, Vergemeinschaftung als eine besondere Form der Vergesellschaftung zu begreifen und – anstelle der Gegenüberstellung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung – zwischen einer Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung und einer Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung zu unterscheiden (Abschnitt 4).

1 Gemeinschaft und Gesellschaft – Anmerkungen zur traditionellen Sicht Tönnies (1887/1972) bestimmt Gemeinschaft als einen ursprünglichen sozialen Zusammenhang, ein organisches Gebilde, dessen Zusammenhalt auf dem allen gemeinsamen, unreflektiert-naturhaften Wesenswillen beruht. Demgegenüber zeichnet sich die Gesellschaft durch eine soziale Mechanik aus, die vom vernünftig-rationalen (Kür-)Willen der Individuen bestimmt wird. Weber knüpft hieran an und definiert Vergemeinschaftung als eine soziale Beziehung, die »auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht«. Vergesellschaftung ergibt sich demgegenüber aus »rational (wert- und zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder ebenso motivierter Interessenverbindung« (Weber 1922/1964, S. 29).1 Grundlegend für die moderne Vergesellschaftung sind in der Sicht Webers die vertragliche Regulierung und die formelle Organisation. Ausgangspunkt ist das Individuum, das aus eigener Entscheidung soziale Bindungen eingeht und diese auch wieder auflösen kann. Zugleich aber besteht die soziale Ordnung

1

Siehe zur Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft in der soziologischen Theorie ausführlicher auch John 2008: 15ff.; Opielka 2006: 21ff.

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VERGESELLSCHAFTUNG DURCH VERGEMEINSCHAFTUNG

auch unabhängig von den Individuen, in Gestalt sozialer Normen und Institutionen. Gesellschaft erscheint somit einerseits als willentliches Ergebnis des Handelns autonomer Akteure, andererseits in verselbstständigten Institutionen und Strukturen, die individuelles Handeln bestimmen und beschränken. Mit der Verselbstständigung gesellschaftlicher Normen und Institutionen gegenüber individuellem Handeln, so wie sie sich prototypisch in der bürokratischen Organisation und im Recht zeigt, werden großräumige, über interpersonelle Beziehungen hinausgehende und von konkreten Personen unabhängige soziale Ordnungen konzeptuell fassbar und als für die moderne Gesellschaft typisch ausgewiesen. Hiermit kontrastierend erscheinen Gemeinschaft und Vergemeinschaftung nicht nur als Ergebnis nicht-rationaler und nicht-willentlicher sozialer Beziehungen, sondern auch als personengebunden und auf kleinräumige soziale Beziehungen beschränkt. Prototypisch hierfür sind Familie und Freundschaftsbeziehungen, als Grenzfall auch Vereine. In dieser Sicht liegt es nahe, körperlich-leibliche Interaktionen der Vergemeinschaftung zuzuordnen und sie dementsprechend als bestenfalls marginale Erscheinungsformen sozialer Ordnungen in modernen Gesellschaften zu begreifen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus erscheint Vergemeinschaftung zudem als anti-modern und politisch höchst suspekt. Vergemeinschaftung wird zum Synonym für eine unreflektierte, soziale Einbindung bis hin zur Selbstaufgabe. Demgegenüber zeichnet sich das autonome, rational handelnde Subjekt gerade dadurch aus, dass es der Vergemeinschaftung entrinnt oder zumindest – soweit ihr nicht zu entkommen ist – ihr gegenüber ein distanziertes, reflektiertes Verhältnis entwickelt. Das Prinzip der rationalen Vergesellschaftung macht in dieser Perspektive auch vor kleinräumigen sozialen Beziehungen kaum Halt, womit letztlich die Vergemeinschaftung gänzlich obsolet erscheint.

2 (Wieder-)Entdeckung der Gemeinschaft in modernen Gesellschaften Vor allem im Zusammenhang mit dem Konzept des Kommunitarismus erlangt das Thema Gemeinschaft seit Mitte der 1980er Jahre eine neue Aufmerksamkeit, es wird wiederentdeckt. Ausgangspunkt ist die Frage, wie angesichts der Diagnose einer generellen Individualisierung gesellschaftliche Integration (noch) möglich ist. Diese Fragestellung öffnet einen neuen Blick auf Vergemeinschaftung, fokussiert diesen aber zugleich auf eine bestimmte Funktion: soziale Integration und Solidarität. In Anknüpfung an Parsons entwickelt Opielka (2006) in dieser Perspektive ein neues Verständnis von Gemeinschaft als substanzielles Element moderner Gesellschaften. Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung stehen sich demnach nicht gegenüber, sondern bedingen 351

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sich wechselseitig. Wie Opielka zeigt, bestimmt bereits Parsons Gemeinschaft in diesem Sinn als ein gesellschaftliches Subsystem neben Wirtschaft, Politik und kultureller Legitimation (Opielka 2006: 140f.). Konstituierende Elemente dieses Subsystems sind (nach Parsons) soziale Hilfe, Bildung, Öffentlichkeit und Kunst. Auch Habermas versucht in der Theorie kommunikativen Handelns – so Opielka – in der Kategorie der Lebenswelt die traditionelle Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zu überwinden (ebd.: 311f.). Opielka knüpft an diese Ansätze an, ordnet die Funktion sozialer Integration aber im Unterschied zu Parsons nicht einem speziellen Subsystem zu, sondern sieht sie auch als Leistung anderer Subsysteme, etwa Wirtschaft und Politik. Vergemeinschaftung beschreibt damit eine besondere Form sozialer Integration. Des Weiteren wendet sich Opielka explizit »gegen eine soziologische Tendenz, Gemeinschaft auf Mikrophänomene der unmittelbaren (Lebens-)Welt zu reduzieren«. Demgegenüber soll Vergemeinschaftung »in Wahrnehmung und Sprachgebrauch [...] denselben Respekt erhalten wie das Wirtschaftliche oder das Politische« (Opielka 2006: 480). Es wird allerdings nicht ganz klar, worin das Spezifikum der Gemeinschaftsbildung eigentlich liegt. Bei Parsons beruht Gemeinschaft in Anknüpfung an Weber vor allem auf affektuellen Orientierungen und ist entsprechend gefühlte Gemeinschaft (vgl. auch Staubmann 1995; Bershady 2005). Eine solche affektiv begründete Vergemeinschaftung ist nach Parsons zwar auch in modernen Gesellschaften notwendig, aber gegen die rationale Vergesellschaftung in den Subsystemen Wirtschaft und Politik abzugrenzen; sie ergänzt diese durch besondere soziale Arrangements wie Familie oder Kunst. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung schließen sich demnach nicht aus, sind aber auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche konzentriert und wechselseitig gegeneinander abgegrenzt. Demgegenüber plädiert Opielka einerseits für eine Ausweitung der Vergemeinschaftung auch auf andere gesellschaftliche Subsysteme und andererseits für eine »reflexionstheoretische Sicht der Gemeinschaftsbildung durch kommunikatives Handeln. Die affektive Komponente soll damit nicht geopfert, sehr wohl aber erweitert werden« (Opielka 2006: 483). »Gemeinschaft ist damit nicht nur Terrain des Affektiven, sondern der gesellschaftliche Handlungsraum des expressiven Individualismus, von Sprache und Kunst, des kommunikativen Selbstausdrucks des modernen Menschen« (ebd.: 484). Bei aller Sympathie für solche konzeptuellen Erweiterungen scheint sich damit aber die Besonderheit der Vergemeinschaftung eher zu verwischen – zumindest wird sie nicht klarer. Im Folgenden sei an diese Diskussion angeknüpft, aber dabei ein anderer Akzent gesetzt: Ausgangspunkt ist nicht die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt (Solidarität), sondern die Frage, wie soziale Ordnung jenseits institutionell-normativer Regulierungen entstehen kann. In dieser Weise wird auch in der aktuellen sozialtheoretischen Diskussion Solidarität als ein sozialer Abstimmungsmechanismus neben Markt und Herrschaft ausgewiesen (vgl. 352

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Weihrich 2007: 60f.; Huchler et al. 2007: 81f.). Allerdings liegt auch hier der Schwerpunkt auf der sozialen Dimension, im Sinne der Abstimmung unterschiedlicher Interessen und Orientierungen der Akteure. Die Frage, wie im Rahmen kollektiven Handelns individuelles Handeln zur gemeinsamen Bewältigung von Problemen sachlich und zeitlich koordiniert und reguliert wird, gerät dabei bestenfalls implizit in den Blick. Gleiches gilt für die körperlich-leibliche Verfassung der Akteure als Grundlage sozialen Handelns.2 Demgegenüber stellt sich für uns in Anknüpfung an die vorangegangenen Beiträge in diesem Band die Frage, inwiefern Vergemeinschaftung eine Form der sozialen wie auch sachlichen und zeitlichen Koordinierung ist und in besonderer Weise auf körperlich vermitteltem sozialem Handeln beruht.

3 Soziale Ordnung durch Vergemeinschaftung – Umrisse eines Konzepts Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein Verständnis von Gemeinschaft als eine »subjektiv gefühlte [...] Zusammengehörigkeit der Beteiligten« (Weber 1922/1964: 29). Wir knüpfen damit an die Definition Webers an, übernehmen aber nicht dessen Verständnis von Gefühl im Sinne affektiver Orientierung. In Anknüpfung an die Konzepte des subjektivierenden Handelns und der erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Kooperation3 bezieht sich in unserem Verständnis »subjektiv gefühlt« nicht nur auf die emotionale Befindlichkeit, sondern steht in engem Zusammenhang mit einem empfindenden sinnlichkörperlichen Wahrnehmen und Begreifen der Welt. Das unterscheidet sich von 2

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In der Untersuchung von Huchler, Voß und Weihrich wird neben Markt, Herrschaft und Solidarität auch Subjektivität als ein zentraler Abstimmungsmechanismus betrachtet. Damit wird dem »rationalen Aktor [...] ein komplexeres (und empirisch plausibleres) Modell des Handelns zur Seite gestellt« (Huchler et al. 2007: 94). Im Unterschied zum idealistischen und kognitivistischen Konzept des Subjekts als bewusst und zielgerichteter handelnder Akteur bezieht sich das von ihnen zugrunde gelegte Konzept allerdings darauf, »dass Subjektivität zuerst und dominant Tätigkeit ist, oder (um einen anderen traditionsreichen Begriff zu verwenden) Praxis – gerade auch, wenn dies nur begrenzt reflektiert oder (wenn überhaupt) zweckrational kalkuliert ist. Das Subjekt, von dem hier die Rede ist, ist nicht vollständig determiniert von seiner Umwelt, es ist aber auch nicht seine hervorstechende Eigenschaft, kognitive Entscheidungen zu treffen« (ebd.: 100). Dieser Rekurs auf unterschiedliche Konzepte von Subjektivität scheint uns für die Identifizierung und Analyse unterschiedlicher Mechanismen sozialer Abstimmung (im weiteren Sinne) produktiv und weiterführend. Die Frage, wie das von Huchler, Voß und Weihrich umrissene Konzept von Subjektivität mit dem im Folgenden umrissenen Konzept der Vergemeinschaftung korrespondiert, muss allerdings weiteren Klärungen und Diskussionen vorbehalten bleiben. Siehe hierzu Böhle 2009a sowie die Beiträge von Stephanie Porschen und Sabine Pfeiffer in diesem Band. 353

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der in modernen Gesellschaften etablierten Trennung zwischen der Erkenntnis der »Außenwelt« durch verstandesmäßig geleitete sinnliche Wahrnehmung und rationale Analyse einerseits und dem auf die »Innenwelt« des subjektiven Erlebens gerichteten gefühlsmäßig-sinnlichen Wahrnehmen und Empfinden andererseits. Im Konzept des subjektivierenden Handelns richtet sich vielmehr die gefühlsgeleitete, empfindende sinnlich-körperliche Wahrnehmung (auch) auf die Erkenntnis der »Außenwelt«. Ein solches Verständnis sinnlich-körperlicher Wahrnehmung wird vor allem durch das Konzept der leiblichen Kommunikation theoretisch fundiert, das der Philosoph Hermann Schmitz entwickelt hat (Schmitz 1978, 1994; Böhle/Fross 2009).4 Prozesse körperlicher Abstimmung beruhen demnach wesentlich auf einer gefühlsgeleiteten, empfindenden Wahrnehmung. Das damit verbundene gefühlsgeleitete Handeln wird zwar nicht durch verstandesmäßig-rationale Reflexion geleitet, ist aber keineswegs per se prä-reflexiv.5 Es liegt vielmehr »zwischen« diesen herkömmlichen Kategorisierungen. Es zeichnet sich durch eine eigenständige Bewusstheit6 und Reflexion mittels Metaphern, Bildern und praktischem Handeln aus.7 Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses von in körperlich-leibliche Interaktionen eingebundenen gefühlsgeleiteten Handlungsorientierungen sei im Folgenden versucht, Elemente der Vergemeinschaftung näher zu bestimmen. Wir greifen dabei die in der Untersuchung von Tönnies genannten Merkmale der Vergemeinschaftung auf, lösen diese aber von ihrer empirisch-historischen und strukturellen Zuordnung zu traditionellen Gesellschaften und schlagen vor, sie als allgemeine Kategorien zu (re-)formulieren und weiterzuentwickeln.

3.1 Gemeinsamkeit und Verbundenheit als Ausgangspunkt In den traditionell vorherrschenden Konzepten der Vergesellschaftung ist der Ausgangspunkt das von sozialen Einbindungen losgelöste Individuum. Individuum und Gesellschaft stehen sich in dieser Sicht gegenüber. Aus der Perspektive der Gesellschaft geht es dabei vor allem um die gesellschaftliche Einbindung des Menschen durch Sozialisation, Kontrolle und Zivilisierung. Aus der Perspektive des Individuums geht es umgekehrt um soziale Integration ebenso wie um die Zurückweisung gesellschaftlicher Zumutungen und Beschränkungen. 4 5 6

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Siehe hierzu auch den Beitrag von Robert Gugutzer in diesem Band. Siehe hierzu und zur Abgrenzung zu anderen Konzepten der körperlichen Fundierung sozialen Handelns ausführlicher Böhle 2009a. Typisch für diese Bewusstheit ist die Fähigkeit, wahrzunehmen und sich bewusst darüber zu werden, dass man etwas empfindet und wie man etwas empfindet. Siehe die Überlegungen zum Austausch impliziten, nur begrenzt artikulierbaren Wissens in der Untersuchung von Porschen 2008.

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Demgegenüber rekurriert das Konzept der Vergemeinschaftung auf eine immer schon vorhandene und vorausgesetzte soziale Gemeinsamkeit und Verbundenheit. Ausgangspunkt ist nicht das isolierte Individuum, sondern der grundsätzlich in soziale Beziehung eingebundene Mensch. Tönnies beschreibt dies unter anderem am Verhältnis zwischen Mutter und Kind. »Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt; die Tatsache, daß menschliche Willen, insofern als jeder einer leiblichen Konstitution entspricht, durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden sind und bleiben, oder notwendiger Weise werden« (Tönnies 1887/1972: 8). In der modernen Sozialtheorie findet sich eine solche Sicht auf das Soziale bei Charles Taylor. Sie wird argumentativ durch die kritische Reflexion über das Konzept des in modernen Gesellschaften entstandenen, von sozialen Einbindungen befreiten »autonomen Individuums« begründet. Taylor zeigt, dass es sich bei diesem Konzept nicht um einen anthropologisch verbürgten Tatbestand, sondern um eine besondere kulturelle Deutung und eine hiermit korrespondierende gesellschaftliche Praxis handelt. Dem Begriff des freien Subjekts entspricht demnach eine Auffassung, »wonach die Gesellschaft von freien Individuen gebildet wird und durch deren Konsens zustande kommt, woraus sich folgerecht die Vorstellung ergibt, die Gesellschaft bestehe aus Trägern individueller Rechte. Das ist vielleicht eines der am tiefsten eingebürgerten Gesellschaftsbilder, die von der neuzeitlichen Zivilisation hervorgebracht sind. Es beginnt im 17. Jahrhundert mit den berühmten Theorien des Gesellschaftsvertrags, entwickelt sich dann aber weiter und wandelt sich, bis es heute unter anderem auf zwischenmenschlicher Ebene und in einer vielleicht heruntergekommenen Form in der modernen Form einer LiebesBeziehung zwischen zwei unabhängigen Wesen wieder in Erscheinung tritt« (Taylor 1994: 202f.).8 Honneth interpretiert die Position Taylors dahingehend, dass den »geltungsmächtigsten Traditionen der neuzeitlichen Ethik ein falsches Konzept der menschlichen Person zugrunde liegt; in die kategorischen Prämissen, die die Vertragstheorien, der Utilitarismus und der Kantianismus voraussetzen, ist die atomistische Illusion vereinzelter, aus allen gesellschaftlichen Bedingungen herausgelöster Individuen eingelassen« (Honneth 1992: 310). Demgegenüber entwirft Taylor ein Konzept, nach dem menschliche Subjekte »nicht kategorial als vor-vergesellschaftlichte Wesen aufgefasst werden [...] dürfen; vielmehr stellt der intersubjektive Rahmen derjenigen sozialen Gemeinschaft, innerhalb deren eine Person aufwächst, selber einen Zusammenhang dar, dessen Erhaltungsbedingungen jede ethische Theorie konzeptuell sichern muss« (ebd.: 311). Honneth bezieht sich dabei auf die Feststellung Taylors, dass menschliche Subjekte nur auf dem Weg sprachlicher Interaktionen ihre Interessen artikulieren können und dementsprechend allein 8

Siehe hierzu und zum Folgenden auch die Darstellung bei Breuer 2000. 355

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in kommunikativen Beziehungen eine personale Identität aufbauen können. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, ließen sich aber gerade auch in Bezug auf die körperlich-leibliche Existenz des Menschen zentrale Grundlagen einer immer schon vorhandenen und vorausgesetzten Gemeinsamkeit sowohl in der Wahrnehmung der Welt als auch in der wechselseitigen Verständigung ausmachen.9 Unsere These ist: Die körperliche Verfasstheit und Gebundenheit menschlicher Existenz ist Grundlage einer immer schon vorhandenen und letztlich nicht eliminierbaren sozialen Beziehung. Sie ist somit immer auch ein – allerdings meist verborgenes – Element rationaler Vergesellschaftung. Ebenso kann sie jedoch in besonderer Weise entwickelt und gestaltet werden. Vergemeinschaftung – so die These – bezieht sich auf diese Grundlage und nutzt die in ihr angelegten Potenziale zur Gestaltung sozialer Ordnung.

3.2 Gemeinsames (Ein-)Verständnis Tönnies bestimmt als ein konstitutives Element der Gemeinschaft eine »verbindende Gesinnung«, die er als »Verständnis« begreift. Er sieht hierin eine besondere »soziale Kraft und Sympathie, die Menschen als Glieder eines Ganzen zusammenhält« (Tönnies 1887/1972: 20). Grundlegend für ein solches Verständnis ist eine »intime Kenntnis voneinander«, die umso wahrscheinlicher ist, je größer »die Ähnlichkeit der Konstitution und Erfahrung oder je mehr Naturell, Charakter, Denkungsart von gleicher und zusammenstimmender Art sind« (ebd.). In besonderer Weise zeigt sich dies, nach Tönnies, in der gemeinsamen Sprache. Er sieht dabei Sprache jedoch nicht primär als ein Medium zur objektiven Beschreibung der Welt und zur rationalen Verständigung im Sinne kommunikativer Rationalität (Habermas). Tönnies gilt Sprache als ein »in Gebärden und Lauten sich mitteilender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust, Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemütserregungen« (ebd.). Tönnies verweist hiermit auf die prinzipielle Möglichkeit, subjektives Erleben, Gefühle und Empfindungen nicht nur auszudrücken, sondern auch zu kommunizieren und sich hierüber zu verständigen. Wir werden hierauf unten (Abschnitt 3.4) nochmals näher eingehen. Hier sei zunächst ein Element des von Tönnies genannten gemeinsamen »Verständnisses« in den Blick gerückt, das unseres Erachtens eine große Nähe zu »implizitem Wissen« aufweist. Der Begriff des impliziten Wissens geht auf Polanyi (1985) zurück und beschreibt ein Wissen, das sprachlich nicht beschrieben und expliziert werden kann. (»Sprache« bezieht sich in dieser Definition allerdings auf eine begriffliche, ob-

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Siehe hierzu insbesondere den zweiten Beitrag von Stephanie Stadelbacher in diesem Band sowie zur leiblichen Kommunikation: Böhle/Fross 2009.

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jektivierende und rational nachvollziehbare Beschreibung.) Tönnies’ Blick richtet sich auf ein jenseits objektivierender Beschreibung und Kommunikation liegendes implizites, gemeinsames Verständnis. In den Untersuchungen zu subjektivierendem Handeln und erfahrungsgeleitet-subjektivierender Kooperation (s.o.) spielt eine solche wechselseitige Verständigung auf der Grundlage eines gemeinsamen Erfahrungswissens eine zentrale Rolle.10 Eine wichtige Grundlage hierfür sind gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse. Hierdurch wird es beispielsweise möglich, dass sich die sprachliche Kommunikation auf Andeutungen und unvollständige Sätze beschränkt, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Die Besonderheit eines solchen gemeinsamen Erfahrungswissens besteht darin, dass damit Sachverhalte erfasst werden, die sich der objektivierenden begrifflichen Beschreibung weitgehend entziehen. In der soziologischen Theorie kann hier an ethnomethodologische Ansätze angeknüpft werden (vgl. Weingarten et al. 1979). Diese lenken bekanntlich die Aufmerksamkeit auf mehr oder weniger unbewusst ablaufende Alltagshandlungen und das mit ihnen verbundene (Alltags-)Wissen. Vor allem Garfinkel hat deutlich gemacht, in welcher Weise das alltägliche Handeln auf Hintergrundannahmen und Normalitätsvorstellungen beruht, die im Normalfall nicht explizit werden und auch kaum bewusst sind (Garfinkel 1967).11 Wichtig für unsere Betrachtung ist, dass in der Perspektive ethnomethodologischer Forschungsansätze die Regulierung sozialen Handelns nicht durch soziale Normen und Institutionen, sondern in erster Linie durch gemeinsam geteiltes Wissen über die Welt und deren Interpretation erfolgt (vgl. Knorr-Cetina 1981: 2ff.). Für den Ethnomethodologen ist »das Individuum ein kompetent Handelnder, dem es möglich ist, in den alltäglichen Handlungssituationen seine Wissenssysteme reflexiv, methodisch und situationsbezogen zu gebrauchen« (Weingarten/Sack 1979: 20). Man könnte hierin einen Widerspruch zu den von Garfinkel aufgedeckten »unbewussten« Normalitätsannahmen sehen. Doch scheint hier gerade der Begriff des impliziten Wissens weiterzuführen. Adato spricht beispielsweise bei seiner Analyse des Abschiednehmens davon, dass der Handelnde dies nicht einfach so durchführt, »als gäbe es nur eine Möglichkeit [...], sondern er tut es in Einklang mit seinem gesamten impliziten Wissen, das in der infrage stehenden Situation relevant ist«. Er charakterisiert dieses implizite Wissen mit der Feststellung: »[...] dieser Wissensvorrat ist sicherlich nicht etwas, was der Handelnde in besonderer Deutlichkeit er10 Siehe hierzu ausführlicher auch die Ausführungen zur empraktischen Kommunikation bei Porschen 2008: 206 sowie zur Verständigung auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen bei Böhle/Bolte 2002: 173. 11 Hinzuweisen ist hier vor allem auf Experimente, in denen Garfinkel eingespielte Selbstverständlichkeiten in sozialen Interaktionsprozessen in Frage stellt und damit (erst) die ihnen zu Grunde liegenden impliziten Normalitätsvorstellungen aufdeckt. 357

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fährt oder versteht, während er die Handlung durchführt. Dieses Wissen bleibt implizit und vage, zumindest innerhalb der zeitlichen Sphäre einer gewöhnlichen und im Moment durchlebten Erfahrung« (Adato 1979: 185). In den ethnomethodologischen Untersuchungen finden sich jedoch kaum intensivere Bemühungen, implizites Wissen als eine spezifische Wissensform genauer zu bestimmen. Knüpft man hier jedoch an das Konzept des impliziten Wissens bei Polanyi (1985) oder an das Konzept des auf subjektivierendem Handeln beruhenden Erfahrungswissens12 an, so ergibt sich eine bemerkenswerte Verbindung zur körperlichen Abstimmung als Grundlage sozialer Ordnung. In diesen Konzepten wird dem objektivierbaren und explizierbaren Wissen ein Wissen gegenübergestellt, das nicht nur im praktischen Handeln erworben wird, sondern auch auf einem besonderen körperlich-leiblichen Zugang zur Welt beruht und in diesen eingebunden ist. In dieser Perspektive ergibt sich auch eine Anknüpfung an das Konzept des Habitus von Bourdieu, das in besonderer Weise die Inkorporation gesellschaftlicher Deutungen von Wirklichkeit betont.13

3.3 Gegenstandsbezug Als ein weiteres Element der Vergemeinschaftung benennt Tönnies den »Besitz und Genuss gemeinsamer Güter«, wie er sich in agrarischen Lebensformen in der »dauernden Beziehung auf Acker und Haus« zeigt (Tönnies 1887/ 1972: 23). Dies lässt sich unseres Erachtens als ein Hinweis auf die Rolle materieller Artefakte für die Konstitution sozialer Ordnung lesen.14 Wie schon im vorangehenden Abschnitt geht es uns auch hier nicht um eine Exegese der Ausführungen von Tönnies. Wir nutzen die von Tönnies genannten Elemente der Gemeinschaft als Anlass und Anregung, Überlegungen, die sich aus unseren Untersuchungen zu subjektivierendem Handeln (und aus weiteren Beiträgen in diesem Band) im Hinblick auf die Entstehung sozialer Ordnung ergeben, weiter auszuarbeiten. In dieser Perspektive wird im Folgenden auch die bekannte Unterscheidung von Wesenswille und Kürwille aufgegriffen. Mit der Unterscheidung von Wesenswille und Kürwille bezieht sich Tönnies auf Triebkräfte menschlichen Handelns. Dabei resultiert der Wesenswille vor allem aus den jeweils individuellen Anlagen. Er ist somit als »ein angeborener und ererbter zu verstehen, welcher jedoch [...] zugleich in der Besonderheit umgebender Umstände, welche auf ihn wirken, die Prinzipien hat, aus 12 Speziell zur Verbindung von subjektivierendem Handeln und Erfahrungswissen Böhle 2009b und Böhle et al. 2004. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Alkemeyer et al. in diesem Band. 14 Siehe hierzu auch die Beiträge von Sabine Pfeiffer und Stephanie Porschen in diesem Band. 358

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denen er, als ein neuer und differenter, wenigstens in gewisse Modifikationen sich zu entfalten vermag« (Tönnies 1887/1972: 89). Tönnies bezieht den Wesenswillen explizit auf die körperlich-leibliche Verfassung des Menschen. »Seine Ausbildung entspricht jeder Phase der leiblichen Entwicklung; so viel Kraft und Einheit als im Organismus ist, so viel Kraft und Einheit ist in ihm. Wie jener in seinem Werden als ein Selbst-Tätiger verstanden werden muss, so die Entstehung des Wesenswillens« (ebd.). Der Verdacht liegt nahe, dass hier die menschliche Entwicklung als durch biologische Anlagen determiniert gesehen wird. Doch verweist Tönnies nicht nur auf äußere Einflüsse, sondern beschreibt den Wesenswillen als einen »künstlerischen Geist« und betont: »[...] er bildet sich selber aus, mit neuen Inhalten sich erfüllend, und gestaltet diesen in neuen Formen« (ebd.: 142). Im Unterschied zum Determinismus handelt es sich hier somit eher um (Entwicklungs-)Potenziale und eine sich aus der »Natur der Dinge« ergebende Dynamik als um eine »von außen« bewirkte Veränderung und Entwicklung. Unter Bezug auf Letzteres charakterisiert Tönnies dann den vom Wesenswillen unterschiedenen Kürwillen durch ein Verhältnis des Menschen, bei dem dieser der »Natur gegenübersteht« und »versucht, die Natur zu beherrschen und mehr als das Gegebene von ihr zu empfangen« (ebd.: 132). Obwohl Tönnies unter Natur hier primär die menschliche Natur versteht, lässt sich das Konzept des Wesenswillens unseres Erachtens auch auf den Umgang mit Gegenständlichem anwenden. Gegenstände eignen sich in besonderer Weise für gemeinsame körperlichsinnliche Erfahrungen und können als ein strukturierendes Element sozialer Beziehungen und Interaktionen wirksam werden. In der herkömmlichen Betrachtung wird dies – wenn überhaupt – primär unter dem Aspekt der materiellen Beschränkung sozialen Handelns oder der bewussten (Um-)Gestaltung und Nutzung materieller Gegebenheiten zur Flankierung sozialer Ordnung gesehen. In der hier umrissenen Perspektive erscheinen gemeinsame Gegenstände demgegenüber als Fokus, auf den sich soziale Prozesse beziehen und aus dem sich eigenständige Impulse für soziale Prozesse ergeben. In Anknüpfung an die vorgelegten Ausführungen zum Wesenswillen bei Tönnies wäre es allerdings unzureichend, die Wirkungsweise von Gegenständen als determiniert oder umgekehrt als beliebig sozial definierbar und gestaltbar zu begreifen. Vielmehr vollzieht sich die Strukturierung sozialer Ordnung über den gemeinsamen Bezug auf Gegenstände dadurch, dass sich aus den Gegenständen eine Aufforderung, Anregung und Eröffnung von Möglichkeitsräumen für soziales Handeln ergibt. Eine solche Sicht auf materielle Artefakte findet sich beispielsweise im Konzept der erfahrungsgeleitet-informellen Kooperation. Materielle Artefakte erscheinen hier als eigenständiger Quasi-Akteur, der in die wechselseitige Verständigung einbezogen wird. Kommunikation und Kooperation erfolgen anhand und mit Hilfe von Gegenständen. Gegenstände dienen (neben verbalen Mitteilungen) zur Kommunikation, indem sie durch Betrach359

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tung wie auch gemeinsames Erkunden »zum Sprechen« gebracht werden.15 Auch in der Actor Network Theory (Latour 1988) und hieran anknüpfend in techniksoziologischen Untersuchungen (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) erscheinen technische Artefakte nicht nur als passive Objekte, die genutzt und manipuliert werden, sondern als Quasi-Akteure in sozio-technischen Systemen. Sabine Pfeiffer hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass hierbei zu unterscheiden ist zwischen der Akteurs-Qualität technischer Systeme, die sich aus deren technischer Konstruktion ergibt, indem technische Artefakte bestimmte Aufgaben übernehmen – so wie dies in der Perspektive der Actor Network Theory der Fall ist –, einerseits und einer Akteurs-Qualität, die sich primär aus den Grenzen der Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit technischer Artefakte ergibt – so wie dies in der Perspektive des subjektivierenden Handelns konzipiert wird –, andererseits (vgl. Pfeiffer 2008). Unsere Überlegungen knüpfen an Letzteres an. Ein solcher Bezug auf Gegenstände lässt sich auch auf immaterielle Vergegenständlichungen anwenden. In dieser Perspektive lässt sich beispielsweise die soziale Abstimmung, wie sie bei der freien Improvisation in der Musik auftritt,16 als ein Prozess beschreiben, in dem die gemeinsam erzeugte Musik im Prozess des Musizierens auf die Akteure zurückwirkt und deren weiteres Spiel beeinflusst. Es erfolgt also nicht allein eine Orientierung am jeweiligen Spiel der anderen, sondern vor allem an dem durch das gemeinsame Spielen entstehenden »Produkt«. Auch hier ist wesentlich, dass die in dem »gemeinsamen Gegenstand« liegende Dynamik und die sich hieraus ergebenden Aufforderungen und Anregungen wahrgenommen werden – im Unterschied zu einer »von außen« an den Gegenstand herangetragenen Zielsetzung und Intention, wie sie das herkömmliche Verständnis vom Umgang mit Objekten prägt.

3.4 Rituale und Symbole Tönnies geht in seiner Untersuchung zur Vergemeinschaftung auf die Rolle von Kunst, Symbolen und Religion nur am Rande ein.17 Die hierin zum Ausdruck kommenden Formen sozialer Kommunikation und Interaktion sind unseres Erachtens jedoch speziell unter Bezug auf körperliche Praktiken für Prozesse der Vergemeinschaftung von zentraler Bedeutung. Es sei versucht, dies näher auszuführen. In den Untersuchungen des Collège de Sociologie gingen Georges Bataille und andere der Frage nach, in welcher Weise soziale Beziehungen zuwege ge15 Siehe die Beiträge von Stephanie Porschen und Sabine Pfeiffer in diesem Band. 16 Siehe den Beitrag von Silvana Figueroa-Dreher in diesem Band. 17 Etwas ausführlicher wird Religion nur im Ausblick behandelt (Tönnies 1887/ 1972: 242f.). 360

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bracht werden, die jenseits der rationalen Vergesellschaftung liegen, wie sie auf der Grundlage von Verträgen und Übereinkünften zustande kommt. Sie betrachten in dieser Perspektive Rituale, Feste und Spiele und sehen deren Besonderheit darin, dass »das soziale Band [...] sich nicht auf rational getroffenen Übereinkünften oder gemeinsam geteilten Interessen [...] gründet [...], sondern auf affektiven, imaginären oder symbolischen Wahrnehmungsformen gemeinsamen Erlebens [...]« (Moebius 2006: 141). Durch die Betonung von »emotionalen Bindungen und affektiven Erfahrungen des Sozialen« (ebd.: 153) ergibt sich eine deutliche Nähe zu der Charakterisierung der handlungstheoretischen Grundlagen der Vergemeinschaftung, wie sie oben mit Bezug auf Max Weber umrissen wurden. Die Körperlichkeit sozialen Handelns wird dabei nur indirekt und vermittelt über »affektive, imaginäre oder symbolische Wahrnehmungsformen« bzw. über die auf praktisches Tun verwiesenen Rituale, Feste und Spiele thematisiert. Erweitert man diesen Bezug auf die Körperlichkeit jedoch um die Dimension des leiblichen Spürens und leiblicher Kommunikation, erweisen sich die vom Collège de Sociologie in den Blick gerückten Rituale, Feste und Spiele als genuin körperlich-leiblich fundierte Gestaltungselemente sozialer Ordnung. Damit verbindet sich die These, dass sich Rituale, Feste und Spiele in besonderer Weise dafür eignen, gemeinsame Erfahrungsräume herzustellen und gemeinsame Erfahrungen zu vermitteln.18 Einen besonderen Ausdruck erfährt dies in symbolischen Handlungen und Darstellungen. In der hier umrissenen Perspektive liegen deren Wirkungsmöglichkeiten in der Erzeugung kollektiver gefühlsmäßiger Wahrnehmungen und Deutungen von Wirklichkeit. Damit werden – wie bereits anhand des gemeinsamen Bezugs auf Gegenstände veranschaulicht – körperlich-leiblich fundierte soziale Ordnungen möglich, die über den Horizont unmittelbarer face-to-face-Beziehungen hinausgehen. Ähnlich wie in den Untersuchungen des Collège de Sociologie hat der französische Soziologe Michel Maffesoli die soziale Dimension des Gefühlsmäßigen und Sinnlich-Ästhetischen explizit unter Bezug auf Prozesse der Vergemeinschaftung thematisiert.19 In Anknüpfung an Durkheims Analyse traditioneller religiöser Riten und Handlungen als Medien zur Erzeugung kollektiver Vorstellungen und Geisteshaltungen deutet Maffesoli in modernen Gesellschaften rauschhafte Kollektivveranstaltungen, von Fußballspielen, Festen, Rockkonzerten und Ähnlichem bis hin zu sexuellen Praktiken, als Prozess einer sich »aus den geteilten Gefühlen bildenden Solidarität« (Keller 2006: 29). Maffesoli sieht hier einen neuen Modus der Vergesellschaftung in postmodernen Gesellschaften, wobei das Sinnlich-Ästhetische einerseits dem Rationalen und Diskursiven gegenübergestellt, andererseits aber zugleich von der Möglichkeit einer Zweckbindung und dem Anspruch auf Zweckhaftes 18 Siehe hierzu auch den Beitrag von Alkemeyer in diesem Band. 19 Siehe ausführlicher zu den Untersuchungen von Maffesoli die sehr informative Darstellung bei Keller 2006. 361

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weitgehend entbunden wird. So betont Maffesoli explizit das Zwecklose und Nutzlose der von ihm beschriebenen kollektiven Praktiken und sieht hierin zugleich eine gewisse Widerständigkeit gegenüber der Vorherrschaft der instrumentellen Rationalität. Gleichwohl erkennt Maffesoli eine soziale Funktion solcher »nicht-rationaler Momente des Daseins und der Gesellungsformen« darin, »trotz und unterhalb der entfremdeten Mechanismen die Vitalität des Sozialen, den Fortbestand sozialer Zusammenhänge« sicherzustellen (Keller 2006: 36). Dass dem Sinnlich-Ästhetischen in modernen Gesellschaften Zwecklosigkeit zugesprochen wird, ist insofern konsequent, als im Kontext rationaler Vergesellschaftung Kunst und Ästhetik weitgehend aus der Herstellung sozialer Ordnung entbunden sind.20 Im Kontext der Vergemeinschaftung jedoch – so unsere These – wird das Sinnlich-Ästhetische zu einer zentralen Grundlage gesellschaftlicher Kommunikation und Koordination. Im Unterschied zur Sprache stützt es sich nicht auf diskursive, sondern primär auf präsentative Symbole. Wir beziehen uns hier insbesondere auf die Untersuchungen von Susanne Langer (1965). Langer zeigt, dass sich die Fähigkeit des Menschen zu symbolischer Objektivation nicht auf die Sprache beschränkt, sondern sich auch in Ritualen und vor allem in der Kunst zeigt. Sie erweitert damit den Begriff des Rationalen über das Begrifflich-Logische hinaus und verweist auf die Möglichkeit einer »nicht-diskursiven Objektivierung«. Dieses Verständnis des Sinnlich-Ästhetischen wird auch durch neuere Untersuchungen zu einer »Logik des Bildlichen« fundiert. Im Kontext dieser Untersuchungen findet sich die Feststellung: »Bilder und Visualisierungen als eine Weise des Denkens zu betrachten« stellt »schon längst keine Provokation mehr dar« (Heßler/Mersch 2009: 7).21 »Bilder formen, ordnen und erzeugen Wissen, und sie kommunizieren es zugleich« (ebd.: 11). In der Sicht dieser Untersuchungen wird die »Opposition zwischen der Rationalität des Diskurses und der Irrationalität des Ikonischen« oder allgemein zwischen »Aisthesis und Logos oder Sinnlichkeit und Verstand« aufgehoben (ebd.: 14). Entscheidend ist hierfür die Auffassung, dass sich das »Ästhetische [...] nicht mehr auf einen Begriff des Schönen reduzieren [lasse], sondern [...] weit mehr mit einer sinnlichen Erkenntnis zu tun« habe (Geimer 2002: 8).

20 Ihre Einbindung in die Vergesellschaftung erscheint dementsprechend – wenn überhaupt – nur möglich durch ihre Rationalisierung und/oder ihre ökonomische und politische Instrumentalisierung. 21 Bemerkenswert ist dabei allerdings die Feststellung der Autoren, dass diese Anerkennung der Logik des Bildlichen gerade in den Humanwissenschaften noch nicht voll umgesetzt ist: »[...] während also Geisteswissenschaftler noch an der Erkenntniskraft von Bildern zweifeln und sich sträuben, ihnen eine eigene Logik zuzugestehen, sind sie in den Natur- und Ingenieurwissenschaften schon längst konstitutiver Teil des Erkenntnisprozesses« (ebd.). 362

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3.5 Soziale Einbindung – Entindividualisierung und Autonomie Die Instrumentalisierung und Pervertierung der Vergemeinschaftung im Nationalsozialismus setzt sie allzu leicht mit dem Verlust personaler Autonomie und Individualität gleich und verweist sie umstandslos ins Reich des Bewusstlosen, Dunklen und Dumpfen menschlicher Existenz. Der Philosoph Hermann Schmitz wagt demgegenüber den Versuch, das der Vergemeinschaftung zugrunde liegende »Kollektivbewusstsein« nicht nur als platte Negation des Rational-Diskursiven, sondern auch als dessen Ergänzung zu bestimmen.22 Seiner Analyse zufolge trifft die im Nationalsozialismus in Gang gesetzte Vergemeinschaftung auf ein im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung und Rationalisierung ins Untergeschoss verdrängtes soziales Bedürfnis und zugleich notwendiges Element der Vergesellschaftung.23 Schmitz versucht so der Gefahr entgegenzuwirken, konkrete gesellschaftliche Erscheinungsformen der Vergemeinschaftung mit ihren grundlegenden Prinzipien und Potenzialen gleichzusetzen.24 Er bietet demgegenüber eine konzeptuelle Grundlage an, in deren Rahmen die Erzeugung gemeinsamer Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen weder zwangsläufig an ideologische Gleichschaltung und Blutund-Boden-Metaphorik noch an »orgiastische Ausbrüche« aus der Alltagswelt (Maffesoli) gebunden ist. Sein Ausgangspunkt ist das Konzept der »implantierenden Situation«. Dieses Konzept kann hier nicht weiter ausgebreitet werden, so dass einige Hinweise genügen sollen. Der Begriff der Situation knüpft an das Konzept der »vielsagenden Eindrücke« an. Diese beruhen auf 22 Siehe zu einer differenzierten Analyse des Prinzips der Vergemeinschaftung in dieser Perspektive am Beispiel des Nationalsozialismus vor allem auch die Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Interpretationen bei Alkemeyer 1996, insbesondere Kapitel 6.3 zur Kritik einiger Betrachtungsweisen der Masseninszenierung. 23 Ihre Nutzung zur Verführung und Verblendung im Nationalsozialismus beruht nach Schmitz auf der pauschalen Diffamierung des Rationalismus und der Verfolgung des Judentums sowohl zur Erzeugung eines äußeren Feindes als auch zur Personifizierung all jener Elemente gesellschaftlicher Modernisierung und Rationalisierung, gegenüber denen sich die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft abgrenzt. Schmitz sieht dementsprechend Parallelen zwischen Hitler und der Kulturkritik von Klages, die bekanntlich den »Geist« in Gestalt des westlichen Rationalismus umstandslos als »Widersacher der Seele« und Ursache menschlicher Zerstörung diskreditiert (vgl. Schmitz 1999: 80f., 293). 24 Dieses Problem gibt es auch bei Tönnies, der Prinzipien der Vergemeinschaftung anhand traditioneller, agrarisch strukturierter Gesellschaften bestimmt. Auch Maffesoli bezieht seine Analysen auf konkrete Erscheinungsformen der Vergemeinschaftung in modernen Gesellschaften und bemüht sich kaum um eine allgemeine Bestimmung, die auch für Entwicklungspotenziale, Alternativen usw. offen wäre. Durch eine eingehende Lektüre der Untersuchungen von Maffesoli wäre diese Einschätzung allerdings nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. 363

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leiblichem Spüren und leiblicher Kommunikation und beziehen sich auf Eigenschaften und Bedeutungen konkreter Sachverhalte, die sich nicht in isolierte, präzis bestimmbare Elemente auflösen lassen. Die so entstehenden »impressiven Impressionen« sind dementsprechend das, »was vor aller Reflektion von vornherein in erster Linie wahrgenommen wird; sie sind [...] die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung« (Schmitz 1999: 21). Ein wesentliches Element ist die »Binnendiffusion« oder auch »chaotische Mannigfaltigkeit«. Sie bezieht sich auf die »ganzheitliche Bedeutsamkeit« im Unterschied zur Bedeutung einzelner Elemente. In einer weiteren Differenzierung unterscheidet Schmitz gemeinsame und persönliche Situationen. Letztere rekurrieren auf das Subjektive, das im vorherrschenden Denken als »Seele oder als das Psychische« definiert wird (vgl. ebd.: 23). Wesentlich ist dabei, dass sich für Schmitz das »Subjektive« keineswegs nur auf die »Innenwelt« des subjektiven Erlebens und Empfindens, sondern wesentlich auf die Wahrnehmung und Deutung der »Außenwelt« bezieht. Eine besondere Rolle für die Vergemeinschaftung spielt die spezifische Ausformung der persönlichen Situationen als »implantierende (einpflanzende)« Situationen. Dieses Konzept beschreibt Schmitz, unter Nutzung einer ›vegetativen‹ Wachstums-Metaphorik, so, dass »die persönliche Situation so tiefe Wurzeln schlägt, dass sie nicht leicht und wenn überhaupt nur allmählich und mit erheblichen Wunden herausgerissen werden kann. Dazu gehören Situationen, aus denen die Persönlichkeit (persönliche Situation) durch Traditionen und frühe Sozialisationen hervor wächst, und solche, in die sie hineinwächst.« Beispiel für Letzteres ist eine »innige Freundschaft, etwa in geschlechtlicher Paarliebe«, die dazu führt, »dass die persönlichen Situationen der Freunde in einer sie gemeinsam implantierenden Situation zusammenwachsen« (ebd.: 24). Vor diesem Hintergrund erscheinen als wesentlich für Prozesse der Vergemeinschaftung die »Einbindung persönlicher Situationen in gemeinsame Situationen« und »ihre gemeinsame Verwurzelung in einem übergreifenden Ganzen« (ebd.: 29). Wichtig scheint uns dabei die Überlegung, dass die gemeinsame (implantierende) Situation keineswegs zwangsläufig individuelles Handeln determiniert, sondern »den so gebundenen Menschen Spielraum für eventuell korrigierende oder modifizierende Auseinandersetzung mit ihr lässt« (ebd.: 31). Schmitz illustriert dies unter anderem am Umgang mit der Muttersprache. So ist der Einzelne »in die Sprache als seine Persönlichkeit ganzheitlich einbettende Situation eingelebt, und diese Situation gibt ihm nicht nur den Stoff für seine Formulierungen, sondern zeichnet ihm auch das Gehörige vor, da es ordentlichen und regelwidrigen Sprachgebrauch gibt, wie gutes und schlechtes Verhalten anderer Art; aber dadurch wird der Sprecher keineswegs in einen Organismus eingebunden, in dem er reibungslos zu funktionieren hätte, wie Lunge, Herz und Hand im gesunden Körper, sondern er kann sich den Verführungen der Sprache entziehen, deren Mängel z.B. durch Definitionen 364

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neu eingeführter Ausdrücke verbessern [...]« (ebd.). In Anknüpfung an den Begriff des Nomos bei Aristoteles verweist Schmitz auf Einbindungen in ein übergreifendes Ganzes, bei denen es darum geht, »totale Emanzipation ebenso wie die Unselbstständigkeit automatischer Gefolgschaft zu vermeiden« (ebd.). Gemeinsamkeit ist damit auch nicht gleichbedeutend mit der Ausgrenzung sozialer Gegensätze und Konflikte. Schmitz zieht hier den Vergleich mit einem Baum, bei dem man, wenn die »Einpflanzung fest genug ist [...], der Konkurrenz der aneinanderstoßenden Äste, der um Licht ringenden Baumkrone usw. fast beliebig viel Spielraum gewähren [kann], ohne die Gemeinschaft zu erschüttern« (ebd.: 327).

4 Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung und Vergesellschaftung durch Vergemeinschaftung Wie in Abschnitt 2 ausgeführt, wird Vergemeinschaftung in der neueren Diskussion (auch) als ein konstitutives Element moderner Gesellschaften gesehen. Maffesoli betrachtet sie sogar als den in postmodernen Gesellschaften vorherrschenden Modus sozialer Beziehungen und sozialer Interaktion. Die in Abschnitt 3 umrissenen Bestimmungen grundlegender Elemente der Vergemeinschaftung knüpfen hieran an. In dieser Perspektive erscheint es uns jedoch sinnvoll, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung einander nicht auf gleicher Ebene gegenüberzustellen, sondern Vergesellschaftung als übergreifende Kategorie zu verwenden – so wie dies auch im Begriff der traditionellen oder vormodernen »Gesellschaft« zum Ausdruck kommt. »Vergemeinschaftung« wäre damit als eine besondere Form der Vergesellschaftung zu begreifen und von anderen Formen der Vergesellschaftung zu unterscheiden. Wesentlich erscheint uns dabei die Unterscheidung gegenüber der »Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung«.25 Exemplarisch für Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung sind in modernen Gesellschaften die vertragliche Vereinbarung und die formelle Organisation. Ihr Ausgangspunkt ist das vereinzelte, autonome Individuum, das zur Realisierung bestimmter Ziele und Zwecke soziale Beziehungen eingeht und sich hiervon – im Prinzip – auch wieder zurückziehen kann. Die einzelnen Individuen unterscheiden sich dabei voneinander durch ihre jeweilige individuelle Besonderheit (Einzigartigkeit); soziale Beziehungen und gesellschaftliche Ordnung erscheinen als eine eigene soziale Realität neben der je individuellen Existenz. Erst durch die Inklusion des Individuums in so-

25 Es handelt sich hier zunächst um erste begriffliche Annäherungen, deren Trennschärfe weiter zu klären und zu diskutieren ist. 365

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ziale Beziehungen ergibt sich demnach eine soziale Abstimmung und Koordinierung sozialen Handelns. Paradigmatisch hat diesen Modus der Vergesellschaftung Thomas Hobbes mit dem Bild des Kriegs aller gegen alle und dessen Regulierung durch den Staat und den Gesellschaftsvertrag formuliert. Durkheim und Parsons haben demgegenüber auf die Notwendigkeit gemeinsamer Werte und normativer Orientierungen aufmerksam gemacht, gehen aber gleichwohl – zumindest unter Bezug auf moderne Gesellschaften – davon aus, dass der Mensch erst durch besondere institutionell-normative Arrangements vergesellschaftet wird.26 Normative Regulierungen und Institutionen haben in dieser Sicht vor allem die Funktion, individuelles Handeln mit gesellschaftlichen Erfordernissen zu synchronisieren. Das Prinzip der Vergemeinschaftung rekurriert demgegenüber auf eine grundsätzlich andere Sicht menschlicher Existenz. Ihr Ausgangspunkt ist nicht das von gesellschaftlicher Einbindung freigesetzte Individuum, sondern die mit der menschlichen Existenz untrennbar verbundene soziale Einbindung jenseits aller Individualisierung. Nicht individuelle Differenz und Einzigartigkeit, sondern Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit sind Ausgangspunkt der Vergemeinschaftung. In der »klassischen« Sicht auf Vergemeinschaftung wird eine solche Gemeinsamkeit zumeist auf basale, biologische Gegebenheiten wie Blutsverwandtschaft oder Ähnliches bezogen. Doch ganz ähnlich wie beim Bezug auf Individualität wäre auch beim Bezug auf Gemeinsamkeit neben anthropologischen Gegebenheiten vor allem deren gesellschaftliche Hervorbringung und Formung in den Blick zu nehmen. So haben Foucault und andere darauf aufmerksam gemacht, dass das von sozialen Bindungen freigesetzte Individuum keineswegs ein anthropologisch verbürgter Naturzustand ist, sondern selbst erst im Prozess der Modernisierung gesellschaftlich hervorgebracht und geformt wird.27 Ebenso könnte auch die Erzeugung von Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit als ein »gesellschaftliches Projekt« zu begreifen sein. Die in Abschnitt 3 umrissenen Prinzipien der Vergemeinschaftung beziehen sich auf die Hervorbringung sowohl von gemeinsamen Handlungsdispositionen als auch von Mechanismen der sozialen Abstimmung auf dieser Grundlage. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sich sowohl die Herstellung von Gemeinsamkeiten als auch die Koordinierung individuellen Handelns wesentlich über »gemeinsames Tun« und hierdurch erzeugte gemeinsame Erfahrungen vollziehen. Diese beruhen nicht nur auf kognitiv-rationalen, sondern vor allem auf gefühlsmäßigen, körperlich-leiblichen Wahrnehmungen und einem damit verbundenen »Gespür« für soziale Prozesse wie auch technisch-

26 Siehe zum Menschenbild in soziologischen Theorien ausführlicher Eisenmann 2008. 27 Siehe hierzu ausführlicher auch Reckwitz 2006. 366

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funktionale Abläufe.28 Dies könnte auch das scheinbare Paradox erklären, dass die Vergemeinschaftung zumeist sowohl eine sehr hohe soziale Koordination und Integration als auch ein hohes Maß informeller und impliziter sozialer Regeln aufweist. So erscheint Vergemeinschaftung »von außen« entweder als ein mehr oder weniger starres Gebilde – so wie dies beispielsweise in Webers Konzept des traditionalen Handelns anklingt – oder als ein weithin diffuses, kaum durchschaubares Geflecht sozialer Regeln, das sich nur durch eingehendes Studium sozialer Praktiken erschließt. Aus der Binnenperspektive der Vergemeinschaftung hingegen handelt es sich um soziale Ordnungen, die eine hohe situative Variabilität grundlegender Handlungsmuster aufweisen und zugleich den jeweiligen Akteuren als mehr oder weniger selbstverständliche Gegebenheiten ihres Handelns erscheinen. Ethnologische und ethnomethodologische Studien liefern hierfür eindrucksvolle Belege. Wesentlich für die hier umrissene neue theoretische und praktische Verortung von Vergemeinschaftung scheint es uns, die Gleichsetzung von Vergemeinschaftung und Entindividualisierung zu überwinden und dieses Verhältnis differenzierter zu bestimmen. Die häufige Unterstellung, Vergemeinschaftung bedeute zwangsläufig »Selbstaufgabe«, greift ebenso zu kurz wie die Annahme, Individualisierung stehe grundsätzlich im Gegensatz zu sozialer Einbindung. Entindividualisierung im Sinne von Selbstaufgabe trifft allenfalls auf Vergemeinschaftungspraktiken zu, die mit einer sehr geringen Selbststeuerung auskommen, wie etwa die wechselseitige Anpassung an einfache motorische Bewegungsabläufe. Je differenzierter und vielfältiger jedoch der Bezug auf Gemeinsamkeiten und deren Aktualisierung und Inszenierung wird, umso mehr ist eine aktive, subjektive Selbststeuerung der Vergemeinschaftung notwendig. Diese kann nicht einfach »von oben« verordnet werden, sondern muss von den Subjekten selbst hervorgebracht werden. Entgegen einer platten Gleichsetzung von Vergemeinschaftung mit Entindividualisierung scheint es somit angemessener, von einem inhärenten Spannungsverhältnis auszugehen – ganz ähnlich wie sich die Vergesellschaftung durch institutionelle Regulierung nur im Sinne eines Spannungsverhältnisses zwischen individueller Freiheit und deren gesellschaftlicher Beschränkung – und Ermöglichung – angemessen begreifen lässt. Und schließlich ist Vergemeinschaftung nicht nur als feste Zugehörigkeit, sondern auch als – aus der Subjektperspektive – grundsätzlich wählbare Form der Vergesellschaftung zu konzipieren. Maffesoli entwickelt für moderne Formen dieser Vergemeinschaftung den Begriff der »Nomaden«. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwischen unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung wählen und sich diesen jeweils situativ zuordnen können (vgl. Keller 2006: 120ff.). In ähnlicher Weise stellt auch Keupp einen Wandel in

28 Siehe speziell zur Bedeutung körperlich fundierter Praktiken für die Vergemeinschaftung Alkemeyer 2002 sowie den Beitrag von Alkemeyer in diesem Band. 367

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den Formen der Vergemeinschaftung in modernen Gesellschaften fest (Keupp 1997). Allerdings wird hierbei Vergemeinschaftung bisher »nur« als ein Modus sozialer Integration und Verortung und nicht als grundlegendes Prinzip sozialer Abstimmung und sozialer Ordnung gesehen. Und schließlich käme es vor allem darauf an, Vergemeinschaftung nicht mehr nur in Abgrenzung von und quasi neben den »Systemen zweckrationalen Handelns« zu lokalisieren, sondern sie gerade auch in der Verbindung hiermit zu sehen. In der Perspektive der Theorie reflexiver Modernisierung hieße das, an die Stelle des Entweder-oder die Logik des »Sowohl-als-auch« zu setzen (vgl. Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004). Dies lenkt den Blick darauf, dass möglicherweise gerade auch in Organisationen und speziell in Wirtschaftsunternehmen neben der institutionellen Regulierung von Zugehörigkeit, Arbeitsteilung und Kooperation (Vertrag und formale Organisation) auch die soziale Integration und vor allem die Koordination durch Vergemeinschaftung eine wichtige Rolle spielt. Durch das vor allem im Nationalsozialismus propagierte Leitbild der »Betriebsgemeinschaft« als Gegenentwurf zum »industriellen Konflikt« ist allerdings eine solche Betrachtung erheblich vorbelastet. Unsere Überlegungen lenken die Aufmerksamkeit jedoch nicht auf die »soziale Befriedung«, sondern auf die Rolle der Vergemeinschaftung für die soziale und sachlich-zeitliche Koordination technisch-organisatorischer Prozesse. In dieser Perspektive sei abschließend versucht, das zuvor umrissene Konzept der Vergemeinschaftung unter Bezug auf den Wandel der Organisation von Unternehmen zu konkretisieren.29 Wir knüpfen damit an Veränderungen der Organisation von Unternehmen an, in deren Folge Selbststeuerung und Selbstorganisation der Mitarbeiter sowie informelle Prozesse einen hohen Stellenwert erhalten (vgl. Böhle/Bolte 2002; Böhle et al. 2008). In Untersuchungen zur Selbstorganisation in Unternehmen wird unter anderem unterschieden zwischen einer autonomen und einer autogenen Selbstorganisation (vgl. Probst 1987). Mit autonomer Selbstorganisation wird die bewusste Planung und Gestaltung der Organisation durch die Mitarbeiter bezeichnet. In der Praxis findet sie ihren Niederschlag in der Einrichtung institutionalisierter Abstimmungsplattformen in Form von »Meetings«, an denen Vertreter unterschiedlicher Arbeits- und Fachbereiche beteiligt sind (vgl. Bolte et al. 2008; Schwarzbach 2005). Der autogenen Selbstorganisation werden demgegenüber eher »ungeplante«, »naturwüchsige« Prozesse zugeordnet, deren Funktionalität für die Organisation ungewiss ist und fraglich erscheint. Wir knüpfen an diese Unterscheidung an, vertreten aber die These, dass in Unternehmen die als autogen bezeichnete Form der Selbstorganisation eine zunehmend wichtige, unverzichtbare Rolle spielt. Die Skepsis ihr gegenüber

29 Siehe in dieser Perspektive auch die bereits in Abschnitt 2 erwähnte Untersuchung von Huchler, Voß und Weihrich (Huchler et al. 2007). 368

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resultiert vornehmlich daraus, dass bisher kaum Konzepte vorliegen, die erklären können, in welcher Weise durch nicht bewusst geplante Prozesse eine funktionsfähige Organisation zuwege gebracht wird.30 Das oben umrissene Konzept der Vergemeinschaftung könnte eine neue Perspektive eröffnen, Prozesse autogener Selbstorganisation präziser zu fassen und deren Funktionalität aufzudecken. Es sei versucht, dies näher zu erläutern. In einer Untersuchung zur Unternehmenskultur vertritt Christoph Deutschmann die These, dass Prozesse in Organisationen, wenn diese sich auf Selbststeuerung und Selbstverantwortung der Mitarbeiter umstellen, nur mehr begrenzt durch formelle Regelungen – im Sinne der bürokratischen Organisation – gesteuert werden können. Die Unternehmenskultur erscheint demgegenüber als ein Steuerungsmodus, der »tiefer« ansetzt und durch »kulturelle Psychotechniken« unmittelbar auf die Handlungsdispositionen der Mitarbeiter abzielt (Deutschmann 1998). Dies trifft auch einen zentralen Punkt der Vergemeinschaftung. Allerdings stehen bei Deutschmann (wiederum) primär die soziale Integration und die Sicherung von Loyalität im Vordergrund. Es stellt sich jedoch die Frage, ob im Konzept der Unternehmenskultur gegebenenfalls auch neue Ansätze und Möglichkeiten zu Koordinierung technisch-organisatorischer Prozesse im Sinne einer Selbstorganisation angelegt sind. So zielen die Bemühungen um gemeinsame Leitbilder und Visionen explizit darauf ab, bei den Mitarbeitern gemeinsame Orientierungen für die Erfüllung ihrer jeweils konkreten Arbeitsaufgaben zu erzeugen.31 Allerdings handelt es sich in der Praxis 30 Theorien der Organisation, die im Rahmen der Systemtheorie auf Grenzen der Steuerung und auf die Kontingenz von Organisationen verweisen, thematisieren zwar solche ungeplanten Prozesse, ziehen sie aber in erster Linie zur Relativierung der Annahme heran, dass Organisationen sich nach dem Muster der Zweckrationalität verhalten. Die hier umrissenen Überlegungen zielen demgegenüber auf die Frage, in welcher Weise organisatorische Zwecke und Rationalitäten auch unabhängig von einer bewussten Planung und Steuerung organisatorischer Prozesse erreicht werden können. In dieser Perspektive gehen die folgenden Überlegungen in eine ähnliche Richtung wie beispielsweise das Konzept des Organisierens von Karl E. Weick (1995). Nicht die Funktionalität und Effizienz von Organisationen wird hier in Frage gestellt, sondern die vorherrschende Sicht auf die »Methoden«, durch die diese sichergestellt werden (sollen). In ähnlicher Weise wird aktuell auch die Ersetzung der zentralistisch-hierarchischen und funktional gegliederten Organisation durch Dezentralisierung und Selbststeuerung diskutiert. Unsere Überlegungen knüpfen hieran an. 31 Sonja Sackmann beschreibt beispielsweise die Unternehmenskultur als »die von einer Gruppe gemeinsam gehaltenen Überzeugungen, die für die Gruppe insgesamt typisch sind. Sie beeinflussen Wahrnehmung, Denken, Handeln und Fühlen der Mitglieder und können sich auch in deren Handlungen und Artefakten manifestieren. Die Überzeugungen werden nicht mehr bewusst gehalten, sie sind aus der Erfahrung der Gruppe entstanden und haben sich durch die Erfahrung der Gruppe weiterentwickelt, d.h. sie sind gelernt und werden an neue Gruppenmitglieder weiter gegeben« (Sackmann 2004: 24). 369

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bei Bemühungen zur Förderung der Unternehmenskultur zumeist um eine Vergemeinschaftung »von oben«, in der Absicht, dass sich die Mitarbeiter mit den Zielen des Unternehmens identifizieren. Demgegenüber lässt sich am Beispiel von so genannten Berufskulturen ablesen, dass eine Vergemeinschaftung, die zur Verständigung über technische und organisatorische Belange führt, wesentlich aus gemeinsamen Erfahrungen in der Ausbildung sowie im Umgang mit den jeweiligen berufsfeldtypischen Arbeitsgegenständen und -mitteln, Problemstellungen und dem sozialen Umfeld resultiert. Aufschlussreich sind hier zudem Erkenntnisse aus Untersuchungen zu neuen Vergemeinschaftungsformen im Sport. Gebauer et al. verweisen auf die zentrale Rolle der »Treue zum Stil« im Unterschied zu institutionell geregelten Praktiken, Qualitäts- und Leistungsstandards (Gebauer et al. 2004). Ebenso ist auch im Arbeitsbereich davon auszugehen, dass sich jenseits expliziten Wissens und formell geregelter Praktiken betriebsspezifische »Stile«, wie etwas gemacht wird, finden – ein Tatbestand, der allerdings zumeist erst bei Unternehmensfusionen oder Outsourcing bewusst wird.32 Des Weiteren verweist Edgar Schein (1995) in seinem Konzept der Unternehmenskultur explizit auf die Rolle materieller Artefakte sowie kultureller Symbole und Rituale für die Entstehung gemeinsamer Orientierungen. Sowohl technische Artefakte als auch Symbole und Rituale sind dabei nicht nur als »von außen« gesetzt und vorgegeben zu begreifen, sondern sie sind sowohl Resultate gemeinsamen Handelns als auch Elemente, durch die dieses strukturiert wird. In der hier umrissenen Perspektive ist wesentlich, dass kulturelle Symbole sich nicht in nach ästhetischen Gesichtspunkten oder kommunikativen Wirkungen gestalteten Ornamenten, die den sachlich-funktionalen Gegebenheiten übergestülpt werden, erschöpfen. Um als Medium der Vergemeinschaftung in der hier umrissenen Perspektive wirksam zu werden, müssen sie sich vielmehr auf sachlich-funktionale Gegebenheiten beziehen und diese in besonderer Weise zur Geltung bringen und erfahrbar machen. An einem Beispiel sei illustriert, was hiermit gemeint ist: Im Bergbau war es lange Zeit ein Ritual, sich vor dem »Einstieg in den Berg« zu versammeln und ein gemeinsames Gebet zu sprechen. In der Sicht eines aufgeklärten Rationalismus war dies religiös motiviert und diente bestenfalls zur psychischen Beruhigung. Ein solches Ritual lässt sich aber auch als eine »gemeinsame Einstimmung« auf die Gefahren »unter Tage«, als »rite de passage« zwischen der individuellen und familiären Lebenswelt »außerhalb« der Arbeit und der hiervon in mehrfacher Weise grundlegend verschiedenen Welt »unter Tage« deuten. Es wäre ein eigenes Forschungsfeld, in dieser Perspektive Rituale der 32 Ein aufschlussreicher Hinweis auf dieses Phänomen und dessen Rolle für die Koordinierung betrieblicher Prozesse jenseits institutioneller Regulierung findet sich in einer Untersuchung zum Instrumentenbau, die von Pritzlaff in einer Publikation zu kollektiven Entscheidungsprozessen erwähnt wird (vgl. Cook 1982, zitiert nach Pritzlaff 2006: 96). 370

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Arbeit aufzudecken und zu deuten. Des Weiteren wären soziale Veranstaltungen, vom Orchester, Gesangverein und Sportklub bis hin zur Betriebsfeier und zum kulturellen Event, daraufhin zu durchleuchten, inwieweit mit ihnen nicht nur soziale Bindungen und Loyalität erzeugt werden, sondern auch die Entwicklung gemeinsamer Arbeitsorientierungen begünstigt wird. Auch hierfür ein Beispiel, allerdings wiederum aus eher traditionellen Arbeitskulturen: In der ländlichen und handwerklichen Arbeitskultur ist häufig eine unmittelbare Abstimmung manueller Arbeit, beispielsweise beim gemeinsamen Beund Entladen von Fahrzeugen oder gemeinsamer Bearbeitung eines Werkstücks, notwendig. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Entwicklung eines gemeinsamen Rhythmus. Zugleich ist zu beobachten, dass traditionelle Volkstänze zumeist Gemeinschaftstänze sind, die ein gemeinsames Einschwingen auf einen bestimmten Rhythmus erfordern. Der gemeinsame Tanz ließe sich als ein Lern- und Erfahrungsfeld deuten, in dem die Fähigkeit, sich auf einen gemeinsamen Rhythmus einzuschwingen und diesen zugleich selbst mit zu erzeugen, eingeübt wird. Eine weitere Konkretisierung und Verbindung der dargestellten Elemente von Vergemeinschaftung muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Speziell für die Auseinandersetzung mit Voraussetzungen und Mechanismen von Selbstorganisation sowie der Auflösung und Verflüchtigung institutioneller Regulierung erscheint uns dies als eine durchaus lohnenswerte Aufgabe.

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Autorinnen und Autoren

Thomas Alkemeyer, Prof. Dr., Professor für »Sport und Gesellschaft« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Körpers und des Sports, soziologische Praxistheorien, Praktiken der Subjektivierung und Bildung. [email protected] Fritz Böhle, Prof. Dr., Professor (i.R.) an der Universität Augsburg und Forschungstätigkeit am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München. Arbeitsschwerpunkte: Verwissenschaftlichung und Erfahrungswissen, Entwicklungen von Arbeit und subjektivierendes Arbeitshandeln, neue Kompetenzen und berufliche Bildung, Organisation und informelle Prozesse, Theorie reflexiver Modernisierung. [email protected] Kristina Brümmer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Sport- und Körpersoziologie sowie der Zusammenhang von sportwissenschaftlichen Handlungsmodellen, soziologischen Praxistheorien und Konzepten praktischen Wissens. [email protected] Daniel Clénin, Feldenkrais-Pädagoge in eigener Praxis in Bern, nebenberuflicher Hintergrund in Schauspiel und Pantomime. Arbeitsschwerpunkte: Somatische Bildung, Entwicklung von Prozessen im Bereich »Embodiment« in verschiedenen Arbeitsgebieten, auch in der Aus- und Weiterbildung von Künstlern. [email protected] Silvana K. Figueroa-Dreher, Dr., leitet das Forschungsprojekt »›Konzertiertes‹ Handeln? Abstimmungsprozesse beim musikalischen Improvisieren in Free Jazz und Flamenco« und ist Postdoc-Stipendiatin im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz. 377

DIE KÖRPERLICHKEIT SOZIALEN HANDELNS

Arbeitsschwerpunkte: Handlungs- und Interaktionstheorie, Musiksoziologie, Kultursoziologie, Improvisation, Free Jazz, Flamenco, Tango, (mikro-) soziale Ordnungen, Identität, Argentinien. [email protected] Elk Franke, Prof. Dr., Professor für Sportpädagogik/Sportphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik des Sports, Handlungstheorie, Bildungstheorie im Sport. [email protected] Robert Gugutzer, Prof. Dr., Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sportwissenschaften und Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Körpers, Neophänomenologische Soziologie, Ästhetische Bildung, Soziologie des Trendsports (Parkour), Helden im Sport, Sport und Religion. [email protected] Patrick Linnebach, Diplomsoziologe, ist derzeit am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen tätig und arbeitet an einer Dissertation zur Materialität von Kommunikation. [email protected] Jens Loenhoff, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft, Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikationstheorie und ihre Problemgeschichte, Interkulturelle Kommunikationsforschung, technisch vermittelte Kommunikation. Sabine Pfeiffer, PD Dr. habil., Arbeits- und Industriesoziologin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München und Lehrbeauftragte an der FernUniversität Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsvermögen, Innovationsarbeit, Arbeitslosigkeit, Informatisierung 2.0. [email protected] Barbara Pieper, Dr., Sozialwissenschaftlerin, freiberuflich tätig in eigener Praxis (Feldenkrais-Methode) in Gräfelfing bei München. Arbeitsschwerpunkte: Somatische Bildung, Gestaltung und Erforschung von Prozessen der Verkörperung von Erfahrung in Praxis und Wissenschaft, Qualitäts- und Professionalisierungsentwicklung für Arbeitskräfte und Organisationen. [email protected] Thomas Pille ist Lehrer an der Albert Schweitzer Oberschule in Berlin und hat einen Lehrauftrag am Institut für Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im Rahmen seines Dissertationsprojekts untersucht er auf der theoretischen Folie der Bourdieu’schen Praxeologie die Praktiken der Subjektivierung in der Lehrerbildung. [email protected]

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Stephanie Porschen, Dr., Arbeitssoziologin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Subjekt, Arbeit und Innovation, Kooperation und Kommunikation in Unternehmen, Wissensmanagement, Vertrauenskultur, Führung. [email protected] Stephanie Stadelbacher, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie/Sozialkunde der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, insbesondere Handlungstheorien, sozialwissenschaftliche Diskursforschung, Körper und Technik. [email protected] Margit Weihrich, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Handlungstheorie, Handlungs-StrukturTheorie, Institutionenanalyse, Dienstleistungsforschung und interaktive Arbeit, Soziologie alltäglicher Lebensführung. [email protected]

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Materialitäten Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille (Hg.) Ordnung in Bewegung Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung 2009, 202 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1142-7

Malte Friedrich Urbane Klänge Popmusik und Imagination der Stadt April 2010, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1385-8

Christina Hilger Vernetzte Räume Plädoyer für den Spatial Turn in der Architektur Dezember 2010, ca. 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1499-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Materialitäten Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.) Ernste Spiele Zur politischen Soziologie des Fußballs 2008, 276 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-977-0

Lars Meier Das Einpassen in den Ort Der Alltag deutscher Finanzmanager in London und Singapur 2009, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1129-8

Imke Schmincke Gefährliche Körper an gefährlichen Orten Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung 2009, 270 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1115-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Materialitäten Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-806-3

Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein (Hg.) Bewegungsraum und Stadtkultur Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2008, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1021-5

Andrea Glauser Verordnete Entgrenzung Kulturpolitik, Artist-in-ResidenceProgramme und die Praxis der Kunst 2009, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1244-8

Robert Gugutzer (Hg.) body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports 2006, 370 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-470-6

Cedric Janowicz Zur Sozialen Ökologie urbaner Räume Afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung 2008, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-89942-974-9

Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-679-3

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