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German Pages 56 Year 1988
Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien
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Die KRK-Initiativen des Warschauer Paktes im Lichte des sowjetischen Verständnisses von Parität und Defensivität Ole Diehl/Anton Krakau
45-1988
Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FUR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1988 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/5747-0
INHALT Seite Kurzfassung
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1. Einleitung
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2. Die KRK-Initiativen der Sowjetunion und des Warschauer Paktes . . .
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3. Zum "Abbau von Asymmetrien"
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3.1. Das konventionelle Kräfteverhältnis aus sowjetischer Sicht 3.2. Der sowjetische Gleichgewichtsbegriff
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4. Zur Zielsetzung "Defensivität"
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4.1. Konventionelle Abschreckung aus sowjetischer Sicht
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4.2. Die interne sowjetische Diskussion über "Defensivität"
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4.2.1. Die Position führender Militärs
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4.2.2. Die Position ziviler Militärexperten . .
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4.2.3. Gegenseitige Bezugnahmen .
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5. Fazit und Ausblick Anmerkungen
. . . . . . . . . . . . . . . .
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Anlagen
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Abkürzungsverzeichnis . . . . .
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Summary
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September 1988
Ole Diehl/Anton Krakau Die KRK-Initiativen des Warschauer Paktes im Lichte des sowjetischen Verständnisses von Parität und Defensivität Bericht des BlOst Nr. 45/1988 Kurzfassung Der Warschauer Pakt hat auf dem Gebiet der konventionellen Rüstungskontrolle (KRK) seit Mitte der achtziger Jahre die Initiative ergriffen. Vom Budapester Appell (1986) über die Ost-Berliner Erklärung (1987) bis zum aktuellen Rüstungskontrollplan der Warschauer Erklärung (1988) wurden Vorschläge präsentiert, die auf den ersten Blick weit über die bisherige Abrüstungsbereitschaft des östlichen Bündnisses hinausgehen. In der vorliegenden Analyse soll schwerpunktmäßig der jüngste Rüstungskontrollvorschlag des Warschauer Paktes anhand der vor allem in sowjetischen Publikationen deutlich werdenden Einschätzung des Kräfteverhältnisses in Europa sowie des Verständnisses von Parität, konventioneller Abschreckung und Defensivität kritisch überprüft werden. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. In der Entwicklung der östlichen Rüstungskontrollinitiativen seit 1986 ist ein Eingehen auf westliche Vorstellungen festzustellen insofern, als der mögliche Reduzierungsraum auf "Europa vom Atlantik bis zum Ural" erweitert wurde, Vor-Ort-Inspektionen als Verifikationsmöglichkeit angeboten werden und die "Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen" bzw. der Abbau von Asymmetrien als Prinzip anerkannt werden. 2. Die Warschauer Erklärung beinhaltet im Kern einen DreiStufen-Plan, der erstens den Abbau von Asymmetrien, zweitens die beiderseitige Reduzierung um je 500.000 Soldaten und abschließend drittens die Herbeiführung eines "strikten Verteidigungscharakters" der Streitkräfte und Rüstungen vorsieht. 3. Die angedeutete Bereitschaft zum Abbau von Asymmetrien wird relativiert durch die sowjetische Einschätzung des konventionellen Kräfteverhältnisses, wonach Ungleichgewichte bei einzelnen Kategorien sich zu einer annähernden Gesamtbalance kompensieren.
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4. Im sowjetischen Verständnis gilt dieses "Gleichgewicht" (Parität) trotz vereinzelter innersowjetischer Kritik an einem "Paritätskult" weiterhin als Grundlage "zuverlässiger Sicherheit". Auch deshalb sind einseitige Reduzierungen des Warschauer Paktes nicht zu erwarten. 5. Der Warschauer Pakt tendiert auch im konventionellen Bereich zu punitiver Abschreckung. Letztere erfordert konventionelle Kriegführungsfähigkeit und die Drohung mit der "Zerschlagung des Aggressors" durch raumgreifende Offensive. Dieser Abschreckungsbegriff gefährdet die Stabilität und widerspricht der angestrebten Defensivität. 6. Gegenwärtig findet in der UdSSR eine Diskussion zwischen führenden Militärs und zivilen Militärexperten über die Zielsetzung "Defensivität" und eine Neuorietierung des militärischtechnischen Teils der Militärdoktrin statt. 7. Für die sowjetischen Militärs gilt Verteidigung offenbar im Rahmen der militärstrategischen Konzeption als zunächst zu erfüllende Teilaufgabe, an die sich über den Gegenangriff die "Zerschlagung des Aggressors" durch raumgreifende Offensive anschließt. Diese zeitliche Abfolge wird als Prinzip der "Gegenaktion" bezeichnet. Insgesamt halten die Militärs ihr herkömmliches Verständnis von "zuverlässiger Verteidigung" auch im Rahmen des "neuen Denkens" aufrecht. 8. Zivile Militärexperten melden sich neuerdings mit Thesen zu Wort, die von traditionellen Positionen der sowjetischen Militärs abweichen. Sie verstehen teilweise Hinlänglichkeit als eine Zielsetzung, die losgelöst sei vom Paritätsdenken, über Streitkräftereduzierungen und Umstrukturierungen solle ein Zustand erreicht werden, bei dem die Verteidigung auf beiden Seiten stärker ist als der Angriff. 9. Das Verständnis vor allem der sowjetischen Militärs von Parität und von der Zielvorstellung "Defensivität" stellt wesentliche Aspekte der betrachteten Rüstungskontrollinitiativen des Warschauer Paktes in Frage.
1. Einleitung Nach dem Abschluß des INF-Vertrages und dem Beginn der Vernichtung der entsprechenden Flugkörper ist die konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) in Europa in den Mittelpunkt des internationalen öffentlichen Interesses gerückt. Unter Rüstungskontrolle wird dabei verstanden "Rüstungsbegrenzung und Rüstungsverminderung, die sich am Ziel eines stabilen Gleichgewichts orientieren"-1 Der Warschauer Pakt hat auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle seit Mitte der achtziger Jahre die Initiative ergriffen, indem er auf den turnusmäßig jährlich stattfindenden Sitzungen seines Politischen Beratenden Ausschusses Vorschläge für zukünftige KRK-Verhandlungen vorgelegt hat. Beginnend mit dem Budapester Appell von 1986 wurde über die Ost-Berliner Erklärung von 1987 - die vornehmlich die Prinzipien der Militärdoktrin zum Inhalt hat - der aktuelle Rüstungskontrollvorschlag der Warschauer Erklärung vom Juli 1988 entwickelt. Gleichzeitig und sicher nicht ganz ohne Bezug dazu sind im Rahmen des "neuen Denkens" in der UdSSR neue Akzente in der sicherheitspolitischen Argumentation gesetzt worden. Dabei spielen der Defensivcharakter der Militärdoktrin, Kriegsverhinderung und die Verteidigung als eine Art von Kampfhandlungen neuerdings eine zunehmend bedeutsame Rolle. Gorbatschow hat neben seiner Vision einer "kernwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000" auch erklärt, es sei an der Zeit, "daß die beiden militärischen Bündnisse ihre strategischen Konzepte ändern, um sie mehr auf die Ziele der Verteidigung abzustimmen."2 Zielsetzung der folgenden Analyse ist eine Bewertung der aktuellen Warschauer Rüstungskontrollinitiative anhand von militärpolitisch relevanten Kernaussagen des neuen Denkens, Es geht darum, die in der Warschauer Erklärung angekündigte Bereitschaft zum Abbau von Asymmetrien durch eine Untersuchung der sowjetischen Einschätzung des bestehenden Kräfteverhältnisses
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und der Bedeutung von Parität zu überprüfen. Die deklarierte Zielvorgabe der Herstellung eines "strikten Verteidigungscharakters" der Streitkräfte und Rüstungen, d.h. "Defensivität", soll in Zusammenhang gestellt werden mit dem sowjetischen Verständnis von konventioneller Abschreckung und der innersowjetischen Diskussion zwischen Militärs und zivilen Militärexperten über diese Thematik. Für eine Einschätzung bzw. Gesamtbewertung der Rüstungskontrollinitiativen des östlichen Bündnisses erscheint eine Berücksichtigung der im folgenden dargelegten Zusammenhänge von maßgeblicher Bedeutung. 2. Die KRK-Initiativen der Sowjetunion und des Warschauer Paktes Die Genfer Verhandlungen über "gegenseitig ausgewogene Truppenreduzierungen" in Europa (MBFR) sind seit 1973 ohne konkretes Ergebnis geblieben, weil eine Einigung schon über die Grundlage von Reduzierungsgesprächen, die Bewertung des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses im relativ eng begrenzten Reduzierungsraum (die beiden deutschen Staaten, die BeNeLux-Länder, Polen und CSSR), nicht zustande kam. Bei diesen Verhandlungen ist die Sowjetunion mit nur wenigen produktiven Vorschlägen hervorgetreten. Beispielhaft dafür erscheint der Vorschlagsentwurf, den das östliche Bündnis noch am 20. Februar 1986 vorgelegt hat. Die Warschauer-Pakt-Staaten schlugen darin eine nur marginale Reduzierung von Landstreitkräften (11.500 sowjetische und 6500 amerikanische Soldaten) vor, geknüpft an ein gleichzeitiges Einfrieren des bestehenden Niveaus der Streitkräfte und Rüstungen beider Seiten für zunächst drei Jahre. Auf die immer wieder erhobene westliche Grundforderung eines Abbaus der östlichen Überlegenheit ging der Warschauer Pakt mit einem derartigen Vorschlag nicht ernsthaft ein, sondern versuchte im Gegenteil, eine Festschreibung des gegenwärtigen Standes und damit der eigenen Überlegenheit als Grundlage für
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zukünftige Verhandlungen zu erreichen. Gleichzeitig ließ sich ein derartiger Vorschlag später als vordergründiger Beweis für die Initiativ- und Kompromißbereitschaft des Warschauer Paktes sowie für das Desinteresse der NATO an "konstruktiven Vorschlägen" verwerten.3 Eine "neue Initiative" des Warschauer Paktes auf dem Gebiet konventioneller Abrüstung kündigte Gorbatschow auf dem 11. Parteitag der SED in Ost-Berlin im April 1986 an. Der Generalsekretär bezog sich dabei zum einen auf die Einschätzung, daß sich die Wirkung konventioneller Waffen an diejenige von "Massenvernichtungsmitteln" angenähert habe, und zum anderen auf den Umstand, daß die Frage der konventionellen Stabilität im Westen häufig als Hindernis für weitergehende Schritte auf dem Gebiet nuklearer Abrüstung angeführt werde. Seine Initiative sah, ohne auf Einzelheiten einzugehen, "bedeutende Reduzierungen aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Fliegerkräfte bei Auflösung der jeweiligen reduzierten Truppenteile und Vernichtung oder nationaler Lagerung der Rüstungen" vor. Diese sollten verknüpft werden mit dem "Abbau nuklearer Rüstungen operativ-taktischer Bestimmung". Als Reduzierungsraum schlug Gorbatschow erstmals "Europa vom Atlantik bis zum Ural" vor. Der Reduzierungsprozeß solle in allen Phasen kontrolliert werden sowohl durch "nationale technische Mittel" als auch mittels internationaler Überprüfungsformen, darunter Vor-Ort-Inspektionen.4 Die wichtigste Neuerung dieses Gorbatschow-Vorschlages lag in der Erweiterung des Reduzierungsraumes auf ganz Europa. Insbesondere bezüglich des den Reduzierungen zugrundeliegenden Kräfteverhältnisses ging er hingegen nicht substantiell über bekannte Vorstellungen hinaus. Auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes in Budapest am 11. Juni 1986 wurde der Gorbatschow-Vorschlag von den verbündeten Staaten im Budapester Appell aufgegriffen und ergänzt (siehe hierzu Anlage 1) . In
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diesem Dokument wurde als Konkretisierung der "bedeutenden Reduzierungen" eine schrittweise paritätische Truppenreduzierung in Europa um zunächst 100.000 bis 150.000 Mann auf jeder Seite in einem Zeitraum von ein bis zwei Jahren vorgeschlagen. Diese sei in einem zweiten Schritt dann zu ergänzen durch einen Abbau der Truppen von Heer und Luftwaffe um jeweils 25 Prozent. Der Budapester Appell ging mit dem Vorschlag eines Datenaustausches bezüglich der Ist-Stärken über die bisherigen Vorschläge hinaus. Zur Frage der Verifikation wurden nationale und internationale Überprüfungen des Reduzierungsprozesses "bis hin zu Vor-Ort-Kontrollen" vorgeschlagen, verbunden mit Beobachtung der militärischen Aktivitäten der verbleibenden Truppen.» Aus diesen Formulierungen läßt sich nach einer westlichen Analyse noch keine Bereitschaft zu Vor-Ort-Inspektionen des Vor- und Nach-Reduzierungsstandes, sondern lediglich des Reduzierungsprozesses ableiten. 6 Im gleichzeitig veröffentlichten Kommunique der Tagung ist allerdings ein ausdrückliches Bekenntnis zu Vor-Ort-Inspektionen "auf allen Gebieten und in allen Etappen der Reduzierung" enthalten. Gleichzeitig wird auch die Bereitschaft geäußert zur Einwilligung in "beliebige zusätzliche Kontrollmaßnahmen". Zumindest die aus dem Wortlaut des Budapester Appells gezogenen Zweifel an der Verifikationsbereitschaft des Warschauer Paktes erscheinen dadurch relativiert . Im Budapester Appell ist insgesamt zwar ein gewisses Entgegenkommen gegenüber westlichen Forderungen bezüglich des Reduzierungsraumes, des Datenaustausches und zumindest teilweise auch der Verifikationen festzustellen. Ein Eingehen auf den wohl wichtigsten Ansatzpunkt westlicher Vorstellungen über konventionelle Rüstungskontrolle, die Beseitigung des bestehenden Ungleichgewichtes, fehlt aber noch völlig. Die vorgeschlagenen Reduzierungen würden im Gegenteil die Auswirkungen dieses Ungleichgewichtes auf dann niedrigerem Gesamtniveau noch verstärken.
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Eine erste vorsichtige Annäherung an dieses bis dahin nur von westlicher Seite angesprochene Problem ließ sich in einer Rede Gorbatschows in Prag (12.4.1987) feststellen. Der sowjetische Generalsekretär erklärte, die Sowjetunion sei für "die Beseitigung irgendwelcher Elemente der Ungleichheit, der Asymmetrie, wenn es diese bei diesen Waffen tatsächlich gibt." Damit ließ er zumindest Gesprächsbereitschaft über Ungleichgewichte erwarten. Zugleich schlug Gorbatschow eine Verknüpfung der Verhandlungen über Truppenreduzierungen mit solchen über Waffen sogenannter "doppelter Bestimmung", also "taktische Raketen, offensive Luftstreitkräfte, atomare Artillerie und andere taktische Kernwaffen", vor.7 Sowohl mit dieser Verknüpfung als auch mit dem Vorschlag, alle KSZE-Staaten an zukünftigen KRK-Verhandlungen zu beteiligen, schuf Gorbatschow zwei neue Ansatzpunkte für westliche Bedenken bezüglich der sowjetischen Vorschläge. In der Ost-Berliner Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten vom Mai 1987, die sich vornehmlich mit der Militärdoktrin befaßte (siehe hierzu Anlage 1) , schlug die östliche Seite nun offiziell "Konsultationen über entstandene Ungleichgewichte bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach ihrer Beseitigung" vor. Damit war erneut eine GorbatschowRede zur Grundlage eines nachfolgenden offiziellen WarschauerPakt-Dokumentes geworden. In dem Teil der Ost-Berliner Erklärung, der sich mit konventioneller Rüstungskontrolle befaßt, wurden im wesentlichen die Vorschläge des Budapester Appells wiederholt. Als zusätzliches Ziel wurde genannt die Schaffung von "Zonen verringerter Rüstungskonzentration" durch "Abzug der gefährlichsten Arten von Angriffswaffen aus der unmittelbaren Berührungszone beider militärischer Bündnisse" und durch "Verringerung der Konzentration der Streitkräfte und Rüstungen in dieser Zone auf einen vereinbarten minimalen Stand." Auch die wenig konkreten Forderungen nach "gegenseitigem Verzicht ... auf die Anwendung militärischer Gewalt", nach "gleichzeitiger Auflösung d©s Nordat-
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lantischen Bündnisses und des Warschauer Vertrages" und als erstem Schritt "Beseitigung ihrer militärischen Organisationen" finden sich im Zielkatalog der Erklärung. Schon wesentlich konkreter erscheint der gleichzeitige Vorschlag einer "Beseitigung der Militärstützpunkte auf dem Territorium anderer Staaten" und einer "Rückführung der Truppen auf die nationalen Territorien" .8 Am 6. April 1988 wandten sich die Außenminister der WarschauerPakt-Staaten in einem Kommunique ihrer Tagung in Sofia an die NATO- und KSZE-Staaten mit einer allgemein gehaltenen Auflistung von "12 Hauptaufgaben der Rüstungskontrolle". Neben einer Wiederholung bekannter Vorstellungen zur nuklearen Abrüstung enthielt das Kommunique als neuen Punkt den Vorschlag getrennt zu führender Gespräche über die Reduzierung bzw. die Beseitigung taktischer Kernwaffen und dabei die Einbeziehung von Systemen "doppelter Zweckbestimmung". Die Behandlung dieser Systeme wurde so westlichen Forderungen entsprechend von den Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle getrennt. Entsprechende separate Gespräche sollten überdies nicht mehr zwingend parallel, sondern lediglich "ohne lange Verzögerung" geführt werden.9 Der nächste Schritt bei der Entwicklung der konventionellen Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion wurde wieder mit einer Rede eingeleitet, diesmal gehalten vom sowjetischen Außenminister. Vor der UN-Generalversammlung stellte Schewardnadse am 8. Juni 1988 den fünf Wochen später in Warschau offiziell präsentierten Drei-Stufen-Plan des östlichen Bündnisses zur konventionellen Abrüstung in Grundzügen vor. Flankierend dazu schlug der Außenminister Truppenentflechtungen auf seiten der NATO und des Warschauer Paktes sowie die Schaffung von A- und C-waffenfreien Korridoren in Mitteleuropa vor. Als zwingenden Bestandteil konventioneller Rüstungskontrollverhandlungen bezeichnete er die Einbeziehung auch von Seestreitkräften in Kräftevergleiche und Reduzierungen. Dabei stellte er die Feuerkraft von Flugzeugträgern derjenigen von Panzern gegenüber.
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Dieser Ansatz stellt insgesamt eine neue Forderung dar, bisherige Vorschläge hatten sich auf Land- und Luftstreitkräfte beschränkt. Als eine "andere Aufgabe" im Bereich der Rüstungskontrolle brachte Schewardnadse in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Begrenzung neuer Waffenentwicklungen ins Spiel. Er führte dabei die Initiative einiger blockfreier Staaten an, die ein Verbot wissenschaftlich-technologischer Entwicklung und Produktion neuer Massenvernichtungsmittel und konventioneller Waffen gefordert hatten. l 0 Der Vorschlag Schewardnadses wurde auf einer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes am 16. Juli 1988 in Warschau näher konkretisiert und offiziell verkündet. In der Warschauer Erklärung (siehe Anlage 1) wird die Aufnahme von Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle noch für das Jahr 1988 gefordert mit dem Ziel, einen Zustand mit beiderseitig gewährleisteter Fähigkeit zur Verteidigung ohne Fähigkeit zur Führung von Überraschungsangriffen oder Angriffsoperationen herzustellen. Dazu legten die WarschauerPakt-Staaten den schon präsentierten Drei-Stufen-Plan in konkretisierter Form vor. 11 Die erste Etappe dieses Abrüstungsplanes sieht einen Abbau von etwaigen Ungleichgewichten (Asymmetrien)12 und die "Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen" vor. Noch vor der eigentlichen Verhandlungsaufnahme sollen demnach die notwendigen Ausgangsdaten - zusammengestellt von offizieller Seite ausgetauscht werden. Gewissermaßen als zweiter Schritt der ersten Etappe sollen dann diese Daten sofort nach Verhandlungsbeginn durch Vor-Ort-Kontrollen verifiziert werden. In einem dritten Schritt schließlich soll nach Wegen zum Abbau dieser Ungleichgewichte und zur Verifikation dieses Abbaus gesucht werden. Die Warschauer-Pakt-Staaten schlagen dazu vor, die "überzähligen" Truppen abzuziehen und aufzulösen.
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Für den Westen könnte durch das Angebot eines Austausches von offiziellen Ausgangsdaten schon vor Verhandlungsbeginn die vom Warschauer Pakt erst für "unmittelbar nach Verhandlungsbeginn" angesetzte Verifikation dieser Ausgangsdaten zu einem Problem werden. Eine nach langwierigen Kontrollen etwa festgestellte Divergenz der Daten würde dann mitten im Verhandlungsprozeß entweder zu einem erneuten und bei den MBFR-Verhandlungen lange festgefahrenen Streit führen oder könnte sogar den Abbruch dieser Verhandlungen zur Folge haben. Dabei wären für den Westen im voraus mögliche innenpolitische Zwänge, die zu einer Verabsolutierung des Verhandlungsprozesses an sich führen könnten, zu bedenken, überdies müßten aus westlicher Sicht bereits in dieser ersten Phase die nur schwer zu quantifizierenden Asymmetrien der geostrategischen Verhältnisse und der Bündnisstrukturen einbezogen werden. Für die zweite Etappe sieht der Abrüstungsplan beiderseitige Reduzierungen der Streitkräfte um je 500.000 Mann mit ihrer "strukturmäßigen Bewaffnung" vor. Er greift insofern auf den zwei Jahre zuvor im Budapester Appell verkündeten Vorschlag einer Reduzierung um je 25 Prozent zurück. Bei einer Bewertung der Implikationen dieser zweiten Phase gilt es für die NATO zumindest zu bedenken, daß, ungeachtet der in der ersten Phase erzielten Resultate und ungeachtet einer gleichzeitigen Reduzierung auf Seiten des Warschauer Paktes, die gegenwärtigen NATO-Strategie der "flexiblen Reaktion" mit dem Prinzip der "Vorneverteidigung" bei derart einschneidenden personellen Reduzierungen vermutlich nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. In der dritten Etappe sollen dann weitere Reduzierungen und Umstrukturierungen der Streitkräfte vorgenommen werden, so daß diese einen "strikten Verteidigungscharakter annehmen" würden. 13
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In der Frage, wie die stufenweisen Truppenreduzierungen zu verifizieren wären, konkretisieren die Warschauer-Pakt-Staaten die vorangegangenen Vorschläge Schewardnadses. Dieser hatte einen mehrphasigen Verifizierungsprozeß mit einer Kontrolle der Ausgangsdaten, dann des Reduzierungsprozesses und abschließend der verbliebenen Truppen angeregt. Zusätzlich wird jetzt die Einrichtung von Kontrollpunkten im Reduzierungsraum und im Auffanggebiet, die an "Bahnhöfen, Knotenpunkten, Flugplätzen und Häfen zu errichten seien", und die Einrichtung einer internationalen Kontrollkommission mit weitreichenden Vollmachten ins Gespräch gebracht. Als "unabdingbaren Bestandteil" der konventionellen Rüstungskontrolle, der schon in der ersten Etappe wirksam werden müsse, fordert der Warschauer Pakt zur Verhinderung eines Überraschungsangriffs die Schaffung von "Zonen ausgedünnten Rüstungsniveaus", deren Tiefe nach geostrategischen und taktisch-technologischen Kriterien zu bestimmen sei. Hier dürfte einer der Hauptansatzpunkte für westliche Kritik am Gesamtkonzept liegen. Die geostrategischen und bündnispolitischen Strukturen der NATO lassen eine solche Zonenregelung nicht zu, weil zum einen das NATO-Konzept der Vorneverteidigung damit nicht zu vereinbaren ist. Weiterhin wären die Staaten, die hinter dieser Zone liegen würden, in politisch unzumutbarer Weise mit der Aufnahme der zurückzuziehenden Truppen belastet. Erschwerend käme für die westliche Seite die besondere Stellung Frankreichs in der NATO hinzu. Schließlich erscheint aus westdeutscher Sicht die Aufteilung der Bundesrepublik in zwei veschiedene militärische Zonen politisch nicht akzeptabel. Als weitere flankierende Maßnahmen zu diesem Drei-Stufen-Plan fordern die Warschauer-Pakt-Staaten, während der aufzunehmenden Verhandlungen keinerlei Erhöhungen der jeweiligen Potentiale vorzunehmen, nach Abschluß eines Abkommens keine ersatzweisen Aufstockungen in anderen Territorien durchzuführen und die Reduzierungen mit einer Verringerung der Militärausgaben zu verbinden. Parallel dazu verlangen sie, gleich zu Beginn
ergänzende Verhandlungen über die Verringerung der Gefahr eines Überraschungsangriffs aufzunehmen. Vertrauensbildende Maßnahmen wie Ankündigungen und Begrenzungen von Manövern und Truppenverlegungen sollen weiter ausgebaut werden. Zur Verminderung der Kriegsgefahr und zur Schaffung einer stabileren Lage in Europa verlangen die Warschauer-Pakt-Staaten weiter die Reduzierung "und schließlich die Beseitigung der taktischen Kernwaffen". Die Anregung zu einer Aufnahme von gesonderten Verhandlungen über diesen Punkt scheint zu besagen, daß die östliche Seite endgültig von der Forderung abrückt, es müsse im KRK-Kontext über die Beseitigung der taktischen Nuklearwaffen verhandelt werden. Die Frage einer Koppelung konventioneller Streitkräftereduzierungen an die Beseitigung taktischer Nuklearwaffen war bislang einer der Hauptkonfliktpunkte zwischen NATO und Warschauer Pakt. Für die NATO steht dahinter die Auffassung, eine Entnuklearisierung Europas sei mit ihren Sicherheitsinteressen unvereinbar. Daher gilt es auf westlicher Seite als unerläßlich, diese Kontroverse aus der Behandlung der konventionellen militärischen Beschränkungen herauszuhalten. Die in den aktuellen Warschauer Pakt-Initiativen zu erkennende Bereitschaft zu einer gesonderten Verhandlungsführung und zu einer Reduzierung statt sofortiger Beseitigung dieser Waffen könnte daher ein Entgegenkommen gegenüber westlichen Forderungen darstellen. Auch der festgestellte "enge Zusammenhang" zwischen KRK- und KSZE-Prozeß dürfte nicht mehr mit der noch von Gorbatschow in Prag erhobenen Forderung nach einer Beteiligung aller KSZEStaaten an KRK-Verhandlungen gleichzusetzen sein. Der Warschauer Pakt "erachtet es als zweckmäßig", daß während der Verhandlungen der Stand der Rüstungen eingefroren wird. Damit würden gleichzeitig aber auch die bestehenden Asymmetrien zumindest für die Zeit der laufenden Verhandlungen festgeschrieben. Der Westen müßte dann von vornherein auf Möglichkeiten eines "Aufholens" verzichten. Ähnlich verhält es sich auch
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mit dem Schewardnadse-Vorschlag eines Einfrierens der technologischen Entwicklung, der allerdings in die Warschauer Erklärung nicht mit aufgenommen worden ist. Die in Warschau als Begleitmaßnahme der Streitkräftereduzierung vorgeschlagene Reduzierung der Militärausgaben hätte zur Folge, daß für eine verifizierbare Verringerung zunächst die Militärhaushalte offengelegt oder zumindest diskutiert werden müßten. Hierin könnte so eine Chance für die Erfüllung einer weiteren langjährigen westlichen Forderung liegen. 3.
Zum "Abbau von Asymmetrien"
3.1. Das konventionelle Kräfteverhältnis aus sowjetischer Sicht Die Phase I des in der Warschauer Erklärung präsentierten Abrüstungsplanes stellt den Abbau von bestehenden Asymmetrien bei Streitkräften und konventionellen Rüstungen in Europa in den Mittelpunkt. Der Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis und zukünftigen Abrüstungsverhandlungen, wie er sich aus Sicht der Sowjetunion darstellt, wird in dem folgenden Zitat des sowjetischen Verteidigungsministers Jasow deutlich: "Unsere Einstellung zum Problem der Verringerung der Streitkräfte und konventionellen Waffen in Europa gründet sich auf das Vorhandensein eines annähernden Gleichgewichtes zwischen der WVO und der NATO." Bezogen auf die völlig andersartige Einschätzung dieser Grundannahme durch die NATO-Staaten fährt Jasow fort: "Historisch entstandene Disbalancen in der Struktur der Streitkräfte der Seiten stören dieses Gleichgewicht nicht. Wir schlagen dem Westen vor, den Weg asymmetrischer Reduzierungen gemeinsam zu beschreiten: In der Kategorie der Waffen, in der er mehr hat, mag er entsprechende Kürzungen vornehmen, und wo wir eine Übermacht haben, werden wir ohne zu schwanken diesen "Überschuß" liquidieren."14
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Erst seit Anfang 1987 geht die Sowjetunion überhaupt von "Ungleichgewichten" bei konventionellen Waffen aus. Seitdem Gorbatschow bei seiner Prager Rede im April 1987 ohne nähere Spezifizierungen "Ungleichgewichte" erwähnte, spricht man auf sowjetischer Seite in diesem Zusammenhang aber nie von einem "Ungleichgewicht", sondern stets im Plural von "Asymmetrien", bezogen auf Unterschiede in einzelnen Bereichen der zu vergleichenden konventionellen Kräfte beider Seiten. Noch im Mai 1987 meinte Generalstabschef Achromejew sogar, die Sowjetunion selbst habe "nicht auf einem einzigen Gebiet" einen Vorsprung, eine Überlegenheit "gesucht".19 Schon bald danach differenzierten sowjetische Äußerungen hier aber stärker und gaben auch eigene Überlegenheit bei bestimmten Rüstungskategorien zu. In einer offiziellen sowjetischen Bedrohungsanalyse hieß es 1987, daß der Warschauer Pakt auf dem Gebiet der Panzer "tatsächlich mehr hatte" (sie ! ) , sich dieser Vorsprung aber durch den NATO-Beitritt Spaniens und bei einer Berücksichtigung von territorialen Einheiten und in Depots eingelagerten Panzern auf westlicher Seite "wesentlich verringert habe". Eine "Panzerbedrohung" für die NATO existiere daher nicht. Die NATO ihrerseits habe Überlegenheiten bei Panzerabwehrwaffen, gefechtsbereiten Divisionen und taktischen Fliegerkräften, wobei die Übermacht des westlichen Bündnisses bei offensiven Luftstreitkräften allerdings durch einen Vorsprung des Warschauer Vertrages bei Abfangjägern kompensiert werde. Weiter verfüge die NATO über größere personelle Reserven aufgrund der wesentlich höheren Bevölkerungszahl und über eine überlegene Rüstungsindustrie. Ein Gleichgewicht existiere bei der Gesamtpersonalstärke der Streitkräfte und bei der Artillerie. Insgesamt könne so bei den Gesamtstreitkräften und Rüstungen sowie bei den Gefechtsmöglichkeiten der beiden Seiten von einem annähernden Gleichgewicht ausgegangen werden.16
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Im Februar 1988 ging Verteidigungsminister Jasow dann erstmals ausführlicher auf das konventionelle Kräfteverhältnis in Europa ein (siehe Anlage 2 ) . Er warf der NATO vor, es bei einer ständigen Hervorhebung von Übergewichten des Warschauer Pakts bei einzelnen Elementen konventioneller Rüstungen zu belassen und sich zu weigern, die Qualität und Quantität der Rüstungen insgesamt zu vergleichen. Trotz partieller Disproportionen bestehe tatsächlich ein allgemeines militärisches Gleichgewicht (Parität). Die NATO beziehe aber in ihre Streitkräftevergleiche Seestreitkräfte und Luftstreitkräfte meist nicht mit ein, weil sie auf diesen beiden Gebieten selbst erheblich überlegen sei. Weiter zähle sie unberechtigterweise Territorialverbände und spanische und französische Streitkräfte nicht mit. Die bloße Betonung der Landstreitkräfte für einen Abbau von Asymmetrien durch den Westen ziele auf die Erringung einer Überlegenheit über den Warschauer Pakt ab. Jasow sieht im einzelnen in Europa auf jeder Seite drei Millionen Soldaten und eine fünfzigprozentige Überlegenheit der NATO bei gefechtsbereiten Verbänden mit zudem größerer Personalstärke. Andererseits gesteht er die bekannte Überlegenheit des Warschauer Paktes bei den Panzern zu. Diese werde aber kompensiert durch einen Vorsprung der NATO bei Panzerabwehrraketen und Kampfhubschraubern. Bei der Artillerie glaubt Jasow ein ungefähres Gleichgewicht feststellen zu können. Das von der NATO beschworene regionale übergewicht des Warschauer Paktes in Mitteleuropa bestehe zum einen nur bei Nichtberücksichtigung Frankreichs und werde zudem kompensiert durch eine große Übermacht der NATO in Südeuropa. 1 7 In letzter Zeit wird in verschiedenen östlichen Quellen erstmals von einem übergewicht des Warschauer Paktes nicht allein bei den Panzern, sondern auch bei der Artillerie gesprochen.18 Dies könnte auf die Bereitschaft hindeuten, bei einer weiteren Waffengattung eine eigene Überlegenheit einzuräumen. Allerdings ist in all diesen Quellen unverändert wieder von einem Gesamtgleichgewicht die Rede.
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Eine Analyse der Korrelation konventioneller Kräfte in Europa des MEMO-Instituts von 1987 greift ausschließlich auf westliches Zahlenmaterial zurück.19 Wichtiger erscheint, daß hier das für sowjetische Analysen typische methodologische Vorgehen bei einer Bewertung des Kräfteverhältnisses deutlich wird. Zunächst wird konzediert, daß eine Gesamtbalance erreicht werden könne entweder durch annähernde Gleichheit bei jedem einzelnen Indikator oder durch wechselseitige Kompensation für Asymmetrien bei den Indikatoren. Anschließend heißt es, eine vollständige symmetrische Parität sei aufgrund der Komplexität des östlichen und des westlichen Bündnisses weder zu erwarten noch zu erreichen. Insbesondere seien bei den konventionellen Kräften qualitative Faktoren sowie geographische und politische Rahmenbedingungen wesentlich wichtiger als rein quantitative Faktoren. Auf der Grundlage dieser Aussagen können dann westliche Kräftevergleiche, die vorwiegend Asymmetrien zugunsten des Ostens feststellen, zitiert werden. Um diesen Kräftevergleich gewissermaßen abzurunden, werden abschließend westliche Analysen angeführt, die "im Gegensatz zur westlichen Propaganda" insgesamt zu dem Ergebnis gelangen, trotz östlicher Überlegenheiten sei eine konventionelle Aggression zur Zeit kaum möglich bzw. wahrscheinlich. 3.2. Der sowjetische Gleichgewichtsbegriff Die Sowjetunion kommt nicht nur bei der Bewertung des aktuellen Kräfteverhältnisses in Europa zu anderen Einschätzungen als die NATO, sie verwendet auch den Begriff "Gleichgewicht" (Parität) häufig in einem vollkommen anderen Sinn. Seit der Tula-Rede Breshnews im Januar 1977 ist die sowjetische Führung und mit ihr der Warschauer Pakt abgerückt von der bisher vorherrschenden Befürwortung militärischer Überlegenheit, die bis dahin als entscheidende Gewähr der Friedenssicherung präsentiert worden war. Statt dessen hebt sie seither
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das militärische Gleichgewicht als Grundlage der Friedenssicherung hervor, wobei das jeweils bestehende Kräfteverhältnis als paritätisch bezeichnet wird. 2 0 Der Begriff "Gleichgewicht" wird dabei herkömmlicherweise von der Sowjetunion nicht im Sinne einer Parität militärischer Potentiale oder Optionen, sondern in eine Argumentationskette eingebunden, die politische Absichten zur Definition dieses Begriffes verwendet. Militärische Überlegenheit ist demnach zu verstehen als Symbol aggressiver Absichten. Die Sowjetunion
ist als sozialistischer
Staat
zwangsläufig
friedliebend
und
wesensmäßig niemals aggressiv. Gemäß einer Verknüpfung dieser beiden Postulate kann die UdSSR nie nach Überlegenheit streben. Für sie ist demnach immer Parität das Ziel ihrer militärischen und rüstungstechnologischen Bestrebungen. Bemühungen der NATO um einen Ausgleich der von ihr perzipierten militärischen Unterlegenheit können und müssen folglich als Bestrebungen um eine "Untergrabung des entstandenen militärischen Gleichgewichtes" verstanden werden. In jüngster Zeit spielt im Rahmen des "neuen Denkens" der Begriff "Parität" besonders im Zusammenhang mit dem immer stärker herausgestellten Postulat "vernünftiger Hinlänglichkeit" (dostatocnost')2L der Militärpotentiale eine immer wichtigere Rolle. Vernünftige Hinlänglichkeit, Parität und der anlaufende Abrüstungsprozeß im konventionellen Bereich erscheinen dabei aus sowjetischer Sicht unauflösbar miteinander verknüpft, wenn z.B. Gorbatschow für etappenweise Rüstungsverminderungen fordert, daß "während jeder Etappe das Gleichgewicht auf einem Niveau vernünftiger Hinlänglichkeit gewahrt bleiben soll". 22 Auch für die Militärs ist Hinlänglichkeit im konventionellen Bereich zwangsläufig an Parität gebunden. So bekräftigte der sowjetische Generalstabschef Achromejew die Bedeutung von Parität als eines von drei Grundprinzipien neben Hinlänglichkeit und Gegenaktionen. Er betonte, Parität reiche allein nicht aus, um den Frieden zu garantieren, weil eine
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"Fortsetzung des Wettrüstens" die Gefahr berge, daß "selbst die militärstrategische Parität aufhört, ein Abschreckungsfaktor zu sein".23 Ziel müsse daher die Herstellung von "Parität auf niedrigerer Ebene" sein. Achromejew gelingt es auf diese Weise, Parität und Hinlänglichkeit miteinander zu verknüpfen und beide in einen Zusammenhang mit Abrüstung zu rücken. Einseitige oder asymmetrische Abrüstungsschritte werden damit abgelehnt; ein Abrüstungsprozeß kann sich demnach nur auf ein beiderseitiges Herabsenken der Ebene des konventionellen Rüstungsgleichgewichtes beziehen. Unverständlich bleibt angesichts dieser Aussagen, wie der Leiter der Planungsabteilung des sowjetischen Außenministeriums, Mendelewitsch, zu folgender Behauptung gelangen konnte: "Weder in den Thesen (der Parteikonferenz; d.Verf.) noch irgendwo sonst finden sie bei uns, daß defensive Hinlänglichkeit interpretiert wird als Parität auf niedrigerer Ebene - nur als gleiche Sicherheit auf niedrigerer Ebene. Wir brauchen keine formale Parität, wir brauchen zuverlässige Sicherheit".24 Interessant erscheint allerdings das hier geäußerte Verständnis von Parität und Hinlänglichkeit, das erstmals ein Abrücken von herkömmlichen sowjetischen Auffassungen bezüglich eines unbedingten Festhaltens an der "gegenwärtigen Parität" als notwendige Voraussetzung für eine Gewährleistung der eigenen Sicherheit möglich machen könnte. Diese Auffassung wird gestützt durch Äußerungen einiger ziviler Militärwissenschaftler, die kritisch anmerken, daß "sich bei uns ein eigenartiger Paritätskult herausgebildet hat, ... als ob sich Parität in ein absolutes Ziel verwandelt habe" 2 3 , und daß "die stabilisierende Rolle der Parität nicht absolut ist". 26 Aus diesem Verständnis von Parität heraus wird dann eine grundsätzlich andere Einschätzung von Hinlänglichkeit formuliert: "Früher war 'Hinlänglichkeit' der militärischen Mittel der UdSSR auf dem europäischen Schauplatz geprägt durch die Anforderung, eine beliebige Aggression zurückzuweisen, eine beliebige Koalition feindlicher Staaten zu zerschlagen. Heute
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stellt sich diese Aufgabe prinzipiell einen Krieg an sich zu verhindern."27
anders: abzuschrecken,
Dieses neue, allerdings erst vereinzelt auftretende Paritätsverständnis könnte trotz unveränderter Einschätzung des bestehenden Kräfteverhältnisses - denn auch diese zivilen Militärwissenschaftler gestehen eine östliche Gesamtüberlegenheit keinesfalls zu - eine Bereitschaft zu einseitigen oder asymmetrischen Reduzierungen konventioneller Streitkräfte andeuten. Das heute eindeutig vorherrschende Verständnis aber, das davon ausgeht, daß Parität zum einen bei der aktuellen Kräftekorrelation gegeben und zum anderen unabdingbare Voraussetzung für die eigene Sicherheit sei, läßt eine solche Bereitschaft keinesfalls erwarten. 4.
Zur Zielsetzung "Defensivität"
4.1. Konventionelle Abschreckung aus sowjetischer Sicht Der Warschauer Pakt bekennt sich im Rahmen seiner Militärdoktrin seit der Ost-Berliner Erklärung deutlicher zum Ziel der Kriegsverhinderung. Im Rahmen dieser Zielvorgabe wird heute nicht mehr nur im nuklearen Bereich von "Abschreckung" (sderzivanie) gesprochen. Herkömmlicherweise galt "sderzivanie" im sowjetischen Verständnis als ein Negativbegriff, der nur auf die westliche Seite bzw. deren Zielsetzung einer nuklearen Abschreckung angewendet wurde. Gerade diese Ablehnung der nuklearen Abschreckung indiziert ein von westlichen Einschätzungen abweichendes Verständnis von Kriegsverhinderung.28 Neben diesem unterschiedlichen Verständnis von nuklearer Abschreckung lassen sich auch auf niedrigerer Eskalationsebene grundsätzlich divergierende Konzeptionen von Abschreckung in Ost und West feststellen. Von der Sowjetunion wird die Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft im konventionellen Bereich damit begründet, daß ein potentieller Aggressor unter den Bedingungen des Nuklearzeitalters von der Entfesselung eines Krieges abgehalten werden solle. Der Verteidigungs-