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German Pages 370 Year 2014
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung
Edition Kulturwissenschaft | Band 13
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.)
Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7
K RISENPHILOSOPHIE Medientheorie und Krise
Rainer Leschke | 9 Zum Anteil apokalyptischer Szenarien an der Normalisierung der Krise
Jürgen Link | 33 Kritik der Krise
Otto Neumaier | 49
G ESCHICHTE UND K ULTURKRITIK Krise als Herausforderung und Chance im 14. Jahrhundert. Dekonstruktion und Rekonstruktion von Lebensentwürfen im Königreich Kastilien
Raphaela Averkorn | 71 Von Ma’at bis zum Firmenlogo. Die Waste-Land-Metapher als Narrativ ständiger Krisenbekämpfung
Bernhard Braun | 101 Narrative der Krise
Walburga Hülk | 113 The Romance of Violence and the Crisis of mid-20th Century America. Stanley Kubrick’s 2001: A S PACE ODYSSEY
C. Stephen Jaeger | 133 Langeweile, Müdigkeit und Krise in der italienischen Literatur des 19. Jahrhunderts
Sabine Schrader | 153 Der spanische Patient. Krisendiagnose, Reformdiskurse und Projektemacherei im spanischen 18. Jahrhundert
Christian von Tschilschke | 169
G ENDER UND M EDIZIN Sex, Lügen und Video-Clips. Szenarien krisenhafter Männlichkeit in der zeitgenössischen Populärkultur
Stefan L. Brandt | 189 Väter und Amnesie. Männlichkeiten in: I RGENDWO IN BERLIN und C RACK UP
Uta Fenske | 205 Der stille Ruf des Martinshorns – gesundheitliche Krisen und Krisenerzählungen im medizinischen Alltag
Michael Krummacher | 225 psyché, soma, logos. Medizinische Verhandlungen zwischen Seele und Körper in der französischen und spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts
Gregor Schuhen | 243 Die Koinzidenz familiärer und körperlicher Krisen in Patrice Chéreaus S ON F RÈRE
Theresa Vögle | 263 Von „alten Herren“ und „neuen Frauen“: Genderkrisen in der utopischen Literatur des Spätviktorianismus
Eckart Voigts | 277
AKTUELLE K RISENDIAGNOSEN Krise der Volksparteien – Krise der Demokratie?
Sigrid Baringhorst | 293 Die Komik der Krise
Jens Grimstein | 309 Die Wiederkehr des Verdrängten
Jürgen Kaube | 329 Wahrnehmung und Folgen ökonomischer Krisen
Karl-Josef Koch / Annika Jung | 333 Pest, Atomkrieg, Klimawandel − Apokalypse-Visionen und Krisen-Stimmungen
Maren Lickhardt / Niels Werber | 345 Autorinnen und Autoren | 359
Vorwort
Der Börsencrash des Herbstes 2008 liegt nun bereits vier Jahre zurück. Die globale „Krise“ aber, die mit ihm ausgerufen wurde, ist auf Dauer gestellt. Sie ist zum allgegenwärtigen Schlagwort des medialen Alltags geworden, zu einem Passe-Partout für ökonomische Diagnosen, kulturkritische Verlautbarungen, Optimierungsstrategien und Empfehlungen zum „guten“ Leben. Keine Nachrichtensendung und Tageszeitung, kein Online-Portal und kaum eine Talkshow oder ein Ratgeber kann mehr verzichten auf die Erinnerung an die Bedrohlichkeit dessen, was „Krise“ genannt wird. Die Krise ist dabei so allfällig wie unheimlich und vor allem höchst ambivalent: Sie bedroht, sie zerstört, sie macht Angst, sie legitimiert allerlei politische Fehlentscheidungen – sie ist aber auch Chance, weckt Hoffnungen auf den Neustart und schürt Ehrgeiz. „Krisen lieben?“ lautete die Frage der ersten Ausgabe des seit 2012 wieder erscheinenden Kursbuchs. Wie immer man dazu steht, man hat es mit einem insistierenden und problematischen Gegenwartstopos zu tun, gerade weil dieser auch phantomatische Züge annimmt: Die Krise nämlich handelt scheinbar aktiv, tritt in den Medien auf als Akteur und das nicht nur im grammatikalischen Sinne. Eingesetzt wird sie dabei in ganz unterschiedlichen Kontexten: neben der ökonomischen sind persönliche Krisen, gesundheitliche Krisen, Beziehungskrisen, politische und kulturelle Krisen auf der Tagesordnung, was zur Frage verleitet: Ist die Krise möglicherweise längst zu einem intermittierenden, symbolisch generalisierten Kommunikationscode der Massenmedien geworden? Der vorliegende Sammelband ist hervorgegangen aus einer Vortragsreihe an der Universität Siegen. Er möchte aus einer inter- und transdisziplinären Perspektive die Narrativierung von Krisenerfahrungen und -situationen näher in den Blick nehmen. Denn in Zeiten epochaler Umbruchs- bzw. Krisensituationen, so die zentrale These, werden häufig Erzählmuster entwickelt, um der subjektiven oder kollektiven Wahrnehmung von Gefährdungen diskursiven Ausdruck zu verleihen und Lösungsmuster zu entwickeln. Oft genug werden apokalyptische bzw. eschatologische Szenarien, skyfalls, entworfen und auch antike und moderne Mythen (z.B. Orpheus, Hamlet, Faust) dienen immer wieder als narratives Dispositiv von Krisen. Zu beobachten ist, dass etliche mediale Gattungen oder Formate von Krisen leben, dass sich
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ganze Diskursfelder und Wissenschaften überhaupt erst aus der Wahrnehmung von Krisen herausbilden. Dieses gilt nicht nur für die Gegenwart. Vielmehr zeigt der Blick auf die lange Geschichte, dass Krisen zu ihrem Kernbestand gehören, vielleicht ihr Ermöglichungsfaktor sind. Krisen spitzen sich zu, sind in der Regel aber keine Ereignisse und lassen sich nicht punktuell zuschneiden. Vielmehr scheinen ihre Verlaufsformen und Konjunkturen jener vielschichtigen histoire langer Dauer eingeschrieben zu sein, die Fernand Braudel in schwierigen Zeiten herauspräpariert und seinem Verständnis von Zeitschichten zugrunde gelegt hat. Das freilich ging nicht ohne Geduld und Gelassenheit, die in Zeiten großer Aufgeregtheit stets gute Lehrmeisterinnen sind. Das Herausgeberteam dankt zunächst den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Mitarbeit am Zustandekommen des vorliegenden Bandes. Ferner bedanken wir uns bei Theresa Vögle für die krisenresistente Unterstützung bei der Koordination und Redaktion des Bandes sowie bei Britta Künkel, Jennifer Novak und Mona Schmitz für ihre Korrekturarbeiten. Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen Siegen, im November 2012
Medientheorie und Krise R AINER L ESCHKE
Der Krisenbegriff betrat gemeinsam mit dem der Moderne die europäische Bühne der Ideologeme und wurde wie auch der Begriff der Moderne erst so richtig virulent, als die Sache bereits vorbei war und d.h., sobald die Moderne selbst in die Krise1 geriet. Danach konnte, so scheint es, so ziemlich alles
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Vgl. „Modernity as Crisis“ in: Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Cambridge/London 2000, S. 74ff.: „Modernity itself is defined by crisis, a crisis that is born of the uninterrupted conflict between the immanent, constructive, creative forces and the transcendent power aimed at restoring order.“ (Hardt/Negri: Empire, S. 76) Hardt und Negri gehen davon aus, dass die Moderne per se krisenhaft verfasst ist und d.h. dass sie quasi von Beginn an krisenhafte Züge trage: „In the seventeenth century the concept of modernity as crisis was definitively consolidated.“ (Hardt/Negri: Empire, S. 77) Dem steht das relativ späte Aufkommen des Krisenbegriffs in der theoretischen Diskussion entgegen, das für gewöhnlich den historischen Prozess von seinem Ausgang, also zumindest manifest krisenhaft wenn nicht gar katastrophisch denkt. So wird selbst die Erfindung des Subjekts, also jene höchste Leistung der Aufklärung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zweifellos in die Krise gerät, von Hardt und Negri bereits an ihrem Entstehungspunkt, also bei Kant, als Krise wahrgenommen: „Kant throws us back into the crisis of modernity with full awareness when he poses the discovery of the subject itself as crisis, but this crisis is made into an apology of the transcendental as the unique and exclusive horizon of knowledge and action. The world becomes an architecture of ideal forms, the only reality conceded to us.“ (Hardt/Negri: Empire, S. 81) Die Krise ist somit nicht nur ein Zeitphänomen, sondern sie ist vor allem ein Zeitproblem, insonderheit eines der Terminierung: Niemand scheint genau ihren Anfang und ihr Ende zu kennen. Dass dann eine Universalisierung des Konzepts zu seiner nicht weniger vollständigen Implosion in einem Nicht-Ort führt, ist dann eigentlich selbstevident und zunächst einmal schlichtes Resultat der Begriffsregie: „In this sense, the clearly defined crisis of modernity gives way to an omnicrisis in the imperial world. In this smooth space
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eine Krise haben und insbesondere Lebewesen und Sozialsysteme eigneten sich ganz vorzüglich dazu, solche Krisen auszubilden. „Welcher Lebensbereich heute möchte nicht seine eigene Krise haben“2, merkte dann noch Adorno an, nachdem der Begriff es aufgrund diverser welthistorischer Katastrophen längst in die vorderen Ränge der Ideologeme geschafft hatte. Nur gibt es, um überhaupt Krisen haben zu können, offenbar eine unabdingbare Voraussetzung: Die betreffende Angelegenheit muss auf jeden Fall Zeit haben, ja sie muss möglichst über eine eigene Zeit verfügen. Denn Phänomene, die nicht wenigstens in irgendeiner Form zeitkritisch sind, sind gemeinhin nicht krisenfähig. Krisen verdanken sich so stets einem Vorher und einem Nachher, was sie im Übrigen mit dem Ereignis gemeinsam haben. Aber selbst wenn Krisen Ereignischarakter haben, dann muss es sich bei Krisen doch um einen spezifischen Typ von Ereignis handeln, nämlich um einen, bei dem die Vorher-Nachher Relation eine besondere Eigenschaft aufweist, ist doch das Nachher der Krise im Gegensatz zu dem des Ereignisses auf eine charakteristische Weise uneindeutig: Das Nachher kennt bei Krisen zumindest zwei Zustandsformen. Diese Zustände sind zugleich keineswegs beliebig, sondern solche, die einen Antagonismus bilden, der sich zumeist auch noch durch enorme Bedeutsamkeit für das betroffene Objekt auszeichnet: Es geht um Leben und Tod, um Gesundheit und Krankheit, um Erfolg und Misserfolg, um Glück und Unglück und nur selten um weniger. Die Krise ist also der Punkt der Entscheidung in Verläufen, der zwischen diesen beiden mit kolossaler Bedeutung aufgeladenen Zuständen diskriminiert. Die Krise ist genauso geeignet, den linearen Verlauf fortzusetzen, was dann der positiven Lösung entspricht, wie ihn aufzuheben und einen neuen Prozess zu starten oder aber auch gar nichts mehr zu beginnen, was dann der negativen Alternative zur Realität verhelfen würde. Als ein solchermaßen ausgezeichnetes Ereignis wird die Krise nahezu zwangsläufig zu einem historischen Begriff. Krise ist von daher ein besonders charakteristisches Verhalten in der Zeit, das sich vorzüglich zur Skandierung von Verläufen eignet. Dass Geschichte dann als eine Geschichte von Krisen erzählt werden kann, verwundert kaum, verfügt sie doch wie das Ereignis über eine narrative Grundstruktur, die zudem noch durch eine strukturbedingte enorme Bedeutungsaufladung und eine antagonistische Struktur der narrativen Dramaturgie sehr zupass kommt. Der Antagonismus der Krise lässt sich nur zu gut in den narrativen Grundkonflikt von Antagonisten und Protagonisten übersetzen. Die Krise weist eine so hohe Affinität zu narrativen Formen auf, dass ihre Erzählbarkeit quasi strukturell sichergestellt ist. Dass man Geschichtsverläufe quasi
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of Empire, there is no place of power – it is both everywhere and nowhere. Empire is an ou-topia, or really a non-place.“ (Hardt/Negri: Empire, S. 190). Adorno, Theodor W. [1956]: „Aktualität der Erwachsenenbildung. Zum Deutschen Volkshochschultag“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1: Vermischte Schriften I, Frankfurt a.M. 1986, S. 327-331, hier S. 328.
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vollständig als eine Geschichte von Krisen rekonstruieren kann, haben nicht zuletzt die diversen Revolutionsgeschichten, in Sonderheit diejenigen materialistischer Provenienz, demonstriert. Überhaupt weist das Krisenmodell eine strukturelle Nähe zu dialektischen oder morphologischen Geschichtsmodellen auf: Jeder dialektisch konzipierte Weltlauf ist durch spezifische Umschlagpunkte gekennzeichnet, die nichts anderes als Krisen sind. Hegel hat bekanntlich dieses Modell ohne sonderliche Rücksichten auf die Sachlage an der Weltgeschichte durchexerziert.
1. Krisen der Wissenschaften Wenn man also an Krisen von Bedeutung denkt, dann zweifellos an kritische historische oder persönliche Situationen, aber sicherlich nicht an die von Theorien. Selbst wenn die Krise, wie oben angedeutet wurde, quasi strukturell in die Dialektik eingebaut ist, dann ist sie damit noch längst keine Eigenschaft von Theorie generell. Theorien sind gemeinhin als Aussagen über Sachverhalte bekannt, nicht jedoch als dramatische Verläufe und vor allem werden Theorien nicht erzählt, sondern angeschrieben. Theorien zeichnen sich ferner durch den systematischen Versuch, ihre Zeitlichkeit zu tilgen, aus. Theorien schielen spätestens seit der Renaissance auf Universalität und die steht nun einmal im systematischen Gegensatz zur Zeit. Insofern scheint es eine kaum zu überwindende charakteristische Differenz zwischen Theorie und Krise zu geben. Dennoch fällt zumindest an bestimmten akademischen Praxisformen eine gewisse Nähe zu krisenhaften Verläufen auf: Die Disputatio als akademischer Diskursmodus mit einer keineswegs unbedeutenden Geschichte ist zumindest durch eine antagonistische und damit potentiell durchaus auch krisenhafte Struktur gekennzeichnet. Allerdings beschränkt sich dieser Diskursmodus insonderheit auf nur einen Wissenschaftstyp, nämlich den, der später einmal zu den Geisteswissenschaften werden sollte. In diesen allerdings hat sich nicht nur dieser Diskursmodus vergleichsweise ungestört erhalten, sondern die Geisteswissenschaften sind offensichtlich auch durch ein besonderes Verhältnis zur Zeit gekennzeichnet: Sie veralten nämlich und d.h., ihre Universalität und ihr Universalitätsanspruch ist charakteristisch terminiert. Darin, dass sie dem Risiko der Zeit ausgesetzt sind und Zeit nicht einfach in die Differenz von wahr und falsch übersetzen können, unterscheiden die Geisteswissenschaften sich nachhaltig von dem naturwissenschaftlichen Konkurrenzunternehmen, das immerhin für einen entscheidenden Zeitraum in der Lage war, das Bild von Wissenschaft zu monopolisieren. Der erste, der so etwas wie eine ausdrückliche Krisenerfahrung gerade auch in der Wissenschaft gemacht hat, ist Husserl gewesen3. Allerdings ging
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Nietzsche war da, wenigstens was die eigene Person anbelangt, entschieden unbescheidener, zumindest aber werden persönliche und politische Krise wie sonst
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es dabei um eine „Krisis der Wissenschaften als Ausdruck der radikalen Lebenskrise des Europäischen Menschentums“ 4 und d.h. um eine ziemlich einmalige Angelegenheit. Husserl hat damit zugleich seine Krisis nicht nur als eine der Wissenschaften, sondern als eine generelle Lebenskrise gedacht. Wissenschaft ist von daher allenfalls ein krisenhaftes Phänomen unter anderen und die Bedeutung des Vorgangs resultiert vor allem aus der synchronen Kumulation der Krisen unterschiedlicher Sphären. Wissenschaft stellt in diesem Sinne kein per se krisenhaftes System dar, wie das Kuhn einmal formulieren wird, sondern die Revolutionen des Wissenschaftssystems wie etwa der Umbruch von einem „wissenschaftlichen Objektivismus“ in einen „transzendentalen Subjektivismus“5 mögen radikale Veränderungen darstellen, sie sind jedoch noch längst nicht aus sich heraus krisenfähig. Selbst wenn das Wissenschaftssystem von Husserl bereits als ein gewordenes interpretiert wird, so bedeutet das noch längst nicht, dass Bewegungen in diesem System Bedeutung über das System selbst hinaus erlangen müssen. Aber erst in dieser Allgemeinheit wären sie dann auch zur Krise fähig. Wird dem dann noch Husserls „teleologische Geschichtsbetrachtung“6 unterlegt, so wird deutlich, warum es zwangsläufig bei der Krise als einem einmaligen Ereignis bleiben muss. Die prekäre Mischung von „Menschheitsfragen“ und „Reich der Wissenschaft“, die Abkehr vom „bloße[n] Tatsachenmenschen“ und akute „Le-
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nur selten in Eins gesetzt: „Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab [...]. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. […] Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, [...]. […] Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt - sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an gibt es auf Erden große Politik.“ (Nietzsche, Friedrich [1889]: „Ecco homo. Wie man wird, was man ist“, in: ders.: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, München 21973, S. 399-482, hier S. 475). Husserl, Edmund [1936]: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die trans¬zendentale Phänomenologie“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 1992, S. 1. Das ist auch das Charakteristikum von Nietzsches Krisenbegriff: Krise als eine historisch einmalige Entscheidungssituation. „Diese größte aller Revolutionen bezeichnet sich als die Umwendung des wissenschaftlichen Objektivismus, des neuzeitlichen, aber auch desjenigen aller früheren Philosophien der Jahrtausende, in einen transzendentalen Subjektivismus.“ Husserl: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“, S. 69. Ebd., S. 74.
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bensnot“ sind es, die diese Krise der Wissenschaften ausmachen. Motiviert ist sie in einem offenbaren Verlust wissenschaftlich hergestellter Sicherheit: „Wir Menschen der Gegenwart […] finden uns in der größten Gefahr, in der skeptischen Sintflut zu versinken und damit unsere eigene Wahrheit fahren zu lassen.“ Dieses Schwinden der Sicherheit aber bedeutet zugleich für Wissenschaft und Philosophie einen eklatanten Funktionsverlust und nur wenig könnte einem euphemistisch als „Funktionär der Menschheit“7 apostrophierten Philosophen abträglicher sein. Wissenschaftstheorie kann also durchaus auch einen Hang zum Prätentiösen haben, weiß sie doch gelegentlich oder meint es wenigstens, wo es insgesamt lang geht. Wenn sie sich dann auch noch der Krise selbst bemächtigt, dann kann ihr selbst eigentlich kaum mehr etwas passieren, wird sie doch erst mit dem Hereinholen des Negativen wirklich unempfindlich gegen den Lauf der Dinge. Jene Immunisierung gegenüber dem Objekt, die Husserl so fürchtete, ereignet sich damit in der Wissenschaftstheorie gleichsam subkutan. Popper hat zweifellos an der Husserlschen Krisenerfahrung partizipiert, wenn er auch dessen Vertrauen auf philosophische „Apodiktizität“8 kaum teilte. Er ging weiter als Husserl, weil er sich von der Idee einer sicheren Basis des Wissens verabschiedet hat. Popper wendete die Krisenerfahrung produktiv und machte sie zum Kern seiner strategischen Überlegungen zur Wissenschaftstheorie. Er ging davon aus, „daß die Erkenntnislogik an die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen anzuknüpfen hat“ 9, und unterlegte dem Erkenntnisprozess generell und damit zwangsläufig auch dem Wissenschaftsbetrieb eine antagonistische Struktur. Von daher unterschied er sich zwar nicht von Husserl, allerdings war Poppers antagonistische Struktur nicht einmalig, sondern universal. Damit war sie jedoch auch nicht temporalisierbar: Der Antagonismus von Wissen und Nicht-Wissen ist vielmehr prinzipiell untilgbar. Bei Popper muss diese antagonistische Struktur in der Wissenschaftsgeschichte prozessiert werden und d.h., es sind ständig Konflikte um Wissen und Nichtwissen auszutragen. Diese Spannung zwischen Nichtwissen und Wissen, das Problem und nicht die Akkumulation von Wissen bildet für Popper den Ursprung von Wissenschaft. Dem kritischen Impuls inhäriert insofern bereits die Krise. Der Krise des Wissens, die solchermaßen zur Urszene von Wissenschaft wird, kommt insofern eine enorme Bedeutung in der Konzeption der Dynamik des Wissenschaftssystems zu. Popper stellt mit der Implementation des Moments der Kritik in den Wissenschaftsprozess die Krise auf Dauer:
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Husserl: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“, a.a.O., S. 5, 4, 12, 15. Ebd., S. 16. Popper, Karl R. [1969]: „Die Logik der Sozialwissenschaften“, in: Theodor W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 21972, S. 103-123, hier S. 104.
14 | R AINER L ESCHKE „Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen Lösungsversuchs (oder Einfalls), der von der schärfsten Kritik kontrolliert wird.“ „Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode; das heißt aber vor allem darin, daß keine Theorie von der Kritik befreit ist und auch darin, daß die logischen Hilfsmittel der Kritik – die Kategorie des logischen Widerspruchs – objektiv sind.“10
Bei Popper fallen mithin Objektivität und Kritizismus faktisch zusammen und Kritizismus ist wiederum nichts anderes als die auf Permanenz gestellte Krise. Die unentwegte Provokation der Krise generiert dabei zugleich die innere Dynamik der Wissenschaft. So ist die Krise der Wissensproduktion untilgbar eingeschrieben. Die Voraussetzung einer Implementation des Krisenmodells war eine konsequente Historisierung des Wissens. Wenn jedoch Wissen stets mit einem historischen Index versehen ist, dann verliert es zumindest in einem naturwissenschaftlichen Begründungshorizont seine Kohärenz: Das Erklärungsmodell des Wissenssystems und das der Erklärung seiner historischen Dynamik treten so zwangsläufig auseinander, da für alle nicht-linearen historischen Modelle also alles, was über ein banales Fortschrittskonzept hinausgeht, auf geisteswissenschaftliche Erklärungsmodelle zurückgegriffen werden muss. Insofern handelt man sich mit der Historisierung des Wissens die Notwendigkeit einer Applikation von geisteswissenschaftlichen Denkmodellen auf das Wissenschaftssystem einschließlich der Naturwissenschaften ein. Die latente Hermeneutisierung11 der Wissenschaftstheorie und damit der unterschwellige Siegeszug eines Außenseiters der Wissenschaftsgeschichte wie der Geisteswissenschaften hängen mit dem zusammen, was man als die historische Wende in der Wissenschaftstheorie12 bezeichnen könnte. Wissenschaftshistorisch ist diese Rückkehr der Hermeneutik in die Wissenschaftstheorie durchaus interessant, denn die Hermeneutik war ursprünglich nichts anderes als eine Reaktion auf den Rausschmiss des Wissens der Geisteswissenschaften aus dem Wissenschaftssystem im 18. Jahrhundert. Nachdem die Hermeneutik sich quasi außerhalb des Wissenschaftssystems bedingt erfolgreich zur wissenschaftlichen Methode zu mausern versuchte
10 Ebd., S. 106. 11 Implizit setzt diese bereits bei Husserl ein, wenn er von „einer Art Zirkel“ im historischen Verständnis spricht und davon, dass „das Verständnis der Anfänge […] voll nur zu gewinnen von der gegebenen Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt“ (Husserl: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“, a.a.O., S. 59) sei. 12 Zwar baute auch Husserl seine Wissenschaftstheorie historisch auf und er fand durchaus auch so etwas wie „historische Sprünge“ (Husserl: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“, a.a.O., S. 59) in der Wissenschaftsgeschichte, allerdings hinderte ihn ein teleologisches Denken daran, diesen Prozess auf Permanenz zu stellen und zum Grundzug der Wissenschaftsdynamik zu machen.
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und in diesem Prozess bis hin zu Dilthey eigentlich nie ihre Defensivhaltung verlor, wird sie nun implizit auf das Wissenschaftssystem selbst angewandt, sobald es um dessen Geschichte geht. Heidegger sucht diese Rückkehr der Verfügbarkeit des Wissens in die Geisteswissenschaften auszunutzen: Die wiedererlangte Lufthoheit der Geisteswissenschaften verführte Heidegger zu jener Hybris, die das naturwissenschaftliche Erklären „als existenziales Derivat des primären, das Sein des Da überhaupt mitkonstituierenden Verstehens interpretiert“13 und es damit systematisch zu bagatellisieren sucht. Dieser fundamentalontologische Versuch aufzutrumpfen blieb jedoch in seiner ebenso bizarr wie trotzig anmutenden Kontrafaktizität jenem enormen Erfolg angewandter Naturwissenschaften14 gegenüber einigermaßen folgenlos. Zugleich verspielte er mit seiner charakteristischen ontologischen Zurückhaltung gegenüber der Historizität das Kapital, das den Geisteswissenschaften allererst die Rückkehr aufs Spielfeld ermöglicht hatte. Im Gegensatz zu Heideggers ontologischem Gestus ist Poppers Begriff der Kritik überhaupt nur als historischer denkbar: Wissenschaft ist dann notwendig ein unabschließbarer Prozess und nicht eine bare Sammlung von Wissen und Aussagen und für solche auf Dauer gestellten Prozesse ist nun einmal die Geschichte da. Popper selbst lässt den Prozess der Wissenschaftsgeschichte mit Ausnahme der stetigen Interventionen seines Falsifikationismus15 weitgehend offen: Geschichte taucht bei ihm allenfalls als implizite Notwendigkeit, nicht jedoch als konkrete Möglichkeit oder gar historisches Phänomen auf. Da bei Popper Historizität ausschließlich implizit repräsentiert ist und er zudem niemals genötigt ist, wirklich konkret zu werden, und er nie wirklich über die Aussage hinausgeht, dass mit Entwicklungen zu rechnen sei, und da er ferner sich auch nicht anschickt, dem Prozess irgendeine Richtung zu geben, muss er sich um den historischen Prozess selbst auch nicht kümmern, solange er nur belegen kann, dass ein solcher stattfindet. Popper stoppt so im Prozess der Konkretisierung systematisch, kurz bevor es erforderlich würde, hermeneutisch zu werden und sich somit ein zumindest konträres Wissensmodell einzuhandeln. Die prinzipielle Historisierung des Wissens reicht allein also noch nicht aus, um der Hermeneutik wieder Eingang in die Modellierung des Wissenschaftssystems zu verschaffen. Und auch das Krisenmodel, das wie bei Popper prinzipiell durchaus aufgerufen sein kann, wird erst realisiert, wenn Wissenschaftstheorie notwendig und konkret mit Wissenschaftsgeschichte
13 Heidegger, Martin [1927]: Sein und Zeit, 12. unveränderte Aufl., Tübingen 1972, S. 143. 14 Diesem Triumph technischer Machtergreifung sah selbst Heidegger sich genötigt, seine Referenz zu erweisen. „Das Meistern-wollen wird um so dringlicher, je mehr die Technik der Herrschaft des Menschen zu entgleiten droht.“ (Heidegger, Martin: „Die Frage nach der Technik“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13-44, hier S. 15). 15 Popper, Karl R. [1934]: Logik der Forschung, Tübingen 31969, S. 47ff.
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zusammengedacht wird. Die Krise muss in diesem Sinne immer schon konkret sein, wenn sie als historisches Modell wissenschaftstheoretisch wirksam werden soll. Die vorläufig vollständigste Applikation eines solchen konkreten Geschichtskonzepts auf die kollektive Generierung von Wissen stellt das Kuhnsche Revolutionsmodell dar: Kuhn hat mit seiner Analyse der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ darauf aufmerksam gemacht, dass Theorieentwicklung per se allenfalls als normale Wissenschaft und d.h. vorübergehend von Krisen ausgespart ist. Er codiert Poppers ontologischen Kritizismus, der schon die Krise als wissenschaftliche Normalform kannte, in ein historisches Epochenmodell um. Und diesem Epochenmodell rückt er dann wiederum mit den bekannten geisteswissenschaftlichen Modellen historischer Dynamiken zu Leibe. Heraus kommt die permanente Revolution des Wissenschaftssystems. Was Kuhn beschreibt, das ist nicht eine einer eigenen Logik gehorchende Dynamik, sondern der Austausch von Modellen oder Paradigmen, zwischen denen nicht notwendig eine logische Beziehung bestehen muss. Da auch der Wahrheitsbegriff zu relativieren ist und Kuhn noch über Poppers Reduktion des Wahrheitsmomentes auf ein regulatives Prinzip hinausgehen muss, besteht das Resultat aus einer Serie von Modellen, die über keine andere Kopplung verfügen als die sozialer und kultureller Prozesse. Die Reduktion des Einflusses der Referenz und die nur sehr spezifischen Kopplungen zwischen unterschiedlichen Paradigmen erzeugen zwangsläufig einen Bruch zwischen den verschiedenen Paradigmen und damit die Notwendigkeit, auf wissenschaftsimmanente Erklärungsmodelle weitgehend verzichten zu müssen. Damit bleiben nur, wenn man nicht auf irgendwelche metaphysischen Konzepte zurückzugreifen geneigt ist, wofür das Wissenschaftssystem zweifellos eine denkbar schlechte Umgebung darstellt, die konventionellen historischen Erklärungsstrategien übrig16, so dass es eigentlich wenig erstaunlich ist, dass geisteswissenschaftliche Modelle zum Zuge kommen. Im Prinzip sind es insbesondere die Erklärungsgrenzen eines an den Naturwissenschaften orientierten Begriffs vom Wissenschaftssystem, die die Wissenschaftstheorie zu einem solchen Paradigmen- und Systemwechsel nötigen. Heideggers Idee einer nicht Selbst-Verfügbarkeit von Wissenschaft erhält hier implizit von Kuhn eine nachträgliche Bestätigung: Das naturwissenschaftliche Wissenschaftssystem, an dem Kuhn sich abarbeitet, ist nicht aus sich heraus in der Lage, seine Geschichte zu erklären, und muss insofern auf ein anderes Erklärungsmodell zurückgreifen. Ob das nun wie bei Heidegger die Philosophie oder wie bei Kuhn die Geisteswissenschaften sind, ist demgegenüber eine eher pragmatische Frage.
16 „Das Ergebnis all dieser Zweifel und Schwierigkeiten ist eine historiographische Revolution in der Untersuchung der Wissenschaft, auch wenn sie sich noch im Frühstadium befindet.“ Kuhn, Thomas S. [1962]: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 151999, S. 17.
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Kuhns Beobachtung, dass Wissenschaften in Krisen geraten können, war durchaus nicht neu und sie hatte durch die Krise der Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf die sich ja auch Popper bezieht, zweifellos neue Nahrung erhalten, neu war allerdings, dass Krisen über einen systematischen Ort in der Morphologie von Wissenschaften verfügen. Krisen waren damit keine schicksalhaften Ereignisse innerhalb von Einzelwissenschaften, sondern ein gewöhnlicher Teil wissenschaftshistorischer Entwicklungsprozesse. Zwar bleibt auch Kuhn in seinem Konzept „normaler Wissenschaft“17 der Idee einer unkritischen, nicht-krisenhaften Wissenschaftskonstellation unter der Ägide eines durchgesetzten Paradigmas verhaftet, dennoch geraten Bewegung und damit wissenschaftliche Weiterentwicklung einzig durch Krisen in das Wissenschaftssystem. Die Krise ist also eine Leistung und damit durchaus ein positiver Entwicklungsstand eines Wissenssystems, denn er bereitet erklärungsstärkeren Theorien den Weg: „Da das Auftauchen neuer Theorien eine umfassende Paradigmenzerstörung und größere Verschiebung in den Problemen und Verfahren der normalen Wissenschaft erfordert, geht ihm im allgemeinen eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit voraus. Wie zu erwarten, wird diese Unsicherheit durch das dauernde Unvermögen erzeugt, für die Rätsel der normalen Wissenschaft die erwartete Auflösung zu finden. Das Versagen der vorhandenen Regeln leitet die Suche nach neuen ein.“ „Die Bedeutung von Krisen liegt in dem von ihnen gegebenen Hinweis darauf, daß der Zeitpunkt für einen solchen [Theorie- oder Paradigmen-; Anm. d. Verf.] Wechsel gekommen ist.“18
Krisen im Kuhnschen Konzept des Wissenschaftssystems haben jenen noch bei Husserl vorherrschenden apokalyptischen Charakter vollkommen verloren; sie sind vielmehr produktiv geworden und generieren ausgerechnet das, für das das erfolgreich ökonomisierte gegenwärtige Wissenschaftssystem insgesamt steht: Innovation. Die normale Wissenschaft ist demgegenüber konservativ und neigt kaum zu Überraschungen: „Die normale Wissenschaft strebt nicht nach neuen Tatsachen und Theorien und findet auch keine, wenn sie erfolgreich ist.“19 Dass Krisen durchaus so etwas wie ein Reifestadium von Wissenschaften zu indizieren vermögen, vermerkte dabei bereits Heidegger: „Das Niveau einer Wissenschaft bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig ist. In solchen immanenten Krisen der Wissenschaften kommt das Verhältnis des positiv untersuchenden Fragens zu den befragten Sachen selbst ins
17 Vgl. ebd., S. 37ff. 18 Ebd., S. 80 und S. 89. 19 Ebd., S. 65.
18 | R AINER L ESCHKE Wanken. Allenthalben sind heute in den verschiedenen Disziplinen Tendenzen wachgeworden, die Forschung auf neue Fundamente umzulegen.“20
Ob man gleich vom Niveau einer Wissenschaft sprechen muss, mag vielleicht fraglich sein, zumal Niveau hier einzig den fälligen Übergang zur Philosophie signalisiert. Offenbar steckt auch hier noch ein Rest jener Husserlschen Hoffnung darin, dass die Krise sich als ein einmaliges Phänomen erweisen und man es nicht mit einer permanenten Krise der Wissenschaft zu tun haben werde oder gar generell von Wissenschaft als einer krisenhaften Erscheinung ausgehen müsse. Die Krise bei Kuhn findet sich hingegen selbst normalisiert: Sie wird zu einer notwendigen Sequenz in der Entwicklung von Wissenschaften, dennoch ist die Krise ein Indikator für die Normalisierung einer Wissenschaft, weil diese erst mit der Krise ihren ersten Zyklus morphologischer Formen vollständig durchlaufen hat. Die Krise sorgt gleichsam dafür, dass eine Wissenschaft erwachsen wird. Nun setzt für Kuhn die Krise erst in eine Art Reifestadium der Wissenschaft und d.h. am historischen Ende der normalen Wissenschaft ein: Krisen sind das Resultat eines Geltungsverlustes von herrschenden Paradigmen. Sie motivieren die Suche nach neuen Paradigmen und sie sind erledigt, sobald ein neues Paradigma installiert ist. Kuhn fasst jedoch die einigermaßen unübersichtliche Situation, die vor dem Entstehen einer Wissenschaft durch die Etablierung eines Paradigmas herrscht, nicht als Krise: „Beim Fehlen eines Paradigmas oder eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen alle Tatsachen, die irgendwie zu der Entwicklung einer bestimmten Wissenschaft gehören könnten, gleichermaßen relevant zu sein. Folglich ist das Zusammentragen von Fakten in der Frühzeit eine Tätigkeit, die weit mehr dem Zufall unterliegt als die, welche die darauf folgende wissenschaftliche Entwicklung kennzeichnet. Darüber hinaus bleibt sie in Ermangelung eines Grundes dafür nach versteckten Informationen zu suchen, gewöhnlich auf die Vielfalt der leicht greifbaren Daten beschränkt.“21
Man hat es also mit einer diffusen Konstellation gleich bedeutsamer Datensammlungen und Interpretationen zu tun, die zu einer Art von wissenschaftlichem Patt, d.h. zu der generellen Unmöglichkeit, zwischen verschiedenen
20 Heidegger: Sein und Zeit, S. 13. Heidegger stellt eine Art funktionalen Erfolg der Wissenschaften fest, ohne dass ihre Grundlagen geklärt seien. Der Krise gelingt es bemerkenswerter Weise nicht, den Funktionsprozess und die Anerkennung des Wissenschaftssystems zu vereiteln: „Heute spricht man von der „Grundlagenkrise“ der Wissenschaften. Sie betrifft allerdings nur die Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften. Sie ist keineswegs eine Krisis der Wissenschaft als solcher. Diese geht heute ihren Gang sicherer denn je.“ (Heidegger, Martin [1953]: „Wissenschaft und Besinnung“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 45-70, hier S. 66). 21 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 30.
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Ansichten diskriminieren zu können, führt. Damit aber wird jede wissenschaftliche Ansicht, denn es werden in diesem Stadium durchaus auch wissenschaftliche Erkenntnisse22 von einer gewissen Geltung produziert, gleichbedeutsam und d.h., jede wissenschaftliche Position verhält sich jeder anderen gegenüber prinzipiell kritisch. Diese Krise im Vorstadium von Wissenschaft ist gleichsam pubertär: allererst sie ermöglicht das Entstehen von erwachsener Wissenschaft. Es handelt sich mithin in diesem Vorstadium um eine Konstellation universeller Kritik bei relativ geringer Bedeutung der vorgebrachten Erkenntnisse. Dieser systematische Mangel an Anerkennung, der diese Phase der Morphologie einer Wissenschaft kennzeichnet, generiert somit ein Feld allgegenwärtiger Mikrokrisen. „Kein Wunder also, daß in den frühen Stadien der Entwicklung jeder Wissenschaft verschiedene Leute, die sich dem gleichen Bereich von Phänomenen, aber gewöhnlich nicht alle den gleichen Phänomenen gegenüber sehen, sie auch auf unterschiedliche Art und Weise beschreiben und interpretieren. Was allerdings überraschend ist und vielleicht in diesem Ausmaß auch nur auf den Gebieten vorkommt, die wir Wissenschaft nennen, ist die Tatsache, daß solche anfänglichen Unterschiede weitgehend verschwinden können.“23
Die Bedeutung der Mikrokrisen wird zusätzlich durch diese Grenzen der Aufeinander-Beziehbarkeit von Aussagen reduziert: Solange die Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung, die Maße und Arten der Verarbeitung diffus bleiben, bleiben auch die durch gegenläufige Behauptungen ausgelösten Krisen diffus. Die Normalisierung dieser Unterschiede erhöht damit zugleich das Risiko möglicher Krisen. Die Mikrokrisen in jenem diffusen Vorfeld der Wissenschaft werden beim Übergang zur normalen Wissenschaft mit ihren anerkannten Paradigmen von den Mesokrisen des Paradigmenwechsels abgelöst und diese Mesokrisen des Paradigmenwechsels werden wahrhaft weltbewegend und d.h. zu Makrokrisen, wenn die wissenschaftliche Krise eines anstehenden Paradigmenwechsels durch die Interferenz mit sozialen, kulturellen und politischen Krisen zusätzlich aufgeladen wird. Dann erhalten selbst wissenschaftliche Krisen, die für gewöhnlich eher enge Kreise ziehen, jenen apokalyptischen Drive, der Husserl von einer „radikalen Lebenskrise des Europäischen Menschentums“ sprechen und auf Philosophen als „Funktionäre der Menschheit“24 hoffen ließ. Die Krisen sind so nicht nur für den Einbau von Innovation ins Wissenschaftssystem ja für den Umbau des Wissenschaftssystems selbst und mehr noch der sie bedingenden Kultur zuständig, sondern sie bilden zugleich den
22 „Zu verschiedenen Zeiten leisteten alle diese Schulen bedeutende Beiträge zu dem Bestand an Konzeptionen, Phänomenen und Methoden […].“ (Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 28). 23 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 31f. 24 Husserl: „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften“, a.a.O., S. 1 und S. 15.
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Ausgangspunkt von Wissenschaften: Sie erzeugen jene gereizte Stimmung, die Unterscheidungen und Normalisierung wünschenswert erscheinen lässt. Damit wären wenigstens drei einigermaßen distinkte Typen von Krisen im Wissenschaftssystem zu unterscheiden: •
• •
Husserls apokalyptisch aufgeladene Makrokrise des Wissenschaftssystems, die zugleich notwendig über das Wissenschaftssystem hinausgeht und über Gedeih und Verderb nicht nur von Wissenschaft, sondern von ganzen Sozialsystemen entscheidet, Kuhns zyklische Mesokrisen, die beim Paradigmenwechsel innerhalb von Einzelwissenschaften bzw. einigermaßen homogenen und d.h. über dieselben Paradigmen verfügenden Gruppen von Wissenschaften auftreten und die Mikrokrisen, also das krisenhafte Milieu, in dem sich der Entstehungsprozess von Wissenschaften abspielt.
Die Trennung dieser Typen ist dabei nicht vollständig sortenrein, da die apokalyptisch aufgeladene Makrokrise in der Regel durch Aufladung einer zyklischen Mesokrise des Wissenschaftssystems entsteht, die darüber hinaus mit sozialen und politischen Krisen enggeführt wird. Solche sekundär zu Makrokrisen aufgeladenen zyklischen Mesokrisen lassen sich zumindest in der Renaissance und in jener von Husserl konstatierten Krise der Naturwissenschaften der Jahrhundertwende feststellen. Die erforderlichen Interferenzen von wissenschaftlichem, sozialem und politischem System lassen solche Makrokrisen zwangsläufig eher selten werden, wohingegen die zyklischen Mesokrisen mit berechenbarer Häufigkeit auftreten und die Mikrokrisen im Entstehungsprozess von Wissenschaften wenigstens für einen bestimmten, durch die Emergenz normaler Wissenschaften begrenzten Zeitraum nahezu permanent herrschen.
1. Die Krisen der Medienwissenschaft Alle diese Formen der Krise gelten im Prinzip für jedwede Wissenschaft. Zwar mögen bestimmte Einzelwissenschaften wie etwa die Physik sich historisch als besonders krisenaffin erwiesen haben, da zumindest die beiden letzten anerkannten Makrokrisen des Wissenschaftssystems nicht zuletzt durch die Physik stimuliert wurden, was dazu führte, dass diese zugleich zum privilegierten Gegenstand der Wissenschaftstheorie avancierte, nur ändert das nichts daran, dass prinzipiell jede Einzelwissenschaft krisenfähig ist. Allerdings gibt es paradigmatisch wenigstens zu einem bestimmten Zeitpunkt einigermaßen dynamische Wissenschaften wie etwa die Linguistik, die immerhin zu einem linguistic turn motivierte, und solche, die wie die Literaturwissenschaften eher von geborgten Paradigmen leben. Die geborgten Paradigmen führen zwangsläufig auch zu geborgten Krisen, d.h., die Krisen dieser Einzelwissenschaften reproduzieren phasenverschoben die Krisen
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derjenigen Theorien, die sie applizieren. Dass dann die Krisen naturgemäß auch entsprechend kleiner ausfallen, verwundert dann kaum. Bei der Medienwissenschaft ist all das noch weitgehend ungeklärt: Es ist kaum entschieden, ob man überhaupt von einer Einzelwissenschaft sprechen kann geschweige denn, auf welche Paradigmen man sich dann geeinigt haben könnte. Ebenso ist vollkommen offen, ob es sich dabei um selbst produzierte oder aber geliehene Paradigmen handelt. Zugleich versucht der eine oder andere so etwas wie einen „media turn“ 25 zu lancieren und damit direkt in die erste Reihe des Wissenschaftssystems, also die Reihe derjenigen Wissenschaften, die für eine Gruppe von Einzelwissenschaften Paradigmen liefern, vorzustoßen. Zwar haben Medientheorien sich inzwischen noch längst nicht auf ein Paradigma geeinigt, aber dennoch beginnt die Medienwissenschaft Merkmale einer normalen Wissenschaft aufzuweisen. Insofern könnte Medienwissenschaft mittlerweile zu Krisen auf allen fraglichen Niveaus fähig zu sein und vielleicht hat sie sie ja bereits schon gehabt. Am einfachsten dürfte das für die Mikrokrisen sein, denn über diese verfügt die Medienwissenschaft und mit ihr die Medientheorie zweifellos. Die weitgehend ungeregelte Auseinandersetzung zwischen differenten Theorieangeboten beherrschte die Medientheorie, seit es überhaupt Versuche gab, sich dieses Feld theoretisch anzueignen. Zugleich wird deutlich, dass die Idee, sich theoretisch mit einem bestimmten Feld auseinandersetzen zu wollen, selbst motiviert sein muss: Theoretische Anstrengung erfolgt kaum ohne Anlass und die Frage wäre, wie ein solcher Anlass zu bewerten ist. Denn gerade im Bereich der Medienwissenschaft sind die Anlässe durchaus signifikant, vielleicht signifikanter als in anderen Wissenssystemen. In Kuhns wissenschaftstheoretischem Modell verfügen die Anlässe dafür theoretisch zu werden jedoch über keinen systematischen Ort, d.h., sie kommen theoretisch eigentlich gar nicht vor. Insofern ist das Kuhnsche Modell nicht nur bei seinen Krisenvorstellungen aufzubohren, sondern es ist vor allem auch in Hinsicht der Anlässe zu ergänzen: Die Anlässe, Medientheorie zu treiben können nicht wissenschaftlich motiviert sein, da es so etwas wie ein wissenschaftliches Bezugssystem überhaupt noch nicht gibt und Medienwissenschaften auch nicht an der Kante anderer Wissenschaften durch Ausdifferenzierung entstanden sind. Medienwissenschaften sind von Beginn an extern motiviert gewesen: nämlich durch das Auftreten neuer Medientechnologien und die durch diesen Prozess evozierten sozio-kulturellen Adaptationsprozesse. Medientechnologien lösen bei ihrem Auftreten nämlich unter bestimmten Voraussetzungen kulturelle Krisen aus. Kulturelle und soziale Positionen in Gesellschaften werden nicht nur über sozialen Status, sondern durchaus eben auch über die Verfügungsmacht über Medientechnologien verteilt. Kulturelle und in der Folge dann zumeist eben auch soziale Definitionsmacht hat historisch immer auch eine entsprechende mediale Verfügungsmacht vorausgesetzt. So
25 Margreiter, Reinhard: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin 2007, S. 14.
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basierte die kulturelle Definitionsmacht etwa des Bildungsbürgertums auf der Verfügung über die Printmedien, insbesondere aber das Buch. Sobald ein neues Medium auftritt und den alten Medien Konkurrenz zu machen droht, ist zugleich auch die kulturelle Definitionsmacht der Trägerschichten der traditionellen Medien bedroht. Diese Bedrohung tritt historisch immer dann auf, wenn neue Medien mit kultureller Valenz auftauchen. Mediale Innovation, die ausschließlich bestimmte bereits kulturell verarbeitete Leistungen effizienter machen oder sonst wie verbessern, wie etwa die speichertechnologischen Veränderungen von der Wachsplatte bis hin zur Festplatte, werden einfach appliziert und lösen keine Verwerfungen in der kulturellen Definitionsmacht aus. Kulturell valente Medien, also solche, die neue ästhetische Darstellungsformen oder aber neue Rezipientenkreise erschließen, stellen kulturelle Definitionsmacht hingegen in Frage. Entweder es gelingt den kulturellen Trägerschichten der traditionellen Medien ihre Definitionsmacht auf das neue Medium zu übertragen oder aber ihre kulturelle Definitionsmacht wird mit dem Erfolg des neuen Mediums eingeschränkt, so dass, sofern sich das neue Medium als ein Leitmedium erweisen sollte, die kulturelle Definitionsmacht für diese Trägerschicht der traditionellen Medien komplett verloren gehen könnte. Das heißt jedoch, dass jedes kulturell valente neue Medium Krisen in der kulturellen Definitionsmacht auslöst und genau diese Krisen sind es auch, die als Katalysator früher medienwissenschaftlicher Theoriebildung fungierten. Das bedeutet jedoch, dass das Motiv zur medienwissenschaftlichen Theoriebildung in medientechnisch induzierten Krisen kultureller Definitionsmacht liegt. Medientheorie noch vor aller Medienwissenschaft verdankt sich nicht allein neuer technologischer Schübe, sondern eben auch den Krisen kultureller Definitionsmacht. Medientheorie wird also aus der Krise geboren und das hat sie einigen anderen Wissenschaften voraus. Insofern ist selbst die Urszene der Medienwissenschaft eine Krise und diese Krisenaffinität prägt durchaus den weiteren Gang der Dinge. Für die Medienwissenschaft kommt insofern zu den bislang differenzierten drei Krisentypen von Mikro-, Meso- und Makrokrisen ein weiterer vierter Typ von Krise hinzu: die Initialkrise, die die Motive für die Theoriebildung überhaupt liefert. Sobald die theoretische Arbeit jedoch erst einmal initialisiert ist, sobald also nomadisch Wissen über Medien, insbesondere aber über das neue Medium produziert wird, treten alle diese Formen des Wissens zu einander in Konkurrenz: Das vorhandene Wissen und die entsprechenden Daten können nicht vom Nicht-Wissen bzw. irrelevanten Daten unterschieden werden, da kein gemeinsamer Reflexionshorizont gegeben ist. Da es sich zugleich aber immer auch um einen Kampf um Anerkennung also um Definitionsmacht handelt und die Akteure über entsprechende Interessen verfügen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieses Feld ohne Konflikte funktionieren könnte. Die Mischung aus Interesse und nicht überprüfbarer Einzelaussage bzw. in ihrer Relevanz nicht einschätzbarer Einzelaussagen ist eine Konstellation, in der jederzeit jene Mikrokrisen emergieren können, die für diese
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Phase primärer Intermedialität als kennzeichnend angesehen wurden. Abgeschlossen wird diese Phase durch die Etablierung und kulturelle Adaptation des neuen Mediums.26 Beim Film ist diese Phase etwa Ende der 20er Jahre des 20. Jhs. Abgeschlossen. Von diesem Zeitpunkt ab wurden erste Theorieentwürfe für das ganze Medium vorgelegt, die nicht mehr in eine politisch und kulturell überdeterminierte Konkurrenz zueinander traten. Das aber bedeutet, dass bei den Vorformen der Medienwissenschaft zumindest zwei Phasen zu unterscheiden sind: die der primären Intermedialität mit der Überdetermination durch sozial und kulturell codierte Kämpfe um Anerkennung und die Phase nach der Klärung der Frage der Definitionsmacht, in der es ausschließlich um die Konkurrenz von Theorieentwürfen geht. Diese Konkurrenz fällt aufgrund des Versiegens der kulturellen Überdetermination naturgemäß anders aus: Wir haben es nur noch mit den durch das Auftauchen neuer Theorien ausgelösten Krisen zu tun. Hier steht dann im Einzelfall zwar mehr auf dem Spiel als in der Phase primärer Intermedialität, denn es handelt sich um einigermaßen komplette Theorieentwürfe, allerdings hat man es andererseits auch ausschließlich mit theoretischen Differenzen zu tun und d.h. der Einsatz, um den es kulturell und politisch geht, ist entschieden geringer bis gar nicht vorhanden. Während man es in der Phase primärer Intermedialität mit der Interferenz zweier Krisen, nämlich der Initialkrise und der Mikrokrise von Theorieentwürfen zu tun hat, so sind es in der zweiten Phase27 vor allem die Mikrokrisen von Einzelmedienontologien und, wie noch zu erklären sein wird, die Krisen importierter Paradigmenwechsel, die die vorwissenschaftliche Krisenlage bestimmen. Beide Phasen führen jedoch keineswegs zwangsläufig zu so etwas wie einer normalen Medienwissenschaft, vielmehr kennt die Medienwissenschaft in ihrer Vorgeschichte gleich eine ganze Reihe von Initialkrisen, die durch Medien wie die Schrift, den Buchdruck, die Fotografie, den Film, den Rundfunk und das Fernsehen ausgelöst wurden, ohne dass so etwas wie eine normale Medienwissenschaft überhaupt entstanden wäre. Die Phasen der Initial- und Mikrokrisen beherrschten insofern für einen ausgesprochen langen historischen Zeitraum die Konstellation, bevor so etwas wie der Status einer normalen Wissenschaft erreicht worden wäre. Der Übergang der Geistes- und Sozialwissenschaften zu einer normalen Wissenschaft ist für Kuhn keineswegs selbstverständlich. Wiewohl er sein Konzept einer Revolutionsgeschichte ja einer Geisteswissenschaft verdankt, weist es gerade im Vorstadium der Geisteswissenschaften charakteristische Erklärungslücken auf, und das obwohl ausgerechnet zum Zeitpunkt, zu dem dieses Modell entwickelt wurde, sich die Geschichtsphilosophie ohne Zweifel selbst in einem Vorstadium befand und alles andere als eine normale
26 Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie, München 2003, S. 23f. und S. 33ff. 27 Vgl. ebd., S. 73ff.
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Wissenschaft darstellte.28 Insofern bereitet gerade die Rückprojektion dieses wissenschaftstheoretischen Paradigmas auf seinen Ursprungskontext signifikante Erklärungsdefizite, auf die von Kuhn meist mit dem impliziten Ausschluss der Kulturwissenschaften aus seiner Modellierung reagiert wird. Wenn aber ein großer Teil der Wissenssysteme von einem wissenschaftshistorischen Modell nicht erfasst wird, dann stellt sich die Frage, ob nicht das Modell selbst angepasst werden sollte und d.h. in Kuhns Logik, ob nicht ein Paradigmenwechsel anstände. Konkret heißt das, dass die Idee einer sich an einem Paradigma und seiner Geltung ausrichtenden normalen Wissenschaft für die Geisteswissenschaften und z.T. eben auch für die Sozialwissenschaften in der von Kuhn entworfenen Form illusorisch sein dürfte. Der Normalisierungsprozess erfolgt in den Geistes- und zumindest einem Teil der Sozialwissenschaften offenbar darüber, dass über Art und Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt möglichen und zulässigen Paradigmen Einigkeit erzielt wird. Es geht also nicht um ein Paradigma, sondern um ein ganzes Repertoire von Paradigmen, das abgestimmt werden muss. Ablesbar bleibt der Prozess der Normalisierung einer Wissenschaft aber auch hier vor allem daran, dass Lehrbücher entworfen werden, die den Kanon verfügbarer und akzeptierter Paradigmen registrieren und in ein Programm umsetzen, das für die Reproduktion des Wissenssystems sorgt. Und dies ist in den jeweiligen Geistes- und Kulturwissenschaften zweifellos zu einem bestimmten Zeitpunkt geschehen. Insofern gibt es gute Gründe dafür, die Medienwissenschaften trotz einer ganzen Reihe parallel geltender Paradigmen spätestens ab Ende der 90er Jahre des 20. Jhs. als eine normale Wissenschaft im Sinne Kuhns zu veranschlagen. Und als solch eine normale Wissenschaft wird sie eben über kurz oder lang auch über die entsprechenden Paradigmenwechsel, also Mesokrisen, verfügen. Allerdings hat dann ein Paradigmenwechsel in einem Repertoire synchron geltender Paradigmen einen anderen Status, als wenn nur ein Paradigma allein Geltung hätte und dieses dann ausgetauscht würde: Die Mesokrisen der Medienwissenschaft fallen insofern im Vergleich zu analogen Prozessen in den Naturwissenschaften eher moderat aus. Damit rücken Mikround Mesokrisen in den Kulturwissenschaften vergleichsweise nah aneinander heran. Hinzu kommt noch, dass, wie oben bereits angedeutet wurde, die Medienwissenschaft in ihrer Vorgeschichte quasi passim gleich eine ganze Rei-
28 „In Teilgebieten der Biologie – beispielsweise der Vererbungslehre – sind die ersten allgemein anerkannten Paradigmata noch jüngeren Datums; und es bleibt die Frage offen, welche Teilgebiete der Sozialwissenschaft überhaupt schon solche Paradigmata erworben haben. Die Geschichte zeigt, daß der Weg zu einem festumrissenen Forschungskonsensus außergewöhnlich mühsam ist.“ (Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 30) – Allein diese Bemerkung zeigt ein für Kuhn typisches, an sich aber durchaus bemerkenswertes Gefälle in der Erklärungstiefe zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
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he von Paradigmenwechseln dadurch mitgemacht hat, dass sie die Paradigmen einzelner Bezugswissenschaften – wie etwa der Literatur- und Kunstwissenschaft oder der Soziologie und Psychologie – übernommen und dann eben auch deren Paradigmenwechsel nachvollzogen hat. So sind etwa die Nutzung und Abkehr von der Frankfurter Schule, die Einführung und das Verlassen der Semiotik, die Übernahme der Cultural Studies oder aber der Systemtheorie allesamt erfolgt, bevor von einer normalen Wissenschaft im Sinne Kuhns ernstlich die Rede sein konnte. Es handelt sich bei diesen Prozessen um sekundäre Paradigmenwechsel, die phasenverschoben auf dem Wege der Übernahme und des Nachvollzugs realisiert werden. Solche sekundären Paradigmenwechsel wirbeln dann naturgemäß in der Medienwissenschaft längst nicht so viel Staub auf wie in dem Wissenssystem, in dem sie gebildet und aus dem sie importiert wurden. Die Krisen, die solcherart gleich mit importiert werden, sind daher deutlich verhaltener. All das macht klar, dass sich die Medienwissenschaften nach ihren Serien von Initialkrisen ihre ganze Vorgeschichte hindurch in einem Feld permanenter Mikro- und geborgter Mesokrisen befunden haben. Die Krisenaffinität der Medienwissenschaft ist insofern gleichsam historisch erarbeitet. Wenn es sich aber bei Medienwissenschaft um eine besonders krisenerfahrene und zugleich krisenanfällige Wissenschaft handelt, die darüber hinaus über eine enorme Inkubationszeit verfügt, so kann man insbesondere an ihrer Vorgeschichte einiges über diese morphologische Phase von Kulturwissenschaften erfahren. Offenbar ist die faktische Konstellation im Vorfeld entschieden kritischer und komplexer, als Kuhn es sich vorstellte. Dies gilt nicht zuletzt für die Makrokrisen, die Kuhn vollständig aus seinem Repertoire ausblendete. Die Makrokrisen, die aufgrund der Interferenz von Krisen in unterschiedlichen sozialen Systemen emergieren und die Husserl mit enormen, ja geradezu apokalyptischen Befürchtungen verband, markieren einen Typ von Krise, der historisch nicht nur vergleichsweise selten auftritt, sondern der vor allem noch längst nicht von jeder Wissenschaft erfahren wird. Insofern könnte dieser Typ von Krise für eine Morphologie der Wissenschaft vernachlässigt werden, wenn er nicht gerade für die großen Bewegungen wenn nicht des gesamten Wissenschaftssystems so doch wenigstens großer Teile davon verantwortlich wäre, an denen sich ja gerade auch Kuhn orientiert. Das was Kuhn als Paradigmenwechsel und damit als Mesokrisen formuliert – also die Mathematisierung der Physik und die Krise der Physik in den 1920er Jahren – sind ja gerade solche Makrokrisen, die nicht Sache der Physik geblieben sind, sondern ganze Wissenschaftsgruppen paradigmatisch bestrafen und darüber hinaus andere Sozialsysteme affizierten. Insofern wird gerade an den Krisen des Wissenschaftssystems deutlich, dass wissenschaftstheoretische Modellierungen zwangsläufig kaum wissenschaftsimmanent bleiben können, wie das bei Kuhn der Fall ist. Sein Versuch, Wissenschaft über sozio-strukturelle Mechanismen der scientific community zu erklären, folgt zweifellos einem zutreffenden Impuls, allerdings
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geht er angesichts des Phänomens von Makrokrisen keineswegs weit genug. Nicht nur, dass Wissenschaft finanziert werden muss und daher von Ressourcen abhängig ist, die andere soziale Systeme bereitstellen müssen, sondern vor allem auch, dass Wissenschaft mit ihren Paradigmen in weitaus größerem Umfang in andere Sozialsysteme eingreift, sorgt dafür, dass eine Morphologie von Wissenschaft notwendig über das Sozialsystem Wissenschaft hinausgehen muss. Makrokrisen, also Krisen, die ganze Gruppen von Wissenschaften und andere Sozialsysteme synchron erfassen, sind so nur bedingt wissenschaftsimmanent zu erklären. Dieses Phänomen war bereits an den Initialkrisen der Medienwissenschaft zu beobachten, wo nämlich Theoriebildung durch Technologieschübe stimuliert wird und nicht durch irgendwelche wissenschaftsimmanenten Dynamiken. Im Gegensatz zur Physik, die über einen weitgehend statischen, allenfalls durch die Wissenschaft, ihre Paradigmen und Beobachtungsinstrumente selbst mit konstituierten Objektbereich verfügt, haben wir es bei der Medienwissenschaft mit einem Gegenstandsbereich zu tun, der permanenten Dynamiken ausgesetzt ist, über die das Wissenschaftssystem selbst nur bedingt verfügt: Medientechnologische Schübe, soziale Akzeptanz, kulturelle Praktiken und Kulturproduktion, all das ist nicht einer Medienwissenschaft per se gegeben und zugleich befindet es sich in ständiger Bewegung, die nichts mit seiner wissenschaftlichen Reflexion zu tun hat. Denn die Initialkrisen verdanken sich weder den immanenten Dynamiken des Mediensystems noch denen der Medientechnologien, sondern sie greifen zurück auf die kompletten technologische Repertoires, über die Sozialsysteme jeweils historisch verfügen. Buchdruck, Camera Obscura, optische Telegraphie, Fotografie und Funk haben weder allein in einem Medienuniversum gewirkt, noch verdanken sie sich allein medialen Kontexten und Fragestellungen, sondern nicht selten der Übertragung der historisch jeweils verfügbaren technologischen Paradigmen auf mediale Fragestellungen. So kommt dann auch jene von Kittler so bereitwillig gefeierte Kontamination von Kriegstechnologien und Medientechnologien zustande. Allerdings bleibt diese nur eine Kontamination unter anderen wie etwa denen optischer oder aber chemischer Technologien, von Uhrwerkstechniken und Antrieben von Elektrotechnik und Informatik, Medientechnik hat sich immer bei den historischen Leittechnologien bedient. Wenn jedoch Applikationen von kulturhistorisch verfügbaren Technologien in medialen Kontexten zu Entwicklungsschüben im Mediensystem führen, die wiederum medientheoretische Dynamiken auslösen können, dann treten die engen Grenzen einer wissenschaftsimmanenten Erklärbarkeit solcher Phänomene offen zutage. Hinzu kommt noch, dass diese medientechnologischen Entwicklungsschübe allenfalls einen Faktor medientheoretischer Dynamiken darstellen und die sozialen und kulturellen Faktoren hier noch gar nicht bedacht worden sind. So verdankt sich der Übergang von formästhetischen zu inhaltsäs-
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thetischen und repertoireabhängigen Einzelmedienontologien29 einer nicht mehr allein technisch, sondern vor allem kulturell determinierten Entwicklungsphase, so dass Fragen kultureller Entwicklung die betreffenden Medientheorien30 weitaus eher stimulieren als die medientechnologische Basis. Dies gilt noch in weitaus größerem Maße für jene Medientheorien, deren Objektbereich über ein einzelnes Medium hinausgeht, die sich also als generelle Medientheorien bzw. generelle Medienontologien mit dem Mediensystem insgesamt auseinandersetzen. Das Mediensystem insgesamt verdankt sich erst seit Ende der 90er Jahre einer einzigen technologischen Basis, bis dahin und d.h. de facto während der ganzen Vorgeschichte der Medienwissenschaft hatte man es mit einem multitechnologischen Mediensystem, das sich aus geschlossenen Einzelmediendispositiven zusammensetzte, zu tun. Medientheorie eines solchen multitechnologischen Mediensystems kann aufgrund der schlichten Vielfalt der vorhanden Techniken nicht technologiegetrieben sein. Vielmehr hat man es in der Regel mit sozial oder kulturell getriebenen Medientheorien31 zu tun, was bedeutet, dass die Motivation zur Theoriebildung sich eher den entsprechenden Sozialsystemen als einer Idee von Medienwissenschaft verdanken. Diese technologische Motivation von Medientheorie setzt erst in dem Moment wieder ein, in dem das Mediensystem auf einer unifizierten und d.h. digitalisierten Technologie basiert. Aber selbst hier ist die Zeit der technologiegetriebenen Medientheorien vergleichsweise kurz, denn spätestens seit den sozialen Netzen des Web 2.0 dominieren wieder die sozialen Motive für eine medienwissenschaftliche Theorieproduktion und bei Mash up Medien sind es vornehmlich ästhetisch motivierte Fragestellungen, die den theoretischen Ton angeben. Medientheorien verfügen daher in jedem Fall über komplexe Motivationszusammenhänge, die wissenschaftsimmanent allein nicht zu erklären sind. Das aber bedeutet für die Makrokrisen, dass für diese, da sie ja das Resultat einer Interferenz von Krisen unterschiedlicher sozialer Systeme und nicht des Wissenschaftssystems allein sind, die Grenzen wissenschaftsimmanenter Erklärungsfähigkeit noch wesentlich vehementer greifen als in allen anderen Krisen des Wissenschaftssystems. Nun war bereits angedeutet worden, dass nicht unbedingt eine jede Wissenschaft sich in der Bredouille einer Makrokrise wiederfinden muss. Die enorme Krisenaffinität der Medienwissenschaft schließt ihre Verstrickung in solche Makrokrisen aller-
29 Das betrifft etwa in der Filmtheorie den Übergang von Balázs und Arnheim an der Formästhetik des Mediums Film orientierten Filmtheorien zu den am Repertoire und dessen Strukturen sich festmachenden Filmtheorien Bazins und Kracauers (vgl. Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 104ff.). 30 So ist Kracauers ideologische Obdachlosigkeit, vgl. Kracauer, Siegfried [1960]: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 21993, S. 375, zweifellos nicht medientechnologisch zu erklären. 31 Paradigmatisch dürften dafür die Frankfurter Schule und die Cultural Studies stehen.
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dings nicht prinzipiell aus. Denn da Medientheorie bereits in ihren Initialkrisen über eine vergleichsweise hohe Anschlussfähigkeit zu anderen sozialen Systemen verfügt, ist das integrative Potenzial enorm und es wird deutlich, warum die Medien sich als symbolisches Erklärungsmodell und probates Attribuierungsobjekt für andere soziale Systeme geradezu anbieten. Insofern bieten sich die Medienwissenschaften als Transmissionsriemen von Makrokrisen geradezu an. So ist die Theorieproduktion selbst allenfalls ein Nebeneffekt: Denn den anderen Sozialsystemen reicht zunächst einmal eine bloße Attribution. Wenn nur die Medien für soziale, ökonomische und kulturelle Krisen verantwortlich gemacht werden können, dann ist damit bereits einiges, wenn nicht gar das Wesentliche erreicht; auf eine Lösung der Krise wird nicht in jedem Fall ein Anspruch erhoben. Dass die Medien als universal Projizierende sich selbst vorzüglich zur Projektion eignen, ist dabei eine der Qualitäten, die sie ins Zentrum einer Makrokrise wie die um 2000 rückt. Dass dann gelegentlich auch der Versuch unternommen werden soll, die fraglichen Prozesse wenigstens den Grundzügen nach zu erklären, hat dem Entstehen einer Medienwissenschaft zumindest nicht geschadet. Die durch die neue Medientechnologie des Computers heraufbeschworene Initialkrise und ihre soziokulturellen Effekte, die akkumulierten Mikrokrisen der unterschiedlichen Erklärungsversuche von Medienphänomenen, die Mesokrisen jener Kulturwissenschaften, die der Medientheorie die Paradigmen geliefert haben, und die generelle Makrokrise von Kultur-, Wirtschafts-, Sozialsystem überlagern sich also in jener Krise, in der aus Medienwissen eine Medienwissenschaft werden sollte. Medienwissenschaft verdankt sich solchermaßen einem Kumulationseffekt. Dass manche Interessierte diese dann gleich wieder zu einer umfassenderen Kulturwissenschaft weiten wollten, deutet nur darauf hin, dass diese Gründung offenbar Erfolg versprach, so dass Kopisten und Epigonen gleich zur Stelle waren.
2. Die mediale Verarbeitung von Krisen Wenn schon Medienwissenschaft geradezu im Zentrum von Krisen unterschiedlichsten Niveaus geboren werden, so dass nun wirklich nicht allzu viel Phantasie dazu gehört, sie als Krisenphänomen zu rekonstruieren, dann verfügen sie noch über eine weitere Eigenschaft, die ihnen zusätzliche Krisenaffinität verleiht: Sie können nämlich Krisen nicht nur thematisch, sondern sie können sie als Gegenstand von Medienwissenschaft zugleich reflexiv werden lassen und über diese Möglichkeit verfügen noch längst nicht alle sozialen und erst recht nicht alle Einzelwissenschaften. Denn Medien können innerhalb ihrer formästhetischen Konditionen nahezu alles verarbeiten und d.h. eben auch Krisen. Es gibt daher nicht nur die Krise der Medien, Medien in den Krisen und krisenhafte Medientheorien, sondern es gibt eben auch jede Menge Krisen in den Medien. Hier haben die Medien ein charakteristisches kulturell prägendes Regime von Krisen entwickelt, das über un-
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terschiedliche Formen und Formate hinweg die mediale Darstellung von Krisen prägt. Die Krise ist zunächst einmal eine dramaturgische Kategorie und d.h., Krisen werden erzählt. Nicht umsonst ist die Kuhnsche Wissenschaftsgeschichte auch vor allem eine Geschichte und d.h. ein narratives Format. Sie handelt von dem Aufstieg und Fall von Wissenschaften und verfügt über alles, was Geschichten brauchen: Heroen und Idioten, Täuschung und Irrtum, allenfalls mit der Liebe hapert es ein wenig, aber dafür steht immerhin einiges auf dem Spiel. Das dramaturgische Konzept von Krise operiert mit einem Konflikt, der anhand allseits bekannter Regeln einer Lösung zugeführt wird. Nun markieren Krisen gemeinhin durchaus offene Entscheidungssituationen: Scheitern und Genesung, Verlust und Gewinn, beides ist stets möglich, allerdings diskriminiert die Krise digital und d.h., es wird eine Entscheidung getroffen und nicht etwa ein Kompromiss gefunden. Dramaturgien operieren ähnlich digital, wie es die Krisenlogik vorsieht. Auch sie kennen nur zwei Zustände: Komödie oder Tragödie. Mit diesen beiden Modi ist die Narration im Prinzip in der Lage, jede Krise zu verarbeiten und d.h. in eine Narration zu übersetzen. Nun sind Krisen in Sozialsystemen ja über weite Strecken Struktureffekte, wenigstens aber sollten sie im Wissenschaftssystem als solche gehandhabt werden. Die narrative Verarbeitung von Krisen operiert jedoch mit einer Eigenlogik, die sich solchen Struktureffekten gegenüber relativ widerspenstig zeigt: Sie kann nur mit bewerteten Subjekten arbeiten und muss daher Krisen zwangsläufig auch Subjekten zuschreiben. Damit werden Krisen zwar zugleich zu Geschichtserzählungen und passen daher auch wieder in eine hermeneutische Rekonstruktion von Wissenschaftsgeschichte, nur müssen dafür Struktureffekte von Systemen entsprechend umcodiert werden. Im Subjekt- oder Narrationsmodus ist Wissenschaftsgeschichte dann zwar allen anderen Typen von Erzählungen prinzipiell kompatibel und d.h. selbst die Krisen des Wissenschaftssystems finden sich enkulturalisiert und sind damit jeder anderen narrativierten Krise kompatibel. Insofern ist für Anschlussfähigkeit und die Verstehbarkeit von Krisen gesorgt, nur ändert das alles nichts an der charakteristischen Verschiebung, die durch die Narrativierung von Strukturkrisen zwangsläufig eingeleitet wird: Die Morphologie eines Systems wird übersetzt in die Handlungen von Subjekten. Was das bedeutet, sieht man an all jenen Heroenerzählungen, die es gerade auch in der Medienwissenschaft gibt. Potente Handlungssubjekte setzen Strukturen: egal ob es findige Ingenieure, verbissene Bastler, weitsichtige Philosophen und emsige Kulturwissenschaftler, ihrer Zeit vorauseilende Charismatiker oder einfach nur unglückliche Genies sind. Solche Subjekte müssen dann allenthalben gefunden werden, wenn die Geschichte der Medienwissenschaft mit all ihren Initial-, Mikro-, Meso- und Makrokrisen erzählt werden soll. Wie oft Protagonisten vom Schlage Alan Turings für eine solche Übersetzung von Struktureffekten in Erzählungen herhalten mussten, ist kaum mehr nachzuhalten. Auf jeden Fall ist das Re-
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sultat einer solchen mit Subjekten versehenen Übersetzungsleistung nicht einfach, dass die Geschichte jetzt anders erzählt werden muss, das wäre nicht allzu tragisch, sondern dass sich die Logik des Vorgangs ändert. Aus der strukturellen Unsicherheit eines vorwissenschaftlichen Milieus wird dann ein Kleinkrieg von Individuen, es muss in gute und schlechte Akteure, Gewinner und Verlierer aufgeteilt werden, wiewohl das alles mit den Prozessen, um die es geht, leidlich wenig zu tun hat. Die beteiligten Subjekte können ausgestattet sein, wie sie wollen, sie sind schlicht gezwungen in Strukturen zu agieren und solange sie in diesen agieren, ist ihr subjektiver Einfluss vernachlässigbar. Das wenigstens ist die Quintessenz einer Wissenschaftstheorie wie der Kuhns: Wissenschaft bewegt sich in Strukturen und damit eben auch in krisenhaften Strukturen, die von Einzelsubjekten unabhängig sind. Diese Systemlogik der Krise jedoch wird in ihrer Erzählung zwangsläufig verstellt und d.h., auf der Grundlage erzählter Wissenschaftsgeschichte ist nichts über die strukturellen Prozesse der Emergenz von Medienwissenschaft und ihren Krisen zu erfahren. Die Erklärung dieses Prozesses einschließlich seiner charakteristischen Krisen findet außerhalb der Erzählung statt und sie kann auch nicht erzählt werden. Diese Dramaturgie der Krisendarstellung prägt jedoch mit ihren charakteristischen Verschiebungen zugleich die kulturellen Krisenmodelle und die sozialen Verarbeitungsroutinen. D.h., auf ihrer Basis wird gehandelt, politisch, ökonomisch und institutionell. Medien machen insoweit mit ihren charakteristischen Verarbeitungsfehlern zumindest unser kulturelles Bild von Krisen aus. Die Übersetzungsleistung der Medien schließt Wissenschaft und ihre Krisen an soziale und kulturelle Narrative an. Allerdings ist das, was angeschlossen wird, ein sozio-kulturelles Imago wissenschaftlicher Krisen und Dynamiken, das System selbst funktioniert vollkommen unabhängig davon. Von daher muss mit systematischen Verwerfungen, also Krisen, zwischen dem von Medien produzierten Bild und den Strukturbewegungen des Wissenschaftssystems gerechnet werden. Aufgrund der ziemlich verhaltenen Dynamik des Wissenschaftssystems fällt dieser Mangel an Übereinstimmung zwischen den Strukturbewegungen des Wissenschaftssystems und seinen heroischen Erzählungen kaum auf und da Medien auch nicht verpflichtet sind, Systeme oder sonst irgendetwas zu erklären, lässt sich aus dieser Differenz auch kein Vorwurf machen.
3. Die Indifferenz medial verarbeiteter Krisen Medien tun eben, was sie tun und es gilt ihre Übersetzungs- und Akkomodationsleistung genau zu kalkulieren, um sie beurteilen zu können. Medien machen in diesem Sinne Krisen oder das, was sie dafür halten, auf eine charakteristische Weise sichtbar, sie codieren dabei die Strukturkrise in eine dramaturgische Krise um. Allein durch diesen Umcodierungsprozess wird dafür Sorge getragen, dass das Thematisch- und Reflexiv-Werden auch der
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Krise des eigenen Systems nicht in einer Tautologie implodiert: Der Output der Medien ist eben strukturell different gegenüber dem zugrunde liegenden Prozess. Insofern ist es vollkommen gleichgültig, ob die Medien von Finanzkrisen, dem Weltuntergang, dem Konflikt zweier Protagonisten in einer Soap Opera oder aber der Krise eines Paradigmas im Wissenschaftssystem erzählen, alle diese Erzählungen funktionieren auf dieselbe Weise. Krisenerzählungen erklären insofern nichts, aber sie beruhigen ungemein. Die narrative Umcodierung fungiert dabei als eine Art kollektives Antidepressivum: Die Wahrnehmung der Krise wird angepasst und erträglich gemacht, die Krise selbst jedoch bleibt, wie sie ist. Insofern können die Medien auch prinzipiell alle Krisenphänomene des Wissenschaftssystems verarbeiten, sie tun es eben nur auf die besagte Weise. Sie haben daher auch keine Schwierigkeiten die Makrokrise zu verarbeiten, an der sie selbst und ihre Wissenschaft beteiligt sind. Allerdings sind für die Medien alle Krisen gleich, allenfalls kann ein wenig die Intensität und die Fallhöhe der Erzählung angepasst werden, aber Narrationen können prinzipiell nicht zwischen den unterschiedlichen Typen von Krisen unterscheiden. Für Medien, und das ist ein Effekt ihres Verarbeitungsmechanismus, sind alle Krisen gleich. Die Makrokrise wird daher wirklich als etwas anderes, nämlich als etwas Narrativiertes beobachtet. Die Makrokrise bleibt in diesem Sinne trotz Eigenbeteiligung des Mediensystems eine externe Krise und kann von daher auch problemlos beobachtet32 und d.h. erzählt werden, nur nützt es bedauerlicherweise nichts für eine Erklärung derartiger Krisen.
32 Kennzeichnend ist die Ratlosigkeit mit der auf den Zusammenhang von Kommunikationstechnologien und die Geschwindigkeit von Marktbewegungen auf den Finanzmärkten reagiert wird: Derartige Rückkopplungsschleifen sind medial nur schlecht formulierbar, da sie nichts anderes als mathematische Modelle darstellen.
Zum Anteil apokalyptischer Szenarien an der Normalisierung der Krise J ÜRGEN L INK
Das Textmaterial der folgenden Überlegungen1 wurde in erster Linie aus Massen-, und zwar Printmedien gewonnen. Noch genauer geht es um einzelne ‚elementar-literarische Formenދ, wie ich sage, darunter insbesondere die Kollektivsymbolik, also die sogenannte ‚Bildlichkeit ދim wörtlichen und übertragenen Sinne, sowie um elementare Narrative. Nur punktuell wird auch ein Blick auf elaborierte fiktionale Narrationen geworfen, wobei sich zeigen wird, dass und wie sie mit der elementaren Symbolik und den elementaren Narrativen in einem generativen Kreislaufverhältnis stehen. Thematisch geht es um ‚apokalyptische ދSzenarien, bestehend aus apokalyptischen Symboliken und Narrativen, wobei aktuelle und also moderne Narrative, wie sie im Begriff des Normalismus impliziert sind, den Gegenstand der Analyse bilden. Die prototypischen religiösen Apokalypsen dienen solchen aktuellen Texten lediglich als stets präsente Konnotationsreservoirs. Nun besteht zwischen der Denkfigur der Apokalypse und dem Titel von Francis Fukuyamas seinerzeit als emblematisch für unsere auch als ‚posthistorisch ދund/oder ‚postmodern ދbezeichnete Lage gehandeltem geschichtsphilosophischem Bestseller eine eigenartige Übereinstimmung: The End of History and The Last Man.2 Genau davon handeln bekanntlich die religiösen Apokalypsen. Fukuyamas Buch, das als eine ‚Große Geschichte( ދGrand
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Dieser Aufsatz ist die leicht veränderte Fassung meines Beitrages „Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen. Normalismustheoretische Überlegungen“, erschienen in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Gefahrensinn, Reihe: Archiv für Mediengeschichte, Bd. 9, München/ Paderborn 2009, S. 11-22. Fukuyama, Francis: The End of History and The Last Man, New York 1992.
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Récit, Große Erzählung3), also hegelianisch-geschichtsphilosophisch, gelesen werden will und insofern nicht durch einzelne Ereignisse wie Nine/Eleven widerlegt werden kann, beschreibt das genuin apokalyptische Ereignis vom Ende der Geschichte und von Letzten Menschen in paradoxer Weise als das genaue Gegenteil einer religiösen Apokalypse: endloses, bloß von Langeweile bedrohtes und ansonsten glückliches Fortdauern der Menschheit statt Kurzem Jüngstem Prozess, globale Ordnung und Friedlichkeit in endlosem globalen ‚demokratischem Kapitalismus ދstatt Totalitarismus, Weltuntergang und Atomkrieg, schrittweises Erlöschen aller Gewaltausbrüche oder auch bloß Aufgeregtheiten. Geschichtsphilosophisch lag dieser ‚evangelischen ދPrognose, wie Jacques Derrida ironisch vermerkte („And yet, good news has come“4), die Diagnose vom Erlöschen des letzten großen tiefenhistorischen Antagonismus zugrunde, wie er – zurecht oder zuunrecht – mit dem Namen Marx verbunden war. Schon der ‚Kalte Krieg ދhatte ja das Paradox impliziert, die Apokalypse eines Atomkriegs zur Entscheidung des Antagonismus gerade dadurch aus dem Bereich der Realpolitik zu rücken, dass er ihn erstmals in diesen Bereich hineingerückt hatte. Es soll hier nicht um eine Art Evaluation der fukuyamaschen Geschichtsphilosophie und der darauf errichteten prognostischen Dimension gehen. Es muss nicht entschieden werden, ob der Antagonismus tatsächlich mit dem Kollaps des Ostblocks 1989 aus der Geschichte verschwunden ist oder nicht gerade in dem Kompositum ‚demokratischer Kapitalismus‘ drinsteckt. Sicher ist, dass der Antagonismus jedenfalls aus den im Folgenden zu betrachtenden normalistischen Modellen, die Fukuyamas Vision am belastbarsten entsprechen, ‚ausgeklammert ދbleibt. Ich möchte daher das Theorem vom Erlöschen aller historischen Antagonismen (im Sinne von unversöhnlichen, nicht kompromissfähigen Widersprüchen) als lediglich heuristische Figur benutzen, um ein Beschreibungsmodell für ‚postmoderne ދAktualgeschichte zu skizzieren, die m.E. mit ‚posthistorischer ދidentisch ist. Ein solches Beschreibungsmodell muss, wie andernorts ausgeführt5, fähig sein, zeitgenössische ‚mittlere Geschichten ދzu analysieren. Unter einer ‚mittleren Geschichte ދsei ein von der ‚Großen Geschichte ދdurch sowohl räumlich wie zeitlich eingeschränkte Parameter gekennzeichneter wie vor allem ein empirisch kontrollierbarer, im mediopolitischen Diskurs je konstruierter, konfliktueller historischer Prozess mit kontinuierlichen Subjekten des Konflikts (‚Feinden )ދverstanden. Die bekannten Beispiele sind der Kampf der modernen Großmächte um die Welthegemonie im 19. und 20. Jahrhundert, der
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Nach Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. Fukuyama: The End of History, XIII. Link, Jürgen: „Medien und Krise, Oder: Kommt die Denormalisierung nicht ‚auf Sendung‘?“, in: Ralf Adelmann et al. (Hg.), Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 229-244, hier S. 232f.
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Kampf zwischen Monarchie/Diktatur und liberaler Demokratie während der gleichen Zeit, der Kampf der sozialistischen Arbeiterbewegung gegen den Kapitalismus, der Kalte Krieg, der Kampf gegen die negativen ökologischen Trends und womöglich künftig der Clash of Civilizations. Diese bekannten ‚mittleren Geschichten ދberuhen sämtlich auf historischen Antagonismen – wie sähe nun eine ‚mittlere Geschichte ދohne Antagonismus aus? Eine solche Geschichte wäre, so meine These, eine auf den Verlauf normalistischer Kurven, ihrer riskanten Abweichungen sowie deren allfällige Normalisierungen reduzierte Geschichte.6 Zu dieser These gehört die weitere, dass sich die Tiefenstruktur des ‚Postmoderne ދund/oder ‚Posthistorie ދgenannten Phänomens in einer dominanten Dimension als die eines ‚flexiblen Normalismus ދfassen lässt. Diese These gilt es nun zunächst zu begründen und zu spezifizieren.
Zum Konzept eines flexiblen Normalismus Man kann das ‚Normale ދund die ‚Normalität ދmit guten Gründen für beliebig füllbare ‚Plastikwörter‘ halten, mit denen eine wissenschaftliche Beschäftigung sich nicht lohne. Ich habe diese Kategorie stattdessen in meinem Versuch über den Normalismus7 ernst genommen, weil sie m.E. eine Basis-Kategorie unseres gegenwärtigen Gesellschaftstyps von großer struktureller und funktionaler Bedeutung darstellt. Immerhin stellt der Verlust von Normalität, die ‚Denormalisierungދ, das entscheidende Kriterium dar, das zweifelsfreien ‚Handlungsbedarf ދbegründet, und nicht umsonst atmet alles auf, sobald nach einer Krisensituation alles ‚zur Normalität zurückgekehrt ދist. Nach meiner These lässt sich Normalität operativ fassen, wenn sie im Kontext der Statistik definiert und auf verdatete Gesellschaften bezogen wird. Verdatete Gesellschaften sollen solche Gesellschaften heißen, die sich routinemäßig und flächendeckend selbst statistisch transparent machen: auf der Ebene der Datenerfassung einschließlich der Befragungen, auf der Ebene der Auswertung einschließlich der mathematisch-statistischen Verteilungstheorien, auf der Ebene der praktischen Intervention einschließlich aller sozialen Um-Verteilungs-Dispositive. Dabei sind die produzierten und reproduzierten Normalitäten im Wesentlichen durch ‚gemittelte ދVerteilungen gekennzeichnet (breiter mittlerer ‚normal range ދmit dichter Besetzung und zwei tendenziell symmetrische, ‚anormale ދExtremzonen mit dünner
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Dazu Link: „Medien und Krise“, a.a.O. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte und neu gestaltete Aufl., Göttingen 2006 (1. Aufl. Opladen 1996). Diese Publikation kann gleichzeitig als Erläuterung der verschiedenen Verfahren der Interdiskursanalyse dienen, die daher hier nicht im Einzelnen expliziert werden.
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Besetzung), idealiter einer ‚symbolisch gaußoiden8 Verteilung ދangenähert. Wenn die Normalverteilung die normalistische Basiskurve in der Synchronie darstellt, so die durch Addition von logistischen Kurven (gelängten SKurven) gebildete ‚endlose Schlange( ދKurve des normalen Wachstums) die Basiskurve der Diachronie. Solange also (in der Synchronie) die Verteilung des Lebensstandards in einer Gesellschaft wenigstens annähernd und wenigstens symbolisch mit einem ‚Gaußoid ދvergleichbar bleibt (breite Mittelschichten, sehr wenige sehr Reiche oben und sehr wenige sehr Arme unten) und solange (in der Diachronie) eine symbolisch ‚exponentielleދ, etwa demographische oder ökologische Tendenz rechtzeitig wieder ‚zurechtgebogen ދund umgekehrt eine Stagnation in einen neuen ‚Aufschwung ދüberführt wird, können wir beruhigt sein, weil ‚alles im normalen Rahmen’ bleibt. Der Blick der normalistischen Gesellschaft richtet sich also im übertragenen wie im wörtlichen Sinne auf das Ensemble solcher einschlägiger Kurven, auf den ‚großen Bildschirm’ mit der ‚normalistischen Kurven-Landschaftދ, welche unserer ‚Orientierung ދdient und welche die ‚Frühwarnungen ދaussendet. Entsprechend dem Prinzip der funktionalen Ausdifferenzierung haben wir es ferner mit einer Reihe verschiedener, jeweils relativ autonomer Bereiche zu tun, denen spezielle, etwa demographische, ökonomische, soziale, psychische, pädagogische usw. Normalitäten entsprechen – so etwas wie die ‚nationale Normalität ދwäre dann der interdiskursive Querschnitt aller sektoriellen Normalitäten, und die ‚globale Normalität ދwiederum das Integral aller nationalen. Dabei erweisen sich die normalistischen Dispositive als kontrollierende und kompensatorische Regulative ohne eigene ‚Substanzދ, welche vielmehr im modernen (tendenziell ‚exponentiellen‚ )ދWachstum ދbesteht: in der grenzenlosen Akkumulation von Wissen, Technik, Kapital und Menschen. Während jedoch Marx zufolge Antagonismen und Feindschaften (‚Klassenkämpfe )ދsozusagen in die Wachstumskurven ‚eingebaut ދsind, ist diesen Kurven nach Fukuyama durch das ‚Ende des Marxismus ދder Zahn der Antagonismen gezogen. Welche Gefahren bleiben dann? Es bleiben die ‚Risiken ދdes Normalismus, und zwar genauer die des ‚flexiblen Normalismusދ, die sämtlich mit der vagen Sorge zusammenhängen, die normalen Wachstumskurven könnten eines Tages an eine ‚Grenze ދstoßen (Club of Rome) und wären dann von einem finalen ‚Kollaps ދin Gestalt entweder einer finalen ‚Explosion ދoder noch eher einer finalen ‚Implosion ދbedroht, welche konkret durch einen Mega-‚Crash ދin der Kurvenlandschaft eingeleitet werden könnte. Dementsprechend geht es bei allen ‚Ängsten ދin der ‚posthistorischen ދLage um Denormalisierungsängste.
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Im Sinne von: einer Gaußverteilung (Normalverteilung) bzw. einer Binomialverteilung in der groben Tendenz ähnlich, also mit starker Mitteltendenz und zwei annähernd symmetrisch gegen Null auslaufenden Seitenästen. Ein typisches Beispiel wäre die Verteilung von Schulnoten zwischen 1 und 6 mit Kumulation um die 3 oder 4 sowie Minima bei 1 und 6.
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Da der Normalismus verdatete Gesellschaften als sein historisches Apriori voraussetzt, muss er als ausschließlich modernes Phänomen betrachtet werden, das seit dem 18. Jahrhundert emergiert ist und sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stabilisiert hat. Dementsprechend unterscheidet die Normalismustheorie moderne Normalitäten stricte von panchronischen ‚Alltäglichkeitenދ, generellen epistemologischen ‚Wirklichkeitskonstruktionenދ und ästhetischen ‚Banalitätenދ. Man kann die sehr komplexe Geschichte des modernen Normalismus am ehesten nach den jeweils dominanten Verfahren zur Konstitution der Normalitätsgrenzen zwischen normal und anormal profilieren. Aufgrund des Kontinuitätsprinzips von Broussais und Comte9, das einen stetigen und graduellen Übergang zwischen normalen und anormalen Sektoren in einem bestimmten Normalfeld postuliert, lassen sich rein theoretisch zwei idealtypische, polar entgegengesetzte Strategien zur Festlegung der Normalitätsgrenze vorstellen10: Ich übergehe hier den bis etwa 1945 vorherrschenden Typ des ‚Protonormalismusދ, der durch massive Normalitätsgrenzen, maximale Kontraktion des Normalitätsspektrums und entsprechend ‚breite ދund dramatisierte Zonen von Anormalität gekennzeichnet war. Man kann nun den seitdem dominant gewordenen, heute vorherrschenden Typ des ‚flexiblen Normalismus ދals genau entgegengesetzten strukturellen Pol beschreiben: in der Synchronie maximale Verbreiterung des mittleren Spektrums der Normalität durch ‚Integration ދund ‚Inklusion ދmöglichst vieler früherer Anormalitäten, entdramatisierte und poröse Normalitätsgrenzen mit breiten Übergangszonen, entsprechende Schrumpfung der Anormalitäten bis auf absolute ‚Extremismen ދwie ‚Terrorismusދ, ‚Amok ދund ‚Kinderschändungދ. In der Diachronie entspricht dem flexiblen Normalismus eine Verbreiterung der ‚normalen Korridore des Wachstums ދund der ‚Volatilitätދ der Kurvenausschläge – die (in the long run steigende) ‚Achterbahn-Kurveދ wird mehr und mehr zum Normaltyp der Wachstumskurven. Foucault paraphrasierend könnte man auch formulieren: Im Protonormalismus gilt das Prinzip ‚Anormalität machen, Normalität (zu)lassen – ދim flexiblen Normalismus das umgekehrte: ‚Normalität machen, Anormalität (zu)lassenދ. Wie zu zeigen sein wird, dienen die normalistischen Diskurse nun gerade dazu, das oben erwähnte Ereignis eines finalen ‚Kollapses ދder Normalität, also das Ereignis einer ‚normalistischen Apokalypseދ, unsagbar, unsichtbar, undenkbar und unwissbar zu machen. Stattdessen richtet sich der ‚normale ދprognostische Blick im Normalismus ausschließlich auf einzelne, punktuelle und sektorielle Risiken der Denormalisierung. Genau dazu dient das Dispositiv der Normalitätsgrenzen: Überschreitungen von Normalitätsgrenzen gilt es zu beobachten, zu verdaten, auf das eventuelle Risiko von
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Im Anschluss an Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique, Paris 1966; Vgl. das Canguilhem-Kapitel in Link: Versuch über den Normalismus sowie Link: „Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen. Normalismustheoretische Überlegungen“, a.a.O., hier S. 14. 10 S. dazu ebd.
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Kettenreaktionen bzw. ‚Ansteckungen ދhin zu analysieren und dann ggf. entsprechend normalisierend zu intervenieren. Eine nähere Ausführung dieses Dispositivs erübrigt sich, weil der Crash vom Herbst 2008 seine Funktionsweise geradezu lehrbuchartig vor aller Welt illustriert hat. So bestände demnach das idealtypisch-heuristische Modell einer ‚posthistorischen ދbzw. ‚postmodernen ދmittleren Geschichte post Fukuyamam in einem expertokratischen und dann massenmedial vermittelten Starren der Gesellschaft auf den großen Bildschirm (demnächst konkret bestehend aus Milliarden kleiner iPhones) mit dem Bündel der Wachstumskurven und in dem ständigen Abgleichen dieses Bündels mit den normalistischen Vorgaben. Der Risikoblick wäre auf Abweichungen der empirischen Kurvenverläufe von den normalistischen Modellen fokussiert, also auf kleine und größere Denormalisierungen, d.h. Kurvenknicks: deutsche Geburtenraten und deutsche PISA-Werte unter dem europäischen Durchschnitt? Arbeitslosenrate über 10 Prozent und bei 5 Millionen absolut? BIP-Wachstum unter 2 Prozent? durchschnittliche Gewinnmarge (Profitrate) unter 8 Prozent? Dementsprechend Medienalarm, Schüren von Denormalisierungsängsten, diskursive Figur des ‚Warnens‚( ދPolitiker warnen vor Konsequenzen... )ދund ggf. Einleitung normalisierender (regulierender, kompensierender, um-verteilender, umsteuernder) Maßnahmen. Wenn dem Antagonismus nach Carl Schmitt die gegenwärtige Dezision über und gegen den Feind entspricht11, so geht es im flexiblen Normalismus, aus dem der Antagonismus wenn nicht verschwunden, so jedenfalls doch ‚ausgeklammert ދist, um eine vollständige Temporalisierung der zu Risiken gewordenen Gefahren. Ideal wären Kurven, die mit prognostischer Verlässlichkeit bis weit in die Zukunft vorausgeschrieben wären. Da die Unsicherheit der Prognose aber vom Zeitpunkt des Übergangs zwischen Gegenwart und Zukunft an zunimmt, wird der Kampf gegen den Feind zum rein expertokratischen Kampf zwischen von einander abweichenden Prognosen. Nichts ist so charakteristisch für die ‚posthistorischeދ, d.h. flexibel-normalistische, Lage wie jener Fächer von verschiedenen gepunkteten oder gestrichelten prognostischen Kurven in die Zukunft hinein auf unseren Bildschirmen: Nur noch 50 Millionen Deutsche im Jahre 2050 oder noch 75 Millionen? Autodurchschnitt nur noch 0,5 pro Kopf oder aber 2,5? Arbeitslosenrate 2,5 Prozent oder 20 Prozent? Durchschnittliche Gewinnmarge 25 Prozent (‚Ackermannrate )ދoder Null Prozent? Entsprechend dann die Normalitätsgrenzen, die ‚Warnungenދ, besonders die ‚Frühwarnungenދ, und die normalisierenden ‚Weichenstellungen ދfürs ‚Umsteuernދ.
11 Vgl. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München/Leipzig 21934 (1. Aufl. 1922), bes. S. 11-22. Dazu auch Link: Versuch über den Normalismus, S. 291-294.
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Normalistische Kollektivsymbolik und Mythen der Denormalisierung ‚Umsteuernދ, ‚Weichenstellungenދ, ‚Frühwarnungenދ: diese stereotypen Metaphern des mediopolitischen Diskurses sind exemplarisch für das Ensemble der normalistischen Kollektivsymbolik, worin sich der normalistische Interdiskurs kondensiert und das die Halbfabrikate für die normalistische mediale, populäre und elitäre Kultur liefert. Repräsentatives Anschauungsmaterial aus dem Bereich der Printmedien liefern in Deutschland zum einen die Schlagzeilen der Bildzeitung mit ihrem ikonischen und residualtextuellen Umfeld, zum anderen die Coverbilder von Magazinen wie Spiegel bzw. Focus oder auch zunehmend von Zeitungen wie Zeit oder FAZ. Dabei wird die Kurvenlandschaft selbst nur in Ausnahmefällen, am häufigsten im Spiegel, abgebildet. Während sie im Textteil (außer in Bild) in Form von Kurvendiagrammen, auch in nüchterner Form, omnipräsent ist, wird sie in den ikonischen Cover-Montagen, aber auch auf vielen kleineren Infografiken im Textteil, von vornherein mit Kollektivsymbolik ‚aufgeladen‘. Dabei dominieren ‚Frühwarnungen ދvor Denormalisierung und das Schüren von Denormalisierungsängsten: ANGST VOR ARMUT (Spiegel, 16.8.2004; Foto einer Massendemonstration) ANGST VOR DER ANGST. Die gefährliche Psychologie der Finanzkrise (Spiegel, 6.10.2008; in der Mitte eines schwarzen Hintergrunds der rundlich verformte Schriftzug) DIE GEFÄHRLICHSTE FIRMA DER WELT. Wie ein Versicherungskonzern zum größten Risiko für die Weltwirtschaft wurde (Spiegel, 13.7.2009; Hochhaus in Form von Dynamitstäben) Auch im Spiegel werden demnach die Frühwarnungen dramatisiert und zwar in Zeiten von Megakrisen wie 2000ff. und 2008ff. in einzelnen Fällen bis hin zu apokalyptischen Visionen. Solche Visionen sind nun in Bild sehr viel häufiger. Während Bild die normalistische Kurvenlandschaft nur selten direkt abbildet, besteht die Tiefenstruktur nahezu aller Nachrichten in residual-narrativen Markierungen von Normalitätsgrenzen – selten positiv: WIRD WOWI DER 1. SCHWULE KANZLER? (Foto in Umarmung mit Freund; 19.9.2006) NACH DER MUTIGEN LIEBES-BEICHTE – LESBEN FEIERN ANNE WILL (20.11.2007) – in der Regel negativ, vor allem durch die diskursiven Komplexe absoluter Anormalität ‚Terrorދ, ‚Amokދ, ‚Kinderschändungދ. Alle Angstvorstellungen von einstürzenden Normalitätsgrenzen kulminieren in Bild in dem Signifikanten ‚Horrorދ, dessen am meisten apokalyptische Füllung epidemiolo-
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gisch ist: Es ist die Vorstellung vom ‚Todesbazillusދ, der die größte Denormalisierungsangst ausstrahlt, worauf zurückzukommen sein wird. Bild markiert den Unterschied zwischen ‚normalen ދZeiten und solchen der megakrisenhaften Denormalisierung unmissverständlich durch eine Distributionsregie der Schlagzeilen auf der ersten und der zweiten Seite: In ‚normalen ދZeiten beziehen sich die Schlagzeilen auf der ersten Seite scheinbar privat auf Stars und insbesondere auf die (etwa erkrankten, also denormalisierten) Körper von Stars, während aktualhistorische (vor allem politische) Schlagzeilen auf Seite 2 beschränkt sind.12 Nur bei Großalarm rücken aktualhistorische Schlagzeilen auf die Front Page und erhalten dann tendenziell eine apokalyptische Farbe, typischerweise durch riesige Signifikanten wie ‚ANGSTދ, ‚TERRORދ, ‚HORRORދ, ‚TODESBAZILLUS ދdramatisiert. Die Angst vor ‚Ansteckungދ, die in der Schreckvorstellung einer Epidemie (mit einem ‚Todesbazillus )ދkulminiert, steht dabei in verdeckter symbolischer Analogie zu allen Mega-Denormalisierungen, konkret zu allen fatalen massendynamischen Prozessen von Proliferation, ‚Kettenreaktionދ und ‚Eskalationދ, darunter insbesondere auch zu Börsen- und anderen Märkte-Paniken. Diese Angst ist identisch mit der Denormalisierungsangst schlechthin. Einige Beispiele aus den Krisen 2000 ff. und 2008 ff., zunächst 2000 ff.: Neue Terror-Kommandos unterwegs? ANGST! (15.9.2001) DER HORROR! ANSCHLAG MIT TODES-BAKTERIEN FBI ERMITTELT (10.10.2001) +++ Neue Milzbrand-Attentate in den USA +++ Sehr starke Bakterien +++ Kapitol in Washington verseucht: ANGST! (18.10.2001) NEW YORK IN ANGST. Gigantischer Stromausfall! Terror-Panik! Chaos! (16.8.2003)
2008ff.: TRAUM-CHANCE FÜR FORMEL-1-HELD: 100 MIO FÜR BUBISCHUMI (16.9.2008) BILD ERKLÄRT DAS BANKEN-CHAOS – WIE SICHER IST MEIN ERSPARTES? (17.9.2008) 26 600 000 000 EURO – WIR STEUERZAHLER SOLLEN BANK VOR PLEITE RETTEN! (30.9.2008)
12 Link, Jürgen: „German Mass Media Facing the Crisis: Limits to Normalization?“ in: William Urricchio/Susanne Kinnebrock (Hg.), Media Cultures, Heidelberg 2006, S. 125-142.
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+ AKTIEN IM FREIEN FALL + RIESEN-WUT AUF BANKER + STAATS-GARANTIE JETZT ÜBER EINE BILLION EURO – GILT DAS WORT DER KANZLERIN AUCH FÜR MEIN GELD? (7.10. 2008) BILD macht den Check BANKEN-KRISE – WIE SICHER IST IHRE ALTERSVERSORGUNG NOCH? (8.10.2008) 2 JAHRE NACH DER TRENNUNG VON BIRGIT SCHROWANGE – TV-STAR MARKUS LANZ IM LIEBES-GLÜCK! (10.10.2008) MADONNA SCHEIDUNG! MUSS SIE IHM JETZT 200 MIO ZAHLEN? (16.10.2008) DEPRESSIONEN! KLINIK! ALKOHOL-DRAMA UM PUR-SÄNGER HARTMUT ENGLER / COMMERZBANK-CHEF: WIR BANKER HABEN FEHLER GEMACHT! (18.10.2008) GEHEIME UFO-AKTEN VERÖFFENTLICHT! (21.10.2008) JOB-ANGST (25.10.2008) KRISE IMMER SCHLIMMER DAIMLER MACHT 5 WOCHEN DICHT! (27.10.2008) FORMEL-1-BOSS DROHT ÜBLE MILLIARDEN-SCHEIDUNG! (15.11.2008) OPEL – ANGST VOR MASSEN-ENTLASSUNGEN (18.2.2009) SCHWEINEGRIPPE – TOTE AUF MALLORCA – URLAUBER IN ANGST! (18.7.2009) Hier ließe sich zunächst auch massive Manipulation beobachten: So, wenn am 16. September 2008, als die gesamte Welt auf dem Bildschirm nach der Pleite der Lehman-Bank die Sturzflugkurve eines der größten Crashs aller Zeiten anstarren musste, Bild den noch ganz hypothetischen Millionengewinn eines Nachwuchsrennfahrers herausstellte. Oder wenn UFOs bemüht wurden (mit symbolischer Konnotation von Disaster-Movies wie INDEPENDENCE DAY). Obwohl im Herbst 2008 so oft wie nie zuvor Aktualgeschichte auf der Front Page von Bild inszeniert wurde (werden musste), wurden regelmäßig ‚private ދNachrichten von Stars darunter gemischt. Dabei ist die konnotative Analogie mit der Krise aber kaum zu übersehen: Die symbolischen Star-Körper leiden (wie die Wirtschaft) unter ‚Depressionenދ, und Madonna verliert schließlich mehr bei ihrer Scheidung als ein Rentner bei Lehman. Ich habe andernorts dargestellt, wie der ‚Kollaps ދeines Star-Körpers in Bild die Angst vor dem Kollaps der Normalität gleichzeitig ‚anspricht‘ und wegrückt13.
13 Vgl. Link: „German Mass Media Facing the Crisis“, a.a.O.
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Nine/Eleven oder wie die Apokalypse der Normalisierung dient Die Krise von 2000 ff., begonnen als wirtschaftlich-kulturelle Krise (Crash der New Economy) erhielt durch Nine/Eleven eine geradezu klassisch-religiöse apokalyptische Wendung. Es gab nun einen sowohl territorial wie temporal unfassbaren Feind, der ganz wie in der religiösen Apokalypse mit ‚dem Bösen ދidentifiziert wurde. Es lässt sich jedoch meines Erachtens nun zeigen, dass wir es bei dieser radikalen Dramatisierung durch apokalyptische Visionen tiefenstrukturell keineswegs mit einer Rückkehr zu einem Diskurs zu tun haben, der Geschichte in Antagonismen denkt, sondern ganz im Gegenteil mit einer diskursiven Integration der Apokalypse, einschließlich der religiösen, in einen durch und durch normalistischen Interdiskurs. Selbst die bisher größte Dramatisierung des Terrorkomplexes im Kontext von Nine/Eleven hat die normalistische Kurvenlandschaft nur wenig (und mittelfristig eher positiv) beeinflusst. Wie auf den elektronischen Bildschirmen der Börsensäle schreiben sich die Kurven kontinuierlich weiter und weiter fort, selbst nach einem Mega-Crash wie im September und Oktober 2008, aber ganz sicher nach einem Terroranschlag. Der strukturelle Kern normalistischer Ver-Sicherung und ‚Stabilität ދliegt im Vertrauen auf Kontinuität (wie sie garantiert wird durch die Kontinuität der Kurven auf den Bildschirmen und tiefenstrukturell durch das Kontinuitätsprinzip von Broussais-Comte). Wenn Walter Benjamin seinerzeit formulierte: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter ދgeht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“14 – sowie „Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“15 – so bezog er sich auf eine exponentielle Wachstumskurve, in der er einen Antagonismus wirksam sah, so dass für ihn Hoffnung auf Rettung identisch war mit Hoffnung auf Diskontinuität. Genau umgekehrt funktioniert der bis auf weiteres herrschende normalistische Diskurs: Wenn es so weitergeht, dann ist das die Rettung – eine strukturelle Diskontinuität wäre die Katastrophe. Eine solche Diskontinuität wiederum bestände in einer Denormalisierung, die sich mittelfristig nicht als normalisierbar erwiese. Deshalb zielen die normalistischen Diskurse auf schnellstmögliche Kontinuierung von Zäsuren, ja geradezu auf Leugnung bzw. Invisibilisierung der Diskontinuität. Dementsprechend schaltete der überwiegende Teil des Spezialdiskurses der Experten wie auch des mediopolitischen Interdiskurses gleich nach dem Crash um auf ‚Wege aus der Kriseދ, aus der man ‚gestärkt hervorgehen ދwerde, auf ‚Bodenbildungދ, ‚Licht am Ende des Tunnelsދ, ‚V-Form( ދd.h. genauso steiler Aufschwung der Kurven wie zuvor Abschwung), ‚Entwarnung ދund ‚Anzeichen der Erholungދ, also auf Fortschreibung der strukturellen Kontinuität, 14 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt a.M. 1974, S. 683. 15 Ebd.
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d.h. Normalisierung. Anders gesagt: Die strukturelle Diskontinuität, also die (zunächst mittelfristig) irreversible Denormalisierung, also schlimmstenfalls der Systemkollaps in den beiden möglichen Formen der Implosion und der Explosion sind im normalistischen Interdiskurs unsagbar und unwissbar. Dass es so weitergeht, ist die normalistische Gewissheit. Wie es der ehemalige Sponti und seitherige ‚Trendforscher ދMatthias Horx tröstlich zu Protokoll gab: ‚DIE WELT GEHT EINFACH NICHT UNTERދ (WAZ 10.6.2009) Damit erweist sich die Funktion der Narrative absoluter Anormalität und besonders die der apokalyptischen Narrative bei allem Schüren von Denormalisierungsangst hauptsächlich als die einer Frühwarnung und als eine der Ahistorisierung. Solange es stets Aussicht auf Normalisierung gibt, werden alle alarmistischen Narrative mehrheitlich als ‚zweckpessimistisch übertrieben ދrezipiert. ‚Die Welt wird davon nicht untergehenދ. Die gecrashten Kurven werden sich normalisieren, weil sonst ja der Systemkollaps käme, der aber undenkbar ist. Sicher signalisiert der Alarm ernsthaften Normalisierungsbedarf: Videant consules normalitatis bei den G 7 oder G 20. Sicher wird Denormalsierungsangst ausgelöst, um die Bereitschaft zu unangenehmen Normalisierungsmaßnahmen zu erhöhen. Darüber hinaus und noch grundsätzlicher dienen die alarmistischen Narrative einer fundamentalen Ahistorisierung aller Ereignisse (die der angeblich ‚posthistorischen ދLage entspricht). Ich habe einmal versucht, die Tiefenstruktur der normalistischen Narrative in die folgende Formel zu fassen: „sinkende Normalität – sinkende Normalität – steigende Normalität – MEGATERROR!!! – steigende Normalität – MEGATERROR!!! – sinkende Normalität – steigende Normalität usw.“16
Statt MEGATERROR lassen sich auch einsetzen: AMOK!!!, TSUNAMI!!!, SCHWEINEGRIPPE!!!, KINDERSCHÄNDUNG!!!, FLUGZEUGCRASH !!! usw. Gemeinsam ist all solchen Narrativen, dass sie an keinen historischen Antagonismus und an keine aktualhistorische ‚mittlere Geschichteދ gekoppelt sind und daher in die normalistischen Narrative buchstäblich wie METEORITEN!!! kurzfristig einschlagen und meistens bald normalisiert und dann bald auch wieder vergessen werden. Die Serien solcher Einschläge verstärken das Gefühl einer stabilen, durch nichts ernsthaft zu erschütternden Normalität unserer Gesellschaften und Kulturen. Einen ambivalenten Sonderfall stellt allerdings der vom Team des jüngeren Bush ausgerufene und von den meisten westlichen Massenmedien willig mit propagierte WAR ON TERROR dar, der dann auch von Obama
16 Vgl. Link: „Medien und Krise“, a.a.O., S. 239.
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übernommen wurde. Es war der Versuch, aus den zur Normalisierung komplementären alarmistischen Denormalisierungs-Narrativen eine eigene ‚mittlere Geschichte ދzu stricken: durch Unterlegung der einzelnen Episoden mit einem identischen und kontinuierlichen Feind-Subjekt, ‚dem Bösenދ alias ‚Bin Ladenދ, wie der Satan Verkörperung des theologischen mysterium iniquitatis und insofern stricte apokalyptisch. Indem dieser apokalyptische Kampf dann aber in Afghanistan und im Irak zu veritablen Kriegen eskaliert wurde, die teilweise Züge eines Clash of Civilizations annehmen, läuft er Gefahr, einen wirklichen aktualhistorischen Antagonismus zu restaurieren – und das könnte eine ernsthafte Denormalisierung auslösen. In dem Maße, in dem den intermittierenden, ahistorischen Insertionen absoluter Anormalitäten eine Art ‚mittlere Geschichte ދunterlegt und apokalyptische Narrative übergestülpt werden, nähern sich die normalistischen Massenmedien populären Film- und Fernsehgenres wie bestimmten Typen von Krimis, Horror- und Disaster-Thrillern, ggf. einschließlich ihrer Buchvorlagen, an. Ich habe bei den massenmedialen Kollektivsymbolen von ‚Halbfabrikaten ދfür die populäre Kultur gesprochen. Präziser muss dieser Zusammenhang aber als geschlossene Rückkopplungsschleife betrachtet werden. Dass die Bilder von Nine/Eleven wie ein Déjà-vu der Bilder aus Disaster Movies wie INDEPENDENCE DAY wirkten, wurde vielfach bemerkt. Dagegen wurde emphatisch betont: „This time it’s real!“ Das war die Schlagzeile des San Francisco Chronicle vom 13.9.2001, und unter dem Foto des Ground Zero war zu lesen: „Images of destruction familiar from fiction take on the power of truth“. Dazu bemerkte Bärbel Tischleder in einer medientheoretischen Analyse: „Wouldn’t it more accurately read: Truth takes on the power of fiction?“17 Auf Bildschirme bezogen, kennzeichnet der Begriff des Reading treffend die konnotative Unterlegung aller – sowohl schriftlicher wie bildlicher – ‚news ދmit der tiefenstrukturellen Kurvenlandschaft (‚good news ދgleich thumbs up gleich Kurve rauf – ‚bad news ދgleich thumbs down gleich Kurve runter). Dabei dienen die normalistischen Kollektivsymbole und Mythen als ‚Lese-Programm’ sowohl für die fiktionalen wie für die ‚authentischދ-dokumentarischen Filme. Sowohl die zunehmend stärker ‚psychologisierten ދKrimiformate wie die Talkshows nach Ereignissen wie eben auch die Bildzeitung bemühen sich um Flexibilisierung protonormalistischer Normalitätsgrenzen, etwa derjenigen gegen Homosexualität oder Behinderung, während sie gleichzeitig die absoluten Normalitätsgrenzen gegen Amok und Kinderschändung festklopfen. Wie in Bild scheint auch in der endlosen Landschaft der Thriller der größte apokalyptische ‚Horror ދmit dem epidemiologischen Szenario (dem ‚Killervirus)ދ verbunden zu sein. Als exemplarisch dafür kann Stephen Kings Insomnia gelten. Es ist kein Zufall, dass dieses Szenario zum einen genuin religiös-
17 Tischleder, Bärbel: „Plump with Fuel, Ripe to Explode: Media Aesthetics after 9/11“, in: William Uricchio/Susanne Kinnebrock (Hg.), Media Cultures, Heidelberg 2006, S. 267-273, hier S. 272.
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apokalyptisch ist, und dass ihm gleichzeitig die Proliferation als der nicht normalisierbare Prozess schlechthin zugrunde liegt.
Der magische Zaun absoluter Anormalität und der ‚Mut zur Angstfreiheitދ Als Resultat der pausenlosen Reproduzität der massenmedialen und popkulturellen Markierung von Normalitätsgrenzen entsteht eine Art von magischem Zaun der absoluten Anormalitäten um den Bereich der Normalitäten herum: Dieser Zaun liegt im flexiblen Normalismus ‚unendlich weit draußenދ, so dass der normale Bereich riesengroß erscheint. Allerdings stellt sich immer wieder auch die Frage, welche denormalisierenden ‚ersten ދoder auch weiteren ‚Schritte ދin ‚Richtung ދder absoluten Normalitätsgrenzen führen können und wo Frühwarnungen angebracht sind. Die ANGST (vor Denormalisierung) bezieht sich auf eine unterstellte satanische Anziehungskraft des magischen Zauns bis in die Mitte der Normalität hinein, wodurch in verschobener Form auch die Angst vor einem Kollaps des Normalismus unterschwellig präsent bleibt. Tiefenstrukturell ist es das Kontinuitätprinzip von Broussais-Comte zwischen Normalität und Anormalität, das die Denormalisierungsangst auf die ‚Vorstufen ދdiesseits der Normalitätsgrenze lenkt. Deshalb wird bezüglich der absoluten Normalitätsgrenzen niemand – er sei denn latent ‚anormal – !ދsich präventiven Normalisierungen verschließen wollen. Dieses Verhalten und diese ‚Akzeptanz ދaller Maßnahmen, die eine gefährliche Annäherung an den magischen Zaun bereits ‚im Vorfeld ދverhindern möchten, sind in die normalistischen Subjekte einsozialisiert. Sie funktionieren dementsprechend auch bei wirklichen oder vorgeblichen Präventionen von riskanten Annäherungen an die irreversible Denormalisierung in der Diachronie, vor allem im ökonomischen und sozialen Bereich: Wenn die Profite der Banken mit Billionen aus öffentlichem Eigentum normalisiert werden ‚müssen ދund umgekehrt der Staat von Millarden Sozialausgaben ‚entlastet ދwerden ‚mussދ, dann ist die Akzeptanz für den Spruch von der fehlenden Alternative internalisiert (nach der Formel TINA = There Is No Alternative). Zugrunde liegt eine ebenso ‚schlechthinnige Abhängigkeitދ wie die, aus der Schleiermacher seinerzeit die religiöse Subjektivität begründete. Eine ebenso ‚schlechthinnige Abhängigkeit ދbesteht heute von der Normalität – als von der absolut basalen ‚Geschäftsgrundlage‘ normalistischer Ver-Sicherung des modernen Lebens. Ich habe der bisherigen Skizze in deskriptiver Absicht das heuristische Modell einer antagonismusfreien, normalistischen Aktualgeschichte zugrunde gelegt, in der alarmistische und apokalyptische Narrative die kompensatorische Funktion von Frühwarnung und Ahistorisierung erfüllen und damit im Dienst von Normalisierung stehen. Dabei war die Deskription natürlich nicht von einer analytischen und insofern auch bereits kritischen Dimension zu trennen. Das gilt umso mehr, wenn man die strukturelle Prekarität des
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flexiblen Normalismus berücksichtigt. Die Flexibilisierung der Normalitätsgrenzen verleiht ihrer Überschreitung einen ambivalenten Status: Sie wirken nun gleichzeitig attraktiv und repulsiv. Die überwältigende statistische Majorität des Normalspektrums mit ihrer Langeweile lockt zur Exploration des Flexibel-Anormalen (Spitzenleistungen, Rekordwille, finanzielle ‚Gierދ, Stimulantia, Doping im engen und weiten Sinne) – gleichzeitig bleibt das Risiko der irreversiblen Denormalisierung (typischerweise Suchtgefahr). Genau diese Ambivalenz der flexiblen Normalitätsgrenzen wird in den massenmedialen Narrativen (und parallel dazu in psychologisierten Krimis und Thrillern) ininszeniert: Starkörper mit Suchtgefahr und Kollapsrisiko, Risiken der gleitenden Annäherung an die absoluten Anormalitäten. Daher sind auch die alarmistischen ‚Warnungen ދambivalent. Insgesamt ergibt sich also so etwas wie ein Jojo-Effekt des magischen Zauns: Seine heimliche Attraktivität ist nicht zu bannen (schon bei den ersten Signalen einer ‚Erholung ދnach dem Crash von 2008 setzt die ‚Gier ދder ‚Kursfeuerwerke ދan den Börsen und der Boni wieder ein). Gleichzeitig scheucht eine größere Denormalisierung wie die von 2008 ff. und die daraus entstehende Denormalisierungsangst die normalistischen Subjekte sozusagen in ein enges Normalitätsspektrum zurück. Eine solche Kontraktion des Normalitätsspektrums würde aber zum rigiden Protonormalismus tendieren, so dass das strukturelle Jojo ein zusätzliches erhebliches Denormalisierungsrisiko impliziert. Die tendenziell apokalyptischen Narrative verstärken diesen Effekt: Sie sollen als drastische Frühwarnungen die Denormalisierungsangst erhöhen, um die Akzeptanz für u.U. auch ‚harte‘ Normalisierungsmaßnahmen zu schaffen. Gleichzeitig dienen sie als ‚überzogene‘ Dramatisierungen der Konsolidierung und Stabilisierung eines unerschütterlichen Vertrauens in den Normalismus. Die weitestgehende Annäherung an die Vision einer radikalen Denormalisierung in Gestalt einer radikalen Diskontinuität repräsentieren zwei Spiegel-Cover, je eines in der Krise von 2000 ff. und der von 2008 ff. Beide Cover greifen auf das sicherlich actualiter am meisten beängstigende Kollektivsymbol eines Crash, den Computer-Crash, zurück. Farblich dominiert in beiden Fällen schwarz-weiß. Insbesondere das Cover vom 6.10.2008 (deformierter Schriftzug ANGST VOR DER ANGST, der in der Mitte einer schwarzen Fläche ‚schrumpft )ދsuggeriert den Moment vor dem endgültigen Erlöschen des Bildschirms, wenn die letzten Schriftzeichen bereits ins schwarze Loch entschwinden. Das ist sicherlich das überzeugendste aggiornamento der Apokalypse, das sich denken lässt. Es konnotiert ja tiefenstrukturell den finalen Crash des großen Bildschirms der normalistischen Kurvenlandschaft, auf den die Welt zu ihrer Orientierung absolut angewiesen ist und der wie das Ewige Licht des Tabernakels niemals gelöscht werden darf: Ähnlich Wirtschaftskrise / Steuerdesaster / Staatsversagen DIE STUNDE DER WAHRHEIT IM LAND DER LÜGEN (19.5.2003; schlichter weißer Schriftzug auf schwarzer Fläche)
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Beide Cover implizieren aber keineswegs die Denkbarkeit einer strukturell begründeten irreversiblen Denormalisierung. Beide moralisieren (‚Lüge)ދ und psychologisieren die Krise und zeigen damit einen relativ einfachen Weg zur Normalisierung auf: ‚Mut zur Wahrheit ދund ‚Mut, die Angst abzuschüttelnދ. Am Horizont droht unsichtbar der magische Zaun der absoluten Anormalität und des Kollapses aller Normalität: Die Denormalisierungsangst erzwingt auf höchst paradoxe Weise einen ‚Mut zur Angstfreiheitދ. Dieser ‚Mut zur Angstfreiheit ދwäre demnach die paradoxe Aktualisierung der Katharsis im flexiblen Normalismus – und dazu würde auch der Mainstream der U-Literatur (inklusive Film) dienen, dessen Spiel mit dem ‚Horror ދuns die Normalität jedes Mal vertrauter genießen lässt, wenn wir aus dem dunklen Kinosaal umziehen ins helle Eiscafé oder in die Pizzeria.
Kritik der Krise O TTO N EUMAIER
Zur Krise fällt mir nichts ein.1 Die Gründe dafür sind dreifaltig: Erstens müsste ich zunächst einmal wissen, worum es geht, wenn von der Krise die Rede ist. Vielleicht ist anderen, die von der Krise hören oder lesen, unmittelbar klar, was damit gemeint ist; mich erstaunt hingegen die Tatsache, dass die Welt von nichts als Krisen erfüllt zu sein scheint, denn es ist nicht nur andauernd von einer oder der Krise die Rede, sondern es gibt anscheinend auch nichts, das nicht als Krise in Frage kommt. Zweitens ist zwar zu überlegen, ob der Ausdruck ‚die Krise‘ nur als Platzhalter für vielerlei Phänomene dient, denen zumindest gemeinsam ist, dass es sich um eine Krise handelt, doch ist es mir bislang nicht gelungen, diese Gemeinsamkeit zu entdecken, weiß ich also nicht, was ‚die Krise‘ sein soll. Drittens aber wird ohnehin so viel von ‚der Krise‘ gesprochen und geschrieben, dass mir dazu nichts Neues einfällt, schon gar keine Strategie, wie ‚ihr‘ zu begegnen wäre, etwa mit Skepsis oder Beschwichtigung.2 Mithin kann ich nur hoffen, dass niemand – wie es so schön heißt – die Krise bekommt, wenn ich gleich zu Beginn meines Beitrags erkläre, dass ich keine anspruchsvolle philosophische Kritik der Krise bieten kann, die landauf landab in Wirtschaft, Medien, Politik usw. beschworen oder beklagt wird. Schlimmer noch: Als Philosoph bin ich genau genommen sachlich für das Thema ‚Narrative der Krise‘ gar nicht kompetent, da die Analyse eines solchen Phänomens, seiner Ursachen und Wirkungen, Angelegenheit von
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Zur Beruhigung: Wer sich bei dieser Eröffnung an Karl Kraus erinnert fühlt, muss nicht zu viel erwarten. Anders als dieser, der seine Dritte Walpurgisnacht mit dem Satz „Mir fällt zu Hitler nichts ein“ beginnt, lasse ich nicht an die 300 Seiten darauf folgen; selbst meine Einfallslosigkeit hält sich also in Grenzen. Zum Zitat vgl. Kraus, Karl: Die Dritte Walpurgisnacht, hg. von Heinrich Fischer, München 1967, S. 9 [geschr. 1933, Erstveröff. 1952]. Vgl. dazu Schulze, Gerhard: Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt a.M. 2011, S. 11.
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empirischen Wissenschaften wie der Soziologie oder Psychologie ist. Freilich ist überhaupt zu fragen, wofür die Philosophie (noch) kompetent ist.
1. Philosophische Kompetenz in der Krise Wie Odo Marquard darlegt, hat Kompetenz „mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft“ sowie damit zu tun, „daß Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophen gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese Überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, daß es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie.“3
Wenn ich im Folgenden dennoch über Krisen schreibe, so tue ich das nicht in Verbundenheit mit Slavoj Žižek, der im Juni 2010 in einem Interview mit der TAZ äußerte, als Theoretiker habe „man das Recht, über Dinge zu schreiben, die man nicht kennt“4; vielmehr kenne ich nicht nur (wie alle Menschen) die eine oder andere Krise aus eigener Erfahrung, sondern kann ich auch jenen Ausweg aus dem Problem der reduzierten Sachkompetenz nehmen, den Odo Marquard selbst anbietet. Das heißt, ich berufe mich auf die den Philosophierenden eigene Kompetenz: die Inkompetenzkompensationskompetenz. Möglicherweise nicht völlig in Übereinstimmung mit Marquards Vorstellungen meine ich damit, dass uns Philosophierenden zwar vielleicht in potenziell jeder Hinsicht jene sachliche Kompetenz abgeht, die im Laufe der Geschichte zur Voraussetzung des Tuns in den empirischen Wissenschaften wurde; daraus folgt jedoch nicht, dass wir darüber gar nichts zu sagen hätten, und zwar aus mindestens zwei Gründen: zum einen sind nicht alle für ein Problem relevanten Fragen eine Angelegenheit der für eine bestimmte Wissenschaft notwendigen sachlichen Kompetenz (da sie entweder nicht empirischer Natur sind oder nicht eine einzelne Wissenschaft betreffen), zum anderen liegen nicht zu allen Aspekten des menschlichen Lebens wis-
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Vgl. Marquard, Odo: „Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie“, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 23-38, hier S. 24 [Orig. 1973]. Vgl. „Alles ist Fake“, in: TAZ vom 25.06.2010, www.taz.de/1/leben/koepfe/ artikel/1/alles-ist-fake/ vom 22.01.2011.
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senschaftliche Erklärungen vor; vielmehr sind wir darauf angewiesen, unseren Verstand zu bemühen, damit wir – um mit Xenophanes zu sprechen – „allmählich suchend das Bessere“ finden.5 Besteht Philosophieren demnach in nichts anderem als in einer Suche nach Einsicht, die das wissenschaftliche Streben nach Erkenntnis ergänzt oder ersetzt? Diese Frage ist keineswegs leicht zu beantworten – wie uns insbesondere dann bewusst gemacht wird, wenn wir Philosophierende nach dem Gegenstand und Zweck ihres Tuns befragen. Dadurch gewinnen wir nämlich zunächst den Eindruck, dass es „keine nur einigermaßen allgemein anerkannte Definition der Philosophie [gibt], und die von verschiedenen Philosophen aufgestellten weichen so sehr von einander ab, daß sie oft ganz Entgegengesetztes für das Wesen der Philosophie ausgeben, und sich gegenseitig aus dem Gebiete der Philosophie ausschließen.“6 Auch wenn sehr Verschiedenes oder sogar Gegensätzliches als Philosophie gilt, sind sich die Philosophierenden dennoch einig, dass nicht alles Philosophie ist, sondern dass es sinnvoll ist, diese von anderen theoretischen Disziplinen wie etwa der Mathematik, Physik oder Psychologie abzugrenzen. In diesem Sinne bestimmt etwa Bernard Bolzano jegliches Philosophieren als „ein Nachdenken, das […] auf die Findung neuer Wahrheiten gerichtet“ ist, und zwar von grundlegenden Wahrheiten. Philosophieren ist also „ein Nachdenken über Gründe und Ursachen, Folgen oder Wirkungen“, wozu Bolzano auch „die Erörterung der Bestandteile, aus denen ein in unserm Bewußtsein gegebener Begriff zusammengesetzt ist, und die Erforschung der Vordersätze, aus welchen wir uns selbst unbewußt ein Urteil ableiten, zählt“. In diesem Sinn philosophieren alle, die „über den objektiven Zusammenhang zwischen den Wahrheiten an sich oder auch zwischen den Dingen, die uns die Wirklichkeit darbietet, nachdenken“. Dementsprechend betont Bolzano: „Philosophiert muß also über [jede] und in jeder Wissenschaft werden.“ Und es ist nicht nur eine bestimmte Personengruppe, die der Philosophen, die versucht, solche grundlegenden Wahrheiten zu finden; vielmehr philosophiert jeder Mensch, der sich damit beschäftigt: „Wenn sich z.B. der Mathematiker die Frage vorlegt, nicht ob, sondern warum die Gerade unter allen zwischen denselben Grenzpunkten liegenden Linien immer die kürzeste sei: sofort erklären wir, daß er zu philosophieren beginne.“ 7
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Vgl. Xenophanes: „Wahrlich nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere“, zit. nach: Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Walther Kranz, Bd. 1, Zürich/Berlin 111964, S. 133 (Fragm. 18). Diese von Heinrich Schmid 1836 in seinen Vorlesungen über das Wesen der Philosophie gemachte Beobachtung ist bis heute gültig; zit. nach Bolzano, Bernard: „Was ist Philosophie?“, in: ders.: Philosophische Texte, hg. von Ursula Neemann, Stuttgart 1984, S. 21-49, hier S. 25 [Orig. 1849]. Ebd., S. 25f.
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Bolzano weist damit auf jene Sicht von Philosophie voraus, wie sie in neuerer Zeit vor allem von den Mitgliedern und Nachfolgern des „Wiener Kreises“ gepflegt wurde und wird, in deren Augen die Philosophie nicht mit den sich ausdifferenzierenden empirischen Wissenschaften beim Versuch konkurriert, bestimmte Gegebenheiten zu erklären, sondern auf andere Weise damit zu tun hat. Anders als Odo Marquard vermutet, ist demnach historisch weniger von einer Abnahme der philosophischen Kompetenz zu sprechen, als von einer Verlagerung (oder auch von der Entwicklung philosophischer Kompetenz im Rahmen der Wissenschaften). Otto Neurath bezeichnet diesen Prozess als „Orchestrierung der Wissenschaften“;8 dieses Bild legt nahe, dass seine Rede von einer „Einheitswissenschaft“, d.h. vom einheitlichen Anspruch empirischer Überprüfbarkeit für wissenschaftliche Aussagen, nicht die Annahme einer einzigen Wissenschaft bedeutet, die einen solchen Anspruch erfüllt, geschweige denn den Ausschluss der Philosophie aus dem „Orchester der Wissenschaften“. Vielmehr bezieht Neurath den Ausdruck ‚Wissenschaft‘ auf das gesamte „Orchester“ wissenschaftlicher Bemühungen um eine Erkenntnis der Welt, in dem auch die Philosophie ihren Part spielt – die Frage ist nur: welchen? Den gerade angestellten Überlegungen zufolge ist die Erkenntnis der Welt keine Angelegenheit der Philosophie, sondern der empirischen Wissenschaften. Wie angedeutet, folgt daraus nicht, dass es philosophisch nichts mehr dazu zu sagen gäbe, was nicht bereits durch die empirischen Wissenschaften gesagt würde – im Gegenteil: Gerade unter Voraussetzung des von Neurath vertretenen Wissenschaftsideals ist das „Orchester der Wissenschaften“ nicht auf die Stimmen der empirischen Wissenschaften beschränkt; vielmehr steht auch den philosophisch Tätigen eine Reihe von Möglichkeiten offen, darin mitzuspielen, z.B. die folgenden:9 (i) Mit Moritz Schlick können wir die Klärung der in den Wissenschaften verwendeten Ausdrücke als eine philosophische Tätigkeit bestimmen, die beiträgt, die Grundlagen der Wissenschaften zu sichern. Suchen die Wissenschaften nach wahren Aussagen, so ist die Untersuchung dessen, „was die Aussagen eigentlich meinen“, eine philosophische Tätigkeit, die in Schlicks Augen „das Alpha und Omega aller wissenschaftlichen Erkennt-
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Vgl. Neurath, Otto: „The Orchestration of the Sciences by the Encyclopedism of Logical Empiricism“, in: Philosophy and Phenomenological Research 6, Nr. 4 (Juni 1946), S. 496-508. Neurath bezieht sich dabei auf Kallen, Horace: „The Meaning of ‚Unity‘ Among the Sciences, Once More“, ebd., S. 493-496, hier S. 495f. Zu einer etwas genaueren Darstellung dieser philosophischen Tätigkeiten vgl. Neumaier, Otto: „Bolzanos schönere Welt, oder: Die Geburt der Utopie aus dem systematischen Denken“, in: Kurt F. Strasser (Hg.), Bernard Bolzanos bessere Welt. Akten der Internationalen Tagung Salzburg, 27. und 28. Mai 2010, Prag 2011, S. 135-172, hier S. 139-143.
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nis“ ist.10 Natürlich ist wissenschaftliche Tätigkeit keineswegs sinnlos, wenn nicht zuvor „professionelle“ Philosophen den Sinn der dabei verwendeten Wörter und Sätze verbürgt haben; zudem können Physiker, Biologen usw. den Sinn ihrer Ausdrücke sehr wohl auch selbst klären. Vielmehr gilt: Wer auch immer sich darum bemüht, die Bedeutung von Ausdrücken zu klären, übt eine philosophische Tätigkeit aus. (ii) Neben dem Klären von Ausdrücken ist für die Grundlagen der Wissenschaften auch die Integration von Ergebnissen der in der Spezialisierung auseinander strebenden empirischen Wissenschaften theoretisch und praktisch von großer Bedeutung, weil dies hilft, einen Gegenstandsbereich als ganzen zu erfassen. Durch die Untersuchung aus mehreren, spezialisierten Perspektiven ist er in vielen Details genauer zu erkennen als bei einer undifferenzierten „ganzheitlichen“ Sicht; andererseits geht dabei jedoch der Überblick über den Gegenstandsbereich als ganzen verloren. Darum ist eine integrative und mithin in sekundärem Sinne ganzheitliche Sicht notwendig; wer sich darum bemüht, übt ebenfalls eine philosophische Tätigkeit aus, die den Bereich einzelner Disziplinen übersteigt bzw. Fragen betrifft, die mehreren oder gar allen davon gemeinsam sind. (iii) Eine weitere philosophische Tätigkeit ist die systematische Behandlung von Problemen, d.h. der Versuch, etwas mit wohldefinierten Begriffen und systematischen Unterscheidungen zu erklären – und dabei auch neue Einsichten zu gewinnen. Die dadurch gebotenen Möglichkeiten demonstriert etwa Bernard Bolzano, der bei seiner „Einteilung der schönen Künste“ theoretisch auch Kunstformen in Betracht zog, die zu seiner Zeit praktisch noch nicht verwirklicht waren, wie z.B. „Laufbilder“ (also Film), monochrome Malerei (und Musik, die nur aus einem einzigen Ton besteht) sowie eine „Kunst der bloßen Vorstellung“, d.h. eine radikal konzeptuelle Kunst.11 (iv) Im ‚Konzert‘ der Disziplinen können wir philosophisch auch dadurch tätig sein, dass wir Grundsatzkritik an empirischen Theorien üben, also nach der Gültigkeit und den Grenzen von Theorien fragen. Wer empirische Behauptungen aufstellt, muss sich in diesem Sinne etwa folgenden Fragen stellen: Woher weißt du das? Lässt sich die Gültigkeit dieser Behauptung beweisen? Ist klar, auf welchen Voraussetzungen diese Annahme beruht? Ist diese oder jene Behauptung mit den explizit angegebenen Voraussetzungen verträglich? Angenommen, eine Behauptung ist wahr; was zeigt sich dadurch bzw. was wissen wir dann? Derartige kritische Überlegungen sind notwendig, um im wissenschaftlichen Diskurs das zu vermeiden, was Wittgenstein in einem Brief an Ludwig von Ficker als „schwefeln“ bezeich-
10 Vgl. Schlick, Moritz: „Die Wende der Philosophie“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze 1926-1936, Wien 1938, S. 31-39, hier S. 36. 11 Vgl. dazu Bolzano, Bernhard: „Über die Einteilung der schönen Künste“, in: ders.: Untersuchungen zur Grundlegung der Ästhetik, hg. von Dietfried Gerhardus, Frankfurt a.M. 1972, S. 119-173, bes. S. 151-159 [Orig. 1849], sowie Neumaier: „Bolzanos schönere Welt“, a.a.O., S. 149-158.
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net. Wenn wir diese philosophische Tätigkeit scheuen, müssen wir letztlich dieselbe Konsequenz ziehen wie Wittgenstein, d.h., „alles das, was viele heute schwefeln“, dadurch festlegen, dass wir darüber schweigen.12 (v) Philosophisch tätig zu sein, kann zudem darin bestehen, Fragen nach den methodologischen, moralischen und anderen Normen sowie nach den Zielen zu stellen, die den Wissenschaften zugrunde liegen. Wie Max Weber betont, wird danach in den Wissenschaften selbst nicht gefragt. So sei etwa die Aufgabe der Medizin die „Erhaltung des Lebens rein als solchen und der möglichen Verminderung des Leidens rein als solchen. […] Ob das Leben lebenswert ist und wann? – danach fragt sie nicht.“ Zwar sind die Fragen nach Sinn und Zweck sowie nach den Konsequenzen des Tuns keine Angelegenheit der empirischen Wissenschaften, doch sind sie (und die Antworten darauf) für deren Grundlagen überaus wichtig. Also ist es notwendig, sie zu stellen; wer dies tut, betreibt Philosophie – und kann den Wissenschaftstreibenden laut Weber helfen, „sich selbst Rechenschaft zu geben über den Sinn“ ihres Tuns.13 (vi) Zu den bereits erwähnten philosophischen Tätigkeiten gesellt sich die Erziehung von Problemen, d.h. ein immer wieder neu ansetzender Umgang mit Fragen, die noch ‚unreif‘ für die Untersuchung mit Methoden der empirischen Wissenschaften sind. In diesem Sinne gilt die Beschäftigung mit einem Problem so lange als philosophisch, bis es ‚reif‘ für die Behandlung durch eine empirische Theorie ist. Viele ‚klassische‘ Theorien (wie z.B. jene des Aristoteles über biologische und psychologische Zusammenhänge) sind in diesem Sinne philosophisch und stellten sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn das betreffende Problem durch Erziehung reif zu wissenschaftlicher Behandlung wurde, als verkappte empirische Theorien heraus.14 Durch philosophische Tätigkeiten werden demnach nicht Probleme endgültig gelöst, sondern u.a. die Grundlagen geschaffen, um sie schließlich lösen zu können. Dadurch, dass ein Problem lösbar, d.h. wissenschaftlich lösbar wird, ist es – wie schon Bertrand Russell bemerkte – kein philosophisches mehr;15 vielmehr zeigt sich dann, dass es überhaupt kein philosophi-
12 Vgl. dazu Wittgenstein, Ludwig: Briefwechsel, hg. von Brian F. McGuinness und Georg Henrik von Wright, Frankfurt a.M. 1980, S. 96f. (Brief Nr. 107 vom Oktober oder November 1919). 13 Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“, in: ders.: Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. von Michael Sukale, Stuttgart 1991, S. 237-273, hier S. 256f. [Orig. 1919]. 14 Vgl. dazu etwa Toepfer, Georg: „Transformationen der Lebendigkeit. Kontinuitäten und Brüche in biologischen Konzepten seit der Antike“, in: ders./Hartmut Böhme (Hg.), Transformationen antiker Wissenschaften, Berlin 2010, S. 313329. 15 Vgl. Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie, übers. von Eberhard Bubser, Frankfurt a.M. 71978, S. 136 [Orig. 1912].
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sches war (sondern eben ein verkappt empirisches). Das Problem ist dann ‚erwachsen‘ bzw. ‚reif‘ für die Behandlung mit anderen Methoden.16 (vii) Wir können für die Wissenschaften auch philosophisch tätig sein, indem wir spielerisch Möglichkeiten erkunden. Laut Wittgenstein gleichen Philosophierende in dieser Hinsicht kleinen Kindern, „die zuerst mit ihrem Bleistift beliebige Striche auf ein Papier kritzeln und dann den Erwachsenen fragen ‚was ist das?‘ – Das ging so zu: Der Erwachsene hatte dem Kind öfters etwas vorgezeichnet und gesagt: ‚das ist ein Mann‘, ‚das ist ein Haus‘ usw. Und nun macht das Kind auch Striche und fragt: was ist nun das?“17 Das spielerische Erkunden von Möglichkeit ist mithin Ausdruck einer Neugier und Fähigkeit zum Staunen, die dem schöpferischen Tun von Menschen zugrunde liegt – nicht nur in ihrer Kindheit, sondern insbesondere auch dann, wenn sie sich diese (etwa als Philosophierende) zeit ihres Lebens erhalten. Ein schönes Beispiel für einen solchen spielerischen Umgang mit theoretischen Phänomenen bietet wiederum Bolzano, der nicht nur systematisch überlegte, was an Künsten möglich ist, sondern aufgrund seiner Neugier (und vermutlich zum eigenen Erstaunen) dabei auch Künste entdeckte, an die niemand zuvor gedacht hatte. Die Bedeutung dieses Zugangs zu den Dingen des Lebens betont auch Russell, wenn er meint, die Philosophie könne uns „zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewißheiten darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten.“18 Die Philosophie schärft also den Möglichkeitssinn, der nach Ansicht von Robert Musil in unserem Leben die gleiche Bedeutung wie der Wirklichkeitssinn haben sollte.19 Eben dies ist auch wichtig für die Beschäftigung mit ‚der‘ Krise: Das Bedenken des Möglichen eröffnet Spielräume zu philosophischer Tätigkeit, sofern wir zumindest etwas über einen Gegenstand wissen. In diesem Sinne geht es im Folgenden weniger darum zu zeigen, inwiefern die philosophi-
16 Dieser Prozess lässt sich etwa an Galileis Bemühungen um die Entdeckung des Fallgesetzes beobachten; vgl. dazu Renn, Jürgen/Damerow, Peter/Rieger, Simone: „Hunting the White Elephant: When and How Did Galileo Discover the Law of Fall?“, in: Science in Context 14 (2001), S. 29-149. 17 Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. von Georg Henrik von Wright unter Mitarb. von Heikki Nyman, Neubearb. des Textes von Alois Pichler, Frankfurt a.M. 1994, S. 52f. (Bemerkung vom 27. Oktober 1931). 18 Russell: Probleme der Philosophie, a.a.O., S. 138. 19 Vgl. Musil, Robert: „Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch“, in: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, hg. von Adolf Frisé (Gesammelte Werke, Bd. 1), Reinbek 1978, S. 1-665, hier S. 16ff. [Orig. 1930].
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sche Kompetenz in der Krise ist, sondern darum, was durch philosophische Kompetenz in der Krise bzw. mit Bezug auf das Reden von Krisen an ‚Wissen darüber, was die Dinge sein könnten‘, aufzuzeigen möglich ist. Dafür ist notwendig, zunächst die verwendeten Ausdrücke genauer zu betrachten.
2. Krisensprachspiele Bekanntlich stammt das Nomen ‚Krise‘ aus dem Griechischen.20 Es ist abgeleitet vom Verb krínein, das in erster Linie so viel bedeutet wie scheiden, trennen, sondern, auswählen, ordnen. In dieser Bedeutung verwenden wir das Wort auch heute noch in Zusammenhang mit den endokrinen Drüsen und mit der Endokrinologie, die sich mit Erkrankungen eben jener Organe beschäftigt, die Substanzen ausscheiden. Davon ausgehend ist das Verb krínein aber auch im Sinne von entscheiden, unterscheiden, untersuchen in Gebrauch, nicht zuletzt mit Bezug auf strittige Fragen; d.h. krínein kann auch heißen: einen Streit schlichten, entscheiden, wer Sieger ist, einen Prozess durch das Urteil entscheiden, jemanden verurteilen sowie überhaupt urteilen und beurteilen. Das vom Verb krínein abgeleitete Nomen krísis bedeutet zunächst Schlichtung, Trennung, Scheidung; des Weiteren hat es die Bedeutungen Streit, Auswahl, Entscheidung (z.B. auch einer Schlacht), Urteil, Urteilsspruch, Verurteilung.21 Schon im Altgriechischen war der Ausdruck krísis nicht zuletzt auch in medizinischer Bedeutung gebräuchlich und bezeichnete jene Phase einer Krankheit, in der sie sich zum Guten oder Schlechten entscheidet. Das Verb krínein zeugte bzw. gebar jedoch sozusagen noch weitere Kinder, z.B. das Nomen kritérion, womit ein Mittel, das zur Entscheidung führt oder ein entscheidendes Merkmal bezeichnet wird, aber auch der Ort einer richterlichen Entscheidung bzw. das Gericht selbst. Das Nomen krités bezeichnet den Richter, Beurteiler oder Kampfrichter, während das Adjektiv kritikós einerseits etwas bezeichnet, das entscheidend ist (darunter auch einen Zeitpunkt, der eben kritisch ist), andererseits aber das, was zum Entscheiden gehört. Dementsprechend bezeichnet das Nomen kritikós jemanden, der zur Beurteilung fähig ist, d.h. den Kritiker, und mit kritiké ist die
20 Vgl. zum Folgenden etwa Pape, Wilhelm: Griechisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 1: ǹ–Ȁ, bearb. von Maximilianus Sengebusch, Braunschweig 31880, S. 1509ff. 21 Der Aspekt des Urteils zeigt sich z.B. darin, dass der griechische Titel eines (verlorenen) Stücks von Sophokles über das Urteil des Paris schlicht „Krisis“ lautet; vgl. dazu Reinhardt, Karl: „Das Parisurteil“, in: ders., Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung, hg. von Carl Becker, Göttingen 1960, S. 16-36 [Orig. 1938].
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Kritik im Sinne der Kunst der Beurteilung gemeint. Zwischen Krise und Kritik besteht also ein etymologischer Zusammenhang.22 In der Oekonomischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz wird der Begriff der Kritik in diesem Sinne so erklärt, dass „Kritik die Beurtheilung dessen sey, was Menschen thun, oder vermittelst ihres Verstandes hervor bringen; welches auch der Abstammung dieses Wortes gemäß ist. Man beurtheilt oder kritisirt die Thaten der Menschen, wenn man entscheidet, ob sie klug, recht, nützlich, wohlanständig, löblich, schön, u. s. f. seyn. Man beurtheilt ihre Producte, sie seyn nun Schriften, oder andere Arbeiten und Werke der Kunst beynahe auf dieselbe Art; und wer dieses thut, den nennt man im gemeinen Leben schon einen Kritiker, wenn er es gleich auch nicht recht thut. Eigentlich aber gebührt nur demjenigen dieser Nahme, welcher dieses auf eine regelmäßige Art nicht nur thut, sondern auch eine Fertigkeit besitzt, solches zu thun. Kritik ist alsdann eine Wissenschaft oder Kunst, dasjenige, was Menschen thun und hervor bringen, richtig zu beurtheilen. Will man hier Wissenschaft und Kunst, wie es oft geschieht, unterscheiden, so ist die Kritik, als Wissenschaft betrachtet, der Inbegriff der Regeln, nach welchen die Urtheile gefället werden müssen; und als Kunst betrachtet, die Fertigkeit, diese Regeln gehörig auf die vorliegende Gegenstände anzuwenden.“23
Die zehn Jahre vor diesem Artikel erschienene Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant ist durchaus in diesem Sinne als Versuch zu verstehen, richtig zu beurteilen, was der menschlichen Vernunft möglich ist und was nicht. Im erläuterten Sinne werden die Ausdrücke ‚Krise‘ und ‚Kritik‘ etwa auch im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm erklärt, wobei der Artikel über Kritik deutlich länger ist als jener über Krise; dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass jenes Phänomen seinerzeit für bedeutsamer gehalten wurde als dieses. Wie es weiter heißt, ist der Ausdruck ‚Krise‘ über die Medizin in den deutschen Sprachgebrauch gekommen, also im Sinne von „entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u.ä. mit einander streiten.“24 Ähnliches gilt etwa auch für das Englische: Das Oxford English Dictionary gibt als früheste Belege für die Verwendung des Ausdrucks ‚crisis‘ zwei Bücher aus dem 16. Jahrhundert an, und zwar zum einen Bartholomew Traherons 1543 erschienene Überset-
22 Sollte Reinhardts Bemerkung zutreffen, dass es ohne die Sage vom Urteil des Paris auch keine Ilias gäbe, so lässt sich dieses älteste Zeugnis abendländischer Literatur (zumindest auch) als erste „Kritik einer Krise“ lesen, nämlich als „kritische“ Darstellung der Folgen einer falschen Lebens-Entscheidung des Menschen; vgl. ebd., S. 32. 23 Krünitz, Johann Georg: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft […], Bd. 53, Brünn 1791, S. 547f. 24 Grimm, Jacob & Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5: K, bearb. von Rudolf Hildebrand, Leipzig 1873, Sp. 2332; vgl. auch Sp. 2334ff. s. v. Kritik.
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zung von Giovanni da Vigos Practica in arte chirurgica copiosa (1514), wo es heißt: „Crisis sygnifyeth iudgemente, and in thys case, it is vsed for a sodayne chaunge in a disease“; zum anderen schrieb Edward Hall 1548 in seinem Werk The Union of the Two Noble and Illustre Families of Lancaster and York: „When the crisis of his sickness was past and that he perceived that health was overcome.“25 Im Französischen ist das Wort ‚crise‘ dem Grand Robert zufolge bereits 1478 in medizinischem Sinne belegt, und zwar als „moment d’une maladie caracterisé par un changement subit et généralement décisif en bien ou en mal.“26 In beiden Sprachen wurde jedoch metaphorisch bald auch mit Bezug auf andere Bereiche als Krise eine Phase bezeichnet, in der sich ein Prozess zum Guten oder Schlechten entscheidet, und mithin auf Zeiten von Unsicherheit, Schwierigkeiten oder Spannungen, insbesondere in Politik und Wirtschaft. So erklärte Sir Benjamin Rudyerd 1627 bei seinem Versuch, zwischen König und Parlament zu vermitteln: „This is the crisis of Parliaments: we shall know by this if parliaments live or die.“27 Ähnliche metaphorische Bedeutungserweiterungen finden wir auch im Französischen, wo nicht nur Nervenkrisen, Eifersuchtskrisen und Krisen der Verzweiflung sowie der Begeisterung bekannt sind, sondern auch politische und ökonomische Krisen; als Synonyme für ‚crise‘ sind dabei u.a. auch folgende Wörter in Gebrauch: difficulté, rupture d’équilibre, impasse, marasme, déconfiture, faillite, perturbation, récession, dépression, désordre, désarroi, ébranlement, incertitude, malaise und anarchie.28 Nicht zu vergessen sind auch die Krise moralischer und anderer Werte sowie die Krise im theatralischen Sinne, also jener Höhepunkt eines Dramas, in dem die Entwicklung umschlägt (und wofür wir stattdessen auch den Ausdruck ‚Peripetie‘ verwenden können).
3. Die Krise ist immer und überall Die zuletzt angestellten Überlegungen dienten lediglich dazu, ein gewisses Verständnis für die Vielfalt dessen zu wecken, was im lexikalischen Sinne alles als Krise bezeichnet wird bzw. bezeichnet werden kann.29 Als Ergebnis
25 Simpson, John A./Weiner, Edmund S.C.: The Oxford English Dictionary, Bd. 4: creel-duzepere, Oxford 21989, S. 27. 26 Rey, Alain: Le Grand Robert de la langue française. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, 2me éd., ent. revue et enrichie, tome 3: Couv– Ento, Paris 1985, S. 50. 27 Simpson/Weiner: Oxford English Dictionary. 28 Vgl. Rey: Le Grand Robert, S. 50f. Um die Bedeutung des Ausdrucks ‚Krise‘ zu schärfen, wäre wohl auch nötig, die dafür im Deutschen verfügbaren Alternativen genauer zu betrachten. 29 Zumindest im Sinne von Wittgenstein ist auch und gerade das Schaffen eines solchen Überblicks eine philosophische Aufgabe; vgl. Wittgenstein, Ludwig:
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dieser Überlegungen könnten wir zunächst Goethe Recht geben, der im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre in Zusammenhang mit dem Versuch des Helden, sich die Geschichte seines Lebens bewusst zu machen, meinte: „Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht eine Krankheit?“30 Diese Bemerkung ist wohl vor dem Hintergrund von Goethes heraklitischem Weltbild zu verstehen, das freilich nicht bedeutet, dass alles im Fluss ist, sondern eine „Dauer im Wechsel“ sah.31 In einem Gedicht dieses Titels zitiert Goethe in der 2. Strophe Heraklit mit den Worten „Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal“; insofern, als das Unvergängliche der letzten Strophe zufolge als „Gunst der Musen“ erscheint32, erhält das Wechselnde (oder „Übergängliche“), von dem unser Leben geprägt ist, im Vergleich dazu jedoch den Charakter des Krisenhaften, d.h. von Gefahr und Chance, wie wir dies von Krankheiten kennen.33 So schön in dieser Bemerkung der medizinische Ursprung des Redens von Krisen angesprochen wird, so müssen wir doch innehalten: Sind wirklich alle Übergänge Krisen? Denken wir etwa daran, dass auch der
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„Philosophische Untersuchungen“, in: ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1960, S. 279-544, hier S. 345, § 125 [Orig. 1953]. Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Bd. 4: Bücher 7-8, hg. von Carl Schüddekopf (Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abt., Bd. 23), Weimar 1901, S. 142 [Orig. 1796]. Vgl. dazu Snell, Bruno: „Nachwort“, in: Heraklit: Fragmente, hg. von Bruno Snell, München/Zürich 1986, S. 49-54, hier S. 53f. Besonders instruktiv äußert sich dazu Moser, Peter Daniel: Heraklits Kampf ums Recht. Ein antiker Beitrag zur Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1993, S. 28f. Goethe, Johann Wolfgang von: „Dauer im Wechsel“, in: ders.: Gedichte. Erster Theil (Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abt., Bd. 1), Weimar 1887, S. 119f. [Orig. 1804]. Mitunter (etwa in der Literatur zu Psychotherapie oder New Age) wird behauptet, die zwei Zeichen, aus denen das chinesische Wort für ‚Krise‘ besteht, bedeuteten in diesem Sinne „Gefahr“ und „Chance“; vgl. z.B. Sonneck, Gernot: Krisenintervention und Suizidverhütung, Wien 52000, S. 29. Dies trifft indes nicht zu: Zwar bedeutet das erste Zeichen, nämlich ⌙ (Wei), Gefahr, das zweite, 㨇 (Ji; vereinfacht: 毴), jedoch Möglichkeit, zusammen also die Möglichkeit einer Gefahr. Von „Krise“ wird nur in dieser Verbindung gesprochen, die als Sinneinheit betrachtet wird. Um den Aspekt der Chance, der darin nicht enthalten ist, anzusprechen, müssen wir das Zeichen für Gefahr ⌙ (Wei) durch 廱 (Zhuan) ersetzen, das „wenden“, „ändern“ bedeutet. Der so gebildete Ausdruck 廱 㨇 bezeichnet einen Wendepunkt bzw. die Wendung zum Besseren (was freilich ebenso wenig genau der Bedeutung von ‚Krise‘ entspricht). Vgl. dazu etwa Mair, Victor H.: „danger + opportunity crisis. How a misunderstanding about Chinese characters has led many astray“, http://pinyin.info/chinese/crisis.html vom 04.07.2011. Wenn schon, enthält demnach eher das uns bekannte Wort ‚Krise‘ die Momente von Gefahr und Chance.
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Wechsel von Tagen und Jahreszeiten einen Übergang darstellt, ohne dass wir auf den Gedanken kämen, jeden solchen Wechsel als krankhaft bzw. kritisch anzusehen. Demnach sollten wir nicht jeglichen Übergang als Krise bezeichnen, zumal wir dann einen Begriff mit einem maximalen Umfang und minimalen Inhalt erhielten, d.h., es gäbe dann nichts, was keine Krise wäre bzw. wovon Krisen zu unterscheiden wären. Ebenso wenig würde uns nützen, die Verwendung des Ausdrucks ‚Krise‘ auf Fälle von Übergängen einzuschränken, die mit Risiken verknüpft sind, denn jeder Übergang ist mit Risiken verbunden (selbst wenn nicht von einer Krise zu sprechen ist). Wenn Ernst Mach Recht hat,34 müssen wir sogar unsere persönliche Identität tagtäglich aus den Komplexen unserer Empfindungen immer wieder neu konstituieren, wobei nicht garantiert ist, dass uns das Schaffen dieser Identität fortwährend gelingt. Wenn jemand (warum auch immer) nicht in der Lage ist, aus der sich ständig wandelnden Menge von Empfindungen dauerhaft ein Ich zu bilden, so kommt es eben nicht (mehr) zu dessen Einheit: Das ‚Ich‘ wird dann viele – eine ‚multiple‘ Persönlichkeit oder auch jemand, die bzw. der am Borderline-Syndrom leidet. Tatsächlich kennt jeder von uns psychische Krisen. Wie 2006 in der letzten Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie erklärt wird, handelt es sich dabei um einen „entscheidenden Abschnitt eines durch innere und/oder äußere ausnahmehafte Belastungen gekennzeichneten psychologischen Entwicklungsprozesses oder innerhalb besonderer Lebenssituationen, der für das weitere Persönlichkeitsschicksal bestimmend ist (z.B. entwicklungspsychologische Phasen wie Trotzphasen, Pubertät, Klimakterium, berufliche oder familiäre Belastungssituationen, Lebenskrisen, wie Midlifecrisis).“35 Unsere psychische Entwicklung ist in solchen Phasen zweifellos mit Risiken verknüpft, und es können dabei auch Krisen auftreten (wie wir ja auch Schaffenskrisen, berufliche Krisen oder Beziehungskrisen in einem allgemeinen Sinne durchmachen können, die in der Brockhaus-Enzyklopädie im Unterschied zur midlife crisis nicht mit einem eigenen Stichwort gewürdigt werden). Ist jedoch tatsächlich jeder entscheidende Abschnitt der menschlichen Entwicklung als Krise anzusehen? Denken wir etwa daran, dass das Entscheidende bzw. Krisenhafte von Trotzphasen gerade der davon betroffenen Person gewöhnlich nicht bewusst ist (im Unterschied zu den anderen entscheidenden Entwicklungsphasen). Wäre es andererseits angemessen, die Pubertät schlichtweg als Juvenilitätsoder Adoleszenzkrise zu bezeichnen? Und wie verhält es sich mit dem Schul- oder Universitätsabschluss, der Eheschließung, dem Beginn der Elternschaft und dem Entlassen der Kinder ins Erwachsenendasein? Solche entscheidende Phasen in unserem Leben können zwar krisenhaft sein oder
34 Vgl. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Darmstadt 91987, S. 2ff. [Orig. 1886, 91922]. 35 Zwahr, Annette (Red.): Brockhaus-Enzyklopädie, 21., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 15: Kind – Krus, Leipzig/Mannheim 2006, S. 775.
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Krisen verursachen, doch ist dies nicht notwendigerweise der Fall, und selbst eine Scheidung bedeutet (unbeschadet der Bedeutungsverwandtschaft mit Krise) nicht unbedingt eine psychische Krise, sondern in vielen Fällen bloß die Einsicht in die Gültigkeit des lateinischen Spruchs ERRARE HUMANUM EST (abgekürzt E.H.E.). Wie erwähnt, besteht der mit dem Beginn des Lebens einsetzende Prozess des Älterwerdens aus permanenten Übergängen, von denen de facto lediglich die midlife crisis sprachlich als Krise ausgezeichnet wird. Dies hat wohl damit zu tun, dass der Ausdruck jene Phase bezeichnet, in der uns allmählich (bzw. bei ‚natürlichem‘ Lauf der Dinge) weniger Lebenszeit zur Verfügung steht, als wir bis dahin bereits ‚verbraucht‘ haben (bzw. in der uns dies bewusst wird). Die Rede vom ‚Verbrauch‘ lädt allerdings zur Frage ein, ob die Anwendung solcher konsumistischer Vokabeln überhaupt dem Leben angemessen ist oder ob sie nicht vielmehr Ausdruck einer Krise in der Art und Weise ist, wie wir unser Leben verstehen und damit umgehen, d.h. eines wohl schon vor einiger Zeit einsetzenden und weiter voranschreitenden Übergangs von einer Art, das Leben zu verstehen und zu führen, zu einer anderen. In diesem Sinne sind Krisen mit dem von Wittgenstein als Aspektwechsel bezeichneten Phänomen verwandt.36 Allgemein ist jedoch zu überlegen, ob die Verwendung des Ausdrucks ‚Krise‘ auf Übergänge eingeschränkt wird, die nicht nur für unser Leben oder für andere Prozesse von entscheidender Bedeutung sind, sondern die noch eine Reihe weiterer Bedingungen erfüllen, und zwar in unterschiedlichen Kombinationen: (i) Das Kritische der Situation ist den davon Betroffenen als solches bewusst bzw. es wird von ihnen als solches erlebt. Der Gedanke, dass sich ein soziales oder politisches System in einer Krise befindet, ohne dass einer der davon betroffenen Menschen etwas bemerkt, erscheint zumindest etwas eigenartig.37 (ii) Die Krisensituation ist für die davon Betroffenen mit einigermaßen gravierenden psychischen oder auch anderen Belastungen verknüpft. Dies kann etwa in der Pubertät oder auch bei einer Scheidung (wie der dieser vorangehenden Ehe) der Fall sein. (iii) Ein Übergang besteht nicht bloß aus einer einzigen Entscheidungssituation, sondern aus einer Aufeinanderfolge von Situationen, die im eben erwähnten Sinne als kritisch erlebt werden. Wenn wir die Pubertät oder die Lebensmitte als Krise erleben, so hängt dies tatsächlich u.a. auch damit zusammen, dass wir mit einem solchen Komplex entscheidender Situationen
36 Vgl. Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen“, a.a.O., S. 503-526, Teil II, Abschnitt xi. 37 Und doch erfahren wir laut Plumpe Umschwünge von einer wirtschaftlichen Boom- in eine Rezessionsphase nicht unbedingt als Krisen; vgl. Plumpe, Werner: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, unter Mitarb. von Eva J. Dubisch, München 2010, S. 10.
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konfrontiert sind, der auf schmerzhafte Weise dazu führt, dass wir uns allmählich als verändert erleben bzw. erfahren. (iv) Die von einer kritischen Entwicklung Betroffenen sind nicht in der Lage, die fragliche Situation allein in ihrem Sinne zu entscheiden bzw. zum Guten zu wenden, sondern auf die Hilfe anderer angewiesen bzw. darauf, dass viele für die Lösung zusammenarbeiten oder dass auch das Glück dazu beiträgt. Von diesem Aspekt zeugt etwa nicht nur die bei psychischen Krisen gefragte Krisenintervention, sondern auch der medizinische Sprachgebrauch (zumindest in früheren Zeiten, denn in der Medizin haben Krisen durch den Einsatz von Antibiotika und Technologie an Bedeutung verloren). (v) Eine Situation ist nicht (nur) das Ergebnis des planvollen, intendierten Handelns einzelner Individuen, sondern (auch) von unbekannten Kräften und Vorgängen, welche die menschliche Handlungsmacht übersteigen. Auch dies führte früher dazu, dass in der Medizin von Krisen die Rede war, während heute die Einstellung vorherrscht, dass mit Bio- und Medizintechnologie nahezu alles machbar ist. Mit dem Ausdruck ‚Krise‘ beschreiben wir demnach nicht beobachtbare Sachverhalte; vielmehr schreiben wir solchen Sachverhalten aufgrund von Kriterien wie den erwähnten das Merkmal zu, eine Krise zu sein. Die Rede von Krisen ist folglich ein Interpretationskonstrukt. Zwar ist dabei anzunehmen, dass zahllose Situationen entsprechend den erwähnten Kriterien als Krisen zu bezeichnen sind, doch ist damit noch nicht ausgemacht, wie die beiden folgenden Fragen zu beantworten sind: (i) Erfüllt alles, was als Krise bezeichnet wird, jene Kriterien, denen zufolge es gerechtfertigt ist, von einer Krise zu sprechen? (ii) Wird alles als Krise bezeichnet bzw. erlebt, was die Kriterien für die Verwendung dieses Ausdrucks erfüllt?
4. Stell dir vor, es ist Krise und keiner geht hin Wie Wittgenstein bemerkte, gibt es „unzählige verschiedene Arten der Verwendung dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.“38
In diesem Sinne ist nicht nur denkbar, dass der Ausdruck ‚Krise‘ de facto auf beliebige Weise verwendet wird, sondern auch, dass sich sein Gebrauch gewandelt hat und mit den in den Wörterbüchern angeführten Bedeutungen nicht mehr allzu viel zu tun hat. Deshalb ist nicht nur zu überlegen, was die heutigen Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚Krise‘ noch mit den erwähn-
38 Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen“, a.a.O., S. 300, § 23.
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ten Bedeutungen zu tun haben, sondern auch, dass wir sie für bestimmte (z.B. theoretische) Zwecke begrenzen und einen Begriff von Krise bestimmen, der uns hilft, die dafür in Frauge kommenden Phänomene zu erklären.39 Um zu klären, womit wir es zu tun haben, bietet sich etwa ‚die‘ viel beschworene Wirtschaftskrise zur Betrachtung an. Unseren früheren Überlegungen zufolge könnte mit Bezug auf die Wirtschaft als Krise sowohl eine Phase bezeichnet werden, in der sich entscheidet, ob Wachstum in eine negative Entwicklung umschlägt, als auch umgekehrt eine Situation, in der sich ein Niedergang zum Wachstum wendet. Der in Wikipedia gegebenen Definition zufolge wird in der Volkswirtschaftslehre heute als Krise jedoch de facto „die Phase einer deutlich negativen Entwicklung des Wirtschaftswachstums“ angesehen: „Daneben bezeichnet man auch negative Entwicklungen bei anderen makroökonomischen Variablen (z.B. Preisniveau, Beschäftigung, Kapitalströme etc.) als Wirtschaftskrise.“40 Zudem wird eine Vielfalt von Wirtschaftskrisen differenziert, z.B. Konjunktur- und Wachstumskrisen, Inflations- und Finanzmarktkrisen, Währungs- und Zahlungsbilanzkrisen, Schuldenkrisen usw., aber auch Öl- und Tequilakrisen. Ähnlich wird der Ausdruck ‚Wirtschaftskrise‘ etwa von Werner Plumpe „im Sinne gesamtwirtschaftlicher Störungen“ verwendet: „Er soll einerseits den Umschlagpunkt von einer Aufschwungphase oder zumindest einer Phase stabiler wirtschaftlicher Entwicklung in Stagnation und Abschwung, andererseits aber auch die Abschwung- und Depressionsphase selbst bezeichnen. Ganz ähnlich wird der Rezessionsbegriff verwendet, der Phasen stagnierender bzw. sinkender wirtschaftlicher Gesamtleistung markiert.“
In Plumpes Augen ist diese „Verwendung des Begriffs ‚Wirtschaftskrisen‘ durchaus sinnvoll, nicht zuletzt, weil seine Bedeutung in öffentlichen Debatten außer Frage steht.“41 Selbst wenn es sinnvoll ist, im erwähnten Sinne von Krisen zu sprechen, erscheint Plumpes Begründung fragwürdig, da nicht von vornherein garantiert ist, dass dann, wenn in öffentlichen Debatten von Wirtschafts- oder Finanzkrisen gesprochen wird, tatsächlich von Krisen in der volkswirtschaftlichen Bedeutung die Rede ist. Tatsächlich sind von der Antike bis heute Phasen der Wirtschaftsentwicklung bekannt, die im eben erwähnten Sinne mit Recht als Wirtschafts-
39 Laut Wittgenstein können wir z.B. definieren, dass „ein Schritt“ so viel sei wie „75 cm“, wobei er betont, dass solche Definitionen der Verwendung eines Ausdrucks „für einen besonderen Zweck […] eine Grenze ziehen. Machen wir dadurch den Begriff erst brauchbar? Durchaus nicht! Es sei denn, für diesen besonderen Zweck.“ Vgl. Wittgenstein, a.a.O., S. 326, § 69. 40 Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftskrise vom 04.07.2011; meine Hervorhebung. 41 Vgl. Plumpe: Wirtschaftskrisen, S. 9.
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krisen zu bezeichnen sind, darunter Ernährungs- und Agrarkrisen, bei denen klimatische Entwicklungen als Faktoren mit zu berücksichtigen sind. Solche Krisen sind oft Ausdruck von Konjunkturschwankungen, die – sofern sie positiv eingeschätzt werden – auch als Elemente von Konjunkturzyklen angesehen werden. Dies gilt z.B. für den Wirtschaftstheoretiker Joseph A. Schumpeter, der „Konjunkturzyklen für die eigentliche Form des kapitalistischen Prozesses“ hält und sie deshalb prinzipiell sogar begrüßt, „da sie wesentliche Momente des ökonomischen und technologischen Strukturwandels darstellen.“ Für Schumpeter sind „ökonomische Gleichgewichte bestenfalls Durchgangsstadien, keinesfalls aber stabile Zustände einer Volkswirtschaft.“42 Selbst wenn wir Schumpeters Vorstellungen nicht rundweg teilen, können wir mit ihm annehmen, dass Krisen (d.h. entscheidende Phasen des Übergangs im Rahmen von Konjunkturzyklen) mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem notwendig einhergehen. Dabei bleibt zwar die Frage offen, ob dieses Wirtschaftssystem ‚alternativlos‘ ist, doch gewinnen wir daraus zumindest folgende Einsicht: Wenn Krisen für den Kapitalismus konstitutiv sind, dann ist ihr gehäuftes Auftreten keineswegs ein Zeichen dafür, dass das kapitalistische System selbst in einer Krise ist. Um dieses System in eine Phase des kritischen Übergangs zu etwas anderem zu bringen, bedarf es vielmehr des Willens aller gesellschaftlichen Kräfte und ihrer gemeinsamen Anstrengung. Als eine Ursache von Wirtschaftskrisen gelten Spekulationskrisen. Plumpe sieht dabei Spekulation nicht als Übel, sondern als „notwendiges Moment allen wirtschaftlichen Handelns, das […] mit zukünftigem Erfolg kalkuliert und sich deshalb auf das Risiko einlässt, heute etwas zu tun, von dem man erst in Zukunft wissen kann, ob es erfolgreich ist. Spekulation ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu wirtschaftlicher Entwicklung kommt und nicht nur zu einer Wiederholung des bereits Bekannten.“
Das heißt nicht, dass stets in gleichem Maße spekuliert wird: „Zweifellos gibt es Phasen größerer und Zeiten geringerer Spekulationsfreude, zweifellos gab und gibt es auch Übertreibungen, die man aber nur im Nachhinein feststellen kann. Im Moment der Entscheidung selbst steht nicht fest, wie die Spekulation
42 Vgl. Plumpe: Wirtschaftskrisen, S. 16. Zur eigentlichen Theorie vgl. Schumpeter, Joseph A.: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, übers. von Klaus Dockhorn, Neuausg. Göttingen 2010 [Orig. 1939]. Wie Cord Siemon im Vorwort zu diesem Band schreibt (ebd., V), betrachten viele Ökonomen Schumpeters Konjunkturmodell als „Kuriosität“. Eine andere Frage ist, ob das Verständnis von Wirtschaftskrisen als „schmerzhaften“ Übergängen von einem „System“ in ein anderes damit an Plausibilität verliert.
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ausgeht! Es gehört daher geradezu zu den feststehenden historischen Wahrheiten, dass es bei Spekulationskrisen immer schon alle gewusst haben, wenn es so weit ist!“43
Der letzte Satz gilt wohl auch und gerade heute. Allerdings wirft Plumpes Überlegung u.a. die Frage auf, ob jedes Eingehen von Risiken als Spekulation zu bezeichnen ist. In diesem Sinne wäre nämlich nicht nur wirtschaftliches Handeln spekulativ, sondern jegliches Handeln: Wenn wir im Alltag eine Entscheidung zu treffen haben, wissen wir auch nicht im Vorhinein, ob die (subjektiv oder objektiv) wahrscheinlichen Folgen tatsächlich eintreffen. Allerdings versuchen wir aufgrund früherer Erfahrungen jene Alternativen zu wählen, die mit Bezug auf die vorhersehbaren Konsequenzen wahrscheinlich den gewünschten Erfolg bringen – und halten uns dabei gewöhnlich an gewisse Regeln der Sorgfaltspflicht. Als Autofahrer sollten wir z.B. ‚auf Sicht‘ fahren, d.h. so, dass es uns möglich ist, im Ernstfall innerhalb des Bereiches, den wir überblicken können, zu bremsen und das Auto zum Stillstand zu bringen. Dies scheint keine angemessene Beschreibung des Phänomens der wirtschaftlichen Spekulation zu sein, wie wir sie von der holländischen ‚Tulpenkrise‘ des 17. Jahrhunderts über die ‚Dotcom-Krise‘ der 1990er Jahre bis zur bislang letzten so genannten Finanzkrise beobachten können. Ganz im Gegenteil gilt ein Autofahrer, der nach dem Motto ‚Es wird schon nichts passieren‘ sozusagen heftig darauf spekuliert, nicht auf Sicht zu fahren, selbst bei einem Erfolg als unverantwortlich, während es bei wirtschaftlichen Spekulationen als dumm oder verrückt angesehen wird, sie nicht noch weiter zu treiben, solange sie erfolgreich zu sein scheinen. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen muss der Staat nach Ansicht von John Maynard Keynes antizyklisch handeln, d.h. ein von ihm angenommenes Ungleichgewicht von Produktion und Nachfrage „durch eine Erhöhung seiner autonomen (also kreditfinanzierten) Nachfrage so lange ausgleichen, bis die Arbeitsmarktungleichgewichte beseitigt seien und der wirtschaftliche Mechanismus wieder so in Gang gekommen sei, dass der Staat seine Aktivitäten zurücknehmen und die zuvor aufgenommenen Kredite tilgen könne.“44
Diese Idee einer antizyklischen Konjunkturpolitik hat heute, nach einer Phase des monetaristischen Liberalismus, wie er etwa von Milton Friedman vertreten wurde, wieder sozusagen an Popularität gewonnen. Allerdings stellt sich die Frage, ob das in den Jahren nach 2007 erfolgte massive Pumpen von Steuergeldern in die Wirtschaft nur (oder überhaupt) Ausdruck einer antizyklischen Wirtschaftspolitik ist oder ob auch (bzw. vielmehr) andere As-
43 Plumpe: Wirtschaftskrisen, S. 12. 44 Ebd., S. 22f.
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pekte zum Tragen kommen. Allem Anschein nach sprechen mindestens drei Gründe für die zweite Annahme: (i) Zumindest ein Teil der zur Stützung der Wirtschaft eingesetzten Steuermilliarden ist nicht als antizyklisches Handeln zu verstehen, sondern als Versuch, den (durch die erwähnten Spekulationen sowie durch kriminelle Handlungen verursachten) Zusammenbruch des Bankenwesens zu verhindern, da dieses von zentraler Bedeutung für die gesamte Volkswirtschaft ist. (ii) Die zur Stützung der Wirtschaft eingesetzten Mittel fließen mithin auch nicht in die Volkswirtschaft zurück; vielmehr sind sie notwendig, um zu verhindern, dass diese wegen des Fehlverhaltens von Menschen, die im Finanzwesen tätig waren (und zum Teil immer noch sind), zusammenbricht. (iii) Die so genannte Finanzkrise des Jahres 2007 wurde nicht einfach durch Formen von Spekulation verursacht, wie sie laut Plumpe für die Wirtschaft charakteristisch oder sogar notwendig sind, sondern zumindest zum Teil durch kriminelles Handeln. Wie erwähnt, steht uns anstelle des Ausdrucks ‚Krise‘ eine Vielzahl von Wörtern zu Gebote, die mehr oder weniger damit (oder mit Aspekten davon) synonym sind, nämlich ‚Depression‘, ‚Rezession‘, ‚Konjunkturschwankung‘, ‚Störung des Gleichgewichts‘ usw. Es ist zu bezweifeln, dass einer dieser Ausdrücke auf die ‚Finanzkrise‘ der letzten Jahre passt. Wenn schon, so ist wegen des kriminellen Anteils am ehesten noch der Ausdruck ‚Finanzskandal‘ angebracht. Die Frage ist nur, ob die Bürgerinnen und Bürger eines Landes bereit wären, ohne Murren selbst große Opfer zu bringen, damit die Folgen eines von relativ wenigen Menschen verursachten Skandals aufgefangen werden können. Die inflationäre Verwendung des Ausdrucks ‚Finanzkrise‘ ist mithin ein Mittel zur Motivation und Begründung politischen Handelns. Der Gebrauch ist dadurch gerechtfertigt, dass sich im erwähnten Fall skandalöses oder kriminelles Handeln auf die gesamte Volkswirtschaft auswirkt; andererseits wird dieser Gebrauch aber zusätzlich unterfüttert durch das früher erwähnte Merkmal, dass es sich um einen überaus komplexen Prozess nach Art bekannter Wirtschaftskrisen handelt, in dem eine Vielzahl von Kräften scheinbar schicksalhaft eine Rolle spielt, so dass wir bestenfalls nur mit vereinten Kräften bewirken können, dass sich der Prozess zum Guten entscheidet. Wenn wir den als Wirtschaftskrise bezeichneten Prozess der letzten Jahre betrachten, gewinnen wir den Eindruck, dass wir nicht unbedingt eine Krise im früher erwähnten Sinne vor uns haben, d.h. eine Phase in einem Prozess, in der sich dieser auf die eine oder andere Weise entscheidet. Das Ergebnis einer Krise ist demnach, dass irgendetwas anders ist als vorher. Eben dies scheint jedoch bei den Bankmanagern, die sich, nachdem die Wirtschaft – wie es nun heißt: aus eigener Kraft – wieder auf die Beine gekommen ist, wieder über Prämien freuen dürfen, ebenso wenig der Fall zu
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sein wie bei den vielen Bürgerinnen und Bürgern, deren Konsumverhalten sich selbst während der ‚Krise‘ kaum geändert hat.45 Sofern wir es mit Wirtschaftskrisen zu tun haben, gibt es in jedem Fall „Gewinner und Verlierer“, denn es kommt dadurch „zu einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen. […] Insbesondere ärmere Bevölkerungsschichten sind mehrheitlich die Verlierer und leiden am schwersten unter den wirtschaftlichen Folgen der Krise“, nicht zuletzt aufgrund von Dauerarbeitslosigkeit und sozialem Abstieg: Dieser „führt bei vielen zu gesundheitlichen Schäden wie Depression oder anderen aus Stress resultierenden Krankheiten und vermindert so die Lebenserwartung. Gleichzeitig verringern sich die Chancen, medizinische Betreuung in Anspruch nehmen zu können.“46 Dies ist heute wohl nicht anders als bei früheren Wirtschaftskrisen bzw. bei Wirtschaftskrisen im eigentlichen Sinne.47 Dieser Umstand ändert freilich nichts an folgender logischer Trivialität: Selbst wenn gilt, dass sich Wirtschaftskrisen auf das Leben potenziell aller Menschen auswirken, folgt daraus nicht, dass jede Konsequenz wirtschaftlicher Schwierigkeiten Ausdruck einer Krise (im früher bestimmten Sinne) ist. Manchmal geht es vielmehr um schuldhaftes Verhalten (z.B. auch von manchen Akteuren im Rahmen der so genannten Euro-Krise, auf die ich hier und jetzt ebenso wenig eingehen möchte wie auf die Schweine-, Dioxinoder EHEC-Krisen der letzten Zeit, die ebenfalls Skandale sind). Vielmehr sollten wir zumindest kurz über jene Krisen sprechen, die durch das ständige Reden über die zuletzt angesprochenen ‚Krisen‘ drohen, ‚unsichtbar‘ zu werden.
5. Wo bitte geht's zur nächsten Krise? Wer im Internet den Suchbefehl ‚Lebensmittelkrise‘ eingibt, findet u.a. einen Wikipedia-Eintrag. Dieser besteht zumindest derzeit jedoch nur aus Querverweisen, und zwar auf ‚Hungersnot‘, ‚Welthunger‘, ‚Nahrungsmittelpreiskrise 2007–2008‘ und ‚Lebensmittelskandal‘.48 Der letzte Verweis erscheint durchaus zutreffend, sofern die als Schweine-, EHEC- oder Dioxin-
45 Dabei ist allerdings auch die Möglichkeit zu bedenken, dass das, was im Rückblick auf die letzten Jahre als „die“ Krise bezeichnet wird, gar nicht „die“ Krise ist, sondern nur ein „Moment“ davon, dass sich die Weltwirtschaft also in einem längeren Prozess befindet, dessen Ausgang noch gar nicht abzusehen ist. 46 URL: de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftskrise, a.a.O. 47 Zu den medizinischen Auswirkungen des Börsenkrachs von 1929 vgl. etwa James, Harold: „24. Oktober 1929: Der New Yorker Börsencrash“, übers. von Ingo Maerker, in: Etienne François/Uwe Puschner (Hg.), Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 239-258, Anm. S. 429-430. 48 Vgl. URL: de.wikipedia.org/wiki/Lebensmittelkrise vom 06.07.2011.
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krise bezeichneten Phänomene gemeint sind. Andererseits ist jedoch zu fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, sehr wohl auch von einer Lebensmittel- oder Ernährungskrise zu sprechen, d.h. von einer Zeit, in der sich entscheidet, wie es mit unseren Ernährungsgewohnheiten weitergehen soll. Selbst wenn wir nicht an eine konsequent vegane Ernährung denken, können wir mit Jonathan Safran Foer zumindest dafür eintreten, auf Fleischkonsum tunlichst zu verzichten, sofern nicht gewährleistet ist, dass das Fleisch von Tieren stammt, denen ein artgerechtes Leben gegönnt ist, die nicht mit Antibiotika voll gepumpt sind usw.49 Und selbst wer nicht für einen vollständigen Fleischverzicht plädiert, muss zugeben, dass es sinnvoll ist, diesen zu reduzieren, etwa deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben, sehr viel mehr tierisches Eiweiß zu uns zu nehmen, als wir überhaupt benötigen, und weil für das Züchten der Tiere u.a. mehr pflanzliches Eiweiß verbraucht wird, als wir an tierischem Eiweiß gewinnen; ein anderes Verhältnis von pflanzlicher und tierischer Kost könnte also zur Linderung von Hungersnöten beitragen. Interessanterweise schreibt der Kochkunstkritiker Jürgen Dollase explizit von einer Lebensmittelkrise im angesprochenen Sinne, und zwar mit Bezug auf die zunehmend zweifelhafte Qualität der Lebensmittel, und er schlägt zur Lösung dieser Krise vor, für gesunde Lebensmittel (z.B. aus biologischem Anbau) den Steuersatz zu senken, zugleich aber für andere Lebensmittel wie z.B. convenient food oder Fleisch von Tieren aus Massenhaltung höhere Steuern zu fordern.50 Ein Eintrag über Lebensmittelkrisen in diesem Sinne fehlt jedoch bislang in Wikipedia. Dasselbe gilt interessanterweise auch für ein Stichwort wie ‚Umweltkrise‘ oder ‚Naturkrise‘, auch wenn wir Grund zur Annahme haben, dass sich eher früher als später entscheiden muss, wie es mit unserem Verhältnis zur Natur weitergeht, auch in unserem eigenen Sinne. Hingegen ist zu beobachten, dass Diskussionen über die Umweltkrise und deren Lösung seit einiger Zeit als Hindernis für die Lösung der – erraten! – Wirtschaftskrise angesehen werden. Zwar wird auch im Internet über Umweltkrisen diskutiert, doch widmet zumindest Wikipedia diesem Problem keine eigene Seite (im Unterschied zu einer Vielzahl von Einträgen zu den ökonomischen Krisen). Dasselbe gilt für ‚Bildungskrisen‘. Zwar befasst sich die Konrad-Adenauer-Stiftung auf ihren Seiten damit, zwar können wir auf einer Seite mit dem Namen bildungskrise.de überprüfen, ob unsere Bildung Lücken aufweist, doch hat es dieses Phänomen noch nicht in das Lexikon, das alles weiß, geschafft. Dabei gäbe es so viele Entwicklungen zu hinterfragen, nicht nur, was wir an den Schulen lehren und lernen, nicht nur den Wandel von Bildung zu Ausbildung, sondern etwa auch, warum eben jene Vertreter der Wirtschaft, die laut überlegen, was in Schulen und Universitäten unterrichtet
49 Vgl Foer, Jonathan Safran: Tiere essen, übers. von Isabel Bogdan/Ingo Hertzke/Brigitte Jakobeit, Köln 2010 [Orig. 2009]. 50 Vgl. Dollase, Jürgen: „Elitenversagen“, in: FAZ vom 22.01.2011, Nr. 18, S. 32.
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werden soll, wenig Interesse zeigen, durch Steuern dazu beizutragen, dass ein Bildungssystem funktionieren kann, das Menschen ‚wirtschaftsaffin‘ ausbildet. Vielmehr ist bei Diskussionen immer wieder zu hören, dass eine bessere Ausbildung im Interesse jener sei, die sie genießen, weil sie dann besser verdienen, und dass sie deshalb bereit sein sollten, die bessere Ausbildung selbst zu finanzieren. Auch wenn wir es für sinnvoll halten, dass Menschen für Berufe ausgebildet werden, in denen sie gut bezahlte Tätigkeiten ausüben können, und dass sie selbst ihren Beitrag zur eigenen Ausbildung leisten, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Entwicklung unseres Bildungssystems in der Krise ist, d.h., dass sie eine Phase erreicht hat, in der sich entscheiden muss, wie es damit weitergeht bzw. wie wir wollen, dass es damit weitergeht. Wo aber bleibt die lexikalische Information über die Bildungskrise? Wo bleiben schließlich umfassende Informationen über und insbesondere praktikable Lösungsvorschläge für die Krise des Rechtsstaates?51 Eine Diskussion darüber können wir heute vor allem bei der politischen Linken finden; dagegen ist zwar insofern nichts einzuwenden, als zumindest darüber diskutiert wird, doch könnte es auch mehr und ausgewogener sein. Die Situation unserer Staaten und Gesellschaften sollte uns allein schon deshalb ein Anliegen sein, weil von den Grundlagen dessen, als was die repräsentativen Demokratien gegründet worden sind, oft nicht mehr allzu viel sichtbar ist, etwa von der Teilung der Gewalten, vom Umstand, dass in die gesellschaftlichen Prozesse alle politischen Kräfte zu integrieren sind, damit das System von checks and balances funktionieren kann, vom juristischen Vergeltungsmonopol des Staates usw. Letztlich zeigt sich also: Sie wird zwar nicht immer als solche erkannt und benannt (während wir mitunter etwas anderes so nennen), und oft fällt uns auch nichts dazu ein, aber die Krise ist immer und überall.52
51 Dabei wurde früher bereits viel darüber geschrieben, insbesondere über die Frage, ob die „Gesetzesflut“ Symptom einer Krise oder Ausdruck der Normalität des heutigen Rechts ist; vgl. zur letzten Ansicht etwa Kübler, Friedrich: „Kodifikation und Demokratie“, in: Juristenzeitung, 24 (1969), Nr. 20, S. 645-651, sowie zur Kritik daran Mayer-Maly, Theo: Rechtswissenschaft, München/Wien 51991, S. 46. 52 Für Kritik und andere wertvolle Anregungen danke ich Yü-Yen Li und Wolf Dietrich Nagl, vor allem aber Peter Daniel Moser, der das Fehlen etlicher Punkte bemerkt und zusammen mit zuvor im Text zu findenden Fehlern bereinigt hat. Verbleibende Fehler gehen natürlich zu meinen Lasten.
Krise als Herausforderung und Chance im 14. Jahrhundert Dekonstruktion und Rekonstruktion von Lebensentwürfen im Königreich Kastilien R APHAELA A VERKORN
1. Einleitung Im europäischen Kontext wird seit dem späten 13. Jahrhundert von unterschiedlichen Krisen wie Pest, Epidemien, Naturkatastrophen, ungünstigen Klimaverhältnissen, Missernten, Hunger, Kriegen, Krise des Feudalsystems gesprochen, die in den einzelnen Reichen in unterschiedlicher Intensität zu konstatieren sind. In dieser Studie soll ein Blick auf das Königreich Kastilien geworfen werden, das im Vergleich zu Aragón, Portugal und Navarra, deren Entwicklung abgesehen von kürzeren Krisen stabiler verlief, sich seit den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts annähernd dauerhaft in Krisenphasen befand, die auf unterschiedlichen Ebenen, aber zeitweise auch parallel verliefen. Die oben genannten Phänomene lassen sich vielfach konstatieren, überdies sind ein andauernder Machtkampf zwischen Adel und Monarchie sowie gesellschaftliche Umwälzungen festzustellen. Eine definitive Stabilisierung Kastiliens und die Transformation in einen modernen Staat erfolgten schließlich unter den Katholischen Königen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.1 1
Vgl. generell zu Krisen im Mittelalter Koselleck, R.: „Krise“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, 3, Stuttgart 1982, S. 617-650 sowie Scholten, H. (Hg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2007; Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters, hg. von F. Seibt/W. Eberhard, Stuttgart 1984; Graus, F.: Pest–Geißler–Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 21988; Graus, F.: „Vom ‚Schwarzen Tod‘ bis zur Reformation. Der krisenhafte Charakter des europäischen Spätmittelalters“, in: Revolte und
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Im Mittelpunkt dieser Untersuchung sollen nicht die übergreifenden Faktoren und Indikatoren stehen, die Krisen im spätmittelalterlichen Kastilien ausmachten. Es wird vielmehr ein Augenmerk auf politisch aktive Individuen gelegt, die individuelle Mechanismen der Krisenbewältigung entwickelten, um ihre jeweiligen Lebensentwürfe, die aufgrund der unterschiedlichen geänderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zerstört worden waren, unter den veränderten Bedingungen, durch den Einsatz unterschiedlicher Mittel modifiziert, zu rekonstruieren. Sie versuchten unermüdlich mit großem Ehrgeiz, diese Krisen und Umbruchszeiten, in die sie unvermittelt verwickelt wurden, als Chancen zu begreifen, um ihre jeweilige Lage für sich und ihre Familie zu verbessern, deren Ansehen zu steigern sowie sich eine Partizipation an der politischen Macht durch die Übernahme unterschiedlicher Ämter und die Knüpfung von Netzwerken zu sichern. Im Fokus stehen zwei adlige Persönlichkeiten aus dem Königreich Kastilien, Pero López de Ayala (1332-1407) und Leonor López de Córdoba
Revolution in Europa, hg. von P. Blickle (Historische Zeitschrift, Beiheft 4), München 1975, S. 10-30 sowie aus der umfangreichen Überblicksliteratur zu Kastilien lediglich Herbers, K.: Geschichte Spaniens im Mittelalter, Stuttgart 2006; Álvarez Palenzuela, V. A. (Hg.): Historia de España de la Edad Media, Madrid 2002; Vones, L.: Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter (711-1480), Sigmaringen 1993. Speziell zu Krisen in Kastilien im 14. Jahrhundert vgl. Ruiz, T. F.: Spain’s centuries of crisis. 1300-1474, Oxford 2011; González Sánchez, S.: La Corona de Castilla: vida política (1406-1420). Acontecimientos, tendencias y estructuras, Madrid 2010, Colección Digital de Tesis de la UCM (URL: http://eprints.ucm.es vom 25.5.2012); González Mínguez, C.: „Las luchas por el poder en la corona de Castilla: nobleza vs. monarquía (12521369)“, in: Clio & Crimen, 6 (2009), S. 36-51; Averkorn, R.: „Schreiben als Methode der Krisen- und Problembewältigung. Untersuchungen zu kastilischen Ego-Dokumenten des 14. und 15. Jahrhunderts“, in: Kommunikation mit dem Ich. Signaturen der Selbstzeugnisforschung an europäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts, hg. von H.-D. Heimann u. P. Monnet, Bochum 2004, S. 5398; Vaca Lorenzo, A.: „Recesión económica y crisis social de Castilla en el siglo XIV“, in: Las crisis en la Historia, hg. von Universidad de Salamanca, Salamanca 1995, S. 33-56; Valdeón Baruque, J.: „Revueltas en la Edad Media castellana“, in: Revueltas y revoluciones en la Historia, hg. von Universidad de Salamanca, Salamanca 1990, S. 9-20; Valdeón Baruque, J.: „Reflexiones sobre la crisis bajomedieval en Castilla“, in: En la España Medieval, 5 (1984), S. 10471060; Valdeón Baruque, J.: Los conflictos sociales en el Reino de Castilla en los siglos XIV y XV, Madrid 1975; Valdeón Baruque, J.: „La crisis del siglo XIV en Castilla: revisión del problema“, in: Revista de la Universidad de Madrid 79, 1972, S. 162-184; Valdeón Baruque, J.: „Aspectos de la crisis castellana en la primera mitad del siglo XIV“, in: Hispania, 111 (1969), S. 5-24.
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(1362/63-1430), die nicht nur die Zeiten der Pest überstanden, sondern überdies eine Jahrzehnte andauernde politische und soziale Krisen- und Umbruchsituation durchlebten, die mit einem Dynastiewechsel im Königreich sowie einer gesellschaftlichen Umstrukturierung in dieser Umbruchsituation verbunden war. Sie stammten aus ähnlich situierten Familien, die dem Königshof eng verbunden waren, und konnten aufgrund ihrer Tätigkeiten am königlichen Hof parallel die politischen Geschehnisse in Kastilien aus unterschiedlichen Perspektiven beobachten sowie als Akteure den Aufbau neuer Ordnungen, gewandelter politischer Realitäten und Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen mitgestalten. In jenen Jahrzehnten lassen sich Prozesse des Strukturwandels im Königreich Kastilien auf unterschiedlichen Ebenen konstatieren, von denen sowohl Pero López de Ayala als auch Leonor López de Córdoba individuell profitieren konnten. Analysiert werden personalisierte Krisendiskurse, die von Pero und Leonor jeweils in die höfische Öffentlichkeit getragen wurden, um ihnen individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, die sowohl im politischen als auch persönlichen Bereich liegen. Beide setzten ganz bewusst und gezielt Medien unterschiedlicher Art ein, um nicht nur sich und ihre Familie in diesen krisenhaften Phasen des Lebens in der höfischen Gesellschaft adäquat zu positionieren und zu repräsentieren, sondern auch, um ihren persönlichen Umgang mit Krisensituationen in ihrem Leben zu dokumentieren und damit der Nachwelt zu überliefern. Pero und Leonor kannten die Bedeutung von Memoria und Schriftlichkeit. Sie entschieden sich bewusst, schriftliche Zeugnisse zu erstellen und eine Grabkapelle errichten zu lassen, um der Nachwelt ihre Handlungsweisen nicht nur in Krisenzeiten zu erklären, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen, ihren festen Glauben zu demonstrieren und ein Bild von sich selbst zu hinterlassen.
2. Familien am Hof König Pedros I. von Kastilien – aufkommende Krisen Die Adligen Pero López de Ayala und Leonor López de Córdoba konnten aufgrund der Nähe ihrer jeweiligen Familie zu König Alfonso XI. von Kastilien (†1350) und dessen Sohn, König Pedro I. (†1369), der als „der Grausame“ in die Geschichte eingehen sollte, zunächst, wie ihre Eltern, auf eine privilegierte Stellung in der höfischen Gesellschaft hoffen. Beide Familien nutzten geschickt die seit Jahrzehnten andauernden inneren Wirren und Krisen im Königreich Kastilien für einen bemerkenswerten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aufstieg, so dass sie bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Familien am Königshof zählten.2
2
Vgl. zu Alfonso XI. und seinen Söhnen Pedro I. und Enrique II. u.a. Sánchez-Arcilla Bernal, J.: Alfonso XI, 1312-1350, Palencia 1995; Valdeón Baruque, J.: Pe-
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Pero López de Ayala wurde in der baskischen Provinz Alava als Sohn von Fernán López de Ayala (ca. 1305-1385) und dessen Gattin Elvira Alvárez de Cevallos, einer reichen Erbin, geboren. Sein gleichnamiger aus Toledo stammender Großvater Pero López de Ayala (†1331) hatte den Aufstieg der Familie eingeleitet. Er war mit Sancha Fernández Barroso vermählt und bekleidete zeitweilig das Amt eines „adelantado mayor“ von Murcia. Pero hatte enge Beziehungen zu König Alfonso XI. von Kastilien (†1350) und zu dem bedeutendsten Politiker und Schriftsteller Kastiliens im 14. Jahrhundert, Don Juan Manuel (†1348), einem Neffen von König Alfonso X. und Enkel von König Fernando III. von Kastilien unterhalten.3
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dro I, el Cruel, y Enrique de Trastámara: La primera guerra civil española, Madrid 2002; García Toraño, P.: El Rey don Pedro el Cruel y su mundo, Madrid 1996; Díaz Martín, L. V.: Pedro I, 1350-1369, Burgos 1995; Estow, C.: Pedro the Cruel of Castile 1350-1369, Leiden/New York/Köln 1995; Valdeón Baruque, J.: Enrique II: La guerra civil y la consolidación del régimen, 1366-1371, Valladolid 1966, sowie generell zur Stellung Kastiliens in Europa „Macht und Expansion auf der Iberischen Halbinsel. Aragón, Kastilien und Portugal im Spiegel ihrer auswärtigen Beziehungen um 1308“, in: 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit, hg. von A. Speer u. D. Wirmer (Miscellanea Medieavalia 35), Berlin/New York 2010, S. 41-92; Averkorn, R.: „Herrscherinnen und Außenpolitik. Hochadlige Frauen als Handlungsträgerinnen der auswärtigen Beziehungen auf der Iberischen Halbinsel (13.–15. Jahrhundert)“, in: Geschlechterrollen in der Geschichte aus polnischer und deutscher Sicht, hg. von K.-H. Schneider. (Politik und Geschichte 5), Münster/Hamburg/London 2004, S. 91-140; Averkorn, R.: „Kastilien als europäische Großmacht im Spätmittelalter: Grundprobleme der auswärtigen Beziehungen der kastilischen Könige vom 13. bis zum 15. Jahrhundert“, in: Auswärtige Politik und internationale Beziehungen im Mittelalter (13.16. Jahrhundert), hg. von D. Berg/M. Kintzinger/P. Monnet. (Europa in der Geschichte 6), Bochum 2002, S. 315-346; Russell, P. E.: The English intervention in Spain and Portugal in the time of Edward III and Richard II, Oxford 1955. Vgl. aus der umfangreichen, grundlegenden Literatur zu Pero López de Ayala, seinen literarischen und historiographischen Werken einige wenige Überblicksdarstellungen: Hoegen, S. v.: Entwicklung der spanischen Historiographie im ausgehenden Mittelalter, Frankfurt a.M. 2000; Adams, K.: „Vida de Pero López de Ayala“, in: P. López de Ayala, Libro Rimado de Palacio, hg. von K. Adams, Madrid 1993 (Letras hispánicas 297), S. 15-22; Orduna, G.: „Introducción biográfica y crítica“, in: López de Ayala, Rimado de Palacio, hg. von G. Orduna, Madrid 1987 (Clasicos Castalia), S. 9-55; Orduna, G.: „El Rimado de Palacio, testamento político moral y religioso del Canciller Ayala“, in: Anexos de Cuadernos de Historia de España 4, 1986, S. 215-237; García, M.: Obra y personalidad del Canciller Ayala, Madrid 1982; García de Andoín, F.: El Canciller Ayala y su tiempo, 1332-1407, Vitoria 1976; Suárez Fernández, L.: El Canciller Ayala y su tiempo (1332-1407), Alava 1962; Strong, E.B.: „The ‚Rimado de Palacio‘: López de Ayalaތs rimed confessions“, in: Hispanic Review 37, 1969,
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Aus diesen Gründen konnte Peros Sohn Fernán in seiner Jugend einige Zeit am aragonesischen Hof im Haushalt der etwa mit ihm gleichaltrigen Königin Leonor von Kastilien (1307-1359), seit 1329 Gattin Alfonsos IV. von Aragón (†1336), verbringen, an dem auch seine spätere Gattin Elvira lebte.4 Fernán erhielt in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts umfangreichen Besitz im Baskenland, bekleidete herausragende administrative Positionen in Kastilien, übernahm diplomatische Missionen, schrieb eine Familiengenealogie und war an der Abfassung des „Fuero de Ayala“ beteiligt. Der in der Provinz Alava gelegene Familiensitz in Quejana lag strategisch an einer Handelsroute, so dass die Familie sich allmählich erfolgreich im lukrativen Wollhandel etablieren konnte. Durch die Konzentration auf das Baskenland konnte dieser Zweig der Familie Ayala in etablierte, äußerst rentable Wirtschaftszweige einsteigen sowie in den folgenden Jahren überdies herausragende Positionen im Königreich übernehmen. Weitere Familienmitglieder hatten hohe kirchliche Ämter inne. Zu ihnen zählte besonders der Großonkel des jungen Pero López de Ayala, der 1348 in Avignon verstorbene einflussreiche Kardinal Pedro Gómez Barroso, Bischof von Cartagena und Ratgeber König Alfonsos XI. Es wird angenommen, dass der Kardinal, der sich bereits um Fernáns Erziehung und Bildung gekümmert hatte, auch dessen Sohn Pero zeitweise in seinem Haushalt aufnahm, wo er entscheidende kulturelle und religiöse Impulse erhielt sowie nützliche Sprachkenntnisse, besonders im Französischen und Lateinischen, erwarb. Dieses anregende politische, religiöse und intellektuelle Umfeld prägte den jungen Pero, der als Erbe des Familienbesitzes mit der aus reicher, einflussreicher und dem Alfonso XI. nahestehender Familie stammenden Adligen Leonor de Guzmán vermählt wurde, maßgeblich.5
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S. 440-457. Seine Chroniken liegen in unterschiedlichen Editionen vor. In dieser Studie wird die folgende Edition verwendet: Pero López de Ayala: Crónicas, hg. von J.- L. Martín, Barcelona 1991. Vgl. zu König Alfonso IV. und seinem Sohn Pedro IV. u.a. Martínez Ferrando, J. E./Sobrequés, S.: Els descendents de Pere el Gran: Alfons el Franc, Jaume II, Alfons el Benigne, Barcelona 1954; Tasis i Marca, R.: La vida del rei En Pere III, Barcelona 1954; speziell zu Königin Leonor von Aragón, ihrer Familie und ihrer Ermordung auf Befehl Pedros I. auch Averkorn, R.: „Gewaltanwendung und Konfliktlösung. Studien zu politischen und familiären Auseinandersetzungen in den iberischen Königshäusern im Hohen und Späten Mittelalter“, in: Europa und die Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg, hg. von R. Averkorn/W. Eberhard/R. Haas und B. Schmies, Bochum 2004, S. 11221186, besonders S. 1142-1144, S. 1166-1176. Vgl. hierzu García: Obra, S. 31f., S. 57; Adams: Vida, S. 15-22; Valdeón Baruque, Pedro, S. 53f., 57; Lahoz Gutierrez, M. L.: „En torno al panteón de Don Fernán Pérez de Ayala“, in: Sancho el sabio: Revista de cultura e investigación vasca, 5, 1995, S. 285- 297, S. 287, Anm. 15 ausführlich zum politischen Wirken von Gómez Barroso am kastilischen und am päpstlichen Hof.
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Die krisenhaften Zeiten nach dem Ausbruch der Pest, der in Kastilien sehr viele Menschen, so auch 1350 König Alfonso XI. bei der Belagerung von Gibraltar, zum Opfer fielen, überlebte Pero unbeschadet. In den folgenden Jahren ist weiterhin eine enge Bindung der Familie Ayala an den jungen Monarchen Pedro I., den Sohn und Nachfolger Alfonsos, nachzuweisen, als dessen „doncel“ und Standartenträger er 1353 auftrat. Aber schon früh zeigte sich, dass Vater und Sohn durchaus konfliktfähig waren, wie Pero López de Ayala in seinen später verfassten Chroniken selbst der Nachwelt mitteilte. 1354 gehörten sein Vater und er zu denjenigen Adligen, die den Monarchen veranlassen wollten, dessen Gattin Blanca von Bourbon, die Pedro I. direkt nach der 1353 erfolgten Hochzeit verstoßen hatte, aus der Haft zu entlassen.6 Somit zeichneten sich erste Differenzen im Verhältnis dieser Familie zum Monarchen ab, die allerdings in jenen Jahren noch ohne Konsequenzen blieben. Die Verbindung zur inzwischen verwitweten Königin Leonor von Aragón, einer Tante von König Pedro I., riss gleichfalls nicht ab, da Pero 1354 der Familientradition folgend als „doncel“ in den Diensten des in Kastilien im Exil lebenden Fernando von Aragón (1329-1363) belegt ist.7 Pero López de Ayala durchlief eine umfangreiche Ausbildung in verschiedenen Positionen, die ihm in seinen späteren Ämtern auf höchster Ebene zugutekommen sollte. Schließlich sammelte er Erfahrungen in der kastilischen Marine. 1359 ist er in einem Seekrieg Kastiliens gegen König Pedro IV. von Aragón als Kapitän in der kastilischen Flotte belegt, die unter dem Oberkommando des aus Genua stammenden Admirals Gil de Bocanegra stand. Schon ein Jahr später war er im Justizwesen tätig und sandte in seiner Funktion als „alguacil mayor“ im Auftrag Pedros I. den Erzbischof von Toledo, Don Vasco, ins Exil nach Portugal.8 In jenen Jahren, als die Herrschaft König Pedros I. noch gesichert schien, traf Pero am kastilischen Hof mit einem weiteren wichtigen Funktionsträger und engen Vertrauten des Königs, Martín López de Córdoba,
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López de Ayala: Crónicas, S. 115 zur direkten Intervention der Familie Ayala zugunsten von Königin Blanca. Vgl. zu ihrem Leben und ihrer Ermordung auf Veranlassung Pedros I. im Jahr 1361 auch Averkorn: Gewaltanwendung, S. 1169f. Orduna: Introducción, S. 15. Der Infante Fernando unterstützte zunächst seit 1356 seinen Cousin Pedro I. von Kastilien im Kampf gegen Pedro IV. von Aragón, wechselte jedoch 1360, wie später auch Ayala, die Seiten und unterstützte Enrique de Trastámara. 1363 wurde er gefangen genommen und auf Veranlassung seines Halbbruders Pedro IV. ermordet. Sein Bruder Juan und seine Mutter Leonor waren bereits 1358 in Bilbao bzw. 1359 in Castrojerez im Auftrag von Pedro I. ermordet worden, vgl. hierzu López de Ayala: Crónicas, S. 194f., 216, 294f., Averkorn: Gewaltanwendung, S. 1173f., 1181ff. sowie Ramón Pont, A.: „El infante don Fernando, señor de Orihuela en la guerra de los dos Pedros (1356-1363)“, in: Anales de la Universidad de Alicante. Historia medieval, 2, 1983, S. 63-92. Orduna: Introduccíon, S. 15; López de Ayala: Crónicas, S. 218f., 254f.
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dem Vater der bereits erwähnten Leonor, zusammen, der eine sehr steile Karriere vor sich hatte. Seine Familie stammte von den christlichen Eroberern Córdobas unter Fernando III. ab. Aus Leonors autobiographischen Aufzeichnungen und weiteren Quellen geht hervor, dass sie im Dezember 1362 oder im Januar 1363 im Zentrum der Macht, im königlichen Palast in Calatayud, als jüngste Tochter des späteren Großmeisters der Ritterorden von Alcántara und von Calatrava, und späteren „adelantado mayor“ von Murcia, ein Amt, das auch Peros Großvater bekleidet hatte, geboren wurde. Martín ist seit 1353 am Hof in unterschiedlichen Ämtern belegt, zunächst als „camerero“, 1360 dann als „camerero mayor“, 1364 als „privado“ des Königs und „alguacil mayor“ von Sevilla, 1365 als „mayordomo“ des Königs, 1364/65 wurde er auf dem Höhepunkt seiner Karriere nicht nur Großmeister des Ordens von Alcántara, sondern 1365 auch des Ordens von Calatrava.9
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Molina Molina, A. L.: „Don Martín López de Córdoba, maestre de las órdenes de Alcántara y Calatrava y adelantado mayor del reino de Murcia“, in: Miscelánea medieval murciana 4, 1978, S. 87-106, S. 92 sowie Cabrera Sánchez, M.: „El destino de la nobleza petrista: La familia del maestre Martín López de Córdoba“, in: En la España Medieval 24, 2001, S. 195-238, S. 202-207 zur Karriere von Martín. Vgl. aus der weiteren umfangreichen Literatur zur Familie López de Córdoba einige ausgewählte Studien: Bellido Bello, J. F.: La primera autobiografía femenina en castellano. Las Memorias de Leonor López de Córdoba. Diss. phil., Sevilla 2006; Severin, D.S.: „A letter of complaint from Fernando de Antequera about Leonor López de Córdoba“, in: Nunca fue pena mayor. Estudios de literatura española en homenaje a Brian Dutton, hg. von A. Menéndez Collera/V. Roncero, Cuenca 1996, S. 633-44, Gómez Sierra, E.: „La experiencia femenina de la amargura como sustento de un discurso histórico alternativo: Leonor López de Córdoba y sus memorias“, in: La voz del silencio, 1, hg. von C. Segura Graiño, Madrid 1992, S. 111-130; Ayerbe-Chaux, R.: „Leonor López de Córdoba y sus ficciones históricas“, in: Historia y ficciones. Coloquio sobre la literatura del siglo XV, hg. von R. Beltrán/J. L. Canet/J. L. Sierra u.a., Valencia 1992, S. 17-23; Juan Lovera, C.: „Doña Leonor López de Córdoba (1362-1340), Relato autobiográfico de una mujer córdobesa escrito hacia 1400“, in: Boletín de la Real Academia de Córdoba 117, 1989, S. 257-270; López Estrada, F.: „Las mujeres escritoras en la Edad Media castellana“, in: La condición de la mujer en la Edad Media. Actas del Coloquio celebrado en la Casa de Velázquez, del 5 al 7 de noviembre de 1984, hg. von Y.-R. Fonquerne u. A. Esteban, Madrid 1986, S. 9-38, bes. S. 22f.; Kaminsky, A. K./Johnson, E. D.: „To Restore Honour and Fortune, the Autobiography of Leonor López de Córdoba“, in: New York Literary Forum 12-13, 1984, S. 77-88; Deyermond, A.: „Spainތs First Women Writers“, in: Women in Hispanic Literature, hg. von B. Miller, Berkeley/London 1983; S. 27-52; Estow, C.: „Leonor López de Córdoba: Portrait of a Medieval Courtier“, in: Fifteenth Century Studies 5, 1982, S. 23-46; Vgl. zu neueren spanischen Texteditionen besonders Bellido Bello: Autobiografía, S. 379-393; Ayerbe-Chaux, R.: „Las memorias de doña Leonor
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Seine Stellung konnte López de Córdoba bereits 1358 erheblich festigen, da er im Auftrag des Königs gemeinsam mit einem weiteren Vertrauten Pedros I., Juan Fernández de Hinestrosa, direkt an der Ermordung des Infanten Juan de Aragón, eines Sohns von Königin Leonor, der Tante Pedros I., beteiligt war. Leonor, die von ihrem Neffen gefangen genommen worden war, fiel im folgenden Jahr einem Mordanschlag zum Opfer.10 Überdies übernahm er militärische Aufgaben im Kampf gegen Aragón und verschiedene diplomatische Missionen für Pedro I. 1365 reiste er nach London zu König Edward III. sowie im folgenden Jahr an den portugiesischen Königshof, um den Bestrebungen des späteren Enrique II. entgegenzuwirken, da sich die deutlichen Spannungen im Verhältnis der beiden Halbbrüder verschärft hatten und bereits den Ausbruch eines erbitterten Kampfes um den Thron sowie ein Wiederaufflammen der inneren Krise in Kastilien anzeigten. Pedro I. übertrug ihm zahlreiche Schenkungen, die den Besitz der Familie erheblich mehrten. Leonors unmittelbare Nähe zum Herrscherhaus wurde durch verwandtschaftliche Bande väterlicher- und mütterlicherseits zur Königsfamilie verstärkt.11 Bereits Leonors früheste Kindheit wurde durch die innenpolitische Krise Kastiliens sowie die Kämpfe zwischen Pedro I. und seinem Halbbruder Enrique de Trastámara, der aus der Verbindung Alfonsos XI. mit seiner Geliebten, der andalusischen Adligen Leonor de Guzmán, stammte, geprägt. Die junge Adlige verbrachte im königlichen Palast von Carmona ihre ersten Jahre im Kreis der Töchter des Monarchen, die zugleich ihre Patinnen waren und seiner Beziehung zu María de Padilla entstammten. Besonders ihre Kontakte zu seiner 1354 geborenen Tochter Constanza sollten von besonderer Bedeutung in Leonors späteren Lebensjahren sein.12
3. Familien am Scheideweg – Zuspitzung der Krise und Neubeginn Als erste wichtige krisenhafte Zäsur im Leben des Pero López de Ayala und der jungen Leonor ist das Jahr 1366 anzusehen. In den Jahren nach 1360
López de Córdoba“, in: Journal of Hispanic Philology 2, 1977, S. 11-33. Vgl. an Informationen zu Leonors Jugend und Gefangenschaft auch ihre eigene Darstellung in Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 16-21. 10 Molina Molina: Martín, S. 88-105; López de Ayala: Crónicas, S. 194, S. 216 ausführlich zu diesen Morden. 11 Cabrera Sánchez: Destino, S. 202-207; Molina Molina: Martín, S. 93 zu seinen diplomatischen Missionen; Bellido Bello: Autobiografía, S. 243 zu Leonors Familie, Vorfahren sowie ihrer Verwandtschaft mütterlicher- und väterlicherseits mit dem Königshaus. 12 Bellido Bello: Autobiografía, S. 260.
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hatte sich der Konflikt zwischen dem kastilischen Monarchen und seinem Halbbruder Enrique dramatisch zugespitzt. In wachsender Zahl verlor Pedro I. Anhänger, die zu seinem Gegner, der den Thron für sich beanspruchte und internationale Allianzen schloss, überliefen. Am 16. März 1366 ließ sich Enrique de Trastámara, der in propagandistischer Weise öffentlich seinen Halbbruder als Tyrannen darstellte, in Calahorra zum König ausrufen. Wenig später konnte er Pedro I. aus Burgos vertreiben, der daraufhin vor den nahenden Truppen zunächst nach Toledo, anschließend nach Sevilla und schließlich im Sommer 1366 über La Coruña in die englische Gascogne floh. Im März 1366 befand sich Pero López de Ayala gemeinsam mit Leonors Vater noch an der Seite Pedros. Nach seinem Einzug in Burgos ließ sich Enrique am 5. April zum König krönen und zog anschließend nach Toledo, wo er auf zahlreiche Anhänger König Pedros traf, die zu ihm überliefen, unter ihnen auch Pero und sein Vater Fernán López de Ayala. Fernán hatte für Pedro I. wichtige militärische Erfolge erzielt und sich offenbar im Laufe der Jahre deutlich mehr Vorteile und Belohnungen erhofft.13 Während Martín López de Córdoba weiterhin an der Seite Pedros I. blieb, entschlossen sich Vater und Sohn Ayala mit diesem radikalen Schritt zu einem Bruch mit dem legitimen kastilischen Monarchen, sicherlich um dem krisenhaften Strudel zu entgehen und sich neue Perspektiven zu eröffnen, wohl wissend, dass erhebliche persönliche Risiken damit verbunden waren. Politischer Weitblick seitens der Familie Ayala scheint durchaus ein wichtiger Faktor gewesen zu sein. Als einen weiteren Grund bezeichnet Pero López de Ayala in seiner Chronik ausdrücklich die Furcht zahlreicher Adliger vor weiteren Grausamkeiten des Königs, was jedoch im Rahmen seiner historiographischen Bestrebungen, die Regierungszeit König Pedros zu verdammen und die Legitimität der Trastámaras zu untermauern, nicht überrascht. Peros Vater Fernán setzte in den folgenden Jahren unter Enrique II. seine militärische Karriere nahtlos fort.14 Im Gegensatz zu Martín López de Córdoba hatten Vater und Sohn eine Entscheidung getroffen, die sich insgesamt – abgesehen von einigen kritischen Phasen, die jedoch nicht auf Konflikte mit den Trastámaras, sondern auf äußere Faktoren zurückzuführen waren – sehr positiv auf das weitere Schicksal dieser Familie auswirken und ihr höchste Positionen am Königshof sowie großen Besitz eintragen sollte. Die Familie Ayala konnte unter Enrique II. nicht nur nahtlos an ihre früheren Erfolge anknüpfen, sondern überdies ihren Einfluss und Besitz merklich ausdehnen sowie einen ent13 Vgl. zum Seitenwechsel der Familie Ayala u.a. Garcia: Obra, S. 348; López de Ayala: Crónicas, S. 317f. 14 Valdeón Baruque: Pedro, S. 140-144; García: Obra, S. 348; López de Ayala: Crónicas, S. 316f. Vgl. zur Bedeutung seiner Chroniken speziell auch Gómez Redondo, F.: Historia de la prosa medieval castellana, Bd. 2, Madrid 1999, S. 1771-1815.
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scheidenden Beitrag zur Stabilisierung der neuen Dynastie leisten. Pero verfasste in seiner parallelen Funktion als Hofhistoriograph seine Chroniken im Auftrag der neuen Dynastie und war überdies bestrebt, in diesen Werken den Parteiwechsel seiner Familie, die durchaus als Krisengewinnler bezeichnet werden kann, und deren Wirken am Hof der Trastámaras zu rechtfertigen.15 Aufgrund dieser politischen Weitsicht teilte die Familie Ayala in den folgenden Jahrzehnten nicht das harte Schicksal der sogenannten „petristas“, der Anhänger König Pedros I., zu denen die junge Leonor López de Córdoba und ihre Familie zählten. 1366 wurde eine zeitweilige Trennung der Lebenssphären der Familien von Pero López de Ayala und Leonor López de Córdoba vollzogen. In jenem Jahr nahm das Leben der jungen Adligen, die bereits ihre Mutter verloren hatte, ebenfalls eine entscheidende Wende, die sich jedoch im Gegensatz zum Schicksal der Familie Ayala in äußerst dramatischer Form manifestierte. Leonors verwitweter Vater begleitete mit seiner Familie im Sommer 1366 König Pedro I. und dessen Töchter Beatriz, Constanza und Isabel zu den kastilischen Alliierten in die englische Gascogne. Im Anschluss an den im September 1366 zwischen Kastilien, Navarra und England ratifizierten Vertrag von Libourne verblieb Leonor nach eigenen Angaben als Garant gemeinsam mit den drei Königstöchtern in der Gascogne, während ihr Vater, König Pedro I., und seine Anhänger gemeinsam mit den englischen Truppen den Kampf um den kastilischen Thron wieder aufnahmen. An diesem Vertrag war als Zeuge der Bruder des englischen Thronfolgers, Edward, des Schwarzen Prinzen, John of Gaunt, Herzog von Lancaster, der später die Königstochter Constanza ehelichen sollte, beteiligt.16 Am 3. April 1367 konnte sich Pedro I. in der Schlacht von Nájera gegen seinen Halbbruder Enrique durchsetzen. Anschließend kehrte Leonor, deren Kindheit bereits entscheidend durch Krieg, Flucht, Exil sowie Geiselhaft geprägt worden war, wahrscheinlich nach Kastilien an den Königshof zurück. Über ihre kindlichen Erinnerungen an diese schwierigen Krisenjahre berichtete Leonor in ihren Aufzeichnungen ausführlich. Ihr Vater wurde von Pe-
15 Valdeón Baruque, Pedro, S. 53f. Zu Ayalas propagandistischem Wirken im Dienste der neuen Dynastie auch Valdéon Baruque, J.: „La propaganda ideológica, arma de combate de Enrique de Trastámara“, in: Historia. Instituciones. Documentos, 19, 1992, S. 459-467. 16 Vgl. hierzu Bellido Bello: Autobiografía, S. 240; Molina Molina: Martín, S. 94; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 16f., S. 20; Deyermond: Spain, S. 31; Gomez Sierra: Experiencia, S. 111 und generell zur Geschichte dieser Konflikte beispielsweise García Toraño: Rey, S. 426-430; Valdeón Baruque: Pedro, passim mit einer Neubewertung des bislang negativen Bildes von Pedro. Zu John of Gaunt besonders Goodman, A.: John of Gaunt. The exercise of princely power in fourteenth-century Europe, New York 1992, S. 111-143 zu den Ereignissen bis 1369 sowie ausführlich zu seinem Kampf um den kastilischen Thron nach 1369.
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dro I. zum Großmeister von Calatrava ernannt, als „adelantado mayor“ des Reichs von Murcia bestätigt und befand sich in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Jedoch erfüllte er nicht blindlings alle Forderungen des Monarchen, als er in seiner Heimat Córdoba Adelige, die zum Trástamara übergelaufen waren, auf Befehl Pedros hinrichten lassen sollte, sondern warnte sie rechtzeitig. Unverzüglich ließ Pedro I. einen Mordauftrag gegen Martín erteilen, woraufhin dieser, der weiterhin gute Beziehungen nicht nur zum Schwarzen Prinzen, sondern auch zum Herrscher von Granada unterhielt, sich mit letzterem in Verbindung setzte, was gleichfalls die sehr geschwächte politische Position Pedros I. unterstreicht. Aus Granada erreichte den kastilischen König die Androhung einer Invasion, falls er López de Córdoba nicht wieder in seine Ämter einsetzen würde, was dann auch geschah.17 Während 1367 die „petristas“, unter ihnen die Familie Leonors, nach der gewonnenen Schlacht von Nájera noch an eine dauerhafte Wende im Kampf gegen Enrique II. glaubten, durchlebte die Familie von Fernán López de Ayala, die sich bereits fest im engen Umfeld des Trastámara etabliert und von diesem Ehrungen erhalten hatte, eine erste größere Krise, da sie auf dem Schlachtfeld von Nájera zu den unerwarteten Verlierern gehörten. Diese militärische Niederlage stellte einen wichtigen Einschnitt im Leben des Pero López de Ayala dar, da er in englische Gefangenschaft geriet. Jedoch legte der Schwarze Prinz Wert auf ritterliche Gepflogenheiten, so dass er diese Zeit überlebte, was ihm, falls er in die Hände Pedros I. geraten wäre, sicherlich den Tod eingetragen hätte. Im September 1367 kam er gegen Zahlung eines Lösegelds wieder frei. Diese harte Zeit, die er möglicherweise in der Gascogne verbrachte, wurde von ihm in seinem „Rimado de Palacio“ thematisiert und als von ihm offenbar probates Mittel der persönlichen Krisenbewältigung aufbereitet.18 Nach seiner Freilassung konnte Ayala sich wieder mit den Truppen Enriques II., der seinerseits aufgrund seines Bündnisses mit König Charles V. nach Frankreich geflüchtet war, vereinen und den Kampf gegen den legitimen Monarchen fortsetzen. Für Peros Karriere war es von Vorteil, dass Pedro I. schon bald nach der Schlacht von Nájera abermals in große Schwie-
17 Vgl. hierzu Molina Molina: Martín, S. 94; García Toraño: Rey, S. 439-451; Cabrera Sánchez: Destino, S. 205f.; López de Ayala: Crónicas, S. 389f. 18 Vgl. hierzu Orduna: Introducción, S. 17; López de Ayala: Crónicas, S. 343, S. 353f.; Valdeón Baruque, Pedro, S. 48; Adams: Vida, S. 18. In einem Brief an seine Gattin Joan of Kent stellte Edward fest, dass er in der Schlacht gegen den von ihn als „Bastard of Spain“ bezeichneten Enrique zahlreiche Gefangene gemacht hatte, von denen er die berühmtesten mit Namen nannte, viele, unter ihnen mit Sicherheit Ayala, kannte er hingegen nicht namentlich, vgl. hierzu Barber, R.: Edward, Prince of Wales and Aquitaine, London 1978, S. 202-206. Zum „Rimado de Palacio“ liegen verschiedene Editionen vor, z.B. López de Ayala, P.: Rimado de Palacio, hg. von G. Orduna, Madrid 1987.
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rigkeiten geriet und in der Folge die Unterstützung der englischen Truppen unter Führung des Schwarzen Prinzen verlor. Enrique II. hingegen konnte mithilfe der französischen Soldaten, die von Bertrand Du Guesclin angeführt wurden, seine Stellung ausbauen und festigen. Details zu diesen für seine Familie positiven Geschehnissen finden sich in Ayalas zu einem späteren Zeitpunkt verfassten historiographischen und literarischen Werken.19 In den Jahren zwischen 1369 und 1379, die als ein Jahrzehnt der inneren politischen Konsolidierung Kastiliens unter der Dynastie der Trastámaras und ihrem ersten Herrscher Enrique II. gesehen werden können, entschied sich das Schicksal zweier Familien, die ursprünglich im engsten Umfeld König Pedros I. angesiedelt waren. Die Familie von Pero López de Ayala konnte unter den Trástamaras eine politische Schlüsselstellung einnehmen sowie ihren bereits umfangreichen Besitz weiter mehren und damit ihren sozialen Aufstieg dauerhaft festigen. Leonor López de Córdoba durchlebte hingegen in diesem Jahrzehnt der Herrschaft Enriques II. ihre größte persönliche Krise, da ihre direkte Familie nicht nur politisch und wirtschaftlich ausgeschaltet und einflusslos war, sondern ganz konkret um ihr physisches Überleben kämpfen musste. Pero López de Ayala und Leonor López de Córdoba berichteten jeweils aus ihrer eigenen Perspektive über diese für ihr weiteres Leben entscheidenden Jahre. Mit dem Tod Pedros I., der nach der verlorenen Schlacht von Montiel in eine Falle gelockt und bei einem persönlichen Zusammentreffen mit seinem Halbbruder Enrique von diesem eigenhändig am 23. März 1369 ermordet worden war, wurden im Königreich Kastilien die Weichen in Bezug auf eine Beendigung der seit dem Ende des 13. Jahrhunderts andauernden multiplen Krisen gestellt und ein neues Verhältnis zwischen Adel und Krone definiert. Zunächst jedoch lag es im unmittelbaren Bestreben Enriques II., die letzten Bastionen des Widerstands durch die Anhänger Pedros I. zu bezwingen, um seine Herrschaft dauerhaft zu sichern.20 Noch in jenem schicksalhaften Jahr 1369, wahrscheinlich kurz vor dem Tod Pedros I., war Leonor nach eigenen Angaben im Alter von sieben Jahren von ihrem Vater mit dem jungen Ruy Fernández de Hinestrosa vermählt worden. Der Vollzug der Ehe war aber erst wie üblich für das zwölfte Lebensjahr vorgesehen. Ihr Gatte Ruy war Sohn und einziger Erbe des bereits 1359 in der gegen Enrique de Trastámara geführten Schlacht von Araviana gefallenen königlichen Siegelbewahrers und „privado“ Juan Fernández de Hinestrosa, der wie bereits erwähnt eng mit ihrem Vater zusammengearbeitet hatte. Hinestrosa verdankte seinen Einfluss bei Hof seiner Nichte María de Padilla, seit 1352 Geliebte und eventuell heimliche Gattin Pedros
19 López de Ayala: Crónicas, S. 365-377; Valdeón Baruque: Pedro, S. 172-201; Orduna: Introducción, S. 17. 20 Zum Tod von Pedro I. auch López de Ayala: Crónicas, S. 430-434; Valdéon Baruque: Pedro, S. 203-243; Deyermond: Spain, S. 31; García Toraño: Rey, S. 471478.
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I., die dem König mehrere Kinder geboren hatte, unter ihnen die bereits erwähnte Constanza. Seine Ämter als „camerero mayor“ und „privado“ des Königs wurden nach seinem Ableben von Martín López de Córdoba übernommen. Die Verbindung Leonors mit dem Sohn von Hinestrosa schützte dessen Erbe und festigte überdies die Position beider Familien, die zu den einflussreichsten „petristas“ zu zählen sind, in der Phase des drohenden Untergangs. Nach der Ermordung Pedros I. war jedoch das Schicksal beider Familien besiegelt. Sie wurden in eine langjährige existentielle Krise gestürzt, die Leonor in ihrer autobiographischen Schrift ausführlich kommentierte.21 Martín López de Córdoba, der nach Pedros Tod zunächst nicht an eine Aufgabe dachte, sondern vergeblich auf die Unterstützung der früheren Verbündeten zugunsten von dessen Erbtöchtern, die sich allerdings bereits in Sicherheit auf englischem Territorium befanden, hoffte, verschanzte sich mit dem Großteil seiner Familie, einigen unehelichen Kindern des Monarchen sowie weiteren „petristas“ in Carmona, das alsbald zunächst erfolglos von den Truppen Enriques II. belagert wurde. Nach einiger Zeit wurde die Situation für die Eingeschlossenen hoffnungslos, so dass nach Aushandlung der Übergabe gegen Zusicherung seines Lebens der Großmeister Carmona im Mai 1371 an Enrique II. übergab. Da López de Córdoba kurz zuvor eine größere Zahl von Enriques Männern hatte gefangen nehmen und unverzüglich exekutieren lassen, fühlte sich Enrique II. nicht an seine Zusagen gebunden und ließ seinerseits den Großmeister öffentlich auf der Plaza San Francisco in Sevilla hinrichten, dessen gesamtes Vermögen konfiszieren sowie die überlebenden Familienmitglieder unter verschärften Haftbedingungen für die nächsten neun Jahre bis zu seinem Tod 1379 einkerkern.22 In ihrer autobiographischen Darstellung beschrieb Leonor detailliert die unmenschlichen und grausamen Haftbedingungen in den Gewölben der kö-
21 Vgl. zur Karriere von Martín López de Córdoba und Leonors Ehe besonders Cabrera Sánchez: Destino, S. 198-200; Molina Molina: Martín, passim; AyerbeChaux: Memorias, S. 17; Valdeón Baruque: Enrique, S. 28; zu ihrem Schwiegervater Hinestrosa besonders Díaz Martín, L.V.: Los oficiales de Pedro I de Castilla, Valladolid 1987, bes. S. 39, 46, 60-63, 70-72. Zur ihrer Ehe auch Bellido Bello: Autobiografía, S. 244, 382 mit einer Aufzählung des Besitzes, der Juwelen etc., die Ruy als Erbsohn mit in die Verbindung brachte. 22 Vgl. hierzu generell Russell: Intervention, S. 69, 163, 175 zu diesen Vorgängen auch Ayerbe-Chaux: Leonor, S. 21f. sowie López de Ayala: Crónicas, S. 435f., S. 443-448; Cabrera Sánchez: Destino S. 207; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 18; Valdeón Baruque, J.: Enrique II, Palencia 1996, S. 110 zur Belagerung von März bis Anfang Mai 1371 und speziell Dominguez, F. A.: „Chains of Iron, Gold and Devotion: Images of Earthly and Divine Justice“, in: Medieval Iberia: changing societies and cultures in contact and transition, hg. von I. A. Corfis, R. HarrisNorthall, Woodbridge 2007, S. 30-44 mit Überlegungen zur Gefangenschaft der Familie López de Ayala und ihrer spezifischen Darstellung durch Leonor.
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niglichen Schiffswerft in Sevilla sowie die Auswirkungen von Pestwellen, die mit Ausnahme der Protagonistin und ihres Gatten allen nahen Verwandten und Bediensteten im Laufe der Jahre das Leben kosteten. Die Männer und auch ihr dreizehnjähriger Halbbruder wurden mit sehr schweren Fußketten ständig gefesselt gehalten, ihr Gatte beispielsweise gefoltert und Hungerstrafen ausgesetzt. Leonor betonte ausdrücklich, dass ihre Verwandtschaft zu den Töchtern König Pedros I. ein Grund für die grausame Behandlung war. Die Tatsache, dass Leonor und Ruy überlebten, führte sie auf den Schutz der Jungfrau Maria zurück, die ihr dieses Wunder zuteil hatte werden lassen. Somit war ihr starker Glaube ein wichtiger Mechanismus, um diese Krisensituation zu bewältigen.23 Pero López de Ayala und seine Familie hingegen erlebten dieses Jahrzehnt aus einer völlig anderen Perspektive, da sie unmittelbar vom Dynastiewechsel und der damit einhergehenden Umstrukturierung des Adels profitieren konnten. Sie wirkten in prominenter Stellung am Hofe des ersten Trastámara-Herrschers und befassten sich mit der Konsolidierung des Königreichs im Inneren und Äußeren, um Kastilien aus der tiefgreifenden Krise herauszuführen. König Enrique II. gelang es während seiner Regierung mit gezielten Maßnahmen, zu denen u.a. die gehäufte Vergabe von Ehrungen und Besitzungen gehörte, große Teile des Adels an sich zu binden und besonders der „nobleza nueva“ den Weg in die höchsten Ämter am Hofe zu ebnen. Zahlreiche Familien der „nobleza vieja“ waren bereits durch die Krisenjahre seit Ende des 13. Jahrhunderts und demographische Veränderungen ausgelöscht worden oder hatten ihre Machtposition unter der neuen Dynastie eingebüßt. Der Monarch belohnte Pero López de Ayala und seinen Vater für ihre treuen Dienste beispielsweise mit weiteren Schenkungen im Baskenland. Pero übernahm in königlichem Auftrag in den Jahren bis 1379 zahlreiche politische Missionen im Königreich bzw. diplomatische Aufgaben in benachbarten Reichen wie Aragón und Frankreich. 1374 wurde er zum „alcalde“ und „merino“ von Vitoria ernannt, 1375 auch zum „alcalde mayor“ von Toledo.24 Sein Vater Fernán konnte ebenfalls erfolgreich seine Karriere fortsetzen und amtierte zeitweise als „adelantado mayor“ von Murcia. Er nutzte die Zeit nach der Beendigung der politische Krise Kastiliens durch die stabilisierende Regierung Enriques II. und war bestrebt, seiner Familie und seinen Nachkommen dauerhaft einen angemessenen Platz im Königreich zu sichern, was ihm mit gezielten Maßnahmen gelang. 1373 setzte er mit königlicher Erlaubnis die Gründung eines Majorats durch, um das inzwischen beträchtlich angewachsene Familienerbe zu sichern und sich gleichfalls in die Tradition alteingesessener adliger Familien zu stellen. 1375 trat er dann als Witwer in den Dominikanerkonvent in Vitoria ein, wobei seine Hinwendung
23 Deyermond: Spain, S. 33; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 19; Bellido Bello: Autobiografía, S. 381-385. 24 Hoegen: Entwicklung, S. 78-80; Orduna: Introducción, S. 18f.
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zu einem Bettelorden keine Ausnahmeerscheinung darstellte, sondern den vom Königshof, Adel und Bürgertum bevorzugten religiösen Gepflogenheiten entsprach. Jedoch widmete sich Fernán nicht nur dem kontemplativen Leben, sondern arbeitete weiterhin an der angemessenen gesellschaftlichen Positionierung seiner Familie, indem er 1378 dem Beispiel anderer adliger Familien folgend, einen schon länger noch zu Lebzeiten seiner Gattin gehegten Wunsch umsetzte, ein Kloster gründete und sich um Memorialleistungen für seine Familie kümmerte. Es wurde an der Stelle eines im 11. Jahrhunderts gegründeten Klosters neu errichtet, reich u.a. mit sakralen Gegenständen aus dem persönlichen Besitz dotiert und den Dominikanerinnen übergeben, die auch traditionell von seinem Onkel, Kardinal Barroso, sowie den kastilischen Königen Pedro I. und Halbbruder Enrique II. favorisiert wurden. Die Nonnen sollten Sorge für die Memoria der Familie Ayala sowie der Gründerfamilie des Vorgängerklosters tragen. Überdies wünschte er im Kloster San Juan de Bautista eine Familiengrablege einzurichten, um die Bedeutung seiner Familie auch nach außen zu repräsentieren und die Verbindung der aus dem Süden eingewanderten neuen Herren von Ayala und Quejana mit dem Baskenland zu demonstrieren. 1385 verstarb er im Konvent von Vitoria. Auf eigenen Wunsch wurde er in der Klosterkirche in Quejana in der Nähe des Hauptaltars in einem von seinem Sohn Pero in Auftrag gegebenen Doppelgrab aus Alabaster neben seiner Gattin bestattet.25 Fernán Pérez de Ayala kann als der erste Intellektuelle dieser Familie bezeichnet werden, dessen Werke überliefert sind. Bis 1371 arbeitete er an einer von seinem Sohn später fortgesetzten, kommentierten Familiengenealogie, in der der Aufstieg dieser Familie von den Anfängen, die, um ihre Bedeutung zu steigern, auf einen Infanten zurückgeführt wurden, bis hin zur Überwindung der Krise von 1369 und ihrer bedingungslosen Unterstützung der Trastámaras gezielt dargestellt wurde, um das Selbstbewusstsein der Ayalas und ihre hohe gesellschaftliche Position im Königreich zu unterstreichen.26 Mit dem Tod Enriques II. im Jahre 1379 und der Thronbesteigung durch dessen Sohn Juan I. (†1390) begann nicht nur im Königreich Kastilien eine neue Ära, sondern auch das persönliche Schicksal von Leonor López de Córdoba sollte eine Wende erfahren. In ihren Aufzeichnungen, die sich der neueren Forschung folgend sehr wahrscheinlich an Enriques II. Enkel, Enrique III. (†1406) und dessen Gattin Catalina (†1418) richteten, verwies sie dankbar darauf, dass der verstorbene Monarch noch vor seinem Tod verfügt hatte, ihre Familie aus dem Gefängnis zu entlassen sowie ihr ihren Besitz zu restituieren.27
25 Hoegen: Entwicklung, S. 78f.; García: Obra, S. 348; Lahoz: Torno, S. 287f. 26 Garcia: Obra, S. 65; Orduna: Introducción, S. 13. 27 Bellido Bello: Autobiografía, S. 385 mit einem Verweis Leonors auf eine entsprechende Verfügung Enriques II., den sie – sicherlich, da es sich um den Groß-
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Als einzige Überlebende wurden Leonor und ihr Mann Ruy 1379 in die Freiheit entlassen und hatten somit die lebensbedrohende, jahrelange Krise bewältigt. Jedoch konnten sie weder die gesellschaftliche Stellung einnehmen, die sie vor 1369 bekleidet hatten, noch entgegen der königlichen Versprechungen auf ihren Besitz zurückgreifen. Sie sahen sich daher in den folgenden Jahren erheblichen neuerlichen Prüfungen und Krisen ausgesetzt, da sie faktisch vor dem finanziellen Ruin standen und wesentlich auf die Unterstützung durch Verwandte angewiesen waren. Leonor sprach nicht über sicherlich erlittene psychische Schäden, jedoch lassen sich nach heutigen Maßstäben gewisse Traumata konstatieren. Sie hatte ihre prägenden Jugendjahre bis zum achtzehnten oder neunzehnten Geburtstag in strenger Haft und in ständiger Lebensgefahr verbracht, was sicherlich einerseits ihren Charakter gestärkt hatte, andererseits jedoch ein überaus ausgeprägtes Bedürfnis nach materieller Sicherheit und Freiheit hervorgerufen hatte. Beide Komponenten sollten ihren späteren Lebensweg maßgeblich kennzeichnen. Leonor wollte sich möglichst vor weiteren eventuellen materiellen Rückschlägen absichern, aber gleichzeitig eine gesellschaftliche und ökonomische Stellung in der Gesellschaft erkämpfen, die es ihr ermöglichte, dauerhaft für die physische und materielle Sicherheit ihrer Familie zu sorgen. Sie entwickelte großen Ehrgeiz, um an ihre privilegierte Lebenssituation vor der Katastrophe anknüpfen zu können. Sie strebte gezielt nach gesellschaftlicher Macht und Einfluss zunächst in der heimischen andalusischen Gesellschaft, später jedoch auch am königlichen Hof. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf das in den Jahren nach der Freilassung deutlich zu konstatierende spezifische Verhältnis zwischen den Ehegatten von Interesse, das die charakterliche Stärke Leonors besonders in Krisensituationen sehr deutlich hervortreten ließ. Leonor und ihr Gatte nahmen zunächst eine zeitweise Trennung in Kauf, da sich Ruy auf ihre Veranlassung hin in seiner Rolle als Ernährer der Familie um die Rückgewinnung des familiären Besitzes beider Familien unter Zuhilfenahme der familiären und politischen Netzwerke kümmern sollte. Er verließ Andalusien und nahm in den folgenden Jahren an den Kämpfen Kastiliens gegen Portugal sowie wahrscheinlich auch an der entscheidenden Niederlage Kastiliens in der Schlacht bei Aljubarrota (1385) teil, in der auch
vater König Enriques III. handelte – ausdrücklich für sein letztendlich gnädiges Verhalten ihr gegenüber lobte. Zur divergierenden Forschungsdiskussion um die Adressaten ihrer Aufzeichnungen vgl. zuletzt Bellido Bello: Autobiografía, S. 271-278; zu Juan I., Enrique III. und Catalina von Lancaster sowie ihrem Sohn Juan II. besonders die Standardwerke von Suárez Fernández, L.: Juan I, rey de Castilla, Madrid 1956; Porras Arboledas, J.: Juan II, Palencia 1995; Suárez Bilbao, F.: Enrique III (1390-1406), Burgos 1994, Echevarría, A.: Catalina de Lancaster, Hondarribia 2002 sowie auch Márquez de la Plata, V./Valero de Bernabé, L.: Reinas medievales españolas, Madrid 2000, S. 269-288 zu Catalina mit einer negativen Einschätzung ihrer intellektuellen Fähigkeiten.
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Pero López de Ayala kämpfte. Es ist nicht sicher, ob Hinestrosa in Gefangenschaft geriet, aber um 1386 kehrte er laut Leonors Aussagen völlig verarmt, gescheitert, in abgerissener Kleidung auf einem armseligen Maulesel reitend nach siebenjähriger Abwesenheit zu seiner Gattin zurück. Ihren Berichten zufolge hatte sie bereits in jenen Jahren zuvor jeglichen Kontakt zu Ruy verloren, der als verschollen galt. Aus diesem Grund hatte die vermeintliche Witwe über den Eintritt in ein Kloster des relativ neuen Ordens der Hieronymiten, das von ihrer Familie reich dotiert worden war und in dem Verwandte lebten, nachgedacht, dann jedoch beschlossen, weiterhin bei ihrer Tante María García Carrillo, die ihr in Córdoba ein Heim geboten hatte, zu leben. Wie schon die Familie Ayala hatte auch die Familie Carrillo rechtzeitig vor dem Untergang König Pedros I. das Lager gewechselt und ihre sichere gesellschaftliche und ökonomische Stellung in Córdoba unter den Trastámaras bewahren können. Da sich jedoch Leonor weiterhin dem politischen Lager der „petristas“ verbunden fühlte und ihre Meinung offen kund tat, wurde ihre Anwesenheit im Haushalt ihrer Tante von vielen weiblichen Familienmitgliedern sehr kritisch betrachtet und konnte sogar für die Carrillos eine Gefahr in dieser Phase des Umbruchs und der Konsolidierung der Herrschaft der neuen Dynastie darstellen.28 Bezeichnenderweise erwähnte Leonor ihren erfolglosen und gescheiterten Gatten seit dem Zeitpunkt seiner Heimkehr nicht mehr, obwohl sie in den folgenden Jahren eine Familie gründeten und mehrere Kinder bekamen. Nach 1386 fand ein Rollenwechsel statt, Leonor wurde zur führenden Kraft in dieser Familie und zu deren faktischem Oberhaupt und bestimmte das Schicksal der Ihren in den folgenden Jahrzehnten. Leonor sah sich gezwungen aktiv zu werden, geschlechtsspezifische Grenzen zu überschreiten und als Frau in der Öffentlichkeit als „Managerin“ ihrer Familie aufzutreten. Im Hinblick auf ihre eigene Familie väterlicherseits übernahm sie nach dem Tod ihrer Brüder im Gefängnis gleichfalls die eigentlich einem Mann zustehende Führungsrolle sowie die persönliche Verantwortung für den gesellschaftlichen und ökonomischen Wiederaufstieg ihrer Familie. Diese von den Zeitgenossen als „männlich“ bzw. „ungebührlich“ angesehenen Charakterzüge und Handlungsweisen trugen Leonor viel Kritik gemischt mit offenkundigem Neid ein, jedoch auch die sehr stark ausgeprägte Aufmerksamkeit seitens der zeitgenössischen Historiographen. Obwohl keine Details über Leonors Aktivitäten am Königshof aus autobiographischer Perspektive vorliegen, unterstreichen die negativen Urteile seitens ihrer Umwelt jedoch die herausragende und als unstattgemäß angesehene Rolle, die sie am kastilischen Hof einnahm. Diese Zeugnisse belegen den gesellschaftlichen und politischen Erfolg, den sie aus eigener Kraft, unter Überwindung aller Widrig-
28 Bellido Bello: Autobiografía, S. 385-393; Cabrera Sánchez: Destino S. 214f.; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 20; López de Ayala: Crónicas, S. 598-603 zur Schlacht.
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keiten und aller Krisen und wiederholten Rückschlägen zum Trotz erzielen konnte. In jenen Jahren nach der Freilassung, als Leonor unermüdlich für den gesellschaftlichen und ökonomischen Wiederaufstieg ihrer Familie kämpfte, hatte unter der Herrschaft von König Juan I. (1379-1390) Pero López de Ayala die letzte gravierende, persönliche Krise zu gegenwärtigen. Bereits 1379 war er von Enrique II. zum „merino mayor“ von Guipúzcoa ernannt worden. Unter dessen Sohn setzte er seine diplomatische Karriere erfolgreich besonders in Frankreich und am päpstlichen Hof fort, um die Rolle der Trastámaras im außenpolitischen Mächtegefüge Europas zu sichern sowie den französischen König Charles VI. derart erfolgreich zu beraten, dass der Monarch sowohl ihm als auch seinem ältesten Sohn eine Pension auf Lebenszeit zusicherte. Vergeblich war jedoch Ayalas Versuch, Juan I., der Ansprüche auf den portugiesischen Thron erhob, von der militärischen Invasion Portugals abzuhalten, die 1385 mit der bereits im Zusammenhang mit Leonors Gatten erwähnten verheerenden Niederlage Kastiliens bei Aljubarrota und der Gefangennahme von Pero endete.29 Diese verlorene Schlacht zerstörte nicht nur Kastiliens Ambitionen auf eine Union mit Portugal und löste eine erneute politische Krise aus, sondern zeigte überdies direkte Folgen für das Leben Ayalas, der nach der Niederlage von Nájera die zweite Gefangenschaft seines Lebens zu bewältigen hatte. Dieses Ereignis hatte auf den reifen Mann, etablierten Politiker, Historiographen und Literaten eine viel größere Wirkung als die erste Gefangennahme in seinen Jugendjahren. Er entwickelte wirksame literarische Mechanismen, um Krisen, die auf persönlicher Ebene verliefen, aber im Falle der Schlacht von Aljubarrota auch sein politisches Wirken tangierten, zu verarbeiten. In seiner Chronik betonte er ausdrücklich, dass er König Juan I. vor dieser leichtsinnigen Militärkampagne vergeblich gewarnt hatte, um zu verdeutlichen, dass er keine Schuld an den Ereignissen trug, sondern politische Weitsicht bewiesen hatte. Beide Gefangenschaften verarbeitete er überdies zusätzlich auf persönlicher Ebene in seiner Dichtung, dem berühmten „Rimado de Palacio“, in dem autobiographische Elemente, Gesellschaftskritik und -satire verwoben wurden. In diesem Werk stellte der desillusionierte Ayala sehr deutlich in didaktisch-moralisierender Weise die Krisen und Probleme der Gesellschaft seiner Zeit dar und führte deren Dysfunktionalität auf moralische Schwächen der Handelnden zurück.30
29 Hoegen: Entwicklung, S. 82f.; Alvarez Palenzuela: Historia, S. 696f.; Coelho, M. H. da Cruz: D. João I, Lissabon 2008, S. 107-118 sowie López de Ayala: Cronicas, S. 598-603 ausführlich zur Schlacht von Aljubarrota und der Krisensituation in Kastilien und Portugal. 30 Zur persönlichen Krisenbewältigung, zu Aljubarrota und zum Schisma im „Rimado de Palacio“ auch ausführlich Franco Silva, A./Romero Tallafigo, M.: „Un testimonio de la crisis de la sociedad feudal en el siglo XIV: el ‚Rimado de Palacio‘ de P. López de Ayala“, in: Hispania 41 (1981), S. 485-513. In der Forschung
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Über diese wohl mehr als zweijährige Gefangenschaft in Portugal liegen unterschiedliche Berichte hinsichtlich ihrer Dauer und Art vor. Ein Zeugnis, das wahrscheinlich in den Bereich des Fiktiven einzuordnen ist, um die Härte seines Schicksals zu unterstreichen, besagt, dass Ayala, um nicht erkannt zu werden, das Schlachtfeld als Bettler verkleidet verließ und sich nach Santarem begab, wo er jedoch enttarnt und fünfzehn Monate in einen eisernen Käfig eingesperrt wurde. Jedoch ist belegt, dass seine nicht näher spezifizierten Haftbedingungen schon bald gelockert wurden, als er nach eigenen Angaben auf die Burg von Obidos verlegt wurde, wo er die Muße hatte, Teile des bereits erwähnten „Rimado de Palacio“ sowie ein Werk über die Vogeljagd, „El libro de la caza de las aves“, zu verfassen. Dieses letztere Werk, das er seinem langjährigen, engen Freund Gonzalo de Mena y Roelas (†1401), dem damaligen Bischof von Burgos und späteren Erzbischof von Sevilla, mit dem er nicht nur bereits viele Jagdpartien unternommen hatte, sondern in späteren Jahren gemeinsam im königlichen Rat während der Minderjährigkeit Enriques III. wirken sollte, aus der Gefangenschaft übersenden konnte, ist als eine Reminiszenz an sein großes literarisches Vorbild Don Juan Manuel zu sehen. In diesem Buch greift er ausführlich auf persönliche Erinnerungen an Reisen auf der Iberischen Halbinsel, nach Frankreich zurück und beschreibt ebenfalls seine Gespräche über die Jagd mit Reisenden aus Skandinavien, Asien und Afrika, was sicherlich dazu beitrug, besser mit den Bedingungen der Gefangenschaft umgehen zu können und der Enge des Gefängnisses zumindest virtuell zeitweise entfliehen zu können.31
wird mehrheitlich die Meinung vertreten, dass Ayala in der traditionellen mittelalterlichen Denkweise verhaftet blieb und keinerlei Einflüsse des italienischen Humanismus erkennbar sind. 31 Zur Gefangenschaft u.a. Hoegen: Entwicklung, S. 82; Orduna: Introducción, S. 23-25 mit Verweis auf die in der Familiengenealogie enthaltenen Details zur Gefangenschaft; Silva: Testimonio, passim; López de Ayala, P.: Libro de la caça de los aves, hg. von J. G. Cummins, London 1986, S. 11-23 zur Entstehungsgeschichte. Gómez Redondo: Historia, S. 2036-2049 zum „Libro de la caza de los aves“ und ebd., S. 2037 zu seiner Anlehnung an das „Libro de la caza“ des Infante Don Juan Manuel, des berühmtesten Vertreters der höfischen Literatur Kastiliens und der „cortesía nobiliaria“. Gómez Redondo bezeichnet Ayala als letzten Vertreter der am Hofe von Alfonso XI. vertretenen „cortesía nobiliaria“, der an den tradierten Idealen der höfisch-ritterlichen Welt trotz deren Zerbrechen unbeirrbar festhielt. Dieses kulturelle Konstrukt diente unter Alfonso XI. besonders dazu, den rebellischen Adel zu befrieden und ihn durch verschiedene regulierende Maßnahmen an den Königshof zu binden und eine Ideologie der Treue zur Monarchie zu entwickeln. König Enrique II. hingegen entwickelte dieses Konzept weiter, nutzte jedoch gemeinsam mit seinem Chronisten Ayala die ritterliche Ideologie dergestalt, dass im Nachhinein Pedro I. ein Vergehen gegen diese vorgeworfen werden konnte, so dass die Legitimität der Herrschaft des ersten Trastámara begründet werden konnte. Ayala war der Chronist der Trastámaras, der –
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Ein Beleg für das hohe Ansehen, das Ayala nicht nur in Kastilien, sondern auch in den befreundeten europäischen Reichen genoss, zeigt sich in der Tatsache, dass nicht nur seine Gattin und der kastilische König, sondern auch der französische Monarch sich für den Gefangenen verwendeten und an der Zahlung des sehr hoch angesetzten Lösegeldes beteiligten. Seit 1389 ist Pero wieder in den Diensten Kastiliens nachzuweisen.32
4. Leonor und Pero am Königshof der Trastámaras – Kontinuität, Wiederkehr und neuerliche Krisen Die späten achtziger und beginnenden neunziger Jahre des 14. Jahrhunderts sollten eine erneute Wende im Leben von Leonor López de Córdoba darstellen, während Pero López de Ayala seine politische Laufbahn kontinuierlich ohne weitere Unterbrechungen fortsetzte und auf den Höhepunkt seiner Karriere zusteuerte. Beide trafen nach vielen Jahren erneut am königlichen Hof zusammen. Leonor konnte von dem Erscheinen einer Frau auf der politischen Bühne Kastiliens profitieren, die für ihr weiteres Leben von entscheidender Bedeutung sein sollte. Catalina von Lancaster (1373-1418), die Enkelin König Pedros I., Tochter von Constanza von Kastilien und dem Herzog von Lancaster, John of Gaunt, wurde 1388 mit König Enrique III. verheiratet, um eine Versöhnung der verfeindeten Parteien, der Trastámaras und der „petristas“, herbeizuführen und die Krise im Inneren zu beenden. An diesem Ereignis war Ayala maßgeblich beteiligt, da er 1388 in Bayonne die entscheidenden Verhandlungen mit Catalinas Vater, John of Gaunt, dem Herzog von Lancaster, geführt hatte, der seit Jahren im Namen seiner Gattin Ansprüche auf den kastilischen Thron erhoben hatte.33 Nach dem Tod Juans I., der 1390 unerwartet das Opfer eines Reitunfalls in Alcalá de Henares geworden war, setzte Pero López de Ayala seine Karriere als Mitglied des königlichen Regentschaftsrats während der Minderjährigkeit von König Enrique III. (1390-1406) fort und übernahm zahlreiche wichtige diplomatische Missionen, beispielsweise 1392 und 1393 nach Portugal, 1394, 1395 und 1396 nach Frankreich und Avignon. Überdies wurde er 1393 erneut „alcalde mayor“ von Toledo und erreichte 1398 mit der Ernennung zum „canciller mayor“ des Königreichs den Höhepunkt seiner politischen Macht. Nach der Jahrhundertwende trat er seltener ins politische
obwohl in seinem Denken immer noch der untergangengen Welt verhaftet – dennoch zur Etablierung der neuen politischen und sozialen Ordnung Kastiliens maßgeblich beitrug. 32 Vgl. hierzu auch Garcia: Obra, S. 364; Hoegen: Entwicklung, S. 82f., Orduna: Introduccíon, S. 23f. 33 Hoegen: Entwicklung, S. 82f.; Goodman: John, S. 130-138.
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Rampenlicht. Ayala widmete sich in den ihm verbleibenden Jahren verstärkt seinen historiographischen und literarischen Arbeiten. Er setzte beispielsweise die von seinem Vater begonnene, kommentierte Familiengenealogie bis 1400 fort, um die Bedeutung seiner Familie zu unterstreichen und ihr Selbstbewusstsein durch die Anknüpfung an hochgestellte adlige Vorfahren und Traditionen zu illustrieren.34 Überdies zog sich Ayala immer wieder für längere Zeiten in das Hieronymitenkloster von San Miguel de Monte zurück, das 1398 von seinem Schwager, Juan de Guzmán, dem Bischof von Calahorra, gegründet worden war. Dort widmete er sich der Schriftstellerei, arbeitete an seinen Gedichten, an seinen Chroniken, in denen er Kastilien auf der Basis der von ihm vertretenen Ideale der ritterlichen Gesellschaft charakterisierte und übersetzte zahlreiche weitere Werke, u.a. von Titus Livius, für ein gelehrtes Publikum von der Originalsprache und einer ihm vorliegenden französischen Vorlage ins Kastilische.35 Er blieb trotz aller Krisen den traditionellen Werten und Normen der ritterlichen Gesellschaft verbunden und hoffte auf deren Fortbestand. Die Produktion von Literatur und der Umgang damit war für ihn didaktisches Mittel, um seine Botschaft den gebildeten Zeitgenossen und der Nachwelt zu überliefern. Auf seinem Grabmal ließ er sich auf eigenen Wunsch ausdrücklich in Ritterrüstung darstellen, um diese Verbindung zu untermauern.36 Peros Neffe Fernán Pérez de Guzmán (ca. 1377/79 – ca. 1460) überlieferte der Nachwelt ein kurzes Portrait Ayalas, das seine wesentlichen Leistungen positiv würdigte. Er beschreibt ihn als schlank, hochgewachsen, als intelligenten, erfahrenen Politiker, der mehreren Königen diente, in zwei Schlachten gefangen genommen wurde, sanftmütig, gottesfürchtig und gewandt in der Konversion war, die Wissenschaften, die Literatur und die Geschichte liebte, lieber Geschichtswerke und Philosophie als Recht studierte, etliche Werke in Übersetzung in Kastilien einführte sowie eigene Werke
34 Orduna: Introduccíon, S. 9f.; Garcia: Obra, 7-15; Adams: Vida, S. 18-21f. Zur Minderjährigkeit von Enrique III. auch Suárez Fernández, L.: „Problemas políticos en la minoridad de Enrique III“, in: Hispania 47 (1952), S. 163-231, S. 175 Anm. 27 zu Ayala als Mitglied des Regentschaftsrats. 35 Vgl. hierzu besonders Hoegen: Entwicklung, S. 85; Wittlin, C. J.: „Hacía una edición crítica de la traducción de las Décadas de Tito Livio hecha por Pero López de Ayala“, in: Revista canadiense de estudios hispánicos 1, 3 (1977), S. 297306 mit Angaben zum Einfluss des päpstlichen Hofes in Avignon auf den Bildungshorizont von Pero sowie auch Gingras, G. L.: „López de Ayalaތs Crónica del Rey Don Pedro: The Politics of Chivalry“, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos, 16, 2 (1992), S. 187-201, bes. S. 196ff. zu seinem Umgang mit der Krise in Kastilien. 36 Lahoz: Torno, S. 295f. Die kunsthistorisch bedeutenden Grabmäler sind in einer führenden Werkstatt in Toledo entstanden und weisen deutliche Ähnlichkeiten zu den Königsgräbern in der dortigen Kathedrale auf.
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verfasste. Lediglich ein leichter Kritikpunkt wird von seinem Neffen angebracht, da Ayala seiner Meinung nach die Frauen mehr liebte, als es einem solch weisen Ritter zustand.37 Bereits zwischen 1396 und 1398 hatte López de Ayala, der sich in seinen Schriften immer mehr mit der „vanitas“ und der Suche nach dem eigenen Seelenheil beschäftigt hatte, im von seinem Vater gestifteten Dominikanerinnenkloster von San Juan de Quejana eine eigene Kapelle, die Capilla del Cabello, als Grablege für sich und seine Nachkommen errichten lassen. 1396 gab er ein Altarbild mit Szenen aus dem Leben Marias, der Kreuzigung und der Auferstehung Jesus ތin Auftrag, auf dem er selbst, sein Sohn Férnan in Begleitung des heiligen Blasius, seine Frau Leonor und seine Schwiegertochter María in Begleitung des Thomas von Aquin sowie in einer weiteren Szene sein Sohn Pedro und seine Schwester María Ramírez neben dem Kreuz kniend dargestellt wurden.38 Es handelt sich um ein wichtiges, programmatisches Selbstzeugnis, das das Selbstverständnis von Pero López de Ayala spiegelt, der 1407 in Calahorra eventuell im Kloster von San Miguel de Monte verstarb, anschließend aber in der von ihm errichteten Kapelle in einem von ihm selbst für sich und seine Gattin in Auftrag gegebenen Doppelgrab bestattet wurde.39 Die 90er Jahre des 14. Jahrhunderts können im Leben von Leonor López de Córdoba trotz einiger Rückschläge und Krisen dennoch als ein Jahrzehnt ihres sozialen Wiederaufstiegs bezeichnet werden. Sie hatte ihr Ziel einer Rückkehr an den Königshof nie aus den Augen verloren. Zunächst jedoch war sie damit beschäftigt gewesen, den Wohlstand ihrer Familie zu sichern und diese aus der Abhängigkeit von den Almosen ihrer Verwandten zu befreien, was jedoch nicht reibungslos gelang. Aus ihren Aufzeichnungen geht hervor, dass sie zunächst allerlei Widrigkeiten zu überwinden hatte, zu denen auch Intrigen missgünstiger Verwandter und Bediensteter der Familie Carrillo sowie der Tod einer Dienerin, in den die zornig reagierende Leonor verwickelt war, zählten. Sie bereute schon wenig später ihre Tat, entrichtete
37 Pérez de Guzmán, F.: Generaciones y semblanzas, hg. von J. Domínguez Bordona, Madrid 1965, S. 37-39. Pérez de Guzmán verweist auf die mögliche Abstammung der Familie Ayala von einem Infante und gibt als Quelle für diese Behauptung Fernán López de Ayala an. 38 Zu diesem Altarbild, das im Original im Art Institute in Chicago und in einer Kopie in Quejana ausgestellt wird, auch R. M. F.: „A Fourteenth Century Spanish Retable and Altar Frontal“, in: Bulletin of the Art Institute of Chicago, 20, 7 (1926), S. 95-99 mit der Bemerkung, dass es sich bei dem Maler wohl um einen lokalen Künstler aus Navarra handelte, der noch nicht die Qualität zeitgenössischer italienischer Altarbilder liefern konnte. Stilistisch ähnliche Werke finden sich im Kloster der Kathedrale von Pamplona. 39 Lahoz: Torno, S. 291, Anm. 37, S. 295, Anm. 50 sowie S. 292, Anm. 42 mit einem Hinweis auf Peros Gattin Leonor, die auf eigenen Wunsch nicht in diesem Grab bestattet wurde, sondern im Kloster San Francisco de Vitoria.
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zahlreiche Gebete und nahm als Wiedergutmachung ein jüdisches Waisenkind zu sich, das die seit 1391 in Andalusien wütenden Pogrome überlebt hatte, ließ es auf den Namen Alonso taufen und christlich erziehen. Einige Jahre später wurde Leonor von ihrer Tante mit einem Grundstück bedacht, auf dem sie mit geliehenem und selbst erwirtschaftetem Geld ein herrschaftliches Haus mit Nebengebäuden errichten sowie die ehemaligen Bediensteten ihres Vaters wieder einstellen konnte.40 Somit war es ihr allein – ihren Gatten erwähnte sie nicht – gelungen, ihrer Familie ein neues Heim zu geben und die grundlegende finanzielle Krise zu überwinden. Aber der Ehrgeiz Leonors war nicht gestillt. Als sich 1396 das junge Königspaar in Córdoba aufhielt, nahm sie sehr wahrscheinlich direkten Kontakt zu ihm auf und knüpfte als loyale „petrista“ erste Verbindungen zu Enrique III. und Catalina, die sich mehr und mehr mit zahlreichen Vertrauten ihres Großvaters umgab. Wenig später erhielt Leonor vom König eine Schenkungsurkunde über einen städtischen Seifenladen, der ihrer Familie ein zusätzliches Einkommen sicherte und ihren wirtschaftlichen Wohlstand mehrte.41 Der Weg zurück an den königlichen Hof verlief jedoch keineswegs geradlinig, da Leonor schon einige Zeit später abermals eine lebensbedrohliche Krise durchlebte, die Pest. Mit ihrer Familie, der Familie ihrer Tante und weiteren Verwandten floh sie aus Córdoba, zunächst in das Haus des von ihr geretteten, ehemals jüdischen Jungen namens Alonso, anschließend gemeinsam mit ihm zu weiteren Verwandten nach Aguilar. Dort erkrankte der bereits infizierte Alonso an der Pest. Sie ließ ihn von dreizehn Dienern pflegen, die sich jedoch alle ansteckten und verstarben. Die sehr pragmatisch und nüchtern veranlagte Leonor fühlte sich aufgrund ihrer Beteiligung am Tod der Bediensteten verpflichtet, unter allen Umständen das Leben Alonsos zu retten und paktierte nach eigenen Angaben mit Gott, den sie darum bat, das Leben der Ihren zu verschonen und falls das nicht möglich sei, ihren ältesten Sohn zu sich zu nehmen, da er ohnehin schon kränklich war. Der zwölfjährige Juan übernahm daraufhin auf ihren Befehl die Pflege Alonsos, steckte sich an und verstarb. Die übrigen Familienmitglieder überlebten. Leonor ließ ihren ältesten Sohn auf einem vor der Stadt liegenden Friedhof beerdigen und konnte somit das Erbe für ihren jüngeren und gesundheitlich robusteren Sohn Martín bewahren. Jedoch war der Bruch mit ihren Verwandten in Aguilar, die nicht akzeptierten, dass sie für den zum Christentum konvertierten Alonso ihren Sohn geopfert hatte, unvermeidlich. Selbst ihre Tante, die sich immer für sie verwendet hatte, konnte nicht verhindern, dass Leonor unmittelbar nach der Beerdigung des Hauses verwie-
40 Alvarez Palenzuela: Historia, S. 701f. zu den Pogromen, die 1391 von Andalusien ausgehend, auf ganz Kastilien und schließlich auf die Corona de Aragón übergriffen. Hierzu auch Ruíz: Spain, S. 159-161; Bellido Bello: Autobiografía, S. 388-390; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 20ff. 41 Bellido Bello: Autobiografía, S. 278; Cabrera Sánchez: Destino, S. 221 zur Schenkung des Seifenladens.
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sen wurde und in das immer noch von der Pest heimgesuchte Córdoba zurückkehren musste. Es dürfte sich um einen Zeitpunkt um 1400 gehandelt haben, an dem mit dieser Rückreise nach Córdoba die Aufzeichnungen abbrechen.42 Bemerkenswert, aber letztendlich nicht überraschend ist, dass auch dieser neuerliche familiäre Konflikt Leonor nicht aus der Bahn werfen konnte, sondern sie in ihrem Vorhaben, an den königlichen Hof zurückzukehren, eher noch bestärkte. Es ist auf der Basis der neueren Forschung davon auszugehen, dass sie zur Vorbereitung ihrer Rückkehr an den königlichen Hof, die eventuell kurz nach 1396 erfolgte, ihre Aufzeichnungen wahrscheinlich an Königin Catalina übersandte, um auf alte familiäre und soziale Bindungen zu verweisen und als Tochter eines der engsten Getreuen König Pedros wieder Eingang in die königliche Machtsphäre zu erlangen. Die folgenden Jahre verbrachte sie in prominenter Stellung, beispielsweise als „camarera“ zumeist am Königshof im Haushalt von Königin Catalina gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Bruder Alvaro, der als Beichtvater der Königin fungierte.43 Es ist durchaus denkbar, dass ihr Gatte Ruy in Córdoba verblieb und den dortigen Besitz verwaltete. Nach dem Tod König Enriques III. (†1406) wurde das Verhältnis zur Königin, die immer mehr Vertraute aus dem Umfeld der „petristas“ an sich band, noch enger. Leonor fungierte seitdem in sehr privilegierter Stellung als offizielle „privada“ Catalinas, eine Position, die in der Vergangenheit lediglich im Umfeld der kastilischen Monarchen zu finden war, die sich mit männlichen Günstlingen umgaben. Catalina von Lancaster und ihr Schwager Fernando de Antequera, der 1412 die aragonesische Krone erbte, wirkten als Regenten für den minderjährigen Juan II. und lieferten sich erbitterte Auseinandersetzungen.44 Diese für eine Frau außergewöhnliche Position trug Leonor viele Neider ein, die beharrlich auf ihren Sturz hin arbeiteten. Leonor befand sich während der Regentschaft Königin Catalinas auf dem Höhepunkt ihrer politisch-
42 Bellido Bello: Autobiografía, S. 390-393; Ayerbe-Chaux: Memorias, S. 23ff.; Deyermond: Spain, S. 33-36. 43 Hierzu überzeugend zuletzt Bellido Bello: Autobiografía, S. 269, 271-278 sowie Echevarría, Catalina S. 126; González Sánchez: Corona, S. 313-320, der Leonors Aufenthalt am Hof seit 1396 annimmt, wo sie verschiedene Ämter bekleidete. 44 Zu Leonors Ämtern am Hof u.a. Echevarría, Catalina, S. 119, 124-134; González Sánchez, S.: „El Consejo Real de Castilla durante la minoría de Juan II“, in: En la España Medieval, 34 (2011), S. 181-214, 210f. zu Leonor; ebenso Pelaz Flores, D.: „Jaque a la reina: cuando la mujer se convierte en un estorbo político“, in: Miscelánea Medieval Murciana, 35 (2011), S. 177-187 sowie generell Hirschbiegel, J./W. Paravicini (Hg.): Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (Residenzenforschung 17), Ostfildern 2004. Zu Fernando de Antequera auch Macdonald, I. I.: Don Fernando de Antequera, Oxford 1948.
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en und sozialen Macht, die jedoch von den männlichen Zeitgenossen sehr kritisch betrachtet wurde, wie aus den Chroniken hervorgeht. In jenen Jahren, als Catalina und ihr Schwager Fernando de Antequera gemeinsam als Regenten für den minderjährigen Juan II. fungierten, betonen die Chronisten, dass die Königin keine Entscheidung ohne Leonor traf, die von ihr selbst in Briefen als „Mutter“ bezeichnet wurde. Eine Verbannung vom Hof durch Fernando de Antequera erfolgte eventuell kurz nach 1408, um ihren Einfluss auf die Königin drastisch einzuschränken. 45 Zu bemerken ist, dass Catalina in jenen Jahren weitere Frauen aus Familien der „petristas“ als Beraterinnen an ihren Hof holte, unter ihnen eine Verwandte von Pero López de Ayala, Teresa de Ayala, Priorin von Santo Domingo el Real in Toledo, eine ehemalige Geliebte Pedros I. und deren gemeinsame Tochter María, die als Nonne in jenem Konvent lebte sowie eine weitere uneheliche Tochter ihres Großvaters Pedros, Constanza, die Jahre später ebenfalls Priorin in Santo Domingo el Real wurde.46 Trotz aller Konflikte, die durch Fernando de Antequera heraufbeschworen wurden, konnte Leonor ihren Einfluss am Hof wieder konsolidieren. Ein wichtiger Schritt hierzu, der überdies die wiedererlangte Bedeutung ihrer Familie am Hofe unterstrich, war die zwischen 1409 und 1411 erfolgte Vermählung ihrer Tochter Leonor mit Juan de Guzmán, einem Sohn des einflussreichen ersten Grafen von Niebla aus seiner Ehe mit einer unehelichen Tochter König Enriques II. Mithilfe der Königin, die sich überaus großzügig beteiligte, stattete sie ihre Tochter mit einer sehr hohen Mitgift aus. Diese Ehe bedeutete nicht nur eine Stärkung der Machtposition ihrer Familie in Andalusien, sondern etablierte gleichzeitig erstmals politisch bedeutsame verwandtschaftliche Bindungen an die Trastámaras. Leonors Schwiegervater hatte diese Grafschaft von Enrique II. als Belohnung für seine treuen Dienste in den
45 González Sánchez: Corona, S. 313-320, der von einer 1408 erfolgten Verbannung vom Hof auf Veranlassung Fernando de Antequeras spricht; hierzu auch Echevarría: Catalina, S. 124-134, die von einer Verbannung im Jahr 1409 ausgeht, aber von fortwährenden engen Kontakten zwischen Catalina und Leonor spricht. Estow: Leonor, S. 37, vermutete ein lesbisches Verhältnis zwischen Leonor und Catalina. Ihre Ansicht ist jedoch rein spekulativ, da auch die offiziellen Hofchroniken, die Catalina und besonders Leonor keineswegs wohlgesonnen waren, keinerlei Hinweise in diese Richtung geben. Hierzu jedoch zuletzt auch Hutcheson, G. S.: „Leonor Lopez de Cordoba and the Configuration of FemaleFemale Desire“, in: Same sex love and desire among women in the Middle Ages, hg. von F. Sautman u. P. Sheingorn, New York 2001, S. 251-275. 46 Vgl. zu Constanza de Castilla auch Barrios Sotos, J. L.: Santo Domingo el Real y Toledo a fines de la Edad Media (1364-1507), Toledo 1997, S. 148f.; zum weiblichen Umfeld auch García Rey, C.: „La famosa priora doña Teresa de Ayalá“, in: Boletín de la Real Academia de Historia 96 (1930), S. 734-773.
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Kämpfen gegen Pedro I. erhalten.47 Leonor trug durch die Eheschließung ihrer Tochter persönlich dazu bei, eine verwandtschaftliche Bindung von „petristas“ und Trastámara-Anhängern aufzubauen sowie die überlebenden Anhänger der gestürzten Dynastie und die im sozialen Aufstieg begriffenen Familien der „nobleza nueva“ zu versöhnen. Strategische Eheschließungen waren ein probates Mittel zur Beendigung der seit Jahrzehnten andauernden Konflikte und Krisen im kastilischen Adel. Die Festigung der Trastámara Herrschaft in den Jahren nach 1369 bot dem zerrütteten Königreich eine neue Chance. Ähnlich wie Pero López de Ayala war Leonor bestrebt, die Memoria ihrer Familie und ihrer Vorfahren zu sichern. Daher stiftete sie dem ihr eng verbundenen Dominikanerkloster San Pablo in Córdoba 1409 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere die bis heute erhaltene Kapelle als Familiengrablege.48 Ihr Leben am königlichen Hof war trotz aller Erfolge immer wieder ein Kampf gegen Widersacher, gegen aufkeimende Intrigen, die schließlich zu einer finalen Krise in ihrem bewegten Leben führen sollten. Es ist nicht bekannt, ob Pero López de Ayala in ihren ersten Jahren am Hof zu ihren Gegnern zählte, zum Zeitpunkt ihres definitiven Sturzes war er hingegen bereits verstorben. Wie schon Königin Catalina hatte auch Leonor auf enge Vertraute gesetzt und eine junge Adlige, Inés de Torres, und einen charakterlich als zwielichtig beschriebenen Mann namens Fernán Alonso de Roblés, der zunächst einfacher Schreiber war, an den Hof geholt. Inés wurde Hofdame, Fernán Sekretär von Königin Catalina. Beide zettelten eine Intrige gegen Leonor an, die zu ihrem Sturz führen sollte. Offenbar war auch der Schwager der Königin, der Mitregent Fernando de Antequera, eng in diese Machenschaften verwickelt und spielte ein doppeltes Spiel, wie aus verschiedenen Dokumenten hervorgeht. Es ist nicht überliefert, welche Beschuldigungen fälschlich gegen Leonor erhoben wurden, jedoch war Catalina derart aufgebracht, dass sie Leonor im Einvernehmen mit dem königlichen Rat vor 1412 des Hofes verwies. Die ehemalige „privada“ blieb jedoch nur einige Zeit in Córdoba und plante eine überraschende Rückkehr an den Hof, um eine Versöhnung mit Catalina zu erreichen. Jedoch hatte sich Leonor in diesem Fall verschätzt, da Inés de Torres und Fernán Alonso de Roblés einen großen Einfluss auf die Königin hatten gewinnen können. Der Zorn Catalinas, die sich in Toro aufhielt und von den Reiseplänen Leonors erfuhr, war derart, dass sie einerseits Pero López de Ayala, dem Haushofmeister ihres
47 „Crónica del rey don Juan Segundo de Castilla e de León, de Fernán Pérez de Guzmán“, in: Crónicas de los Reyes de Castilla, 2, hg. von C. Rosell (Biblioteca de Autores Españoles 68), Madrid 1953, S. 340 zu dieser Ehe; ebenso auch Cabrera Sánchez: Destino S. 217f.; Bellido Bello: Autobiografía, S. 263. 48 Bellido Bello: Autobiografía, S. 263; ebenso ausführlich Lacarra, M. J.: „La última etapa en la vida de Leonor López de Córdoba: de las „Memorias“ a sus disposiciones testamentarias“, in: Revista de Literatura Medieval 21 (2009), S. 195218.
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Sohnes Juan II. und gleichnamigen Sohn des verstorbenen Kanzlers befahl, seine Leute auszusenden, Leonor auf dem Weg von Córdoba an den königlichen Hof aufzuhalten, ihr Gepäck zu beschlagnahmen sowie sie gefangen zu setzen. In einem Nachtrag zu diesem Schreiben befahl sie diese Vorgehensweise erst, falls Leonor nach zweimaliger Aufforderung, die Rückreise nach Córdoba anzutreten, an ihrem Vorhaben festhalten sollte. Auch dieser vergebliche Versuch entmutigte Leonor, die bereits schwerwiegendere Krisen gemeistert hatte, nicht. Sie kehrte zunächst nach Córdoba zurück, versuchte dann ihre Kontakte einzusetzen und mithilfe Fernandos de Antequera, der ihr noch aufgrund von Vermittlungstätigkeiten zu seinen Gunsten in finanziellen Angelegenheiten verpflichtet war, unter dessen Schutz an den Hof zurückzukehren, um die Intrige aufzuklären. Fernando versprach ihr in einem Schreiben ein Treffen in Cuenca. Catalina erhielt Kenntnis von diesem Plan und ließ erklären, dass sie im Falle einer Rückkehr Leonor verbrennen lassen würde. Erst zu diesem Zeitpunkt erkannte die Adlige bei ihrer Ankunft in Cuenca und nach Gesprächen mit dem Infante, dass ihr Sturz irreversibel war und keine Chance auf eine Versöhnung mit der Königin bestand. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine definitive Niederlage erlitten, konnte jedoch ihr Leben und ihren Besitz retten. Sie zog sich endgültig in ihre Heimat Córdoba zurück. Ihre Verwandten verloren ebenfalls ihre privilegierten Stellungen und mussten den Hof verlassen.49 Leonor López de Córdoba überlebte sowohl Fernando de Antequera (†1416), der 1412 im Jahr die aragonesische Krone geerbt hatte, als auch
49 Hierzu ausführlich Echevarría: Catalina, S. 131, 137, 138, 192, 201; Crónica Juan Segundo, S. 344 auch Pérez de Guzmán: Generaciones, S. 105-108 widmete ein Kapitel Fernán Alfonso de Roblés, dem er einen schlechten Charakter attestierte und den er als Gegenmodell zu den heroischen, edlen Gestalten seines Werks darstellte, um die Unzulänglichkeiten und Laster der zeitgenössischen kastilischen Gesellschaft zu betonen. Er unterstrich, dass Leonor Roblés den Posten als Sekretär der Königin beschaffte, die vollständig unter seinen Einfluss geriet. Er kritisierte heftig, dass die Königin von einem solchen Mann niederer Herkunft und einer als unanständig und leichtfertig charakterisierten Frau wie Leonor López de Córdoba beherrscht werden konnte. Catalina wird in einem kurzen Porträt, ebd., S. 19, negativ als sehr korpulente, hoch gewachsene, rothaarige Frau dargestellt, die mehr einem Mann als einer Frau ähnelte und am Ende ihres Lebens durch die Folgen von Schlaganfällen gesundheitlich sehr beeinträchtigt war. Der Verweis auf eine angebliche männliche Erscheinung findet sich häufig in der Charakterisierung von Frauen, die geschlechterspezifische Grenzen überschritten. Deutlich positiver fallen hingegen seine Porträts von Enrique III. und Fernando de Antequera aus, vgl. ebd., S. 11-18, S. 21-29. Vgl. zu Inés de Torres und Roblés, ihren Intrigen und ihrem weiteren Lebensweg auch Crónica Juan Segundo, S. 344, 372; Alvaro de Luna Crónica de don Alvaro de Luna, hg. von J. de Mata Carriazo, Madrid 1940, S. 21-26; Pérez de Guzmán: Generaciones, S. 105-108 sowie Barrios Sotos: Domingo, S. 144ff.
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Königin Catalina (†1418).50 Sie konzentrierte sich nach 1412 auf die Mehrung ihres Besitzes und lebte mit ihrem Gatten und ihren Kindern in Córdoba. Bemerkenswert ist die noch zu ihren Lebzeiten von ihr persönlich getroffene Vorsorge für ihr Erbe und ihre Nachkommen, wobei sie offenbar wieder ein gutes Verhältnis zu Catalinas Sohn Juan II. hatte herstellen bzw. bewahren können. Sie bat 1422 zunächst den Monarchen um die Erlaubnis, ein Majorat einrichten zu können, um das Familienerbe zu sichern und die Bedeutung ihrer Familie zu unterstreichen. Da es sich um von ihr erworbenen Besitz handelte, trat sie als Initiatorin auf. Dieses Majorat sollte ihrem Sohn Martín zugutekommen, sobald er seine kirchliche Laufbahn aufgeben und heiraten würde. Jedoch änderte sie wenig später ihre Meinung und erhielt vom Monarchen auf ihre Bitte hin die Möglichkeit, ein zweites Majorat für ihre Tochter Leonor einzurichten, damit diese nicht benachteiligt würde. Es entspricht den von Leonor vertretenen Ansichten und ihren praktizierten Lebensformen, dass sie den Einfluss von Frauen in ihrer Familie und ihrer Verwandtschaft für sehr bedeutsam hielt. Leonor verfügte über sehr umfangreichen Immobilienbesitz an Häusern, Landgütern, Ländereien, weitere landwirtschaftlich, handwerklich oder anderweitig genutzte Gebäude wie Miethäuser, Läden, Backöfen, Wassermühlen, Keltereien und ein Badehaus in Córdoba und in benachbarten Ortschaften. Den bereits erwähnten Seifenladen sowie umfangreichen weiteren Besitz hinterließ sie ihrer Tochter. Überdies besaß sie Immobilien in Castrojeriz, Tordesillas und Segovia und weiteren Orten, die sie in ihren Jahren am Königshof erworben hatte. Es ist bemerkenswert, dass es sich um den einzigen aus dem 15. Jahrhundert in Córdoba überlieferten Fall handelt, in dem eine Frau als verantwortliche Akteurin auftritt und überdies um das einzige Beispiel für eine Einrichtung von zwei Majoraten durch eine Person. Ihre Tochter Leonor jedoch wollte innerfamiliäre Auseinandersetzungen mit ihrem Bruder vermeiden und bat schließlich König Juan II., die Bestimmungen ihrer Mutter wieder rückgängig zu machen, so dass Martín das gesamte Vermögen erhielt und über das nun geeinte Majorat verfügte.51
50 Echevarría: Catalina, S. 167, 191-204 zu Fernandos bzw. Catalinas Tod, zu Leonors letzter Lebensphase besonders Lacarra: Etapa, passim. 51 Cabrera Sánchez: Destino, S. 235. Zu Martíns kirchlicher Laufbahn sowie zu ihrer Tochter Leonor vgl. ebd., S. 215-217. Martín hatte 1410 sicherlich durch Leonors direkten Einfluss von Benedikt XIII. das Archidiakonat von Talavera erhalten. In den folgenden Jahren erhielt er weitere kirchliche Würden und fungierte u.a. als Abt in der Diözese Burgos, als Kanoniker in Avila und noch 1429 als Abt in Santander. Kurz vor oder nach dem Tod seiner Mutter heiratete er um 1430/31 eine reiche Erbin, begann eine politische Laufbahn in Córdoba und unterhielt gute Kontakte zu Juan II., der ihn ebenfalls in verschiedene Ämter brachte. Drei der fünf Kinder ihrer seit 1433 verwitweten Tochter Leonor (†1477) heirateten in den andalusischen Adel ein. Zu Leonors umfangreichem Vermögen, das sie auch nach der Verbannung vom Königshof zu großen Teilen behalten
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Diese wiederum nicht den Normen entsprechende Handlungsweise Leonors fügt sich nahtlos in das Handlungsmuster ein, das sich durch ihr gesamtes Leben zieht. Trotz aller erlittenen Rückschläge im Leben und ihrer irreversiblen Verbannung vom Hof, konnte sie abermals aus eigener Kraft auch die letzte große Krise in ihrem Leben, den Verlust aller Ämter und die Verbannung vom Hof überwinden, ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Position in Córdoba halten und noch deutlich ausbauen, so dass sie als eine sehr wohlhabende und einflussreiche Frau verstarb. Aus Leonors sehr ausführlichem Testament, das sie im Februar 1428 diktieren ließ, als sie bereits krank war, und dem im Juli 1430 ein Zusatz hinzugefügt wurde, sind wichtige Informationen zu ihrem Leben nach 1412 zu entnehmen. Aus ihm geht hervor, dass sich ihr Verhältnis zum Königshof in späteren Jahren wieder deutlich entspannt hatte, da sie ohne Groll die verstorbene Königin Catalina und deren Sohn Juan II. erwähnte, an dessen Hof ihr Sohn verschiedene Ämter innehatte.52 Von besonderer Bedeutung für ihre Memoria war die Jahre zuvor erfolgte Errichtung der bereits erwähnten Familienkapelle im Dominikanerkloster von San Pablo, in der nicht nur ihr Vater, sie selbst, ihr Gatte, ihre Kinder und Nachkommen, aber auch die zum Haushalt gehörenden Bediensteten ihre letzte Ruhestätte finden sollten. Bemerkenswert ist die Stiftung einer Grabkapelle durch eine Frau für ihre eigenen Vorfahren und Nachkommen aus der Linie der López de Córdoba und nicht der Familie Hinestrosa. Leonor legte exakt die Aufstellung der einzelnen Grabmäler fest und machte konkrete Vorgaben für die künstlerische Ausgestaltung, die anzubringenden Inschriften sowie die eigene Beisetzung in aller Stille. Sie war diejenige, die über das entsprechende Vermögen verfügte und daher auch die Möglichkeit hatte, diese Grabkapelle nach eigenen Vorstellungen ausgestalten zu lassen. Ihr Gatte Ruy, der 1411 sicherlich durch ihren Einfluss eines der Ämter als „alcalde mayor“ von Córdoba bekleiden konnte, verstarb vor 1428, Leonor schließlich in der zweiten Jahreshälfte 1430.53
5. Abschlussbemerkungen Die Lebensläufe von Leonor López de Córdoba und Pero López de Ayala weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf. Sie entstammten Familien aus dem mittleren Adel, die jeweils eng in ihren Heimatkonnte, vgl. Cabrera Sánchez: Destino, S. 220-234, zu ihren letzten Verfügungen besonders Lacarra: Etapa. 52 Cabrera Sánchez: Destino, S. 215-217; Lacarra: Etapa, S. 198. 53 Deyermond: Spain, S. 36f.; vgl. zu den Quellen aus Córdoba, die Leonors Tod 1430 belegen, besonders Juan Lovera: Doña Leonor, S. 266f.; Cabrera Sánchez: Destino, S. 214f. und zuletzt Lacarra: Etapa, S. 198-208.
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regionen, Andalusien und dem Baskenland, verwurzelt, aber auch eng mit den Höfen von Alfonso XI. und Pedro I. verbunden waren und konsequent die Chance des sozialen Aufstiegs nutzten, die eine Frontier Society bot. Unter Enrique II. trennten sich ihre Wege, da sie unterschiedlichen politischen Lagern zuzurechnen waren. Die Familie Ayala hatte die dramatische Krisensituation, die durch den Kampf der beiden Halbbrüder Pedro I. und Enrique II. ausgelöst worden war, rechtzeitig dergestalt bewertet, dass ein Parteiwechsel und die problemlose Fortsetzung des sozialen Aufstiegs unter der neuen Dynastie der Trastámaras möglich war, zu deren Legitimation der Hofchronist Pero López in erheblichem Maße beitragen konnte. Ihm selbst gelang eine beispielhafte politische Karriere unter Überwindung zahlreicher, persönlicher Krisen u.a. durch seine schriftstellerische Tätigkeit. Sein Lebensende verbrachte er in seinem heimatlichen Baskenland. Leonor López de Córdoba wurde mit ihrer Familie in den Strudel des Untergangs der Anhänger Pedros I. hineingerissen und musste lange Leidensjahre unter härtesten Bedingungen durchleben, bis es ihr aus eigener Kraft und unter Überwindung genderspezifischer Grenzen gelang, unter Königin Catalina von Lancaster, der Enkelin Pedros I. und Gattin von Enrique III., die Rückkehr an den Hof und eine für eine Frau außergewöhnliche Machtposition zu erreichen. Die Dramatik ihres Lebens wurde durch die endgültige Verbannung vom Hof aufgrund von Intrigen noch gesteigert, ihr Lebenswillle jedoch abermals nicht gebrochen, so dass sie ihr Leben in ihrer Heimat Andalusien als reiche und angesehene Frau beschloss. Leonor und Pero gelang es, ihre gegen Ende der Regierungszeit von Pedro I. zerstörten Lebensentwürfe aus eigenen, unermüdlichen Anstrengungen zu rekonstruieren, jeweils individualisierte Mechanismen der Krisenbewältigung zu entwickeln, um eine sehr erfolgreiche individuelle Karriere in der jeweiligen Heimatregion sowie am königlichen Hof bzw. im Falle von Pero auch auf der europäischen Bühne als Diplomat aufzubauen, wobei die Hürden für Leonor als Frau in einer ihr mehrheitlich feindlich gegenüberstehenden männlich dominierten Gesellschaft ungleich höher waren als für Pero. Ebenfalls gelang es ihnen, die Stellung ihrer Familien zu festigen, deren Reichtum und Einfluss dauerhaft zu mehren und überdies durch ihre Selbstzeugnisse und Memorialstiftungen ein bleibendes Denkmal für sich selbst, ihre Vorfahren und Nachkommen zu hinterlassen. Beide waren tief in der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt verwurzelte Menschen, die die Ideale der untergehenden ritterlich-höfischen Welt hochhielten und fest an die Lösung von Krisen durch Gottes Hilfe unter Einsatz persönlicher Kraft der jeweiligen Individuen glaubten und diese Haltung an der Rekonstruktion ihrer eigenen Lebensentwürfe eindrucksvoll demonstrieren konnten.
Von Ma’at bis zum Firmenlogo Die Waste-Land-Metapher als Narrativ ständiger Krisenbekämpfung B ERNHARD B RAUN And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief, And the dry stone no sound of water. T.S. ELIOT
Jahrhundertelang hatte die altägyptische Kultur das Privileg, in keine äußeren Krisen verstrickt gewesen zu sein. Erst der Einbruch der Hyksos um 1670 löste einen Schock aus. Es war sozusagen das 9/11-Trauma Ägyptens. Bis dorthin war das Land mit sich selbst beschäftigt, mit seinen internen Krisen. Eine davon war die schwärende Bruchstelle Memphis, wo Oberund Unterägypten mehrmals auseinanderbrachen und wiedervereinigt wurden. Über all diesen teilweise begrenzten politischen Querelen hing gleichsam eine Generalbedrohung. Wie alle alten Kulturen basierte die ägyptische auf den Zyklen der Natur, insbesondere dem Lauf der Sonne und dem rhythmischen Befruchtungsakt des Nils durch seine regelmäßigen Überschwemmungen. Leben sicherte dieser Zyklus freilich nur durch stetige Konstanz. Jede Störung dieser Konstanz war damit gleich eine existenzielle, ja kosmische Bedrohung. Gegen ein solches Krisenszenario firmierte eine nachgerade metaphysische Krisenabwehr, welche die kulturelle Identitätsfrage tief tangierte und eine mythisch-philosophische Konstellation schuf, die der europäischen Ideengeschichte nachhaltige Spuren einschrieb. Inspiriert durch die Leitfragen des vorliegenden Bandes habe ich vor, mit großzügiger Geste bis in das alte Ägypten und das antike Griechenland auszuholen: Hier soll an ursprünglichen Mustern die Erzählfigur dessen, was wir inflationär als Krise und Krisenabwehr bezeichnen, in einen kulturgeschichtlichen Kontext gestellt und ihr dadurch ein kleines Stück näher gerückt werden. Insbesondere geht es darum, eine zweifache Strategie, die ge-
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gen die verbreitete Krisenbeschreibung Anwendung fand, vorzustellen: Zum einen den weitgehend passiven Bann und zum anderen ein aktives OrdnungSchaffen. Diese Recherche ist von der Überzeugung getragen, dass diese beiden Strategien bis heute gängige Mittel gegen die Krise sind. Dieser abgeklärte Blick auf eine lange Vergangenheit nützt die relativierende Kraft der Geschichte und soll nicht zuletzt auch dazu dienen, dem von Einschaltquoten getriebenen hysterischen Krisendiskurs unserer Tage ein wenig Gelassenheit entgegen zu setzen.
Ma’at Der kreisförmige Lauf der Natur, diese universale Erzählgrundlage unserer Kulturen, symbolisiert Einheit und Ganzheit, in der – vorachsenzeitlich gedacht – Fluch- und Segensaspekt zu einem harmonischen Ausgleich kommen.1 Der Mensch hat schnell erfahren, dass dieser Zyklus der Natur, wenn er stetig und ungestört verläuft, ein Höchstmaß an Stabilität sichert. Er bedient damit ein dem Menschen offenbar eigenes Bedürfnis nach einem festen Halt, nach Orientierung, ja Heil in der bedrohlichen Unausweichlichkeit der Erscheinungen Flucht. Freilich: Ebenso früh wurde klar, dass der zyklische Prozess der Natur bisweilen durch Störungen aus dem Takt gerissen wird, dass Fluch- und Segensaspekt der ambivalent verstandenen Einheit in Disharmonie geraten können und der Fluch- über den Segensaspekt die Oberhand gewinnt. Dieser Bruch der Harmonie – das war nichts weniger als ein kultureller ‚Super-GAU‘. Dagegen hat die ägyptische Mythologie ein Bollwerk in Stellung gebracht, das einerseits jedes Aus-dem-Ruder-laufen bannen, andererseits die Ordnung aktiv unterstützen soll. Dieser Krisenmechanismus hat einen Namen: Ma’at. Ma’at ist die ägyptische Göttin der Gerechtigkeit – ikonographisch taucht sie als geflügelte Schutzgöttin auf. Jan Assmann hat das Prinzipienhafte der Figur in einer eigenen Studie ausführlich untersucht.2 In beiden Aspekten, der Schadensabwehr und dem Ordnung-Schaffen, hat sich Ma’at zu einem schriftlich und bildlich tradierten Narrativ verdichtet. In allen Tempeln, den architektonischen Abbildern kosmischer Ordnung, dargestellt, ist Ma’at das Logo für die Wachsamkeit über die gewonnene Ordnung, die den Einbruch des Chaos als apokalyptische Katastrophe verhindert. Sie hat apotropäische Funktion und wurde auch als ‚Stirnschlange des Sonnengotts‘ angesprochen, die Übel fernhält und zugleich Führerin und
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Speyer, Wolfgang: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, Tübingen 2007, v.a. 24-32; ders.: Art. Fluch, in: RAC 7 (1969), S. 1160-1288. Assmann, Jan: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2001.
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Leiterin der Menschen ist.3 In Schadensabwehr und Bewachung hatte sie eine ähnliche Aufgabe wie die Gift speienden Kobraschlangen. Aus diesen geflügelten Uräen, die im griechischen Bereich Körper erhielten, leiten sich die christlichen Engel ab4, die überall als Wächter fungierten und denen seit karolingischer Zeit das Westwerk in den burgartigen, romanischen Kirchen geweiht war. Das Westwerk als Gesamtkomplex wird zum bannenden Initial, das Schaden und Chaos von dem durch undurchdringliche Mauern geschützten Abbild des heiligen Jerusalem fernhalten soll. Überall in der Kulturgeschichte treffen wir auf apotropäische Symbole, die eine solche Funktion erfüllen. Steinerne Löwen und Dämonenfratzen an romanischen und gotischen Kirchenfassaden und an Eingangsportalen, Heiligenbilder und Ikonen auf den Stadttoren, der ideale Klosterplan, der als göttliche Ordnung gegen das weltliche Chaos steht, das Initial in der Buchmalerei. Flechtbandrahmen und Kreuze bewachen den ‚Eingang‘ in den heiligen Text. Die Formel der Basmala am Beginn jeder Sure schützt den Text im Koran. Ja bisweilen verschreiben sich gesellschaftliche Gruppen, ganze Städte und Regionen einer schützenden Identität. Am Beginn der Renaissance steht ein lange im Byzantinismus verharrendes Siena dem fortschrittlichen Florenz gegenüber. Alexander Perrig vermutet in diesem konservativen Beharren eine Reaktion auf die Waste-Land-Situation zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit seinen Hungersnöten, Pestepidemien, Banken- und Staatspleiten sowie den sozialen Verwerfungen. Eine öffentliche Büßergesinnung und ein Festhalten an der alten maniera greca mit ihrem tadellosen christlichen Leumund wären Unternehmungen der Schadensabwehr gewesen.5 Die Fluch abwehrenden Initiale heutzutage sind die Firmenlogos und ihr Ordnungsraster, das eine Firma harmonisch organisiert und gegen das Chaos von außen absichert, was man wiederum Corporate Identity nennt. Solche Initiale beschützen den Inhalt vor Fluch und Chaos. Doch was passiert, wenn die Schadensmächte diese Barriere überwunden, das schützende Initial durchbrochen haben? Wenn das schnittige Firmenlogo die Pleite nicht verhindert hat? Welche Kraft kann jenseits des statischen Initials den eingetretenen Schaden wieder gut machen? Oder anders gesagt: Lässt sich statt bloß reaktiver, passiver Abwehr auch eine aktive Pflege des Segensaspekts organisieren. Auch darauf gibt uns das Bild der ägyptischen Ma’at eine Antwort. Neben ihrer (passiven) Schutz- und Wächterfunktion war Ma’at immer auch (aktive) Kraft einer sich ständig neu belebenden Ordnung. Sie ist das
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Ebd., S. 162f. Keel, Othmar: Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, 2 Bde., Göttingen 2007, S. 294ff, 390f.; ders.: „Unheilabwehrende Schlangen und geflügelte Löwen. Über die fast vergessene tierische Herkunft der Engel“, in: NZZ 175 (v. 31. Juli 2010), S. 23. Toman, Rolf (Hg.): Die Kunst der italienischen Renaissance. Architektur-Skulptur-Malerei-Zeichnung, Potsdam 2007, S. 73f.
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Ordnung-Schaffen. Das Gute entfaltet sich als ein harmonischer Prozess. Das Negative kommt erst nachträglich in die Welt, der Ägypter setzt es gleich mit Stillstand. Ma’at hält diesen Stillstand und damit jeden Schaden vom Rhythmus des kosmischen Kreisens fern und schafft so den Ausgleich zwischen dem Segens- und Fluchaspekt. „Sie verkörpert das ‚Gelingen‘ des Weltprozesses.“6 Ma’at ist keine Metapher für die Erlösung des Kosmos in einem endgültigen Zustand, sondern für sein In-Gang-Halten. Der Ägypter verstand seinen Kosmos nicht als Raum, sondern als Prozess und die einzige Sorge war das Aufrechterhalten dieses Prozesses. „Die ägyptische Kosmologie, die den Begriff des Kosmos als ‚gelingenden Prozeß‘ konzipiert, deutet das Gute als ‚Bewegung‘, das Böse als ‚Stillstand‘.“7 Bleibt die Kraft von Ma’at aus, herrscht Chaos: waste land. Unübersehbar ist die Klageliteratur der alten Kulturen, die dieses Waste-Land-Szenario beschreibt. In den „Prophezeiungen des Neferti“ aus der 12. Dynastie (um 1950 v. Chr.) heißt es: „Die Sonne ist verhüllt und strahlt nicht [...] Der Fluß von Ägypten ist ausgetrocknet, man überquert das Wasser zu Fuß, die Flut wird zum Ufer, das Ufer zur Flut. Der Südwind wird mit dem Nordwind streiten und der Himmel in einem einzigen Windsturm sein. [...] Re wird sich von den Menschen trennen.“
Zweitausend Jahre später liest man Ähnliches in griechischer Sprache im „Töpferorakel“: „Der Nil wird niedrig sein, die Erde unfruchtbar, die Sonne wird sich verfinstern, weil sie das Unheil in Ägypten nicht sehen will; die Winde werden Schäden auf der Erde anrichten.“8
Kosmoskrise – Poliskrise Waste Land markiert die große Katastrophe nicht nur im kosmischen Kontext, sondern auch im sozialen. Ja, die die Übertragung kosmischer Ordnung auf die soziale kann geradezu als Charakteristikum altorientalischer Krisensicherung angesehen werden. Der Staat wurde immer als Abbild der Kosmosordnung verstanden und fand seine Legitimation in dieser Übertragung
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Assmann: Ma’at, S. 177. Ebd., S. 176. Ebd., S. 220.
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der Erzählungen. Ma’at fundierte das Königtum und die staatliche Ordnung. Sie verband das Kosmische mit dem Politischen. Ma’at und Königtum ergänzten sich und der pharaonische Staat war nichts anderes als eine „‚kosmomorphe‘ Organisationsform.“9 Gegenspieler von Ma’at ist mythologisch Isfet, eine „gegenstrebige Kraft des Bösen, gegen die das Gute – die Ma’at – durchgesetzt [...] werden muß.“10 Assmann verweist auf den Hintergrund historischer (waste land) Erfahrung der Ägypter in der ersten Zwischenzeit, in der das Alte Reich in Hungersnöten, Bürgerkrieg und Grabschändungen unterging. Eine Zeit, die sich in der Literaturgattung der Klagen und Prophezeiungen niederschlug, die den zerrütteten staatenlosen Zustand des Volkes schildern: „Der Mensch kann ohne Gemeinschaft nicht leben. [...] Aus sich heraus bringt er aber den Geist der Gemeinschaft, des friedlichen Zusammenlebens [...] nicht zustande, sondern nur das Gegenteil: Unrecht, Gewalt, Unterdrückung.“11 Daher gewinnt Ma’at ihre nun auch politische Aufgabe, den ständigen Ausgleich zwischen Fluch und Segen zu schaffen. Ordnung „ist“ dieser ständige dynamische Ausgleich. Die Welt braucht nach ägyptischer Vorstellung „den Herrscher, nicht den Heiland.“12 Auf der in Hierakonpolis gefundenen Narmer-Palette (3100 v. Chr.) des letzten vorgeschichtlichen (oder ersten dynastischen) Herrschers von Oberägypten, der vielleicht das Nildelta unterworfen und Ägypten damit bereits vereinigt hatte, erscheint das Motiv des die Feinde erschlagenden Pharaos. Es wurde zu einem Narrativ des ständigen Herstellens der kosmischen und sozialen Ordnung durch den Pharao, das sich – auf allen Pylonen der Tempelfronten abgebildet – geradezu zu einem schützenden Logo verfestigte. Später wurde diesem Narrativ jenes von der vermeintlich siegreichen Schlacht in Kadesch 1274 v. Chr. aufgepfropft. Ramses II. war sieglos einer drohenden Niederlage gegen den Hethiterkönig Muwattalli II. gerade noch unversehrt entkommen, doch die politische Propaganda vermochte diese Misere in einen glänzenden Sieg umzudichten. Das Schema des OrdnungSetzens ist demnach einfach: „In der polarisierten Welt ist jeder Akt der Ma’at-Verwirklichung ein Akt der Isfet-Vernichtung – und umgekehrt.“13 Setzt man Isfet im weitesten Sinn mit einer Personifikation des waste land gleich, ergibt sich als Aufgabe des Philosophischen wie des Politischen unter anderem die ständige Bekämpfung dieser Negativfolie, um dadurch die harmonische Ordnung im Sinne von Ma’at wieder zu gewinnen. „Das ist das Signum einer ‚gespaltenen‘ Welt. In ihr ist Ordnung nur durch Überwindung vorgegebener Unordnung möglich, die immer das Natürliche und Ge-
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Ebd., S. 203. Ebd., S. 214. Ebd., S. 217. Ebd., S. 222f. Ebd., S. 213.
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gebene darstellt.“14 Im Ansatz, das natürlich Gegebene als gegenstrebig gegen das Kosmos- und Ordnungsschaffen zu denunzieren, ist ein Gestus formuliert, der – zusammen mit der Vorstellung des Staates als kosmomorpher Organisationsform menschlicher Gesellschaft – in der griechischen Philosophie wieder aufgenommen worden ist. Nun ist alles, was in der griechischen Kultur formuliert worden ist, bekanntlich in der europäischen Geschichte angekommen und prägt unsere Gegenwart.
Platons philosophische und politische Krisenintervention gegen das Chaos Insbesondere Platons philosophisches Œuvre könnte man als Bollwerk gegen ein drohendes Waste-Land-Szenario sehen. Ein solches Szenario entspricht für Platon einer Denunziation der Aufklärung und Moderne. Mit den zeitgenössischen Intellektuellen, den Sophisten, hatte jene Aufklärung, gepaart mit Humanismus, Skeptizismus und Agnostizismus, Einzug in die Metropole Athen gehalten. In dieser Entwicklung sah Platon die alte Kosmosordnung, wie sie seinerzeit von dem aus Elea stammenden Parmenides mit fundamentalistisch zu nennender Empathie vorgeschlagen worden war, zerstört, ebenso wie – damit im bereits erwähnten Sinn zusammenhängend – die Staatsordnung. Platon unternahm für seine Krisenbekämpfung – und das heißt stets Bekämpfung der Moderne – zwei Anläufe, die geradezu zwei philosophischen Paradigmen entsprachen.15 Er formulierte ein statisches Abwehrdispositiv gegen die Schadensmächte und – als sich dies als nicht ausreichend herausstellte – einen aktiven Prozess kosmischer Harmoniebildung. Diese beiden Paradigmen könnten durchaus mit der statischen apotropäischen Funktion von Ma’at auf der einen und dem dynamischen Ordnung-Setzen auf der anderen Seite verglichen werden. Die Formulierung seiner Polis-Utopie ist der erste Anlauf einer kollektiven Krisenvermeidungsstrategie und basiert auf einem – ontologisch an der Ideenlehre ausgerichteten – statischen Weltordnungsmodell. Die Politea ist eine groß angelegte philosophische Kritik der aufgeklärten Stadt, deren Legitimationsbasis keine religiöse mehr war. Platons Verurteilung der modernen Stadt als „aufgeschwemmt“ und „entzündet“, ein Fall für Ärzte16, ist unzweideutig. Sein Remedium dagegen besteht aus detaillier14 Ebd., S. 200. 15 Braun, Bernhard: „Die ägyptische Ma’at und Platons Demiurg – Prototypen für die gegenwärtige Globalisierung?“, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 55 (2010), S. 29-45. 16 Platon: „Der Staat“, in: ders.: Werke in acht Bänden, hg. von Gunther Eigler. Bd. 4, ins Deutsche übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971, 372e, 373d.
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ten Vorschriften, die neben der Regulierung jeder dichterischen und bildenden Kunst17, persönlicher Lebensgewohnheiten, über die Unterdrückung von Körper, Erotik und Emotionen18, bis hin zur Planung eugenischer Menschenzucht reichen.19 Die Politeia ist im Grunde ein verzweifelter Versuch, das, was aus ideologischer Perspektive als krisenfreie Polis angesehen wurde, mit harter Hand zu schützen. Diese harte Hand personalisiert sich im Wächterstand, der gleichsam als ein erstes Resultat der Übertragung kosmischer Erzählung in die soziale Erzählung angesehen werden kann. Platons Idealstaatskonzept könnte geradezu als Initial mit Wächterfunktion verstanden werden, das in der europäischen politischen Geschichte zahlreiche Nachahmungen erfahren hat. Die heftigen Einsprüche gegen einen solchen Umgang mit der Moderne im 20. Jahrhundert20 übersahen bei aller Berechtigung, dass Platon selbst die Brüchigkeit eines solch statischen Konzepts verstanden und die Schwächen statisch-diktatorischer Staatssysteme mit einer bis heute beeindruckenden und gültigen Analyse aufgedeckt hat. Er wäre vermutlich wenig überrascht gewesen, hätte er die rasanten Zusammenbrüche so vieler Diktaturen im 20. und 21. Jahrhundert erlebt. Statische Systeme, reine Bollwerke der Schadensabwehr, sind schlechte Krisenvermeidungsstrategien, ist erst einmal die apotropäische Magie unterlaufen. Daher hat Platon selbst versucht, nach dem Scheitern seines Entwurfs ein bloßes Abwehrdispositiv um ein aktives Ordnung-Setzen zu erweitern. Vordergründig ging es um die ungeliebte Notwendigkeit der Gewaltanwendung und es ging um die Verlässlichkeit der Wächter als erziehende und kontrollierende Instanz im Staat. In diesen in der Geschichte staatspolitisch nie beherrschten Problemen spiegelt sich ein Scheitern der statischen Ontologie wider. Die klassischen zeit- und geschichtsenthobenen Seinskonzepte sind ja ihrerseits metaphysische Fluchtburgen vor der relativierenden Kraft des Geschichtlichen. Platon, der den statischen parmenideischen Einheitskosmos restaurieren und ihn gegen das panta rhei der sophistischen Aufklärung stellen wollte, griff nun auf die ausgleichende Kraft des Prozesses zurück, auf die Stabilitätssicherung durch Ma’at. Bereits in der Politea überwand Platon mit der Exposition der transzendentalen Größe des Guten/Einen die Statik der Ideenlehre.21 Einen expliziten Prozess formulierte er in der Spätphilosophie, allerdings ohne eine ausdrückliche Emanationsfigur, die erst der Neuplatonismus schrieb.
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Ebd., S. 386, 387, 392ff., 401b, 424b. Ebd., 462b, 403b. Ebd., 459e ff. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihren Feinde, Bern 1957 (engl. orig. 1945); Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989. 21 Platon: „Der Staat“, a.a.O., 509b. Vgl. Braun: „Die ägyptische Ma’at und Platons Demiurg – Prototypen für die gegenwärtige Globalisierung?“, a.a.O., S. 39f.
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Die dynamische Seite aufzugreifen war ein heikles Unterfangen, weil der alten Bedeutung des zerreißenden, relativierenden (modernen) Prozesses keinesfalls Vorschub geleistet werden durfte. Prozess wird stets konnotiert mit „Eros“. Alle diesbezüglichen Dialoge (Symposion, Phaidros, Philebos) unterlegen dem neuen Prozess eine konstruktive und harmonisierende Charakteristik. Platon hat in zumindest zwei großartigen Mythos-Bildern diese Funktion des neuen Prozesses vorgeführt. Eines ist das Bild der Götterfahrt im Phaidros. Sie beschreibt die in unendlicher Wiederholung durchgeführte Fahrt der Götter zum überhimmlischen Ort. Dies ist ein Bild für die Selbstbewegung (autokinesis) der Seele unter den Auspizien der vollendeten Harmonie.22 Die ständige kreisende Bewegung der Seele verhindert, dass – so Platon wörtlich – „der ganze Himmel und das gesamte Gewordene zusammenfallend stillstehen müßten.“23 Platon beschreibt in diesem Bild nichts anderes als den harmonischen Prozess, der die Stabilität erfolgreicher sichert als die reine Statik. Er vergleicht diese Seelenbewegung mit einem Gespann gefiederter Pferde, deren Lenkung schwierig ist, weil ein Teil der Pferde nach oben und der andere nach unten ziehen. Die zum Göttlichen gerichtete Bewegung streitet mit der Chaosmacht materieller Statik. Doch dem göttlichen Lenker Zeus (dem ‚Programm‘ des Prozesses) gelingt die Leitung des Gespanns. Am „überhimmlischen Ort“ angekommen, stabilisiert sich die Seele schließlich durch die Schau des wahrhaft Seienden mit neuer Lebensenergie, kehrt wieder in die untere Region des Alltäglichen zurück und der Kreislauf beginnt von neuem. Nur schwer kann man sich hier der Erinnerung an Ma’at entziehen angesichts dieses selbstbewegenden Prozesses, der die Störung des Stillstandes, der durch den Fall der Seele in das Materielle entstehen würde, nicht nur apotropäisch bannt, sondern durch eine aktiv gesteuerte dynamische Harmonie konterkariert. Über das vorachsenzeitliche Ma’at-Paradigma, das sich im ständigen harmonischen Prozess erschöpfte, hinausgehend, setzt Platon den eigentlichen Gehalt des Prozesses von diesem ab: Harmonie und Stabilität. Man könnte sagen, dass Platon das Prinzipienhafte von Ma’at isoliert und als Muster und Programmierung des Ganzen eigens formuliert.
Der Demiurg Noch deutlicher wird Platons Rückgriff auf einen vorachsenzeitlichen Kontext beim Demiurgenmythos am Beginn des Timaios. Dass sich Platon in seinem späten Dialog mit der Natur und der Weltentstehung beschäftigte,
22 Platon: „Phaidros“, in: ders.: Werke in acht Bänden, hg. von Gunther Eigler, Bd. 5, ins Deutsche übers. von Friedrich Schleiermacher und Dietrich Kurz, Darmstadt 1983, 245c-e. 23 Ebd., 245e.
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könnte eine Folge der öffentlich vorgetragenen Kritik an der Ideenlehre sein, die sehr wahrscheinlich auch eine innerakademische Diskussion ausgelöst hat. Im Vordergrund stand aber mit Sicherheit das Anliegen, die Polis krisenfest zu machen, indem eine dauernde Schadenskorrektur aktiviert wird: „Wessen Form und Wirkkraft der Demiurg nun gestaltet, indem er auf das sich stets gleich Verhaltende hinblickt und etwas Derartiges als Vorbild benutzt, das muß zwangsläufig insgesamt schön gestaltet werden, wessen Form und Kraft er jedoch gestaltet, indem er auf das Gewordene blickt und indem er ein Gewordenes als Vorbild benutzt, das nicht schön.“24
Der Demiurg ist eine Chiffre für eine kosmische Selbstbewegung, die aus sich selbst (autokinesis) eine ungeordnete Welt in eine Welt der Harmonie und Symmetrie umbaut, eine aus dem Takt gefallene Ordnung in Takt und Wohlklang übersetzt und die Zerrissenheit der Welt und der kosmischen Seele in immer neuen Zyklen heilt. Platon geht vom Einbruch einer Schadensmacht aus, die Kosmos und Polis verwüstet hat. Der Kosmos war aus dem Takt und in schrille Disharmonie (ataktos, plenmelos, alogos, ametros) gefallen.25 Alles sei „ohne Verhältnis und Maß gewesen [...] in einem Zustand der Abwesenheit Gottes.“26 Die „Krankheit“ des „Unmathematischen“ (amathia) breitete sich aus.27 Was den nun einsetzenden Prozess (Demiurg) auszeichnet, ist genau jene „Überwindung vorgegebener Unordnung, die immer das Natürliche und Gegebene darstellt“, von der Jan Assmann mit Blick auf Ma’at sprach.28 Es ist der gute Prozess als Ausgleich zwischen (göttlichem) Segens- und (menschlichem) Fluchaspekt, das gute „Dazwischen“ (eudaimonia).29 Zudem kann man Assmanns Charakterisierung der ägyptischen Götter – sie bringen die „Welt, d.h. den Prozeß, den wir ‚Kosmos‘ nennen, fortwährend hervor“30 – auf dieses Demiurgenbild übertragen. Und auch hier tritt – als griechische Schärfung – das Prinzipienhafte ausdrücklich hervor, abstrahiert in einem Muster: Der Demiurg/Prozess blickt
24 Platon: „Timaios“, in: ders.: Werke in acht Bänden, hg. von Gunther Eigler, Bd. 7, ins Deutsche übers. von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1972, 28a,b. 25 Ebd., 30a, 53a; Platon: „Gesetze“, in: Werke in acht Bänden, hg. von Gunther Eigler, Bd. 8/1, ins Deutsche übers. von Klaus Schöpsdau, Darmstadt 1977, 689b. 26 Platon: „Timaios“, a.a.O., 53b. 27 Vgl. Ebd., 88b; Platon: „Gesetze“, a.a.O., 688c,e. 28 Vgl. Assmann: Ma’at, S. 200. 29 Platon: „Timaios“, a.a.O., 90c. 30 Assmann: Ma’at, S. 35.
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auf das „sich stets gleich Verhaltende“31 und verwendet es als Vorbild. Er schaut auf die ideale Vorgabe von Harmonie und Symmetrie. Dieses Muster stellt sich für den in der Tradition des Pythagoreismus stehenden Platon als Zahl dar. Gott erscheint als Mathematiker, der diese Welt in einem immerwährenden Vorgang durch „Formen und Zahlen“32 gestaltet und heilt. Dieses Muster darf nicht verwechselt werden mit einem statischen Abschluss. Weder im Timaios noch in den Nomoi, die als Umsetzung dieser kosmologischen Vorgabe – auf der Basis der Seele als Selbstbewegung (autokinesis)33 – in die Staatsordnung gesehen werden kann, hat dieser Prozess eine gelungene Finalisierung. Es gibt nicht das Ende einer gelungenen Welt, sondern der harmonisch getaktete Prozess selbst ist das formulierte Ziel. Der Timaios ist das Werk der umfassenden, sich selbst genügenden, durch Harmonisierung die Welt stabilisierende Kreisbewegung, die jeden „Irrlauf“34 und jeden Stillstand vermeidet. Das statische Modell der Politeia wird in der Spätphilosophie durch eine dynamische Konzeption abgelöst, reine Abwehr durch aktive stetige Erneuerung bereichert. Die Fundamentalkritik einer aus Platons Sicht gründlich desavouierten Moderne hatte ihn zu einem Rückgriff auf ein vorachsenzeitliches Modell veranlasst. Es ist schwer zu bestreiten, dass sich die beiden Paradigmen der Krisenabwehr, statisches Bewachen und aktives Reorganisieren des Unverletzten und Heilen, weit über den achsenzeitlichen Bruch hinweg, durch die Kulturgeschichte zogen. Es war stets ein Changieren zwischen einer gleichsam ‚die Krisen erschlagenden‘ Abwehrhaltung und Machtansprüche legitimierenden Waste-Land-Erzählung, wie sie in unseren Tagen von den Despoten im Nahen Osten noch im Moment ihres Sturzes bis zur Lächerlichkeit repetiert werden, auf der einen, und einer aktiven, dynamischen, die Ordnung stärkenden Interventionsmechanik auf der anderen Seite. Letztgenanntes ist einem vorachsenzeitlichen Paradigma zwar näher, aber sie entspricht einer modernen Systemvernunft wesentlich mehr als alle statischen Systeme. Denn es ist diese prozessuale Komponente, die sich hinter dem ständigen Aktivismus von Deregulierung und Strukturumbau verbirgt, was dazu dient, Staaten, Institutionen und Firmen ‚gut aufzustellen‘, um die unausweichlichen Angriffe der Schadensmächte zu parieren.
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Platon: „Timaios“ a.a.O., 28b. Ebd., 53b. Platon: „Gesetze“, a.a.O., 896a. Platon: „Timaios“, a.a.O., 34a, 36e-37c.
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Lob der Krise Seit Urzeiten fürchtet sich der Mensch vor der Krise, der Macht des Fluchaspekts. Er lebt in der Tat im „Existenzial der Angst“35. Das ist ein idealer Nährboden, um Krisen- und Katastrophensemantik zu verkaufen. Darauf gedeihen Medienunternehmen und politische Parteien mit ihren in der Regel der statischen Metaphysik-Tradition entlehnten ebenso statischen Ideologiekonzepten. Die Krisenklagen fördern aber auch soziale Bindungen zwischen den Menschen, die sich vereint wissen im Leiden am vermeintlich unglücklichen Dasein. Was bei all dieser Krisenaufgeregtheit und dem lastenden Erbe jahrtausendelanger Desavouierung von Krisen in Vergessenheit gerät, ist, dass die Krise immer auch eine produktive und kreative Zuschreibung hatte. Naturgemäß funktioniert schon jede Beschwörung der Schadensabwehr samt der damit verbundenen Identitätssicherung nur durch die Existenz der Schadensmacht. Darüber hinaus wurde aber auch im achsenzeitlichen Bruch, als sich ambivalente Pole zu Gegensätzen auseinander entwickelten, die Krise zum positiven Agens der Entwicklung. Heraklit aus Ephesos war einerseits dem Gedanken von Ma’at verbunden: „Diesen Kosmos hat weder der Mensch noch Gott gemacht, er war immer und ist immer: das ewige Feuer, auflodernd und erlöschend.“36 Dieses Fragment ist eine Meistererzählung über die Stabilisierung im stetigen Prozess, eingekleidet in das Bild des Feuers als dem immer wiederkehrenden Auflodern und Erlöschen. Das ist das Erbe von Ma’at. Aber von Heraklit wird gerne auch ein anderer Satz – üblicherweise unvollständig – zitiert, der die Weltgeschichte bewegt: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Und er geht weiter: „[...] und die einen hat er zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht“.37 Für unseren Zweck übersetze ich etwas freier: „Die Krise ist die Mutter aller Dinge.“ Auch Hegel sieht in der Entzweiung „den Quell des Bedürfnisses der Philosophie“.38 Philosophie ist für ihn die versöhnende Vermittlung der Gegensätze durch die Vernunft. Diese Einsicht der dialektischen Tradition trifft sich mit der Anthropologie des Empirismus, wonach von jeher menschliche Kreativität und Fortschritt durch Wettbewerb auf der öffentlichen Agora funktionieren. Der Preis für das, was nach anthropologischer Konstante aussieht, ist, dass die Grenzen immer wieder getestet und dafür zwangsläufig auch überschritten werden. Auch wenn dieses kompetitive Spiel Regeln bekam, weil es für niemanden Sinn macht, wenn der Wettbewerb den Marktplatz zerstört, auf dem er stattfindet, ist die Krise die conditio sine qua non jeden Fortschritts. 35 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 141977, § 40. 36 Heraklit B 30, in: Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Walther Kranz, Berlin 71954. 37 Heraklit B 53, a.a.O. 38 Hegel: „Differenz des Fichteschen und Schellingschen System der Philosophie“, in: G.W.F. Hegel: Theorie, Werkausgabe, Frankfurt a.M. 1977, S. 20.
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Eine Welt ohne Krise wäre eine utopische Welt der Statik. Das martialische Bild des die Krisen erschlagenden Politikers ist einerseits apotropäischer Schadenszauber, es ist aber auch eine Erinnerung an Hobbes’ Wort vom Menschen als homini lupus. Es sollte daran erinnern, die Krise als positives Agens zu sehen, das uns neue Perspektiven gibt, neue Wege eröffnet, unseren Geist herausfordert und unsere Kreativität beflügelt. Zeitgemäße Krisenabwehr ist deshalb eine anspruchsvolle Herausforderung. Sie muss uns mit dem Prozess versöhnen und die alte Idee von Ma’at pflegen, dass der schöne Prozess an sich selbst ein hoher Wert ist, ebenso wie sein sorgsames In-Gang-Halten. Es gilt, Spielregeln zu entwerfen, die den Prozess nicht strangulieren, sondern für seine harmonische Entfaltung einen Rahmen bilden, die zugleich aber auch die Krise zulassen. Die alten, auf der Tradition der statischen Metaphysik beruhenden dogmatischen Weltbilder (die einem apotropäischen Initial entsprechen) scheinen dafür ein ungenügendes Instrument zu sein. Das Kunststück wäre vielmehr, sensibel zu reagieren, Krisen zu erkennen und sie für den Fortschritt zu nützen, sodass die Schadensmacht ihr Spiel treiben darf, um letztlich den Segensaspekt zu ermöglichen. Ökonomen und Zentralbankgouverneure lehren uns mit Blick auf die Globalisierung, dass Stabilität ein jährliches Wirtschaftswachstum von ca. zwei Prozent des BIP entspricht und sie setzen auf die Interventionsmöglichkeiten der Geld- und Zinspolitik, um diesen idealen (stabilen) Prozess zu pflegen. Vermutlich wissen sie, die in den mit Firmenlogos apotropäisch gesicherten Banktürmen sitzen, nicht um die vielleicht ja angenehme Gesellschaft, in der sie sich mit dem scheinbaren Widerspruch, dass Prozess Stabilität bedeutet, befinden: nämlich in jener der alten Ma’at, der ägyptischen Göttin der Gerechtigkeit.
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Im November des Jahres 2005 erklärte sich Reinhart Koselleck bereit, mitzuwirken an einem Filmvorhaben unter dem Titel „Krise und Kritik“, der sein eigenes prominentes Buch Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt1 in Erinnerung rief. Der Bielefelder Historiker verstarb im Februar 2006, der Film als solcher kam gar nicht zustande. Am 13. Januar 2010 veröffentlichte die FAZ ein Interview, das Thomas Martin mit Reinhart Koselleck über dieses Filmvorhaben geführt hatte. Ich zitiere aus diesem Interview: (Thomas Martin) „Herr Koselleck, sehen Sie die derzeitige gesellschaftliche Situation als krisenhaft an? Würden Sie diese Situation als geistige Krise bezeichnen?“ (Reinhart Koselleck) „Soweit sie ökonomisch bedingt ist, lässt sie sich ja objektivieren. Das kann man ablesen an den statistischen Daten. Insofern kann die Krise als objektiver Befund beschrieben werden. Ob die subjektive Wahrnehmung dieser Krise, die ja dann auch eine geistige Krise implizieren würde, mit der ökonomischen korreliert, ist die Frage. Ich glaube, dass die tatsächliche Krise in der Mentalität, in der Einstellung zur eigenen Gesellschaft, zu den Nachbarn als eine vorübergehende, aber doch selbst wahrgenommene Krise definiert werden kann. Nur mit welchem Ausgang, das ist völlig offen […] die Krisenwahrnehmung im Geistigen, nein, ich selbst teile die nicht.“2
Dieses Interview wurde geführt im Zeichen des Schocks von 9/11 und der, wie Koselleck fortfuhr, „Auseinandersetzung auf Tod und Leben […] zwischen Islamisten und amerikanischem Missionsgebaren“. Es wurde geführt, bevor die Bankenkrise 2008 losbrach, die eine Flut von Krisendiskursen und -erzählungen hervorbrachte und auch diesen Sammelband anregte. Der Spiegel titelte z.B. am 15.06. 2009:
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Freiburg/München 1959; Frankfurt a.M. 1973. „Über Krisenerfahrung und Kritik (Thomas Martin im Gespräch mit Reinhart Koselleck)“, FAZ vom 13. Januar 2010, N 4.
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„Wir Krisenkinder“. Gemeint war damit die Generation zwischen 20 und 35. Über sie hieß es weiter: „Jung, gut ausgebildet, chancenlos.“ Beschrieben wurde diese Generation wie folgt: Studienabschluss, beste Noten plus Praktika plus Auslandserfahrung: „Eigentlich also haben sie alles richtig gemacht – und dennoch finden sie selten eine feste Anstellung. Und das, obwohl sie zu fast allem bereit, flexibel, mobil und kreativ sind.“ Und weiter heißt es dort: „Der Wohlstand ist noch da – die Sicherheit nicht“: „Aufgewachsen sind die jungen Leute zwischen 20 und 35 Jahren in einer Welt des Wohlstands. Die Sorgen ihrer Eltern in den frühen achtziger Jahren, die Angst vor der atomaren Bedrohung und der Verpestung der Umwelt, waren zu abstrakt für ihre Kinderköpfe, ihre Welt war noch stabil. Als sie klein waren, bekam die Generation der heutigen Studenten und Berufseinsteiger zu Weihnachten Bobby-Cars oder Märklin-Eisenbahnen, später E-Gitarren, einen C64 oder Gameboy – und dafür arbeitete Vati, solange sie denken konnten, bei Siemens oder einem ähnlich verlässlichen Konzern. […] Und nach der Jahrtausendwende steuerte Vati auf den verdienten Ruhestand zu. Den Wohlstand dieser Jugendjahre gibt es da draußen noch. Aber die Unbeschwertheit, sie ist futsch. Die einstürzenden Türme am 11. September 2001 und das Ende des New-Economy-Booms bedeuteten für diese Generation einen Bruch – ein Ende der gefühlten Sicherheit. Immer stärker trübten Alarmmeldungen ihr Lebens3 gefühl.“
Mittlerweile ist die Krise nicht mehr nur ein Dauerthema in den Massenmedien. Auch die Kulturwissenschaft hat die Krise entdeckt: Das nun nach etlichen Jahren wieder neu erscheinende Kursbuch hat als Titel der ersten Nummer: Krisen lieben4. Darin findet sich nicht nur der Aufsatz „Ich hasse Krisen“, sondern auch einer zum „Ausnahmezustand als Normalfall“ – und Ausnahmezustand und Normalfall stehen hier gleichermaßen für KrisenKonjunkturen.5 Was also ist eine Krise? Ein Faktum? Eine Erfahrung oder Wahrnehmung? Ein operativer Diskurs? Warum ist das Thema „Narrative der Krise“ auch ein Thema für die Kultur- und Literaturwissenschaft? In Geschichtliche Grundbegriffe findet sich ein 33-seitiger Artikel zum Stichwort „Krise“. Geschrieben hat ihn Reinhart Koselleck. Darin erscheint der Begriff in seiner ganzen semantischen Vielschichtigkeit: „Krise“ aus gr.: „scheiden, auswählen, beurteilen, entscheiden; sich messen, streiten, kämpfen“. Es umspannt also eine erhebliche Anzahl von Bedeutungen, und von
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Titz, Christoph/Mersch, Britta: „Wir Krisenkinder“, in: Der Spiegel, 15.6.2009, http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/wir-krisenkinder-jung-gut-ausge bildet-chancenlos-a-630114.html vom 01.12.1012. Nassehi, Armin (Hg.): Krisen lieben. Kursbuch 170, Februar 2012, Hamburg 2012. Dueck, Gunter: „Ich hasse Krisen“, in: ebd., S. 84-100; Nassehi, Armin: „Der Ausnahmezustand als Normalfall“, in: ebd., S. 34-49.
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demselben Verb leitet sich interessanterweise der Begriff „Kritik“ ab. Koselleck schreibt: „‚Krise‘ hatte in der griechischen Antike relativ klar abgegrenzte Bedeutungen im juristischen, theologischen und medizinischen Bereich. Der Begriff forderte harte Alternativen heraus: Recht oder Unrecht, Heil oder Verdammnis, Leben oder Tod. Der medizinische Sinn dominierte […] fast ungebrochen bis in die Neuzeit hinein. Seit dem 17. Jahrhundert erfolgte von hier aus, zunächst im Westen, dann auch in Deutschland, eine metaphorische Ausweitung auf die Politik, die Psychologie, die Ökonomie und schließlich auch auf die Geschichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff wieder theologisch und religiös eingefärbt, im Sinne des Jüngsten Gerichts, das in säkularer Bedeutung auf die revolutionären Ereignisse angewandt wurde. Aufgrund seiner metaphorischen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit beginnt der Begriff zu schillern. Er dringt in die Alltagssprache ein und wird zum Schlagwort. In unserem Jahrhundert gibt es kaum einen Lebensbereich, der nicht mit Hilfe dieses Ausdrucks seine entscheidungsträchtigen Akzente erhält […] der Ausdruck bleibt so vielschichtig und unklar wie die Emotionen, die sich an ihn hängen.“6
Der Begriff also indiziert kapitale Entscheidungssituationen, Urteilsfindungen, Zuspitzungen und Wendepunkte: im Verlauf einer Krankheit, einer (lebens-)geschichtlichen Entwicklung, einer agonalen Situation. Im deutschen Sprachgebrauch tauchte „Krise“ verstärkt erst nach der Französischen Revolution auf, zunächst fast ausschließlich im medizinischen Bereich, nur zögerlich in politischen und sozialen, zuletzt ökonomischen Zusammenhängen. Noch der Brockhaus von 1866 verzeichnet nur den medizinischen Sinn. Eine „Krise“ konnte einmalig sein, aber sich auch, wie bei einer Krankheit, wiederholen oder andauern. Inzwischen ist „Krise“ zum einen ein Schlagwort, das leichthin ausgesprochen wird und für alle möglichen kollektiven und subjektiven Befindlichkeiten im öffentlichen und privaten Raum, im ökonomischen, politischen, sozialen und psychologischen Haushalt herhält: „Ich krieg’ gleich ’ne Krise‘“: Das ist wahrscheinlich der Ausdruck für die am stärksten herunter gebrochene Komplexität von Zuständen und Prozessen, die als krisenhaft wahrgenommen werden. Zum anderen ist der Begriff „Krise“ metaphorisch vieldeutig und dehnbar, ja schillernd: „Krise“ ist ein Kernbegriff geschichtsphilosophischer Erzählungen, und manchmal erscheint Geschichte überhaupt als naturgeschichtlich oder apokalyptisch aufgeladene Krise in ihrer ganzen Unerbittlichkeit, z.B. 1786 in Schillers Gedicht „Resignation“, das mit dem Vers „Auch ich war in Arkadien“ beginnt und in das Diktum „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ mündet.7 Häu-
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Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, 8 Bde., Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650. Schiller, Friedrich: „Resignation“, in: Schillers Gedichte, hg. von Klaus L. Berghahn, Königstein/Taunus 1980, S. 119ff.
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figer freilich wird „Krise“ verwendet zur Beschreibung und Erzählung von Effekten „großer“ Ereignisse, Umbrüche oder von Übergangszeiten als „Krisenzeiten“, die „Bedrängnisse“ mit sich bringen, Unsicherheit, Risikogefühl und Zukunftsangst auslösen – oder auch Ressentiments, in jedem Fall „unklare Emotionen“, wie Koselleck schreibt. Dabei sind „Krisen“ nicht zu verwechseln mit hereinbrechenden Katastrophen, die Ereignischarakter haben: „Katastrophe“, als Begriff der Theatertheorie oder Poetik seit Aristoteles, bezeichnet ein schlimmes oder tragisches Ende menschlicher Aktionen, Konflikte und Verstrickungen; „Katastrophe“ benennt auch klimatische (häufig freilich durch menschlichen Einfluss bedingte) desaströse Naturereignisse – Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Tsunamis. Eine Katastrophe steht am Ende, oder auch am Beginn individueller und kollektiver „Krisen“ und Konflikte.8 Als kriseninduzierend wurden auch gesellschaftliche Umbrüche erlebt und gedeutet, wie z.B. und besonders die Französische Revolution 1789, und man kann eigentlich sagen, dass das „Krisengefühl“ oder „Krisenbewusstsein“ in Europa nach dieser politischen Umwälzung, die vielfach mit „Krise“ gleichgesetzt wurde und zugleich die „Moderne“ in Gang setzte, nicht mehr gewichen ist. Mit Koselleck lässt sich festhalten, dass „Krise“ seitdem „zum zeitlich elastischen Oberbegriff der Moderne“ geworden ist.9 Schillernd und elastisch, wird „Krise“ solcherart zu einem Narrativ in dem Moment, in dem mindestens zweierlei zu beobachten ist: Zum einen zerbrachen mit der Französischen Revolution gesicherte Erfahrungswerte und gesellschaftliche Ordnungsmodelle, so das Ständesystem; zum anderen wurden philosophische Welterklärungsmuster in Zweifel gezogen, das Problematischwerden der großen Erzählungen nahm seinen Anfang: Die Theodizee wurde angesichts der bestürzenden Kontingenzerfahrung des Erdbebens von Lissabon 1755 schwierig10, und der „ganze Mensch“, der um 1800 von der Anthropologie optimistisch konstruiert wurde, kollabierte zuletzt 1900 mit Freuds Traumdeutung. Die „Krise“ aber lebt von einem „Zeitgeist, der sich „gegen die eigene Zeit richtet“; sie kann als Schlüsselwort der Kulturkritik im engeren Sinne gelten, die, wie Georg Bollenbeck schrieb, als „Reflexionsmodus der Moderne“ und „Dauerkommentar“ im 18. Jahrhundert entstand.11
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Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010. 9 Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 631; ein ähnlicher Begriff von „Krise“ bei: Vierhaus, Rudolf: „Zum Problem historischer Krisen“, in: Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hg.), Theorie der Geschichte, Bd. 2: Historische Prozesse, München 1978, S. 313-329; in die gleiche Richtung geht auch Nassehi, Armin: „Der Ausnahmezustand als Normalfall“, in: Krisen lieben, S. 34-49 (ohne jedoch die vorigen zu erwähnen). 10 Ebd., S. 34f. 11 Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 11f.
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Dieser Reflexionsmodus findet sich augenblicklich nach der Französischen Revolution, und zahlreiche Schriften belegen diesen Befund. In Edmund Burkes skeptischen Reflections on the Revolution in France heißt es 1790: „It appears to me as if I were in a great crisis, not of the affairs of France alone, but of all Europe, perhaps more than Europe. All circumstances taken together, the French Revolution is the most astonishing that has hitherto happened to the world.“12
In Goethes Novellensammlung von 1795, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, heißt es am Anfang: „In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten und mancher Vorteile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.“13
Die Erzählgesellschaft, die sich hier in bedrängter Lage zusammenfindet, besteht aus Personen unterschiedlichen Standes, Alters und Geschlechts, die den Wirren der Französischen Revolution über den Rhein entflohen sind und sich in der Tradition von Boccaccios Decamerone noch einmal Geschichten erzählen, zum Zeitvertreib und auch, um das Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung zu vergessen. Letztmalig, und nicht mehr sehr überzeugend, sind hier in Form eines Rahmen „Krisen“ als Ermöglichungsbedingung und Stoff von Geschichten gesetzt. Aber die „Krise“ des Rahmens und die Krisen der Geschichten sind so komplex geworden, dass die Gesamtkomposition am Ende wenig stimmig ist und in dieser Weise in der Moderne nicht fortgeschrieben wird.14 Novellen allerdings sind auch späterhin, dann in der Regel ohne Rahmen, ein bevorzugter Ort für die literarische Veranschaulichung und Verarbeitung von Krisen, weil nämlich in der Zuspitzung eines problematischen Geschehens und dem Zutreiben auf ein glückliches oder unglückliches Ende, also den novellentypischen Merkmalen, die „Entscheidungssituation“ in besonderem Maße zur Geltung gebracht
12 Burke, Edmund: Reflections on the Revolution in France, hg. von A.J. Grieve, London 1950, S. 8, zit. nach: Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 680. 13 Goethe, Johann Wolfgang von: „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6 (Romane und Novellen I), München 1982, S. 125. 14 Schlaffer, Hannelore: Poetik der Novelle, Stuttgart 1993.
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und reflektiert werden kann – als interessante, besondere Begebenheit, als Fallgeschichte, als Gedankenexperiment.15 Die Krise, so postuliert diese Publikation, ist freilich selbst eine Erzählung. Der Titel nimmt Bezug auf den Begriff des „Narrativs“ als Schlüsselbegriff der Krisenartikulation und Krisenforschung, und dieser Begriff ist nicht beschränkt auf literarisches Erzählen. Als Definition für „Narrativ“ biete ich Folgendes an: Ein Narrativ ist eine Erzählung, mündlich oder schriftlich, Alltagsbericht oder Dichtung, in der Faktum und Fiktion vielfach nicht getrennt sind. Narrative sind sinnstiftend, das heißt sie überführen Erlebtes in bekannte Kategorien, stellen vertraute Kontexte her. Elemente werden verknüpft, ausgewählt, weggelassen und auf das Narrativ hin zugespitzt. Das Narrativ erklärt und interpretiert bereits, setzt häufig Neues in Bezug mit Altem und führt zu etwas hin. Narrative sind kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken. Das Narrativ „Krise“ reagiert auf ein unerwartetes, unübersichtliches Geschehen, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Ich möchte das Narrativ der Krise im Folgenden veranschaulichen mit Blick auf die Jahrhundertwende 1900. Zwischen die Französische Revolution und die Jetztzeit gesetzt, bietet dieser Zeitraum zwischen 1870 und 1918 die Möglichkeit, eine dichte, eine Schwellenzeit zu beobachten, die auch als Hochmoderne bezeichnet wird und zwischen zwei Zusammenbrüche gesetzt ist: den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und den Ersten Weltkrieg. Diese Zeit als Belle Epoque zu bezeichnen, ist in mancherlei Hinsicht berechtigt, zugleich aber ein Euphemismus. In dieser Zeit nämlich der hochtourigen Moderne, geprägt durch Industrialisierung, Imperialismus, Kolonialismus, neue Medien und eine „spectacular reality“16, lässt sich ein geradezu unheimlich aktueller Krisendiskurs, die Vorstellung einer gravierenden Deregulierung, gar eines „taumelnden Kontinents“17 beobachten. Reinhart Koselleck hatte die Zeit nach der Französischen Revolution beschrieben als die entscheidende Phase einer „Sattelzeit“, die geprägt ist durch das Auseinanderfallen von Erfahrungswerten und Erwartungshorizont, eine Vergangenheit, die keine Gesellschaftsmodelle mehr bereitstellt und eine Zukunft, die grundsätzlich offen und gegenüber der auf vergangene Prozesse gründenden Erfahrung gleichsam unübersichtlich anschwillt.18 Zu-
15 Die These, Literatur sei überhaupt Krisenverarbeitung, erscheint mir der Verallgemeinerung wegen wenig aussagekräftig. Dazu Mellmann, Katja: „Literatur als Krisenerzählung“, in: Krisen lieben, S. 174-190. 16 Schwartz, Vanessa R.: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-deSiècle-Paris, Berkeley/Los Angeles 1999. 17 Blom, Philip: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 2009. 18 Koselleck, Reinhart: „‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe“, in: ders. (Hg.), Industrielle Welt, Bd. 20: Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 264-300.
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gleich aber entwickelt sich mit dieser die optimistische, forciert vorgetragene Idee des Fortschritts – industrieller Fortschritt, ökonomisches Wachstum, Anreicherung von Wissen – einerseits zu einem Fetisch, den die Intellektuellen bereits ab 1850 inkriminieren. Baudelaire setzt den materiellen Fortschritt mit dem Niedergang der Seele gleich; Flaubert unterzieht ihn der großen Häme seiner fatalistischen Zeitdiagnosen, und so heißt es zuletzt in Bouvard et Pécuchet: „Hein, le Progrès, quelle blague“.19 Zum anderen führt die Fortschrittsidee zu einer „asymmetrischen Effizienzsteigerung“.20 Diese betrifft den Aufstieg des Atlantischen Westens, der sich imperialistisch gegenüber der außereuropäischen Welt behauptet; sie betrifft ebenso den Auseinanderfall von Arm und Reich, Bildung und Bildungsferne, die Spannung zwischen Massenmedien, Massenkunst und prekären Kunstidealen. Ab etwa 1850 also, zuletzt ab 1870 setzt sich, beginnend in Frankreich, jener mentale Antagonismus durch, der mit „Fortschrittsglaube“ und „Dekadenzbewusstsein“ sehr prägnant beschrieben wurde.21 Die Kulturdiagnose der „Dekadenz“, die Niedergangs-, Verfalls- und Untergangsklagen, die in Frankreich nicht zuletzt im Vergleich mit dem Erzrivalen England, dem politischen Gegner Deutschland und weiteren europäischen Ländern erhoben werden, gehen aufs Ganze und handeln von nichts weniger als vom Leben selbst. Besorgt und argwöhnisch nämlich wird dann 1891 beobachtet, dass in Frankreich nicht nur die Geburten stagnieren, sondern erstmals die Sterberate höher ist als die Geburtenrate und der Erhalt der Bevölkerungszahl nur durch Immigration gesichert werden kann.22 Zwanzig Jahre später resümiert Jacques Bertillon, Statistiker und Demograph, diesen Befund in dem Buch La dépopulation de la France23, dessen Titel heutige Publikationen als unheimliches déjà-vu erscheinen lassen. Bertillons Buch, das den „Tod“ Frankreichs als eine der wichtigsten Tatsachen des 19. und 20. Jahrhunderts behauptet, bildet einen Abschluss der Jahrzehnte währenden Dekadenz-Diskussion, die nicht zuletzt in der hochgereizten Rivalität mit Deutschland aufblüht, und es ist ein Spiegel des Klimas oder der Atmosphäre, in denen ein ebenso prägnantes wie diffuses semantisches Feld der Krisenhaftigkeit
19 Flaubert, Gustave: „Bouvard et Pécuchet“, in: ders.: Œuvres, édition établie et annotée par Alfred Thibaudet et René Dumesnil, Bd. 2, Paris 1952, S. 869. 20 Osterhammel, Jürgen : Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1286. 21 Drost, Wolfgang (Hg.): Fortschrittsglaube und Dekadenzbewusstsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg 1986; vgl. auch: Leopold, Stephan/Scholler, Dietrich (Hg.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur zwischen Sedan und Vichy, München 2010. 22 Blom: Der taumelnde Kontinent, S. 28f. 23 Bertillon, Jacques: La Dépopulation de la France. Ses conséquences – Ses causes – Mesures à prendre pour la combattre, Paris 1911.
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bewirtschaftet wurde, das Demographie, Generation, gender, Körper und Geist gleichermaßen unter Dekadenz-Verdacht stellte. Die Dekadenzcodierungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die diese Zeit im Rückblick manchmal gar als „Epoche“ der „Dekadenz“ erscheinen lassen, bedienten sich einer Krisen-Metaphorik, welche die Begriffsgeschichte von „Krise“ aktualisiert, so wie dieses in „Krisenzeiten“ insgesamt üblich zu sein scheint. Der Krisen-Diskurs in Frankreich, Italien, Deutschland, auch England und den Vereinigten Staaten erinnerte sich an die medizinischen Wurzeln des Begriffs „Krise“; Vokabeln des Pathologischen wie „maladie de fin-de-siècle“, „dégénerescence“ behaupteten individuelle und generationelle Symptome des Verfalls; Diagnosen der körperlichen und geistigen Schwäche und Ermüdung wurden, wie 1891/92 in La Fatica, der Studie des Turiner Physiologen Angelo Mosso, durch frühe Aufzeichnungsmedien, in Pulskurven und Nervenströmen sichtbar gemacht.24 Diese passt gut zum Boom der Dekadenzliteratur, die in zwei Romanen besonders, Joris-Karl Huysmans’ A rebours von 1884 und Thomas Manns Buddenbrooks aus dem Jahr 1900, dem Verlöschen eines Adelsgeschlechts zum einen, dem Absterben einer Bürgerfamilie zum anderen, ihren ästhetizistisch-morbiden Ton fand. Im Narrativ der Verfalls- und Endzeit treten hier Protagonisten auf, die den materiellen Fortschritt verachten und in künstlichen Gegenwelten, geistig übersättigt, körperlich ermatten. „La chair st triste, hélas! Et j’ai lu tous les livres“, heißt es in Mallarmés Gedicht „Brise Marine“25. Die Symptome der Unruhe, der Nervosität und der physiologisch-neurologischen Erschöpfung werden von dem amerikanischen Arzt George Miller Beard 1869 erstmals als „Neurasthenie“ bezeichnet, und die „Erfindung“ dieser Krankheit bewirkt eine erstaunliche Multiplikation von nervösen Leiden, die Beard zunächst bei Geschäftsleuten diagnostiziert26. Neurasthenie wird zur Mode, in Frankreich vor allem im Feld der „Kreativen“. Sie unterstreicht zum einen den Mythos des reizbaren und hypertrophischen Künstlers, kann aber auch eine „Krise“ anzeigen, die selbstzerstörerisch ist. „Jedermann war neurasthenisch. Und man war entzückt, wenn man die Ehre hatte, es zu sein“, schreibt rückblickend 1932 der Psychiater Pierre Janet.27.Und in Heinrich Manns Doktor Biebers Versuchung hieß es 1898: „Ich bin Neurastheniker. Dies ist meine Profession und
24 Mosso, Angelo: La Fatica (1891/92), Florenz 2001. 25 Mallarmé, Stéphane: „Brise marine“, in: ders.: Œuvres complètes, texte établi et annoté par Henri Mondor et Georges Jean-Aubry, Paris 1945, S. 38f. 26 Freundlicher Hinweis von Uta Fenske. 27 Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 41 (La Fatigue d’être soi, Paris 1998); vgl. auch Hörisch, Jochen: „Epochen/Krankheiten. Das pathognostische Wissen der Literatur“, in: Frank Degler/Christian Kohlross (Hg.), Epochen/Krankheiten, St. Ingbert 2006, S. 21.
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mein Schicksal“28. Oder man liest auch, in schönem Bezug auf den ursprünglichen Begriff der „Krise“, in Hugo von Hofmannsthals Die Briefe des Zurückgekehrten, 4. Brief, 26. Mai 1901, folgende Sätze: „Krank werden fühlte ich mich von innen heraus, aber es war nicht mein Körper, ich kenne meinen Körper zu gut. Es war die Krise eines inneren Übelbefinden; dessen frühere Anwandlungen freilich waren so unscheinbar gewesen wie nur möglich, und dass sie überhaupt etwas gewesen waren, dass sie mit diesem jetzigen Wirbel doch zusammenhingen, das verstand ich jetzt blitzhaft, wie man eben in solchen Krisen mehr versteht als in den normalen Augenblicken des Lebens.“29
Die Muster erscheinen heute vertraut. Der Koreaner Byung-Chul Han veröffentlichte 2010 das kleine Buch Die Müdigkeitsgesellschaft und entwirft dabei, in der Nachfolge von Montesquieus Lettres Persanes, den Blick des Ostens auf den Westen, dem er die „Philosophie der Erschöpfung“ zuschreibt, resultierend aus dem Gebot zu Mobilität, Flexibilität, Multitasking. Die Effekte machen sich, so Han, längst negativ bemerkbar, und mittlerweile sind sie zum bevorzugten Gegenstand der Tagespresse und der Talkshows, zuletzt auch der aktuellen Literatur geworden: neuronale Infarkte – Depression, Burnout, Borderline, ADHS.30 Der west-östliche Philosoph empfiehlt als Heilmittel die kontemplative Versenkung; sein Bestseller von 2009 lautete Der Duft der Zeit.31 Dass freilich Wellness-Oasen, Burn-Out-Kliniken und Klöster auch Einrichtungen sein können, die Konjunkturen von kreativer Effizienz und Ermüdung ermöglichen, das Krisen-System also zuletzt stabilisieren, ist der Überlegung wert. Für die vorletzte französische Jahrhundertwende, so lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, schlägt sich in der Wahrnehmung der Gegenwart die Spannung zwischen nationalem Fortschritt und Glanz, Überbietungsszenarien und spektakulären Massenevents der frühen Globalisierung (darunter die Weltausstellungen) einerseits und Furcht angesichts der durch den Fortschritt induzierten Deregulierungen (Beschleunigung, Mobilität, Globalisierung, Kriege usw.) nieder. Die Furcht ist häufig gekoppelt an Ressentiment, Fremdenhass, Exklusion; im „Sündenfall“ der Dreyfus-Affaire manifestiert sich 1896 die Spaltung der Gesellschaft, die zugleich die „Geburt“ des Intellektuellen bedeutet: des Intellektuellen als Gesellschaftsbeobachter und Gesellschaftskritiker, der, gemäß der doppelten Herkunft des Wortes, Krisenphänomene benennt. In Zolas J’accuse, am 13. Januar 1896 als offener Brief
28 Mann, Heinrich: „Doktor Biebers Versuchung“, in: ders.: Das Gute im Menschen, Novellen 2, Berlin/Weimar 1982, S. 336. 29 Hofmannsthal, Hugo von: „Die Briefe des Zurückgekehrten“, in: ders.: Erzählungen, Auswahl und Nachwort von Ursula Renner, Stuttgart 2000, S. 183. 30 Han, Byung-Chul: Die Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010. 31 Han, Byung-Chul: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009.
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an den Staatspräsidenten gerichtet und auf der Titelseite der Zeitung L’Aurore veröffentlicht, findet sich dieser Zusammenfall von Diagnose und Haltung, „Krise“ und „Kritik“ am Höhepunkt der Dreyfus-Affäre, die Frankreich spaltete. Als skulpturale Reflexionsfigur auf eine schwankende Zeit mag auch Rodins „Denker“ über dem dantesken Höllentor erscheinen, der ab 1880 für das Portal des „Musée des Arts décoratifs“ entworfen wurde.
Abb. 1: Auguste Rodin, Der Denker, 1880-1882 Ich wende mich nun einem der prägnantesten Texte zur Krise zu, der rückblickend den genannten Zeitraum zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg kommentiert. Gemeint ist La Crise de l’esprit von Paul Valéry, 1919 in Form von zwei Briefen und einer Anmerkung („Note“) über „den Europäer“ zuerst in der Londoner Wochenzeitung The Athenaeum. A Journal of English and Foreign Literature, Science, the Fine Arts, Music and the Drama erschienen. Seit 1894 hegte Valéry, der Dichter und Philosoph des Mittelmeeres, eine Liebe zu London, der Stadt, in der er sich von einer Schaffenskrise befreien konnte32. Der Text reagiert auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, diagnostiziert den Verlust des westlichen Selbstbewusstseins und die ungewisse Zukunft Europas und verbindet diesen Befund mit einer großen Klage über den Zustand der Moderne, geprägt durch einen auf Traditionsgewissheit gründenden selbstherrlichen „Fortschritt“ und eine Analyse der „Zeit der finiten Welt“. Das Schlüsselwort ist „désordre“, Unordnung. Der erste Brief setzt ein mit dem Gedanken der Mortalität der europäischen Kultur und vergleicht diese mit der Dekadenz und dem Untergang der frühen Hochkulturen Babylons und Persiens. Der erste Satz lautet: „Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles.“33 „Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir
32 Hülk, Walburga: „Paul Valéry, Carnet de Londres. Leonardo, Teste und die Dynamik von Gedächtnis und Kunst“, in: Kirsten Dickhaut/Stephanie Wodianka (Hg.), Geschichte, Erinnerung und Ästhetik, Tübingen 2010, S. 351-362; dies.: Bewegung als Mythologie der Moderne. Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry, Bielefeld 2012. 33 Valéry, Paul: „La Crise de l’esprit“, in: ders.: Œuvres, édition établie et annotée par Jean Hytier, Bd. 1, Paris 1957, S. 988-1014, hier S. 990f.
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sterblich sind.“34 Die insgesamt sehr sorgfältige deutsche Übersetzung unterschlägt dabei eine Ambiguität des französischen Anfangs, die sich tatsächlich im Komma verbirgt. Während im Deutschen das Subjekt „Wir Kulturvölker“ – die Diskussion des Begriffs „Kulturvolk“ muss ich an dieser Stelle aussparen – eine klare Trennlinie zieht zwischen (europäischen) „Kulturvölkern“ und anderen, heißt es im Französischen buchstäblich: „Wir anderen, Kulturvölker (oder Zivilisationen)“. Dadurch wird die eindeutig eurozentrische und hegemoniale Perspektive, die die Übersetzung nahe legt, gebrochen, „wir anderen“ und „Kulturvölker“ (als Adressaten) treten in ein Spannungsverhältnis, das auch bedeuten kann: Wir Kulturvölker, wir sind andere (aus Sicht der anderen Kulturvölker) und haben unsere Kultur verspielt: „La crise militaire est peut-être finie. La crise économique est visible dans toute sa force, mais la crise intellectuelle, plus subtile, et qui, par sa nature même, prend les apparences les plus trompeuses (puisqu’elle se passe dans le royaume même de la dissimulation), cette crise laisse difficilement saisir son veritable point, sa plaie. […] Ce qui donne à la crise de l’esprit sa profondeur et sa gravité, c’est l’état dans lequel 35 elle a trouvé le patient.“ „Die militärische Krise ist vielleicht zu Ende. Die wirtschaftliche Krise ist in voller Stärke sichtbar; aber die geistige Krise, die heimlicher ist und ihrem Wesen nach die täuschendsten Formen annimmt (spielt sie sich doch im eigensten Bereich der Täuschung ab), sie läßt nur schwer ihren wirklichen Grad, ihr Stadium erkennen. […] Was der Krise des Geistes ihre Tiefe und ihren Ernst gibt, das ist der Zustand, in dem sie den Kranken getroffen hat.“36
Wie die Kulturkritiker vor ihm, so bedient sich auch Valéry hier der alten Krankheitsmetapher, um die politische und intellektuelle Krise zu veranschaulichen, in der Europa sich befindet. Es ist eine im Ersten Weltkrieg kulminierende, doch längst andauernde, schleichende kulturelle Krise, die zuvor weniger sichtbar, diffuser und deshalb unheimlicher war als die ökonomische und militärische Krise. Der Erste Weltkrieg bedeutet für Valéry das Ende jener „Modernität“, die sich bemaß am technischen, urbanistischen, wissenschaftlichen Fortschritt, am Gleißen der Elektrizität in den großen Städten und der Selbstgewissheit des Europäers, die sich gründete auf das in herausragenden Gehirnen angesammelte Weltwissen. Die überfrachteten Gehirne glichen jedes für sich einer ganzen Weltausstellung, je-
34 Valéry, Paul: „Die Krise des Geistes“, übersetzt von Jürgen Schmidt-Radefeldt, in: Paul Valéry: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 7, hg. von Karl-Heinz Blüher und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1995, S. 26. 35 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., S. 990f. 36 Valéry: „Die Krise des Geistes“, a.a.O., S. 28f.
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ner Demonstration globalisierter Vorherrschaft, die Frankreich bis 1900 gleich fünfmal durchspielte. „Eh bien! L’Europe de 1914 était peut-être arrivée à la limite de ce modernisme. Chaque cerveau d’un certain rang était un carrefour pour toutes les races de l’opinion; tout penseur, une exposition universelle de pensées. Il y avait des œuvres de l’esprit dont la richesse en contrastes et en impulsions contradictoires faisait penser aux effets d’éclairage insensé des capitales de ce temps-là: les yeux brûlent et s’ennuient.“37 „Nun wohl, das Europa von 1914 war vielleicht bis an die Grenzen einer solchen Modernität gelangt. Jeder Kopf von Rang war ein Treffpunkt aller Weltanschauungen; jeder Denker eine Weltausstellung der Gedanken. Es gab Werke des Geistes, deren Reichtum an Gegensätzen und einander widersprechenden Impulsen an die wahnwitzigen Lichteffekte der Großstädte der Zeit denken ließ, welche die Augen quälen und ermüden.“38
Und dann findet Valéry für dieses Europa, das an eine materielle und geistige, d.h. besonders moralische Grenze gelangt ist, ein interessantes Bild: „Qu’est-ce donc que cette Europe? C’est une sorte de cap du vieux continent, un appendice occidental de l’Asie.“39 „[…] Was ist nun dieses Europa? Es ist gleichsam ein Kap der alten Welt, ein westlicher Ausläufer Asiens.“40
Auch hier also findet sich eine organische Metapher, diejenige des „appendice“: Blinddarm, und dann auch Anhängsel. Der Blick des Kulturkritikers fällt auf einen degradierten Kontinent, der aus eigener Schuld, aus Hybris, zurückgefallen ist in eine marginale Position und sich nun als „cap“ Asiens zu begreifen hat. „Cap“ ist übrigens ein interessanter, schillernder Begriff: Er ist erstens ein geographischer Begriff und bezeichnet einen Vorsprung, den Ausläufer eines Kontinents (Kap der guten Hoffnung, Kap Hoorn usw.). Er ist zweitens ein Begriff der Seefahrt für den Kurs eines Schiffes und war Valéry, dem „méditerranéen“, besonders vertraut: Daher kommen Ausdrücke wie „tenir le cap“, „le cap sur l’avenir“, „rectifier le cap“, aber auch „perdre le cap“ – „sicher Kurs halten“, „alle Kraft voraus“, „den Kurs korrigieren“, „die Richtung verlieren“. „Cap“ kommt drittens etymologisch von
37 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., S. 992. 38 Valéry: „Die Krise des Geistes“, a.a.O., S. 30f. 39 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., S. 1004; vgl. schon S. 995: „un petit cap du continent asiatique“, dt.: „ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands“, S. 34. 40 Valéry: „Die Krise des Geistes“, a.a.O., S. 43.
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lat.: „caput“: Kopf, Verstand, und er verweist hier ironisch auf das Ende der geopolitischen, zukunftgerichteten, geistigen Dominanz oder Rationalität, auf die das moderne Europa und Valérys Denken selbst begründet waren, Monsieur Testes „homme toujours debout sur le cap Pensée“ – „Mensch, oder eher Mann, immer aufrecht stehend auf dem Kap des Denkens“. Interessanterweise hat gerade diese Metapher des „Kaps“ die Zusammenbrüche und nachfolgenden Krisen des 20. Jahrhunderts begleitet: Valérys Krise des Geistes wurde 1945 abgedruckt in der 1. Ausgabe der DDR-Zeitschrift Aufbau, und 1990, nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Blöcke, erschien Derridas L’autre cap, eine Auseinandersetzung mit der Gedankenfigur von Identität und Alterität.41 In La Crise de l’esprit vertritt Valéry eine augenfällig kulturpessimistische Position, die Teil und Resümee des Diskurses einer kulturellen Krise ist, der sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch und Ende des Ersten Weltkrieges zuspitzte und sich in Varianten wieder verstärkt im Europadiskurs des frühen 21. Jahrhunderts42 äußert. Bei Valéry trat er „als eine“, so Gerhard Neumann, „vehemente Auseinandersetzung mit den Wissens- und Verfahrensbeständen, mit ‚Memoria‘ und Wahrnehmungsmustern der vorangegangenen kulturellen Formationen“ in Erscheinung43 und als Reflexion auf die Konstruktion von Identität und Alterität, auf Hegemonieansprüche, die sich daraus ableiten. Die Krise äußert sich, so Valéry, als „geistige Verwirrung“ unter dem „Druck der Angst“, als diffuse Emotion, von der ja auch Koselleck als Krisensymptomatik sprach, als Verlustangst, die niemals ein guter Ratgeber ist. Narrative, auch „Narrative der Krise“, rekurrieren vielfach auf Bekanntes, auf Denkfiguren, die im kulturellen, gebildeten oder auch populären Gedächtnis verankert sind. Das kann eine literarische Figur sein, ein intertextueller und intermedialer Resonanzraum; das kann ebenso ein ideologisches Muster sein, oder auch, wie vielfach zu beobachten, ein propagandistisches. Narrative der Krise: Die schlechthinnige Krisengestalt ist Hamlet. Matthias Matussek rief 2008 im Spiegel mit direktem Bezug auf die Finanzkrise die „Generation Hamlet“ aus und erklärte das Shakespeare-Stück über den dänischen Prinzen und die „out of joint“ geratene Zeit zum „Signet-Text der Epoche“. Eine ganze Jugendkohorte könne sich auf den Theater- und Musicalbühnen des Landes in dieser Gestalt wieder erkennen, denn auch für sie
41 Vgl. zu „l’autre cap“, „le Cap européen“, „Festung Europa“ Schmidt-Radefeldt, Jürgen: „Das andere Kap Europa. Derrida denkt Valéry um und weiter“, in: Recherches valériennes, 5 (1992), S. 33-42. 42 Habermas, Jürgen: „Ach, Europa“, Frankfurt a.M. 2008 (statt Hans Magnus Enzensbergers optimistischem „Ach Europa!“ von 1987). 43 Neumann, Gerhard: „‚Tourbillon‘. Wahrnehmungskrise und Poetologie bei Hofmannsthal und Valéry“, in: Etudes Germaniques, 53/2 (1998), S. 397-424.
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ginge es um „to be or not to be“.44 Die Geburtsstunde der „Generation Hamlet“ sieht er in Heiner Müllers „Hamlet-Beschwörung“ von 1990, an der Bruchstelle der europäischen Geschichte – erst zwanzig Jahre später aber könne das Schlussbild in seiner ganzen Wucht verstanden werden: die kapitalistische Welt, die Kernschmelze, der Hitzetod. Auch im Krisendiskurs 1900 ist Hamlet präsent. In La Crise de l’esprit evoziert Valéry den „europäischen Hamlet“ und benennt damit die Krise Europas, die Phantome und Gespenster, „spectres“, der Geschichte und ebenso eine Schuld, deren individueller und kollektiver Kern noch nicht genügend erfasst sei. Hamlet ist das Emblem dieser Geschichte der Krise, der Antipode von Prometheus, der für den Fortschrittsglauben, für Technik, Feuer und Energie stand. Und Hamlet, der unentschlossene Zweifler, der Zaghafte und Zauderer, ist vielleicht die rettende Gestalt, die Reflexionsfigur des Innehaltens und der Skepsis, der Krise und Kritik. Schon Baudelaire, einer der ersten Kritiker der materialistischen Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts, hatte Hamlet als Figur des Geistigen gegen den blinden Zukunftsoptimismus gesetzt. Und er setzt ihn mitten hinein in den Text, der sich mit der Ersten Pariser Weltausstellung 1855 befasst, mit einem der ersten globalisierten Events also, deren Sinn und Zweck die Demonstration der nationalen und technischen Macht war – immer gegenüber England, aber auch im Verhältnis zur gesamten Welt. Baudelaire diagnostiziert hier bereits die Dekadenz Europas und die Verlagerung der Vitalität in außereuropäische Kulturen, deren mannigfaltige, farbenfrohe und „bizarre“ Exponate eine aufregende neue Schönheit verkünden.45 Der Text zur Weltausstellung besteht aus drei Zeitungsartikeln. Sie befassen sich mit den Ausstellungen der Beaux-Arts, die im Rahmen der Weltausstellung stattfanden, und zu lesen ist hier eine Lobrede auf den Romantiker Delacroix, den Baudelaire gegenüber dem Klassizisten Ingres rühmt. Besonders interessant im Zusammenhang der Krise ist dabei die Betrachtung der Serie von Hamlet-Gemälden und -lithographien, die Delacroix um 1840 anfertigte. Die Ekphrasis zu dem Bild von 1839 „Hamlet und Horatio auf dem Friedhof“, das sich bezieht auf die berühmte Schädel-Szene V,1 des Stückes46, liest sich wie folgt:
44 Matussek, Matthias: „Generation Hamlet“, in: Der Spiegel 44/2008, abrufbar unter URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-61629794.html vom 01.12.2012. 45 Vgl. hierzu Hülk, Walburga: „Le Beau est toujours bizarre“, in: Anne GeislerSzmulewicz/Walburga Hülk/Franz-Josef Klein/Paolo Tortonese (Hg.), Die Kunst des Dialogs – L’Art du dialogue, Heidelberg 2010, S. 91-108; dies.: Bewegung als Mythologie der Moderne, S. 23ff. 46 Vgl. Renner, Ursula: „Schädel-Meditationen – Zur Kunstgeschichte eines Denkmodells“, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 171200.
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„Delacroix […] nous a montré un Hamlet tout délicat et pâle, aux mains blanches et féminines, une nature exquise, mais molle, légèrement indécise, avec un œil presque atone.“47 „Delacroix […] hat uns einen zarten und bleichgesichtigen Hamlet gezeigt, mit weißen, weiblichen Händen, eine erlesene Natur, doch weich, von Unentschiedenheit überhaucht und fast erloschenen Blickes.“48
Abb. 2: Eugène Delacroix, Hamlet und Horatio auf dem Friedhof, 1839 Baudelaire also sieht einen Hamlet mit neurasthenischer Anmutung als Symbol der europäischen Moderne, und auf die doppelte Verfasstheit aus Fortschrittsenthusiasmus und Dekadenzbewusstsein, und ebenso auf die aus dieser krisenhaften Ambiguität erwachsenen katastrophalen Folgen blickt Valéry von 1919 aus zurück. Nicht nur in La Crise de l’esprit evoziert er Hamlet und damit die berühmten Diagnosen des moralischen und politischen Verfalls („something is rotten“) und der aus dem Lot geratenen Zeit. Auch Valérys berühmtestes Gedicht Le Cimetière marin, das 1920 den Friedhof der Geburtsstadt Sète ins Bild setzt, auf dem er selbst später sein Grab findet, enthält eine Hamlet-Assoziation im memento mori der Schädelmeditation.
47 Baudelaire, Charles: „Exposition universelle – 1855 – Beaux-Arts“, in: ders.: Œuvres, complètes, texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Bd. 1, Paris 1976, S. 593. 48 Baudelaire, Charles: „Die Weltausstellung 1855“, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe, 8 Bde., hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 2, München/Wien 1983, S. 248.
128 | W ALBURGA HÜLK „Qui ne connaît, et qui ne les refuse, Ce crâne vide, et ce rire éternel!“49 „Wer kennt sie nicht und muß sie nicht verweigern, den Schädel und sein ewiges Gegrins?“50
Valéry öffnet zuletzt die Reflexion auf die politische und geistige Krise für eine Meditation über die Zeit, in der Europa, Hamlet und die Ikonologie der Schädel miteinander in Beziehung treten. Damit entfernt er sich von der Zeitgeschichte, so wie es generell in seinem Werk zu beobachten ist, und führt gleichwohl dorthin zurück. Er erinnert an die Schädelstätten des Mittelalters, die vanitas-Stillleben und Melancholie-Figuren der Frühen Neuzeit und ordnet sie einer generellen Abmahnung der Hybris zu, zumal der Hybris der westlichen Kultur. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Bildtradition des memento mori, die zuletzt 2007, genial und provokant, an Damien Hirsts For the Love of God zu betrachten war, dem Platinabguss eines mit 8601 Diamanten besetzten Totenschädels aus dem 18. Jahrhundert, der Welt „zur Erbauung“ dargeboten und zum Preis der Diamanten auf dem Kunstmarkt verhandelt.
Abb. 3: Harmen Steenwijck, Vanitasstillleben, ca. 1640, National Gallery London
49 Valéry, Paul: „Le Cimetière marin“, in: ders.: Œuvres, Bd. 1, S. 150. 50 Valéry: „Der Friedhof am Meer“, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 1, hg. von Karl Alfred Blüher und Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1992, S. 179.
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Abb. 4: Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, Et in Arcadia ego, 1616-1620
Abb. 5: Nicolas Poussin, Et in Arcadia ego, 1638-1640
Abb. 6: Damien Hirst, For the Love of God, 2007 Ich komme noch einmal kurz zurück auf La Crise de l’esprit, den Text, dem im Ansatz eine Krisentheorie zugrunde liegt. Hamlet nämlich erscheint hier als Verkörperung jener Ambiguität, die jeder Krise und den Reaktionen auf eine Krise innewohnt: Zum einen lebt Hamlet zunächst in Angst, sodann im Bewusstsein der Gefährdung und Schwäche; zum anderen vertritt er im Zaudern den Reflexionsmodus der Kritik, ja ein „schwaches Denken“, wie es Gianni Vattimo später als „pensiero debole“, als Haltung des Intellektuellen ausgewiesen hat.51 Damit wird Hamlet zur Allegorie und seine Haltung zur Chance der individuellen und kollektiven Krise, ganz besonders auch der Krise der Intellektuellen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Schädelstätten der Schlachtfelder und Hamlets Schädelmeditation gehen ineinander über, die Schädel der europäischen Meisterdenker, die Erfindungen und Visionen der
51 Vattimo, Gianni: Il pensiero debole, Mailand 1983.
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genialen Gehirne, die auch für Valéry ein Faszinationsmuster waren52, lassen den Europäer ratlos zurück. Valérys Text ist solcherart ein komplexer, in sich schwieriger Krisendiskurs, der abrechnet mit dem Fortschrittsgedanken der Moderne. Die Ambiguität des Begriffs „Krise“ nimmt er in sich auf: Scheiden, Wendung zum Schlechten oder zum Guten. Man kann ihn in vielem problematisch finden, nicht zuletzt in seinem Rekurs auf die zu Beginn des 20. Jahrhunderts modischen Verfallsdiskurse, und wie die meisten kulturkritischen „Krisen“-Reflexionen ist er ganz und gar unironisch. Interessant ist er als Plädoyer für Selbstbesinnung, Selbstkritik und geistigen Neuanfang, verbunden mit der Ermahnung zur Demut, aber auch der fatalistischen Vision unaufhaltsam fortschreitender, selbstvergessener Betriebsamkeit. Ich schließe mit einer längeren Textpassage: „Maintenant, sur une immense terrasse d’Elsinore, qui va de Bâle à Cologne, qui touche aux sables de Nieuport, aux marais de la Somme, aux craies de Champagne, aux granits de l’Alsace, – l’Hamlet européen regarde des milliers de spectres. Mais il est un Hamlet intellectuel. Il médite sur la vie et la mort des vérités. Il a pour fantômes tous les objets de nos controverses. Il a pour remords tous les titres de notre gloire; il est accablé sous le poids des découvertes, des connaissances, incapable de se reprendre à cette activité illimitée. Il songe à l’ennui de récompenser le passé, à la folie de vouloir innover toujours. Il chancelle entre les deux abîmes, car deux dangers ne cessent de menacer le monde – l’ordre et le désordre. S’il saisit un crâne, c’est un crâne illustre. – Whose was it? – Celui-ci fut Lionardo. Il inventa l’homme volant […]. Et cet autre crâne est celui de Leibniz, qui rêva de la paix universelle. Et celui-ci fut Kant, Kant qui genuit Hegel, qui genuit Marx, qui genuit… Hamlet ne sait trop que faire de tous ces crânes. Mais s’il les abandonne? […] Et moi, se dit-il, moi, l’intellect européen, que vais-je devenir? … Et qu’est-ce que la paix? […] Adieu, fantômes. Le monde n’a pas besoin de vous. Ni de moi. Le monde, qui baptise du nom de progrès sa tendance à une précision fatale, cherche à unir aux bienfaits de la vie les avantages de la mort. Une certaine confusion règne encore, mais encore un peu de temps et tout s’éclaircira; nous verrons enfin apparaître le miracle d’une société animale, une parfaite et definitive fourmillière.“53 „Und jetzt – auf einem ungeheuren Erdwall von Helsingör, der von Basel bis Köln reicht, der an die Dünen von Nieuwpoort, an die Sümpfe der Somme, an die Kreidefelsen der Champagne und den Granit des Elsaß grenzt, erschaut der europäische Hamlet Millionen Gespenster. Aber er ist ein sehr intellektueller Hamlet. Er meditiert über Sein und Nichtsein der Wahrheiten. Die Geister, die ihm erscheinen, sind alle Probleme, um die wir streiten; unsere Ruhmestitel, für ihn sind sie Gewissensqualen; er erliegt unter der Last der Erfindungen, Kenntnisse, Methoden und Bücher, unfähig,
52 Vgl. Valéry, Paul: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, in: ders.: Œuvres, Bd. 1, S. 1153-1198. 53 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., S. 993f.
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darauf zu verzichten, außerstande, sich dieser grenzenlosen Tätigkeit neu hinzugeben. Er denkt des Verdrusses, das Vergangene wiederzubeginnen, des Wahns, immer wieder Neues zu wollen. Er schwankt zwischen beiden Abgründen, denn zwei Gefahren hören nicht auf, die Welt zu bedrohen: Ordnung und Chaos. […] Greift er nach einem Schädel, so ist es ein erlauchter Schädel. – Whose was it? – Der da war Lionardo, der den fliegenden Menschen ersann. […] Und der da ist der Leibnizens, der vom Weltfrieden träumte. Und der da war Kant; Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen? Hamlet ist sehr unschlüssig, was tun mit allen diesen Schädeln. Soll er sie preisgeben? […] „Und ich“, spricht er zu sich, „ich, Europas Intellekt, was wird mein Schicksal sein? [...] Und was ist der Friede […] Fahrt hin, Gespenster! Die Welt bedarf euer nicht mehr. Noch meiner. Die Welt, die ihrem Hang zu unseliger Verstandesschärfe den Namen ‚Fortschritt‘ gibt, trachtet, die Güter des Lebens mit den Vorteilen des Todes zu verbinden. Noch herrscht in manchem Unsicherheit. Ein wenig Geduld, und alles wird sich aufklären; schließlich wird vor unseren Augen das Wunder einer Tiergesellschaft entstehen, ein vollkommener und endgültiger Ameisenhaufen.“54
54 Valéry: „Die Krise des Geistes“, a.a.O., S. 31f.
The Romance of Violence and the Crisis of mid-20th Century America Stanley Kubrick’s 2001: A SPACE ODYSSEY C. S TEPHEN J AEGER
This essay is part of a projected book, The Romance of Violence, on ideas of violence in intellectual and academic culture in Europe and America since the nineteenth century and their expression in popular culture. The argument is, in part, that intellectual, academic and popular culture co-participate in a ‘culture of violence’. The basic question of the book is: why do we cultivate violence? That we do, is beyond doubt. Western attitudes consist of equal parts abhorrence and admiration, and both attitudes reinforce the cultivation of violence. In entertainment, violence ranks alongside sex with its attractiveness for audiences. Slasher and action-adventure movies, perennially popular, live from it; video games with it sell well, as do newspapers. The culture of violence we live in at present patronizes violence for its style, its entertainment and market value. We love it in academic culture too. It is studied, debated, analyzed, fictionalized, philosophized, hypostasized and metastasized. Even the gesture of criticizing violence, or mounting big projects to expose the complicity of violence and the political order, contribute to the cultivation of violence. It can stand as a general thesis that all representations of violence in a culture of violence affirm it and participate in the ‘romance’. It is important to distinguish acts of violence – real murder, rape, carnage, revolutionary or military violence – from its popular and academic cultivation. Real violence happens in another realm. The separation of violent actions from their cultural consumption creates the circumstances in which a ‘romance of violence’ can develop. We love violence only so long as we can maintain myths about it.1 It is analogous to the kind of love affair 1
The works I refer to here, fiction or theory, are restricted to those in a late-romantic, Nietzschean tradition. Serious theorizing of revolutionary violence, for instance, the works of Georges Sorel, Frantz Fanon, and Jean-Paul Sartre, are
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we call a ‘romance’. This intense, passionate and usually brief form of love is ordinarily nursed by illusions about the beloved. The romantic lover is in the grip of an attraction that cancels out hesitations and inhibitions, overrides conviction and good sense, disables the faculty of cautious foresight. One woos and the other is wooed. In contemporary usage, especially highlighted in the use of the term ‘romancing’, the wooer is a seducer willing to play on the gullibility of the wooed – as in “romancing the stone” or “the grail” or “the past.”2 It follows that romance in this sense seldom outlives the exposure of its underlying motives. Likewise, in a romance of violence, the love affair of the viewer with violence can seldom coexist with the real experience of it. It is based on glorifying myths, which are often illusions; reality endangers them. The experience of real violence ordinarily ends the romance we have with it. Stanley Kubrick’s film, 2001: A SPACE ODYSSEY, poses, in its framing scenes and its general conception, the question: why are humans so violent? The philosophical presupposition of the film is: we are the animal species that practices murder and homicide regularly, and even if we share that distinction with a few other animal forms, we are definitely the only species that makes sophisticated weapons, wages war, and develops killing forces sufficient to end or at least threaten to end life on earth.3 Kubrick’s pessimistic take on the origins and essential nature of the human species grew out of a climate of crisis in the US in the mid-20th century and out of Kubrick’s own preoccupation with the ability of the human race to destroy life on earth. It was tutored by a philosophy, indeed a science, in the air in mid-century, which regarded humankind as the killing species. Kubrick studied the topic in conceiving the film SPACE ODYSSEY. I begin with some analysis of the film’s philosophical positioning. The opening and closing scenes give the movie a sweeping historical frame, which attempts nothing less than a brief history of mankind. Evolution of man is the guiding perspective. The opening scenes play in a pre-human primal landscape; they show the development of humans from apes; the closing scenes, the development of the next evolutionary phase. The interval of millions of years when humans
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concerned with the real, practical use of violence in politics. This essay is about the romance, not the reality of violence. The term ‘romancing’ in this sense is newly minted. A search for titles beginning with “Romancing” in the UCLA library catalogue turns up 33 hits, none before 1984, the year of Romancing the Stone. Kubrick in an interview with Paul D. Zimmermann: “Although a certain amount of hypocrisy exists about it, everyone is fascinated by violence […]. After all, man is the most remorseless killer who ever stalked the earth. Our interest in violence in part reflects the fact that on the subconscious level we are very little different from our primitive ancestors.” Zimmerman, Paul D.: “Kubrick's Brilliant Vision” in: Newsweek 79, no. 1 (3 January 1972); cited in LoBrutto, Vincent: Stanley Kubrick: A Biography, New York 1997, p. 339.
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came to dominate the earth is condensed into a single edit. The core of the story is the Jupiter space mission. We start with a look at the opening and closing scenes. The movie opens on a primal landscape, four million years ago, after the dinosaurs and before humans. A brilliant sunrise gradually illuminates a prehistoric scene. A title locates us: we are present at “The Dawn of Man”. A family of peaceful, frightened apes grazes on a barren desert. The pickings for these down and out herbivores are slim. Their existence is threatened. They compete with tapirs for roots and tree branches, and they contend with another ape family in ritualized aggression for use of a water hole – muddy, small and shrinking. Unbeknownst to family no. 1, they stand at a turning point in primate evolution. One morning a tall, black monolith appears inexplicably in their midst.
Fig. 1: Apes touch the Black Monolith Some force that beams from the monolith transforms them, redeems them from the dead end of their present state and sets them on a new evolutionary path. The chief ape (Arthur C. Clarke called him “Moonwatcher” in the novelized version of the movie)4 discovers the new talent that has flowed into him mysteriously from the monolith as he plays abstractedly with the bones of a tapir.
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Clarke, Arthur C.: 2001: A Space Odyssey, New York 1999; 1st published 1968.
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Fig. 2: Moonwatcher He raises his head as if someone were calling him. A shot out of sequence interrupts the ape’s meditation on the bone to show us the monolith seen from below, the camera looking vertically up its length to see the sun and moon aligned above it.
Fig. 3: Monolith, Sun and Moon This image ‘occurs’ to Moonwatcher. And with it something like a thought enters his mind. He picks up the long thighbone and swings it, taps bones, suddenly raises it high and brings it smashing down on the pile of bones. What has occurred to Moonwatcher is the concept, ‘club’ and what it can accomplish.
Fig. 4: Moonwatcher smashes the Bones
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Intercut with the clubbing of the bones is the death of a tapir. In other words, he has conceived along with the club, the concept of killing. This is apparently the new skill that entered him via the monolith. Here is the primal moment, the dawn of man, the birth of the human species. A threshold has been crossed, and to announce it, we have on the soundtrack the fanfare from Richard Strauss’s Thus Spoke Zarathustra synchronized neatly with the progress of the primal destructive act: the first triad made its grand ascent with sustained, majestic trumpet notes, then the full orchestra: a quick retreat from the climax in a descending half tone, major into minor. A pause before repeating the sequence filled by twelve martial strokes of the tympani. Again the same three festive trumpet notes rising in fifths, ending – again full orchestra – in another retreat from the climax, a rise of half a tone, this time from minor into major. Then the final sequence: on the sound track, the same ascending fifths; on the screen the open sky, foreground empty, into which Moonwatcher’s arm intrudes, rising in slow motion, holding the bone tight and threatening in his fist. It comes down, smashing the pile of bones that fly about crazily, just as the music, full orchestra, makes its triumphant leap, a full octave, the fulfillment of those two preliminaries. It is a grandiose moment: the invention of the act of destruction is rendered heroic by the music; the leap of the full orchestra realizes musically a leap from man to superman, from one evolutionary form to the next. Moonwatcher is now no longer just simian; he is a member in a new evolutionary species. The first sign of his development is in the evening meal. The family eats tapir meat. They no longer grub along with the tapirs; they hunt them. They now have an abundant food supply. So the new world order turns them – in the course of a single day – from herbivores into carnivores, from gatherers into hunters, from prey into predators. The following scene. The next confrontation at the water hole. Moonwatcher is no longer the fatuous dancer of the waterhole ritual, but a dangerous killer, weapon in hand. He clubs his rival to death, establishes his clan’s monopoly on the waterhole, and presumably sends family no. 2 the route of the dinosaurs. This is the real dawn of man, the act of killing one of your own species. The first idea the new evolutionary form, man, ever had is: make weapon; kill tapir; then kill your own kind, and do it with enjoyment, not horror and guilt. After the deed Moonwatcher does his victory dance, at the end of which he hurls his weapon high into the air. It circles gracefully in slow motion.
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Fig. 5: Victory Dance Its upward course ends in one of the most famous edits in film history, the bone rising and revolving, matched by the edit to a space ship, tumbling gracefully through space. Millions of years pass in the instant that separates the two frames. The crude killing weapon becomes an incredibly sophisticated machine cruising gracefully through weightless space between earth and moon to the lilting, comfortingly sweet, familiar and trivial Blue Danube Waltz – by another Strauss. The viewer advances from the beginning of human history to a point nearer the end. The movie as a whole is framed by the appearance of the enigmatic black monolith – or rather three identical monoliths. It occurs twice more. In the year 2001 American scientists on a moon settlement dig up a black monolith buried in a crater of the moon. A team of investigators stand before the unearthed monolith, clearly repeating the experience of the monkeys four million years before. This time the monolith emits a piercing ring. We learn from Arthur C. Clarke’s notes that it is an alarm sent off to its makers, prearranged to go off when the monolith is discovered.
Fig. 6: Astronauts respond to the Alarm
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The discoverers date the monolith to a time before the advent of humans on earth, and so the stunning conclusion is that intelligent life exists elsewhere in the universe and a highly advanced culture far preceded our own. The discovery triggers the search for the monolith’s source. Since the beam of sound is directed at Jupiter, a mission is sent to that planet. The Jupiter mission goes awry when the HAL 9000 computer suffers a nervous breakdown and kills all the crew except Dave Bowman. Bowman disables the computer and presses on to Jupiter and Beyond the Infinite (another title). At the end of his odyssey he winds up inexplicably in a swank Louis XVI-style hotel room somewhere in the depths of outer space. Unexplained elements pile up in the final scenes. (A reading of Clarke’s novel clarifies them so fully that the reader is grateful for the evocative obscurity of the movie plot.) Bowman ages, dies, and is reborn in a series of six shots that all seem to happen in the same time sequence.5 At his deathbed stands, enigmatically, the black monolith. The camera leaves the deathbed in the hotel room by a zoom in on the monolith, which to the viewer’s eye turns into the blackness of outer space. A moon comes into view, entering the frame from above, then from the right of the screen, an earth-like blue, cloud-shrouded planet. In the final shot Dave Bowman, now a fetus in a transparent bubble, has moved inexplicably into space, and is rotating slowly in blackness, his lucid blue bulging embryonic eyes gazing out onto a brave new world. And in the instant where his bubble enters the frame, for the third and last time in the film, we have the fanfare from Thus Spoke Zarathustra. Again the monolith has performed its Darwinian magic. What the black monolith is and where it comes from remains a mystery (Again, see Arthur C. Clarke’s novel, where all is explained). But what it does is clear: It produces evolutionary leaps. We see two of them: FIRST: In Moonwatcher’s overnight progress to creative thought, millions of years of slow natural selection collapse into hours. Out of apes, man emerges; out of hominids, homo sapiens. SECOND: Dave Bowman advances from mere man to the new evolutionary form, the next thing – whatever it is that supersedes human beings. The black monolith is an agent of super-natural selection. In both cases the fanfare from Thus Spoke Zarathustra signals the new form. And in both cases the full-octave triumphal leap – “ta-TA” – marks the moment of transformation.
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David Bowman is the observer of each stage. The younger Dave Bowman sees the older at each subsequent phase of aging, as though the older appeared as an actor in the same scene as the younger. The sequence is startling for its violation of time as well as for breaking the rigid objectivity of the camera to this point. These are the only point of view shots in the movie.
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As I said, there are three occurrences of the Zarathustra theme. The 3rd or actually, 1st, is in the opening credits. The triumphal leap of the fanfare sounds just as “A Stanley Kubrick Production” appears on the screen. Then, as the music completes its vaulting, exhilarating rise, the title appears: “2001: A SPACE ODYSSEY”. The Zarathustra theme is clearly freighted with the meaning, ‘the new man, the new evolutionary form’. There is a light irony in the veiled egotism: Stanley Kubrick announces a Stanley Kubrick production as the new evolutionary form. In terms of the history of science fiction films, he is absolutely right in doing so. The music of course associates the action with Friedrich Nietzsche’s work Thus Spoke Zarathustra (1885). That work is integrated in the theme of the film. Nietzsche’s ascetic prophet-figure Zarathustra announced the coming of the “Übermensch” or the superman. The “Übermensch” will supersede humans at the point in their history where, in Nietzsche’s view, they need it most. Humanity has run its course. What appears the highest stage in the progress of intellect and technology is actually the last and lowest stage of the species. Its destiny is played out; humans have exhausted their share of greatness, have had their last shot at whatever mission fate or the blind will of evolution had in mind for them. Something else has to come. Kubrick indirectly cited Nietzsche in an interview: “Somebody said that man is the missing link between primitive apes and civilized human beings. You might say that the idea is inherent in 2001 too… We are a semicivilized being, […] needing some sort of transfiguration into a higher form of life.”6
Since we can now obliterate life on earth – I’m paraphrasing Kubrick – we need a new, more advanced, more moral and spiritual life form.7 And here he parts ways with Nietzsche, who envisioned the superman as closer to Cesare Borgia than to the benevolence of Clark Kent, or to any in the many figurations of supermen in American popular culture. In an interview with Joseph Gelmis, Kubrick called the transfigured Dave Bowman “an enhanced
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Interview with Phillips, Gene D.: Stanley Kubrick: Interviews, ed. Gene D. Phillips, (Jackson 2001), p. 152; quoted in Rice, Julian: Kubrick’s Hope: Discovering Optimism from 2001 to Eyes Wide Shut, (Lanham/Maryland 2008), p. 32. Nelson, Thomas Allen: Kubrick, (2000), p. 104, p. 133. Kubrick judiciously left open to the imagination what that leap would lead to. In a rejected version the movie was to end when the Star Child destroys the earth by an act of the will, testing his “new powers”. (This event ends Clarke’s novelization, 2001: A Space Odyssey, p. 297.) Kubrick decided against it, partly at least because DOCTOR STRANGELOVE (1964) had ended with a series of nuclear explosions devastating the earth. But partly, one hopes, because the open-endedness of the gazing star child, with future written large in the amazement of its oversize eyes, was far more evocative and less crude. The final image evokes a new world, not the destruction of an old one.
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being, a star child, an angel, a superman, if you like […] prepared for the next leap forward of man’s evolutionary destiny […].”8 In Kubrick’s film we have the romance of violence in full bloom. European culture contributes (Nietzsche and the two Strausses); science, both hard and popular, meet the humanities and social sciences in the film. These embroiderings flow into a celebration of the American triumph of technology only highlighted by the failure of the HAL computer and the astronaut’s victory over this machine turned killer. And an element that added to the thrilling allure of the exposure of ‘true’ human nature was myth, an element at work in the earliest conception of SPACE ODYSSEY. Clarke recorded a comment of Kubrick in notes on the pre-production phase: “What we want is a smashing theme of mythic grandeur.”9 That’s certainly what he got. Other influences on the myth character of the film were Nietzsche’s Birth of Tragedy and Zarathustra, James Frazer’s The Golden Bough10 and Joseph Campbell’s The Hero with a Thousand Faces.11 2001: A SPACE ODYSSEY is based on an immense and bold vision: the beginning of humans, the end of humans. Kubrick’s brief history of mankind puts that history under the sign of violence. What makes us human is not our ability to reason or to write works of philosophy or literature, but rather our ability to think up weapons and to kill with them. We think, therefore we kill. We are not homo sapiens, but rather homo necans. The frame of the film shows the evolutionary cycle of a killing animal, a homo necans – us; it shows the killer instinct begotten, then 20 million years later, shed, or at least transformed. The dazzling image of the killing bone transformed into a spaceship is especially packed with implications of a bigger theory of violent mankind. It is more than a witty edit. The evolutionary gift that Moonwatcher and company received was the ability to devise killing weapons. The bone-intospaceship edit transmutes one murder weapon into another. While the humans who invent the spaceship have benevolent and enlightened intentions,
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Interview with Gelmis, Joseph: “Stanley Kubrick,” The Film Director as Superstar, (Garden City/NY: 1970); quoted from Interviews, ed. Phillips, p. 91. 9 Clarke, Arthur C.: The Lost Worlds of 2001, (New York 1972), p. 33 (entry of July 28, 1964). 10 An incident reported by Michael Herr shows Kubrick’s passion for Frazer’s work. Kubrick sent a copy of the complete Golden Bough (12 volumes) to a close friend, then head of production at Warner Brothers Studio, John Calley: “[Stanley] then bugged him every couple of weeks for a year about reading it. Finally Calley said, ‘Stanley, I’ve got a studio to run. I don’t have time to read mythology.’ ‘It isn’t mythology,’ Stanley said, ‘It’s your life’.” Herr, Michael: Kubrick, (New York 2000), pp. 9-10. 11 Clarke’s entry in his notebook for September 26, 1964, The Lost Worlds of 2001, p. 34: “Stanley gave me Joseph Campbell’s analysis of the myth The Hero with a Thousand Faces to study. Very stimulating.”
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the ‘mind’ of the ship reverts to its primitive inheritance: the HAL computer goes haywire and kills all the astronauts except for the one who escapes, not by the kindness of the computer.12 The murderous bequest of the earliest human creatures lives on, becomes genetically inherited material, is ineradicable and everywhere subtly infused into human culture. The killing bone transforms into a gently tumbling spaceship; the killer’s victory roar into the Blue Danube Waltz, nature into culture. Our great technological accomplishment, the spaceship, has its own evolutionary past as a blunt murder weapon – that is the implication of the match edit. The spaceship’s primal origins are present, deeply buried in the ship’s innards, and they reassert themselves in the primal act, murder. When SPACE ODYSSEY appeared in 1968 the time was ripe for the message that we are highly civilized and deeply savage at the same time. Since the end of the Second World War America had wielded the power to blow up the rest of the world. The destruction of Hiroshima and Nagasaki clearly demonstrated that ability. The same skills that created such destructive capacity were connected with, maybe the same as, those which created the space program. By 1949 the Soviet Union had developed the atomic bomb, and that meant that America’s only remaining major enemy wielded the power to blow up America. The Cold War had the aspect of a Mexican stand-off13 between the two super-powers. This created an overarching instability in American self-awareness. It shadowed the vaulting confidence that followed on the victories over Germany and Japan and in the growing prosperity of the post-war years turned into a paranoid defensiveness. The same mix of optimism and anxiety characterized the two decades that followed. In American social life the Eisenhower years established conformity, middle class comfort and golf as cultural and social ideals – paralleled by deep anxiety and paranoia about the threat of Communism. A flourishing, well-educated middle class society was capable of believing, for a time at least, in an insidious, hidden threat of communist infiltration great enough that it could justify or at least temporarily countenance the rise of Joseph McCarthy’s House Unamerican Activities Committee (HUAC). The paranoid style of American politics reemerged and experienced one of its most convulsive phases.14 Americans engaged in the pursuit of happiness – or their elected representatives – had to defend themselves against invisible
12 True, it is not the spaceship of the Jupiter mission, but the implied equation of bone and space ship stands. 13 In a Mexican stand-off two armed groups face each other, each prepared to fight and kill the other. But standing nose-to-nose virtually assures that each side will wipe the other out. Hence they wait, guns trained on each other, in a situation that threatens to explode into mayhem at any moment. It became a stock technique in Quentin Tarantino’s films. 14 Hofstadter, Douglas: “The Paranoid Style in American Politics”, first appeared in Harper’s Magazine, 1964, pp. 77-86.
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threats through the hunt for communist infiltrators. Conspiracies were sensed everywhere: of labor unions, of the film industry, of the government itself. To deny them was practically an act of treason. And so the richest, most advanced, proudest, most patriotic country on the earth went hunting in its midst for witches hexing all its glories.15 The next decades were also marked by combined triumphalism and fear. American technology and world influence advanced, ordinarily slightly in the lead of the single competitor, the Russians. The success of the Soviet Union in putting a missile (“Sputnik”) into orbit around the earth in 1957 challenged that lead and gave a strong impetus to American science. Now the cold war encompassed also a ‘space race’. American technological progress was at a highpoint in the Kennedy years. The Apollo moon mission was in full swing; Apollo 11 would land men on the moon in 1969, one year after the opening of Kubrick’s SPACE ODYSSEY. The national schizophrenia was a symptom of a cultural crisis no less than individual schizophrenia constitutes an individual crisis. Something like a nervous breakdown and a manic release of fears took place in the 1960s: the assassinations of John Kennedy (1963), Malcolm X (1965), Martin Luther King (on April 4, 1968, the day of the Los Angeles premiere of SPACE ODYSSEY), Bobby Kennedy (1968); race riots, the Vietnam war which overshadowed the entire decade. The 1960s were the heyday both of technology and world influence and of violence in America. It is not surprising that the climate of violence should have favored a philosophy and anthropology of violent humankind. In the macro-view, human beings had acquired a power to destroy undreamed of by kings, generals and terrorists in any earlier period of human history; and in the micro-view, the willingness of individuals to exercise violence seemed virtually unchecked. The willed destruction of the representatives of power or protest had a hazy connection with the feared destruction of entire cities, countries, the world. Of course, the trend got plenty of attention from artists, Hollywood, intellectuals and the academic community. I want to follow one academic line of thought on the origins and nature of human violence in the 1960s, the one that inspired Stanley Kubrick and Arthur C. Clarke, paleoanthropology. The study of ancient man and his immediate evolutionary predecessors, at least one line of that discipline, was on the trail of man the killing animal, homo necans. It was a peripheral position, largely rejected from the outset by mainstream anthropology. But its impact on the culture at large was great, largely though one of its most widely read popularizations by Robert Ardrey, African Genesis.16 This best-selling book had a heavy impact on thinking in intellectual culture, whatever the reaction of specialists in the
15 The trope of the witch hunt was used brilliantly by Arthur Miller, in his play, The Crucible (opened in 1953), to brand the activities of HUAC. 16 Ardrey, Robert: African Genesis: A Personal Investigation into the Animal Origins and Nature of Man, (New York 1961). Many reprint editions followed.
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field. Perhaps its most visible lasting influence was the one it exercised on the conception of Kubrick’s SPACE ODYSSEY, especially on the “Dawn of Man” episode. Clarke wrote in his notebook on October 2, 1964: “Finished reading Robert Ardreys African Genesis. Came across a striking paragraph which might even provide a title for the movie. Why did not the human line become extinct in the depths of the Pliocene? [...] we know that but for a gift from the stars, but for the accidental collision of ray and gene, intelligence would have perished on some forgotten African field.”17
The image of the black monolith transforming the apes [Fig. 1] is the visual realization of this “collision of ray and gene”, the killer mutation. Ardrey, a playwrite and writer-of-movie-screenplays-turned-popular-anthropologist, picked up the ideas of the Australian paleoanthropologist, Raymond Dart, on early man as killer and popularized them in African Genesis. He also hardened down on Dart’s conclusions and transformed Dart’s evidence into a foundation myth of human origins and an explanation of human nature. Ardrey summarized Dart’s thesis as follows: “What Dart put forward in his piece [The Predatory Transition from Ape to Man, 1953] was the simple thesis that Man had emerged from the anthropoid background for one reason only: because he was a killer […] A rock, a stick, a heavy bone – to our ancestral killer ape it meant the margin of survival. But the use of the weapon meant new and multiplying demands on the nervous system for the co-ordination of muscle and touch and sight. And so at last came the enlarged brain; so at last came man. Far from the truth lay the antique assumption that man had fathered the weapon. The weapon, instead, had fathered man.”18 “Man is a predator with a natural instinct to kill and a genetic cultural affinity for the weapon.”19
Ardrey went on to define mankind as “the children of Cain,” the heading of his last chapter. Aggression, the primal instinct, is far more deeply imbedded in humans, according to Ardrey, than more shallow impulses like civility, religion, justice, goodness, institution building. Killing, either to survive or to prevail in conflict, is primary; sociability and spirituality are responses to the dangers of the killing instinct, hedges against the murderous genetic inheritance of our race. In the same years the Austrian zoologist, Konrad Lorenz, was coming to similar conclusions on human nature based on studies of animal behavior.
17 Clarke: Lost Worlds of 2001, p. 34. 18 Ardey: African Genesis, p. 29. 19 Ardey: African Genesis, p. 167.
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English speakers know his book, On Agression.20 Lorenz’s work was popular and influential. What Lorenz contributed to the quest for homo necans, was the insight that all animal species besides homo sapiens have found a way of diverting and redirecting aggression. Murder and war are peculiarly human inventions, signs of a moral flaw the lower species do not share with humans. In the minds of the writers who think within this structure of thought I’ve just sketched out, very big things are at stake: the origins and nature of humankind. A passage in Ardrey’s African Genesis illustrates the self-importance of this essentialist thinking. Ardrey is describing his meeting in 1955 with Raymond Dart. It happens in Dart’s laboratory at the university of Witwatersrand in Johannesburg, South Africa. Before him on the work table is a skull of australopithecus Africanus, the killing ape. And Ardrey holds in his hand the skull of an ape from the same era that died young, its jaw smashed, a dark, smooth dent on the chin where the blow of a rounded club, probably a bone, had landed. A scene of primeval murder rises before his mind’s eye. Victim (the young ape bludgeoned to death) confronts murderer (or a representative of his species, the hominid skull) some 600,000 years after the deed. During this conversation and Ardrey’s meditation on it, thunder rolls outside the windows of the laboratory, and the earth beneath the two men shakes because old abandoned gold mining tunnels under the university collapse occasionally. Here is Ardrey’s narrative: “I said that I understood his [Dart’s] conviction that the predatory transition and the weapons fixation explained man’s bloody history, his eternal aggression, his irrational, self-destroying inexorable pursuit of death for death’s sake. But I asked, would it be wise for us to listen [to an idea that erases our belief in the nobility of man’s inner nature] when man at last possessed weapons capable of sterilizing the earth? Dart turned from his window and sat down at his desk; and somewhere a tunnel collapsed, a mile down, and skulls jiggled. And he said that since we had tried everything else, we might in last resort try the truth.”21
That is, Ardrey sees in his mind’s eye a Copernican turn about to occur. Two earnest insiders to the truth – who have a sense of being truth’s “last resort” – debate whether they can afford to unleash on the earth truths as shattering as those whose proof they hold in their hands. Quite a scene. It shows Ardrey’s flare for the dramatic and his own penchant for “mythic themes of smashing grandeur.”
20 Lorenz, Konrad: On Aggression, trans. Marjorie Kerr Wilson, (New York 1966). The original version, Über das sogenannte Böse: Zur Naturgeschichte der Agression, appeared in 1963. Clarke and Kubrick began their long collaboration in 1964. They knew Lorenz from Ardrey, who cites him copiously. 21 Ardey: African Genesis, p. 30-31.
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The theatrical character of the scene with thunder crashing and the earth trembling seems to me to cast doubt on Ardrey’s objectivity. It reads like the work of a dramatist and Hollywood scenarist more than that of a committed scientist. The drama of abandoned gold mines collapsing in the earth beneath them mirrors too clearly the impending collapse of the deeply implanted, now empty, antiquated views of human nobility. But in fact what collapsed in the years after their publication were the theories of Raymond Dart and Robert Ardrey. It is generally agreed that they lean on extreme interpretations of skimpy evidence, that it is far more likely that the original humans were prey rather than predators, scavengers rather than hunters. And that the development of the human brain had to do with the need to devise lots of different means of providing this “naked ape,” man, with the means of survival: shelter, fire, learning and expression, and among many other kinds of supplements to the human condition, weapons. Likewise central “finds” in Konrad Lorenz’s studies are now regarded as untenable, most critically for the killing man thesis, the idea that humans are the only animal given to murdering members of their own species. And so, the science that supports the “murderous origins” thesis has been falsified beyond recovery. A recent article by Robert Sussman mops up on this line of argument on human evolution from the perspective of three decades of research rejecting it, and ends by ridiculing the idea. He suggests it is just as likely that the transition from ape to man was signaled by the new man’s ability to dance and that ‘dancing man’ (homo saltans) deserves as much title to consideration as killing man.22 The empirical foundations of this “smashing theme of mythic grandeur” have collapsed like abandoned gold-mining tunnels in South Africa. And yet they remain strong in the popular imagination.23 In that context the reception by specialists in paleoanthropology is less important than the role it played and still plays in the popular imagination. Like Nietzsche’s The Birth of Tragedy, generally held in low regard as historical scholarship by historians and philologists of antiquity, and like Freudian psychology as psychiatric practice, it was avidly received by intellectual culture in the West. These grand theories were more important as witnesses to critical phases of western culture than as sober scientific investigations. Nietzsche, Freud and Ardrey could hang on in the form of big cultural theory, stimulating and inspiring, well after their discrediting as science. Dart’s and Ardrey’s dubious assumptions of man’s killer nature, offered with the self-important pose of great scientists bravely facing terrible truths,
22 Sussman, Robert: “The Myth of Man the Hunter, Man the Killer, and the Evolution of Human Morality”, in: Zygon 34 (1999), p. 453-71. 23 The recent movie SHUTTER ISLAND, (dir. Martin Scorsese, 2010), adapts the ideology of violent origins, placed in the mouth of the most evil character (Max von Sydow), not without opposition: the humanistic psychoanalyst (Ben Kingsley).
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have much more to do with ideas rooted in a culture of violence than with empirical findings. A close relative of the anthropological theories of violent origins are two big theoretical works arguing the origin of religion in violence. Walter Burkert and René Girard both produced wide-ranging, provocative theories of the origins of religion in the 1970’s. They located those origins in acts of violence. Both are still widely read and influential.24 Burkert (and Girard) merit inclusion here not because Kubrick influenced Burkert or Burkert Kubrick, but rather because they were independently inspired by the climate of ideas in the years around 1970. While Girard is the more sophisticated theorist, I will focus on Burkert’s ideas here since they are the more lurid and most clearly illustrate the spell of the romance of violence in which their author was caught up. He hypes the sizzling claim that human religion originates from human violence. Burkert is a historian of ancient Greek religion. His major work, Homo Necans, is basically a study of ancient Greek religious ritual. 25 But it has a startling thesis as its point of departure which builds on the foundation of the anthropological works just discussed. For Burkert religion originates in the earliest phase of human development, not in man’s need for gods, but in the climactic act of the hunt: the killing of prey. The primal instinctual human response to the kill is in this case horror and guilt. Killing is horrifying, but necessary for self-preservation. This is the primal paradox of the human condition. Early man is shocked at himself: “Is this really me?” he might say to himself, “My god, I need a religion to make myself tolerable.” The response to the kill produces a fundamental restructuring of human perception and thinking. The shamed killer has to produce scenarios that mitigate or mask or excuse his action, and out of this impulse ritualized killing arises, sacrifice, the original form of worship. Burkert asserts the myth of man the primal killer vigorously: “Man became man through […] the act of killing.”26 Laws and other means of control and restraint develop as transformations of primal violence. That includes harmless and beneficial seeming acts like harvesting. For Burkert farming is the ritualizing of the act of killing. Cutting the wheat is a symbolic substitute for castration; grinding the grain and pressing the wine substitutes for the tearing up of an animal in the hunt or the sacrifice, plowing and sowing are acts of “preliminary sacrificial renunciations”. Burkert’s hard and unshrinking summary: “Civilized life endures only by giving a ritual form to
24 See the collection of essays in Violent Origins: Walter Burkert, René Girard, and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation, ed. Roberton G. Hamerton-Kelly, (Stanford, CA 1987). 25 Burkert, Walter: Homo Necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth, trans. Peter Bing, (Berkeley 1983). The work originally appeared in German in 1972. 26 Burkert: Homo Necans, p. 22.
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the brute force that still lurks in men.”27 The parallel to the opening sequence of SPACE ODYSSEY is evident: “Primal brute force” is to civilization as the primal murder performed by the ape Moonwatcher is to the spaceship and its killing technology. The most advanced stages of culture and technology still have the inescapable primal instinct for brutal acts alive in their very DNA and seeking expression whether sublimated or open. I thought at one point of checking with the farm management program of University of Illinois to see if Burkert’s take on agriculture as sublimated violence has had much influence. But I didn’t want to seem to bear exotic ideas to those sober colleagues. I feel safe in assuming that Burkert’s vision of farmers sowing and reaping so that they don’t have to castrate enemies or rip apart animals hasn’t been widely influential among agricultural researchers. The idea has a close relative in a theory of stand-up comedy and its underlying viciousness proposed by a character in Woody Allen’s film STARDUST MEMORIES (1980). The Woody Allen character is talking with a Columbia University professor of cinema studies: Professor: “Comedy is hostility. It’s rage. What is it the comedian says when the jokes are going well? ‘I murdered that audience. I killed ‘em. They screamed. I broke ‘em up.’” Sandy Bates (Woody Allen): “So what’re you saying? That someone like myself or Laurel and Hardy or Bob Hope are furious?” Professor: “Furious or latent homosexuals. It’s hidden. Behind the jokes.”
And Burkert would say, it’s hidden behind the cutting and reaping, it’s hidden behind religion, behind institutions and social life, behind spaceships and computers given control over human life. The surface is the mask. The savagery hiding behind and beneath it is essence. The immediate disciplinary neighbors of Burkert’s work are the writings of the “Cambridge school” of myth and ritual study, founded on James Frazer’s The Golden Bough with help from Nietzsche’s The Birth of Tragedy. But the hunting thesis which introduced and grounded Burkert’s substantial study of early Greek ritual drew directly on the paleoanthropological works cited earlier. In the preface to the English translation in 1983, Burkert admitted with only minor regret the erosion of the credibility of Konrad Lorenz and Robert Ardrey, but he left the hunt and killing-man theses in place in his first chapters – now reduced to historical curiosities. He also made some comments on the cultural climate in which the negative views of mankind prominent in Lorenz and Ardrey would inevitably come under attack:
27 Burkert: Homo Necans, p. 45.
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“Some overstatements [by Lorenz and Ardrey] no doubt have been corrected, but some of the criticism and subsequent neglect may be viewed as part of the schizophrenia of our world, which pursues the ideal of an ever more human, more easygoing life amid growing insecurity and uncontrolled violence.”28
These comments show a sharp perception of the mood of the west in the 1960s but they do not alter the fact that a reasoned consensus of scientists rejected the ideas that were the basis for Burkert’s hunting thesis.29 Burkert can cast that opposition as a rescue effort by advocates of a shallow optimism toward human nature. But at the same time he credits the criticism to the extent of backing away from the raw essentialism of the “killing man” and “children of Cain” hypothesis: “[…] the course of historical development as delineated in Homo Necans does not at any stage require that ‘all’ men acted or experienced things in a certain way […]. The thesis of Homo Necans does not hypothesize about genetic fixation of ‘human nature.’“30 Still, the title and the first chapter remain as reminders of the essentialist theories concerning an incurably violent humanity. Stanley Kubrick’s quest for a “smashing theme of mythic grandeur,” Ardrey’s self-confident and self-important assertion of, and Burkert’s more tentative clinging to, ideas that were sweeping, huge and highly falsifiable, are comfortably accommodated in the concept “romance of violence“. One senses the romance in progress – and its silliness – in the thrill of imagining harvest and stand-up comedy as sublimating acts of horrendous violence. What Kubrick filmed was not a mythicized version of scientific fact, but rather a narrative of crisis, a cultural framing of a genealogy of human destructiveness. Kubrick, Ardrey and Burkert wrote/filmed in an atmosphere of crisis which coincided with a late-romantic tradition of anti-enlightenment, debunking attitudes toward an optimistic, enlightenment rationalist, progressive view of the human condition. Earnest and indeed great artists and humanists believed earnestly and invested large amounts of intellectual capital so trustingly in perishable pseudo-scientific thought in part at least because they were in the grips of a romance. Of course, a phenomenon as appalling and horrifying as nuclear weapons called for powerful intellectual medicine, and sweeping condemnations of humankind as genetically allied with destructive violence were both Nietzschean, thrilling and plausible, at least on the level of cultural theory. A final observation. The larger structure of thought at work in this and every work I deal with in Romance of Violence is a pattern inherited from
28 Burkert: Homo Necans, p. xiv. 29 See the courteous rejection by the anthropologist Rosaldo, Renato: “Anthropological Commentary,” in: Violent Origins (as in n. 25 above), p. 239-44. 30 Burkert: Homo Necans, p. xv.
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European romanticism. In this view cultural and social life as we experience them are inauthentic, they violate true human dignity, pervert the real destiny of humans, or, to bring it to particular cases, they efface ethnic identity. To find the way back to authenticity, we have to recognize the experienced world as a deception, perhaps recover the lost world of authentic existence by a return to the past, in research or in fiction or myth, or to throw off the bonds of the present system by revolution. One recognizes in this general sketch of the romantic cultural paradigm ideas of Herder on lost ethnic identity; the grand philological rescue operation that the work of Jacob and Wilhelm Grimm and of many other philologists of the romantic period represented. In its post-Nietzschean mould, it sees institutions and moral restraints as an arbitrary invention of the dominant civilization, created in order to mask the truth and control dissent. The most advanced civilizations are built on a hidden ground of violence (remember Burkert on Hellenic culture: “the savagery beneath the seemingly civilized exterior”; and on Civilized life: it endures “only by giving a ritual form to the brute force that still lurks in men.”) To find the way back to your true self, to continue the logic of this romantic paradigm, you must confront the values of society, transform them, reject them, overthrow or even eliminate that world; then you will be free. In its extreme paranoid form, it invites individuals to destroy representatives of that corrupting society. That comment sums up the philosophy of the unibomber and Timothy McVeigh, distant relatives of Uncle Charlie in Alfred Hitchcock’s SHADOW OF A DOUBT (1942). Uncle Charlie is to all appearances a charming, charismatic, successful gentleman, but he leads a secret life as a psychotic killer, the ‘Merry Widow Murderer’. His adoring niece, also named Charlie threatens to expose him, and his answer to her provokes this statement of Uncle Charlie’s philosophy on the human condition: “You live in a dream. You’re a sleep-walker, blind. How do you know what the world is like? Do you know the world is a foul sty? Do you know if you ripped the fronts off houses, you’d find swine? The world’s a hell. What does it matter what happens in it? Wake up Charley. Use your wits. Learn something.”
Since swinishness is the essence behind the hypocritical surface, Uncle Charlie’s strategic response is to murder widows and take their money. His psychosis tends to discredit his sentiments as a valid pattern of action in a late romantic paradigm. But he acts out of a conviction that is a dark ally of a romance of violence: the conviction that human evil justifies someone who wipes out humans and profits from it.31 A variant of the romantic paradigm is at work in F.F. Coppola’s APOCALYPSE NOW. But its major popular
31 In the scene just cited we see a powerful influence on David Lynch, another film director with a strong vision of ‘the horror’ masked by everyday life.
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expression in film came in THE MATRIX (dir. Andy and Lana Wachowski, 1999). In this exchange the rebel guru Morpheus (Laurence Fishburne) tutors the messiah of the real world, Neo (Keanu Reeves) in the nature of reality. “MORPHEUS: Everything we experience as real is in fact an illusion, enabled by the matrix. NEO: The Matrix? MORPHEUS: Do you want to know what it is? The Matrix is the world that has been pulled over your eyes to blind you to the truth. NEO: What truth? MORPHEUS: That you are a slave, Neo. Like everyone else you were born into […] a prison of the mind. [Ripples of thunder and lightning outside.]”
The world of the Matrix is a computer-generated dream world, built to keep us under control. Only a few illuminati are able to distinguish the dream from reality, and that band of rebels led now by the messianic hero, Neo, the One, has the duty of destroying the Matrix, its defenders, and, absurdly, any and all citizens caught in the Matrix-produced illusion, since everyone is a co-conspirator in the deception that experienced life, as presented in this film, is. And finally, Stanley Kubrick had gotten plenty of creative inspiration from the Nietzschean variant. In Kubrick’s 1964 satire on nuclear Angst, DOCTOR STRANGELOVE, the insane U.S. army officer, General Jack Ripper (played by Sterling Hayden) penetrated all deception, hypocrisy and moral fussiness restraining presidents and diplomats by launching a final-solution preemptive nuclear strike on Russia. That act triggered the Russians’ doomsday machine, which destroyed all life on earth. General Ripper acted in order to thwart a communist conspiracy to sap our vital bodily fluids. The Wachowskis came close to duplicating that motivation in THE MATRIX, though their philosophical framing of a conspiracy that does indeed sap human bodily fluids, hence requires the destruction of human society, happens in a deadly earnest mood. And finally, the character of Alex, the chief thug in Stanley Kubrick’s A CLOCKWORK ORANGE (1971), who in the course of the movie beats a homeless beggar senseless, rapes a young woman, drives her to suicide and beats her husband leaving him an invalid, bludgeons a woman to death using a giant size plastic penis, and with his gang commits other lesser atrocities. Kubrick speaks clearly on the idea of this character in an interview with Bernard Weinraub. He explained the sympathy the audience feels with the film’s main character: “Alex symbolizes man in his natural state, the way he would be if society did not impose its ‘civilizing’ processes upon him […]. What we respond to subconsciously is Alex’s guiltless sense of freedom to kill and rape, and to be our savage natural selves,
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The film has a significant reminder of the complicity of culture in human violence. It links Beethoven’s ninth symphony with Alex’s destructiveness. One of Alex’s few redeeming human characteristics had been his love of Beethoven, especially the ninth symphony. Once arrested, he is subjected to a Pavlovian training that makes Alex loathe violent acts. It also makes him loathe the Beethoven symphony. It implies that you deprive man of his culture when you take away his violence. The star-child in SPACE ODYSSEY seems to overcome that life form which is driven either openly or from the shelter of civilization by his ‘savage natural self,’ the old human being. The child sees a new world beyond savagery; he is the new life-form that will dominate in the new world. Maybe the more advanced extra-terrestrial beings who arrange evolutionary leaps (in Clarke’s novel of SPACE ODYSSEY) realized their mistake in making us, and modified their creation, either to correct the flaws or to add new ones we don’t yet know about.
32 Weinraub, Bernard: “What Makes ‘Clockwork Orange’ Tick?”, in: New York Times, January 4, 1972.
Langeweile, Müdigkeit und Krise in der italienischen Literatur des 19. Jahrhunderts S ABINE S CHRADER
1888 eröffnet der zu seiner Zeit einflussreiche Dichter, Literaturwissenschaftler und -kritiker Arturo Graf1 das akademische Jahr an der Universität Turin mit einem Vortrag zur Krise der italienischen Literatur.2 Zehn Jahre später versucht sich Luigi Capuana in seiner literatur- und kulturkritischen Essaysammlung mit dem schönen Titel Gli ismi contemporanei ebenso an einer Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Literatur und kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Graf, es handele sich um „un inventario della miseria“.3 Für Graf und Capuana ist die Krise der Literatur nichts anderes als eine Kulturkrise. Mit den Gründen für die Krise beschäftigt sich auch der Journalist, Schriftsteller und Dramatiker Ugo Ojetti in seiner Umfrage Viaggio-inchiesta: Alla scoperta dei letterati (1895), in der er zeitgenössische Schriftsteller und Literaturkritiker über die italienische Literatur befragt. Repräsentativ ist die Antwort von Ruggero Bonghi: „Ormai in Italia non c’è più passione alcuna che ci spinga al bene o al male: ci diamo al bene o al male indifferentemente.“4 Erschöpfung, Gleichgültigkeit, Langeweile werden oft mit der Krise assoziiert, als Begründung dieser oder als ihr Symptom. Das deutsche Wort Langeweile impliziert vor allem eine lang gewordene Zeit, der französische ennui bzw. die italienische noia laden dieses Zeitbewusstsein stärker als das deutsche mit einem existenziellen Unbehagen auf. In der ruchlosen Menagerie menschlicher Laster, so Baudelaire, gäbe es be-
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Graf, Arturo: La crisi letteraria, Turin 1888. Der Artikel ist die überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung der Verf. am 4. November 2010 an der Universität Innsbruck. Capuana, Luigi: „Prefazione, o quasi“ und „La crisi del romanzo“, in: ders.: Gli ismi contemporanei, Mailand 1973, S. 4-6 und S. 40-53, hier S. 4. Bonghi, Ruggero, in: Ugo Ojetti: Viaggio-inchiesta: alla scoperta dei letterati [1895], Rom 1987, S. 203-211, hier S. 207.
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kanntlich kein hässlicheres und kein mächtigeres als das des ennui, der gähnend die ganze Welt verschluckt.5 Die berühmten Zeilen in Baudelaires Eröffnungsgedicht „Au lecteur“ der Fleurs du Mal bringen mit dem ennui eine Befindlichkeit des selbstbezüglichen Überdrusses zum Ausdruck, der die lang gewordene, ermüdende Zeit, die Nichtigkeit der Gegenwart nicht mehr auf ein „unbekömmliches Fremdes bezieht, sondern auf das eigene Leben – das dadurch selbst in die Position unbekömmlicher Alterität gerät.“6 Trotz der unterschiedlichen Bedeutungslagerungen sind der ennui, die noia wie auch die deutsche Langeweile zu einer „Grundstimmung des heutigen Daseins“ geworden7, die mit der ästhetischen Moderne und daher mit der Sattelzeit um 1800 angesetzt werden kann.8 Eine weitere Grundstimmung ist ohne Frage das Krisenbewusstsein, das infolge der Französischen Revolution aus der Erfahrung des anhaltenden Umbruchs, der Diskontinuität und der Hoffnungen auf strukturelle Veränderungen resultiert.9 Italien scheint in dieser Moderne keinen Ort zu haben, glaubt man den herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibungen, denn Italien nimmt sich selbst als verspätet, provinziell und antimodernistisch wahr.10 Die (Literatur)Geschichtsschreibung schreibt ein solches nationales Narrativ des 19. Jahrhunderts fort, in dem sowohl Langeweile als auch Krise keinen Platz haben bzw. fast ausschließlich in Hinblick auf das Risorgimento oder die Staatenbildung erzählt werden. Unterschlagen werden dabei, so lautet die These des vorliegenden Aufsatzes, die Langeweile- und Krisennarrative, die auf einen existenziellen Sinnverlust hinzielen und sich sehr wohl in der italienischen Literatur und in der Publizistik wiederfinden. Am Beispiel der Tex-
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Baudelaire, Charles: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen, hg. und übers. von Friedhelm Kemp, München 1991, S. 10f. 6 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 2002, S. 225; vgl. auch Bürger, Peter: „Der Ursprung der Moderne aus dem ennui“, in: Ludger Heidbrink (Hg.), Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne, München 1997, S. 101-119, hier S. 104. 7 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1983, S. 200. 8 Vgl. Schwarz, Christopher: Langeweile und Identität. Eine Studie zur Entstehung und Krise des romantischen Selbstgefühls, Heidelberg 1993; Mandelkow, Valentin: Der Prozeß um den ‚ennui‘ in der französischen Literatur und Literaturkritik, Würzburg 1999. 9 Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650, S. 635f.; vgl. auch Kemper, Dirk: „Ästhetische Moderne als Makroepoche“, in: ders./Silvio Vietta (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa: Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 97-126. 10 Vgl. Asor Rosa, Alberto: „La cultura“, in: AAVV: Storia d’Italia, Bd. V, 2, Turin 1975, S. 821-999; ders.: Storia europea della letteratura italiana, Turin 2009; Galli della Loggia, Ernesto: L’identità italiana, Bologna 1998.
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te von Ugo Foscolo, Giacomo Leopardi, Emilio Praga und Italo Svevo werden Diskurstraditionen der Langeweile und der Krise skizziert und gleichzeitig ihre jeweilige Kanonisierung im Italien des 19. Jahrhunderts nachvollzogen. Leopardi, der zahlreiche anschließende Konzepte der noia antizipiert, kommt dabei eine besondere Rolle zu. Zuvor aber einige grundlegende Überlegungen zum Zusammenspiel von Langeweile und Krise.
Langeweile und Krise Langeweile und Krise scheinen sich auf den ersten Blick auszuschließen, im Griechischen indiziert der Begriff der Krise einen Verlauf, der auf eine Entscheidung hinzielt, die zu einer Besserung führen kann.11 Krisen implizieren also Wendepunkte und damit dramatische Momente. Sie können demnach aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive als eine Anhäufung von „Prozesse[n], die durch Störungen des vorherigen Funktionierens“ von Systemen, wie beispielsweise epistemologische Wissens- oder literarische Gattungssysteme, verstanden werden. Sie vollziehen sich, wenn: „systemspezifische Steuerungskapazitäten nicht mehr ausreichen, sie zu überwinden, bzw. nicht mehr zur Anwendung gebracht werden. Solche Störungen können an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichsten Bereichen des jeweiligen Systems auftreten und sich mit zeitlichen Verzögerungen auf andere Bereiche, schließlich auf das ganze System auswirken. Damit wird ein krisenhafter Vorgang eine Systemkrise“.12
Von Krisenbewusstsein sprechen wir demnach immer dann, wenn explizit die kulturellen Umbruchsituationen thematisiert werden, in denen die alten Positionen, Texte, Weltanschauungen anachronistisch geworden sind und die neuen noch nicht verortet werden können. Langeweile ist wiederum, und hier sei erneut Martin Heidegger aus Die Grundbegriffe der Metaphysik zitiert, „schleppend, öd, es regt nicht an, es regt nicht auf, es gibt nichts her, hat uns nichts zu sagen, geht uns nichts an.“13 Der Langeweile liegt also die Erfahrung sinnentleerter Zeit zugrunde. Und so teilen Krise und Langeweile eine gemeinsame Zeiterfahrung, nämlich die der Kontingenz. Die Langeweile, der ennui bzw. die noia des 19. Jahrhunderts sind demnach auch als ein Indiz für eine ‚katastrophische Krise‘ zu werten14, in der
11 Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 637 und S. 617. 12 Vierhaus, Rudolf: „Zum Problem historischer Krisen“, in: Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse, München 1978, S. 313-328, hier S. 328. 13 Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 126. 14 Vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 153ff.
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jede Möglichkeit eines sinnbildenden Narrativs zerstört und der Sinnbildungsprozess selbst herausgefordert wird, da der Anspruch auf eine kohärente narrative Ordnung aufgegeben wird. Die noia verweigert sich dabei einem neuen Sinnbildungsprozess. In der italienischen Literaturgeschichte wird meines Erachtens genau dieses Bewusstsein für ‚katastrophische Krisen‘ im Ottocento oftmals unterschlagen. Im Folgenden möchte ich mich auf ihre Spuren begeben und nach den Strategien des Unterschlagens fragen.
„E allora fumo“ – Ugo Foscolo „Che fate dunque? Passeggio La sera pure? Passeggio Vi [an] nojerete? Talvolta E allora? […] E allora; fumo.“15
Das Gespräch stammt aus dem Romanentwurf Il sesto tomo dell’Io (17991801) von Ugo Foscolo (1778-1827), in dem der noia eine bedeutende Rolle zuzukommen scheint, schreibt der Ich-Erzähler doch aus Langeweile. Eine alternative Beschäftigung wäre es seiner Meinung nach, ein Instrument zu spielen, was er aber nicht vermag, zumal er damit auch noch seine Umgebung stören würde.16 Schreiben heißt also „liberarmi dalla noja“ und zwar ohne die Nachbarn zu belästigen.17 Schreibt er nicht, raucht er und erinnert damit nicht zufällig an einen der großen Raucher der Literaturgeschichte, Zeno Cosini. Il sesto tomo dell’Io ist nie vollendet worden, die sehr skizzenhaften Auszüge zeigen jedoch zum einen den sehr kreativen und spielerischen Umgang mit der noia zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zum anderen lässt die im obigen Zitat spürbare Ironie und die daran anschließende zahlreiche Metafiktionalität den ernsthaften Versuch Foscolos ahnen, den italienischen Roman zu erneuern. Stattdessen wird Ugo Foscolo mit seinem Briefroman Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802), dem Werther Italiens, wie ihn die zeitgenössische Kritik nannte, in die Literaturgeschichte eingehen; thematisch wie stilistisch ein Gegenentwurf zu Il sesto tomo dell’Io. Auch wenn der Text immer wieder eine sinnentleerte noja [sic] ins Spiel bringt18, bleibt Ortis ein melancholischer Held, dessen Melancholie durch sein Exil, sprich der Trennung von seiner Heimat und seiner Geliebten legitimiert und 15 Foscolo, Ugo: Il sesto tomo dell’Io [1798ff.], Turin 1991, S. 51f. 16 Foscolo spricht hier von „ingannare la noia“, Foscolo: Il sesto tomo dell’Io, S. 12. 17 Ebd., S. 14. 18 Foscolo, Ugo: Ultime lettere di Jacopo Ortis, Mailand 2000, S. 38, 103, 163.
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sublimiert wird. Im wahrsten Sinne des Wortes setzt Foscolo an die Stelle der noia Patriotismus und Melancholie, was dann auch allgemein auf die italienische Literatur des Ottocento, aber vor allem auf ihre Geschichtsschreibung übertragen werden kann. Patriotismus und Melancholie geben die Normalisierungs- und damit natürlich auch Krisennarrative vor, anders als in der französischen oder deutschen Literatur wird sich daher die Literarisierung der Langeweile als Bewusstsein einer katastrophischen Krise nicht durchsetzen.19 Hier erweist sich erneut, wie sehr die italienische Literatur der Nationenbildung als Ideal verpflichtet ist, in der das Bewusstsein von Langeweile und Krise ausschließlich als Reaktion auf die noch nicht geeinte Nation (und später dann auf die nicht angemessen geeinte Nation) verstanden werden kann, wie es im Folgenden auch in der Rezeption von Giacomo Leopardi deutlich wird.
„Vôto universale“– Giacomo Leopardi Bei keinem anderen italienischen Dichter hat die noia einen so zentralen Stellenwert wie bei Giacomo Leopardi. Sie wird in den Canti (1819-1836) besungen, beschäftigt den Autor in seinem Zibaldone, einem philosophischen, poetologischen Tagebuch und wird zum Zankapfel zahlreicher Dialoge in den oft sehr ironischen Operette morali (1820-1824, publiziert 1827, zeitgleich zu Manzonis Promessi sposi, aber von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt), die übrigens Friedrich Nietzsche veranlassten, Leopardi als einen „Meister[n] der Prosa“ zu bezeichnen.20 Es handelt sich bei Leopardi um eine philosophische Haltung, die er in seinen Gedichten kreativ nutzbar macht. Dabei entwirft Leopardi kein in sich geschlossenes Konzept des „vôto universale“ 21, der allumfassenden Leere, sondern versucht diese vielmehr in viele Richtungen zu denken, sodass er zentrale Konzepte der noia der Moderne antizipiert. Die noia und die Melancholie in Foscolos Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802) werden in einem Sinnsystem (konkret einem patriotischen) verortet, das überhaupt erst die Voraussetzung für die Sehnsucht darstellt. Auch Leopardi kennt diese unerfüllbare Sehnsucht nach einer glücklichen Zeit, die vielleicht in keinem Gedicht besser zum Tragen kommt als in Ricordanze: „ma con dolor sottentra // Il pensier del presente, un vano desio // dal passa-
19 Völker, Ludwig: Langeweile: Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs, München 1975; Schwarz: Langeweile und Identität. 20 Nietzsche, Friedrich: „Die fröhliche Wissenschaft“, in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 3, S. 448. 21 Leopardi, Giacomo: Zibaldone di pensieri [1937], 2 Bde., Mailand 1961, Bd. 1, S. 103 [72].
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to, – ancor tristo, e il dire: io fui“ (v. 58ff).22 Während das lyrische Ich in Ricordanze an die individuelle unschuldige Kindheit bzw. Jugend erinnert, denkt Leopardi die Kindheit bekanntlich im übertragenen Sinne als ein verloren gegangenes Zeitalter, konkret als Antike, die für ihn einen Ort der Unwissenheit und damit des Glücks symbolisiert. Der in der Imagination stattfindende melancholische süße Schiffbruch23, braucht aber die Poesie, um der Sehnsucht Bilder zu geben; eine Sehnsucht, die sich allerdings in der Reflexion als trügerisch erweist und daher nur von der Jugend in der Literatur als Illusion aufrecht erhalten werden kann.24 Kommt die Sehnsucht ins Spiel, spricht Leopardi von Melancholie, die er von der noia abgrenzt, die eben nicht mehr den großen Sehnsüchten oder Ideen entspringt, sondern vielmehr von deren Abwesenheit zeugt.25 Zur Veranschaulichung greift Leopardi im Dialogo di Torquato Tasso e del suo Genio familiare auf einen Vergleich mit der Luft zurück. Luft ist laut Leopardi überall dort, wo scheinbar nichts ist und so vermag der Mensch das Nichts auch nur über die noia zu spüren.26 Noia ist also für ihn eine unhintergehbare Wahrheit, die weder täuscht noch auf falschen Prämissen fußt, sodass man fast sagen kann, das alles, was dem Menschen an Wesentlichem gegeben ist, sich auf die noia beschränkt und in ihr besteht. Leopardi misst dieser „immensità del vuoto che si sente nell’anima“27 eine existenzielle Dimension bei und kommt der heideggerschen Beschreibung der Langeweile als moderne Stimmung und infolgedessen als eine Zeitlosigkeit, die aus der „Leergelassenheit als Ausgeliefertheit des Daseins an das sich im Ganzen versagende Seiende“ resultiert, sehr nahe.28 Entsprechend könnte man in den Texten ein Bewusstsein für eine katastrophische Krise ausmachen, da die Abwesenheit von Sinn eine Entscheidung ad absurdum führt. Leopardis noia steht dabei nicht nur unter anthropologischen, sondern auch unter kulturkritischen Vorzeichen: Die Moderne, wie Leopardi konkret seine postaufklärerische Gegenwart und damit auch die deutsche und französische Romantik versteht29, stellt nur einen weiteren scheinheiligen Ver-
22 Leopardi, Giacomo: „Le ricordanze“, in: ders.: Canti, a cura di Niccolò Gallo e Cesare Gàrboli, Turin 1988, S. 180. 23 Leopardi, Giacomo: „L’infinito“, in: ders.: Canti, a cura di Niccolò Gallo e Cesare Gàrboli, Turin 1988, S. 106. 24 Leopardi: Zibaldone di pensieri, Bd.1, S. 1361 [2243]. 25 Leopardi: Zibaldone di pensieri, Bd. 2, S. 555f. [3622]. 26 Leopardi, Giacomo: „Dialogo di Torquato Tasso e del suo Genio familiare“ [1824], in: ders.: Operette morali, Mailand 2008, S. 254-274, hier S. 263f.; vgl. auch Leopardi: Zibaldone, Bd. 2, S. 609 [3714]. 27 Leopardi: Zibaldone, Bd. 1, S. 159 [140]. 28 Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 206. 29 Leopardis Leitdifferenz besteht zwischen der ‚poesia antica‘ und der ‚poesia moderna‘, Leopardi: Zibaldone, Bd. 1, S. 20f. [15]; vgl. dazu Cerbo, Anna: „Una ricognizione del ‚moderno‘ attraverso lo Zibaldone“, in: Sebastian Neumeis-
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such dar, Illusionen (politische, emanzipatorische) wiederzuerwecken.30 Zur Disposition steht also bei Leopardi endgültig die positive Setzung des mündigen Subjekts bzw. das Glücksversprechen der Aufklärung. Mit dem Verlust der Illusionen verliert der Dichter zwangsläufig seinen höheren Auftrag (also beispielsweise die Überwindung einer Krise), Leopardi gibt dem Verlust aber immer wieder Raum in der Poesie, mit dem er nach neuen Ausdrucksformen sucht. In dem Gedicht A se stesso beispielsweise beschreibt das lyrische Ich seine Situation, die metonymisch als die der Menschheit gedeutet werden kann. Das lyrische Ich erfährt die Gegenwart als bitter, lästig und schmutzig (v. 9, 10), der einzige Weg zur Besserung läge daher im Wahn (v. 2) oder eben im süßen Selbstbetrug (v. 4). Leopardi bringt dabei, so hat Winfried Wehle sehr überzeugend aufgezeigt, die Illusionslosigkeit sprachlich hervor, indem er auf das suggestive, metaphorische Sprechen verzichtet (als Inbegriff der Illusion) und mit zahlreichen Enjambements die eigentlich strenge Metrik der Verse zu zerstören versucht.31 A se stesso führt dabei vor, wie die moderne Subjektivität als eine Folge der Selbstbezogenheit des Fühlens, die ja überhaupt erst die Voraussetzung für den Eintritt der Langeweile in die Literatur ermöglicht, Einzug ins Denken und damit auch in die Poesie erhält. Aus heutiger Perspektive stellt Leopardi eines der beiden Gesichter der italienischen Romantik dar und wird oft in einem Atemzug mit Foscolo genannt. Für die Zeitgenossen ist der Dichter aus Recanati in den Marken hingegen allein schon aus geographischen Gründen eine Randfigur, die bestenfalls erwähnt wird, lebt er doch fern des zeitgenössischen kulturellen Zentrums der italienischen Romantik, der Lombardei.32 Wird er erwähnt, gilt er als ein Ausbund fast mythischer Gelehrsamkeit.33 Seine Gedichte wie All’Italia und seine Idyllen wie beispielsweise L’infinito lassen ihn als patriotischen bzw. sentimentalen Dichter erscheinen – analog zu Foscolos Ultime lettere di Jacobo Ortis. Diese Lesart bleibt im Ottocento bestehen34 und wird von Francesco de Sanctis, dem Verfasser der ersten Storia della letteratura
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ter/Raffaele Sirri (Hg.), Leopardi. Poeta e pensatore/Dichter und Denker, Neapel 1997, S. 337-356. Dieser kulturkritische (aber auch atheistische) Impetus unterscheidet dann auch die noia von einer taedium vitae, wie sie die italienische Literatur natürlich kannte und beispielsweise später auch bei Carducci ein zentrales Thema wie in Alla stazione in una mattina d’autunno [1875f.] wird. Wehle, Winfried: Leopardis Unendlichkeiten. Zur Pathogenese einer ‚poesia non poesia‘, Tübingen 2000, S. 36f. Vgl. das Kapitel „Manzoni versus Leopardi“ von Veronese, Cosetta: The Reception of Giacomo Leopardi in the 19th Century. Italy’s Greatest Poet after Dante?, Lewiston [u.a.] 2008, S. 25-30. Veronese: The Reception of Giacomo Leopardi in the 19th Century, S. 30-36, S. 222. Ebd., S. 66ff.
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italiana (1872-73) festgeschrieben; er liest die Geschichte der italienischen Literatur als politische, nationale Heilsgeschichte und systematisiert sie entsprechend. Seine Literaturgeschichte – und sie ist die erste des jungen Staates – erzählt und verkörpert das gelungene Ende der Nationenbildung.35 Und so liest Francesco de Sanctis Leopardi, „quel cervello malato“ als Ausdruck eines sensiblen, am zersplitterten und krisenhaften Italien leidenden Dichters.36 Auch wenn de Sanctis 1858 in einem fingierten Dialog auf die gemeinsame anthropologische Dimension der noia bei Schopenhauer und Leopardi in der Rivista contemporanea hingewiesen hat,37 sieht er gerade in der nihilistischen Konzeption Leopardis einen ‚Import‘ französischer Philosophen des 18. Jahrhunderts, die sich der „infelice Leopardi“ als „lo straniero“ zu eigen macht, indem er die noia zu italianisieren versucht: „la filosofia del secolo decimottavo finì con lo scetticismo. Questo sistema filosofico rappresentato nell’arte penetrò in Italia, e fu abbracciato dall’infelice Leopardi, il quale non è stato freddo imitatore e servile seguace dello straniero; ma ha saputo rendere proprio, originale ed italiano quel sistema.“38
Das Attribut „infelice“ verweist auf die zweite hegemoniale Lesart von Leopardis Werk, nämlich die biographisch-pathologische, in der sein Nihilismus als sentimentale Projektion des eigenen Lebens verstanden wird: „Tutta la sanità dei classici non gli valse a ritemprare la mente ammalata.“39 Für Leo-
35 Wolfzettel, Friedrich/Ihring, Peter: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Literarische Tradition und nationale Identität: Literaturgeschichtsschreibung im italienischen Risorgimento, Tübingen 1991, S. VII-X, hier S. IX. 36 Vgl. De Sanctis, Francesco: „L’Armando“ [1868], in: ders.: Saggi critici, Bd. 2, Bari 1965, S. 217-244, hier S. 220; ders.: „La prima canzone di Giacomo Leopardi“ [1869], in: ebd., S. 380-400. Vgl. dazu auch: Lonardi, Gilberto (Hg.): Leopardismo. Tre saggi sugli usi di Leopardi dall’Otto al Novecento, Florenz 1990, S. 96, S. 25; Veronese: The Reception of Giacomo Leopardi in the 19th Century, S. 19f. 37 De Sanctis, Francesco: „Schopenhauer e Leopardi“ [1858], in: ders.: Saggi critici, Bd. 2, Bari 1965, S. 136-186. 38 Zit. nach Veronese: The Reception of Giacomo Leopardi in the 19th Century, S. 291. 39 Barbiera [sic], C.R.: „Nuove lettere del Leopardi“, in: Illustrazione Italiana, 5.1.1879, zit. nach Farinelli, Giuseppe: La pubblicistica nel periodo della scapigliatura. Regesto per soggetti dei giornali e delle riviste esistenti a Milano e relativi al primo ventennio dello Stato unitario, 1860-1880, Mailand 1984, S. 597, diese Lesart bleibt dominant; vgl. auch Guerrini, C. [sic]: „Gli ultimi anni di Leopardi“, in: Gazzetta illustrata, 9.5.1881, zit. nach Farinelli: La pubblicistica nel periodo della scapigliatura, S. 477; vgl. Marioano, Luigi Patrizi: Saggio psico-antropologico su Giacomo Leopardi e la sua famiglia, Turin 1896; Sergi, Giuseppe:
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pardis individuelle Krisengeschichte werden in der Regel drei Gründe angegeben, zum einen die Dominanz des strengen Vaters und zum anderen seine schwache Physis und sein Buckel. Die Gelehrsamkeit wird zur Therapie für seinen verwirrten Geist und den kranken Körper umgedeutet, die aber letztlich dem Import aus der Fremde, der noia nicht trotzen kann. Die wiederum wird entweder pathologisiert oder zum Ausdruck einer (prä)nationalen Krise, an der auch Leopardi leide. Ganz abgesehen von der bekanntlich äußerst fragwürdigen Gleichsetzung von Leben und Werk wird durch die biographische Perspektivierung Leopardis Schaffen komplett dekontextualisiert, was dazu geführt hat, dass seine Texte im 19. Jahrhundert aus einer nationalen wie auch internationalen Diskurstradition der noia herausgelöst wurden und immer noch werden. Interessanterweise ist der Blick der zeitgenössischen französischen Kritiker ein ganz anderer, da diese die noia von seiner Biographie lösen und sie, wie in der Zeitschrift Revue des deux mondes, schon 1861 als Indikator der „inquiétude moderne“ deuten.40 So erstaunt es auch nicht, dass Leopardi in Emile Tardieus Essai L’ennui (1903) als einer der wichtigsten Wegbereiter des Nihilismus und damit des ennui genannt wird.41 Der knappe Vergleich zwischen Italien und Frankreich veranschaulicht, dass schon Mitte des Ottocento mehrere Lesarten der noia möglich waren. Als ‚Gegenspieler‘ Leopardis, als italienischer Romantiker schlechthin, gilt seit Lebzeiten Alessandro Manzoni, der sich sowohl poetologisch als auch sprachlich dem zu einenden Italien verschrieben hat und mit den Promessi sposi ein normatives Modell sowohl für die italienische Literatursprache und für den italienischen Roman geschaffen hat und dabei der Literatur auch die Funktion der Selbstdarstellung, der Identitätsstiftung und Handlungsorientierung überantwortet hat.42 Wertungskriterium des risorgimentalen Kanons, so hat Alberto Banti in seiner Studie La nazione del Risorgimento (2000) herausgearbeitet, bleibt ausschließlich die christliche Werteskala, die nun in eine patriotische Opferbereitschaft im Martyrium oder im
„Le origini psicologiche del pessimismo leopardiano“, in: Nuova Antologia vom 16.4.1898; Croce, Benedetto: Poesia e non poesia, Bari 1964, S. 105f. 40 Mazade, C. de [sic]: „Les souffrances d’un penseur italien. Leopardi et sa correspondance. Epistolario di Giacomo Leopardi“, in: Revue des deux mondes vom 1.8.1861, zit. nach Farinelli: La pubblicistica nel periodo della scapigliatura, S. 1134. 41 Tardieu, Emile: L’ennui, Paris 1903, S. 49. 42 Vgl. die unmittelbare, unterschiedliche Rezeption bzw. Kanonisierung in Veronese: The Reception of Giacomo Leopardi in the 19th Century, S. 25-30. Vgl. zu den Kriterien für die Kanonbildung: Winko, Simone: „Literarische Wertung und Kanonbildung“, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1999, S. 585-600, hier S. 597; Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Kanon und Zensur“, in: dies., Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 7-25.
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Exil mündet, was u.a. der religiöse Kult um Garibaldi belegt.43 Die noia, sei es im ironischen Spiel Foscolos, sei es in der nihilistischen Haltung Leopardis, hat in einem solchen nationalen Kanon keinen Platz.
„Canto la noia“ – Emilio Praga In den 1860er Jahren kurz nach der Einigung Italiens wird die noia erneut Thema in der italienischen Literatur und darüber hinaus jetzt auch in der Literaturkritik und Publizistik. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die Mailänder Avantgarde avant-la-lettre La Scapigliatura. Es ist davon auszugehen, dass die Autoren die zu ihrer Zeit selten edierten Texte Leopardis nicht kannten, deshalb erhält die Lyrik von Charles Baudelaire einen Modellcharakter. Die Fleurs du Mal werden beispielsweise in Emilio Pragas Eröffnungsgedicht Preludio als Prätext markiert, konkret das eingangs zitierte Au lecteur. In der ersten Strophe wird von einer jungen, ziellosen Generation erzählt, deren Väter als Inkarnation des überlieferten Wertekanons keine Orientierung mehr zu bieten vermögen. Mit der Vätergeneration, so folgert Praga, geht sowohl die christliche als auch die patriotische Bestimmung der Dichtung verloren, für die der Name Alessandro Manzoni weiterhin stellvertretend steht. Manzoni wird schlichtweg zum „vegliardo“ (v. 14) und damit ist auch sein Konzept des „vero storico“ dem Untergang geweiht. Die neue Wahrheit ist gegenwärtig und heißt eben ‚noia‘.44 Entsprechend sind die starren Formen und die aulische Lexik endgültig aufgebenswert. Die Lyrik der Scapigliati wird nicht nur narrativer, auch im Vokabular wird die neue ‚Profanität‘ durch alltägliche Redewendungen integriert. In den Texten Pragas überlappen sich, wie auch schon bei Leopardi, erneut philosophisch-existenzielle und kulturkritische Konzepte, die zum einen aus der sich in den 1860er Jahren andeutenden politischen Krise der jungen Nation resultieren, die bald die gesamte italienische Kultur ergreifen wird. Verantwortlich dafür ist die Kluft zwischen dem Heilsversprechen eines geeinten Italiens, zu deren Fürsprecher sich einst die italienischen Literaten, allen voran Alessandro Manzoni, gemacht hatten und der von den Scapigliati beobachteten Lebenswirklichkeit. Zum anderen wird die noia Indikator für das grundsätzlich desillusionierte Verhältnis von Erwartung und Erfahrung und steht damit auch für die Rebellion gegen die bürgerliche Normalität des Lebens.
43 Banti, Alberto: La nazione del Risorgimento: parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Turin 2000. 44 Vgl. die ausführliche Interpretation in: Schrader, Sabine: „Zerzauste Unruhe. Die Scapigliatura zwischen Langeweile und Nervosität“, in: Rudolf Behrens/Rainer Stillers (Hg.), Inquietudini. Gestalt, Funktion und Darstellung eines affektiven Musters in der italienischen Literatur, Heidelberg 2010, S. 81-100 und dies.: La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon, Heidelberg (im Druck).
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Emilio Pragas Gedichte sind jedoch für viele seiner Zeitgenossen bis zum übermächtigen Literaturkritiker Benedetto Croce zu Beginn des Novecento nichts anderes als eine schlechte Kopie Baudelaires und ein Zeichen der nationalen ‚crisi letteraria‘.45 Die noia bildet daher erneut eine negative Folie für die Kanonisierung der italienischen Literaturgeschichte, eben weil sie den nationalen Auftrag der italienischen Literatur ins Leere, in den „voto universale“ laufen lässt, statt neue, positiv besetzte Denkräume für die nationale Literatur zu öffnen. Die Hartnäckigkeit dieser Rezeption zeigt sich bis heute in den italienischen Literaturgeschichten. Aus den Mailänder Kreisen der Scapigliatura gehen in den 1870er Jahren zahlreiche Kulturzeitschriften hervor, die beginnen, Texte von Leopardi abzudrucken und zu kommentieren. Es scheint fast so, als habe es den Umweg über Baudelaire gebraucht, um sich mit der italienischen Diskurstradition der noia auseinanderzusetzen. Zeitgleich dazu meldet sich eine andere, wirkmächtigere Stimme zu Wort, die des späteren Literaturnobelpreisträgers Giosuè Carducci, der in einem Brief von 1874 vor der Verbreitung eines leopardismo larmoyant, dieser bürgerlichen mode, die schon Deutschland und Frankreich befallen habe, warnt.46 Nicht zufällig verwendet er dafür die französischen Worte larmoyant und mode, verortet er doch die noia erneut in der ‚Fremde‘, als nicht zu Italien gehörend. Die Texte über die noia beginnen sich allen Unkenrufen zum Trotz in der Literaturkritik und Publizistik seit den 1860er Jahren zu häufen, so werden beispielsweise die Gedichte Pragas in der zeitgenössischen Presse als Ausdruck einer diffusen Krisenstimmung gelesen. Der italienische Figaro diagnostiziert 1864 in einer Emilio Praga gewidmeten Bestandsaufnahme der italienischen Literatur die noia als „la malattia della indifferenza [sic]“, die das gesamte Jahrhundert und damit auch die Literatur befallen habe.47 In der Kunstzeitschrift Emporio pittoresco notiert ein Freund von Praga, I.U. Tarchetti: „Dappertutto le stesse cose, tutti i giorni le stesse cose – dappertutto una fatica, uno sforzo per divertirsi che rende i divertimenti quasi più tormentosi della noia. La nos48 tra generazione ‚invecchiata‘“.
Tarchetti beschreibt hier die – auch schon von Leopardi zum Thema gemachte – Monotonie des Lebens, die leere Zeit, die im deutschen Wort Langeweile so präsent ist. Wird die noia als Abwesenheit von sinnstiftender
45 Croce, Benedetto: La letteratura della nuova Italia [1904], Bd. 1, Bari 1921, S. 250f. 46 Abgedruckt und zit. nach Lonardi: Leopardismo, S. 94. 47 Zendrini, Bernardo: „Dell’indifferenza nella poesia”, in: Figaro vom 14.1.1864, S. 2f., hier S. 2. Der Artikel ist Emilio Praga gewidmet. 48 Tarchetti, Iginio Ugo: „Conversazioni“, in: Emporio pittoresco vom 23.2.1868, S. 114.
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Zeit verstanden, ist das Streben nach Sinnangeboten, um die Leere zu füllen, eine logische Konsequenz. Es ist also gerade diese Suche nach Zerstreuung, die auf den Mangel verweist. Diese Unerträglichkeit der Aufgehobenheit von Zeit sei dann, so hatte schon Leopardi ironisch im Zibaldone notiert, auch der Grund, warum der Mensch gerne an den blutigsten und schrecklichsten Veranstaltungen, wie an öffentlichen Hinrichtungen teilnehme.49 Auch wenn sich Leopardis Äußerung fast wie ein Kommentar zur (post-) modernen Eventkultur liest, übt er hier keine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft – im Gegenteil –, man kann zu Beginn des Ottocento eher von einem aristokratischen Sehnen nach Beschäftigung sprechen, wie man es m.E. in der deutschen und französischen Literatur beobachten kann.50 Tarchettis Bemerkung hingegen steht unter bürgerlichen Vorzeichen, sie bezeugt die Verbürgerlichung der italienischen Gesellschaft. Dass der nicht mal Mitte zwanzigjährige Tarchetti sich und seine Freunde als überaltert empfindet, liegt darüber hinaus an der neuen ‚Erlebnisfigur‘ Jugend, die in Krisenzeiten zur Inkarnation einer besseren Zukunft geworden ist, gilt doch im ausgehenden Jahrhundert die Formel, dass die Jugend zum Inbegriff der Regeneration wird. Und genau dieses Versprechen kann die Generation von Tarchetti nicht einlösen, ist ihr doch die Zukunft abhanden gekommen. Wie schon bei Leopardi führt dieser Mangel an Entscheidungswillen in der Literaturkritik dazu, Tarchetti, aber auch sein Werk zu pathologisieren, seine Texte reflektierten nur seine Blutarmut und seinen Mangel an Muskelkraft.51 Der Geniekult spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Form der körperlichen Einschreibung, sprich der Pathologisierung, ist, wie Michel Foucault gezeigt hat, eine ganz typische Form der bürgerlichen Normalisierung, und so verwundert es nicht, dass auch das Krisenbewusstsein pathologisiert wird.
„Una grande stanchezza“ – Italo Svevo Das Zitat von I.U. Tarchetti könnte das Motto des letzten, in diesem Zusammenhang vorgestellten Textes sein, der wiederum knapp 30 Jahre später geschrieben wurde: Italo Svevos Roman Senilità (1898). Die noia wechselt die Textsorte, von der Lyrik zum Roman, wo sie dann auch im Novecento in Italien publik wird. Erinnert sei hier an Svevos anderen großen Roman, La coscienza di Zeno Cosini (1923) und an Alberto Moravias Gli indifferenti (1929) oder La noia (1960). Die noia wird mit dem Gattungswechsel im ausgehenden Ottocento bürgerlicher und prosaischer. Leopardis Sehnen 49 Leopardi: Zibaldone, Bd. 2, S. 1100 [4267]. 50 Vgl. dazu Völker: Langeweile, S. 116ff. 51 Carducci, Giosuè: „Dieci anni a dietro“, in: ders.: Bozzetti e scherme, Bologna 1889, S. 265-297, hier S. 278; vgl. dazu auch Schrader: „Zerzauste Unruhe“, a.a.O., hier S. 100.
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nach Beschäftigung steht daher unter anderen Vorzeichen, wird doch gerade die Beschäftigung Anlass zur Langeweile. Emilio Brentani, Angestellter einer Versicherungsgesellschaft fürchtet die Monotonie der Arbeit und gleichzeitig vermag er nicht mehr zu handeln, da ihn das Büro zu umschließen scheint.52 Er sieht sich vielmehr als Schriftsteller, obwohl er aus Trägheit seit vielen Jahren nichts mehr geschrieben hat, was ihn selbst und seine Freunde nicht hindert, in ihm eine literarische Zukunftshoffnung zu sehen.53 Seine Schreibversuche, wie beispielsweise die Beschreibung des „magnifico paesaggio“54 – und hier finden wir einen sehr ironischen intertextuellen Bezug auf das auch bei Alessandro Manzoni angelegte und für die italienische Literatur des Ottocento paradigmatische Idyll in der Narrativik55 – ermüden ihn. Auch die Politik ist für Emilio Brentani nur noch eine hohle Phrase.56 Überhaupt spielen Müdigkeit und Erschöpfung, das permanente Gähnen der Protagonisten eine nicht zu unterschätzende Rolle in Senilità – was im Text selbst übrigens durch die wiederholte Erwähnung desselben hervorgebracht wird. Brentani ist sich seiner eigenen „nullità“ bewusst, dennoch lebt er in der ständigen Erwartung, dass entweder seinem Geist die Kunst oder der Welt das Glück bzw. die Liebe entspringe57, doch die Dinge versagen sich ihm. Fast symptomatisch wird der Verzicht auf das jeweilige Mögliche durch das Verharren bzw. das Warten auf die Zukunft. Balli langweilt sich und folgerichtig ermüden ihn menschliche Kontakte, sei es in der Familie, mit den Freunden und während des monatelangen Karnevals. Verblassen die Obsessionen, bleibt nur die noia übrig: „Invano egli cercava in se qualche cosa d’altro fuori di essa, e non trovava che una grande stanchezza. Nient’altro! Forse la noia di sé, del Balli e d’Angiolina.“58 Brentani selbst wird zum Inbegriff des selbstbezüglichen Überdrusses, es breitet sich eine Langeweile aus, die auf keine konkrete Dimension, keine explizite Situation, keine Sehnsucht oder Idee mehr verweist, sondern ausschließlich ein existenzielles Unbehagen in sich trägt. Anders als vom Arzt, Physiologen und Kulturkritiker Angelo Mosso in seinem Essay La fatica (1891) beschrieben59, gehen Brentanis Müdigkeit daher auch weder eine intellektuelle Verausgabung noch genialische Züge voran, Philosophie, Politik und Kunst haben keine bedeutungsstiftende Funk-
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Svevo, Italo: Senilità, Mailand 1985, S. 56. Ebd., S. 10. Ebd., S. 102. Vgl. Schwaderer: Idillio campestre. Svevo: Senilità, S. 117f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 63. Mosso, Angelo: La Fatica, Florenz 2001. Damit gehören die Ermüdungsstudien zu Mossos Gesamtprojekt, eine graphische Physiologie der modernen Nerven zu schreiben.
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tion mehr. Heidegger würde in diesem Zusammenhang vielleicht von der „Hingehaltenheit durch die zögernde Zeit“ und der „Leergelassenheit“ sprechen, nämlich „vom Vorhandenen nichts geboten zu bekommen“.60 Es ist die leer gewordene Zeit, die Wach- und Schlafzustände schwer unterscheidbar macht. Die Ermüdung wird daher zum Symptom der Langeweile und damit zu einem weiteren zentralen Thema des Krisennarrativs im ausgehenden Ottocento. Emilio Brentani ist völlig zu Recht als großer, lächerlicher Eifersüchtiger, als inetto gelesen worden, aber der inettitudine, der Unfähigkeit, liegt meines Erachtens die bodenlose Langeweile und Müdigkeit zugrunde. Ohne Wolf Lepenies Melancholie und Gesellschaft in Gänze folgen zu wollen, kann doch ein Aspekt der Melancholie auf Svevos Langeweilekonzeption übertragen werden, nämlich das enge Zusammenspiel von Handlungshemmung und noia, sei es als Ursache oder als Folge. Das kreative (Leopardi) bzw. destruktive Potenzial (Praga) schwindet in Senilità, sodass man mit Lepenies von einem Weltverlust sprechen könnte, da die Protagonisten „vom Handeln als einem Wirken in der Welt und auf die Welt abgeschnitten sind“.61 Diese Handlungshemmung kann als ‚katastrophische Krise‘ begriffen werden, in Senilità wird sie zum undramatischen Dauerzustand. Im Text selbst wird die Ereignislosigkeit nicht nur zum Thema, sondern sie ist auch zentral für die Struktur: Es gibt keinen souveränen Erzähler, Erfahrungen und Reflexion stellen eine Kluft dar, sodass die einzelnen Erlebnisse nicht mehr in einen für den Leser nachvollziehbaren Sinnzusammenhang gebracht werden können, infolgedessen gehen die „Aufmerksamkeitshierarchien“ verloren.62 In der Rezeption bleiben die Romane von Italo Svevo ebenfalls lange ein Randphänomen. Senilità wird, wie zuvor Una vita, gar nicht beachtet. ‚Entdeckt‘ wird der Autor dann bekanntlich Mitte der 1920er Jahre von seinem Englischlehrer James Joyce, der sich für eine französische Übersetzung von La coscienza di Zeno Cosini einsetzte, die überaus erfolgreich war, sodass Svevo über den französischen Umweg Ende der 1920er Jahre auch in Italien rezipiert wird. Es hat aber bis in die 1960er Jahre gedauert, bis die Romane Svevos tatsächlich ‚salon‘- sprich kanonfähig werden. Als Ausschlusskriterien werden immer wieder Svevos Triestiner Varianten als fehlerhaftes Italienisch und das ‚abwegige Thema des Scheiterns‘ genannt.
60 Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 149 und S. 155. 61 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969, S. 187. 62 Galle, Roland: „Eifersucht und moderner Roman“, in: Rudolf Behrens/Richard Schwaderer (Hg.), Italo Svevo. Ein Paradigma europäischer Moderne, Würzburg 1990, S. 21-36, hier S. 25.
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Zusammenfassung Die italienische Kultur des 19. Jahrhunderts wird von den Zeitgenossen fast durchgehend als krisenhaft wahrgenommen, doch wird das Krisenbewusstsein jeweils isoliert betrachtet und auf die spezifische biographische und historische Situation bezogen. Anfang des 19. Jahrhunderts verweigert sich Leopardi der eschatologisch aufgeladenen Idee der Literatur, seine Verweigerung mündet letztlich in eine Apotheose der noia, die ganz grundsätzlich Zeit- und damit Sinnstiftungen in Frage stellt. Nach der Einigung stellt sich sehr schnell heraus, dass die nationalen Heilsversprechen nicht eingelöst werden können, an deren Stelle setzen die Scapigliati und Italo Svevo gähnende Leere. Sie stellen damit nicht nur eine mögliche, vom Entscheidungsbegriff implizierte Wende in Frage, sondern reflektieren mit der noia die „prozessuale[n] Grundbestimmung der geschichtlichen Zeit“ als eine Voraussetzung der krisenhaften Moderne.63 Die Literarisierung der Langeweile stößt in der nationalen Literaturgeschichtsschreibung auf großes Unverständnis, kanonisiert werden stattdessen Autoren wie Carducci oder D’Annunzio, die in ihren Texte antike oder nationale ‚Größe‘ beschwören. Die noia hingegen wird entweder umgedeutet, pathologisiert oder eben als ‚fremd‘ markiert. Der daraus resultierende, scheinbare Mangel an der Wahrnehmung und Verarbeitung von noia in der italienischen Literatur, so könnte man etwas plakativ formulieren, ist dann auch eine der Ursachen dafür, dass das italienische Ottocento bis heute ein Schattendasein führt und insbesondere im Vergleich zu Frankreich als provinziell und rückständig wahrgenommen wird, eben als unmodern, als nicht gegenwärtig.
63 Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 627.
Der spanische Patient Krisendiagnose, Reformdiskurse und Projektemacherei im spanischen 18. Jahrhundert C HRISTIAN VON T SCHILSCHKE
Das 18. Jahrhundert als Quelle und Objekt der Krisensemantik Wenn es in Spanien, wie in Deutschland, den Brauch gäbe, regelmäßig das ‚Wort des Jahres‘ zu küren, dann wäre im Jahr 2011 mit aller Wahrscheinlichkeit die Wahl auf crisis gefallen. Im Angesicht eines drohenden Staatsbankrotts, platzender Immobilienblasen, galoppierender Arbeitslosigkeit, dramatischer Konsumeinbrüche, akuter Bankenprobleme und einer Flaute in der Baubranche war in Spanien im Alltag und in den Medien kein Begriff präsenter als la crisis. Natürlich hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst auch die beliebte Wandermetapher vom ‚kranken Mann Europas‘ wieder eingestellt. So erlebte „Der spanische Patient“ seinen Auftritt nicht nur außerhalb Spaniens, zum Beispiel im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,1 sondern auch in den spanischen Medien selbst, etwa in El País: „España es el enfermo de Europa“.2 Das populäre Literaturmagazin Leer nahm im Mai 2011 die allgemeine, durch die Medien rhetorisch geschürte Krisenstimmung zum Anlass, den Blick auf das spanische 18. Jahrhundert und den bei Erscheinen der Zeitschrift vor genau zweihundert Jahren verstorbenen Staatsmann, Dichter und unermüdlichen Verfasser reformerischer Denkschriften Gaspar Melchor de
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Wieland, Leo: „Der spanische Patient. Das Land produziert vor allem Arbeitslosigkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.9.2009, S. 10. Pérez, Claudi: „La ‚marca España‘ se cae del pedestal. En los años de bonanza la imagen era buena en exceso; ahora, peor de lo que merece“, in: El País vom 28.5.2010, o.S. Siehe URL: http://www.elpais.com vom 15.04.2012.
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Jovellanos (1744-1811) zu lenken.3 Was Jovellanos aus der Sicht des Magazins dabei in den Augen des heutigen Lesepublikums aktuell erscheinen lässt, ist weniger die Tatsache, dass er heute zusammen mit dem Benediktinermönch Benito Jerónimo Feijoo (1676-1764) als bedeutendster Repräsentant der spanischen Aufklärung gilt, als vielmehr die Möglichkeit, in ihm den exemplarischen Vertreter eines modernen Krisenbewusstseins zu erkennen, dessen Ursprung in Spanien, wie in den übrigen Ländern Europas, an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert lokalisiert werden kann und das sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der sich auch in Spanien gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker abzeichnenden Reformunfähigkeit des antiguo régimen radikalisiert.4 Die Erkenntnis, dass der Begriff der Krise im 18. Jahrhundert unter dem Eindruck des europaweiten Niedergangs des Absolutismus und in metaphorischer Ausweitung des antiken Bedeutungsspektrums von den Zeitgenossen in einem emphatisch aktuellen Sinn zum ersten Mal auf die eigene Gegenwart bezogen wird, aber auch die Bereitschaft, diesen Begriff retrospektiv auf das 18. Jahrhundert anzuwenden, ja das Verdienst, ihn überhaupt als deskriptive Kategorie der Geschichtswissenschaft etabliert zu haben, ist im Grunde auf zwei im wörtlichen Sinne Epoche machende historiographische Publikationen zurückzuführen: Paul Hazards Studie La crise de la conscience européenne 1680-1715 (1935) und Reinhart Kosellecks Dissertationsschrift Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), die beide international große Beachtung fanden.5 Der französische Historiker und Essayist Paul Hazard (1878-1944) analysiert die in der europäischen Übergangsperiode zwischen Klassik und Aufklärung aufbrechende Krise aus einer geistesgeschichtlichen Perspektive als Widerstreit traditionsbewahrender und reformorientierter Kräfte, der durch das Gedankengut der Vor- und Frühaufklärung ausgelöst wird. Rein-
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Martínez, Borja: „Intelectuales frente a la ‚anomalía‘ española“, in: Leer 222 (Mai 2011), S. 16-19. Neben Jovellanos erinnert Martínez auch an den vor hundert Jahren gestorbenen Politiker, Juristen, Ökonomen und Historiker Joaquín Costa (1846-1911), den führenden Kopf der sogenannten regeneracionistas, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts für eine radikale Erneuerung der spanischen Gesellschaft einsetzten. Auch Hans Ulrich Gumbrecht räumt der Biographie von Jovellanos in seiner spanischen Literaturgeschichte einen privilegierten Platz ein, weil „an seinem Beispiel emblematisch Grundzüge der spanischen Mentalitäts- und Geistesgeschichte des XVIII. Jahrhunderts und frühen XIX. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen“ seien. Gumbrecht, Hans Ulrich: Eine Geschichte der spanischen Literatur 1, Frankfurt a.M. 1990, S. 554; vgl. zu Jovellanos ebd., S. 554-580. Vgl. zu der nachfolgenden Gegenüberstellung von Hazard und Koselleck Witthaus, Jan-Henrik: „Krise und Kritik. Zum Typ der Kritik in José Cadalsos Cartas marruecas“, in: Roland Galle/Helmut Pfeiffer (Hg.), Aufklärung, München 2007, S. 83-115, hier S. 83f.
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hart Koselleck (1923-2006) bindet die Entstehung eines Modernitätsbewusstseins zwar ebenfalls an das historische Moment der Krisenerfahrung und begreift, ähnlich wie Hazard, den Jahrhundertwechsel nicht als Scheidelinie, sondern als Zeitraum und Übergangsgebiet, konzentriert sich seinerseits jedoch auf die Phase vor der Französischen Revolution und die Sattelund Schwellenzeit um 1800, die eine Epoche eröffnet, der Koselleck auch noch seine eigene Gegenwart zurechnet. Wie der alliterierende Titel seiner Studie, der eben nicht Krise und Kritik, sondern Kritik und Krise lautet, programmatisch zu erkennen gibt, vertritt Koselleck die These, dass die Krise der Moderne, die sich ereignishaft in der Französischen Revolution von 1789 manifestiert, aus der bürgerlich-aufklärerischen Kritik hervorgegangen sei: „[D]er kritische Prozeß der Aufklärung hat die Krise im gleichen Maße heraufbeschworen, wie ihr der politische Sinn dieser Krise verdeckt blieb.“6 In Kosellecks am Verlauf der französischen Geschichte orientierter Darstellung schiebt die Gegenwart die Krise als eine Art säkularisiertes Jüngstes Gericht vor sich her, um die bestehenden Verhältnisse im Lichte einer stets vorweggenommenen Zukunft im Wesentlichen moralisch – und nicht genuin politisch – kritisieren zu können. Was Kosellecks Studie mit der Hazards und anderen maßgeblichen Arbeiten zur Epoche der Aufklärung wie etwa der Habilitationsschrift von Jürgen Habermas Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962) gemeinsam hat, ist der Umstand, dass sie sich vor allem auf das Modell der französischen und der englischen Aufklärung stützten. Im Zuge der Pluralisierung und Differenzierung der Aufklärungsforschung, die auch ‚peripheren‘ Aufklärungsbewegungen wie der spanischen mit ihrer ‚gebremsten‘ Säkularisierung und ihrer utilitaristisch-praktischen Ausrichtung die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, hat sich mittlerweile eine Sichtweise durchgesetzt, die insbesondere das französische Modell mit seiner emphatischen Verteidigung eines universalistischen, zukunftszentrierten Weltbildes nur „als eine historische Option neben anderen innerhalb einer europaweiten Bewegung“7 erscheinen lasse, soweit sie nicht, wie Siegfried Jüttner zu bedenken gibt, überhaupt die große Ausnahme darstelle: „War es nicht vorschnell, die historische Aufklärung und sei es auch nur heuristisch, auf ein Modell zu reduzieren? Und dabei Frankreich – den Sonderfall in Europa – zur Regel zu erheben?“8
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Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973, S. 5. Jüttner, Siegfried: „Von der Schwierigkeit, Mythen stillzulegen: Spanische Literatur und Aufklärung in der deutschen Hispanistik“, in: Iberoamericana 74 (1999), S. 5-37, hier S. 12. Ebd., S. 23. Für eine differenzierte Sicht auf die Literaturen der einzelnen nationalen Aufklärungsbewegungen hatte schon Werner Krauss im Jahr 1972 in seinem Aufsatz „Der komparatistische Aspekt der Aufklärungsliteratur“ plädiert.
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Vor diesem Hintergrund geht es mir im Folgenden zunächst darum, drei verschiedene Sachverhalte zu verdeutlichen: erstens, dass die Krise als zeitdiagnostischer Begriff selbstverständlich auch im Spanien des 18. Jahrhunderts ein zentrales Element der historischen Semantik bildet; zweitens, dass sie in dieser Zeit spezielle ‚Krisennarrative‘ ausbildet, also nicht nur bestimmte Erzählungen hervorbringt, sondern selbst auch zum Gegenstand entsprechender Erzählungen wird; und drittens, dass sie zur Entstehung und Ausdifferenzierung spezifischer krisenfokussierender Handlungsrollen führt beziehungsweise bestimmte Akteure in Gestalt prägnanter „Sozialfiguren“9 auf den Plan ruft, wie den ‚Reformer‘ oder den ‚Projektemacher‘, die sich ihrer wiederum zu unterschiedlichen Zwecken bedienen. Darüber hinaus soll anhand der spezifischen Konfiguration von Begriff, Erzählung und Handlung gezeigt werden, dass ‚Krise‘ in der spanischen Aufklärung primär in eine andere Beziehung zu ‚Kritik‘ tritt als in der von Koselleck für Frankreich geltend gemachten Form. In Spanien, so lässt sich mit Jan-Henrik Witthaus feststellen, „erweist sich die Kritik als nachträglich, zumeist ist in ihrem Bewusstsein der Stachel der Krise immer schon am Werke.“10 Dadurch, dass Krise und Kritik in Spanien im 18. Jahrhundert immer auf die „Auseinandersetzung mit einem ‚nationalen Imaginären‘“11 und die Frage der kulturellen Identität bezogen bleiben, erhalten sie eine tendenziell retrospektive Ausrichtung. Während sich die französischen Aufklärer zur universalen Beförderung der Humanität bekennen, dominiert in Spanien eine partikulare Sicht: die Sorge um das eigene Land.12
Wiederabgedruckt in: Krauss, Werner: Aufklärung III. Deutschland und Spanien, hg. von Martin Fontius, Berlin/New York 1996, S. 529-536. 9 Das sind nach Stephan Moebius und Markus Schroer „zeitgebundene historische Gestalten“, die charakteristisch für ihre jeweilige Gegenwart sind und einen spezifischen Blick auf diese ermöglichen. Moebius, Stephan/Schroer, Markus: „Einleitung“, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010, S. 7-11, hier S. 8. 10 Witthaus: Krise und Kritik, S. 85. Witthaus fährt fort: „Die kritische Aktivität erscheint dann immer schon in Wechselwirkung mit einem ‚Krisenbewußtsein‘, sie kommuniziert nicht allein mit dem Fortschritt oder der Utopie, vielmehr wirf sie einen Blick zurück in die Vergangenheit, besorgt ein Bilanzieren, eine Prüfung, die sich im reflektierten Gebrauch der Schrift vollzieht.“ 11 Ebd., S. 87. Die eingehendste Untersuchung des Kritik-Begriffs im spanischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts stammt von Witthaus, Jan-Henrik: Sozialisation der Kritik im Spanien des aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt a.M. 2012. 12 Ausführlich entwickle ich die These, dass die Identität der spanischen Aufklärung – ihre Besonderheit im europäischen Vergleich – in der Thematisierung, Infragestellung und Verteidigung der kulturellen und nationalen Identität Spaniens besteht, anhand exemplarischer Einzelanalysen diskursiver und narrativer Texte (Essay, Zeitschrift, Apologie, Briefroman) in Tschilschke, Christian von: Identi-
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Historische Krisendiagnosen: Spanien geht es schlecht Das bekannteste Beispiel für die retrospektive Anwendung des Krisenbegriffs auf das spanische 18. Jahrhundert ist die fundamentale Studie des französischen Hispanisten François Lopez zu Person und Werk des Schriftstellers Juan Pablo Forner (1756-1797), einer historisch lange umstrittenen Schlüsselfigur des aufgeklärten Absolutismus in Spanien: Juan Pablo Forner et la crise de la conscience espagnole au XVIIIe siècle (1976).13 Lopez greift Hazards Wendung von der „Krise des europäischen Geistes“ auf und überträgt sie demonstrativ auf den spanischen Kulturraum, allerdings mit einer signifikanten Verschiebung auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und den entsprechenden Modifikationen, die ein solcher Transfer mit Rücksicht auf die Besonderheiten der spanischen Aufklärungsbewegung erfordert. Im 17. und 18. Jahrhundert selbst sind in Spanien die traditionellen Bedeutungen von crisis (‚Urteil‘, ‚Gericht‘, ‚Wende‘ etc.) weithin präsent. Das belegt unter anderem die Einteilung von Baltasar Graciáns allegorischem Roman El criticón (1651/1653/1657), dessen einzelne Kapitel mit einer kleinen, für Gracían typischen Extravaganz jeweils als crisi bezeichnet werden – ‚Beurteilung‘ im barocken Sinne der Fähigkeit, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden.14 Der aus der Antike übernommene medizinische Gebrauch des Substantivs, bezogen auf den Leib und seine Krankheiten, insbesondere „die kritische Phase, in der die Entscheidung über den Verlauf, meist über Leben oder Tod, fällt, aber noch nicht gefallen ist“15, erscheint im frühen 18. Jahrhundert an prominenter Stelle, bei dem bekanntesten Vertreter der Frühaufklärung, Benito Jerónimo Feijoo, und zwar gleich im ers-
tät der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2009. 13 Vgl. zu Forner außerdem ebd., S. 227-269. 14 Vgl. Miranda, Pedro Álvarez de: „El nuevo espíritu crítico“, in: ders., Palabras e ideas. El léxico de la ilustración temprana en España (1680-1760), Madrid: Anejos del boletín de la Real Academia Española 1992, S. 511-543, hier S. 515. Álvarez de Miranda verweist auf die große semantische Überschneidung der Wörter crisis, crítica und censura (ebd., S. 530). Auch im Folgenden beziehe ich mich auf diese unverzichtbare begriffsgeschichtliche Studie des spanischen Lexikologen, der für Spanien das nachholt und belegt, was in anderen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen am Beispiel von England, Frankreich und Deutschland bereits dargelegt wurde. Siehe dazu vor allem Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650. 15 Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1235-1240, Sp. 1236.
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ten Satz der Abhandlung „Días críticos“ (1728), die Teil seines Hauptwerks Teatro crítico universal (1726-1739) ist: „Es la Crise […] una súbita mutación en la enfermedad, o para la salud o para la muerte“16. Unter dem Einfluss der ebenfalls bereits in der Antike geläufigen Metapher des Staatskörpers setzt sich dann um die Mitte des 18. Jahrhunderts auch in Spanien die Auffassung von crisis in seiner bis heute gültigen Bedeutung durch: als kollektiv erfahrene Phase akuter Instabilität, vorwiegend politischer, ökonomischer oder sozialer Natur.17 Wie sehr diese erweiterte Bedeutung im letzten Drittel des Jahrhunderts bereits gängige Münze ist, lässt sich an dem Umstand ablesen, dass sich José Cadalso im vierten Brief seines viel gelesenen, an Montesquieus Lettres persanes (1721) angelehnten Briefromans Cartas marruecas (1774) darüber unmissverständlich lustig macht: „Los europeos del siglo presente están insufribles con las alabanzas que amontonan sobre la era en que han nacido. Si lo creyeras, dirías que la naturaleza humana hizo una prodigiosa e increíble crisis precisamente a los mil y setecientos años cabales de su nueva cronología.“18
Mit Feijoos Teatro crítico universal und Cadalsos Cartas marruecas sind zugleich zwei prominente Texte genannt, die von sich aus einen engen Zusammenhang zwischen Krise und Kritik postulieren. Beide Autoren gehen von der Feststellung aus, dass sich Spanien in einem schlechten Zustand befindet. ‚Kritik‘, ob in Gestalt der Zurückweisung weit verbreiteter Vorurteile und der schonungslosen Sichtung der Wissensbestände (Feijoo) oder der satirischen Beobachtung und Analyse der spanischen Sitten (Cadalso), ist für sie daher das Mittel der Wahl, um die spanische Nation bei der Überwindung ihrer Krise zu unterstützen. Nicht umsonst führt Feijoos monumentales Hauptwerk den Begriff der Kritik bereits im Titel: „Kritisches Welttheater“.19 Und Cadalso bezeichnet im Vorwort zu seinen Cartas marruecas sein
16 Feijoo, Benito Jerónimo: „Días críticos“, in: Benito Jerónimo Feijoo: Teatro crítico universal, Bd. 2 [1728], Madrid 1779, S. 230-241, hier S. 230. Siehe http://www.filosofia.org/bjf/bjft210.htm vom 15.04.2012. In Bezug auf die Form crise konstatiert Álvarez de Miranda: „El nuevo espíritu crítico“, S. 527: „[E]l benedictino emplea crise (plural crises) para la acepción médica, y crisis con el valor de ‚crítica‘.“ 17 Zur Geschichte der Gesellschaftsmetaphorik in der griechisch-römischen Antike siehe das Kapitel „Die politische Gesellschaft als soma oder corpus (Platon, Aristoteles, Stoa)“, in: Lüdemann, Susanne: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, S. 79-87. 18 Cadalso, José: Cartas marruecas. Noches lúgubres, hg. von Joaquín Arce, Madrid 1998, S. 90. 19 Eine ausführliche Analyse dieses Titels und seiner vielfältigen Konnotationen findet sich bei Tschilschke: Identität der Aufklärung, S. 122.
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Vorhaben selbstbewusst mit einer berühmt gewordenen Formulierung als „la crítica de una nación“20. Bei Feijoo, dem Vertreter der Frühaufklärung, ist das kritische Projekt noch stark vom humanistischen Einfluss der Gelehrtenrepublik geprägt. Bei Cadalso, dem Repräsentanten der Spätaufklärung, wird die Kritik dann schon von einer gewissen Melancholie überschattet, die von der Einsicht in die Macht- und Wirkungslosigkeit des Intellektuellen in der Zeit des despotismo ilustrado herrührt. Wenn es einen Text gibt, der geeignet ist, die durch die Pole Feijoo und Cadalso eröffnete Zwischenposition paradigmatisch zu füllen, dann ist das zweifellos die von dem aus den Niederlanden stammenden Juan Enrique Graef zwischen 1752 und 1756 herausgegebene, in zwanzig Ausgaben erschienene Zeitschrift Discursos mercuriales económico-políticos, die kompromisslos für die wirtschaftliche Genesung und politische Wiedererstarkung Spaniens eintritt. In Graefs Zeitschrift verbinden sich Krisendiagnose, Zeitkritik und Reformoptimismus in einer Weise, die davon zeugt, dass Graef in seiner Funktion als Kritiker Spaniens aus der institutionellen Deckung eines Feijoo herausgetreten ist, ohne jedoch bereits von der Ohnmacht eines Cadalso eingeholt worden zu sein. Von zentralem Interesse ist dabei im vorliegenden Zusammenhang vor allem der Umstand, dass Graef im „Discurso preliminar“ (1752) zur ersten Nummer seiner Zeitschrift so ausführlich wie kein zweiter das Bildfeld des ‚spanischen Patienten‘ bemüht.21 Die Vorrede beginnt mit einer allegorischen Szene, in der Spanien das Orakel von Delphi um ein Heilmittel gegen seine Krankheit bittet.22 Die prompte Antwort lautet, dass Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung sei: „que todas sus dolencias se originan de que no se conoce, y que toda su salud depende de que se conozca.“23 Dann löst sich Graef von der allegorischen Darstellung und diskutiert verschiedene Gründe für den desolaten Zustand Spaniens. Anschließend geht er selbst mit gutem Beispiel voran und unternimmt eine kritische Analyse der spanischen Nation, indem er die Schwächen der Spanier der Reihe nach beim Namen nennt. In einem letzten Schritt reflektiert der Verfasser verschiedene konkrete Lösungsvorschläge,
20 Cadalso: Cartas marruecas, S. 82. 21 In seinem Standardwerk zur spanischen Presse des 18. Jahrhunderts gelangt Paul-J. Guinard daher auch zu der folgenden Feststellung: „[…] J. A. [sic] De Graef, est le premier – et peut-être le seul – à poser nettement le thème général de l’‚Espagne malade‘, à formuler un diagnostic, à esquisser une thérapeutique, avec une liberté et une objectivité qu’il doit sans doute au fait qu’il n’est pas espagnol.“ Guinard, Paul-J.: La presse espagnole de 1737 à 1791. Formation et signification d’un genre, Paris 1973, S. 401. 22 Der folgende Abriss orientiert sich an Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 271f. 23 Graef, Juan Enrique de: Discursos mercuriales económico-políticos [1752-1756], selección, edición e introducción de Francisco Sánchez-Blanco, Sevilla 1996, S. 81f.
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darunter die Fortführung der von den zuständigen Ministern angestoßenen Reformprojekte. Wie die Vorrede deutlich werden lässt, geht Graefs Bemühen offensichtlich dahin, „eine Expertenkultur und Fachöffentlichkeit in beratender Funktion zu konstituieren, die über das neue Medium Presse kommuniziert und sich eben in dieser Kommunikation begründet.“24 Indem Graef das Gemeinwesen als Körper auffasst, kann er den Zustand Spaniens als Krankheit beschreiben und, zugespitzt auf den Moment der Krise, auf eine gesellschaftliche Situation beziehen, in der eine Wendung zum Besseren möglich scheint: „Todo el Mundo dice, que nos vemos en el critico punto de nuestra fortuna, pero que el mal no es sin cura.“25 Das wiederum versetzt Graef in die Lage, sich mit seinem Presseunternehmen selbst als Arzt ins Spiel zu bringen, der mit seiner Kritik die körpereigene Heilung unterstützt und damit die Krise überwinden hilft: „Kritik handelt und heilt.“26 Graefs publizistischer Vorstoß ist in doppelter Weise repräsentativ für die Grundtendenz der spanischen Aufklärungsbewegung, weil der nationale Heilungsprozess explizit an das identitäre Element der Selbsterkenntnis geknüpft wird und weil Krisendiagnose, kritische Analyse und reformorientiertes Handeln eine sehr enge Verbindung eingehen. Die Einsicht, dass Wissen nur dann gut, das heißt nützlich ist, wenn es in Handeln transformiert werden kann, lässt den Kritiker gleichsam von selbst zum Politik- und Wirtschaftsberater werden.27 Die von Graef in den Discursos mercuriales zum ersten Mal ausführlich entfaltete medizinisch-politische Allegorie wird im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts in Spanien vor allem im Rahmen der neuen Gattung der Moralischen Wochenschriften oder Spectator-Nachahmungen wieder aufgegriffen, die als tragendes Medium des kritisch-aufklärerischen Diskurses fungieren. So findet sich beispielsweise in den im Juni 1787 publizierten Discursos 156 und 157 der von den beiden Rechtsanwälten Luis García del Cañuelo und Luis Marcelino Pereira herausgegebenen Zeitschrift El Censor (1781-1787), an der auch Jovellanos mitarbeitete, – unter den spanischen Moralischen Wochenschriften zweifellos diejenige, die am schärfsten und kompromisslosesten mit den spanischen Verhältnissen ins Gericht geht – ein komplexer Vergleich zwischen dem von einer Krankheit befallenen menschlichen Körper und den Übeln, die ein Land heimsuchen. Der Logik der Metapher folgend bekräftigt El Censor, dass die Medizin für den Körper des Menschen das Gleiche sei wie die Politik für den Körper des Staates:
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Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 272. Graef: Discursos mercuriales, S. 88. Witthaus: Sozialisation der Kritik, S. 286. Vgl. ebd., S. 276.
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„Ambas ciencias tienen por objeto auxîliar á la naturaleza en los esfuerzos, que nunca dexa de hacer para restablecer el órden, por qualquiera causa que haya sido alterado en los cuerpos, así de una como de otra especie.“28
Obwohl in El Censor nie explizit das Wort ‚Krise‘ fällt, verraten doch der alarmistische Ton, den die Journalisten anschlagen, sowie die Dringlichkeit, mit der therapeutische Interventionen gefordert werden, und nicht zuletzt die sarkastische Schärfe ihrer Kritik ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein. Durch den Hinweis, dass sich die spanische Nation an einem Scheideweg befinde, wird die klassische politische Metaphorik vom kranken Staatskörper und seinen Ärzten mit Aktualität aufgeladen, sodass auch die Forderung nach einer Radikalkur nicht mehr unmöglich erscheint: „Las curas radicales son peligrosas. Lo son, no hay duda. ¿Pero no habrán por eso de emprenderse nunca, y habremos de contentarnos siempre con los remedios paliativos?“29; und etwas weiter heißt es in mimetischer Knappheit: „[E]l mal no da espera, y urge el remedio.“30
Narrative der Krise: Verfallsgeschichten Die angeführten Beispiele für eine spanische Krisensemantik belegen zunächst einmal die allgemeine Erkenntnis, dass die explizite oder implizite Beschwörung von Krisen immer schon eine mit dem Begriff der Krise selbst gesetzte Minimalerzählung enthält, die aus einem Vorher, einem Nachher und einem dramatischen Wendepunkt besteht. Um die hier verfolgte Grundthese von der Vorgängigkeit der Krise beziehungsweise der Nachträglichkeit der Kritik im spanischen 18. Jahrhundert zu untermauern, ist es indes-
28 El Censor, „Discurso CLVI“, S. 485 [S. 721]. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: El Censor. Obra periódica. Comenzada a publicar en 1781 y terminada en 1787, edición facsimil, con prólogo y estudio de José Miguel Caso González, Oviedo: Instituto Feijoo de Estudios del siglo XVIII 1989. Die erste Seitenzahl bezieht sich auf das Original, die zweite auf die zitierte Ausgabe. Die von dem Militäroffizier Manuel Rubín de Celis herausgegebene Zeitschrift El Corresponsal del Censor (1786-1788), die sich bereits im Titel ausdrücklich als Mitstreiter des Leitorgans El Censor zu erkennen gibt, hatte in ihrem Eröffnungsbrief vom Mai 1786 bereits das gleiche Bild bemüht: „Otros achaques y preocupaciones que padece el cuerpo de la nacion, son Señor Censor, los que se han de procurar combatir.“ El Corresponsal del Censor: „Carta I“, S. 3 [S. 59]. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe de Celis, Manuel Rubín: El Corresponsal del Censor, edición de Klaus-Dieter Ertler, Renate Hodab e Inmaculada Urzainqui, Madrid/Frankfurt a.M. 2009. Die erste Seitenzahl bezieht sich auf das Original, die zweite auf die zitierte Ausgabe. 29 El Censor: „Discurso CLVII“, S. 509 [S. 727]. 30 Ebd., S. 513 [S. 728].
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sen nötig, eine auffällige Eigenart der spanischen Krisensemantik näher ins Auge zu fassen: die Tatsache, dass sie jeweils und, wie es scheint, ohne Ausnahme mit einer historisch weit ausgreifenden Erzählung vom Niedergang Spaniens verknüpft wird. Eine eingehendere Betrachtung des kulturspezifischen Narrativs der decadencia de España erlaubt es, über die Rede vom ‚Krisenbewusstsein‘ hinaus den funktionalen Aspekt der Krise als rhetorische Strategie und interessengeleitetes Konstrukt stärker in den Vordergrund zu rücken. An der Dominanz, die dieses Narrativ innerhalb der spanischen Aufklärungsbewegung besitzt, zeigt sich zudem, dass sich die Kritik der spanischen Aufklärer an der Gegenwart sehr stark aus einer Analyse der Vergangenheit speist, ganz im Einklang mit der von Juan Enrique Graef in den Discursos mercuriales erhobenen identitätsbezogenen Forderung „nosce te ipsum“31. Damit wird aber auch deutlich, dass sich die spanische Aufklärung nicht ohne Weiteres an eine Geschichtsphilosophie des unaufhaltsamen Fortschritts ankoppeln lässt, die utopische Räume eröffnet und die Gegenwart eher von der Zukunft her denkt, wie es beispielsweise Reinhart Koselleck für Frankreich beschrieben hat. Der entscheidende Grund dafür, warum das Krisennarrativ der decadencia de España so große Bedeutung erlangen und zu einer der wichtigsten Komponenten des spanischen Geschichtsverständnisses überhaupt werden konnte, liegt wohl in dem Umstand, dass reformorientierte und antiaufklärerische Kräfte in der Diagnose übereinstimmten, auch wenn sie hinsichtlich der Ursachen und der zu ergreifenden Gegenmaßnahmen vollkommen unterschiedlicher Auffassung waren.32 Das vielfach bemühte Bild vom Niedergang der einstigen Hegemonialmacht Spanien ist letztlich das Ergebnis eines doppelten, diachronen und synchronen Vergleichs: Der Blick richtet sich einerseits auf die eigene Geschichte, vor deren Hintergrund die Gegenwart als Tiefpunkt einer Verfallsentwicklung erscheint, und andererseits auf den fortgeschritteneren Entwicklungsstand in den übrigen Ländern Europas. Die beunruhigende Erfahrung der aus diesem Vergleich hervorgehenden zweifachen Differenz darf als Hauptstimulus der spanischen Identitätsreflexion im 18. Jahrhundert gelten. Die Geschichtsbilder der Reformer und der Traditionalisten konvergieren jedoch nicht nur in der Bereitschaft, die eigene Geschichte nach dem Schema des Verfalls zu deuten und den Rest Europas mit dem Paradigma des Fortschritts zu identifizieren. In Bezug auf die Faktoren, denen eine prä-
31 J. E. de Graef: Discursos mercuriales, S. 82. Kursiv im Original. 32 Schon Werner Krauss betonte die autochthonen Wurzeln der Diskussion über den Niedergang Spaniens, die nicht allein als Reaktion auf die leyenda negra verstanden werden dürfe: „Los españoles del siglo de la ilustración no necesitaban ningún estimulante extranjero, para plantear el problema de la decadencia nacional.“ Krauss, Werner: „Sobre el concepto de decadencia en el siglo ilustrado“, in: Krauss: Aufklärung III, S. 308.
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gende Wirkung auf den Geschichtsverlauf zugestanden wird, herrscht ebenfalls eine gewisse Übereinstimmung. Die Unterschiede zwischen Reformern und Traditionalisten ergeben sich hingegen in erster Linie bei der Frage, wo der Höhepunkt und wo der Niedergang der spanischen Geschichte jeweils anzusetzen ist – und bei der Bewertung der geschichtsprägenden Faktoren. Die folgenden Schemata verdeutlichen die beiden Positionen:
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Abb. 1: Das Geschichtsbild der Reformer Aufklärer wie José Cadalso oder Gaspar Melchor de Jovellanos identifizieren – neben vielen anderen Reformbefürwortern – den Beginn des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergangs Spaniens mit der Herrschaft der Habsburger, wobei die Epoche Karls V. (1516-1556) und Philipps II. (1556-1598) aufgrund ihrer militärischen Leistungen und kulturellen Hervorbringungen nicht ausschließlich negativ gesehen wird. Als Höhepunkt der spanischen Geschichte und scharfer Kontrast zum gegenwärtigen Spanien stellt sich von dieser Warte aus das Regime der Katholischen Könige dar. Die Worte Nuños im 74. Brief von Cadalsos Cartas marruecas dürfen hier als repräsentativ gelten: „[L]a monarquía española nunca fue tan feliz por dentro, ni tan respetada por fuera, como en la época de morir Fernando el Católico“.33 Ebenso einhellig wird jedoch auch der Dynastiewechsel von den Habsburgern zu den Bourbonen am Anfang des Jahrhunderts als Beginn einer neuen Aufstiegsphase in der Geschichte begrüßt.
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Abb. 2: Das Geschichtsbild der Traditionalisten 33 Cadalso: Cartas marruecas, S. 261.
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Eine ganz andere Rangbildung nehmen naturgemäß die spanischen Traditionalisten vor. Für sie bildet die Regentschaft Philipps II. mit ihren gegenreformatorischen Anstrengungen den ruhmreichen Höhepunkt der spanischen Geschichte. Den reyes católicos kommt in diesem Geschichtsbild eine vorbereitende Funktion zu, wohingegen die Dekadenzphase mit dem Schwinden der spanischen Vormachtstellung im 17. Jahrhundert eingeleitet wird. Der eigentliche Niedergang Spaniens fällt für die Traditionalisten dann mit dem Beginn der Bourbonenherrschaft zusammen. So gegensätzlich wie die Urteile über den Geschichtsverlauf fallen auch die Gründe aus, die jeweils für den Niedergang Spaniens verantwortlich gemacht werden: Aus Sicht der Reformer sind es die kostspieligen Kriege der Habsburger, ihre auf Ausbeutung statt auf Wertschöpfung gerichtete Kolonialpolitik, die Vertreibung der Juden und Mauren, die Vernachlässigung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, der Müßiggang des Adels, die Dominanz des Klerus, die Herrschaft der Inquisition und die mangelnde Förderung der Wissenschaften. Die Traditionalisten sehen dagegen die Abkehr von der Tradition, die kulturelle Überfremdung und die Gefährdung der religiösen und politischen Einheit des spanischen Imperiums als Hauptursachen an. Nicht weniger konträr sind auch die Gegenmaßnahmen, die man jeweils für angemessen hält: Während die Reformer die nationale Identität Spaniens fortschrittsbewusst auf die Modernisierung der Gesellschaft und die fällige Orientierung an ausländischen Vorbildern gründen wollen, lokalisieren die Traditionalisten die spanische Identität in einer tendenziell europafeindlichen Fortschrittsresistenz. Für sie stellt sich in der Tat die Krise als Resultat der aufklärerischen Kritik dar. Das divergente emplotment dieser beiden Geschichtsauffassungen führt schlagend den Konstruktcharakter des Dekadenznarrativs vor Augen. Es fehlt daher heute nicht an Historikern, die das Dekadenzschema grundsätzlich als Mythos ablehnen und es, wie Henry Kamen, zu den „useless concepts“34 zählen. Kamen weist unter anderem darauf hin, dass das imperiale Spanien nie eine echte Wirtschaftsmacht gewesen sei und dass man schon
34 Kamen, Henry: „The Decline of Spain: A historical Myth?“, in: Past and Present 81 (1978), S. 24-50, hier S. 49; auf S. 48-50 fasst Kamen seine Argumente prägnant zusammen. Für Peter Burke spiegelt sich im Umgang der Historiker mit dem Topos vom Niedergang Spaniens auch die Entwicklung der Disziplin selbst: „1961 veröffentlichte John Elliott in der Zeitschrift Past and Present einen Aufsatz mit dem Titel ‚The Decline of Spain‘ […]. Siebzehn Jahre später publizierte er in derselben Zeitschrift einen Aufsatz mit dem Titel ‚Self-Perception and Decline in Early Seventeenth-Century‘ […]. Die Verschiebung des Interesses von objektiven Maßstäben für den Niedergang hin zum Gefühl des Niedergangs ist charakteristisch für eine ganze Generation von Historikern.“ Burke, Peter: Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a.M. 2005, S. 50. Mittlerweile dürfte der Aspekt der Wahrnehmung seinerseits gegenüber dem der Konstruktion in den Hintergrund gerückt sein.
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allein deshalb nicht von einem Verfall sprechen könne.35 Auch Juan Pablo Fusi wendet sich gegen eine homogenisierende Geschichtserzählung, in der das 16. und 17. Jahrhundert als kontinuierliche Verwirklichung eines imperialen Projektes durch die casa de Austria erscheinen, das angeblich auf die Vorherrschaft in Europa, die Verteidigung des katholischen Glaubens und die Christianisierung des Weltkreises angelegt war, und dem ein ebenso unaufhaltsamer Verfall in Form von Niederlagen und Gebietsverlusten gefolgt sei, der seinen adäquaten Ausdruck in der zerrütteten Persönlichkeit des letzten Habsburgers auf dem spanischen Thron, Karls II. (1665-1700), gefunden habe. Eine solche Sichtweise verzerre nicht nur den Blick auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, die von einer relativen Stabilität und allgemeinen Erholung gekennzeichnet sei, sondern verkenne auch die politische Realität der Zeit davor.36 Auf das 18. Jahrhundert schließlich treffe die Dekadenzdiagnose erst recht nicht zu: „[E]l siglo XVIII fue [...] un excelente siglo para España: un siglo de crecimiento demográfico, auge económico y comercial, ilustración y reformas, y aun de recuperación de la influencia internacional y de parte del antiguo poder naval y militar“.37
Dass die Dekadenzanalyse aus heutiger Sicht vor der historischen Realität keinen Bestand hat, schärft jedoch nur den Blick für mögliche Diskrepanzen zwischen der geschichtlichen Erfahrung und der historischen Erkenntnis. Denn zweifellos besitzt das Insistieren auf der Rück- und Randständigkeit Spaniens auch einen instrumentellen und ideologischen Charakter und erfüllt für die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen, Traditionalisten wie Reformer, eine wichtige Legitimationsfunktion. So ist der schonungslose Blick auf die Vergangenheit nicht nur Teil des aufklärerischen desengañoProgramms und Ausdruck der Überzeugung, dass es notwendig sei, aus der Geschichte zu lernen, sondern wird „von den Aufklärern selbst bereits gezielt zur Propagierung der Reformabsichten der Bourbonen eingesetzt“38. Und die Traditionalisten sind natürlich umgekehrt daran interessiert, mit dem Argument des Verfalls ihre Ablehnung des Neuen und Fremden zu untermauern. Damit erweisen sich beide Haltungen, die zunächst nur das
35 Kamen: „The Decline of Spain“, a.a.O., S. 25. 36 Fusi, Juan Pablo: España. La evolución de la identidad nacional, Madrid 2000, S. 83. 37 Ebd., S. 90. 38 Jüttner, Siegfried: „Spanien – Land ohne Aufklärung? Zur Wiedergewinnung eines verdrängten Erbes“, in: ders./Jochen Schlobach (Hg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992, S. 249-268, hier S. 254.
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Produkt einer krisenhaften Differenzerfahrung zu sein scheinen, auch als hochgradig interessengeleitete Konstrukte.39
Von der Krise leben: Reformer und Projektemacher Wenn es sich so verhält, dass die Vorgängigkeit der Krise und die Nachträglichkeit der Kritik tatsächlich als Produkte einer bestimmten aufklärerischen Erzählung aufgefasst werden können, dann verlagert sich die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf diejenigen, die diese Erzählung hervorbringen und verbreiten: die Kritiker, Reformer und Projektemacher, die von der Krise leben, so wie der Arzt davon lebt, dass es Krankheiten gibt. Abstrakter ausgedrückt: Die Krise schafft unterschiedliche Handlungsrollen, deren gemeinsamer Bezugspunkt sie ist, und gleichzeitig gilt, dass sie durch die auf sie fokussierten Handlungen mit hervorgebracht wird. Sie lässt Situationen entstehen, die Rat und Tat zu ihrer Bewältigung erfordern und zum Auftreten der entsprechenden Akteure führen. Wie komplex der Zusammenhang zwischen Krise und Reform ist, zeigt sich nirgends deutlicher als an der Parallelexistenz der Figur des ‚seriösen Reformers‘ und des tendenziell zwielichtigen, ‚windigen Projektemachers‘, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ein häufig thematisiertes Konkurrenzverhältnis zueinander treten. Als idealtypische Verkörperung des aufklärerischen Reformers im Dienst von Staat und Nation und zugleich als zentrale Symbolfigur der unter den Bedingungen des aufgeklärten Absolutismus stets prekären Allianz zwischen intellektueller Elite und Staatsmacht darf der bereits erwähnte Gaspar Melchor de Jovellanos gelten. Sein Ruf als „figura más noble y limpia, casi angélica, de la España de su tiempo“40 verdankt sich unter anderem der Uneigennützigkeit und offensichtlichen Gemeinwohlorientierung seines Handelns, die zusammen mit der wissenschaftlichen Fundierung und der Praxisnähe seiner Vorschläge auch den Grundzug seiner zahlreichen Denkschriften bilden, etwa seiner zukunftsweisenden Überlegungen zur Reform der Landwirtschaft „Informe sobre la ley agraria“ (abgeschlossen 1795). Diese stellen ein Musterbeispiel für die von Juan Enrique Graef propagierte Expertenkultur zur Beratung der Politik in wirtschaftlichen Fragen dar. Aufschlussreicher für die unterschiedlichen Bewertungen, die der kriseninduzierte, Krisen konstruierende und – aus Sicht der Aufklärungsgegner – die Krise inkarnierende Reformfuror des 18. Jahrhunderts durch die Zeitgenossen selbst erfährt, sind gleichwohl die Kommentare zum Phänomen des proyectismo und insbesondere zur schillernden Figur des proyectista, je-
39 Vgl. zu den Funktionen von Krisenrhetorik allgemein Goeze, Annika/Strobel, Korinna: „Krisenrhetorik“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10: Nachträge A-Z, Berlin/Boston 2012, Sp. 511-530. 40 Marías, Julián: España inteligible. Razón histórica de las Españas, Madrid 1985, S. 160.
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ner in Spanien seit dem späten 16. Jahrhundert und damit am frühesten in ganz Europa auftretenden „Utopisten, Projektenmacher und Pläneschmiede, die mit einem einzigen, meist sehr ausgefallenen Rezept die gesamten Schäden der spanischen Gesellschaft und Nation zu heilen sich vermaßen.“41 Auch wenn die ‚Sache‘ der Projektemacherei als Antwort auf die Wirtschafts- und Finanzkrise der Habsburgermonarchie bereits unter Philipp II. (1527-1598) aufgekommen war, handelt es sich doch bei den ‚Worten‘ proyecto (1683) und proyectista (1757) um echte Neologismen.42 Während proyecto eine vergleichsweise neutrale Verwendung fand und sogar zur Genrebezeichnung avancierte – das bekannteste Beispiel ist Bernardo Wards Wirtschaftstraktat Proyecto económico en que se proponen varias providencias dirigidas a promover los intereses de España, con los medios y fondos necesarios para su plantificación (1779) – übernahm proyectista weitgehend die pejorativen Konnotationen, die der bis dahin üblichen Bezeichnung arbitrista seit jeher anhafteten.43
41 Krauss, Werner: Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, München 1973, S. 126. Einer der ersten, die außerhalb Spaniens die Figur des Projektemachers porträtierten, war der Brite Daniel Defoe, der in seiner Schrift An Essay Upon Projects (1697) auch seine eigenen gescheiterten Finanzspekulationen mit Spanien und Portugal um 1690 verarbeitete. Vgl. ausführlicher zur Geschichte der Projektemacherei in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, England und Frankreich Stanitzek, Georg: „Der Projektmacher. Projektionen auf eine ‚unmögliche‘ moderne Kategorie“, in: Ästhetik und Kommunikation 65/66 (1987), S. 135-146 und Krajewski, Markus (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004. 42 Vgl. Miranda, Pedro Álvarez de: „Proyectos y proyectistas en el siglo XVIII español“, in: Armando Alberola (Hg.), La ilustración española. Actas del coloquio internacional celebrado en Alicante, 1-4 octubre 1985, Alicante 1986, S. 133150, hier S. 136 und 141f. Álvarez de Miranda betont: „[…] las dos palabras [‚proiectos‘ und ‚proyectistas‘] pertenecen sin duda a ese escogido grupo de vocablos representativos con los que puede caracterizarse un período histórico. Proyecto y proyectista son, en efecto, palabras típicas de nuestro siglo XVIII.“ Ebd., S. 133. 43 Vgl. etwa Miguel de Cervantes’ Novelle „El coloquio de los perros“ (1613), in der das Phänomen des arbitrismo polemisch dem Wahnsinn angenähert wird. Siehe zur kontroversen Figur des arbitrista, abgesehen von den Bemerkungen bei Krauss: Die Aufklärung in Spanien, S. 126-129, die materialreiche Studie von Vilar, Jean: Literatura y economía. La figura satírica del arbitrista en el Siglo de Oro, Madrid 1973 und zu Cervantes Llopis-Fuentes, Roger: „El personaje del ‚arbitrista‘ según Cervantes y Quevedo“, in: Cincinnati Romance Review 10 (1991), S. 111-122. Eine aktuelle Darstellung aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bietet Dubet, Anne: „L’arbitrisme: un concept d’historien?“, in: Les Cahiers du Centre de Recherches Historiques 24 (2000), S. 1-56. Siehe http://ccrh.revues.org/index2062.html vom 17.1.2009.
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Die satirische Diffamierung des proyectista als allein auf seinen persönlichen Vorteil bedachter Nutznießer der Krise und als rastloser Erfinder immer neuer utopisch-phantastischer Projekte findet seinen – in Bezug auf diesen zweiten Aspekt – exemplarischen Niederschlag wiederum in einer bekannten Moralischen Wochenschrift, El Pensador (1762/1763-1767) von José Clavijo y Fajardo. In dem 1764 publizierten 16. Kapitel des Pensador ist vom Besuch einer Abendgesellschaft (tertulia) die Rede, auf der sich die namhaftesten Politiker des Hofs versammeln. An einem dieser Abende wird der Erzähler Zeuge einer Diskussion, die er folgendermaßen zusammenfasst: „Duró bastante tiempo la pesadíssima controversia, y vino a parar la conversación en lamentarse de la decadencia de España, y proponer cada uno de aquellos Catones los medios de remediarlo todo, y de bolver à poner la España en aquel estado de prepotencia, que tuvo en otros tiempos […].“44
Die aus der Perspektive der ‚echten‘ Reformer verfasste Satire lässt keinen Zweifel daran, dass die proyectistas selbst ein markantes Symptom der Krise sind, die sie zu bekämpfen vorgeben. Ihre unsinnigen Vorschläge zur Wiederbevölkerung Spaniens und zur Hebung der Arbeitsmoral der Spanier werden als Rückfall in die spanische Krankheit einer realitätsfernen, allzu üppig blühenden Einbildungskraft verspottet, die echten Fortschritt verhindert: „Todos hablaban, y de principios ridículos sacaban consequencias descabelladas.“45 Eine ganz ähnliche Negativprojektion findet sich zehn Jahre später im 34. Brief der Cartas marruecas, der vollständig den von Cadalso als „innovadores de profesión“46 karikierten proyectistas gewidmet ist: „Con más rapidez que la ley de nuestro profeta Mahoma han visto los cristianos de este siglo extenderse en sus países una secta de hombres extraordinarios que se llaman proyectistas. Éstos son unos entes que, sin patrimonio propio, pretenden enriquecer los países en que se hallan, o ya como naturales, o ya como advenedizos.“47
44 El Pensador: „Pensamiento XVII“. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Clavijo y Fajardo: Antología de El Pensador, edición de Sebastián de Nuez Caballero, Islas Canarias 1989, hier S. 123. Daneben dient der Ausdruck proyectista freilich auch der pauschalen Verunglimpfung jeglicher reformerischer Aktivität, wie zum Beispiel in dem sainete (eine Art volkstümliche Mini-Komödie) El alcalde proyectista (1790) von Luciano Francisco Comella. Vgl. dazu die Studie von Sala Valldaura, Josep Maria: „El pensamiento ilustrado y el sainete: El alcalde proyectista de Luciano Francisco Comella“, in: ders., El sainete en la segunda mitad del siglo XVIII. La mueca de Talía, Lérida 1994, S. 165-179. 45 Ebd. 46 Cadalso: Cartas marruecas, S. 166. 47 Ebd.
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Gleichzeitig führt dieser Brief vor Augen, dass Cadalso die der Projektemacherei grundsätzlich inhärente Dialektik klar durchschaut hat, wenn er durch den Mund Nuños, eines seiner Protagonisten, daran erinnert, dass es auch nützliche Erfindungen gebe: „Lo malo es que la gente, desazonada con tanto proyecto frívolo, se preocupa contra las innovaciones útiles y que éstas, admitidas con repugnancia, no surten los buenos efectos que producirían si hallasen los ánimos más sosegados“.48 Von diesem Zitat aus den Cartas marruecas, das dazu rät, die Spreu der Scharlatane vom Weizen der wahren Krisenhelfer, der seriösen Reformer und verlässlichen Berater, zu trennen, ist es nicht mehr weit bis zu jenen gewiss selteneren Äußerungen, in denen der proyectismo in einem positiven Licht erscheint und die Figur des proyectista als legitime Antwort auf die Krise eine ebenso überraschende wie provozierende Rehabilitation erfährt.49 Unter den Versuchen, den Begriff proyectista von seinen negativen Konnotationen zu befreien, sticht der 14. Brief von El Corresponsal del Censor, der 1787 erschien, in besonderem Maße hervor. In diesem fiktiven Brief, der an den Herausgeber von El Censor gerichtet ist, wird die Projektemacherei ohne Umschweife als unerlässlicher Motor des menschlichen Fortschritts und als gültiger Beweis für den Erfindungs- und Schöpfergeist des Menschen gepriesen.50 Nicht von ungefähr ist dem Brief als Motto ein Zitat aus Nicolas Boileaus L’Art poétique vorangestellt: „Un fat quelquefois ouvre un avis important“51. Zu Beginn des Briefs kündigt sein Autor Ramón Harnero an, ein „proyectista“52, definiert als „qualquiera que procura servir á su Patria con algun nuevo descubrimiento“53, werden zu wollen, auch wenn deren Ruf nicht gerade der beste sei. Doch habe die Politik einen wachsenden Bedarf an Projekten, und dies umso mehr, als die Vergangenheit und die Geschichte den Regierungen nicht mehr als verlässliche Richtschnur dienen könnten. Allerdings müssten die Projekte selbst die für jeden seriösen Reformvorschlag geltenden Grundbedingungen erfüllen, dem „bien público“ zu dienen und auf „conocimientos seguros“54 zu beruhen. Der fiktive Autor schlägt sich also unmissverständlich auf die Seite der ‚Modernen‘ und des ‚Fortschritts‘. Diese Haltung mündet schließlich in eine Feststellung, die auch
48 Ebd., S. 169. 49 Pedro Álvarez de Miranda bezeichnet die entsprechenden Texte als „lo más novedoso e interesante que aporta el siglo XVIII a una polémica secular“. Miranda: Proyectos y proyectistas, S. 149. 50 Vgl. den Kommentar zu diesem Brief bei Hodab, Renate/Ertler, Klaus-Dieter: Die Presse der spanischen Aufklärung: El Corresponsal del Censor, Wien 2008, S. 187-190. 51 El Corresponsal del Censor: Carta XIV, S. 219 [S. 132]. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 220 [S. 132]. 54 Ebd., S. 232 [S. 136].
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dann nichts von ihrer Kühnheit verliert, wenn man bedenkt, dass sie in eine Figurenperspektive eingelassen ist, die von Ambivalenzen und ironischen Brechungen nicht ganz frei ist: „Pero nadie me podrá negar que debemos todas las mudanzas en las artes, ciencias y gobierno de los Estados, á esa casta de hombres superiores, que saliendo de los caminos trillados, nos enseñaron otros nuevos, empleando todos los medios necesarios para ponernos en ellos: en una palabra, á proyectistas.“55
In dieser Apologie des Projektemachers offenbart sich ein erstaunlicher Grad historischer Selbstbewusstheit, der auch in dem Vorschlag zum Ausdruck kommt, ein Projekt über die Projekte selbst ins Leben zu rufen: „un proyecto sobre los mismos proyectos“56. Das Ziel dieses Meta-Projektes ist es, die vollkommen von ihren Alltagsaufgaben in Beschlag genommenen Minister durch die Schaffung eines Expertenrates zu entlasten, dem es obliegt, sowohl eigene innovative und nützliche Projekte zu entwickeln als auch die der anderen zu evaluieren. Die Bedingung dafür ist absolute Gedankenfreiheit („la preciosa libertad de pensar“57), denn nur so könne es gelingen, die wahren Gebrechen des Staates zu identifizieren und wirksam zu bekämpfen: „si esta les falta, jamás se descubrirán aquellas enfermedades que padece un Estado, que le penetran de un modo imperceptible, y que fortificadas con el tiempo, no ceden á los remedios mas activos.“58 Erneut berühren sich hier Krise und Projektemacherei, diesmal jedoch, gegen Ende der Regentschaft von Karl III. (1759-1788), unter umgekehrten Vorzeichen: Jetzt erscheinen der Erfindungsgeist des Projektemachers, seine Phantasie und seine Neigung, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, nicht mehr als Symptome einer nationalen Krise, sondern als willkommene Wegweiser zu ihrer Überwindung. Die Tatsache, dass der proyectista eine derartige Aufwertung erfährt, ist zweifellos als Indiz dafür zu werten, dass sich die Vertreter aufklärerischer Reformen angesichts einer sich immer deutlicher abzeichnenden Entfremdung von den Regierenden nicht mehr nur in der Rolle des Mediziners und Politikberaters, sondern schließlich auch in der eines – nun ins Positive gewendeten – Projektemachers sehen. Die dreifache Tatsache, dass die spanische Aufklärungsbewegung immer wieder die Auseinandersetzung mit dieser letztlich aus den Wirtschaftsund Finanzkrisen des 16. Jahrhunderts geborenen Figur sucht, dass diese Figur einen neuen Namen (proyectista) erhält und dass sie eine signifikante Bedeutungsverschiebung erfährt, zeigt noch einmal exemplarisch, wie sehr
55 Ebd., S. 223 [S. 133]. Im 32. Brief etwa erhält das Wort proyectista eine ironische Färbung, als der Autor/Herausgeber von El Corresponsal del Censor, Ramón Harnero, gebeten wird, das Projekt einer Schule für Frisöre zu lancieren. 56 Ebd., S 230 [S. 135]. 57 Ebd., S. 231 [S. 136]. 58 Ebd., S. 232 [S. 136].
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sich im Spanien des 18. Jahrhunderts ein krisenhaftes Gegenwartsbewusstsein und die kritische Hinwendung zur eigenen Vergangenheit überschneiden. So entsteht in dieser Zeit ein strukturelles Muster, das bis heute, wie die aktuelle Rede vom ‚spanischen Patienten‘ und die Reaktionen darauf zeigen, die Optionen spanienbezogener Selbst- und Fremdbeschreibungen prägt.
Sex, Lügen und Video-Clips Szenarien krisenhafter Männlichkeit in der zeitgenössischen Populärkultur S TEFAN L. B RANDT
Es fällt schwer, einen Aufsatz über den ‚Mann in der Krise‘ nicht mit dem deutschen Vorzeige-Komiker Mario Barth zu beginnen. Ohne Frage wäre Barths Langenscheidt-Lexikon Deutsch – Frau / Frau – Deutsch: Schnelle Hilfe für den ratlosen Mann (2004)1 ein hervorragendes Beispiel für eine Männlichkeit, die versucht, sich mit Kalauern und Klischees ihrer selbst zu vergewissern und dadurch eine gefühlte Identitätskrise zu bewältigen. „Männer gehen nicht auf den Markt, sie gehen in den Markt“, so Barths jüngster Slogan für die Elektrokette Media-Markt. Die Botschaften in Barths Comedy-Programmen (etwa Männer sind primitiv, aber glücklich! und Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch) schlagen in die Kerbe eines verbreiteten Trends, der Geschlechterdifferenzen bewusst unterstreicht und dabei das Stilmittel der Ironie nutzt. Barths augenzwinkernde Manifestation althergebrachter Geschlechtervorstellungen, die neben zahlreichen Bühnenprogrammen, Fernsehsendungen, CDs und DVDs auch im Kinofilm MÄNNERSACHE (2009)2 belacht werden kann, ist eine Variante ein und desselben Narratives: Männer und Frauen sind grundverschieden; und sobald sich die Geschlechter einander angleichen, stellt sich der Gesellschaft ein gravierendes Problem. Bücher wie Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus3 oder Männer sind anders, Frauen auch4 haben sich zu beliebten Ratgeber-Fibeln einer um Geschlechterautonomie besorgten Käuferschaft entwickelt. Diese Bücher tummeln 1 2 3 4
Barth, Mario: Deutsch − Frau / Frau − Deutsch: Schnelle Hilfe für den ratlosen Mann, Berlin u.a. 2004. MÄNNERSACHE (Deutschland 2009, R: Gernot Roll). Evatt, Cris: Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus: Tausend und ein kleiner Unterschied zwischen den Geschlechtern, München 2005. Gray, John: Männer sind anders, Frauen auch, München 1998.
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sich in den Bestseller-Listen mit anderen Werken, in denen eine fundamentale Unterschiedlichkeit von Mann und Frau postuliert wird – etwa Ranga Yogeshwars Warum Frauen kalte Füße haben und andere Rätsel des Alltags (2009).5 Darüber hinaus gibt es Ratgeber mit Listen über die männlichsten Sportarten, die männlichsten Berufe, die männlichsten Filme, die männlichsten Kochrezepte, usw.6 Nicht ohne Ironie wird hier ein Kult der Männlichkeit zelebriert, der sich seiner selbst sehr bewusst ist, ganz im Sinne der Postmoderne, und der mit den altbekannten Stereotypen spielt, ohne diese jedoch völlig zu hinterfragen. Die angeblich beliebtesten Filme bei Männern sind Western, Kriegsfilme, Krimis und Kampfsportfilme. Everitt und Schechter nennen in ihrem Buch Produktionen wie DIRTY HARRY, THE MAGNIFICENT SEVEN und RAGING BULL sowie die Darsteller John Wayne, Clint Eastwood, Robert De Niro und Steve McQueen.7 Frauen mögen es angeblich eher romantisch und schauen sich einen ‚Rührschinken‘ wie TITANIC oder GONE WITH THE WIND an. Soweit die altbekannten Projektionsmuster. Für Nordrhein-Westfalen ist jüngst vom Radiosender 1Live eine passende Untersuchung vorgestellt worden, bei der die ‚männlichsten‘ Städte des Bundeslandes ermittelt wurden.8 Die Ergebnisse basieren auf Zahlen und Fakten, die – sicherlich nicht ohne ein Schmunzeln – von Studierenden der Statistik-Fakultät der Technischen Universität Dortmund zusammengestellt wurden. Als Analysekriterien wurden die Anzahl der Autohändler, Sexshops, Fußballvereine, Waschanlagen, Baumärkte, Computerläden, Imbissbuden, gemeldeten Autos, Kegel- und Bowlingbahnen, Kneipen und Bars auf je 10.000 Einwohner gemessen und mit dem Frauenanteil der Stadt und der Entfernung zum nächsten Bundesligaverein kombiniert. Die ‚männlichste‘ Stadt in NRW ist demnach Bottrop, dank Spitzenplätzen in drei wichtigen Kategorien: Die Stadt hat die meisten Kegelbahnen, die meisten Imbiss-
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Yogeshwar, Rangar: Sonst noch Fragen? Warum Frauen kalte Füße haben und andere Rätsel des Alltags, Köln 2009. Diese Ratgeber verstehen sich oft als Reaktion auf die vermeintliche Feminisierung der Gesellschaft. So diagnostizieren David Everitt und Harold Schechter in ihrem Buch The Manly Movie Guide: Virile Video and Two-Fisted Cinema (1997) eine angebliche Flut von ‚Frauenfilmen‘ wie THE ENGLISH PATIENT und TITANIC, die immer häufiger mit Oscars gekrönt würden. „With all these women’s pictures around, the time has never been riper for the kind of guidebook you now hold in your hairy-knuckled hands.“ Everitt, David/Schechter, Harold: The Manly Movie Guide: Virile Video & Two-Fisted Cinema, New York 1997, S. xx. Ebd, S. 280-282. http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/pressemitteilungen/2010/11/2010 112_1live.phtml vom 12.07.2011.
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buden und die meisten Baumärkte. Über den höchsten Anteil an Sexshops verfügt Herne, weshalb die Ruhrgebietsstadt auch insgesamt auf Platz 2 der Wertung liegt. Auf den abgeschlagenen Plätzen landeten Gütersloh, Herford, und der Kreis Siegen-Wittgenstein. Es ist kein Zufall, dass sich solche Meldungen über die ‚Männlichkeit‘ einzelner Städte, ja der Nation, immer wieder mit ‚Schreckensnachrichten‘ über den scheinbar kritischen Zustand der kulturellen Gemeinschaft mischen. Das Buch des Berliner Politikers Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab (2010)9 kann als Beispiel für die Popularität so gearteter Krisen-Szenarien gewertet werden. Sarrazins Vorstellung einer nationalen Identität, die durch Fremdeinwirkung bedroht wird, ähnelt sehr der bekannten Rhetorik zur bedrohten Männlichkeit. In beiden Fällen wird ein Schreckens-Szenario entwickelt, welches nur durch eine Bestätigung traditioneller Denk- und Handlungsmuster und die Festigung der bestehenden Hegemonie ausgeräumt werden kann. Ich komme später noch auf die Rhetorik der untergehenden Männlichkeit zurück, die häufig mit dem Diskurs über den drohenden Zerfall der Nation gekoppelt wird. Der Mann ist also vom Untergang bedroht. Und er trägt selbst zu seinem eigenen Untergang bei, indem er nicht genügend Widerstand leistet. Widerstand wogegen eigentlich? Gegen die Gefahren einer ‚Verweiblichung‘ im Allgemeinen, eines Erstarkens der Frau im beruflichen und privaten Bereich, einer angeblichen Homosexualisierung, einer genetischen Effemination, oder der sogenannten Überzivilisation der Gesellschaft, bei der die animalischen Instinkte des Mannes auf der Strecke bleiben. Es gibt viele Gründe, sich als Mann wieder stark fühlen zu wollen und der angeblichen Feminisierung Einhalt zu gebieten. Natürlich basieren derartige Ängste und Bedrohungs-Szenarien auf einem Denkmuster, das im Derrida’schen Sinne phallogozentrisch zu nennen ist, sprich: um die symbolische Gleichsetzung von Mann mit Rationalität, mit Vernunft, kreist. Dieses Denkmuster ist zugleich höchst binär ausgerichtet, das heißt: es duldet nur Schwarz und Weiß, nur zwei Optionen der Identitätsentwicklung. Alles andere ist höchst gefährlich, ja, um ein anderes Schlagwort zu bemühen, unnatürlich. In Wirklichkeit haben diese Grabenkämpfe wenig mit Natur, aber viel mit Kultur – sprich: den Gestimmtheiten der westlich-abendländischen Kultur – zu tun. Und: Sie haben eine sehr lange Geschichte. Bereits im Jahre 1855 beschwerte sich der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne in einem Brief an seinen Verleger über jenen „damned mob of scribbling women“, der angeblich die Vorherrschaft im Literaturbetrieb ergriffen habe.10 Im Jahre 1885 schließlich diagnostizierte der bekannte deutsche Verleger Michael Georg Conrad in seinem einflussreichen Magazin Die Gesellschaft eine „arg gefährdete Mannhaftigkeit“, die nur durch
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Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. 10 Zit. nach: Pattee, Fred K: The Feminine Fifties, New York 1940, S. 110.
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eine Wiederbelebung maskuliner Werte, wie Mut und Tapferkeit, zu retten sei.11 Der Hintergrund ist schnell erzählt: Frauen strebten in dieser Zeit, dem späten 19. Jahrhundert, nach gleichen Rechten, etwa dem Wahlrecht. Gleichzeitig entwickelte sich in Großstädten wie Berlin, New York und Philadelphia eine aufstrebende schwule Subkultur. Beides führte dazu, Ängste vor einem Verschwinden des traditionellen, heteronormativen Männerbildes zu nähren. Kurz nach dem ersten Weltkrieg, 1918, gab es einen ähnlichen Aufschrei der Empörung: Der durchschnittliche Vertreter des männlichen Geschlechts sei, so der Sprachwissenschaftler H.L. Mencken, zu einer Art Lackaffe (popinjay) verkommen, der sich von Frauen herumkommandieren lasse und eigentlich kein richtiger Mann mehr sei.12 Kurze Zeit später, 1927, schrieb der britische Autor D.H. Lawrence in einem vielbeachteten Aufsatz, dass eine „Diktatur der Frauen“ sowohl im häuslichen Bereich als auch in der Weltpolitik Einzug gehalten habe.13 Angesichts einer solchen Bedrohung erklärt sich auch das Aufkommen von Romanen wie The Revolt of Man [Die Revolte der Männer] (1882) von Sir Walter Besant14, in dem es um die Gegenwehr gedemütigter Männer in einer Frauenherrschaft geht. Dies mag aus heutiger Sicht wie Science Fiction klingen, fühlte sich jedoch aus der Warte vieler Apostel des Patriarchats höchst real an. Eine weitere Männlichkeitskrise gab es in den 1940er Jahren, als viele amerikanische Männer in den Krieg zogen und weite Teile der US-Volkswirtschaft von Arbeiterinnen getragen wurden. Norman Rockwells toughe Frauenfigur Rosie the Riveter wurde zum Symbol dieser Entwicklung. Philip Wylies beißendes Pamphlet Generation of the Vipers [Generation der Vipern]15 war ein Bestseller dieser Zeit. Die Männer, so las es sich in Wylies Buch, waren zu Opfern machtgieriger Emanzen geworden, die ihnen das Geld aus der Tasche zogen und sie jedweder Autorität beraubten. Ähnliches setzte sich im Westdeutschland der siebziger Jahre mit Esther Vilars antifeministischer Kampfschrift Der dressierte Mann (1971)16 fort, wo wiederum der Mann zum Opfer, die Frau zur Täterin stilisiert wurde. Der Untergang des Mannes wurde in dieser Lesart durch die Feminisierung
11 Zit. nach: Huyssen, Andreas: „Mass Culture as Woman: Modernism’s Other.“ Studies in Entertainment: Critical Approaches to Mass Culture, hg. von Tania Modleski, Bloomington/Indianapolis 1986, S. 188-207, S. 193f. 12 Zit. nach: Ehrenreich, Barbara: The Hearts of Men: American Dreams and the Flight from Commitment, New York u.a. 1983, S. 6. 13 Lawrence, David H.: Selection from Phoenix, hg. von A.A.H. Inglis, New York 1971, S. 353. 14 Besant, Walter: The Revolt of Man. 1882. A Project Gutenberg of Australia eBook. http:// gutenberg.net.au/ebooks06/0602151h.html vom 25.04.2011. 15 Wylie, Philip: The Generation of Vipers, New York 1942. 16 Vilar, Esther: Der dressierte Mann: Das polygame Geschlecht, 1971, München 1987.
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der Gesellschaft eingeleitet, die schleichende Machtergreifung der Frau, aber auch die allmähliche Schwächung traditioneller Männlichkeit. Noch in den neunziger Jahren wurde nahezu dieselbe Rhetorik bedient. So heißt es in einem Traktat der Wild Men-Bewegung: „Hauptursache für unsere nationale Krise ist die Verweiblichung des Männer“.17 Die „Wilde Männer“-Bewegung war in dieser Zeit eine der wichtigsten Säulen des konservativen Diskurses. Gefordert wurde eine Rückkehr des Mannes zu seinen animalischen Wurzeln. Eine radikale Variante dieser Bewegung waren die sogenannten Promise Keepers, eine Art männliche Therapiegruppe, bei der die Teilnehmer Urschreie in Wäldern ausstießen und zu ihren Vätern beteten.18 Wie ich im ersten Teil des Aufsatzes versucht habe aufzuzeigen, hat es, periodisch wiederkehrend, Krisen-Szenarien gegeben, bei denen ein drohendes Ende des Mannes bzw. seiner Männlichkeit heraufbeschworen wurde. Eine Inszenierung von Männlichkeitskrisen ist vor allem in Epochen zu beobachten, in denen der Zusammenhalt der Nation bedroht scheint. Die moderne Soziologie hat gezeigt, dass die ‚Krise‘ regelrecht zum Konzept der Maskulinität dazu gehört; sie ist gewissermaßen ihr Funktionsprinzip. Ein Identitätsmodell, welches mit dem Bezwingen von Herausforderungen und dem Errichten einer Vorherrschaft verknüpft ist – wie am Beispiel der Männlichkeit gezeigt – trägt die Krise, den Konflikt, die Infragestellung der postulierten Dominanz, bereits in sich. Die „Krise der Männlichkeit“, so konstatiert der Maskulinitätsforscher Walter Erhart, „bezeichnet demnach keinen psychischen oder epochalen Zustand, sondern lässt sich als Moment einer bestimmten narrativen Struktur
17 Evans, Tony: „Gott im Manne“, in: Der Spiegel 52 vom 25.12.1995, S. 130-132, hier S. 132. 18 Mit dem Aufkommen der neuen Kommunikationstechnologien und der zunehmenden Toleranz gegenüber Tabu- und Grenzbrüchen hat sich die Lage für den traditionell denkenden Mann nicht unbedingt gebessert. Ganz im Gegenteil. Wie der australische Soziologe Robert William Connell in seinem Aufsatz „Globalisierung und Männerkörper“ (2000) argumentiert hat, haben vor allem Männer mit einem transnational und transkulturell ausgerichteten Lebenswandel, also Geschäftsleute, Soldaten, Politiker und Künstler, eine neue Art von Männlichkeit ausgebildet. Diese auf Grenzüberschreitung basierende Maskulinität beschreibt Connell als „Cyborg-Männlichkeit“. Die Körperökonomie dieser Männer, so Connell, entzieht sich „der sozialen Kontrolle lokaler Geschlechterordnung.“ Connell, Robert W.: „Globalisierung und Männerkörper – Ein Überblick“, in: Feministische Studien 2 (2000), S. 78-86, hier S. 84f. Männlichkeit ist in dieser Sicht ein zutiefst brüchiges und krisenhaftes Konzept, ohne feste Struktur und kontinuierlich von der Auslöschung bedroht. Der Männerforscher Robert Connell – dies nur als Information am Rande – lebt heute als Frau und nennt sich Raewyn Connell.
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fassen, mittels derer sich Männlichkeit […] seit jeher konstituiert.“19 So wie das Konstrukt der Männlichkeit einen geschichtlichen Hintergrund hat, so besteht auch die Krise der Männlichkeit aus Geschichte, man möchte sagen: aus Geschichten. Die Kriseninszenierung ist an das mediale Ereignis, die spektakuläre Darbietung, gebunden. Sie muss vage Stimmungen in Bilder umsetzen, die diese Tendenzen verstärken, und ist daher auf Dramatisierungen und Zuspitzungen angewiesen. Die Rhetorik der krisenhaften Männlichkeit, so die Männlichkeitsforscherin Sally Robinson, ist stets performativ.20 Sie verlangt geradezu nach einer konstanten Spannung – weshalb auch die Pole zwischen der Männlichkeit und ihren Gegenspielern immer wieder aufs Neue inszeniert und den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Im folgenden Kapitel möchte ich untersuchen, wie eine solche Inszenierung krisenhafter Männlichkeit in der kulturellen Praxis aussehen kann.
Krisenhafte Männlichkeit als mediales Spektakel Der Sommer des Jahres 2010 liest sich retrospektiv als eine Zeit der Abgesänge auf die traditionelle Männlichkeit. In einem Aufsatz in der amerikanischen Zeitschrift The Atlantic verkündete Hanna Rosin das Ende der Männer schlechthin: „The End of Men: How Women Are Taking Control − of Everything.”21 Nur ein paar Wochen später zog das Magazin Newsweek nach und titelte: „The Traditional Male is an Endangered Species.“ Hauptund Untertitel des Artikels verrieten bereits die Stoßrichtung des Artikels: „Man Up! It’s Time to Rethink Masculinity.“22 Das Titelbild zeigt die Rückenansicht eines unbekleideten, breitschultrigen Mannes, der einen kleinen Jungen im Poloshirt auf dem Arm trägt, der fragend in die Kamera blickt. Die Zukunft des Mannes, ja der Fortpflanzung schlechthin, so suggeriert das Bild, scheint auf dem Spiel zu stehen. Maskulinität müsse neu überdacht werden. Aber als was? Ironischerweise findet sich in derselben Ausgabe von Newsweek eine Werbung, die sich geradezu wie ein Schwanengesang einer bereits unterge-
19 Erhart, Walter: „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘ interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30.2 (2005), S. 156-232, hier S. 223. 20 Robinson, Sally: Marked Men: White Masculinity in Crisis, New York 2000, S. 10. 21 Rosin, Hanna: „The End of Men“, in: Atlantic Magazine (Juli/August 2010). http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2010/07/the-end-of-men/8135 vom 20.05.2011. 22 Romano, Andrew/Dokoupil, Tony: „Man Up! The Traditional Male is an Endangered Species“, in: Newsweek vom 27.09.2010, S. 1 und S. 42-49, hier S. 1.
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gangenen Männlichkeit liest. Es ist der Text einer Lebensversicherung, in dem eine Frau in Form eines Gedichtes in Erinnerungen an ihren verstorbenen Lebensgefährten schwelgt: „Weil er mich liebte. Er kümmerte sich um das Geschirr, massierte mir die Füße, überraschte mich mit Tulpen. Nahm mich zu Musicals obwohl er sie nicht mochte. Trug meine Tüten während ich beim Einkaufen war Hielt meine Hand.
Nach einer Pause heißt es dann: Er starb vor einigen Jahren an Krebs.“
Und: „Weil er mich liebte Kann ich jetzt in unserem Heim bleiben Für die Kinder da sein […].“23
Mit anderen Worten: Der Mann hat eine Lebensversicherung abgeschlossen. Er selbst ist zwar nicht mehr da, aber laut Text liebt er seine Frau noch immer – in Gestalt seines Nachlasses. Der Mann ist also tot, aber sein Geld lebt weiter, was laut Annonce mindestens genauso wichtig ist. Da er klug vorgesorgt hat, ist er zumindest symbolisch noch lebendig. Parallel zu der genannten Newsweek-Ausgabe finden sich zahlreiche Zeitungsberichte, wonach der Mann auch genetisch auszusterben droht. Anlässlich des Weltmännertages am 3. November 2010 schrieb die Berliner Morgenpost in einer nicht ganz ernstzunehmenden Glosse: „Der Mann droht langsam auszusterben.“24 Im Text heißt es: „Dänische Rekruten, die für die Forschung masturbieren durften, erbrachten den niederschmetternden Beweis: Die Zahl der akzeptablen, also für die Fortpflanzung geeigneten Spermien ist unaufhörlich gesunken, derzeit auf etwa zehn Prozent […]. Höchste Zeit, rasch noch was einzufrieren.“25
23 „Because he loved me.“ Anzeige von LIFE insurance, in: Newsweek vom 27.09.2010, S. 66. 24 Schumacher, Hajo: „Der Mann droht langsam auszusterben“, Die Welt vom 03.11.2010, http://www.welt.de/wissenschaft/article10696758/Der-Mann-drohtlangsam-auszusterben.html vom 14.09.2011. 25 Ebd.
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Fungiert in der Newsweek-Annonce für die Lebensversicherung noch die Bank als Rettung des Männernachlasses, so ist es hier die Samenbank. Der Weltmännertag wird jährlich seit dem Jahr 2000 begangen. Gegründet wurde er von der Universität Wien angesichts der Gesundheitsstatistiken, wonach Männer im Durchschnitt eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwartung haben als Frauen. Die Männer, so die Berliner Morgenpost ironisch, sind „[…] ein Auslaufmodell. Mal abgesehen von letzten Refugien wie dem Vatikan oder der Dunstabzugsfahne des Holzkohlengrills haben die Frauen seither auch die letzten Reservate des einstmals ungezähmten Mannes erobert: Sie sind Kanzler, bevölkern die Baumärkte, verstehen mit der Einparkhilfe umzugehen, wissen den Akkuschrauber zu führen und bestellen im Internet Designer-Samen für die mannfreie Befruchtung.“26
Frauen, glaubt man dem Autor Hajo Schumacher, scheinen also auch in den Markt zu gehen. Nicht verwechselt werden sollte der Weltmännertag vom 3. November mit dem Internationalen Männertag, dem International Men’s Day, der am 19. November begangen wird, zum ersten Mal 1999 in Trinidad und Tobago. Der Internationale Männertag setzt sich vor allem für die Gleichheit der Geschlechter ein, außerdem gegen eine Diskriminierung von Männern und für die Etablierung positiver männlicher Rollenmodelle. Wie nun stehen die Medien zum Thema Männlichkeit? Hier lässt sich eine ausgesprochen ambivalente Einstellung konstatieren: Einerseits wird aggressives oder gar kriminelles Verhalten von Männern offen gegeißelt. Andererseits schwelgt man jedoch auch in Visionen einer starken, dominanten Männlichkeit. Ein besonders spektakulärer Fall von gewalttätiger, zugleich auch krisenhafter Männlichkeit dominierte während der Fußballweltmeisterschaft 2006 die Berichterstattung. Als Zuschauer konnten wir beobachten, wie der französische Nationalspieler Zinedine Zidane auf dem Spielfeld dem Italiener Marco Materazzi einen Kopfstoß versetzte, nachdem dieser ihm offenbar etwas zugerufen oder zugeraunt hatte. Wochenlang gab es Spekulationen über den Grund für diesen Kopfstoß, an denen sich unter anderem die
26 „Da der Mann ohnehin ausstirbt“, so der Morgenpost-Autor, „ist es übrigens völlig überflüssig, sich auf den letzten Metern noch über Gerechtigkeitsfragen Gedanken zu machen.“ Auf Männer muss man keine Rücksicht mehr nehmen. „Deswegen wird auf dem Spielplatz von den Muttis auch beklatscht, wenn Shakira dem Kevin die Blechschaufel über die Rübe haut. Das ist mal ein selbstbewusstes Mädchen, das lässt sich nichts gefallen. Wenn Kevin, völlig zu Recht, der Shakira nun seinerseits eine scheuert, wird nach dem Kinderpsychologen gerufen oder gleich nach dem Jugendamt. Sieht doch jeder. Da wächst ein Gewalttäter heran; was da wohl zu Hause los ist. Klare Sache: aggressiver Vater, alte Rollenbilder, da hilft nur umgehende Medikamentierung.“ Ebd.
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britische Zeitung The Guardian beteiligte. Es gab Gerüchte, wonach Materazzi Zidane als „Terroristen“ beschimpft haben könnte, da dieser aus einer Familie algerischer Einwanderer stammt. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa zitierte Materazzi daraufhin mit den Worten, „Das ist nicht wahr. Ich habe ihn nicht einen Terroristen genannt. Ich bin ein Ignorant. Ich weiß nicht mal, was das Wort bedeutet“.27 Aufklärung brachten schließlich die zu Rate gezogenen Lippenleser der brasilianischen Fernsehanstalt Globo. Nach Ansicht der Lippenleser beleidigte der Italiener Zidanes Schwester zweimal als Prostituierte. Auch Zidanes Mutter wurde als potentielles Objekt der Verbalinjurien ins Spiel gebracht. Es folgten zahlreiche Verständnisbekundungen gegenüber Zidane, da dieser schließlich wie ein richtiger Mann gehandelt habe. Ein richtiger Mann verteidigt seine Ehre – und notfalls die seiner Familie.28 In diesem Kontext ist auch ein Fall aus Südafrika von Interesse, der 2010 durch die Presse ging: Hier ist es in einer Kneipe aus einem Streit über die Penislänge eines Betroffenen zu einem Mord gekommen.29 Das Kuriose und Bizarre solcher Vorfälle wurzelt, wie ich meine, im Männlichkeitsdiskurs selbst, der häufig ebenfalls groteske Züge aufweist. Das Spektakel Männlichkeit erinnert oft an eine Art Karneval.30 Nur so ist es zu erklären, dass es einen wochenlangen Streit in den Medien über die Frage gab, ob David Beckham in seiner Werbekampagne für Armani sogenannte Push-Up-Unterhosen verwendet hat oder gar mit anderen Hilfsmitteln (etwa Photoshop) nachgeholfen wurde. Die Auseinandersetzung kulminierte in der Aktion einer italienischen Reporterin, die Beckham bei einer Pressekonferenz beherzt zwischen die Beine griff, um sich von der Größe seines Geschlechtsorgans zu überzeugen.31 Die skurrile Dimension solcher Inszenierungen wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die groteske Struktur des Konstrukts Männlichkeit an sich. Wird die Ehre eines Mannes in Frage gestellt, so folgen reflexartig Verteidigungsgesten und Abwehrstrategien. Beleidigungen der Mutter oder Schwester eines Mannes stehen auf der Rangliste möglicher Auslöser männlicher Aggressionen ganz oben. Der Spitzenreiter dieser Rangliste ist jedoch der Angriff auf die Ehre des Man-
27 http://www.stern.de/sport/wm2006/news/zidane-eklat-materazzi-dementiert-terro rist-zitat-565337.html vom 18.07.2011. 28 http://www.wiwo.de/unternehmen-maerkte/lippenleser-analysieren-zidane-ausras ter-149947/ vom 22.07.2011. 29 http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article9954064/Streit-um-Penis laenge-kostet-vier-Maennern-das-Leben.html vom 28.06.2011. 30 Vgl. Brandt, Stefan L.: „Kino als Karneval der Männlichkeit: (Selbst-)Ironie und Intertextualität in den frühen James-Bond-Filmen“, in: Ellen Grünkemeyer et al. (Hg.), Das kleine Bond-Buch: From Cultural Studies with Love, Marburg 2007, S. 121-137. 31 http://www.youtube.com/watch?v=GHv-QzyGZig vom 19.07.2011.
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nes selbst. Der Männerforscher Michael S. Kimmel wettet, dass er auf jedem Schulhof oder Spielplatz, auf dem sechsjährige Jungen spielen, einen bewaffneten Kampf auslösen kann mit der Frage, „Who’s a sissy around here?“32 Es ist bekannt, dass auch auf deutschen Kinderspielplätzen und Schulhöfen das Wort ‚schwul‘ sehr häufig als Schimpfwort genutzt wird.33 Der ‚Vorwurf‘ der Homosexualität stellt laut Kimmel aus Sicht vieler Männer (und aus Sicht der Gesellschaft, die diese Einstellung bereits Kindern anerzieht) eine vitale Attacke auf das durchschnittliche männliche Ego dar – eine nicht zu tolerierende Ehrverletzung. Wie zutreffend Kimmels Vermutung ist, wonach es um das Reizthema ‚Homosexualität‘ sehr schnell zum Streit kommen kann, zeigte sich unlängst bei einem anderen Skandal um die Fußballer Gerard Piqué und Zlatan Ibrahimoviü. Ausgelöst wurde dieser Vorfall durch ein Bild, das die beiden heterosexuellen Spieler in einer scheinbar romantischen Pose zeigt. Die Publikation des Fotos sorgte nicht nur für erregte Spekulationen in der Öffentlichkeit, sondern auch für heftige Reaktionen zumindest eines der beiden Spieler. Von einer Reporterin auf das Bild angesprochen, rief Ibrahimoviü, seines Zeichens Stürmer für den AC Milan ihr wortwörtlich zu: „Come with your sister to my house and you will see if I’m queer.“34 Hysterische Reaktionen wie die von Ibrahimoviü sind keine Seltenheit, wenn es um den Vorwurf der ‚Unmännlichkeit‘ und insbesondere der Homosexualität geht. Hier zeigt sich, dass die Welt des Sports im Allgemeinen – und der Bereich des Fußballs im Speziellen – immer noch eine Bastion traditioneller Männlichkeit ist und daher besonders empfindlich auf Tabuverstöße reagiert. Wie rigoros sich gerade die Fußballwelt gegen mögliche Abweichungen von den etablierten Rollenbildern zur Wehr setzt, wird dadurch deutlich, dass es im deutschen Profifußball noch keinen einzigen aktiven Sportler gegeben hat, der sich als schwul geoutet hat. Weltweit gibt es bis heute nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, etwa den tragischen Fall des schwarzen britischen Profifußballers Justin Fashanu (der sich angesichts des massiven Mobbings durch die Medien im Mai 1998 das Leben nahm) sowie die Story des 20-jährigen schwedischen Fußballprofis Anton Hysén, der sich im März 2011 outete.35 Gerade weil sich der Fußballsport – ebenso wie der Boxsport – als klassisch ‚männliche‘ Disziplin versteht, werden bei möglichen Verstößen gegen die internen Codes Krisenszenarien sehr schnell
32 Kimmel, Michael S.: „Masculinity as Homophobia. Fear, Shame, and Silence in the Construction of Gender Identity“, in: Estelle Disch (Hg.), Reconstructing Gender: A Multicultural Anthology, Boston u.a. 1997, S. 103-109, S. 104. 33 http://www.yaez.de/Mitreden/305-Wo-schwul-immer-noch-ein-Schimpfwortist.html vom 12.05.2011. 34 http://sports.yahoo.com/soccer/blog/dirty-tackle/post/Ibrahimovic-offers-toprove-his-sexuality-with-r?urn=sow-239550 vom 12.07.2011. 35 http://www.sueddeutsche.de/sport/homosexualitaet-im-fussball-wo-zum-teufelsind-all-die-anderen-1.1070998 vom 20.07.2011.
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ausgerufen, wobei das Hauptkriterium interessanterweise vor allem die Homosexualität (und nicht etwa die Metrosexualität eines David Beckham) ist.36 Die Gleichsetzung von Homosexualität mit Unmännlichkeit an sich ist bereits eine Eigenart des modernen abendländischen Denkens (die sich wesentlich von früheren Kulturen im alten Rom, Griechenland oder Sparta unterscheidet). Könnte man doch einen Mann, der sich mit Männern umgibt, eigentlich als besonders ‚männlich‘ bezeichnen, da er sich ja in einem – rein biologisch betrachtet – männlich ausgerichteten Umfeld bewegt, geschieht in der westlichen Vorstellungswelt genau das Gegenteil. Dass dies so ist, liegt an der binären und heteronormativen Struktur unserer heutigen Bilderwelt. Da Paarkonstellationen, zumindest in sexueller Hinsicht, über semantische Gegensätze, sprich die Kombination ‚männlich-weiblich‘ imaginiert werden, findet eine Projektion dieses Musters automatisch auch auf Männerpaare statt. Das Konzept ‚Männlichkeit‘ wird dabei in der symbolischen Ordnung der westlichen Gesellschaften mit symbolischen Zuweisungen wie ‚physische Stärke‘, ‚Sportlichkeit‘ und ‚Fortpflanzungsfähigkeit‘ verbunden und damit von ‚devianten‘ Diskursen abgegrenzt. Hier zeigt sich wiederum die absolute Macht medialer Bilder, mittels derer bestimmte – in der Gesellschaft durchaus subjektiv erlebte Identitätskonzepte (etwa das des ‚maskulinen‘ homosexuellen Mannes oder gar des ‚schwulen Familienvaters‘) – als abwegig, paradox oder karnevalesk inszeniert werden. Dies heißt nicht, dass diese Selbstbilder nicht existieren. Sie befinden sich lediglich außerhalb der kulturell umrissenen Grenzen des Denkens.37 Wie zentral heteronormative und homophobe Erzählstrategien gerade in der Populärkultur sind, kann anhand des Video-Clips Stan (2000) des amerikanischen Rap-Musikers Eminem alias Slim Shady gezeigt werden.38 Das mehrfach ausgezeichnete Video aus dem Jahre 2000 dreht sich um einen offenbar schizophrenen Fan von Eminem, der nicht nur so ähnlich aussieht wie der Musiker, sondern sich offenbar auch in ihn verliebt hat. Der gestörte Fan, dessen fiktionale Stimme wir mehrfach im Clip hören, bezeichnet sich zunächst als Eminems „biggest fan“. Später bringt er seinen Wunsch zum Ausdruck, mit Eminem zusammen zu sein („PS: We should be together“). Das deutlichste Symbol dieses Wunsches ist ein Foto, das parallel dazu ge-
36 Es steht zu erwarten an, dass das hartnäckige Tabu bezüglich männlicher Homosexualität im Profifußball in den kommenden Jahren gebrochen werden wird. Als Signal wird in diesem Zusammenhang häufig das spektakuläre Outing der walisischen Rugby-Legende Gareth Thomas gedeutet, dessen Lebensweg gerade mit Mickey Rourke verfilmt wird. URL: http://www.zeit.de/sport/2010-01/outinggareth-thomas-schwul-fussball-rugby vom 22.07.2011. 37 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1991, S. 17. 38 Eminem. „Stan“. Duett mit Dido. M&T: Marshall Mathers, P. Herman, D. Armstrong. Label: Interscope, Aftermath 2000.
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zeigt wird, auf dem er mit seiner schwangeren Freundin zu sehen ist. Der rechte Teil des Bildes, wo die Freundin zu sehen ist, wird mit einem Bild von Eminem überklebt, sodass es so aussieht, als umarme der Fan den Musiker und bilde ein Paar mit ihm. Die offensichtliche Homoerotik der Bilder wird durch das Thema Stalking und die Schwangerschaft der Freundin kaschiert. Das Katastrophen-Szenario zum Ende des Clips, bei dem die Freundin offenbar umgebracht wird und der Stalker mit dem Auto in den Tod rast, erscheint als Konsequenz der fehl gerichteten Begierden des Fans. „I love you, Slim“, hört man den Fan noch sagen, „We could have been together.“ Die unsichtbare Trennlinie zwischen Homosozialität, dem male bonding, das legitim ist, und der Homoerotik wird hier durchbrochen, was wiederum zum tödlichen Ausgang führt.39 Weitaus ironischer und weniger paranoid geht Eminem in einem sieben Jahre später veröffentlichten Video-Clip mit dem Thema Männlichkeit um. We Made You heißt der Song, der im Frühjahr 2009 veröffentlicht und später von MTV zum besten Clip des Jahres gekürt wurde.40 Hier geht es um die mediale Konstruktion des Rockstars in der Populärkultur. „We Made You a Rockstar.“ Der Rockstar, jenes machohafte, teilweise jedoch auch androgyne Wesen, das sich stets mit einer Menge weiblicher Groupies umgibt, ist laut Eminem eine Erfindung der Medien. Die Ästhetik des Clips muss im Sinne Susan Sontags nahezu als „camp“ bezeichnet werden.41 Kitsch, schlechter Geschmack und Ironie werden hier rigoros miteinander vermischt. In We Made You gibt es zahlreiche Stereotypen, sowohl der Männlichkeit als auch der Weiblichkeit. Beide Klischees werden jedoch derart übertrieben dargestellt, dass das dahinterliegende Prinzip als Farce erscheint. Das Raumschiff Enterprise ist ein gigantischer Phallus. Der Rockstar, verkörpert von Eminem selbst, ist ein ‚aufgeblasener Lackaffe‘, dem völlig unverständlicherweise die Frauen zu Füßen liegen. Die Männer kommen in Eminems Clip nicht besonders gut weg. Sie werden vom Blitz erschlagen
39 Wie zentral Bilder einer explizit physischen Männlichkeit in medialen Repräsentationen des Künstlers sind, zeigt sich anhand des Covers für Eminems erstes „Greatest Hits“-Album aus dem Jahre 2001. Hier ist der Rapper völlig unbekleidet in einer Halbnahen zu sehen. Sein Geschlechtsorgan ist symbolisch durch eine rote Dynamitstange ersetzt, deren Lunte bereits gezündet ist. Obgleich dieses Bild unverhohlen mit den traditionellen Mustern einer überhöhten Maskulinität spielt, kommen hier – in Gestalt der Symbolik des (selbst)zerstörerischen Geschlechtsteils – auch Elemente einer krisenhaften Männlichkeit zum Zuge. URL: http://www.cover-island.com/bigthumb-715902.jpg vom 21.07.2011. 40 Eminem. „We Made You“. K: Marshall Mathers, Trevor Lawrence u.a. Label: Interscope, 2009. 41 Sontag, Susan: „Notes on Camp“, in: dies., Against Interpretation and Other Essays, New York 1966, S. 275-292.
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oder auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, leiden an Flatulenzen im Bett, übergeben sich zu den unpassendsten Momenten, oder müssen sich lesbischer Amazonen auf dem „Planet Womyn“ zu erwehren wissen. Gleichzeitig erscheinen auch die Frauenfiguren, Jessica Simpson, Britney Spears, Kim Kardashian, um nur einige zu nennen, als Karikaturen ihrer selbst. Die geläufigen Geschlechterideale, der harte Rockstar, das American Girl, sind hier nur noch Bildhülsen, ohne tatsächlichen Inhalt. Die geradezu lächerlich wirkenden Attitüden der Charaktere im Clip entlarven die dominanten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit als leere Versprechungen. Eminem, der harte Rapper, taucht im Video mehrfach als Frau bzw. als Transvestit auf – als „a very pretty woman“ – wie ein Eminem-Fan in einem Blog-Eintrag schreibt.42 Interessanterweise spart Eminem in seinem Clip ausgerechnet jenen Bereich aus, in dem er selbst als Popstar erfolgreich geworden ist – die HipHop-Kultur, jenes Bilderreich, in dem Männer noch echte Kerle sein dürfen und Frauen lediglich die Accessoires am Swimming-Pool. Wie dominant dieses Bild immer noch in der Hochglanzwelt des Fernsehens ist, zeigt der Werbespot des Schokoriegels Maxi King Roll. „Harte Schale, weicher Kern, ihn haben alle Ladies gern.“ Solche Auswüchse poetischer Kreativität spiegeln offenbar ein Lebensgefühl wider, mit dem man vor allem junge, männliche Käufer gewinnen möchte. Letzten Endes scheint sich am besten eine Inszenierung der Geschlechtergegensätze zu verkaufen, natürlich im ‚coolen‘ (sprich: als lässig und konsumierbar‘ empfundenen) Gewand und mit einer Prise Humor gewürzt. Ein vergleichbares Muster wird auch in Eminems Nummer-Eins-Hit Love the Way You Lie (2010) genutzt.43 Die Gesangspartnerin von Eminem ist hier die schwarze Sängerin Rihanna, die bereits durch eine gewalttätige Liaison mit dem Rapper Chris Brown für öffentliches Aufsehen gesorgt hat. Der ästhetische Aufbau in diesem Video folgt einem bewährten Rezept: Eminems harter Sprechgesang wird komplementiert durch einen melodiösen Part, der von einer Frau gesungen wird. Ähnliches finden wir auch in den beiden anderen Videos, Stan und We Made You. Viele von Eminems Songs gleichen damit einer Parabel auf heteronormative Strukturen in unserer Gesellschaft: Hier der harte, coole Rapper, dort die gefühlsbetonte Sängerin. Auf der einen Seite der aggressive, stakkatohafte Stil der HipHop-Musik, auf der anderen Seite Gefühl und Emotion, wie man es von der neuesten ‚Schmuse-Hits-CD‘ kennt. Mit dieser Mischung scheint man die größtmöglichen Käuferschichten ansprechen zu können.
42 http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/Eminem vom 19.07.2011. 43 Eminem: „Love the Way You Lie“. Duett mit Rihanna. K: Marshall Mathers, Holly Hafferman, Makeba Riddick, Alexander Grant. Label: Shady Records/Aftermath/Interscope, 2010.
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Die Krise der Männlichkeit ist in Love the Way You Lie im White-Trash-Milieu angesiedelt. Wir sehen ein weißes Pärchen, das sich küsst und schlägt. Und im Hintergrund singt Rihanna: „That’s alright because I love the way it hurts.“ Der reale Hintergrund der gewalttätigen Affäre von Rihanna und Chris Brown schwingt hier für das Publikum unverhohlen mit. Die Geschichte vom untreuen Macho wird im Clip aus einer ungewohnten, aber irgendwie auch sehr konventionellen Perspektive erzählt. Die betrogene Frau weiß, dass er lügt. Sie durchschaut sein Theater. Aber sie liebt ihn auch dafür: „I love the way you lie.“ Es ist bezeichnend für postmoderne Darstellungen der Geschlechterrelationen, dass solche eher traditionellen Bilder in neuem Gewand aufbereitet und dadurch als zeitgemäß inszeniert werden. Die Männlichkeit des weißen Protagonisten wird wie in einem Werbe-Clip in weichgezeichneten Großaufnahmen inszeniert; seine gewalttätigen Ausbrüche erscheinen als fester, organischer Bestandteil seiner Sexualität, die mit ihrer korrespondiert („Maybe that’s what happens when a tornado meets a volcano“). Das konservative Potenzial der Botschaften wird durch diese Ästhetisierung gezielt kaschiert bzw. durch die weibliche Erzählperspektive im Refrain (sie ist die aktiv Liebende, die den Gewaltcharakter der Beziehung sanktioniert) scheinbar durchbrochen.
Maskuline Performanz zwischen Selbstironie und Selbstvergewisserung Von den Bedrohungs- und Gewaltszenarien, die ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes skizziert habe, führt eine unsichtbare Spur zu den selbstironischen Darstellungen performativer Männlichkeit, die typisch für die heutige Zeit sind. Männlichkeit wird hier nicht mehr nur als Verteidigungsbastion gesehen, sondern als eine Art postmodernes Spektakel. Die Stereotype der Maskulinität werden hier zwar spielerisch aufs Korn genommen, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden dabei jedoch zugleich überhöht und als universales Prinzip zementiert. Die aktuelle Werbekampagne des Getränkeproduzenten Coca-Cola, Life as It Should Be – Das Leben wie es sein sollte, die 2008 in den USA entwickelt wurde, ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel.44 Erzählt wird eine Liebesgeschichte aus einem scheinbar ironischen Blickwinkel. Der melancholische Held trifft im Supermarkt seine Ex-Freundin, die ihn fragt, wie es ihm geht und ihm dann stolz ihren neuen Freund vorstellt. In dem Moment nimmt unser Held entschlossen einen Schluck aus seiner Coca-Cola-Zero-Flasche. Und plötzlich beginnt ein Action-Film, bei dem ihn eine attraktive Blondine vor die Wahl stellt: Schlagsahne oder SchokoCreme – was er natürlich beides nimmt. Es folgt eine Szene, in der er von 44 URL: http://www.youtube.com/watch?v=_BxDcn3Jw0c vom 12.07.2011.
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einem Helikopter aus der Situation befreit wird. Dies erinnert sehr an die erfolgreiche Kinofilmreihe MISSION IMPOSSIBLE und ihre spektakulären Stunts. Es gibt auch einen ähnlichen Clip, ebenfalls von Coca Cola, wo der Held in letzter Sekunde den Fängen eines tobsüchtigen Vaters entkommt, als seine Freundin kurz auf der Toilette ist. Dieser Clip lief in den USA interessanterweise unter dem Motto „The Impossible Made Possible“, was wiederum auf die erfolgreiche Action-Filmreihe anspielt.45 Was all diese Clips miteinander gemeinsam haben, ist, dass sie männliche Stereotype – etwa das des abgehärteten, furchtlosen Actionhelden – auf selbstironische Weise darstellen. Gleichzeitig bieten sie jedoch auch ein Forum für die von Krisen gebeutelten männlichen Kunden, die sich das JamesBond-Image des Mannes früherer Jahre zurückwünschen. Ein besonders treffendes Beispiel ist die Werbekampage von Bruno Banani, „Made for Men“, in der sich ein gutaussehendes männliches Model von zwei Frauen umgarnen lässt. Der Mann ist hier scheinbar passiv. Er wird umschwärmt – wie auch die Männer in der Axe-Werbung. Gleichzeitig ist der Mann jedoch auch höchst aktiv. Er schnippt mit den Fingern und schreitet am Ende in den Horizont wie vor ihm der lonesome cowboy Lucky Luke. Diese Art von Werbung spielt mit den bekannten Klischees von Männlichkeit, aber mit einem Augenzwinkern. Es wird schließlich „der neue Duft für Männer, die sich nicht so ernst nehmen“ angepriesen. So erklärt sich auch der Heiligenschein, der ironischerweise am Ende über dem Kopf des männlichen Models erscheint.46 All diese Clips waren und sind sehr erfolgreich und werden seit geraumer Zeit in der Fernseh- und Kinowerbung eingesetzt. Ein von Pepsi produzierter, jedoch später wieder zurückgezogener Spot stellt hier eine Ausnahme dar: Man sieht eine Bar-Szenerie und einen schüchternen geek im blauen Hemd und elfenbeinfarbener Krawatte, der sich von seinen beiden Freunden Mut zusprechen lässt, um einen Flirtversuch zu starten. Die Kameraführung vermittelt hierbei zunächst den Eindruck, als sei das Objekt der Aufmerksamkeit eine bebrillte, ebenfalls schüchtern wirkende Frau am Tresen. Als der geek, ermuntert durch seine Kumpels und einen guten Schluck aus der Pepsidose, schließlich auf die Bar zusteuert, wird diese Erwartung schnell zerstreut. Es gerät zunächst eine vollbusige Blondine im schwarzen Dress in den Fokus der Aufmerksamkeit (was von den Freunden des geek mit einem „Gimme Five“ bejubelt wird). Zum Ende jedoch – quasi als Höhepunkt des Clips – erscheint ein smarter Sportler im T-Shirt im Visier der Kamera, der offenbar von Anfang an das Objekt der Begierde des geek war. Die entsetzten Gesichter der beiden Freunde erscheinen als letztes Bild im Clip, begleitet vom Pepsi-Logo. Die Enttäuschung der beiden als heterosexuell markier-
45 http://www.youtube.com/watch?v=Q29T-hH7Pqs&feature=related vom 18.07. 2011. 46 URL: http://www.youtube.com/watch?v=gxGCvnMvfHc vom 12.07.2011.
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ten Kumpels des geek versinnbildlicht das Erstaunen und den Widerwillen der dominanten Gesellschaft angesichts homosexueller Begierden.47 Der Pepsi-Werbespot gibt dem Narrativ der krisenhaften Männlichkeit eine ganz besondere Wendung. Das Gezeigte ist – in doppelter Hinsicht – das Leben, wie es (in Anspielung auf den Coca-Cola-Spot) offenbar nicht sein sollte. Life as It Should Not Be. Der Witz zum Ende des Spots resultiert gerade daher, dass wir eine solche Wendung (gerade im Werbefernsehen, aber auch im realen Leben) nicht erwarten. Bei den Kunden in Großbritannien, wo der Spot im Januar 2009 im Fernsehen gezeigt wurde, stieß der Clip auf ein teilweise wütendes Echo. In England musste er kurze Zeit später wieder abgesetzt werden, da es erregte Proteste, vor allem von christlichen Organisationen, gab. Aufschlussreicher noch als die Tatsache, dass es diesen Aufschrei der Entrüstung gab, ist der Umstand, dass der Clip daraufhin tatsächlich von Pepsi zurückgezogen wurde. Man wird gespannt sein dürfen, welche neuen Krisenzonen nach dem zu erwartenden (endgültigen) Fallen des Tabus ‚Homosexualität‘ im Diskurs der Populärkultur auftreten werden. Die etablierten Geschlechterhierarchien haben sich im Laufe der Zeit immer wieder fundamentalen Wandlungen unterzogen.48 Gleichzeitig hat das Prinzip der ‚Männlichkeit‘ kontinuierlich diesen Destabilisierungsversuchen getrotzt. Mehr noch: Es hat sich den Wandel – und damit die Herausforderung der Krise – sogar als Definitionsmerkmal angeeignet. Die Krise wird damit aller Voraussicht nach auch weiterhin zu Inszenierungen von ‚Männlichkeit‘ hinzugedichtet werden.
47 URL: http://www.youtube.com/watch?v=tIG0kB9lOxo vom 02.07.2011. 48 Vgl. Connell, Robert W./Messerschmidt, James W.: „Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept“, in: Gender & Society 19 (2005), S. 829-859, hier S. 832.
Väter und Amnesie Männlichkeiten in: IRGENDWO IN BERLIN und CRACK UP U TA F ENSKE
Die Bilder gefeierter Soldaten auf den Siegesparaden nach dem Zweiten Weltkrieg in New York und anderswo in den USA sind im kulturellen Bildergedächtnis genauso präsent wie die Fotografien erschöpfter, zerlumpter Kriegsheimkehrer in den Trümmerlandschaften der deutschen Städte. Der Politologe und Historiker Christian Graf von Krockow beschreibt die Zeit des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland folgerichtig als ‚Die Stunde der Frauen‘1: „Im Untergang aber, […] verliert das einseitig männliche Prinzip jeden Glanz. Auf einmal taugt es nichts mehr, niemand kann es noch brauchen, es zerbricht. Zum Überleben im Untergang wie zum Leben überhaupt ist anderes nötig.“2 Das ‚männliche Prinzip‘, das nach Krockow protestantisch, preußisch und soldatisch geprägt ist, wird zum Kriegsende hin in Frage gestellt. Diese These einer Krise der Männ-
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Die Vorstellung von der Wichtigkeit der Frauen formuliert auch Richard von Weizsäcker in seiner viel beachteten Rede als Bundespräsident zum 8. Mai 1985: „Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen. Ihre Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die Weltgeschichte nur allzu leicht. […] Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall. Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten Frauen oft wieder zurückstehen. […] Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen, wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es zuerst unseren Frauen.“ URL: http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/NeueHe rausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/ vom 27. 04.2012. Krockow, Christian Graf von: Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, München 1991, S. 9.
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lichkeit ist – sofern man die USA und Deutschland in den Blick nimmt − insbesondere für Deutschland nachzuvollziehen: Die deutschen Männer kehrten als besiegte, geschlagene Soldaten zurück oder befanden sich in Kriegsgefangenschaft. Die heimkehrenden Soldaten der Alliierten hingegen wurden als Sieger gefeiert, sodass es schwer vorstellbar ist, von einer verunsicherten bzw. krisenhaften US-amerikanischen Männlichkeit auszugehen. Aber dennoch waren auch in den USA zahlreiche skeptische Stimmen zu vernehmen, die von den Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg ausgingen und in der Demobilisierung eine große Herausforderung für jeden Einzelnen und für die US-amerikanische Gesellschaft als Ganze sahen. Der Soziologe Alfred Schuetz forderte deswegen sogar eine Propaganda-Offensive, um die Bevölkerung darüber aufzuklären, „that the man whom they await will be another and not the one they imagined him to be.“3 So ist ein genauerer Blick doch lohnenswert, um sich der Frage anzunähern, ob und inwieweit Männlichkeit auch in den USA als in der Krise befindlich wahrgenommen wurde. Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich mit einer absoluten Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation. Auch wenn 1945 nicht die große Zeitenwende, die oftmals beschworene ‚Stunde Null‘ und keinen absoluten Neuanfang darstellt, sondern durch zahlreiche Kontinuitäten zur Vergangenheit bestimmt war, sind das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit gleichwohl eine Zeit des großen gesellschaftlichen und politischen Umbruchs; eine Periode, die sowohl als Zeitraum der Befreiung und der Fremdherrschaft empfunden wurde, gekennzeichnet durch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems und das Ende des damit verbundenen Größenwahns, durch eine fehlende funktionierende Ökonomie und durch die Aufteilung in vier Zonen. Die von Christoph Kleßmann als „Zusammenbruchsgesellschaft“4 charakterisierte Gesellschaft manifestierte sich in allen Lebensbereichen: zu nennen wären die massiven demographischen Verschiebungen und Wanderungsbewegungen, die Kriegszerstörungen, die Ernährungs-, Arbeits- und Wohnsituation, die Kriminalität. All diese Probleme spiegeln sich auch im sozialen Mikrokosmos wieder: in Ehen, Familien und Freundschaften.5 Für die Vereinigten Staaten von Amerika hörte der Zweite Weltkrieg fast vier Monate später auf, am 2. September, als auch Japan kapitulierte. Obgleich sich die USA als Siegernation ohne Zweifel in einer gänzlich anderen Ausgangslage befanden als das besiegte und zerstörte Deutschland, ist
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Schuetz, Alfred: „The Homecomer“, in: The American Journal of Sociology 5 (1945), S. 369-376, hier S. 376. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung, Bonn 1991, S. 37. Vgl. auch: Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Moeller, Robert G.: Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997.
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auch die US-amerikanische Nachkriegszeit durch tiefgreifende Veränderungen geprägt: In den USA begann ein Prozess des sozialen Wandels, der durch die Demobilisierung, die Verschiebungen der weltpolitischen Lage wegen des aufkommenden Kalten Krieges sowie die wachsende Wirtschaftsleistung gekennzeichnet war. Diese Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach 1945 wurde von den Menschen als unsichere Zeit wahrgenommen; die Metapher von den ‚Wirren der Zeit‘ bringt dies deutlich zum Ausdruck – auch wenn signifikante Unterschiede zwischen Deutschland und den USA existieren. Die Nachkriegszeit war eine in ‚Unordnung‘ geratene Zeit, die sich ‚kritisch‘ zu den gegebenen Orientierungen der bisherigen Zeiterfahrung verhielt. Und genau dies, nämlich die Wahrnehmung einer in Unordnung geratenen Zeit, bedeutet in historischer Perspektive eine Krise.6 Die Wahrnehmung einer Krise ist der Versuch, die Erfahrungen einer neuen Zeit auf einen Begriff zu bringen und den Gedanken und Gefühlen an eine ungewiss erscheinende Zukunft „freien Spielraum“ zu lassen.7 Koselleck hat in seinem kanonisch gewordenen Aufsatz zur Krise als eine ihrer Grundbedeutungen herausgearbeitet, dass der Begriff der Krise in seiner historischen Semantik ein „geschichtsimmanenter Übergangsbegriff“ ist, „Ausdruck einer neuen Zeiterfahrung, Faktor und Indikator eines epochalen Umbruchs“.8 Die Frage, die im Zentrum dieses Beitrags steht, ist die danach, wo und wie dieser Krisendiskurs geführt wurde und welche Konzepte einer (Nachkriegs-)Männlichkeit darin verhandelt werden. Ein Ort, an dem dieser Diskurs erörtert und in besondere Narrative übersetzt wird, ist das Kino. Spielfilme sind zur Beantwortung dieser Fragen eine fruchtbare Quelle, denn sie sind „als (popular) kulturelle Ware[n] und ästhetische Artefakte“9 komplexe kulturelle Konstruktionen, die historisch bestimmt werden. Sie greifen die Diskursfäden, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt existieren, selektiv auf und bearbeiten sie. Und so können sie auch daraufhin befragt werden, wie sie die gesellschaftlichen und geschlechtsspezifischen Probleme einer Zeit aufnehmen und kommentieren. Filme sind also Medien der Weltaneignung und Weltauslegung gleichermaßen, d.h. die von ihnen erzählten Fiktionen sind einerseits ein Produkt gesellschaftlicher Realität, andererseits haben sie die Möglichkeit eine neue Realität zu erschaffen, da sie die Diskurse, die sie verhandeln, mit Lösungen versehen können, welche in der Lebenswirklichkeit eher unwahrscheinlich wären. Davon ausgehend,
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Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 150. Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650, hier S. 627. Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 627 und 617. Mattl, Siegfried/Timm, Elisabeth/Wagner, Birgit: „Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft – zur Einführung“, in: dies. (Hg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2007): Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 7-10, hier S. 7.
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dass Vorstellungen von Männlichkeiten in Zeiten der Verunsicherung als Krisenindikator fungieren können, möchte ich anhand der Filme IRGENDWO IN BERLIN (1946) und CRACK UP (1946) der Frage nachgehen, mit welchen Bedeutungen Männlichkeiten versehen wurden. Es wird also die Prämisse zugrunde gelegt, dass die Umstellung von der Kriegs- zur Friedenslebenswirklichkeit die bestehenden Identitäts- und damit auch die Geschlechterkonzepte erschüttert hat. Mit anderen Worten, dass Gender in Krisenzeiten eine Schnittstelle darstellt, an der sich gesellschaftliche Anspannungen manifestieren und proliferieren.10 Filme eignen sich wegen ihrer Plurimedialität für genderspezifische Fragestellungen besonders, da sie Körper in ihrer Vielfältigkeit, z.B. in ihrer Körperspannung und -sprache, in der Weise wie sie sich bewegen, welchen Raum sie einnehmen und ausfüllen, sicht- und hörbar – gewissermaßen erlebbar machen können. Die Analyse der beiden jeweils kurz nach Kriegsende produzierten Filme IRGENDWO IN BERLIN (1946) und CRACK UP (1946) konzentriert sich folglich auf die Frage, wie Männlichkeit inszeniert wird und welche Strategien zur Überwindung der Krise gewählt werden.
1. T RÜMMERFILM
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F ILM N OIR
Der deutsche Trümmerfilm wie auch der amerikanische Film Noir sind Genres, die auf die durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen Erschütterungen reagierten. Während der Boom des Film Noir bereits 1941 einsetzte, also mit dem Kriegseintritt der USA, gilt der Trümmerfilm als Nachkriegsfilmgenre, als dessen erster Film zumeist DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (W. Staudte 1946) genannt wird.11 Über den Trümmerfilm ist einiges geschrieben worden12, wobei er von der deutschen Filmkritik insbesondere im Ver-
10 Vgl. Sielke, Sabine: „Crisis? What Crisis? Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität“, in: Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hg.), Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007, S. 43-64. 11 Einige Autoren datieren die Anfänge des Trümmerfilms jedoch auch schon ins Dritte Reich. So z.B. Thomas Brandlmeier, der bereits AUF WIEDERSEHN FRANZISKA (1941) oder GROSSE FREIHEIT (1944) als Trümmerfilme bezeichnet. Vgl. Brandlmeier, Thomas: „Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme“, in: Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main, hg. von Hilmar Hoffmann/Walter Schobert, Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 19461962, Frankfurt a.M. 1989, S. 33-62. 12 Vgl. z.B. Burghardt, Kirsten: „Moralische Wiederaufrüstung im frühen deutschen Nachkriegsfilm“, in: Michael Schaudig (Hg.), Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontext, München 1996, S. 241-276. Meyer, Ufilas: „Trümmerfilm“, in: Herman Glaser (Hg.), So viel Anfang war nie. Deutsche Städte 1945-1949, Berlin 1989, S. 258-269.
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gleich mit dem italienischen Neorealismus zumeist als vertane Möglichkeit des deutschen Films betrachtet wird, sich konstruktiv mit der Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. Denn ersterer habe ein genuines Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen gehabt, während letzterer der „Rückbesinnung auf alte Werte“ gefolgt sei, dessen Bilder „auf Tiefliegendes, Verborgenes, Verschüttetes, Vergangenes“ verweisen.13 Eine klare Eingrenzung des Genres ist schwierig, so zählt Brandlmeier – in einem sehr weit gefassten Verständnis von Trümmerfilmen − auch alle Filme, die mit den geistigen und seelischen Trümmern der Zeit befasst waren, hinzu, also auch jene, „die überhaupt keine Trümmer zeigen und oft auch in einer anderen Zeit spielen, aber bei Betrachtung des Stoffes erkennen lassen, daß sie exakt die Probleme der Trümmerzeit behandeln […], Filme, die das aktuelle Zeitmilieu behandeln, aber keine Trümmer zeigen […] und Filme, die das Trümmermilieu mit ganz konventionellem Genrekino kreuzen.“14
Legt man ein enges Verständnis von Trümmerfilmen zugrunde, und bezieht nur jene Filme ein, die in den Trümmerlandschaften der Städte spielen und die Zerstörungen oder auch die Gründe für die Zerstörung thematisieren, bleibt festzuhalten, dass es das Ziel der Filme war, dem Publikum eine Art ‚Lebenshilfe‘ zu sein und den ‚richtigen‘ Weg nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu weisen.15 Die Suche nach zeitlosen ethischen Werten ist das Kernthema dieser Filme; Solidarität und die Hoffnung auf eine sinnreiche Zukunft, für die sich das ‚Leben-wollen‘ und der Wiederaufbau der Städte und der Gesellschaft lohnt, werden zu ihrem Leitmotiv. Zumeist stehen im Zentrum der Filme demnach die „[…] charakteristischen Anpassungsschwierigkeiten, mit denen insbesondere Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsgefangene nach ihrer Rückkehr zu kämpfen hatten: Hunger, Zerstörung, Obdachlosigkeit, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Vagabundismus, Kinder- und Jugendverwahrlosung sowie Kriminalität.“16
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Shandley, Robert R.: Rubble Films. German Cinema in the Shadow of the Third Reich, Philadelphia 2001. Möller, Martina: „Vom Expressionismus zum Trümmerfilm? Visueller Stil und Nachkriegskrise im Trümmerfilm“, in: Waltraud ‚Wara‘ Wende/Lars Koch (Hg.), Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm, Bielefeld 2010, S. 111-126. Brandlmeier: „Von Hitler zu Adenauer“, a.a.O., S. 34. Ebd., S. 58. Vgl. Meyer: Trümmerfilm, S. 266. Burghardt: Moralische Wiederaufrüstung, S. 244.
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Kurzum, im Mittelpunkt der meisten Trümmerfilme stehen Männer und ihre auf den Kriegserfahrungen beruhenden Schwierigkeiten sich in der Nachkriegswelt einzugliedern; die Geschichte der Opfer der Shoah hingegen wird nur in den wenigsten Filmen thematisiert. Auch der Film Noir kreist um Männer. Im Gegensatz zum Western und Gangsterfilm, die ebenfalls als klassische amerikanische Männergenres gelten, aber immer auch positive amerikanische Werte transportieren, ist der Film Noir durch Zynismus und tiefen Pessimismus gekennzeichnet; er gilt als „black slate on which culture could inscribe its ills and in the process produce a catharsis to help relieve them“ 17. Paul Schrader unterteilt die filmische Periode des Noir in drei Phasen: Erstens Filme aus der Kriegszeit (1941-1945), welche stärker durch Dialoge als durch Action gekennzeichnet sind und deren Protagonist oftmals der einsam kämpfende Privatdetektiv ist. Zweitens die realistischen Filme der Nachkriegszeit (1945-1949), die politische Korruption und Verbrechen auf den Straßen zeigen und deren Ermittler nicht länger romantische Helden sind, sondern Polizisten. Und drittens jene Filme (1949-1953), die durch ein großes Maß an psychotischer Handlung und suizidale Impulse beschrieben werden können.18 Grundsätzlich ist der Film Noir aufgrund seiner häufig vorkommenden Rückblendenstruktur und der Erzählweise des Voice-over durch komplexe narrative Strukturen gekennzeichnet, zu denen auch das oftmals zweideutige Ende zählt. Darüber hinaus bedient er sich einer expressiven low-key bzw. high contrast Ausleuchtung. Dadurch und wegen der Bevorzugung nächtlicher, urbaner Settings sowie von Innenräumen erzeugt der Film Noir eine klaustrophobe Stimmung. Er betont Gewalt, Verbrechen und Tod sowie die körperliche und seelische Verletzlichkeit seiner Charaktere. Über dem gesamten Geschehnis liegt eine Atmosphäre der Angst, des Misstrauens und der Entfremdung – gerade auch zwischen Männern und Frauen. Die Protagonisten der späteren Film Noir sind häufig ehemalige Soldaten, deren Kriegsvergangenheit eher nebenbei erwähnt wird, die aber als angeschlagene und verunsicherte Figuren gezeichnet werden. So kann der Film Noir als das zentrale amerikanische Genre der Nachkriegszeit angesehen werden, in dem die Krise der männlichen Identität verhandelt wird.19
17 Silver, Alain/Ward, Elizabeth (Hg.): Film Noir. An Encyclopedic Reference to the American Style, Woodstock 1989, S. 1. 18 Schrader, Paul: „Notes on Film Noir“, in: Film Comment 8/1 (1972), S. 11-12. 19 Vgl. auch Thomas, Deborah: „How Hollywood Deals with the Deviant Male“, in: Ian Cameron (Hg.), The Movie Book of Film Noir, London 1992, S. 59-70 und Krutnik, Frank: In a Lonely Street. Film Noir, Genre, Masculinity, London 1991.
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2. I RGENDWO
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B ERLIN (1946)
Während die amerikanische Militärregierung zunächst zögerte, die deutsche Filmindustrie wieder aufzubauen, da sie Zweifel am Demokratisierungswillen der Deutschen hegte und mit Schwierigkeiten im Denazifizierungsprozess befasst war20, wurde in der sowjetisch besetzten Zone bereits im Spätsommer 1945 damit begonnen, die Produktion neuer Filme zu planen, sodass die DEFA im März 1946 mit der Arbeit an der ersten Spielfilmstaffel beginnen konnte: DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (R: Wolfgang Staudte), FREIES LAND (R: Milo Harbich) und IRGENDWO IN BERLIN (R: Gerhart Lamprecht).21 IRGENDWO IN BERLIN hatte als dritter der Filme im Dezember 1946 Premiere. Die junge DEFA griff in dieser Zeit auf die Eigeninitiative deutscher Filmschaffender zurück – Wolfgang Staudte bspw. hatte sich mit fertigem Drehbuch zu DER MANN, DEN ICH TÖTEN WERDE, später als DIE MÖRDER SIND UNTER UNS realisiert, an den sowjetischen Filmoffizier gewandt, nachdem sein Vorschlag in den Westzonen abgelehnt worden war. Der sowjetische Filmoffizier war von dem Drehbuch überzeugt, verlangte lediglich eine Änderung des Schlusses, da er die Selbstjustiz am Ende des Filmes nicht billigen konnte.22 Grundsätzlich muss jedoch betont werden, dass die DEFA bis 1948 keiner strengen parteipolitischen Linie folgte. Erst die polarisierenden Entwicklungen im Kalten Krieg sowie strukturelle und personelle Änderungen in der DEFA Ende 1947 führten dazu, dass die Filme ideologisch einer marxistischen Kulturpolitik verpflichtet wurden. Auf dem Filmplakat ist der Titel IRGENDWO IN BERLIN – DER FILM UNSERER JUGEND zu lesen. Im Ankündigungsheft des Verleihers wird dieses Thema näher umschrieben: „Im Zentrum des Films stehen Kinder und ihre Kriegsspiele. Dann der Heimkehrer, der seinen Sohn enttäuscht.“23 Als Klammer, die die beiden Themen zusammenfügt, fungiert also das Motiv des Vaters. So werde ich im Folgenden argumentieren, dass der Film die zentrale Rolle der Vaterfigur für das familiäre und gesellschaftliche Wohl betont.
20 Vgl. Fehrenbach, Heide: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity after Hitler, Chapel Hill, North Carolina 1995. 21 Zur Filmpolitik in der sowjetischen Zone vgl. Schittly, Dagmar: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA Produktionen, Berlin 2002 und Mückenberger, Christiane: „Zeit der Hoffnung 1946 bis 1949“, in: Filmmuseum Potsdam (Hg.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA Filme 1946-1992, Berlin 1994, S. 8-50. 22 Vgl. Greffrath, Bettina: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit, Pfaffenweiler 1995, S. 106. 23 Das Ankündigungsheft befindet sich im Nachlass Lamprecht im Archiv der Stiftung deutsche Kinemathek, Berlin.
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Der Film erzählt über die Figurenkonstellation Kriegsheimkehrer und zwei befreundete Jungen, konkreter über das Generationenverhältnis Vater und Kinder, die Geschichte der beiden Jungen Gustav (Charles Knetschke) und Willi (Hans Trinkaus). Während Gustav mit seiner Mutter (Hedda Sarnow) auf die Heimkehr des Vaters wartet, lebt der Waise Willi bei einer fremden Frau, die ihn aufgenommen hat. Der Alltag der Jungen besteht darin, mit ihren Freunden in den Trümmern Krieg zu spielen, Schule zu schwänzen und überall lauert die Gefahr, auf die ‚schiefe‘ Bahn zu geraten. So zeigt der Film von Anfang an, dass die Trümmerlandschaft auch für Kinder ein wilder, gefährlicher Ort ist.24 Die Trümmer sind nicht ausschließlich als Metapher für das Seelenleben der Personen zu verstehen, sondern sie werden zum Protagonisten – sie töten Kinder und korrumpieren Erwachsene.25 Der erste Erwachsene, der in den Trümmern zu sehen ist, ist ein fliehender Dieb (Fritz Rasp), dem es später gelingen wird, sich mit Gustav anzufreunden. Damit wird das Trümmerfeld als ein Raum konstituiert, welcher nicht von bürgerlichen Erwachsenen kontrolliert werden kann, sondern von Kriminellen und den auf sich gestellten Jungen. In den Trümmern sind während des gesamten Films lediglich die Kinder, der Dieb und der Heimkehrer Iller (Harry Hindemith) zu sehen. Während die Trümmer für die Kinder zunächst einen Abenteuerspielplatz und für den Dieb ein geeignetes Terrain für seine kriminellen Machenschaften darstellen, werden sie zur Metapher für den seelischen Zustand Illers. Gustav wiederum versteht sich als Wächter der Trümmer: „Ist Vaters Teil, muss ja hier aufpassen“, da jene Steine einst zum Besitz seines Vaters gehörten und der Sohn die unverbrüchliche Hoffnung hat, dass jener diese nach seiner Rückkehr beseitigen und etwas Neues aufbauen werde.26 Den übrigen Handelnden sind andere Orte vorbehalten. So befindet sich die Mutter Gustavs z.B. zumeist in Innenräumen; wird sie einmal draußen gezeigt, läuft sie eine unzerstörte Straße entlang. Als Willi seinen Freunden beweisen will, dass er kein Feigling ist, obwohl er aus Angst vor Prügel abgehauen ist, klettert er eine hohe Mauer hinauf, stürzt hinab und stirbt. Sein tragischer Tod erfüllt gleich mehrere Funktionen: Er ersetzt „in gewisser Weise die wirklichen Opfer des Krieges“27 und ermöglicht Trauer um ein fiktives Opfer. Er motiviert bei denen,
24 Bei der Kindergruppe, die in den Trümmern spielt, handelt es sich um eine reine Jungengruppe! Ein kleineres Mädchen taucht zweimal als Zuschauerin auf, ihr wird aber direkt bedeutet, dass sie fehl am Platze ist. Willi zu Lotte während des Kriegsspieles: „Weg da Lotte, is nischt für Mädchen, gleich wird’s ernst.“ 25 Shandley: Rubble Films, S. 120. 26 Weitere Männerfiguren in Nebenrollen sind ein schwer traumatisierter Kriegsveteran, ein älterer freundlicher Maler sowie der Freund der Familie (Onkel Kalle), der versucht die Funktion des Ersatzvaters zu übernehmen, was aber nicht gelingt. 27 Brauerhoch, Annette: „Trauer in Trümmern. Zum Motiv des traurigen kleinen Jungen in zwei Nachkriegsfilmen“, in: Gisela Ecker (Hg.), Trauer tragen – Trau-
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die an seinem Sterbebett wachen, das Gefühl der Dankbarkeit für das Leben. Und er ist kathartisch: Nur durch den Tod kann etwas Neues entstehen. Die Gefahren, die die Trümmerlandschaft birgt, scheinen nur durch den pater familias gebändigt werden zu können, wie der Fortgang des Filmes zeigt: Vater Iller verspricht dem sterbenden Willi, die Garagen wieder aufzubauen. Wie wird der Heimkehrer Iller also dargestellt? Sein erster Auftritt inszeniert ihn als gebrochenen Mann. In einer Totalen sieht man die Trümmerlandschaft, durch die sich eine kleine Männerfigur schleppt. Nach einem Schnitt wird in leichter Untersicht das Gesicht Illers in einer Nahaufnahme gezeigt. Er schaut die ihn umgebende Zerstörung entsetzt an.28 In wechselnden Halbtotalen und einer Großaufnahme sieht man Iller im Rhythmus der Musik über Trümmerberge laufen, im Hintergrund ragen Häuserwände monumental in die Höhe, einige Trümmerfrauen, die wie Dekoration wirken, sind damit beschäftigt, Steine zu klopfen. Ein erneuter Schnitt bringt Gustav, Willi und ihre Freunde ins Bild, die wieder einmal Krieg spielen und in Gustavs Keller Raketen in die Luft jagen. Aus dem Keller heraus stürmend, begegnen sie Iller und teilen ihm begeistert mit, was sie machen: Willi: „Das hat alles seinem Vater gehört. Die ganzen Garagen.“ / Gustav: „Wenn er zurückkommt, baut er sie wieder auf.“ / Willi: „Wer weiß, ob der überhaupt noch lebt.“ / Gustav: „Er kommt ganz bestimmt wieder [...].“ Während die Jungen auf einen Trümmerberg klettern, um dort weiter zu spielen, sackt Iller erschöpft zusammen. Er wird von diesem Moment an aus der Perspektive der Jungen gefilmt, die von der Höhe des Trümmerhaufens auf ihn herab sehen. Diese Kameraperspektive, die anschließend zwischen Aufsicht auf den Vater und Untersicht der Jungen wechselt, veranschaulicht die Machtlosigkeit des Vaters und das Mitleid der Jungen.29 Gustav spricht ihn daraufhin an und beschließt, ihn mit nach Hause zu nehmen.
er zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, unter Mitarbeit von Maria KublitzKramer, München 1999, S. 209-221, hier S. 218. 28 Das Drehbuch gibt folgende Anweisungen: „Sonntagsstimmung. Die Läden sind geschlossen [...]. Ganz vom Hintergrund her kommt ein deutscher Soldat angegangen. Ein ,Heimkehrer‘. Als er dicht vor uns ist, begleitet die Kamera ihn. Mit müden Schritten schreitet er vorwärts, als ob seine Füße ihn kaum noch tragen. Die Füße, die in armseligen Wracks von Schuhen stecken, machen mühsam Schritt für Schritt. Elend, ausgemergelt ist das Gesicht des Heimkehrers. Ein Stoppelbart umrahmt es. Zerrissen ist die Uniform, kaum noch an Soldatsein erinnernd. [...] Sein Blick gleitet über die Häuserruinen, an denen er vorbei schreitet. Jetzt bleibt er stehen. Was er sieht: Ruinen, Trümmer, Trümmer. Fassungslos der Ausdruck seines Gesichts.“ (S. 82f.). Das Drehbuch befindet sich im Nachlass Lamprecht im Archiv der Stiftung deutsche Kinemathek, Berlin (Nachlassarchiv). 29 Auch verbal kommen Ablehnung und Mitleid der Jungen zum Ausdruck. Kapitän: „Was der von uns will? Der sieht so dreckig aus.“ Willi: „Mensch, der hat bestimmt Hunger.“
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An dieser Szene sind mehrere Aspekte bemerkenswert. Neben ihrer Länge von über vier Minuten, ist es die visuelle Inszenierung in Kombination mit getragener Orchestermusik, wodurch die Szene zunächst an den Einmarsch eines ‚Helden‘ erinnert, der durch einen Herold angekündigt wird. Ein Eindruck, der durch den Schluss der Szene revidiert wird – das Gegenteil ist der Fall. Außerdem erkennt Gustav seinen Vater aufgrund der langen Abwesenheit nicht. Und schließlich wird bereits die Erwartung an den ‚Fremden‘ (Vater) herangetragen, nämlich, dass er die Garagen wieder aufbaue. Die Szenen, die im weiteren Verlauf den Heimkehrer Iller zeigen, manifestieren die krisenhafte Position des Mannes und Vaters: Iller wird als entmutigt und antriebslos gezeichnet, die Hoffnung, dass er die Garagen wieder aufbaue, zerstört er mit den Worten: „Ich habe keine Kraft mehr. Mir ist alles zu viel. Was soll ich neu anfangen, ganz von vorne wieder? Nee, nee die Garagen können bleiben wie sie sind. Auf ein bisschen Schutt mehr kommt’s nicht an.“ Er wird als immer Hungernder geschildert, seine Körperhaltung strahlt Müdigkeit aus und entsprechend wird er vorzugsweise in low-key gefilmt. Auch der Wechsel zur zivilen Kleidung misslingt, da der Vorkriegsanzug kaputt und dem abgemagerten Mann viel zu groß ist. Die unpassende Kleidung offenbart das Spannungsfeld, in dem sich Iller befindet. Einerseits soll er die Funktion als Ehemann und Familienvater wieder übernehmen, andererseits ist er nicht in der Lage diesen performativen Akt zu vollziehen, weil er die Statur dafür nicht mehr hat. Die Wiedereinsetzung des Vaters und Familienoberhauptes auf der symbolischen Ebene misslingt also. Und auch der Glaube des Sohnes an den Vater allein genügt dafür nicht. Der Wandel Illers, der erst durch den Tod Willis begründet wird, wird in einer fulminanten Schlusssequenz gefeiert: Viele Jungen tragen den Trümmerberg ab. Kalle bringt Iller zum Ort des Geschehens, der durch ein hölzernes Tor geschlossen ist. Die beiden Männer nähern sich dem Tor im dunklen Schatten. Auf der anderen Seite des Tores strahlt hellstes Sonnenlicht. Nun ist der Moment gekommen, in dem auch Iller aus dem Dunkel heraustreten kann. Er erklimmt freudig den Trümmerberg, nimmt seinen Sohn lachend in die Arme und beginnt, auf der Spitze des Berges stehend, sich die Trümmer mit einer Spitzhacke Untertan zu machen.30 In vollkommener Verkehrung der historischen Tatsachen ist das Filmende eine Apotheose des pater familias31 und verweist darauf, dass der materielle Wiederaufbau
30 Auch in dieser Szene kommt Lotte hinzu. Die Tatsache, dass sie ein Mädchen ist, definiert ganz klar ihre Position als Zuschauerin. 31 Ich möchte an diesem Ort einige Anmerkungen zur Trümmerfrau machen, da das Schlussbild der arbeitenden Männer und Jungen und der zuschauenden tatenlosen Lotte aus historischer Perspektive ‚verrückt‘ wirkt. Aufgrund der Abwesenheit vieler Männer kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde schnell ersichtlich, dass das männliche Arbeitspotenzial nicht ausreichte, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Insofern wurden Männer und Frauen von den
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Deutschlands nur mit dem patriarchalen Modell möglich ist.32 Die Zuversicht Gustavs, dass sein Vater die Garagen wieder aufbaut, wird schließlich bestätigt. Anders gewendet: Die Überzeugungen seines Sohnes und der dramatische Tod Willis führen dem Vater vor Augen, dass er gegenüber der nachfolgenden Generation in der Pflicht steht. Von den drei Trümmerfilmen des Jahres 1946 thematisiert nur DIE MÖRDER SIND UNTER UNS die deutschen Kriegsverbrechen und erprobt folglich am Schluss den Vatermord, als der traumatisierte Protagonist versucht, seinen ehemaligen Hauptmann zu töten. IRGENDWO IN BERLIN spart diese Thematik gänzlich aus und erlaubt somit dessen Gegenteil, nämlich die Reinstallation der Vaterfigur. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Protagonist ein Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft ist. Durch diesen dramaturgischen Kunstgriff wird Iller als Opfer gezeichnet. Mit dem Thema der Kriegsgefangenschaft bietet Lamprecht vielen Männern eine Identifikationsmöglichkeit und berührt ein zentrales Thema der Zeit.
Dystrophie Am Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich über elf Millionen Deutsche in alliierter Kriegsgefangenschaft, ca. 7,5 Millionen als Gefangene der Westalliierten sowie 3 Millionen in sowjetischer Gefangenschaft.33 Das
Behörden seit dem Sommer 1945 zu Pflichtarbeiten herangezogen. Durch die Kontrollratsdirektive Nr. 32 über die Beschäftigung von Frauen bei Bau- und Wiederaufbauarbeiten vom Juli 1946 wurde eine Vereinheitlichung der bis dato sehr unterschiedlichen Bestimmungen vorgenommen: Frauen durften nun allerorts für Bauarbeiten eingesetzt werden. Eine ergänzende Anweisung zu dieser Direktive formulierte die Situation wie folgt: „Solange die gegenwärtige Knappheit an männlichen Arbeitskräften im Baugewerbe besteht, müssen viele weibliche Arbeitskräfte verwendet werden.“ Frauen im Alter zwischen 18 und 45 sollten die schwereren körperlichen Arbeiten vornehmen, über 45-jährige Frauen wurden für leichtere Tätigkeiten eingesetzt. Vgl. dazu: Ruhl, Klaus Jörg (Hg.): Frauen in der Nachkriegszeit. 1945-1963, München 1988, S. 57f. 32 Vgl. Shandley: Rubble Films, S. 125. 33 Smith, Arthur L.: Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen, Stuttgart 1985, S. 11. Stefan Karner nennt eine geringere Zahl deutscher Kriegsgefangener in der UdSSR, nämlich 2,3 bis 2,8 Millionen, davon 5% Frauen. Karner, Stefan: „Verlorene Jahre. Deutsche Kriegsgefangene und Internierte im Archipel GUPWI“, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.), Kriegsgefangene – Voennoeplennye. Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, Düsseldorf 1995, S. 59-66, hier S. 59f. Die neuere Forschung geht davon aus, dass ca. 2 Millionen der Gefangenen der Sowjetunion aus der Gefangenschaft zurückkehr-
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Gros der Gefangenen wurde zwischen 1946 und 1949 entlassen, die letzten Gefangenen aus der Sowjetunion jedoch erst 1955. In der zeitgenössischen medizinischen und psychologischen Fachliteratur, die sich in großem Umfang mit den Folgen der Kriegsgefangenschaft − maßgeblich mit den Erfahrungen in sowjetischen Lagern − befasste, liest sich die Beschreibung des sozialen Typus ‚Heimkehrer‘ wie folgt: „[...] haben wir das typische Bild des Heimkehrers, der, in depressiver Müdigkeit verharrend, nicht mehr den Anfang machen kann zum Beginn eines ihm so neuen Lebensabschnitts.“34 Auch wenn unter den zeitgenössischen Medizinern und Psychologen keine Einigkeit darüber bestand, inwieweit die durch den erlittenen Hunger und die Lagererfahrung hervorgerufenen Veränderungen im Verhalten der Gefangenen und Entlassenen rein psychischer Natur waren, oder aber als organisch-pathologische Folge das Gehirn beeinträchtigten oder als Folgeschäden nur bei den Männern aufträten, die sowieso eine körperliche Disposition hätten – war sich die Wissenschaft einig über die auftretenden Symptome. Als Sammelbegriff für diese Hungerkrankheiten setzte sich der Begriff Dystrophie35 durch – eine Diagnose, die ursprünglich von sowjetischen Ärzten gestellt worden war und mit den heimkehrenden Kriegsgefangenen aus dem Osten nach Deutschland gelangte.36 Die Diagnose Dystrophie bezeichnete sowohl physische als auch psychische Krankheitsbilder. Zu den physischen Schäden zählten Kreislaufstörungen, Organschädigungen, insbesondere der Leber und der Nieren, Störungen der Hormonproduktion, Erliegen von Libido und Potenz.37 Als psychische Folgen wurden Apathie, Depression, Reizbarkeit und Gedächtnisverlust genannt. Gleichzeitig wurde eine durch den Lageraufenthalt hervorgerufene
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ten, ca. 1 Million kam dort um, Biess, Frank: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton/Oxford 2006, S. 45. Schmitz, Willi: „Kriegsgefangenschaft und Heimkehr in ihren Beziehungen zu psychischen Krankheitsbildern“, in: Der Nervenarzt 29/7 (1949), S. 303-310, hier S. 303. Zum Kriegheimkehrer nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. auch Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009. Zum Dystrophie-Diskurs ab 1950 siehe Winkler, Christiane: „Männlichkeit und Gesundheit der deutschen Kriegsheimkehrer im Spiegel der Ärztekongresse des ‚Verbandes der Heimkehrer‘“, in: Martin Dinges (Hg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000, Stuttgart 2007, S. 157-173. Vgl. Weiss, H.: „Ernährungsstörungen, ihre Begleit- und Folgeerscheinungen und Behandlung bei Heimkehrern“, in: Hippokrates 20 (1949), S. 48-52, hier S. 48. Andere in Deutschland gebräuchliche Bezeichnungen waren Hungerödem, Ödemkrankheiten, Wassersucht, Eiweißmangelödem. Vgl Baldermann, Manfred: „Wesen und Beurteilung der Heimkehrerdystrophien“, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, Nr. 2 vom 12.01.1951, S. 61-67 und 117-124.
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Veränderung des Verhaltens betont, das Verhalten sei i.d.R. ‚abnorm‘ und ,asozial‘.38 Entscheidend für das Verständnis in dieser Diskussion ist, dass die Lagererfahrung anderer Inhaftierter wie z.B. der KZ-Häftlinge in der Dystrophie-Literatur keine Rolle spielte, sondern alle Aufmerksamkeit den sowjetischen Kriegsgefangenen zukam. Erklärt wurde die Dystrophie mit den extremen Belastungen, denen der ‚Russlandheimkehrer‘ ausgesetzt war; doch die Belastungen sind nicht der einzige Grund, die die Erfahrungen des ‚Russlandheimkehrers‘ einzigartig machen, sondern auch der Ort der Kriegsgefangenschaft,39 um bestimmte Folgen dieser Gefangenschaft wie Verweiblichung und Infantilisierung der Gefangenen zu begründen. Biess hat ausgeführt, dass die Zuschreibungen der Dystrophieliteratur die Soldaten der Wehrmacht als Verlierer eines Vernichtungskrieges beschrieben haben „[...] in which defeat was always associated with racial or moral inferiority.“40 Die ständige Wiederholung des ‚abnormen‘ Verhaltens der Männer, des Verlustes ihrer Sexualität sowie die Sorge vor Verweiblichung beschreibt die Gefangenen der Ostfront mit den entmenschlichten Zügen ihrer ehemaligen Feinde und kann in Nachfolge der bedingungslosen Kapitulation als „a complete emasculation of its former soldiers in Soviet captivity“ verstanden werden.41 Damit sind die Soldaten einerseits Verlierer des Krieges,
38 So heißt es: „Ein großer Teil der Heimkehrer zeigt erhebliche seelische Ausfälle. Die intellektuellen Fähigkeiten haben erheblich nachgelassen. Besonders stark pflegen die Konzentrationsfähigkeit und das Gedächtnis zu leiden. Die Vergeßlichkeit ist so stark, daß die Erinnerungen, auch aus der unmittelbaren Vergangenheit, nicht nur im Augenblick nicht bewußt, sondern völlig ausgelöscht sind. [...] vielfach findet man besonders bei heimatlosen Rückkehrern eine Gleichgültigkeit gegenüber allen Lebenslagen. Viele dämmern mehr oder minder so vor sich hin, ohne sich gegen das Schicksal aufzulehnen […].“ In: „Sitzungsberichte: Wissenschaftlicher Abend am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg Hamburg (Stelle für Heimkehrerbetreuung)“, in: Deutsche Medizinische Rundschau, Nr. 45/3 vom 31.12.1949, S. 1278. 39 „Man denke an die unendliche Weite, in der alle Gesetze der Perspektive aufgehoben scheinen. In diese Welt wurden unsere Kriegsgefangenen gestellt. Nach den grauenvollen Erlebnissen der letzten Kriegsmonate und der Gefangennahme werden sie nun wie entwurzelte Bäume in neue Erde gepflanzt.“ Baldermann, Manfred: „Die psychischen Grundlagen der Heimkehrerdystrophie und ihre Behandlung“, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, Nr. 44 vom 02.11.1951, S. 2185-2190, hier S. 2185. 40 Biess, Frank: „Survivors of Totalitarianism. Returning POWS and the Reconstruction of Masculine Citizenship in West Germany, 1945-1955“, in: Hanna Schissler (Hg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany 19451968, Princeton/Oxford 2001, S. 57-82, hier S. 61. 41 Ebd.
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andererseits Opfer einer Gefangenschaft, die ihre Spuren an Körper und Psyche hinterlassen hat. Eine zweite sehr wichtige Folge dieser Diskussion einer „Pathologie der Gefangenschaft“42 ist die Tatsache, dass in der öffentlichen Wahrnehmung nicht der Krieg, sondern die in den Lagern gemachten Erfahrungen das Leid der Männer verursachen. Die Konzentration auf das eigene Leiden lässt die Frage nach der eigenen Verantwortung in den Hintergrund treten.43 Damit erfüllt der ‚Kriegsgefangenen-Opfer-Diskurs‘ verschiedene Funktionen. Zunächst fungiert die Opferperspektive als ein moralisches Gegengewicht gegen den von den Alliierten erhobenen Kollektivschuldvorwurf. Darüber hinaus diente die Pathologisierung aller Kriegsgefangenen gleichermaßen dazu, Unterschiede zwischen Wehrmachtssoldaten, Angehörigen von Einsatzgruppen oder der SS zu verwischen. So hilfreich dieses Modell hinsichtlich der Schuldfrage auch gewesen sein mag, birgt es doch erhebliche Probleme in sich. Denn wie sollten physisch und psychisch gebrochene Männer das zerstörte Deutschland wieder aufbauen? Biess hat überzeugend herausgearbeitet, dass sich die Wahrnehmung der Spätheimkehrer wandelte. Unterstützt von der verbesserten Ernährungslage, die es ihnen erlaubte, nicht mehr als Dystrophiker nach Deutschland zurückzukehren, wurde ihre Erfahrung in der Gefangenschaft zunehmend als Geschichte moralischer Stärke und des Widerstandes und Überlebens des Sowjettotalitarismus umgedeutet, wodurch die Männer ihres Opferstatus enthoben wurden.44 IRGENDWO IN BERLIN beschäftigt sich ebenso wie die Dystrophieliteratur mit der Rückkehr der Soldaten. Der Film wählt jedoch zu einem Zeitpunkt, als es noch keine amtliche Regelung gab, um die Kriegsheimkehrer wieder in die Gesellschaft einzugliedern, eine eigenständige Lösung, um den Heimkehrer Iller zu integrieren. Indem er Illers Geschichte mit der der ‚gefährdeten Jugend‘ verknüpft, führt der Film vor, wie das Fehlen der männlichen Vorbilder zum kriminellen Verhalten der Jugendlichen führen kann und im Tod Willis seinen Höhepunkt findet. Keiner der Erwachsenen war in der Lage dieses Unheil zu verhindern. Erst als der Heimkehrer Iller die Verantwortung auf sich nimmt, sein Leben neu zu beginnen und seine Aufgabe als Vater ernst zu nehmen, zeichnet sich Hoffnung auf Besserung ab. Das Schlussbild zeigt dementsprechend einen Baumstumpf, welcher ausschlägt – neues Leben ist entstanden. Und tatsächlich hieß der Film in der ersten Fassung des Drehbuchs NEUES LEBEN.45
42 Schmitz: „Kriegsgefangenschaft und Heimkehr“, a.a.O., S. 303. 43 Siehe dazu auch die gelungene Studie von Moeller, Robert: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley/Los Angeles 2001, in der er darlegt, dass insbesondere die Vertriebenen und die Kriegsgefangenen diesen Täter-Opfer-Konflikt personifizierten. 44 Biess: Survivors of Totalitarianism, S. 67f. 45 Nachlass Lamprecht, Deutsche Kinemathek Berlin.
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Die Debatte der Zeit über Kriegsheimkehrer verhandelnd, schafft der Film es einerseits, den heimgekehrten Männern eine Funktion in der Gesellschaft zurückzugeben und gleichzeitig, Männlichkeit als Vaterschaft zu definieren. Andererseits entlastet er die Soldaten der deutschen Wehrmacht, indem er sie als Opfer des Krieges bzw. der Gefangenschaft zeigt und drittens bestätigt und festigt er die Generation der Väter, indem es die Söhne sind, die auf ihre Wiedereinsetzung drängen.
3. C RACK U P (1946) Auch in den USA führte der Zweite Weltkrieg zu Veränderungen innerhalb der Geschlechterordnung, einerseits wurde aufgrund der hohen Zahl erwerbstätiger Frauen die Aufteilung in reproduktive und produktive Sphäre sowie in den privaten und öffentlichen Raum destabilisiert. Andererseits aber entstand während des Krieges ein maskulines Ideal, das als nationales Symbol die Wehrbereitschaft und Stärke der USA verkörperte.46 In diesem Spannungsfeld mussten sich Männer und Frauen in der Nachkriegszeit der USA neu verorten.47 In den ersten sechs Monaten nach Kriegsende kamen 11 Millionen Soldaten zurück in die USA. 1947 zählte die U.S. Veteran’s Administration (VA) 16 Millionen Veteranen, was in etwa 10% der Bevölkerung von 1940 entspricht. Hinsichtlich der Demobilisierung wurden von den Verantwortlichen und großen Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit gesellschaftliche Probleme bei der Reintegration erwartet. Diese bezogen sich auf 1) Erkrankungen, sowohl physischer wie auch psychischer Art, 2) ökonomische Schwierigkeiten, wie z.B. die Sorge vor Arbeitslosigkeit und 3) darauf, dass Veteranen traditionell als sozialer und politischer Unruhefaktor galten. Deshalb begannen die Planungen der US-Regierung zur Wiedereingliederung der Männer und Frauen bereits während des Krieges und fanden ihren gesetzgeberischen Abschluss in der sog. GI Bill of Rights (1944).
Problem-Veteranen oder Veteranen-Problem? Bereits in der Spätphase des Krieges kamen zahlreiche soziologische Ratgeber auf den Markt, die sich an die Zuhausegebliebenen richteten, da sie als jene Gruppe angesehen wurde, die sich weniger verändert habe als die eingezogenen Soldaten und die deswegen Hilfestellungen bei der Integration in 46 Vgl. Jarvis, Christina S.: The Male Body at War. American Masculinity during World War II, DeKalb, IL 2004. 47 Der Abschnitt zu CRACK UP ist die leicht veränderte und gekürzte Fassung des gleichnamigen Kapitels in: Fenske, Uta: Mannsbilder. Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946-1960, Bielefeld 2008, S. 80-91.
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die Zivilgesellschaft leisten könne. Die Prognosen für die Demobilisierung schwankten zwischen gelungener Assimilation und vollkommenem Chaos. Geprägt wurde die Diskussion durch zwei 1944 erschienene Bücher, nämlich Dixon Wecters When Johnny Comes Marching Home und Willard Wallers Veteran Comes Back.48 Beide Autoren forderten die Unterstützung des Staates bei der Re-Integration der Veteranen. Sie unterschieden sich allerdings in ihrer Bewertung der Veteranen und deren möglichen Problemen. Wecter sprach den Soldaten aufgrund ihrer Kampferfahrung gegenüber den Zivilisten eine moralische Überlegenheit zu. Diese könne unter Umständen aber in Verbitterung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft umschlagen, da jene nicht die Werte repräsentiere, für die sie gekämpft hätten. Waller hingegen sah mögliche Probleme eher daher rühren, dass die soldatische mit der zivilen Lebensweise unvereinbar sei, was die Umstellung extrem erschwere. Im Zentrum seiner Perspektive standen die durch die Traumata des Krieges hervorgerufenen Persönlichkeitsveränderungen; Veteranen waren demzufolge Opfer des Krieges, die der mentalen und psychologischen Behandlung bedurften. Das Gros der Veteranenliteratur folgte dieser Argumentation.49 Sie entwarf ein Szenario, nach dem es den Veteranen entweder nicht gelänge, ihren Traumata zu entkommen, oder aber sie nicht imstande seien, ihre ‚Kriegsmännlichkeit‘ abzulegen, weswegen den USA eine Welle der Gewalt drohe. Eine wichtige Rolle bei der Problemlösung wurde den Frauen zugeschrieben. Sowie die GIs selbst der unvertraut gewordenen Welt mit Skepsis entgegenblickten, waren auch die Erwartungen an ihre Heimkehr durchaus ambivalent.
C RACK UP Hollywoodfilme unterschiedlicher Genres hatten sich seit 1944/45 der Heimkehrerproblematik angenommen; besonders populär wurden die männerzentrierten und an gesellschaftlichen Problemen interessierten Dramen wie THE BEST YEARS OF OUR LIVES (1946). Das Genre, das sich implizit mit dem Übergang von der Kriegs- in die Friedenswelt beschäftigt, ist, wie gezeigt, der Film Noir. CRACK UP ist ein Film Noir, der wenige Monate nach Kriegsende gedreht wurde. Er erzählt die Geschichte des am MOMA arbeitenden Kunsthistorikers George Steele (Pat O’Brien), der sich nach seinem Einbruch in das Museum nicht mehr erinnert, was er getan hat und sein eigenes Verhalten nur dadurch zu erklären vermag, dass er in ein Zugunglück involviert war. Nachdem er erfahren musste, dass es seit Jahren keinen Un-
48 Wecter, Dixon: When Johnny Comes Marching Home, Cambridge, MA 1944. Waller, Willard: Veteran Comes Back, New York 1944. 49 Zum Veteranen-Problem vgl. Fagelson, William F.: Nervous out of Service. 1940s American Cinema, World War II Veteran Adjustment, and Postwar Masculinity, Dissertation. Austin, TX 2004, UMI 3143740.
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fall gegeben hat, versucht er, die Ereignisse des Tages zu rekonstruieren, die zu dem Einbruch führten – was in Form einer Rückblende erzählt wird: Suspendierung vom Dienst, ein Anruf, der ihn an das Krankenbett seiner Mutter rief, und jene Zugfahrt, die ihn nie an sein Ziel brachte. Am nächsten Tag wiederholt er die Zugfahrt, um seine Zurechnungsfähigkeit zu überprüfen und dem mysteriösen Blackout auf die Spur zu kommen. Dabei erkennt er, dass er manipuliert wurde und nach der Ermordung seines Freundes, des Museumskurators, entdeckt er, dass bei einer Gruppe von Kunstfälschern und -sammlern die Fäden zusammenlaufen. Auch wenn der Plot von CRACK UP heute wie damals absurd anmutet, so eint der Film gleichwohl einige Motive, die hinsichtlich des Krieges und der Kriegsheimkehrer zentral zu sein scheinen, z.B. die wiederholten Verweise auf psychologische Verfahren und das Motiv der Amnesie, das im Mittelpunkt der folgenden Analyse steht. In einem übertragenen Sinne zeigt sich in der Absurdität des Plots sogar die Zerrissenheit des Protagonisten und damit wird schon deutlich, dass auch hier die Krise anhand eines medizinischen Sachverhaltes erzählt wird. Die Werbung für CRACK UP betonte durch Werbezeilen wie „Shattered Memory, Haunting Fear!“ oder „Could I Kill and not Remember?“ die Verknüpfung von Erinnerungs- und Kontrollverlust.50 Letztere Frage verweist auf die neu entstehende und sehr beliebte Untergattung des Film Noirs, den Amnesia Thriller.51 Gedächtnisverlust war Anfang der 1940er Jahre ein nur hin und wieder vorkommender Filmstoff. Mitte der 40er Jahre aber stieg seine Beliebtheit sprunghaft an, was die Frage aufwirft, warum das Motiv der Amnesie verwendet wird und wofür sie steht. In CRACK UP wird eher beiläufig erwähnt, dass der Protagonist ein Kriegsveteran ist. Sein Leben wird stattdessen über Amnesie erzählt und ordnet den Protagonisten dadurch der Gruppe der Kriegsheimkehrer zu. Nach dem Einbruchsversuch und seinem Zusammenbruch im Museum erwacht Steele auf einer Couch, umgeben von Polizisten, die ihn bitten, sich daran zu erinnern, was geschehen ist. Die Szene erinnert weniger an ein Verhör als an eine psychoanalytische Sitzung. Das Ziel des Plots ist es, von diesem Moment an die Aufgeregtheit und Orientierungslosigkeit des Protagonisten verstehbar zu machen. Filmisch wird dies durch eine Rückblende gelöst, also durch ein Stilmittel, das an sich schon als Anlehnung an ein Therapiemuster bezeichnet werden kann. Das Rätsel des Films ist dabei mit der Aufsplitterung der männlichen Identität verknüpft. Die bislang vertraute Welt ist für den Protagonisten unvertraut geworden und der Sinn des eige-
50 Production File zu CRACK UP, Archiv der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, Los Angeles. 51 Andere Amnesie-Filme sind z.B. TWO O’CLOCK COURAGE (1945); SPELLBOUND (1945); SOMEWHERE IN THE NIGHT (1946); DEADLINE AT DAWN (1946); THE HIGH WALL (1947); FALL GUY (1947); THE CROOKED WAY (1949); FEAR IN THE NIGHT (1947).
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nen Tuns bzw. der Welt ist nicht mehr entschlüsselbar. In dem Verhör wird Steele therapieähnlich nach verstörenden Kindheitserlebnissen und Kriegstraumata gefragt. Während seine eigene Verunsicherung im Anschluss daran zum Ausdruck kommt, reagiert seine Freundin (Claire Trevor) selbstbewusst. Sie akzeptiert ohne Probleme seine Müdigkeit, seinen Erinnerungsverlust und seine Kündigung. Ihr Ziel ist also nicht die Wiederherstellung des zuvor gültigen Männlichkeitsideals, sondern ein friedliches Leben mit Steele – für sie könnte das Ergebnis der Krise ein neues Lebensmodell sein. Die Figur des George Steele vereinigt nur wenige ‚heldenhafte‘ Qualitäten in sich. Seine Männlichkeit ist durch Unvollständigkeit gekennzeichnet: Arbeitslosigkeit, Angst, partielle Amnesie, Kontrollverlust und Misstrauen. Phasenweise ist er sogar von den Gangstern fremdbestimmt und verfügt nicht über Kontrolle von Körper und Geist. Gleichwohl ist die Amnesie die Antriebsfeder für Steeles Handeln („I got to find out!“). Es liegt demnach in seinem Interesse, wieder Kontrolle über sich zu erlangen und den Zustand der Entfremdung zu beenden, denn der Kontrollverlust hindert ihn daran, in die Gesellschaft eingebunden zu sein. Erst das Überwinden jenes hysterischen/neurotischen Verhaltens wird ihm wieder die Möglichkeit einer gesellschaftlich anerkannten Identität bieten. Obwohl die Tatsache, dass Steele ein Veteran ist, in CRACK UP nur angedeutet wird, durchziehen an den Zweiten Weltkrieg gemahnende Diskursfäden den gesamten Film. So entspricht die Figur Steeles dem Heimkehrertypus, der an neuropsychologischen Störungen leidet. Aber interessanterweise folgt die Konzeption der Figur nicht nur dem wirkungsmächtigen psychiatrischen Diskurs, auch wenn dieser im Film im Vordergrund steht. Stattdessen tritt Steele gegen das ‚Böse‘ an, wozu kriegerische Qualitäten wie Kampfbereitschaft und Mut erforderlich sind. Andererseits muss er das eigene hysterische Verhalten überwinden und sich in die Gesellschaft wiedereingliedern. Zur erfolgreichen Umstellung auf ein ziviles Leben gehört nicht zuletzt die Verstetigung der Liebesbeziehung und so wünscht der Scotland Yard Experte am Ende des Films zur Hochzeit eingeladen zu werden. In ironischer Verdrehung des Plots und des klassischen Happy Ends kontert Steele diesen Vorschlag jedoch mit „What wedding? Everybody is nuts here at this place, but me!“ Wenn jeder verrückt ist, der an Hochzeit denkt, verweist dieser für Hollywoodfilme ironische Schluss darauf, dass die Eingliederung in die Normen der Zivilgesellschaft nicht ohne Widerstände erfolgen kann. Abschließend sei der Blick erneut auf das Leitmotiv der Amnesie gelenkt. Wie gesehen fungiert Amnesie als Metapher des Veteranen. Darüber hinaus verweist der genauere Blick sehr konkret auf ein Phänomen der Kriegs- und Nachkriegszeit, dem man sich (zunächst) über den medizinischpsychologischen Diskurs der Zeit annähern.
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Bereits bei der Einziehung zum Wehrdienst wurden von 5,2 Millionen Amerikanern 1,6 Millionen wegen mental deficiencies abgelehnt.52 Dadurch versuchten die Streitkräfte, die Zahl der psychologischen Erkrankungen, welche im Ersten Weltkrieg hoch gewesen war, von vornherein niedrig zu halten. Das Motiv der mentalen Gesundheit bzw. der neuropsychiatric casualties, combat fatigue oder traumatic neurosis, wie es während des Zweiten Weltkrieges genannt wurde, war dementsprechend von Beginn des US-amerikanischen Kriegseintrittes ein Thema, das weit verbreitete Aufmerksamkeit erfuhr. Nach William Menninger, der zusammen mit seinem Bruder Karl für das mental health Programm des Militärs verantwortlich zeichnete, war Amnesie unter neuropsychiatrischen Patienten sehr weit verbreitet, „particularly in combat“.53 Deswegen fungiert Amnesie in den Filmen der unmittelbaren Nachkriegszeit meines Erachtens als Metapher für combat fatigue (Kriegsneurosen). Folgte man dem psychoanalytischen Diskurs, der sich in den Medien etabliert hatte, war es – wie gezeigt – möglich, dass eine große Zahl der Veteranen mit psychischen Störungen heimkehren würde. Diese Sorge war unabhängig von der tatsächlichen Zahl der erkrankten Veteranen, sondern Ausdruck des Krisenbewusstseins und der Ängste der Zivilbevölkerung um die Wiedereingliederung. Gedächtnisverlust ist hier nicht nur ein Zeichen für Kriegsneurosen. Aus einer narratologischen Perspektive erfüllt er, ähnlich wie die Rückblende, die Funktion, die Erzählperspektive des männlichen Erzählers zu durchbrechen. Folglich verliert jener die Kontrolle über und innerhalb der Erzählung, wodurch seine ambivalente Position zur und innerhalb der Gesellschaft Ausdruck verliehen bekommt.54 Diese Erzähltechnik korrespondiert mit der oben genannten Lesart, da beide Amnesie als Zeichen für eine ambivalente Position des Protagonisten bzw. des Kriegsheimkehrers zur Gesellschaft begreifen. Amnesie kann außer als konkretes Krankheitssymptom noch in einer anderen Form verstanden werden. Geht man von der wörtlichen Bedeutung von Amnesie als einer Gedächtnisstörung bzw. Erinnerungsstörung aus, die auch in Folge unerträglicher Erinnerungen bei abnormen Erlebnissen eintreten kann, impliziert Amnesie Verdrängung – Verdrängung von Erlebtem oder auch selbst zugefügtem Unrecht. In dieser Lesart wäre Amnesie ein Fluchtversuch: Flucht sowohl vor der Kriegsvergangenheit wie auch vor zukünftigen Aufgaben. Dieser Gedanke impliziert die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen und zwar auch für eine neu aufzubauende Nachkriegsidentität. In vielen Amnesie-Filmen ist der Protagonist jedoch mit der Lösung des Rätsels, das mit seiner eigenen Person verknüpft ist, beschäftigt.
52 Spiller, Roger J.: „Shell Shock“, in: American Heritage 41/4 (1990), S. 75-87, hier S. 85. 53 Menninger, William: Psychiatry in a Troubled World. Yesterday’s War and Today’s Challenge, New York 1948, S. 129. 54 Thomas: How Hollywood, S. 67f.
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Deswegen verstehe ich das Motiv der Amnesie als eine Art ,sortierender Ruhephase‘ zwischen dem Leben in Uniform und dem Leben in Zivil. In dieser ,Ruhe nach dem Sturm‘ muss der Protagonist eine sinngebende Erzählung seines Lebens finden und sich für die kommenden Aufgaben wappnen. Die von etlichen Kritikern konstatierte Absurdität des Plots zeigt seine Entfremdung vom zivilen Alltag und die damit einhergehende Absurdität des Daseins auf der formalen Ebene. Insofern ist es gerade der ‚wilde‘ Plot des Films, der ganz im Sinne von ,the media is the message‘ sehr ergiebig ist.
4. F AZIT Die Männlichkeit, die in CRACK UP präsentiert wird – der psychisch angeschlagene ,Held‘, der deswegen nicht in der zivilen Gesellschaft funktioniert – offenbart die Verwundbarkeit, Überforderung und Orientierungslosigkeit bei dem Versuch in der zivilen Nachkriegswelt zurecht zu kommen. Auch in IRGENDWO IN BERLIN wird diese Herausforderung inszeniert und letztendlich in fast märchenhafter Weise mit einer Lösung versehen. Die glücklichen Enden der beiden Filme bestätigen damit einen weiteren Bedeutungsgehalt, der dem Krankheitsbegriff der Krise innewohnt, nämlich dass er „eine wie auch immer geartete Gesundheit voraussetzt, die wieder zu erlangen ist,“55 oder aber − wie in IRGENDWO IN BERLIN – mit einer neuen Wertigkeit versehen wird: der Vaterschaft. Beide Filme erzählen die krisenhafte Zeit also über eine Krise der Männlichkeiten und in beiden Filmen materialisiert sich diese Krise durch die jeweilige Krankheit, Amnesie beziehungsweise Dystrophie. Die Tatsache, dass sich sowohl im amerikanischen Film Noir wie auch im deutschen Trümmerfilm Krankheiten häufen, macht deutlich, dass die Filme nicht nur ein medizinisches Krisennarrativ bemühen, sondern in kulturkritischer Weise die Ängste der Zeit verhandeln. Und so ist es bemerkenswert, dass die vorgestellten Kriegstraumata unabhängig vom Ausgang des Krieges, also davon, dass die Amerikaner als Siegernation und die Deutschen als Besiegte aus dem Krieg hervorgegangen waren, eine so dominante Position in den Filmen und darüber hinaus in den ‚Krisengenres‘ Film Noir und Trümmerfilm einnehmen.
55 Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 619.
Der stille Ruf des Martinshorns – gesundheitliche Krisen und Krisenerzählungen im medizinischen Alltag M ICHAEL K RUMMACHER
Der Begriff der Krise erscheint wohl jedem, Laien und Fachmann, selbstverständlich in Verbindung mit der Medizin zu stehen. Die Eingabe „Krise“ und „Medizin“ in einer Suchmaschine im Internet lässt circa 20.000 Einträge erscheinen. Auch fachlich spezifischere Portale ergeben eine ähnliche Anzahl an Suchergebnissen. Es liegt in der Natur der Heilkunst, sich mit Ausnahmezuständen der Gesundheit zu beschäftigen. Begriffe wie „Notfall“, „Trauma“, „Rettung“ sind – wie viele andere medizinische Termini – mit dem Gedanken an gesundheitliche Krisen verbunden. Bedient man sich in erster Annäherung an den medizinischen Krisenbegriff dem Wörterbuch, so bedeutet das aus dem Griechischen stammende „krisis“, „Entscheidung“ oder „entscheidende Wendung“. In der allgemeinen Bedeutung im Deutschen ist das Wort „Krise“ – laut Duden – in seiner Bedeutung vom französischen „la crise“ beeinflusst und bezeichnet eine schwierige Situation oder Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt. Eine schwere, seelische Krise wird durchgemacht oder überwunden. Im engeren Bezug zur Medizin grenzt der Duden ein: „die medizinische Krise ist ein kritischer Wendepunkt im Verlauf einer akuten Krankheit“.1 Eine Krankheit selbst ist demnach keine medizinische Krise. Tatsächlich, die Medizin, die sich genauso mit der Gesundheit und gesunden Entwicklung von Körper und Psyche wie mit Erkrankungen beschäftigt, sieht Krisen der körperlichen und psychischen Gesundheit grundsätzlich als notwendige Begleiter eines Lebens an. Die Pubertät etwa ist eine per se krisenhafte Lebenssituation, in der sich die Wendung vom Kind zum Erwachsensein vollzieht. Eine Pubertät, die nicht als Krise erlebt und wahrgenommen wird, könnte unter Umständen als problematisch gelten. Und so sind viele Situationen im Verlauf des menschlichen Lebens gefahrenträchtige Wendepunkte 1
Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 1989, S. 902.
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und demnach potentielle Krisensituationen. Die Befruchtung der Eizelle, die Geburt, die Pubertät, das Einsetzen der Monatsblutung, die Geschlechtsreife. Der Tod stellt gewissermaßen den letzten, entscheidenden Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung dar. Die mögliche Wendung zum Kranken bei Lebensereignissen ruft medizinisches Personal auf den Plan zu beobachten, zu kontrollieren und möglicherweise bei kritischem Verlauf einzugreifen, während für den Betroffenen, der grundsätzlich im Gesunden sein Dasein erfährt, jede Beeinträchtigung des Wohlbefindens eine gesundheitliche Krise darstellen und die Suche nach medizinischer Hilfe begründen kann. Wie werden Krisen der individuellen Gesundheit und allgemeinen Gesundheit von der Medizin und in Heilberufen Tätigen genau betrachtet und eingeordnet? Und wann erfordert eine gesundheitliche Krise das Handeln des medizinischen Personals? Wie wird diese untereinander und gegenüber Patienten und Dritten kommuniziert? Und schließlich, wie drückt sich der Betroffene in der gesundheitlichen Krise gegenüber dem Fachpersonal aus? Diese Fragen sollen in den folgenden Abschnitten Beachtung finden.
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DER
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Die Krise der individuellen Gesundheit Gesundheitliche Krisen können in Bezug auf den einzelnen Menschen oder soziale Gruppen betrachtet werden. Die getrennte Betrachtung von körperlicher und psychischer Krise trägt dabei eher dem Bedürfnis nach strukturiertem Verständnis Rechnung als der Wirklichkeit. Krisen der individuellen körperlichen Gesundheit können durch äußere Einflüsse mit direkten Folgen bedingt sein, also durch Verletzungen von Organen, Weichteilen und Knochen, durch Vergiftungen oder Infektionen. Äußere Einflüsse mit mittelbaren Folgen sind beispielsweise Fehlernährung, körperliche und seelische Fehlbelastungen oder Umweltbedingungen. Im engeren Sinn stellen äußere Beeinträchtigungen immer dann Auslöser einer gesundheitlichen Krise dar, wenn der Mensch diese nicht aus sich heraus meistern kann. So muss sich das Immunsystem täglich mit hunderten von Bakterien oder Viren auseinandersetzen, ohne dass der menschliche Organismus davon merklich beeinträchtigt wäre. Bei Krankheitssymptomen eines Infektes steht der Körper in offensichtlicher Auseinandersetzung mit einem Mikroorganismus. Auch dann kann das Immunsystem des Körpers diesen selbstständig bewältigen. Erst wenn die Körperabwehr und die Körperfunktionen an ihre Grenzen stoßen, sei es durch zu hohe Körpertemperaturen oder versagende Organe, gerät der Mensch in eine gesundheitliche Krisensituation. Oftmals ist die gesundheitliche Krise Ausdruck einer plötzlichen Wendung chronischer Leiden. Ein Herzinfarkt etwa ist an sich eine plötzliche,
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krisenhafte gesundheitliche Erkrankung, die jedoch meist Wendepunkt einer chronischen Erkrankung, nämlich der zunehmend schlechten Durchblutung der Herzmuskulatur und des plötzlich manifesten Mangels an Sauerstoff als Hauptenergiequelle für den Stoffwechsel der Herzmuskelzelle, steht. Das schlecht versorgte Gebiet der Muskulatur stirbt ab, vernarbt und ist ggf. nicht mehr funktionsfähig. Typischer Vorbote eines Herzinfarktes ist die Angina Pectoris, also Schmerzen im linken Arm, Unterkiefer oder Oberbauch, oft einhergehend mit Schwindel, Übelkeit oder einem Ziehen im Rücken, zwischen den Schulterblättern. Zusammengefasst betrachtet, zeigt sich, die Konstitution des Körpers bildet den Rahmen gesundheitlicher Krisen. In Bezug auf die Gesundheit der Psyche ist der Begriff der Krise als Wendepunkt eng mit dem der persönlichen Reifung verbunden. So verläuft gemäß dem von Jean Piaget vorgeschlagenen Stufen- oder Stadienmodell2 der psychischen Entwicklung unser Leben in einer Abfolge von Stufen, die jeweils einen Gleichgewichtszustand darstellen. In diesem Sinne führt Lehr positiv aus, dass „die Persönlichkeit sich entsprechend den Stufen entwickelt, die durch die Bereitschaft des Organismus prädestiniert sind, einen sich immer mehr ausweitenden sozialen Radius wahrzunehmen und sich mit ihm auseinanderzusetzen“3. Das Erklimmen jeder einzelnen Stufe der Entwicklung stellt dabei aber jeweils auch eine persönliche Reifungskrise dar. Adl-Amini führt diesbezüglich aus, „demnach wären Entwicklungsprozesse im Leben undenkbar, wenn es nicht Gleichgewichtsstörungen gebe, die zwar zunächst wie eine Bremse wirken, sich aber letztlich als Motor der Entwicklung herausstellen. Der Schlüssel für das Verständnis von Entwicklungsprozessen liegt somit in den Störungen“.4 Ein zentraler Aspekt der Stufentheorie sei, dass Entwicklung immer vorwärts und niemals rückwärts gerichtet sei. Sobald ein Entwicklungsschritt stattgefunden habe, sei ein Zurückfallen auf eine niedrigere Stufe nicht mehr möglich. In der Übersicht der auf die psychische Entwicklung bezogenen Theorien zeigt sich dementsprechend genauso die Betonung auf eine mögliche Wendung zu einem fehlerhaften, kranken Dasein. E.H. Erikson etwa sieht in der psychische Krise „nicht eine drohende Katastrophe, sondern einen Wendepunkt, eine entscheidende Periode vermehrter Verletzlichkeit und eines
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Piaget, Jean: Jean Piaget über Jean Piaget. Sein Werk aus seiner Sicht, München 1981, S. 52ff. Lehr, Ursula: „Erträgnisse biographischer Forschung in der Entwicklungspsychologie“, in: Gerd Jüttemann/Hans Thomae (Hg.), Biographie und Psychologie, Heidelberg 1987, S. 217-249, zit. nach: Rex, Annette: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn: Über den Nutzen des Schreibens als Instrument der Bewältigung von Traumata und Krisen, Berlin 2009, S. 45. Adl-Amini, Bijan: Vorwort zu Elisabeth Lukas: Die magische Frage wozu? Logotherapeutische Antworten auf existentielle Fragen, Freiburg 1991, S. 9ff., zit. nach: Rex: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, S. 46.
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erhöhten Potenzials, und daher die ontogenetische Quelle für die Stärke oder verfehlte Anpassung in der Generationenfolge“5. Lay formuliert die psychische Krise als „ein Ereignis oder einen Prozess, der den kontinuierlichen Lebenslauf eines Menschen unterbricht, um eine Wende in der Richtung des Lebenswegs und zugleich eine Wandlung der Persönlichkeit einzuleiten. Ob es eine Wende beziehungsweise Wandlung zum Guten oder Schlechten ist, bleibt dabei zunächst offen“6. Karl Jaspers schließlich schreibt, „im Gange der Entwicklung heißt Krisis der Augenblick, in dem das Ganze einen Umschlag unterliegt, aus dem der Mensch als Verwandelter hervorgeht, sei es mit neuem Ursprung eines Entschlusses, sei es im Verfallensein.“7 Die Nähe der Definition, berücksichtigt man den Gedanken der individuellen Überforderung, zum Stressbegriff ist unübersehbar. Indem eine Krise als ein subjektiv bedeutsames Ereignis definiert wird, welches die Bewältigungsressourcen der betroffenen Person überfordert, ist der Begriff der „Krise“ inhaltlich ähnlichen Begriffen wie „Stress“, „kritisches Lebensereignis“ und „Trauma“ sehr nahe. Krise dient als Terminus für die Situation, in der ein Ereignis, also Trauma oder Stressor, die Ressourcen des Individuums überfordern. Die Psychoanalytikerin Veronika Kast spricht dann von einer Krise, „wenn ein für den Kriselnden belastendes Ungleichgewicht zwischen der subjektiven Bedeutung des Problems und den persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten“8 entstanden sei. Der Kriselnde fühle sich in seiner Identität, in seiner Kompetenz, das Leben einigermaßen selbstständig gestalten zu können, „bedroht“. Die medizinischen Fachgesellschaften definieren die Folgen psychischer Überforderung in kritischen Lebensereignissen als posttraumatische Belastungsstörung. Sie sei eine mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse (wie zum Beispiel das Erleben von körperlicher und sexueller Gewalt, auch in der Kindheit, so genannter sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Krieg, Kriegsgefangenschaft, politische Haft, Folterungen, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit), die an der eigenen Person, aber auch an
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Erikson, Erik H.: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel, München 1988, S. 91, zit. nach: Rex, Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, S. 46. Lay, Rupert: Krisen und Konflikte. Ursachen, Ablauf, Überwindung, München 1980, S. 171, zit. nach: Rex, Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, S. 45. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Berlin/Heidelberg 91973, S. 586, zit. nach: Rex: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, S. 45. Kast, Verena: Der schöpferische Sprung. Vom therapeutischen Umgang mit Krisen, München 1989, S. 13, zit. nach: Rex: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, S. 46.
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fremden Personen erlebt werden könnten. In vielen Fällen komme es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch das dramatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Die Störung sei geprägt durch sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma oder Erinnerungslücken, Übererregungssymptome, wie Schlafstörungen, Schreck, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen, Vermeidungsverhalten, so das Vermeiden mit dem Trauma assoziierter Stimuli (emotionale Taubheit, emotionaler Rückzug, Interesseverlust und innerer Teilnahmslosigkeit).9 Auch in der getrennten Betrachtung der Krisen körperlicher und seelischer Gesundheit zeigt sich der Schulterschluss psychosomatischer Prozesse. Eine Krise der körperlichen Gesundheit stellt genauso eine psychische Krisenreaktion dar, wie eine primär psychische Krise auch Auswirkungen auf die körperlichen Funktionen hat. Ungefähr die Hälfte aller Menschen, die eine Vergewaltigung erlitten haben, entwickeln posttraumatische Beschwerden, genauso wie ein Viertel aller, die einem Gewaltverbrechen oder Krieg zum Opfer gefallen sind. Aber auch ungefähr 15 Prozent aller Menschen, die einen Verkehrsunfall oder schwere Organerkrankungen durchgemacht haben, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung.10 Auf der Seite des Betroffenen bedeutet die Krisensituation eine maximale Stressbelastung. Die typische Reaktion auf körperlicher Ebene ist die Aktivierung des autonomen Nervensystems und die Produktion von Hormonen. In Folge stellen sich die Blutgefäße der Körperoberfläche, also Haut und Darm, eng während sich die Blutgefäße der Muskulatur weit stellen. Die Darmtätigkeit nimmt ab und die Frequenz des Herzschlags und des Atems nimmt zu. Das psychische Erleben kann von Hilflosigkeit oder erhöhter Sinnesschärfe geprägt und Wegbereiter der negativen oder positiven Wendung einer Krise sein. Der Körper und die Psyche stellen sich auf Kampf oder Flucht ein. Die körperlichen und seelischen Folgen der Reaktion auf eine Krisensituation können unmittelbar oder mit langjähriger Verzögerung auftreten. Und somit wird mehr als deutlich, dass zum Verständnis der Gesundheit eines Menschen der Rückblick auf die Bewältigung lebensimmanenter Krisen oder potentiell traumatischer Lebensereignisse essenzieller Bestandteil ist.
Krisen der „allgemeinen“, öffentlichen Gesundheit Krisen der individuellen Gesundheit sind immer im sozialen Kontext zu verstehen. Kriege, Terroranschläge, Naturkatastrophen und Epidemien sind of-
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Flatten, Guido et al. (Hg.): Leitlinien der Posttraumatischen Belastungsstörung, Stuttgart 2004, S. 4. 10 Ebd.
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fensichtliche Bedrohungen und Krisensituationen für die individuelle und die Gesundheit der Allgemeinheit. Die selbstverständliche Brisanz wird durch exemplarische Zahlen zur Historie der Infektionen plakatiert. Im 14. Jahrhundert fiel ein Drittel der europäischen Bevölkerung der Pest anheim. Nach dem Ersten Weltkrieg starben bis 1919 in Mitteleuropa, Russland, Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika nach Schätzungen bis zu 50 Millionen Menschen an der Spanischen Grippe.11 Die US-amerikanische Armee verlor etwa so viele Infanterie-Soldaten durch die Grippe wie durch die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkrieges. Allein in Indien sollen mehr als 17 Millionen Menschen an der Spanischen Grippe gestorben sein. Die Krise der Gesundheit der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts: HIV. Die Verbreitung von HIV hat sich in den letzten 25 Jahren zu einer Pandemie entwickelt, die nach Schätzungen der Organisation UNAIDS bisher etwa 25 Millionen Leben gefordert hat. Etwa 33,4 Millionen Menschen sind weltweit mit dem Virus infiziert, davon ca. 50 Prozent Männer. Die weltweite HIV-Prävalenz bei Erwachsenen (15 – 49 Jahre) lag 2008 bei 0,8 Prozent. Während sie dabei für Zentral- und Westeuropa bei 0,3 Prozent lag, betrug sie im subsaharischen Afrika 5,2 Prozent. In Swasiland, Botsuana oder Lesotho sind ca. ein Viertel der 15- bis 49-Jährigen mit dem HI-Virus infiziert. Dabei sind die Lebensbedingungen, denen eine Gesellschaft ausgesetzt wird oder sich aktiv aussetzt, entscheidend für die krisenhafte Entwicklung einer Erkrankung in Bezug auf die allgemeine Gesundheit. Die Analogie zur individuellen Konstitution als Wegbereiter für gesundheitliche Krisen ist augenscheinlich. Mal ist es die Auseinandersetzung zwischen Staaten, mal sind es die schlechten hygienischen oder beengten Lebensverhältnisse. Um beim Beispiel der Spanischen Grippe zu bleiben: in den Ausbildungslagern der amerikanischen Armee erkrankten bis zu 90 Prozent der dort versammelten Männer. Die Krankheit griff von den Lagern auf die Zivilbevölkerung über. Insgesamt hatten 30 der 50 größten US-amerikanischen Städte, von denen die meisten sich in der Nähe von Ausbildungslagern befanden, im April 1918 eine erhöhte Sterberate. Das Gesicht der Krise der allgemeinen Gesundheit ist facettenreich. Den akuten, sichtbaren Traumen – Verletzungen, Knochenbrüche, Todesfälle – folgen Mängel der menschlichen Grundbedürfnisse, soziale Verelendung, Nahrung, Hygiene und Unterkunft. Dementsprechend verbreiten sich Infektionserkrankungen, Hungersnöte. In jedem Fall folgen psychische Leiden, wie die beschriebene posttraumatische Belastungsstörung in allen Ausprägungen und Schweregraden. Dabei ist nicht nur das Individuum sondern eine Generation oder Gesellschaft in ihrem Wesen verändert. Krisen der allgemeinen Gesundheit verändern den Charakter einer ganzen Gesellschaft.
11 Vgl. Johnson, Niall P.A.S./Mueller, Juergen D.: „Updating the Accounts: Global Mortality of the 1918-1920 ‚Spanish‘ Influenza Pandemic“, in: Bulletin of the History of Medicine Volume 76, Number 1, Spring 2002, S. 105-115.
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Es zeigt sich die Parallele zur Vulnerabilität des Individuums. Je vulnerabler eine Gesellschaft, umso anfälliger ist sie auch für Überforderung in Krisensituationen. Wechselwirkung von Sichtweisen Das medizinische Verständnis für gesundheitliche Krisen ist konfrontiert mit gesellschaftlichen Meinungsströmen, Werten und Rahmenbedingungen. Der Mensch orientiert sich an anderen Wahrheitsbegriffen als die Naturwissenschaften. Alternative Erklärungsansätze und Behandlungsmethoden finden großen Anklang und Eingang in den medizinischen Alltag. In den Sprechstunden einer haus- oder kinderärztlichen Praxis beispielsweise sind ablehnende Haltungen gegenüber den im Kindesalter empfohlenen Schutzimpfungen an der Tagesordnung. Grundtenor dabei ist die Sorge vor den Nebenwirkungen der Impfstoffe und der Gedanke, dass sich der Organismus mit Krankheitserregern zur notwendigen Stärkung auseinandersetzen müsse. Die Gefahr einer dauerhaften Schädigung des kindlichen Organismus, etwa durch eine Entzündung des zentralen Nervensystems durch eine Infektion durch das Masernvirus, wird aus medizinischer Sicht in Kauf genommen. Und übersehen wird, dass das kindliche Immunsystem sich tagtäglich mit einer Vielzahl von Keimen auseinandersetzt, die völlig hinreichend die Abwehrkräfte des Kindes ausbilden. Grundlegender als Meinungsströme sind traditionelle gesellschaftliche Werte und Überzeugungen. Das Christentum bringt aus Sicht des englischen Medizinhistorikers Roy Porter Krankheit und Schmerz mit dem Sündenfall in Verbindung, einerseits als Bestrafung und andererseits als Auftrag an den Menschen, sich um die Kranken zu kümmern. In seinem Übersichtswerk über die Geschichte der Medizin schreibt er: „Christianity taught that pain and sickness were not original to God’s design. Agony had entered the world through Original Sin, through which man was condemned to labour by the sweat of his brow and woman to bring forth in pain; after the Fall mankind would thereafter suffer disease and death. Thus the Bible construed pain as the penalty for disobedience – a notion reinforced by etymology, the word pain being de12 rived from poena (the Latin for punishment).“
Andererseits sieht Porter in der körperlichen Qual, im Leiden, im Schmerz und im Martyrium die besondere Stärke des Glaubens symbolisiert. Dies habe – als Ausdruck von Demut und Bescheidenheit – die Aufgabe der Gesellschaft, soziale Verantwortung und Gemeinwohl zu kultivieren, begründet.
12 Porter, Roy: „What is Disease?“, in: Cambridges Illustrated History of Medicine (2009), S. 86.
232 | M ICHAEL KRUMMACHER „Yet caution was always urged upon Christians, lest they fetishized pain, glamourizing the Man of sorrows. And charity also required succour for the sick and relief of distress. Thus Christian doctrine regarding welfare, philanthropy, and medicine grew extremely complex. Suffering was a blessing, yet it was also to be alleviated by me13 dicine and charity.“
Schließlich formieren, neben Zeitgeist und moralischer Tradition, gegenwärtige soziale Rahmenbedingungen das Verständnis von Gesundheit und begründen Reaktionen für die Maßnahmen zur Bewältigung und Prävention von Erkrankungen. Die schwierige Finanzierung des Gesundheitswesens, der Krankenversicherung vor dem Hintergrund zunehmender Lebenserwartung bei immer differenzierter und gleichzeitig teurer werdenden medizinischen Versorgung, die mögliche Abkehr von einem sozialen Bündnis hin zu einer Mehrklassenmedizin sind hier nur illustrierende Schlagworte. Das wichtigste zeitgenössische Beispiel, wie gesellschaftliche Auseinandersetzung die Haltung zu Krisen der allgemeinen, wie individuellen Gesundheit prägen, ist das erworbene Immunschwäche Syndrom, AIDS. Die steigenden Infektionszahlen von HIV und AIDS wurden in den 1980er Jahren mit Diskussionen um Meldepflicht, Sünde, Schuld und Vergebung begleitet. Die Strafe Gottes, als die AIDS bezeichnet wurde, sollte gleichzeitig Wegweiser für eine bessere Lebensführung sein. Der amerikanische Medizinhistoriker Charles E. Rosenberg schrieb hierzu Mitte der 1980er Jahre: „The history of AIDS demonstrates the inadequacy of either species of certainty. There were no one dimensional answers. AIDS could hardly be dismissed as an exercise in stigmatizing the deviant; it obviously had a strong biological component. [...]. Yet at the same time nothing marked the epidemic more starkly than its ability to evoke and reproduce pre-existing social values and attitudes. The diversity and complexity of reactions to AIDS has underlined the need to look carefully at the elusive 14 process through which society constructs its response to disease.“
Die Medizin, die ihr Verständnis von Erkrankungen und gesundheitlichen Krisen aus den Wissenschaften rekrutiert, nimmt an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung teil, indem sie durch wissenschaftlichen Fortschritt und Aufklärung Stellung zu Meinungsströmen, Normen und Werten bezieht und so die Bewältigung gesundheitlicher Krisen vorantreibt. Der Bericht der Vereinten Nationen über die Lage bezüglich der HIV-Infektion beispielsweise, berichtet von zurückgehenden Neuinfektionsraten in Afrika von über 25 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren und interpretiert dies als Erfolg der zunehmenden Aufklärung über Infektionswege.
13 Ebd. 14 Rosenberg, Charles E.: „Disease and Social Order in America: Perceptions and Expectations“, in: Explaining Epidemics and Other Studies in the History of Medicine, Cambridge 1992, S. 258.
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Und gleichzeitig bringt die Medizin durch wissenschaftlichen Fortschritt neue Kontroversen und neues Misstrauen in den gesellschaftlichen Diskurs über gesundheitliche Krisen ein. Dem Siegeszug der Antibiotika gegenüber manchen Infektionserkrankungen stehen die bakteriellen Resistenzen gegenüber denselben Substanzen gegenüber. Die Sorglosigkeit der jüngeren Generation gegenüber der HIV-Infektion aufgrund der guten antiretroviralen Substanzen und der langen Überlebensdauer nach einer HIV-Infektion führte zu einer Steigung der HIV-Infektionsraten bei jungen Erwachsenen. Der Fortschritt in der pränatalen Diagnostik oder Untersuchungen der befruchteten Eizelle vor der Einnistung in die Gebärmutter heizt die Diskussion zwischen „lebenswertem“ und „unlebenswertem“ Leben an. Die zunehmend bessere Versorgung der individuellen gesundheitlichen Krise kann die Verschlechterung der Bewältigung allgemeiner gesundheitlicher Krisen bedingen. Dies wiederum bedeutet eine Krise der Medizin, die sich auf die Abwehr von individuellen und allgemeinen gesundheitlichen Krisen versteift, und der Gesellschaft an sich.
D AS N ARRATIV DER K RISE IN K OMMUNIKATION VON K RISE
DER
M EDIZIN –
So sehr die Einordnung und Bewertung von Krisen der körperlichen und psychischen Gesundheit als Bestandteile des menschlichen Lebens gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Einflüssen unterliegen, die Haltung der Heilkunde ist klar abgesteckt. Maßgabe ist die Vermeidung, Linderung oder mindestens die Abwendung von negativen Folgen gesundheitlicher Krisen. Die Grundinstrumente der Medizin, also Diagnostik, Therapie, Vorbeugung, Aufklärung, das Impfwesen, die Krebsvorsorge oder Initiativen zur Unfallverhütung dienen diesen Zielen sowohl im Verlauf von heilbaren als auch unheilbaren Erkrankungen. Der Handlungsauftrag für die verschiedenen medizinischen Berufsgruppen ist eindeutig: Helfen im Rahmen der berufseigenen Ethik. Einen Spielraum außerhalb gibt es nicht. Eine aktive Sterbehilfe ist beispielsweise, genauso wie die aktive Hilfe zur Selbsttötung, in Deutschland verboten. Schon materiell und institutionell orientiert sich die Medizin am Krisenmanagement. Der Aufbau einer Notaufnahme, eines Akutkrankenhauses, der Ablauf der Versorgung von Notfällen, die Organisation des Rettungswesens orientieren sich am Leitgedanken, gesundheitliche Krisen zu meistern, d. h. negative Folgen zu verhindern. Auch die Aus- und Weiterbildung setzt Schwerpunkte im Umgang mit gesundheitlichen Krisen in der Vermittlung der einzelnen Fachgebiete, insbesondere in der Intensivmedizin oder der Ausbildung zum Notarzt. In Bezug auf die Allgemeinheit sind es die Gesundheitswissenschaften, die sich das Verstehen und Abwenden von Krisen der Gesundheit zur Aufgabe macht. Konkret geht es um die „Analyse, Bewertung und Organisation von Gesundheitsproblemen in der Bevölke-
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rung und ihrer Verhinderung beziehungsweise Bekämpfung mit angemessenen, wirksamen und ökonomisch vertretbaren Mitteln“.15 Eigeninitiativ machen sich verschiedene Ärzteorganisationen auf, in Krisensituationen zu intervenieren, vorzubeugen, helfend zur Seite zu stehen. Am bekanntesten sind wohl die „Ärzte ohne Grenzen“ oder „Ärzte für die Dritte Welt“. Praxis und Theorie treffen sich hier mit Blick auf die Bewältigung von durch Krieg, soziales Elend oder Umwelteinflüsse verursachten Krisen der Gesundheit und prägen Begriffe wie Krisenmedizin und Katastrophenmedizin. Dem Handlungsauftrag bestmöglich zu entsprechen, beinhaltet individuelle Anforderungen an das medizinische Personal. Mosher und Burti führen wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale von Mitarbeitern in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung auf. Demnach sind ein „ausgebildetes Selbstwertgefühl, der sichere Umgang mit Ungewissheit, eine aufgeschlossene, annehmende, einfühlende, sympathische, nicht wertende, geduldige und unaufdringliche Art wichtig. Der Mitarbeiter sollte praktisch veranlagt sein, lösungsorientiert handeln, beweglich, flexibel, optimistisch und stützend sein und freundliche Entschlossenheit zeigen, in Zusammenhängen denkend und dabei heiter, humorvoll und bescheiden sein“.16 Die genannte Fülle von Persönlichkeitsmerkmalen ist sicherlich für jede ärztliche Disziplin und jeden Mitarbeiter in einem sozialen bzw. medizinischen Beruf sinnvoll. Für die Situation der psychiatrischen Krisenintervention treffen sie in besonderem Maße zu. Die Schwierigkeit, positive Persönlichkeitsmerkmale zu kultivieren, zu leben, liegt oftmals in der Situation des Berufsalltags begründet, der von hohem Zeitdruck und vielen Arbeitseinheiten geprägt ist. Darüber hinaus ist natürlich auch das medizinische Personal von persönlichen Schwankungen, Stimmungen und persönlichen Konflikten beeinflusst. Die Konfrontation mit der gesundheitlichen Krise eines Patienten bedeutet gleichzeitig einen erheblichen Stressor, der ebenso durch das vegetative Nervensystem und Stresshormone körperliche und psychische Reaktionen bei Arzt und Krankenpflege auslöst. Möglichst große Erfahrung sowie die gekonnte Erfassung des körperlichen und psychischen Befundes unter Zuhilfenahme von technischen Mitteln wirken auch der Stressreaktion des medizinischen Personals entgegen. Eine Säule für gelungenen Umgang mit gesundheitlichen Krisen ist die situationsadäquate Kommunikation. Ärzte, Pflege und Sanitäter müssen zunächst aufmerksam, wach und möglichst ruhig eine Situation erfassen, zuhören und dann genauso aufmerksam und wach beobachtend handeln. Der medizinisch Geschulte muss in der Lage sein das mit den Sinnen und dem Verstand Erfasste, möglichst objektiv wiederzugeben. Angaben dritter Per-
15 Schwarz, Badura/Leidl, Siegrist: Das Public Health Buch, Gesundheit und Gesundheitswesen, Stuttgart 2003, S. 5. 16 Mosher, Loren R./Burti, Lorenzo: Psychiatrie in der Gemeinde: Grundlagen und Praxis, Bonn 1992, S. 252.
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sonen müssen immer als subjektive Informationen, als Fremdanamnese, aufgefasst werden und sind nach Möglichkeit zu überprüfen und einzuordnen. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zum Laien, der nicht sensibilisiert ist für die klare Trennung und Markierung vom Objektiven und Subjektiven. Aber auch der Mediziner muss eigene subjektive Empfindungen, Mutmaßungen, Assoziationen als solche verbal und schriftlich wiedergeben und kennzeichnen. Weltanschauung, Vorurteile, Klischees sowie Prägung durch die Biographie und Umwelt auf beiden Seiten sind als solche zu erkennen und sollten mindestens vom medizinischen Personal reflektiert werden.
Kommunikation zwischen Fachpersonal Ziel der genauen Beschreibung und Erfassung der Krisensituation ist es, diese weiterzugeben – zu kommunizieren – und gegebenenfalls einen Handlungsauftrag zu formulieren. Dies gilt sowohl für die unmittelbare Situation der Krise, in der es gilt, einem Menschen effektiv zu helfen, als auch retrospektiv in der Reflektion und Aufarbeitung einer Krisensituation. Sprache ist ein Werkzeug zur Informationsvermittlung. Daneben vermitteln wir unsere subjektive Wirklichkeit auf anderen Weise. Paul Watzlawick unterscheidet zum besseren Verständnis zwischen analoger und digitaler Kommunikation. Die digitale Kommunikation bediene sich eindeutiger Zeichen, die einer binären Unterscheidung von ja oder nein entsprächen. Sie betreffe den Inhaltsaspekt des Gesagten. Die analoge Kommunikation dagegen sei eher metaphorisch oder nonverbal mittels Mimik, Augenkontakt, Tonfall und Körpersprache. Sie sei oft mehrdeutig und betreffe mehr den Beziehungsaspekt.17 Je mehr individuelle Definitionen von Begriffen von den Gesprächspartnern geteilt werden, umso höher ist die Schnittmenge des übermittelten Gesprächsinhaltes. Dabei ist in Bezug auf die Kommunikation in der Krise eine entscheidende Variable die Zeit. Je akuter eine Krise ist, umso dringlicher erscheint das Handeln und umso klarer, prägnanter muss die Kommunikation zwischen allen Beteiligten sein. Weitere, weniger wichtige Variable, die dieses fördert, ist der Bekanntheitsgrad zwischen den Personen. In der Notsituation gilt es möglichst schnell ein Handlungsschema, ein Untersuchungsschema abzuspulen und die klinischen Symptome so einzuordnen, dass die Krise in ihrer Natur erkannt wird und möglichst schnell und präzise kommuniziert wird. Die Medizin bedient sich einer eigenen Fachsprache. Bei der Kommunikation zwischen Fachpersonal muss also angenommen werden, dass sowohl eine gemeinsame Terminologie als auch Wissen um Körperfunktionen, Erkrankungen und Prozeduren bei den Gesprächspartnern vorhanden sind. Die
17 Watzlawick, Paul/Beavin, Janet/Jackson, Don D.: Pragmatics of Human Communication, New York 1967, S. 60.
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Fachsprache dient der möglichst umfassenden, präzisen, prägnanten und zügigen Information und Dokumentation. Die Kommunikation zwischen dem Fachpersonal während der Versorgung eines Notfalles sollte möglichst auf der genannten digitalen Ebene erfolgen und möglichst wenig über den nonverbalen, metaphorischen Kommunikationsstil. Ein elementares Beispiel ist die Wiederbelebungsmaßnahme bei Stillstand des Herz-Kreislauf-Systems. Ihr Ablauf sollte bereits im Vorfeld kommuniziert und von den Beteiligten eingeübt sein. Wenn eine Person nicht bei Bewusstsein ist, nicht atmet, kein Puls zu tasten, kein Herzschlag zu hören ist, dann gilt es zu klären, ob es sich um einen Herzrhythmus handelt, der so schnell ist, dass ein Blutfluss nicht mehr möglich ist oder ein Herzstillstand vorliegt. Dann gilt es den Körper in die richtige Lage zu legen, die Atemwege ggf. frei zu machen, zu beatmen und die Herzdruckmassage zu beginnen, ggf. zu defibrillieren. Der größte Erfolgsgarant für eine Wiederbelebungsmaßnahme ist ein geübtes, handfertiges, konzentriert zusammenarbeitendes Team. Sprachlicher Austausch ist kurz und reduziert sich auf Anweisungen in einem fachkundigen Team. Die möglichst häufige Repetition dient der Routine, die gesundheitliche Krisen meistern lässt. Das Narrativ einer Krisensituation findet seinen klarsten Ausdruck im Protokoll eines Notarztes. Diagnosen werden – auch zur besseren Verständlichkeit und gegenseitigen inhaltlichen Definition in das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation eingeordnet. Die körperliche Krise wird in Parametern dargestellt, die die Funktion der einzelnen Organe und des Geistes wiedergeben. Das Bewusstsein etwa wird in einer Skala, der Glasgow-Coma-Scale dargestellt, die Herz-Kreislauffunktion in Blutdruckwerten, Herzfrequenz, Herzrhythmus, die Lungenfunktion wird aus der Beobachtung des Atems und dem Auskultieren des Atemgeräusches zusammengefasst. Es geht um die genaue, möglichst objektive und komplette Beschreibung der Krise körperlicher und seelischer Gesundheit anhand von Fixpunkten, die den Kommunikationsrahmen aufspannen.
Kommunikation zwischen Ärzten, Patienten und ihren Angehörigen Während der Austausch zwischen Fachpersonal in der Krisensituation angesichts der gemeinsamen Fachsprache und des Fachwissens eindeutig im Sinne einer digitalen Kommunikation geschehen kann, findet gegenüber dem Patienten ein Krisengespräch unter Einbeziehung anderer Variablen statt. Bei der Erhebung der Krankengeschichte zunächst, findet meist ein Gespräch mit geschlossenen Fragen statt. Offene Fragen bringen oft nicht die zur Diagnosefindung notwendigen Informationen. Sind diese jedoch erhoben und eine Erkrankung identifiziert, geht es im Gespräch mit dem Patienten den Weg für die Bewältigung der Erkrankung zu bahnen. Ein Krisengespräch im akuten Notfall, z.B. während der Versorgung eines Herzinfarktes,
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mit dem Patienten verläuft anders als ein Gespräch zur Übermittlung der Diagnose einer schweren Erkrankung, wie einem Krebsleiden oder ein Kriseninterventionsgespräch in der Psychiatrie. Die verschiedenen Ebenen der Kommunikation sind dabei genauso zu beachten wie die natürliche Stressreaktion auf beiden Seiten. Handeln, Körpersprache, Interaktion, Mimik und verbale Äußerungen des medizinischen Personals müssen adäquat sein. Adäquat bedeutet in diesem Zusammenhang, dass gegenüber dem Patienten auch bei Zeitdruck, physischer sowie psychischer Belastung und mehreren Patienten, die in kurzer Abfolge oder gar parallel zu versorgen sind, während einer akuten Krise Ruhe bewahrt wird und das Gespräch aufklärend, zielorientiert, handlungsorientiert und wertneutral geführt werden sollte. Dabei muss die subjektive Sicht des Patienten – Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Krankenversorgung, Empfindungen, Wortattribute, Assoziationen – wertschätzend einbezogen werden. Indem der Arzt den Kontakt zum Patienten so gestaltet, ermöglicht er eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung mit gemeinsamer Entscheidungsfindung und einem Handlungsplan, der von beiden Seiten getragen wird. Aus einem Gespräch mit dem Arzt sollte nicht der gehorsame oder überredete, sondern der überzeugte Patient hervorgehen, der sich mit der weiteren Behandlung aus guten Gründen einverstanden erklären kann. Körfer u.a. fassen Aspekte der Kommunikation zwischen Arzt und Patient zusammen. Die wechselseitige Übereinstimmung komme letztlich nur durch stetige Anwendung eines „dialogischen Prinzips“ zustande. In einer „dialogzentrierten“ Medizin begegneten sich Arzt und Patient als zwar ungleiche, aber gleichberechtigte Partner, die im Prinzip aber über symmetrische Beteiligungschancen im Dialog verfügten. Dabei könne die Art der dialogischen Partizipation des Patienten nicht an einem naiven Symmetriebegriff bemessen werden. Die Asymmetrie der Interaktionsrollen zwischen dem Experten und Laien könne prinzipiell nicht aufgehoben werden. Vielmehr sei funktionale von dysfunktionaler Asymmetrie zu unterscheiden. Dass einer der Partner erzähle und der andere mehr oder weniger aktiv zuhöre, sei eine sogenannte funktionale Asymmetrie. Es werde nicht erwartet und sei auch nicht sinnvoll, dass beide Partner faktisch zu gleichen Anteilen reden und zuhören, fragen und antworten, informieren und nachfragen, vorschlagen und zustimmen und so weiter. Vielmehr bedeute dialogische Symmetrie auch in der ärztlichen Praxis und Visite, dass für Arzt und Patient approximativ eine Chancengleichheit bestehe für die Relevanzsetzung von Themen und Zwecken der Kommunikation und die Wahl der dafür erforderlichen Kommunikationsmittel.18 Die Übermittlung von schweren Krankheitsdiagnosen mit schlechten Prognosen stellt eine besondere Schwierigkeit dar. Grundsätzliche Regeln
18 Körfer, Armin et al.: „Training und Prüfung kommunikativer Kompetenz. Ausund Fortbildungskonzepte zur ärztlichen Gesprächsführung“, in: Gesprächsforschung, 9 (2008), S. 34-78.
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über gelingende Kommunikation, wie das aktive Zuhören, das Spiegeln und die Achtsamkeit auf die eigenen Emotionen finden Beachtung. Unter der Überschrift „Breaking Bad News“ wird dem auf die Wiedergabe objektiver Befunde trainierten Arzt ein Kommunikationsansatz zur Übermittlung von Diagnosen von schweren Erkrankungen gegenüber dem Patienten an die Hand gegeben. Das sogenannte „SPIKES-Protokoll“ von Buckman und Baile vermittelt, ähnlich einem Kochrezept, eine Vorlage für ein Bilanzgespräch über Erkrankungen mit schlechter Prognose. Dabei wird der Gesprächsrahmen (Setting), der Kenntnisstand oder die Wahrnehmung des Patienten über seine Erkrankung (Perception), die Einladung durch Patienten, vom Arzt Informationen über seinen Zustand zu erhalten (Invitation), die Weitergabe der Information (Knowledge), die empathische Wahrnehmung der Patientenreaktion (Exploration of Emotions) berücksichtigt.19 Die Krisenintervention bei psychischen Leiden unterscheidet sich in einigen Aspekten. Betroffene suchen teils aus eigenem Antrieb Hilfe im Rahmen einer seelischen Krise, oft jedoch auch nur auf Drängen ihres sozialen Umfeldes. Im ersten Fall wird oftmals ein Gefühl der Ausweglosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, Überlastung offen beschrieben. Als Ursachen werden Konflikte im Umgang mit sich selbst, der Partnerschaft, der Familie sowie Konflikte im Arbeitsleben genannt. Der Patient ist meist zutiefst betroffen, hilfesuchend, verzweifelt. Häufig ist die Person emotional äußerlich sichtbar aufgebracht, weint und hat Redebedarf. Wenn Patienten sich auf Drängen ihres Umfeldes vorstellen, zeigen sie oft Schweigsamkeit bis hin zu der fehlenden Möglichkeit eines ausführlicheren Gespräches. Dann übernehmen die Begleiter häufig die Schilderung der Problematik. Während es in der akuten Versorgung der körperlichen Krise eher gilt, durch direktiven Gesprächsstil die persönlichen Charakterzüge des Patienten zwar zu würdigen, aber im Sinne des guten Gelingens einbindend in den Hintergrund treten zu lassen, gilt es in der Begegnung mit dem Patienten in der akuten psychischen Krise diese durch Wertschätzung soweit in den Vordergrund treten zu lassen, dass die Problematik, die zur notfälligen Vorstellung führt, deutlich wird und sich gegebenenfalls das Krankheitsbild zeigt. Und schließlich können schon in der Krisenintervention Ressourcen des Patienten hierdurch gestärkt werden. Eine Krisenintervention in der Psychiatrie geht über das eröffnende Gespräch oftmals hinaus und kann in einer Reihe von Gesprächen oder einer stationären Behandlung zur Überwindung der Krise münden, insbesondere wenn es gilt, sich mit Gedanken an Selbsttötung auseinanderzusetzen. Ziel der Begegnung mit Patienten in einer psychischen Krise ist auch die Wegbereitung für eine längere Behandlung oder wenigstens die Herabsetzung von Angst, sich weiterhin in eine Behandlung zu begeben, falls dies angezeigt ist. Es gilt, mit wachem Blick auf Seiten des fachpsychiatrischen
19 Vgl. Buckman, Robert A.: Breaking bad news: the S-P-I-K-E-S strategy, (3/2005) Community Oncology.
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Personals die psychische Krisensituation mit – möglicherweise auch weiter zurückliegenden – schwerwiegenden Lebensereignissen, Traumata, in Bezug zu setzen. Dabei ist die Konfrontation mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung mit großer Vorsicht vorzunehmen. Die Gefahr implizit eine Wende zum „negativen“, „kranken“ zu suggerieren ist groß, insbesondere in einer per definitionem vulnerablen Lebensphase. In Krisen der körperlichen wie der seelischen Gesundheit ist es wichtig für den Patienten und seine Angehörigen, sich emotional zu entlasten, nachdem sich Aufregung, Angst, Besorgnis und Anspannung aufgebaut haben. Diese Emotionen sollten von den Ärzten, der Krankenpflege und weiterem Gesundheitspersonal nicht nur mit Empathie aufgenommen, sondern als Grundlage für die weitere Interaktion und Behandlung verstanden werden. Patienten können so in die Lage versetzt werden, ihren Willen bezüglich einer Behandlung adäquat zu äußern. Grundstein für die konkrete Behandlung, wenn der Patient sich nicht selbstständig äußern kann, ist die Patientenverfügung. In ihr legt eine Person im Vorfeld fest, wie mit einer gesundheitlichen Krise umgegangen werden soll, falls eine freie Willensäußerung zu diesem Zeitpunkt nicht möglich sein sollte. Im Fokus stehen dabei die lebensverlängernden Maßnahmen bei einer schweren und unheilbaren Erkrankung. Eine Patientenverfügung wird schriftlich abgefasst und bestenfalls notariell beglaubigt und bedient sich einer eindeutigen, sachlichen Sprache. Sie ist ein rechtlich bindender Behandlungsauftrag. Ihre Abfassung ist eine schwierige Aufgabe. In einer Informationsschrift des Bundesjustizministeriums heißt es, Begriffe, die subjektiv zu interpretieren seien, wie „die Aussicht auf ein erträgliches Leben“ oder „die Ausschöpfung angemessener Möglichkeiten“ sollten möglichst vermieden werden. Begriffe wie „unwürdiges Dahinvegetieren, qualvolles Leiden, Apparatemedizin“ seien ebenso wenig hilfreich.20 Wenn die Patientenverfügung in verschiedenen Situationen gelten solle, also zum Beispiel für die Sterbephase, bei einem dauernden Verlust der Einsicht und Kommunikationsfähigkeit, im Endstadium einer unheilbaren Erkrankung, sollte überlegt werden, ob die festgelegten Behandlungswünsche (zum Beispiel die Durchführung oder die Ablehnung bestimmter Maßnahmen, wie künstliche Ernährung, künstliche Beatmung usw.) in allen beschriebenen Situationen gelten, oder ob für verschiedene Situationen auch verschiedene Behandlungswünsche festgelegt werden sollten (werde beispielsweise eine künstliche Ernährung nur in der Sterbephase oder auch bei einer weit fortgeschrittenen Demenz-Erkrankung abgelehnt?). Liege bereits eine schwere Erkrankung vor, empfehle es sich, die Patientenverfügung vor allem auf die konkrete Krankheitssituation zu beziehen. Zudem könne es sinnvoll sein, auch detaillierte Angaben zur Krankheitsgeschichte, Diagnosen und der aktuellen Medikation sowie zu den Behandlungswünschen zu machen.
20 Bundesministerium der Justiz, Patientenverfügung, Informationsbroschüre, (10/2011), S. 16.
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Grundlegender Sinn der Patientenverfügung ist es, die Autonomie des Betroffenen zu wahren. Dem Arzt fällt die Rolle zu, mit dem Verfasser der Patientenverfügung über den Krankheitsverlauf, mögliche Komplikationen und verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zu sprechen. Zu ihm besteht bestenfalls eine gewachsene Beziehung und Vertrauen. Eine Patientenverfügung kann mit ihm detailliert betrachtet und klar formuliert werden.
Der stille Ruf des Martinshorns Der Blick aller Beteiligten, des Patienten, des Angehörigen und des medizinischen Personals, muss sich zum guten Verständnis gesundheitlicher Extremsituationen auf einen wichtigen Aspekt richten. Im Gesicht gesundheitlicher Krisen ist mitnichten eine offensichtliche Dramatik zu sehen! Zur Verdeutlichung dieses abschließenden Kerngedankens steht das folgende Protokoll eines Interviews mit der Frau eines an der Alzheimer Demenz erkrankten Fischers und der Entwicklung seiner Erkrankung über neun Jahre hinweg bis zu seinem Tod: „Mein Mann war sein ganzes Leben dem Meer verbunden. Wir besaßen mehrere Boote hier am Hafen, mit denen wir die Leute zum Fischen oder im Herbst zur Beobachtung der Wale raus gefahren haben. Er wusste immer genau Bescheid, wie die Fischschwärme zogen, wusste alles über Schiffe und war vom Herzen her ein Seemann. Als wir vor zehn Jahren eine Reise entlang der Küste unternahmen und ich ihm vorschlug, am Hafen Boote anzuschauen, blieb er, der immer neugierig und energisch war, im Auto sitzen und war nicht interessiert, machte keine Anstalten das Auto zu verlassen. In diesem Moment wusste ich, etwas stimmt nicht. Ich entschloss mich, entlang der Küste weiterzufahren und versuchte erneut ihm die Erkundung fremder Häfen und Boote schmackhaft zu machen. Aber so wie am Anfang, war es an allen Orten und Häfen. Mein Mann blieb teilnahmslos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fuhr immer weiter, von Ort zu Ort. Wir fuhren bis nach Oregon und Washington und ich hatte das Gefühl, wir befinden uns auf einer Fahrt ins Ungewisse. Nach zwei Wochen habe ich die Reise abgebrochen und wir sind nach Hause zurückgekehrt. Daraufhin habe ich meinen Mann nach längerem Reden überzeugen können, sich untersuchen zu lassen. Die Neurologin sagt nur, er zeige Anzeichen einer Demenz, von Alzheimer wolle sie allerdings nicht sprechen. Sie verschrieb 5mg Aricept, einem sogenannten Antidementivum. Das war es. Danach haben wir sie nie wieder gesehen. Mein Mann wollte nicht zum Arzt. Erst drei Jahre später sind wir erneut zum Neurologen gegangen, als ich ihn zu einer Vorsorgeuntersuchung überreden konnte. Es wurden Aufnahmen vom Gehirn gemacht. Während ich im Zimmer auf den Arzt wartete, fiel mein Blick auf die Patientenakte. Dort stand „Alzheimer“ als Diagnose. Ich konfrontierte den Arzt damit. Ob ich das denn nicht wisse, erwiderte er. Uns hatte man nie die Diagnose mitgeteilt, geschweige denn uns über den Verlauf von Demenzen aufgeklärt. Dass Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähig-
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keit, Interessenverlust auf eine beginnende Demenz hindeuten können, dass die Alzheimer-Erkrankung eine von vielen Demenz-Erkrankungen ist, wussten wir doch nicht. Die Aussage der ersten Ärztin mag für sie schlüssig gewesen sein, uns ließ sie mit Unverstand zurück. Mein Mann ist Veteran aus dem Koreakrieg gewesen. Somit waren wir noch zusätzlich abgesichert und haben Hilfe im Krankenhaus für die Veteranen gesucht. Dort haben wir uns gut aufgehoben gefühlt, denn es gab ein Team, bestehend aus Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, Krankenschwester, das sich um meinen Mann gekümmert hat. Auch meine Sorgen und welchen Effekt die Krankheit auf mich hatte, fanden Beachtung. Man hat mir Hilfsangebote aufgezeigt, mich an Selbsthilfegruppen vermittelt. Ich wusste, ändern kann das Team den Verlauf der Erkrankung meines Mannes nicht. Aber es wurde uns geholfen, mit dem Verlauf der Erkrankung gut umzugehen. Mein Mann war grundsätzlich ein aufbrausender Mann, wir haben in unserer Ehe viel gestritten. Im Verlauf seiner Demenz war er mir gegenüber zunehmend ausgeglichen. Ich glaube, viel hatte damit zu tun, dass ich nicht nur reagiert habe, sondern mithilfe des Teams, auf ihn einzugehen, zu antworten gelernt habe und entsprechend der Demenz zunehmend im Moment mit ihm zu leben. Kleine Veränderungen, wie die zunehmende Inkontinenz, bargen die ganze Dramatik der Erkrankung in sich. Sie galt es anzuerkennen. Sie bedeutete den Umzug in ein Heim, als letzte große Veränderung in seinem Leben, nachdem seine Pflege meine Kräfte und die Möglichkeiten der 21 ambulanten Pflege überstieg.“
Gesundheitliche Krisen zeigen sich nicht notwendigerweise mit einem Paukenschlag und häufig ohne spektakuläres Antlitz. Sie zeigen sich oft leise oder gar still, manchmal unmerklich oder geradezu sanft. Als der an Alzheimer Demenz erkrankte Mann im Auto sitzen blieb, wusste seine Frau in diesem Moment, das ganze Leben würde sich verändern. Hier zeigte sich die gesundheitliche Krise als Wendepunkt im Leben eines Menschen und seines Umfeldes in ihrer unerbittlichsten Form. Selbst in einer Notaufnahme dürfen wir nie den Fehler machen, nur auf schrillen Alarm zu hören. Im Gegenteil, das Heulen der Sirenen überhört man nicht. Es sind insbesondere die leisen Töne – Patienten, die mit dem Taxi über den regulären Eingang kommen, ihre Krankenkassenkarte abgeben und sich scheinbar ruhig ins Wartezimmer setzen, nachdem sie kurz über das Zwicken in der Brust berichtet haben – die nicht übersehen werden dürfen, denn auch hier kann sich im Körper eine dramatische Krise abspielen, entgegen aller Erwartungen. Versorgt medizinisches Personal Menschen mit Vorsicht und Empathie, der richtigen Kommunikation, so können schlechte Wendungen vermieden werden. Der Begriff Krise wird in das Mandarin Chinesisch als „Wei-Ji“ übersetzt, was durch die Zeichen für „Gefahr“ und „Chance“ ausgedrückt wird. Bei der Bewältigung von Krisen, ihrer Einteilung, Einordnung und Handlungsmaximen zeigt sich möglicherweise ein dem Menschen innewohnen-
21 Interview des Autors mit Mrs. Peggy Becket, Half Moon Bay, Kalifornien, November 2010.
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des, tiefes Bedürfnis nach Klarheit, Ordnung und somit Sicherheit. Für die Medizin begründet dies einerseits Handlungsfähigkeit und bildet andererseits den Antrieb für Forschung und Fortschritt. Jedoch erscheint es geboten sich regelmäßig vor Augen zu halten, Leben entspricht einem dynamischen Kräftespiel. In diesem immerwährenden Fluss sind Krisen ein naturgegebener Bestandteil, die es nicht zu beseitigen, sondern zu überwinden gilt.
psyché, soma, logos Medizinische Verhandlungen zwischen Seele und Körper in der französischen und spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts G REGOR S CHUHEN
Geschichten vom Anfang kommen häufig im mythischen Gewand daher und bleiben allen Bemühungen um Objektivität zum Trotz doch nur selektive, höchst eigenwillige Setzungen. Nicht anders liest sich die Geschichte der Psychiatrie: Nahezu jede historiografische Darstellung, die sich aus medizinhistorischer Perspektive mit der Erforschung der Geisteskrankheiten beschäftigt, setzt andere Anfangspunkte: Henri Ellenberger z.B. beginnt in seinem Standardwerk Die Entdeckung des Unbewußten mit der vormodernen Heilkunst als wichtigem Ursprung der modernen Psychiatrie1, der Medizinhistoriker Edward Shorter wiederum eröffnet seine Geschichte der Psychiatrie mit der knappen Behauptung: „Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gab es keine Psychiatrie.“2 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang – vor allem vom Standpunkt des Literaturwissenschaftlers – zunächst, was überhaupt mit Psychiatrie gemeint ist. Sind es praktische Heilmethoden, die das Kurieren geistiger Störungen zum Ziel haben? Ist es die wissenschaftliche Erforschung dieser Phänomene? Oder meint Psychiatrie die wissenschaftliche Institutionalisierung einer medizinischen Teildisziplin? Letzteres dürfte Shorter im Auge haben, da er seine Anfangsbehauptung durch den Hinweis konkretisiert, dass „[d]as Aufkommen des medizinischen Spezialistentums […] ein Phänomen des 19. Jahrhunderts [war].“3 Ellenbergers Verständnis von „dynamischer Psychia-
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Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996. Shorter, Edward: Geschichte der Psychiatrie, Reinbek b. Hamburg 2003, S. 13. Ebd.
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trie“ hingegen verdankt sich sehr viel eher dem Fokus auf praktisch-methodische Aspekte. In sämtlichen Darstellungen jedoch herrscht Einigkeit darüber – was kaum Wunder nimmt –, dass die wie auch immer beglaubigte Geburtsstunde der modernen Psychiatrie in Mitteleuropa zu verorten ist: Als mögliche Zentren werden neben den zu erwartenden Städten Paris und Berlin auch Florenz und London sowie Edinburgh genannt. Überraschend hingegen erscheint im Hinblick auf eine erste universitäre Institutionalisierung der Psychiatrie als Wissenschaft die Situierung an die Alma Mater Lipsiensis. Dort nämlich wurde 1811 der Mediziner und Philosoph Johann Christian August Heinroth auf den weltweit ersten Lehrstuhl für „psychiatrische Therapie“ berufen. „Damit beginnt“, so Matthias C. Angermeyer und Holger Steinberg nicht ohne Regionalpathos, „nichts weniger als die Geschichte der akademischen Psychiatrie des Abendlandes.“4 Der heute fast vergessene Heinroth ist in vielerlei Hinsicht eine wichtige Figur in der Frühgeschichte der psychiatrischen Medizin. Zunächst daher ein paar wenige biografische Angaben zur Person: Der 1773 geborene, aus streng protestantischem Elternhaus stammende Leipziger zeigt bereits früh Neigungen, sich dem Studium der Theologie zu widmen. Heinroths erster Biograf, sein Schwager Ferdinand Moritz August Querl, schreibt, dass er als Kind „lieber die Einbildungskraft als den Verstand beschäftigte“ und dass er „lieber predigen mochte […], als seine Schularbeiten besorgen.“5 Für sein Umfeld überraschend beginnt Heinroth aber 1791 das Studium der Medizin „mit dem obligatorischen Philosophikum“6. Die gleichrangige Leidenschaft für Medizin und Theologie wird Heinroths späteres Wirken als Mediziner lebenslang bestimmen oder wie sein Lehrstuhlnachfolger Paul Julius Moebius es auf den Punkt bringt: Heinroth hat diesen Neigungskonflikt überwunden, indem er „die Theologie in die Medicin hineintrug“.7 1806 hält Heinroth sein erstes Kolloquium an der Universität Leipzig zum Thema „Ueber das Bedürfnis des Studiums der medizinischen Anthropologie und über den Begriff dieser Wissenschaft“, 1811 dann erhält Heinroth den Ruf als außerordentlicher Professor für psychische Therapie an die Alma Mater Lipsiensis. Im Nebenberuf versucht sich Heinroth immer wieder als Schriftsteller und veröffentlicht unter dem Pseudonym Treumund Wellentreter allerhand romantische Gedichte und Kurzprosa, u.a. Eindrücke, die er auf
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Angermeyer, Matthias C./Steinberg, Holger: „Vorwort“, in: dies. (Hg.), 200 Jahre Psychiatrie an der Universität Leipzig. Personen und Konzepte, Heidelberg 2006, S. VII-IX, hier S. VII. Querl, Ferdinand Moritz August: „Biographische Skizze“ [1847], zit. nach: Steinberg, Holger: „Johann Christian August Heinroth (1773-1843)“, in: ders./Angermeyer (Hg.), 200 Jahre Psychiatrie an der Universität Leipzig, S. 180; hier S. 3. Ebd. Moebius, Paul Julius: „Zum Andenken an Johann Christian August Heinroth“, in: Allgemeine Zeitschrift Psychiatrie 55 (1889), S. 1-18, hier S. 2.
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einer Italienreise im Jahr 1803 gesammelt hatte. Heinroth stirbt im Alter von 70 Jahren in Leipzig als Dekan der medizinischen Fakultät. Heinroths Vermächtnis als früher, psychiatrisch arbeitender Mediziner scheint heute größtenteils dem wissenschaftshistorischen Vergessen zum Opfer gefallen. Er und seine Forschungen werden in der Regel subsumiert unter die Kategorie ‚Medizin der Romantik‘, wo er lediglich als einer von vielen geführt wird.8 Die Arbeiten der romantischen Mediziner werden häufig mit dem Stempel der Naturphilosophie versehen; oftmals wird ihnen aufgrund ihrer Methodik ein Hang zum Mystischen nachgesagt; wegen ihres universalistischen Anspruchs wurden sie von ihren biologistischen Kontrahenten der Unwissenschaftlichkeit bezichtigt. So, wie – zumindest in Deutschland – die Romantiker stets im geselligen Kollektiv ihre Arbeiten besprachen, kritisierten und gelegentlich auch verfassten, so werden also aus heutiger Sicht auch die Mediziner dieser Zeit dargestellt. Für Heinroth gilt das nur bedingt. Im Bereich der Psychiatrie gilt er als Einzelkämpfer, auch wenn er sich aus geisteswissenschaftlicher Sicht sehr durch Schellings Naturphilosophie beeinflusst fühlt und in regem Kontakt mit französischen Kollegen steht – allen voran mit seinem weitaus berühmteren Kollegen Phillipe Pinel und später dessen Schüler Jean Esquirol. Mit Pinel und Heinroth stehen sich, wenn man so will, zwei exemplarische Repräsentanten unterschiedlicher Epochen gegenüber: Während jener mit seiner Reform der Irren-Anstalten den Ideologemen der Hoch-Aufklärung verpflichtet ist, gilt dieser mit seinem Konzept der Ganzheitlichkeit, der theologischen und naturhaften Grundierung als typischer Vertreter der romantischen Geisteshaltung. Bevor wir uns später der Literatur zuwenden, kann bereits an dieser Stelle beobachtet werden, dass nicht nur Literatur und Philosophie einer Epoche im diskursiven Austausch stehen, sondern dass auch die Medizin von ihrem geistig-kulturellen Kontext geprägt wird. Dieser Befund macht deutlich, dass Krankheiten und deren Begrifflichkeiten, insbesondere im Zusammenhang der ‚Seelenstörungen‘, nicht nur als „individuelle Befindlichkeitsstörungen und [deren] biologischen Korrelate“ zu verstehen sind, sondern als „kulturelle Produktionen, in denen sich – neben dem jeweiligen medizinischen Wissensbestand – charakteristische Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster einer Zeit widerspiegeln.“9 Das lässt sich auch an der Folgezeit der Romantik ablesen: Während die Literatur sich zusehends einem realistischen Anspruch verschreibt, wird der Forschungseifer der Medizin im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vom positivistisch-biologistischen
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So z.B. Engelhardt, Dietrich von: „Die romantischen Mediziner“, in: Klassiker der Medizin II, München 1996, S. 95-118; auch Shorter: Geschichte der Psychiatrie und ders.: Moderne Leiden. Geschichte der psychosomatischen Krankheiten, Reinbek b. Hamburg 1994. Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt a.M./New York 1999, S. 11.
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Geist erfüllt. Am Ende des 19. Jahrhunderts verkompliziert sich dieses Wechselverhältnis, doch dazu später mehr. Zurück zu Heinroth: Seine wissenschaftlichen Errungenschaften, die ihn immerhin zur erwähnenswerten Nebenfigur in den klassischen Psychiatriegeschichten machen, zeigen schnell, dass der Schleier des Vergessens sehr zu Unrecht über ihn geworfen wurde. Immerhin gilt er als einer der ersten, der den Begriff der „Person“ in die praktische und theoretische Psychotherapie eingeführt hat. Damit ist gemeint, dass der kranke Mensch im medizinischen Umgang nicht nur auf seine Gebrechen reduziert, sondern in seiner Ganzheitlichkeit gesehen werden muss. Heinroth schreibt dazu: „Die Person ist mehr als der bloße Körper, auch mehr als die bloße Seele, sie ist der g a n z e Mensch.“10 Heinroths Verständnis von Medizin muss mithin als anthropologisch gedeutet werden, wie er auch selbst bekennt und was praktisch folgendermaßen aussieht: „Er [Heinroth; G.S.] schaut sein Gegenüber, den kranken Menschen an: Er erfasst ihn als komplexe, individuelle Besonderheit, sowohl sozial-biografisch als auch körperlich und seelisch.“11 Damit bringt er den vorherrschenden Leib-Seele-Dualismus ins Wanken – „Seele und Leib sind nur in der Anschauung zu trennen; sie sind zwei Seiten des einen Lebens.“12 Gleichzeitig positioniert sich Heinroth in der Auseinandersetzung zwischen Psychikern und Somatikern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem über die Pathogenese der Seelenstörungen streiten, klar auf Seiten der Psychiker.13 Dies wird besonders deutlich durch Heinroths Neuerfindung eines weiteren Begriffs, der eng mit dem der ‚Person‘ zusammenhängt, nämlich des Begriffs des Psychosomatischen. Dieses für die moderne Psychiatrie und Psychoanalyse gleichermaßen folgenreiche Konzept geht tatsächlich zurück auf das von Heinroth 1818 verfasste Haupt-
10 Heinroth, J.C.A.: Anweisung für angehende Irrenärzte zu richtiger Behandlung ihrer Kranken, Leipzig 1825, S. 4. 11 Steinberg: „Johann Christian August Heinroth (1773-1843)“, a.a.O., S. 34. 12 Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, S. 52. 13 Eine differenzierte Darstellung dieser Auseinandersetzung, die vor allem dazu dient, die mitunter selbst inszenierten Gräben zwischen ‚Psychikern‘ und ‚Somatikern‘ einzuebenen, findet sich bei Kutzer, Michael: „‚Psychiker‘ als ‚Somatiker‘ – ‚Somatiker‘ als ‚Psychiker‘. Zur Frage der Gültigkeit psychiatriehistorischer Kategorien“, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel 2003, S. 27-47, bes. S. 47: „Die konzeptionellen Unterschiede zwischen den sogenannten ‚Somatikern‘ und ‚Psychikern‘ lassen sich relativieren, sowohl in Bezug auf die Leib-SeeleProblematik, als auch in Bezug auf die Relevanz des ‚Psychischen‘ oder einer somatischen Krankheitslehre, sowohl in Bezug auf eine moralische Bewertung psychischer Störung als auch auf deren weltanschaulich-philosophischen Hintergrund. Die Unterschiede liegen hier im Quantitativen, in den Schwerpunkten, nicht im Grundsätzlichen.“
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werk Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens – darin taucht der Begriff selbst zwar nur einmal im Zusammenhang einer Nosografie der Schlafstörung auf14, aber der psychosomatische Gedanke wird mehrfach entwickelt: „so ist es doch bey weitem in den meisten Fällen nicht der Leib, sondern die Seele selbst, von welcher unmittelbar und zunächst, ja ausschließlich die Seelenstörungen hervorgebracht und durch diese erst mittelbar die leiblichen Organe affizirt werden.“15 Noch eine weitere Stelle lohnt sich, näher betrachtet zu werden, da dort der Heinroth eigene Zusammenhang von Psychosomatik und Sünde hergestellt und erläutert wird: „Es würde vielleicht bey genauer Aufmerksamkeit auf das vergangene Leben der Kranken, vor ihrer gänzlichen psychischen Zerrüttung, sich finden, daß in diesem Leben selbst und seiner falschen Führung, in Unmäßigkeit und Ausschweifungen aller Art, der Schlüssel zur organischen Ausartung des Hirn- und Gefäßlebens liege, und daß nicht sowohl beyde einander wechselseitig bestimmende Polaritäten die Seele krank machen, als vielmehr, daß die von der Norm abgewichene Seele auch das organische Leben umstimme […].“16
Der Grundtenor des psychosomatischen Denkens ist uns heute vertrauter denn je, denn „[w]ill man […] Heinroth in die Tradition einer aktuellen psychiatrischen Richtung stellen, so korrespondiert sein Sozialisationsbiografisches, Psychologisches und auch das Somatische mit umfassende Konzept zu einem Gutteil mit der modernen ganzheitlichen oder anthropologischen Psychiatrie.“17 Befremdlich erscheint freilich der Fokus auf das Sündhafte als Verursacher von Seelenstörungen, was dazu führt, dass die Seele, wie es im vorliegenden Zitat lautet, ‚von der Norm abweicht‘. Die menschliche Seele besteht Heinroth zufolge aus drei Hauptvermögen: dem Gemüt, dem Geist und dem Willen. Sündhafte Ausschweifungen sind dazu prädestiniert, diese drei Grundpfeiler in ihrer Wirkkraft zu beeinträchtigen und die Seele sozusagen vom rechten Weg abzubringen. Da Heinroth den Menschen grundsätzlich als frei erachtet, ist jegliche Form der Geistesstörung durch Sünde selbst verschuldet, ein Abfallen vom Göttlichen. Würde man hier den antiquierten Begriff der ‚Sünde‘ durch den allgemeineren des ‚Schuldgefühls‘ übersetzen, was in der jüngeren Heinroth-Rezeption häufig getan wird, dann ergibt sich folgende Narration der psychischen Krise: der Mensch handelt unrechtmäßig, bekommt Schuldgefühle resp. bekommt diese suggestiv eingeredet, diese steigern sich zur Psychose, was wiederum
14 „Gewöhnlich sind die Quellen der Schlaflosigkeit psychisch-somatisch, doch kann auch jede Lebenssphäre für sich allein den vollständigen Grund derselben enthalten.“ (Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens, 2 Bde., Leipzig 1818, hier Bd. II, S. 49.) 15 Ebd., Bd. I, S. 40. 16 Ebd., S. 140. 17 Steinberg: „Johann Christian August Heinroth (1773-1843)“, a.a.O., S. 45.
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auch zu somatischen oder organologischen Ausfallerscheinungen führen kann. Diese Art des medizinischen story-telling erscheint uns heute nahezu selbstverständlich und keineswegs ungewöhnlich. Es sollte jedoch rund 100 Jahre dauern, bis sich dieses Verständnis vom Psychosomatischen im medizinischen Diskurs verankern sollte. Wirft man einen Blick in französische oder englische Wörterbücher, stellt man überrascht fest, dass das ‚Psychosomatische‘ erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Wortschatz geführt wird, während im Brockhaus Heinroth als Schöpfer der Psychosomatik und 1818 als etymologisches Ursprungsjahr genannt werden. Wie kommt es zu diesen Ungleichzeitigkeiten? Gründe dafür liegen in der Wissenschaftsgeschichte selbst: Das 19. Jahrhundert muss innerhalb der Theorie- und Professionsgeschichte der Medizin als Jahrhundert des somatischen Paradigmas erkannt werden – Siegeszüge des Positivismus und der Biologie sorgen dafür, dass die romantische Medizin mit ihren philosophisch-theologischen Fundierungen lediglich als ars conjecturalis, d.h. als ‚Vermutungs-Kunst‘ abgeurteilt und spätestens ab 1840 gänzlich verworfen wird. Dass die Kategorie des Psychosomatischen über Deutschlands Grenzen hinweg in den medizinischen Forschungen keinerlei Resonanz aufweisen kann, liegt wiederum daran, dass die Rezeption der deutschen romantischen Medizin z.B. in Frankreich so gut wie gar nicht stattfindet. Wie bereits gesagt, steht Heinroth zwar in Kontakt mit Pinel und Esquirol, jedoch gestaltet sich der Austausch eher einseitig: „Heinroth schätzte die französischen Autoren wegen ihrer genauen klinischen Beobachtung und auch wegen ihrer Praxis mit den ‚Irren‘“, so Volker Roelcke, „[e]r lehnte jedoch ihre an Symptomen orientierte Einteilung der Seelenstörungen als zu ‚oberflächlich‘ ab.“18 Auf französischer Seite hingegen misstraut man den Deutschen auch insofern, als einige Jahre zuvor der Begründer des animalischen Magnetismus, Franz Anton Mesmer, die Pariser Szene des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit seiner Lehre vom Fluidum kurzzeitig durcheinander gewirbelt hatte. Mesmer hatte für wenige Jahre insbesondere in den Kreisen des Pariser Hochadels erfolgreich als Magnetiseur gearbeitet und dort einige Damen der Gesellschaft, die als Hysterikerinnen galten, durch seine höchst eigenwillige Form der Therapie kuriert. Seine Person polarisierte nicht zuletzt aufgrund seines Erfolges in der High Society sehr stark zwischen entschiedener Ablehnung aufgrund von Scharlatanerieverdacht und Verehrung seitens einiger Schüler, darunter der Marquis de Puységur, der Mesmers Lehre nach dessen Rückzug aus Paris weiterentwickelte und modifizierte und inzwischen als Vorläufer moderner Hypnosetechnik eine wichtige Rolle spielt.19 Episoden wie diese sind dafür verantwortlich, dass die Franzosen den deutschen Forschungen im Bereich der Medizin eher skeptisch-zurückhaltend gegenüberstehen. Zusätzliches
18 Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, S. 51. 19 Vgl. zum Komplex Mesmer-Puységur vor allem Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 89-134.
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Selbstbewusstsein bezieht die Pariser Szene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den rasanten Aufstieg des Neurologen Jean-Martin Charcot, der mit seinem modernen Hysterie-Kabinett an der Pariser Salpêtrière die Aufmerksamkeit der gesamten mitteleuropäischen Psychiatrieforschung auf sich zu ziehen vermochte. Im Zusammenhang der sehr umfangreichen Hysterie-Forschung in den Bereichen von Medizin- und Kulturgeschichte fällt auf, dass die Rezeption Charcots sehr unterschiedlich ausfällt: Während er von den Medizinhistorikern nahezu uni sono dem somatischen Paradigma zugeordnet wird, d.h. seine Verdienste der Tatsache geschuldet sind, dass er die Hysterie als nervliche Störung auffasste, liest man auf kulturwissenschaftlicher Seite, so z.B. in Elisabeth Bronfens Das verknotete Subjekt, selbstverständlich, dass Charcot sich über die psychosomatische Pathogenese der Hysterie sehr wohl bewusst war.20 Ich möchte diesen Widerstreit in der Beurteilung Charcots nicht weiter ausfalten, mir scheint jedoch die Einschätzung von Edward Shorter am zutreffendsten: „Er [Charcot; G.S.] war der erste Mediziner von Rang, der die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf den Anteil der sensorischen Komponente des Nervensystems an der Somatisierung lenkte. Kurz vor seinem Tod wandte Charcot sich psychologischen Theorien der Nervenkrankheiten zu und half dadurch mit, sie in der Medizin salonfähig zu machen.“21
Sein initiales Verständnis von Hysterie ist demnach das „eine[r] hereditäre[n] Nervenkrankheit, kein psychiatrisches Leiden – und in der Tat war Charcot ja auch Neurologe und Internist, kein Psychiater.“22 Charcot nimmt demzufolge eine Scharnierstelle ein, die Ende des 19. Jahrhunderts den Übergang vom somatisch-positivistisch-naturwissenschaftlichen zum psychischen Paradigma der Spätmoderne vollzieht, für das nicht zufällig der Charcot-Schüler und Neurologe Sigmund Freud verantwortlich zeichnet. Damit wird nicht nur der Weg geebnet für den Siegeszug der Psychoanalyse, nicht nur dem deutschsprachigen Raum wieder mehr Einfluss im Bereich der Psychiatrieforschung zugewiesen, sondern letztendlich auch der romantischen Medizin zu einem späten Comeback verholfen. Es ist erwiesen, dass Freud die Schriften der Romantiker studiert hat und insbesondere ist sein topologisches 3-Instanzen-Modell sehr eng verwandt mit Heinroths dreigliedrigem Bewusstseinskonzept vom „Weltbewusstseyn“ (Triebe und Gefühle), „Selbstbewusstseyn“ (Verstand) und „Vernunftbewusstseyn“ (Gewissen), das von Heinroth auch als „Ueber uns“ bezeichnet wird. Insofern kann mit
20 Charcot, so Bronfen, verbinde eine „geheimnisvolle, schwer feststellbare Neurose und einen aufsässigen weiblichen Körper [...] zur kohärenten Geschichte einer psychosomatischen Störung.“, in: Bronfen, Elisabeth: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998, S. 274. 21 Shorter: Moderne Leiden, S. 285. 22 Ebd., S. 300.
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Dietrich von Engelhardt konstatiert werden, dass die „Psychologie der romantischen Medizin in der Psychoanalyse wieder auf[taucht]“23 oder noch emphatischer mit Ellenberger, „dass es kaum ein Konzept bei Freud und Jung gibt, das nicht schon von der Naturphilosophie und von der Medizin der Romantik vorweggenommen worden wäre.“24 Wieder kann also beobachtet werden, dass in der Medizingeschichte ganz analoge Prozesse stattfinden wie in der Geistesgeschichte, ist es doch so, dass auch in verschiedenen kulturellen Bereichen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, im Übergang zum 20. Jahrhundert so etwas zu beobachten ist wie eine Neo-Romantik. Rüdiger Safranski hat das in seinem Romantik-Buch sehr schön aufgezeigt25 – ich kann das nur stichwortartig skizzieren: Nietzsches Philosophie, Wagners Nibelungen und ein allgemein zu beobachtender Jugendkult sind Beispiele für ein Wiederaufleben und Weiterdenken typisch romantischer Konzepte. Ich möchte mich damit auch endgültig der Literatur zuwenden, wo vielleicht weniger ein Revival der Romantik zu diagnostizieren ist als eine aktive Auseinandersetzung damit und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Spanien. Ich möchte nun zeigen, dass diese Auseinandersetzung nicht nur die literarischphilosophische Romantik betrifft, sondern ebenso die romantische Medizin mit einschließt. Zunächst möchte ich einschränkend vorwegnehmen, dass ich mich aus pragmatischen Gründen ausschließlich auf narrative Texte des 19. Jahrhunderts beziehen möchte, da die erzählende Literatur, so die Ausgangsüberlegung, spätestens seit dem 17. Jahrhundert das repräsentiert, was in der Medizin mit ‚Ganzheitlichkeit‘ umschrieben wird, nämlich schlicht und einfach Personen, häufig im Kontext krisenhafter Konfliktsituationen, unter Einbezug ihres biografischen Backgrounds sowie ihres psychosozialen Milieus. Das bedeutet, dass die Literatur auch schon vor der Romantik pathologische Szenarien entworfen hat, die in einen ganzheitlichen, nachgerade anthropologischen Rahmen gebettet sind. Ein hervorragendes Beispiel dafür wäre La Princesse de Clèves von Madame de La Fayette, jenes frühe Meisterwerk des psychologischen Romans, in dem gesellschaftliche Konflikte, amouröse Verstrickungen und biografische Unwägbarkeiten zusehends gipfeln in einem pathologischen Drama des Verzichts, an dessen Ende der zeitlich versetzte Tod der Liebenden steht, den man aus heutiger Sicht durchaus als psychogenetisch bzw. als Produkt eines genuin psychosomatischen Krankheitsverlaufs betrachten kann. Beginnen möchte ich jedoch – was naheliegend erscheint – mit der romantischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts: Zumindest in der frühen französischen Romantik herrscht allgemein eine Stimmung, die mit Fug und Recht als pathologisch eingeschätzt werden darf. In Benjamin Constants
23 Engelhardt: „Die romantischen Mediziner“, a.a.O., S. 118. 24 Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 289. 25 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 276-325.
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Novelle Adolphe leidet der titelgebende Protagonist an einem quälenden Zustand, den man als chronische Willensschwäche bezeichnen würde, im medizinischen Diskurs Abulie genannt. Nachdem er die sehr viel ältere, verheiratete Eléonore erobert hat, möchte er sich ihrer schnellstmöglich wieder entledigen, kann sich jedoch nicht dazu durchringen, sie zu verlassen. Über Seiten hinweg wird sein innerer Konflikt mit aussagekräftigen Bildern geschildert, der Plot verläuft dementsprechend beinahe ohne Höhen und Tiefen und vor allem ohne Spannung. Constant lässt es nicht aus, den Leser über die Ursachen für Adolphes Abulie zu informieren. Die antiautoritäre, väterliche Laisser-faire-Erziehung ist es, die Adolphe zu einem entscheidungsunfähigen jungen Mann heranwachsen lässt. Im Ganzen betrachtet entpuppt sich der Roman folglich nicht nur als Psychogramm eines am Mal du Siècle leidenden Jünglings, sondern als Pathogramm mit tödlichen Folgen: Eléonore stirbt an gebrochenem Herzen, d.h. sie bezahlt für ihren Ehebruch mit dem Tod. Tragisch endet auch Chateaubriands Erzählung René, die uns einen ähnlich schwermütigen, am Leben leidenden Jüngling präsentiert, den eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester verbindet.26 Abermals ist es nicht der melancholische Protagonist, sondern die sündige Schwester, die trotz Eintritt in das Klosterleben ihren Fehltritt mit dem Leben bezahlen muss. Bei Adolphe wiederum darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Erzählung aus der Feder des Revolutionskritikers Constant stammt, d.h. auf einer übergeordneten gesellschaftlichen Ebene handelt es sich bei diesem quälenden Text um eine Auseinandersetzung mit einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff, dessen Botschaft darin liegt: Wenn alles frei entscheidbar und möglich ist, scheitert der Mensch an genau diesem Übermaß an Freiheit.27 Diese beiden Beispiele machen deutlich, dass psychische und psychosomatische Krankheitsbilder wie Melancholie und Abulie den Geschichten ihren morbiden Charme verleihen, lange bevor die Medizin dafür ihre eigenen Erklärungsversuche und Hilfskonstruktionen liefert. In Spanien tauchen diese Krankheitsbilder vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts auf, namentlich in den Werken der Generación del ’98, wo Abulie und Melancholie dazu dienen, den von „Identitätskrise, Orientierungslosigkeit und Stagnationserfahrung“28 geprägten Zeitgeist des Fin de siècle auf patho-
26 Vgl. zum Inzest-Motiv in der Romantik: Mahlendorf, Ursula: „Die Psychologie der Romantik“, in: Helmut Schanze (Hg.), Romantik-Handbuch, Stuttgart 22003, S. 592-606; hier S. 594: „Die ganze Romantik hindurch bleibt die Erotisierung intrafamiliärer Beziehungen und damit die gesellschaftskritische Rolle der Psychologie und psychologischen Darstellungsweise erhalten.“ 27 Vgl. dazu Verf.: „Von der Generation zur De-Generation: Jugend zwischen Pathologisierung und Idealisierung“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 35 (2009), S. 329-346. 28 Schmelzer, Dagmar: „José Martínez Ruiz [Azorín], La voluntad“, in: Ralf Junkerjürgen (Hg.), Spanische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen, Berlin 2009, S. 11-30, S. 12.
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logische Weise zu illustrieren, vor allem in Auseinandersetzung mit der nationalen Depression nach der Niederlage des Spanisch-Amerikanischen Krieges. Als herausragendes Beispiel wäre Azoríns autobiografischer Roman La voluntad (1902) zu nennen, bei dem es sich, darin Constants Adolphe ähnlich, um ein Musterbeispiel für die literarische Darstellung einer chronischen Abulie handelt, die pars pro toto das Psychogramm einer ganzen Generation illustriert.29 Interessant ist hier zu beobachten, dass in den Texten dieser Zeit zahlreiche, teils affirmative, teils dekonstruktive Auseinandersetzungen mit der europäischen Romantik vollzogen werden. Im Übergang von der Romantik zum sog. Realismus nimmt in Frankreich bekanntlich Balzac eine Schlüsselstellung ein. Vor allem jedoch seine Romane und Novellen aus den frühen 1830er Jahren sind noch sehr viel stärker der Romantik verpflichtet als seine großen Romane der Folgezeit, die zu den kanonischen Meisterwerken des Realismus gezählt werden. Exemplarisch seien die Werke La Peau de chagrin und Louis Lambert sowie die Novelle Adieu genannt, die sich nach meinem Dafürhalten vorzüglich in das psychiatrische Paradigma der ersten Jahrhunderthälfte einfügen. Von Engelhardt erwähnt explizit in seiner Darstellung der romantischen Medizin den unmittelbaren Einfluss u.a. auf die frühen Werke Balzacs.30 Adieu führt avant la lettre den klassischen Fall eines „shell shock“-Syndroms, d.h. einer posttraumatischen Belastungsstörung, vor und vor allem dessen misslungene Konfrontationstherapie; das sperrige und mühsam zu lesende Stück Louis Lambert erzählt die Geschichte eines „genialen Gehirns“31, das immer mehr dem Wahnsinn anheimfällt auf der Suche nach Antworten zur Frage nach dem Verhältnis von Geist und Körper – der Wahn Louis’ als Folge der „lutte que se livraient dans cette belle âme ces deux grands principes, le spiritualisme, le matérialisme, autour desquels ont tourné tant de beaux génies; sans qu’aucun d’eux ait osé les fondre en un seul.“32 Als medizinische Grundlage dient an mehreren Stellen Mesmers Lehre vom animalischen Magnetismus und darauf aufbauend die Theorie des Fluidums, dessen elektrische Spannungen im Normalfall das Gleichgewicht der Seelentätigkeit regulieren. La Peau de chagrin schließlich liefert in bester romantischer Manier die weitaus spannendere Erzählung eines aristokratischen, restlos verschuldeten Spätlings, der aufgrund eines mysteriösen Talismans in die Lage kommt, dass jeder seiner Wünsche erfüllt wird, während antiproportional seine Lebenskraft schwindet. Eingebettet in ein phantastisches faustisches Narrativ ist die Geschichte von Raphaël de Valentin die literarische, nachgerade allegorische Anverwandlung des romantischen Medizindiskurses.
29 Vgl. ebd., S. 17-19. 30 Vgl. Engelhardt: „Die romantischen Mediziner“, a.a.O., S. 117. 31 Vgl. Hagner, Michael: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2005. 32 Balzac: „Louis Lambert“, in: ders.: Louis Lambert. Les Proscrits. Jésus Christ en Flandre, hg. von S. de Sacy, Paris 1968, S. 23-178; hier S. 95.
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Durch Spielsucht in den Ruin getrieben, gibt sich der Jüngling suizidalen Plänen hin. Eine vorläufige Besserung der Lebenssituation führt zu erneuten Ausschweifungen, die wiederum eine galoppierende Schwindsucht verursachen, die schließlich zum Tode führt. So in etwa könnte man La Peau de chagrin ohne phantastisches Beiwerk medizinisch bzw. pathogenetisch nacherzählen. Marc Föcking merkt in diesem Zusammenhang an, dass man die Auswirkungen des faustischen Pakts auch auf durchaus realistische Weise lesen kann, eben als typische Pathografie eines schwindsüchtigen Jünglings. Föcking schreibt: „‚Romantisch‘ oder besser: ‚nicht-realistisch‘ ist der allegorische Darstellungsmodus, nicht aber dessen Gehalt.“33 Durch die Darstellung der Ursachen – sündhafte Ausschweifungen, Spielsucht, Teufelspakt – sind die Parallelen zum Sünden- und Schuldverständnis sowie zum ganzheitlichen Personen-Konzept der romantischen Psychiatrie mehr als deutlich, der Fokus auf den Lebensenergiehaushalt des Protagonisten wiederum lässt die Nähe zu vitalistischen Medizintheorien des frühen 18. Jahrhunderts aufscheinen, auf die sich interessanterweise auch die psychosomatisch argumentierenden Romantiker, insbesondere Heinroth, immer wieder beziehen. Stellvertretend sei hier Georg Ernst Stahl genannt, dessen lateinische Schriften auch in Frankreich stark rezipiert wurden. Stahl hatte sich u.a. mit Leibnitz heftige Kontroversen geliefert „über das Problem des Zusammenhangs von Körper und Seele“34 – für diesen ein vom Körper ausgehendes mechanistisches Problem, für jenen ein vom Geist dominiertes, d.h. psychosomatisches Animismuskonzept. Der Konflikt erinnert im Tenor stark an die bereits erwähnte, rund 100 Jahre später stattfindende Auseinandersetzung zwischen Psychikern und Somatikern. Um auf Balzac zurückzukommen, erscheint es als Kuriosum, dass sowohl Louis Lambert aus der gleichnamigen Novelle als auch Raphaël de Valentin aus La Peau de chagrin an einem Lebensprojekt scheitern, das im Verfassen einer philosophischen Abhandlung mit dem Titel Traité de la Volonté besteht. Darin wird in Form einer Mise-en-abyme das Leib-Seele-Problem verhandelt, was ihre Verfasser bezeichnenderweise in den Tod oder Wahnsinn reißt. Es verwundert kaum, dass Balzac selbst diese Kategorie der ‚Études philosophiques‘ seiner Comédie humaine nach dem Verfassen von La Peau de chagrin schließt, um sich in der Folge anderen, lebensnäheren, mithin also ‚realistischen‘ Themen auseinanderzusetzen; mit der stetigen Ausdifferenzierung seiner Milieu-Theorie verlagert Balzac zudem sein figurales Typen-Konzept
33 Föcking, Marc: Pathologia litteralis: Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 114; vgl. zur Wissenskonfiguration in La Peau de chagrin auch: Link-Heer, Ursula/Link, Jürgen: „Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S. 88-99, bes.: S. 95f. 34 Vgl. Bauer, Axel: „Georg Ernst Stahl (1659-1734)“, in: von Engelhardt /Hartmann (Hg.), Klassiker der Medizin, Bd. I: Von Hippokrates bis Hufeland, München 1991, S. 190-201; hier S. 200.
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von einer intrapsychischen auf eine psychosoziale Ebene oder anders ausgedrückt: der Psychologe wird zum Soziologen. Wenn es für die psychiatrische Wissenschaft auch grosso modo Gültigkeit besitzen mag, dass die psychogenetisch argumentierende romantische Medizin in der zweiten Jahrhundertwende von der Bildfläche verschwindet, bleibt doch für die Literatur zu beobachten, dass dort ein solcher Paradigmenwechsel nicht in diesem Maße stattfindet. Mit Ausnahme des Naturalismus, der den biologistisch-naturwissenschaftlichen Turn der Psychiatrie mitvollzieht, d.h. den starken Einfluss des Darwinismus, der Vererbungslehre eines Prosper Lucas’ und den daran anknüpfenden Degenerationstheorien Morels zu fiktionaler Blüte verhilft, findet andernorts diese Abkehr von der Romantik eher in Form einer kritisch-interaktiven Demontage derselben statt. Leitfiguren dieser Tendenz sind in Frankreich bekanntermaßen Flaubert und Baudelaire, in Spanien reiht sich Clarín in diese Gruppe ein.35 Beginnen möchte ich mit Flauberts unvollendetem Spätwerk Bouvard et Pécuchet, jenem kompilatorischen „Epos des Trivialen“36, in dem Flaubert katalogartig nahezu sämtliche Wissensbestände des 19. Jahrhunderts und vor allem den von ihnen ausgelösten Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus der Lächerlichkeit preisgibt. Jedes Kapitel dieses szientistischen Schelmenromans führt in nahezu gleichförmiger, bewusst spannungsfreier Struktur ein bis zwei Wissenschaftszweige vor. Der Medizinersohn Flaubert, der seine Kindheit bekanntlich zu großen Teilen beobachtend im Roueneser Stadtkrankenhaus verbrachte, wo sein Vater als Chefarzt tätig war, widmet der Medizin in seiner enzyklopädischen Abrechnung kein vollständiges Einzelkapitel, sondern verhandelt sie im dritten Kapitel zusammen mit den Naturwissenschaften Chemie, Biologie und Geologie sowie im achten Kapitel zusammen mit Gymnastik und Philosophie. Interessant – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund seines Gesamtwerkes – erscheint dort weniger, was wie über die Medizin gesagt wird, sondern vielmehr das, was ausgespart bleibt. Angesichts des zunehmend breiter werdenden Raums, den der psychiatrische bzw. neurologische Diskurs im wissenschaftlichen Gefüge der Medizin des 19. Jahrhunderts einnimmt, nimmt es Wunder, dass Flaubert darauf in seiner Wissenschaftssatire kaum eingeht. Im Gewimmel der kompilierten Interdiskurse, das einem rein positivistischen und additiven Name Dropping gleicht, findet sich lediglich eine sehr komische Episode, die den Mesmer’schen und Puységur’schen Magnetismus aufs Korn nimmt.
35 Vgl. zur Rolle der Romantik als intertextuelle Folie in Claríns La Regenta: Wolfzettel, Friedrich: Der spanische Roman von der Aufklärung bis zur frühen Moderne, Tübingen/Basel 1999, S. 303-309. 36 Vgl. Tschilschke, Christian von: Epen des Trivialen. N.V. Gogols ‚Die toten Seelen‘ und G. Flauberts ‚Bouvard et Pécuchet‘. Ein struktureller und thematischer Vergleich, Heidelberg 1996.
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Darin kurieren Bouvard und Pécuchet zunächst eine „vache désespérée“37 von einer bedrohlichen Verstopfung, was sie dazu ermuntert, dieselbe Methode des – nun im buchstäblichen Sinne – animalischen Magnetismus an einer Gruppe von Kranken aller Art auszuprobieren und sie im Rahmen einer Kollektivbehandlung zu heilen, wie es tatsächlich vom Marquis de Puységur in ähnlicher Weise praktiziert wurde. Medium der Behandlung bei Flaubert ist ein magnetisierter Birnbaum, der erhoffte Erfolg bleibt jedoch aus. Fazit wäre demnach: Die verstopfte Kuh, ikonischer Inbegriff provinzieller bêtise bei Flaubert, wird geheilt, während die Heilung beim Menschen ausbleibt. Das von Mesmer und Puységur für das Gleichgewicht von Leib und Seele als so maßgeblich erkannte Fluidum wird bei Flaubert zum Fluidum ganz anderer Art, nämlich zum gelblichen Durchfall einer Kuh, der den umherstehenden Provinzlern ins Gesicht spritzt. Die Königsdisziplin der praktischen Humanwissenschaften könnte bissiger kaum parodiert werden, allerdings ist hier der Fokus entscheidend: Ähnlich Balzac setzt sich Flaubert mit präromantischer Pseudomedizin, d.h. dem Mesmerismus und dem Glauben daran, auseinander, anders als Balzac entlarvt Flaubert ihn als solche. Auf wissenschaftliche Weiterentwicklungen jenes – laut Henri Ellenberger – wichtigen Vorläufers der dynamischen Psychiatrie geht Flaubert jedoch nicht ein – zumindest in Bouvard et Pécuchet. In seinem Spätwerk sind es die rein empirisch-positivistische, streng am Soma orientierte Medizin einerseits sowie die präromantische, rein spekulative, in der Nähe zum Spiritismus stehende Pseudomedizin andererseits, die Flaubert in den Händen seiner deux bonhommes als Irrwege des medizinischen Fortschritts enttarnt. Erkenntnisse und Methoden des ‚Dazwischen‘, d.h. an der Schnittstelle von Leib und Seele stehende Wissenschaftskonzepte, sind nicht in Bouvard et Pécuchet zu suchen, sehr wohl aber im restlichen Œuvre Flauberts. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang freilich auf Madame Bovary verwiesen, deren tragischer Werdegang bis ins Detail nachgezeichnet wird zu einem Gesamtbild genuin psychosomatischer Pathogenese. Provinzielles Umfeld mitsamt der einengenden, bürgerlichen Moral – „mœurs de province“! – sowie die klösterliche Erziehung sind in der Anamnese der Protagonistin verantwortlich zu machen für diverse ‚crises nerveuses‘, Fieberattacken, anorektische Tendenzen und schließlich suizidale Selbstopferung. Die topografische sowie geistige Keimzelle des sich sukzessive entwickelnden literarisch deformierten Bewusstseins ist bezeichnenderweise das isolierte Klosterleben, was in der Konsequenz bedeutet, dass Kirche und Religion bei Flaubert als Herd psychosomatischer Erkrankungen betrachtet werden, was zumindest im Rahmen der Ursachenforschung den Konzepten der romantischen Psychiatrie zuwiderläuft. Dort wird die kirchliche Seelsorge, als eine die psychiatrische Therapie begleitende Methode, durch und durch positiv bewertet, da nur die Kirche dazu autorisiert ist, die Sünde, die zur Erkran-
37 Flaubert, Gustave: Bouvard et Pécuchet, hg. von Claudine Gothot-Mersch, Paris 1979, S. 283.
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kung der Seele führt, zu tilgen. Flaubert übt insofern Kritik an der Autorität von Kirche und Medizin, indem er zum einen den seelsorgerischen Fähigkeiten von Ärzten und Priestern in seinem Ehebruchsroman jegliche Empathie abspricht und er darüber hinaus die isolierende kirchliche Erziehung als krankheitsfördernd diagnostiziert. D.h. Flaubert teilt die Ansichten der romantischen Medizin über die Mechanismen psychosomatischer Pathogenese, verwirft jedoch das Sündhafte als Ursache und die christliche Seelsorge als Therapieform – man könnte daher sagen, dass mit Flauberts Auseinandersetzung mit der romantischen Medizin die Säkularisierung der Psychosomatik ihren Ausgang nimmt – in der Psychiatrie hingegen beginnt dieser Erkenntnisprozess erst einige Jahrzehnte später. Dem spanischen Autor Clarín wurde häufig, insbesondere im Hinblick auf sein Opus magnum La Regenta (1884-85), eine auffällige Nähe zu Flaubert nachgesagt, die sogar in Plagiatsvorwürfen gipfelte: Zu dicht sei die Ehebruchsgeschichte um Ana Ozores angelegt an Flauberts Madame Bovary. Ursula Link-Heer hat mehrfach und plausibel auf die Unhaltbarkeit dieser Vorwürfe hingewiesen38 – auf die anthropologische Nähe und den Vorbildcharakter Flauberts aufmerksam zu machen, sei an dieser Stelle gleichwohl gestattet, zumal Clarín in seinem Romanwerk der Medizin ähnlich großen Raum beimisst wie sein französischer Vorgänger und zumal auch dort eklatante Affinitäten zu beobachten sind, speziell im Zusammenhang psychosomatischer Fragestellungen. Auch wenn es daher allzu verlockend erscheint, sich im gegebenen Zusammenhang abermals mit La Regenta auseinanderzusetzen und diesen Klassiker des spanischen Romans zu befragen nach seiner wissenschaftlichen Verortung im medizinischen Fundus des 19. Jahrhunderts, so möchte ich mich stattdessen Claríns zweitem vollendeten Roman, Su único hijo (1890), widmen. Das aus zwei Gründen: Zum einen scheint der psychiatrische Code in La Regenta durch die Literaturwissenschaft weitestgehend entschlüsselt, selbst wenn z.B. immer noch Uneinigkeit darüber herrscht, ob die Hysterie der Protagonistin eher physiologisch oder psychosomatischen Ursprungs sei39; zum anderen aber scheint mir die interdiskursive Einbettung der Medizin in Claríns zweitem Roman raffinierter gestaltet als in der Regenta. Wie dort zeichnet Clarín auch in seinem zweiten Roman
38 Vgl. Link-Heer, Ursula: „Leopoldo Alas (‚Clarín‘), La Regenta”, in: Volker Roloff (Hg.), Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1986, S. 247-269; vgl. dies.: „Pastiche und Realismus bei Clarín“, in: Wolfgang Matzat (Hg.), Peripherie und Dialogizität. Untersuchungen zum realistisch-naturalistischen Roman in Spanien, Tübingen 1995, S. 157-181. 39 Vgl. für den psychosomatischen Ansatz stellvertretend: ebd. sowie Wolfzettel: Der spanische Roman von der Aufklärung bis zur frühen Moderne, S. 303 und Junkerjürgen, Ralf: „Leopoldo Alas ‚Clarín‘, La Regenta (1884/85)“, in: ders. (Hg.), Klassische Romane Europas in Einzeldarstellungen, Hamburg 2007, S. 8598; hier S. 91ff.
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ein ironisch überzeichnetes Porträt der spanischen Provinzgesellschaft des 19. Jahrhunderts. Der Protagonist Bonficacio Reyes, ein willensschwacher romantischer Träumer mit einer großen Vorliebe für italienische Musik, ist verheiratet mit der launischen, herrischen und hysterischen Emma Valcárel, die wiederum Liebe für nichts und niemanden empfindet. Ihre kinderlose Ehe ist eine Arena des Kampfes, in welcher der Mann der deutlich Unterlegene ist, bis eines Tages eine Operngruppe in der Kleinstadt gastiert. Bonifacio verliebt sich in die „Diva“ der Gruppe, die Gorghetti, betrügt mit ihr seine Frau, während Emma, wie ausgewechselt, für den Bariton Minghetti schwärmt. Durch die Musik erotisch aufgeheizt, verbringen Emma und ihr Ehemann eine Liebesnacht miteinander – kurze Zeit später ist die nicht mehr ganz junge Emma schwanger. Damit scheint sich Bonifacios großer und einziger Lebenstraum zu erfüllen, nämlich Vater eines Sohnes zu werden und tatsächlich gebärt Emma am Ende des Romans diesen Sohn. Wie in La Regenta versieht Clarín seine – diesmal männliche – Passionsgeschichte mit einer besonders maliziösen Schlusspointe, denn es stellt sich ganz am Ende heraus, dass der „único hijo“ keineswegs von Bonifacio stammt, sondern die Frucht ist von Emmas Seitensprung mit Minghetti. Wenn ich eben sagte, dass Emma als hysterisch beschrieben werden kann, bedeutet das nicht, dass ihr Psychogramm in irgendeiner Weise mit dem von Ana Ozores vergleichbar wäre, was schon allein an der unterschiedlichen Narrativierung der pathologischen Bewusstseinszustände ablesbar ist. In La Regenta versäumt es Clarín nicht, ausführlich die Vorgeschichte der Protagonistin zu erzählen. Hier ist besonders ein Ereignis zu erwähnen, nämlich die „Bootepisode“, die sich in ihrem Leben als absolut prägendes Erlebnis erweisen wird: Die jugendliche Ana wird in ihrer Jugend verdächtigt, nachts auf einem Boot Sex mit ihrem Jugendfreund gehabt zu haben; ihr ganzes Umfeld tyrannisiert sie in der Folge, die Wahrheit findet nirgends Gehör. Clarín lädt diese Episode derart dramatisch auf, dass man als Leser nicht umhin kommt, darin ein traumatisches Kindheitserlebnis zu wittern, das bis ins Erwachsenenalter ausstrahlt und somit auch verantwortlich zu machen ist für die hysterisch bedingten somatischen Ausfallerscheinungen der Protagonistin. Interessant ist, dass Clarín hier in gewisser Weise mit der Ursünde spielt, dem Verlust der Unschuld, der jedoch Ana lediglich von der Gesellschaft unterstellt wird – eine Insinuierung mit durchaus pathologischen Folgen. Heinroths Sünden-Konzept wird dadurch gleichsam à rebours zur Diskussion gestellt – spätestens jedoch mit der Figur des Don Fermin, dem kirchlichen Seelsorger, der Anas Schuldgefühle für seine amourösen Ziele auszunutzen versucht, kritisch und lustvoll desavouiert. Des Weiteren schildert Clarín, darin wieder Flaubert ähnlich, die exzessiven Lektüren Anas, die ebenfalls an ihrer Pathogenese mitwirken – zuletzt sei noch die sexuelle Frustration zu nennen, die sie an der Seite ihres impoten-
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ten Ehemanns durchleidet.40 Damit erfährt das Leid der Präsidentin eine narrative Ausgestaltung, die durch das psychosomatische Krankheitsmodell hergestellt wird; ihre Passionsgeschichte wird solcherart zur präfreudianischen Krankengeschichte. Ganz anders Emma Valcárel in Su único hijo: Hier verzichtet Clarín bei der Figurenmodellierung nahezu vollkommen auf biografische Rückblicke, d.h. seine Protagonisten werden im Hier und Jetzt dargestellt. In Bezug auf Emmas vermeintliche Hysterie bedeutet das, dass die Vergangenheit hier kaum ein Rolle spielt, wie auch Noël Maureen Valis weiß: „Alas makes no attempt to propose the past as a key to Emma’s neurotic condition.“41 Emma benutzt vielmehr ihr hysterisches Talent, um ihren willensschwachen Gatten auf sadistische Weise zu geißeln, d.h. Clarín setzt bei seiner abermaligen Darstellung weiblicher Hysterie weniger auf medizinische Implikationen als auf das theatralisch-inszenatorische Potenzial dieser Störung, das spätestens seit Charcots Hysterieforschungen in den 1870er und 1880er Jahren in ganz Europa wohlbekannt ist. Sowohl Edward Shorter42 als auch Georges Didi-Huberman43 heben in ihren Studien über Charcot deutlich hervor, dass gerade das pathetisch-theatralische Erscheinungsbild der Hysterie mitunter dazu einlud, die Patientinnen in Charcots ‚photographischer Klinik‘ dazu zu animieren, eine grande hystérie mitsamt ihren von Charcot als typisch beobachteten vier Phasen lediglich zu performen, um dem Star der Pariser Medizin-Szene in seinem wissenschaftlichen Erfolg zu bestätigen oder aber ihren Durst nach fürsorglicher Aufmerksamkeit zu stillen. Shorter merkt dazu an: „Charcots Geschichte führt das enorme Potenzial des Arztes vor Augen, Symptome zu kreieren und zu modellieren, die seine Patienten dann durchleben und durchleiden.“44 Clarín seinerseits ironisiert diese ambivalente Beobachtung, indem er aus seiner Protagonistin eine hypochondrische Furie macht, die ihrem verachteten Ehemann das Leben zur Hölle macht. Damit nutzt Clarín zwar abermals das psychosomatische Modell, um seine Narration auszugestalten, aber er tut es nun auf subversive Weise. Symptomatisch dafür ist das zehnte Kapitel, das im Hinblick auf Emmas Wesen den Wendepunkt des Romans markiert und in der Liebesnacht mit ihrem verdutzten Gatten endet. Wie schon unzählige Male zuvor schickt Emma zunächst nach ihrem Mann, damit er für sie einen Arzt konsultiere. Doch Bonifacio, gebranntes Kind, gibt sich skeptisch:
40 Vgl. dazu Junkerjürgen: „Leopoldo Alas ‚Clarín‘, La Regenta (1884/85)“, a.a.O., S. 96. 41 Valis, Noël Maureen: The Decadent Vision in Leopoldo Alas. A Study of La Regenta and Su único hijo, Baton Rouge/London 1981, S. 141. 42 Shorter: Moderne Leiden, S. 285ff. 43 Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997, S. 16f. 44 Shorter: Moderne Leiden, S. 285.
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„No se le pasó por las mientes que se pudiera necesitar al médico para curar algún mal; la experiencia le había hecho escéptico en este punto; ya suponía él que su mujer no estaba enferma; pero Dios sabía qué capricho era aquél, para qué se quería al médico a tales horas y cuál sería el daño, casi seguro, que a él, a Reyes, le había de caer encima a consecuencia de la nueve e improvisada y matutina diablura de su mujer.“45
Emma wählt aus ihrem „ministerio de doctores“, ihren Lieblingsarzt Don Basilio Aguado aus, seines Zeichens „especialista en enfermedades de la matriz, y en histérico, flato y aprensiones, total flato.“46 Aguado bezeichnet sich selbst als Vitalist und Spiritualist, konzediert jedoch, dass diese Form der Wissenschaft gerade nicht „la moda reinante“ sei. „Espiritualista“ und „vitalista“ sind deutliche Bezüge auf die romantische Medizin des beginnenden 19. Jahrhunderts, was sogar den medizininteressierten Romantiker Bonifacio dazu ermuntert, sich einzugestehen, dass auch er Spiritualist sei „¡a buena parte!”47 Aguado, der Emmas dämonisches Spiel nicht durchschaut, lässt sich sodann aus über das Wesen der Hysterie: „El histerismo es un Proteo. [...] El mal está en el espíritu, y el espíritu no se cura con pócimas.“ Darauf Emma: „¿Pero no dice usted que esto histérico?“, worauf der Arzt wiederum entgegnet: „Sí señora; pero hay relaciones misteriosas entre el alma y el cuerpo.“48 Diese ‚merkwürdigen Beziehungen zwischen Seele und Körper‘ umschreiben Aguados psychosomatisches Konzept, er verordnet Emma Vergnügungen, frische Luft und ‚viel Fleisch auf englische Art‘. Emma vermisst zunächst verärgert das Verschreiben von Medikamenten, lässt sich jedoch schließlich auf die Therapie ein und im Hause Reyes-Valcárel vollzieht sich nichts weniger als eine „revolución“49, deren erste Auswirkungen in Emmas vampiresker Vergewaltigung ihres Gatten, später im Seitensprung mit Minghetti besteht und schließlich gipfeln in der eigenen Schwangerschaft sowie der Geburt ihres einzigen Sohnes. Ich möchte die Beurteilung dieser Szene einbetten in meine abschließenden Schlussbetrachtungen. Die Psychosomatik, die uns heute als selbstverständlich erscheint, obwohl sie in der Medizin weiterhin nicht unumstritten ist, hat seit ihren Ursprüngen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wechselhafte Karriere hingelegt. Es ist nicht zufällig, dass ausgerechnet die Medizin der Romantik das psychosomatische Modell für sich entdeckt hat. Kategorien wie universelle Ganzheitlichkeit, einheitliche Subjektwerdung sowie ein gottgefälliges Leben zum Zwecke geistiger und körperlicher Gesundheit fügen sich ein in das anthropologische Gedankengut der Romantik. Was aber bedeutet das aus einer nun literaturwissenschaftlichen, weniger medizinhis-
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Alas, Leopoldo „Clarín“: Su único hijo, Madrid 1996, S. 109. Ebd., S. 112. Ebd., S. 115. Ebd., S. 115f. Ebd., S. 116.
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torischen Sicht? Meine thesenhafte Schlussfolgerung lautet, dass die Medizin mit der Hinwendung zum psychosomatischen Prinzip damit beginnt, Geschichten zu erzählen oder anders formuliert: Die Psychosomatik tritt auf als medizinisches Narrationsmuster. Indem nämlich erstmalig nicht mehr nur der Symptompool des Patienten gesichtet, d.h. der somatologische Katalog bei der Diagnose von Krankheiten konsultiert wird, sondern in Form von Ursachenforschung und Ermittlung von Erklärungen in der Psyche bzw. der Biografie der Kranken gesucht wird, ist der Patient plötzlich nicht mehr nur der passive Träger einer Krankheit, sondern ein Subjekt mit Geschichte bzw. Geschichten; Heinroth würde sagen: eine „Person“. Heinroths protestantisch infiltriertes Konzept der Sünde als Ursprung von Krankheiten ist nichts anderes als eine rein spekulative und damit narrationsgenerierende Form der Pathografie – die Medizin als ars conjucturalis. Es verwundert daher kaum, dass das psychosomatische Paradigma im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts untergehen musste im Zeichen des naturwissenschaftlichen Fortschritts, dessen Basis eher durch Positivismus als durch Narration gekennzeichnet ist. Die Literatur war den Medizinern ohnehin eher ein Dorn im Auge, da übermäßiger Genuss einen schlechten Einfluss auf die Gesundheit des Menschen haben konnte und jegliche Form von Fiktionalität ohnehin als Gegenmodell zur angestrebten Wissenschaftlichkeit aufgefasst wurde. Erst mit der Hinwendung zum „psychischen Paradigma“50 Ende des 19. Jahrhunderts und spätestens mit der Psychoanalyse wurde die Medizin wieder zur Narrationsmaschine – auch der Rekurs in wissenschaftlichen Werken auf literarische Pathografien war nun keineswegs mehr verpönt, wie z.B. Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) beweist oder Freuds mythologisch, mithin literarisch fundierte Psychodynamik. In der Literatur des 19. Jahrhunderts sieht das, wie ich zu zeigen versucht habe, anders aus. Sämtliche Strömungen von der Romantik bis zur Décadence offenbaren keinerlei Berührungsängste mit der Medizin – im Gegenteil: Der medizinische Interdiskurs wird im 19. Jahrhundert erstmalig zum integrativen Bestandteil der Literatur und das durch alle Gattungen hindurch. Die krisenhaften Erzählungen krankheitsgeplagter Protagonisten häufen sich – oftmals dienen die Geschichten als Vehikel metonymischer Gesellschaftskritik, so bei Constant, Flaubert, Clarín und Azorín, manchmal aber sind sie auch nur der Faszination für die Nachtseiten des Lebens geschuldet, wie z.B. bei Hoffmann und Poe. Interessant zu beobachten ist hier, dass in nahezu sämtlichen Texten dieser Art das psychosomatische Modell scheinbar unhinterfragt das vorherrschende Paradigma darstellt. Ob Adolphe, Emma Bovary, Ana Ozores oder Raphaël de Valentin – sämtliche Passionsgeschichten nehmen ihren Ursprung in psychischer Versehrtheit. Es darf davon ausgegangen werden, dass diese Form der psychosomatischen Krankenerzählung deshalb so beliebt wird, da sie das größte Narrationspo-
50 Vgl. zum Paradigmenwechsel in der Medizin: Shorter: Moderne Leiden, S. 393475.
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tenzial besitzt und daher auf vorzügliche Weise dazu geeignet ist, Wissenschaft mit Literatur in Einklang zu bringen, was bekanntlich im 19. Jahrhundert immer wichtiger wird. In Su único hijo, um darauf abschließend zurückzukommen, ist die Narrativierungsarbeit bereits so weit fortgeschritten, dass Clarín in seiner Darstellung des Psychosomatischen explizit eine reflexiv-kritische Metaebene einbauen kann: Seine Protagonistin setzt ihre Hypochondrie bewusst und strategisch ein, um ihrer Misanthropie zu frönen, um die Narration ihres eigenen sadistischen Kammerspiels voranzutreiben. Durch diese unverhohlene Ironisierung des psychogenetischen Diskurses nimmt Clarín bereits die spätere Kritik an der Psychoanalyse vorweg, bevor diese überhaupt in der Medizin etabliert ist. Es sind daher in Literatur und Medizin eklatante Ungleichzeitigkeiten zu beobachten in ihrem Umgang mit dem psychosomatischen Krankheitsmodell. Eines aber ist beiden gemein: Sie behandeln die Psychosomatik als genuines Narrationsmuster krisenhafter Prozesse im Leben des Menschen. In den folgenden Werken der Spätmoderne, so etwa bei Proust, Musil, Thomas Mann oder Virginia Woolf wird der Dialog von Medizin und Literatur weitergeschrieben, indem das psychogenetische Leiden schließlich zur Chiffre umcodiert wird für künstlerische Kreativität.
Die Koinzidenz familiärer und körperlicher Krisen in Patrice Chéreaus SON FRÈRE T HERESA V ÖGLE
Mit INTIMACY (INTIMITÉ) hat der französische Schauspieler, Film-, Theater-, und Opernregisseur Patrice Chéreau im Jahr 2000 einen Film über das Begehren gedreht. Dieser handelt von Jay (Jack Rylance) und Claire (Kerry Fox), einem Paar, das sich einmal in der Woche, ohne etwas voneinander zu wissen, zu wortlosem Sex verabredet. Ob es sich dabei um Liebe handelt, reine Definitionssache. Scheitern lässt Chéreau diese ungewöhnliche Beziehung als Jay beginnt, sich für Claires Leben zu interessieren, ihr bis in ihre Wohnung nachgeht, erfährt, dass sie Mann und Kind hat und ihr daraufhin eine Szene macht.1 Indes unvergessen bleibt dem Zuschauer die radikale Zurschaustellung von Körperteilen, die Nacktheit der Protagonisten, das rötlich gefleckte Fleisch der ineinander verkrallten Körper als Indikator existenzieller Grenzerfahrung. Inszeniert wird in Chéreaus Filmen der alles andere als ästhetische, mit Rötungen oder Spuren der Krankheit übersäte, sich buchstäblich in der Auflösung befindliche Körper. In dieser Denkfolge stellt auch Chéreaus Film SON FRÈRE (dt.: SEIN BRUDER) aus dem Jahr 2002 eine konsequente Weiterentwicklung dar, der sich am gleichnamigen Roman Philippe Bessons orientiert und 2003 in der Kategorie Beste Regie mit dem Silbernen Bären prämiert wird.2
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Vgl. zu INTIMITÉ auch Hülk, Walburga: „Intimate Strangers: Vom Pathos des anderen Schauplatzes. Zu Patrice Chéreaus Film Intimacy/intimité“, in: Michael Lommel/Isabel Maurer-Queipo/Nanette Rißler-Pipka (Hg.), Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004, S. 145-156, hier S. 146. Chéreau hält sich weitestgehend an die literarische Vorlage, fügt jedoch kleine Veränderungen (Namen der Protagonisten, Alter, Beruf, Krankheitsverlauf) ein. Doch sowohl im Roman als auch in der filmischen Adaption geht es in erster Linie immer um das Zusammenspiel von Nähe und Distanz im Umgang der beiden Brüder, die sich entzweien, erst durch Thomas’ Krankheit in der Krise wiederfinden und annähern.
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Von der Kamera in Großaufnahme gezeigte offene Wunden, Blut, Narben, Schweiß und ungeschönte Wahrheiten, wie eine zerrüttete Familie und eine todbringende Krankheit, all das ist Realität in SON FRÈRE. Auch in diesem Film kommt Chéreaus Vorliebe für Tabus und schwierige Beziehungen zum Tragen. Auch die fehlende oder misslungene Kommunikation, das Nichtaussprechen von Gefühlen, Ängsten und Wünschen dominiert in SON FRÈRE und wird kompensiert durch das stille Einverständnis zweier Brüder über Blicke, Berührungen und Beobachtung. Wie schon in INTIMITÉ stellt Patrice Chéreau auch in SON FRÈRE eine enge Beziehung zwischen Körper und Geist her, obgleich unter gänzlich anderen Prämissen: Zeigte ersterer die pure Auslebung sexueller Begierde, die Rötungen und Schweiß auf den Körpern hinterlässt, behandelt letzterer eine besonders schwierige Thematik, die von Chéreau einerseits mit viel Sensibilität auf der anderen Seite aber auch mit einem schonungslosen Realismus inszeniert wird: die unheilbare Krankheit eines Familienmitglieds sowie die zerrüttete Beziehung zweier Brüder, die in SON FRÈRE wiederbelebt wird. Doch die Distanz zwischen den Brüdern Luc (30) und Thomas (34) scheint unüberwindbar. Zehn Jahre der Funkstille, des Desinteresses, haben tiefe Wunden bei beiden hinterlassen. Nur allzu gern hätte Luc einen Bruder gehabt, wie er seinem Freund Vincent im Gespräch erklärt. Nach einer Pause, einem Moment des Innehaltens, konstatiert er: „Das ist er nicht“.3 Sehr deutlich wird in diesem Gespräch auch an den bestimmten Pausen, die Luc beim Sprechen macht, die Trauer und Enttäuschung über die ihm über die Jahre fehlende Geborgenheit, Vertrautheit seines geliebten Bruders, der ihn habe fallen lassen, in dem Moment, in dem er ihn am meisten gebraucht hätte. Doch plötzlich nach all den Jahren des Schweigens zerrt ihn Thomas wieder in sein Leben. Er leidet an einer seltenen und kaum erforschten Blutkrankheit, die er zwei Jahre zuvor schon einmal besiegt hat. Der Zuschauer wird demnach mit der tragischen Tatsache konfrontiert, dass die Krankheit bzw. die Krise, d.h. der Kulminationspunkt oder Wendepunkt einer Krankheit – „Die Krise tritt in Krankheiten immer dann auf, wenn die Krankheiten an Intensität zunehmen oder abklingen […].“4 – der einzige Grund ist, dass sich die zerstrittenen Brüder wiedersehen und schließlich einzig angesichts des bevorstehenden Todes in Verbindung mit der unheilbaren Krankheit des
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Patrice Chéreau: SON FRÈRE, Frankreich 2002 (00:32:52). Vgl. Hippokrates, zit. nach Goeze, Annika/Strobel, Korinna: „Krisenrhetorik“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10, Tübingen 1992, S. 511-530, hier S. 511; zur Etymologie von „Krise“ vgl. auch Vierhaus, Rudolf: „Zum Problem historischer Krisen“, in: Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse, München 1978, S. 313-329, hier S. 314. Koselleck, Reinhart: „Krise“, in: ders./Otto Brunner et al. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617-650. Vgl. hierzu im vorliegenden Band auch die Beiträge von Michael Krummacher und Walburga Hülk.
F AMILIÄRE UND
KÖRPERLICHE
K RISEN
IN
S ON FRÈRE | 265
einen, namentlich Thomas, ihre Zerwürfnisse der Vergangenheit hinter sich lassen ohne diese jemals aufgearbeitet zu haben. SON FRÈRE spielt auf zwei Zeitebenen, die die Entwicklung in der Bruderbeziehung dokumentieren. In der einen geht es um die Krankenhausaufenthalte Thomas’ in Paris, die einer kühlen Dokumentation des trostlosen klinischen Ambientes gleichen. Ein paar Monate später – es ist inzwischen Sommer – pflegt Luc seinen rekonvaleszenten Bruder in der Bretagne, was ein absolutes Gegenbild zum Klinikalltag darstellt, wo Thomas auf seine körperliche Hülle reduziert, zum Objekt degradiert wird, während Chéreau in den Strandszenen das große Einverständnis der Brüder festhält, die sich immer mehr annähern, und aus Lucs Blick immer mehr die wahren Gefühle, Liebe und Empathie für seinen älteren Bruder sprechen lässt, da er seine Zuneigung zu ihm peu à peu wieder neu entdeckt. Der Beginn des Films, das Setup, spiegelt die Gegenwart der beiden Brüder Luc (Eric Caravaca) und Thomas (Bruno Todeschini) Forestier wider und eröffnet in einer Totalen den Blick auf einen einsamen Strand vor der bretonischen Felsenküste (Abb.1). Dahinter öffnen sich die unendlichen Weiten des französischen Atlantik. An diesem so anheimelnden Ort haben die Forestiers eine stattliche Villa, von welcher aus man das Meer erblicken kann. Doch das vermeintliche Idyll trügt: Die Szene dokumentiert den letzten gemeinsamen Aufenthalt der Brüder in der Bretagne, wo Thomas an dem Ort, den er am meisten liebt, dem Meer, die ihm noch verbleibende Zeit genießt.
Der Topos des krisenhaften Körpers Bei Thomas wird die emotionale Erschütterung der Entfremdung von seiner Familie bzw. seinem Bruder Luc sinnbildlich durch eine seltene Blutkrankheit, namentlich durch den Verlust der Blutplättchen (Thrombozyten), einer sog. Thrombozytopathie, veranschaulicht5. In der Inszenierung der tödlichen Krankheit seines Protagonisten findet Chéreau eine Sprache der Leiblichkeit, indem er nie seinen Blick vom Elend abwendet, von Anfang an die
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Unter dem Stichwort „Das Ich ist vor allem ein körperliches“ entdeckt zwar Sigmund Freud bereits 1923 die Beziehung zwischen Psyche und physischem Befinden, d. h. die körperliche Repräsentanz jedes seelischen Ereignisses. Doch im medizinischen Sinne sind derartige Erkrankungen, d.h. Thrombozytopathien – nicht als psychosomatisch zu verstehen (diesen Hinweis verdanke ich Dr. Michael Krummacher). Vielmehr wählt Chéreau diese als Sinnbild für den Verlust der familiären Bindung. Vgl. zur Körper-Seele-Beziehung auch La Mettrie, Julien Offray de : LތHomme Machine. Die Maschine Mensch, Hamburg 1990, S. 28 und S. 42: „Dans les maladies, tantôt l’Ame s’éclipse et ne montre aucun signe d’elle-même […] Les divers Etats de l’Ame sont donc toujours corrélatifs à ceux du corps.“
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Versehrungen, die die Krankheit bei Thomas anrichtet, minutiös mit der Kamera in Groß- und Nahaufnahmen einfängt und so auf die Fragilität des menschlichen Körpers, seine Krisenanfälligkeit, verweist. Entsprechend lässt Chéreau bereits bei der ersten Begegnung der Brüder im Februar die Spuren der tödlichen Krankheit an Thomas’ Hautoberfläche in Form von roten Punkten zu Tage treten, was eine Detailaufnahme von Thomas’ Unterschenkel indiziert (Abb. 1). Der Mensch erscheint in SON FRÈRE auf sein Fleisch reduziert, die Behandlungen der Ärzte zeigen keinen Erfolg, doch die nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeit des Patienten, was Thomas in einer Filmszene sehr deutlich zum Ausdruck bringt: „Ist das zu viel verlangt, […] dass man etwas anderes ist als nur ein Stück Fleisch“.6 Diese Vorstellung des Maschinenbildes ist auch das vorherrschende Denkbild vom menschlichen Körper in der Moderne, das Chéreau in SON FRÈRE ostentativ angreift. Der Leidtragende ist Thomas, der nicht unters Messer und sich nicht ausschlachten lassen möchte.7 Die historischen und gesellschaftlichen Formationen haben den Körper mit Schichten versehen, diesen als männlich, weiblich, krank und gesund eingestuft und damit zu signifikanten Körpern gemacht, die in einem Gesellschaftskontext identifizierbar sind. Der Körper als Organismus wird demnach als etwas Hergestelltes behandelt. Thomas ist der Organisation seiner Körperfunktionen durch den Organismus ausgeliefert, die Dysfunktion desselbigen bewirkt seine Krankheit, so erläutert er Luc, der sich seinen Besuch zunächst nicht erklären kann: „Ich habe Probleme mit meinem Organismus [...]. Es war etwas in meinem Organismus, das die Blutplättchen zerstört hat.“8 Er übernimmt diese Formulierung von den Ärzten, die an einer wenig erforschten Blutkrankheit, Thrombozytopathie oder Thrombozytopenie, laborieren, in ihm ein fleischliches Objekt sehen, an dem sie ihre Experimente verrichten können, um seine Körperfunktionen wiederherzustellen. Sie nehmen den Patienten nicht als Person wahr, reduzieren ihn auf seinen kranken Körper. Thomas, der immer schwächer wird, muss die erniedrigenden Be-
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Chéreau: SON FRÈRE (00:39:23). René Descartes leitet diese Subjekt-Objektspaltung ein, macht die Kluft zwischen Körper und Geist auf, nach deren Verständnis der Körper eine menschliche Maschine ist und der kranke Mensch vergleichbar einer Uhr, deren innerer Organismus nicht mehr funktioniert. Er reduziert den menschlichen Körper damit auf dessen Mechanik – wie die Ärzte in SON FRÈRE. Frappierend ist an dieser Stelle der Rekurs Chéreaus auf den jungen, 19-jährigen Patienten Manuel (Robinson Stévenin), den Luc im Krankenhausflur kennen lernt, der sich infolge einer Darmerkrankung diversen Operationen, bei denen immer wieder Teile des kranken Gewebes entfernt wurden, unterziehen musste, was eine lange Narbe am Bauch dokumentiert, und der Luc offenbart, dass er sich nicht weiter von den Ärzten – die ihn buchstäblich „ausschlachten“ – wie ein Fisch zerlegen lassen möchte. Chéreau: SON FRÈRE (00:06:33).
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handlungen der Ärzte hilflos hinnehmen. Dieses Krankenhaus-Martyrium evoziert demnach den Wunsch nach einem „organlosen Körper“, einer unbeschriebene Fläche, einem Körper ohne Bild, einem von seinen Funktionen befreiten, seelenlosen Körper, wie ihn Deleuze und Guattari in Anlehnung an den Theaterkritiker und Schauspieler Antonin Artaud entwerfen: „Der Körper ist der Körper [...] Und braucht keine Organe. Der Körper ist niemals ein Organismus.“9 Im Krankenhaus entscheiden sich die Ärzte für eine Kortisonbehandlung, die Thomas’ Körper aufgrund der strengen Diät zusehends abmagern lässt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Zeichen der Krankheit seiner Körperoberfläche bereits augenscheinlich eingeschrieben10, dokumentiert durch Großaufnahmen des zunehmend verstümmelten Äußeren, vor allem das von hervortretenden Adern, roten Punkten und Falten gebrandmarkte Gesicht (Abb. 2). Genau diese Deformation des Gesichts ist es auch, die im Folgenden die narzisstische Kränkung des einstigen Adonis Thomas zum Ausdruck bringt: „Schau Dir meinen Kopf an [...]. Armseliges, verunstaltetes Scheißgesicht“.11 Ein Zeitsprung in den Juli zeigt Thomas’ einstigen Adonis-Körper durch eine große Narbe am Bauch entstellt, und Luc ist es sichtlich peinlich, mit ihm entlang der Promenade des Nacktbadestrandes zu spazieren (Abb. 3). Seine Bewegungen wirken kraftlos und langsam, er kann sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten. Als ihm Luc behilflich ist, seinen Pullover auszuziehen, koinzidiert die Instabilität der Kamera mit der Fragilität von Thomas’ Körper. Thomas ist buchstäblich ein Skelett, nur noch Haut und Knochen: In einer Rückansicht werden die Zuschauer seiner unter einer nur noch dünnen Hautschicht hervortretenden Schulterblätter und Wirbelsäule gewahr, die sein völlig abgemagerter Körper zu Tage fördert (Abb. 4). Das Leiden zeichnet sich in deutlichster Körperlichkeit ab, der Körper wird bei Chéreau zum Spiegel der Seele. Eine Rückblende in den März erklärt die Herkunft des Stigmas auf seinem Bauch: Diese zeigt Thomas im Krankenhaus vor der Operation an der Milz, die ihm aufgrund der Überzeugung der Ärzte, dass diese die Blutplättchen zerstört (man sehe es auf der Szintigraphie), entfernt werden soll.
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Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 218. 10 Bruno Todeschini spielt die Rolle des todkranken Thomas sehr überzeugend, hat er doch in dem Krankenhaus, in welchem auch der Film SON FRÈRE gedreht wurde, unter ärztlicher Kontrolle zwölf Kilogramm abgenommen, und spiegelt so sehr authentisch die Folgen der strengen Diät wider, der sich Thomas in SON FRÈRE unterziehen muss. 11 Chéreau: SON FRÈRE (00:53:59).
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Abb. 1-4: Screenshots aus SON FRÈRE In einer aufwendigen Prozedur – von Patrice Chéreau nahezu acht Minuten lang in Szene gesetzt und zweifelsohne von diesem als Höhepunkt des Films intendiert, „Wegen des Eindrucks, den diese Szene beim Lesen hinterließ, wollte ich den Film machen [...]“12 – wird Thomas für die Operation am ganzen Körper kahl geschoren. Das realistische dieser Pietà-Szene macht insbesondere die Tatsache aus, dass die Ganzkörperrasur nur ein einziges Mal gedreht werden konnte, mit Handkamera abgefilmt und der Krankenhausalltag mit authentischem Pflegepersonal nachgestellt wird, weshalb die Handgriffe sehr routiniert wirken. Aus der Zimmerecke beobachtet der homosexuelle Bruder wie Thomas zum einen seine Virilität und zum anderen seinen letzten Schutz verliert. Einige intermediale Verweise können dem Film zugeschrieben werden, die Chéreau nicht bewusst intendierte; So evoziert die Rasurszene vor allem Renaissancegemälde mit dem stigmatisierten Jesus, spielt demnach mit christologischen Motiven, und wird so zu einer Metapher für das Leiden par excellence: „Das Bild eines nackten Körpers führt einen zwangsläufig zurück zur religiösen Kunst. Ich habe versucht, das zu vermeiden. Aber ein nackter Körper auf einem Bett wird augenblicklich zu einem ästhetischen Objekt. Man denkt an eine ruhende Figur, an Christus. Ich habe versucht, das so wenig wie möglich zu ästhetisieren. Aber natürlich ist es eine Metapher. Denn die Rasur ist nicht schmerzhaft [...].“13
12 Vgl. Midding, Gerhard: „Rastlose Nähe. Son Frère von Patrice Chéreau. Interview-Auszüge aus dem Kinomagazin“, 31.11.2003, URL: http://www.3sat.de/ ard/52377/index.html vom 02.04.2008. 13 Patrice Chéreau zur Rasurszene, vgl. Midding: „Rastlose Nähe“, a.a.O.
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In dieser filmisch eindrucksvollen Szene, die an die Schur eines Lammes erinnert, das zur Schlachtbank geführt werden soll, wird das Leiden durch den Fokus auf den ausgemergelten Körper materialisiert: Kein anderer Regisseur filmt die Körper so wie Chéreau. Seine Darstellung des menschlichen Fleisches erinnert an Francis Bacons Fleisch-Ikonographie, welche die Leiblichkeit in den Vordergrund stellt, was auch schon für seinen Vorgängerfilm INTIMACY vermerkt werden konnte. Hier wird jedoch der körperliche Schmerz rezitiert. Stehen bei Bacon offene Körper, klaffendes Fleisch und blutende Opfer für ein Leiden ohne Sinn, so trifft dies auch auf SON FRÈRE zu, erweisen sich die körperlichen Verstümmlungen doch letztendlich als sinnlos, denn die Krankheit ist wenig erforscht und kann nicht von den Ärzten geheilt werden. Die Rasurszene ist zweifelsohne auch ein Zitat der Beweinung Christi von Andrea Mantegna (vgl. Abb. 5): Thomas liegt nackt auf dem Bett, wie aufgebahrt, lediglich sein Geschlecht wird von den Schwestern durch ein weißes Stück Zellstoff verdeckt (Abb. 6). Zweifelsohne ist dieses Bild eine Reminiszenz des leidenden Christus, dessen Leid sich ebenso wie bei Thomas auf der Körperoberfläche, durch die Stigmata auf der Haut, Mantegna betont die Löcher in den Händen, abzeichnet. In dieser Szene erscheint Thomas als Opfer, sein Körper wird exponiert, er ist den Schwestern völlig ausgeliefert, welche die Prozedur des Rasierens mit mechanischen Handgriffen (Wenden des Körpers, Auftragen des Rasierschaums) kühl an ihm vollziehen, wodurch der Mensch vollkommen auf seine körperliche Hülle reduziert wird: Die Tragik der Szene wird forciert durch die verkürzende Zentralperspektive auf den ruhenden Körper, bei dem die Körperoberfläche – wie auch im Gemälde Mantegnas – mit all ihren anatomischen Details, insbesondere der abgemagerte Brustkorb, betont und minutiös von der Kamera eingefangen und festgehalten wird. Auch der Zuschauer ist anhand dieser Szene, wird er doch mit dem völlig ausgemergelten Körper des Protagonisten, was durch die Inszenierung von Nacktheit zusätzlich forciert wird, zu einer Positionierung gezwungen. Und trotz der Tatsache, dass diese Filmszene bar jeglicher Brutalität ist, diese keine Operation zeigt, kein Blut fließt, und damit im Grunde nichts Schockierendes zu sehen ist, kann sie als Metapher für das Leiden eines Kranken verstanden werden, der sich in die Hände von Ärzten begibt, die in ihm ein Versuchsbzw. Forschungsobjekt sehen, an dem sie ihre Experimente zur besseren Erforschung dieser seltenen Krankheit machen können. Am Schluss der Rasur wäscht eine der Krankenpflegerinnen über Thomas’ enthaarten Körper, was das Bild einer Leichenwaschung heraufbeschwört und erneut den aufgebahrten Leib Christus evoziert.
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Abb. 5: Screenshot aus SON FRÈRE
Abb. 6: Andrea Mantegna: Beweinung Christi, um 1490, Mailand, Pinacoteca di Brera
Die Entnahme der Milz stellt sich jedoch als ein fataler Fehler heraus, da nicht diese für die Zerstörung der Blutplättchen verantwortlich ist, was im Hinblick auf Thomas den Topos des wehrlosen Opferlammes, das zur Schlachtbank geführt wird, rechtfertigt. Später mutmaßen die Mediziner, es könne auch die Leber sein, die den Schwund der Blutplättchen bewirke, doch die könne man nicht entnehmen. Thomas wird zum Versuchsobjekt, eine Tatsache, die im krisenhaften Canossagang Thomas’ Körpers gipfelt, der sich weiteren Experimenten und Operationen verweigert. Thomas entlässt sich selbst aus der Klinik, fährt mit seinem Bruder in die Bretagne, wo die drohende Hämorrhagie zur ständigen Gefahr wird. Beim Spaziergang in den Dünen, der zunächst in einer Totalen von der Kamera eingefangen wird, erleidet er die vielbeschworene Blutung: Als das Blut in einem unaufhörlichen Fluss aus seiner Nase zu fließen beginnt, kommt die Kamera immer näher, zeigt das Leiden in einer solchen Intensität, dass es den Zuschauer schockiert und er es kaum ertragen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist Thomas nur noch ein Schatten seiner selbst: Er bewegt sich nahezu in Zeitlupe, den Körper nach vorn gebeugt, spricht leise und sehr langsam. Sein Gang ist der eines uralten Mannes, er ist körperlich am Ende seiner Kräfte. Neben dem Verfall seines Körpers spricht auch sein Gesicht, entstellt, blass, faltig, eine deutliche Sprache: „[...] Seine Muskeln sind geschwunden. In seinem Gesicht springen die Knochen hervor [...]. Die Nase ist nur noch ein Grat [...].“14 Die Inszenierung dieses physischen Verfalls gelingt Chéreau kongenial durch den Charakter des alten Mannes (Maurice Garrel), der den Brüdern hin und wieder auf ihrer Bank am Meer Gesellschaft leistet, und zum Omen des bevorstehenden Todes wird. Damit reüssiert Chéreau in der Veranschaulichung von Thomas’ physischem Verfall im Endstadium seiner Krankheit: Thomas gleicht äußerlich kurz vor seinem Ableben auf frappierende Weise dem Greis (Abb. 7/8): „Plötzlich gleichen sich ihre Gesichter, und diese Ähnlichkeit bringt mich aus der Fas-
14 Besson, Philippe: Sein Bruder, München 2005, S. 73.
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sung.“15 Im Bewusstsein, dass sein Tod unaufhaltsam näher rückt, spricht Thomas in Anwesenheit des Greises und seinem Bruder von einem marmornen Grab, das er sich in der Nähe des Meeres wünscht, weshalb der Alte fragt, ob er sich für Chateaubriand halte.16
Abb. 7/8: Screenshots aus SON FRÈRE
Stille Annäherung der Brüder in der Krise Die zunehmende Intimität in der Bruderbeziehung wird in der mise en scène des Films durch die Großaufnahmen, die Konzentration auf Gesichter und Körper hergestellt. Wie schon in INTIMACY, Chéreaus Hanif-Kureishi-Adaption, fängt die ungemein bewegliche Kamera äußerst haptische Bilder ein, sucht immer die Nähe zum Körper. Dem Gestischen gilt in SON FRÈRE das Augenmerk, nicht den Worten: So unterstützt die fehlende Kommunikation, die immer ein zentrales Thema in Chéreaus Filmen ist, den großen Realismus, den Purismus dieses Films, der vor allem von seiner großen Musikalität lebt. Sehr gut gelungen ist der feinfühlige Einsatz von Musik. Erst kurz vor Schluss durchbricht Chéreau die bis dahin ganz auf Geräusche und Dialoge konzentrierte mise en scène und arbeitet mit einer musikalischen Untermalung durch Marianne Faithfulls melancholischen Song Sleep. Die Wirkung des bewusst gesetzten Pathos an zwei Stellen des Films ist groß und wird durch Faithfulls dunkles Timbre forciert: Die Empathie Lucs für seinen Bruder ist am Ende zwar deutlich, das Leid des Älteren für ihn unerträglich, doch letztlich bleiben die Kränkungen der Vergangenheit allgegenwärtig. 15 Ebd., S. 93. 16 Der intermediale Verweis auf Chateaubriand kommt nicht von ungefähr: Auch der berühmte französische Schriftsteller François-René Chateaubriand (17681848) sucht sich bereits zu Lebzeiten seinen Grabstein auf der Insel Grand Bé vor Saint-Malo aus. Dort dient ihm eine Felskante als letzte Ruhestätte, die nur bei Ebbe zu erreichen ist. Chateaubriands Grabstein befindet sich am offenen Meer, seine puristische und gleichsam poetische Grabinschrift lautet: „Un gran écrivain français a voulu reposer ici, pour n’entendre que la mer e le vent. Passant, respecte sa dernière volonté.“ Alle weiteren Informationen zu Chateaubriand sind folgender URL entnommen: http://www.alalettre.com/chateaubriandintro.htm vom 20.10.2012.
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Gerade dadurch, dass Chéreau nur an besagten zwei Stellen Musik einsetzt, die gleichermaßen entrückte, irreale (Traum-)Sequenzen darstellen und die völlige Identifikation Lucs mit seinem Bruder indizieren, gewinnt dieser Film seinen besonderen Charme. Die besondere Musikalität des Filmes basiert demnach nicht auf einer Musikuntermalung, von der Filme wie INTIMITÉ oder GABRIELLE getragen werden, sondern beruht auf den Geräuschen der Szenerie, dem permanenten Meeresrauschen, den Windgeräuschen und dem Vogelgezwitscher, die gleichermaßen eine Idylle darstellen und Ruhe ausstrahlen, denn das unaufhörliche Rauschen und Seufzen des Meeres hat etwas Beruhigendes, Kontemplatives, hier, wo sich das Leben draußen abspielt, kann Thomas noch einmal Freiheit genießen. Dies steht im krassen Gegensatz zum Ort des Martyriums, dem Krankenhaus, wo Thomas ans Bett gefesselt den penetrant surrenden Apparaturen sowie dessen Hektik und kalter Atmosphäre ausgeliefert ist, die durch künstliches Licht und dunkle Farben sowie die emotionale Unterkühlung der Schwestern und Ärzte zusätzlich unterstrichen wird. Auch Thomas’ Krankheit ist mit Bedacht gewählt: Die Blutplättchen sind für die Abdichtung des Körpers nach außen zuständig, sie verhindern das Ausbluten des Körpers, dienen der Blutstillung. So sichern die Blutplättchen die Außengrenzen des Individuums, sind dessen Schutzschild. Ekkehard Knörer zeigt in seiner Rezension den Kontext zwischen der Krankheit und der Familiensituation Thomas’ auf, ein Zusammenhang, der zweifelsohne in SON FRÈRE gegeben ist.17 Thomas hat den Schutz der Familie nicht mehr: Die Familie ist entzweit, die Eltern haben sich nach 30 Jahren Ehe nichts mehr zu sagen. So führen sie sinnlose Streitgespräche im Krankenzimmer. In Bessons literarischer Vorlage Sein Bruder heißt es: „Meine Mutter [...] Sie ist schon tot. Unser Vater hält sich an ihrer Seite [...]. Unsere Familie erleidet Schiffbruch, aber unsere Eltern bleiben bis zum endgültigen Untergang vereint.“18 Die Brüder haben seit Jahren keinen Kontakt, wie sich in einem Streitgespräch herausstellt: Luc fühlte sich von Thomas nach seinem Coming-Out als Homosexueller im Stich gelassen und Luc ist – so Thomas – ohne ein Lebenszeichen einfach verschwunden, in Paris abgetaucht. Doch Thomas verliert neben seiner Familie auch den Schutz der Abdichtung des Körpers nach außen, metaphorisiert durch den stetigen Verlust der Blutplättchen. Er lebt in der Folge mit der ständigen Gefahr einer Hämorrhagie. Seine Krankheit ist nicht ausreichend erforscht und damit unberechenbar und unheilbar. In seiner Not sucht Thomas seinen Bruder auf, verspricht sich Halt und Unterstützung. Es ist der Beginn einer sich langsam entwickelnden Intimität zwischen beiden. Wieder inszeniert Chéreau also eine „unerhörte Beziehung“: Nach nahezu zehn Jahren der Funkstille ruft Thomas Luc plötzlich an, spaziert wie selbstverständlich in dessen Woh-
17 Vgl. Knörer, Ekkehard: „Sein Bruder. Berlinale-Kritik“, URL: http://www.film zentrale.com/rezis/seinbruderek.htm vom 20.10.2012. 18 Besson: Sein Bruder, S. 151.
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nung, sieht sich dort ungeniert um und stellt unverschämterweise unverblümt die sehr intime Frage „Lebst du mit jemandem zusammen?“19 Dann bittet er seinen jüngeren Bruder Luc um Unterstützung und Beistand im Kampf gegen seine tödliche Krankheit. Das völlige Desinteresse der Brüder füreinander und die absolute Entfremdung der beiden wird u.a. an folgenden Beispielen sehr deutlich: Thomas kennt sich weder in Lucs Wohnung aus noch weiß er, ob dieser mit jemandem liiert ist, und ob er seinen Beruf als Lehrer noch ausübt. Auch Luc weiß über Thomas’ Leben so gut wie nichts: So schaut er sich interessiert in dessen Wohnung um, als er ihm ein paar persönliche Dinge ins Krankenhaus bringen soll. In einem Gespräch zwischen Luc und seinem Freund Vincent klingt an, dass Luc der Zustand seines Bruders kaum zu tangieren scheint, dennoch hilft er ihm: „Vergiss nicht, dass ich hier bin, weil Du mich darum gebeten hast. Das ist Grund genug.“20 Zu groß sind die Verletzungen der Vergangenheit, war er doch immer der Benachteiligte und Thomas der Narziss, der von allen bewundert und stets bevorzugt wurde. Das merkt der Zuschauer auch an Lucs ganzem Habitus: seinem zurückhaltenden, nach unten gerichteten, Blick, seiner scheuen Gestik und Mimik, denn selbst beim Rauchen sieht sich Luc schuldbewusst um. Thomas, der Ältere, hingegen strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Sein Charakter steht im schroffen Gegensatz zu seiner Krankheit, durch die er auf Hilfe angewiesen ist. So überwindet er sich nur schwer, seinen jüngeren Bruder Luc um Unterstützung zu bitten. Luc zögert zunächst, fügt sich zunächst widerwillig in seine schwierige Aufgabe, die später zur Selbstverständlichkeit wird. Gerade das ist es, was Chéreau an dieser Geschichte Philippe Bessons so interessiert: Die Selbstverständlichkeit, mit der Thomas, der immer der Starke gewesen ist, seinen jüngeren homosexuellen Bruder angesichts einer Krankheit, die er nicht mehr alleine bekämpfen kann, nach all den Jahren des Stillschweigens aufgrund ihrer unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, aufsucht, und dass die beiden letztendlich über die Krankheit wieder zueinander finden. Hier spielt Chéreaus eigene Biographie eine nicht unerhebliche Rolle, hat sich doch bekanntermaßen sein älterer Bruder nie mit seiner Homosexualität abfinden und nie mit ihm darüber sprechen können.21 Trotz der Barrieren der Vergangenheit und der angestauten Wut über das Desinteresse des Bruders, der plötzlich intime Fragen zu stellen beginnt, ist die Bruderbindung stärker als alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen, die im Verlaufsprozess der Krankheit Thomas’ wie eine dünne, fragile Eisschicht allesamt einbrechen, wie dünne Fäden zerreißen, weil sie letztendlich keine Bedeutung haben. Die Partner der Brüder, Claire bzw. Vincent, rücken immer mehr in den Hintergrund. Während Claire in
19 Chéreau: SON FRÈRE (00:08:12). 20 Chéreau: SON FRÈRE (00:25:50). 21 Vgl. http://www.thefreelibrary.com/Brother+bare%3A+Son+Frere+ director+Pat rice+Chereau+may+be+the+coolest...-a0115496671 vom 25.10.2012.
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Thomas’ Leben nie die Stellung einnehmen konnte, die sie gerne für sich beansprucht hätte, und schließlich in völliger Überforderung angesichts der Verschlechterung von Thomas’ Gesundheitszustand die Beziehung quasi durch ihr Fernbleiben beendet, wird Luc erst im Verlauf der Handlung mit der zunehmenden Annäherung an Thomas bewusst, dass er sich von Vincent trennen möchte, da ihm Thomas der wichtigste Mensch in seinem Leben geworden ist. Schließlich möchte Thomas nur noch Luc an seiner Seite, selbst die Eltern – die in Gegenwart der Brüder entweder streiten oder die Krankheit beschönigen und damit die Gesamtsituation noch unerträglicher für Thomas machen – werden von ihm quasi „ausgeladen“, denn er hat nur Luc „eingeladen“, ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Nach und nach verlässt Chéreau die anderen Darsteller, es ist schließlich nur noch Platz für die Bruderbeziehung. Chéreau wollte genau das zeigen: Die Ohnmacht der anderen, die immer das Falsche sagen und deren „zwanghafte Geschwätzigkeit“ Thomas frappiert, intensiviert die Annäherung der Brüder. Tatsächlich inszeniert Chéreau durch den mit sehr viel Sensibilität inszenierten Gedankenaustausch der Brüder einen Film über die Stille, der nur aus wenigen Dialogen besteht. So ist die Konversation der Brüder, die kaum der Worte bedarf, beispielhaft durch Ellipsen und unvollständige Sätze gekennzeichnet, ihr Meinungsaustausch entwickelt sich größtenteils über stumme Blicke, in denen Gefühlswelten aufschimmern, Beobachtung und den Momenten des Innehaltens. Den Brüdern ergeht es somit quasi wie Thomas’ Körper: Grenzen und Barrieren, die sie seit der Pubertät voneinander getrennt haben – die Zuschauer erfahren in Lucs Kindheitsreminiszenzen, dass die beiden als Kinder ein Herz und eine Seele waren und Thomas der erste Mann war, den Luc berührt hat – lösen sich allmählich auf, und Luc tritt als sorgende Mutter, bester Freund, Gefährte für Thomas in Erscheinung, wird zum Muster symbiotischer Fürsorge für den todkranken Bruder. Durch Thomas’ Siechtum entsteht nach und nach Intimität zwischen den Brüdern22, veranschaulicht durch Berührungen wie beispielsweise das Massieren des Nackens und der Schultern oder das Streicheln Lucs durch Thomas’ Haar, das die Verbundenheit beider verdeutlicht. Angesichts des unvermeidlichen Todes kommen sich die Brüder wieder ganz nahe, bilden eine Symbiose in Thomas’ Agonie. Eine Situation absoluter Intimität ergibt sich erstmals nach der schweren Operation Thomas’, der sich, an das Beatmungsgerät und diverse Apparate angeschlossen, im Aufwachraum befindet. In der anschließenden Traumsequenz, zweifelsohne eine der Schlüsselszenen des Films und in der Annäherung der Brüder, in der Luc auf Thomas’ Erwachen aus der Narkose wartet, findet die völlige Identifikation Lucs mit seinem Bruder statt. Beim Betrachten seines Bruders verfällt Luc in einen Wachtraum, eine entrückt wirkende, pathetisch aufgeladene Szene, die von der sonoren Stimme Marianne Faith-
22 Vgl. Knörer: Sein Bruder. Berlinale-Kritik, a.a.O.
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fulls begleitet wird. Er kann sich in diesem Moment völlig mit Thomas’ Leiden identifizieren, taucht in die Krankheit seines Bruders ein und sein MitLeiden wird an dieser Stelle visualisiert: Dabei streift er zunächst durch Thomas’ Wohnung, offensichtlich auf der Suche nach diesem. In Thomas’ Schlafzimmer angekommen, bleibt er vor dessen Bett, in der Erwartung, dort seinen schlafenden Bruder vorzufinden, stehen. Ab diesem Zeitpunkt agiert er nicht mehr und nimmt einen Außenstandpunkt in seinem Traum ein. Schließlich stellt er voller Entsetzen fest, dass nicht Thomas sondern er selbst als Kranker angeschlossen an Schläuche und Geräte auf dem Bett liegt, und die Reaktionen seiner Mitmenschen auf die Krankheit und deren Bevormundungen hilflos erdulden muss (Abb. 9). Plötzlich tritt zunächst sein Freund Vincent an sein Krankenbett, der ihm droht, dass er ihm nicht helfen könne, wenn er immer die Apparate abschalte. Dann beobachtet er durch seine Außenperspektive, wie Thomas als Gesunder in sein Krankenzimmer kommt (Abb. 10) und den kranken, im Bett liegenden, Luc (Abb. 11) nach seinem Befinden fragt. Luc wird sich seines Bruders Qualen bewusst, was in ihm – deutlich ablesbar auf seinem in Großaufnahme gezeigten Gesicht (Abb. 12) – Bestürzung hervorruft und ihn zu Tränen rührt.
Abb. 9-12: Screenshots aus SON FRÈRE Trotz der sich entwickelnden Intimität zwischen den Brüdern bleibt immer eine gewisse kühle Distanz und Spannung bestehen, über der Vergangenheit liegt trotz der Annäherung immer ein dunkler Schatten des Verrats: Erst Thomas ތletzter Gang ins Meer bringt die Versöhnung: „Ich kann nicht mehr“ mit diesen Worten signalisiert Thomas, dass er den Kampf gegen die Krankheit aufgegeben hat. Doch nicht im Krankenhaus möchte er sich von ihm verabschieden, sondern am Ort ihrer Kindheit: Diese Szene deutet bereits an, was wenig später zur Gewissheit wird. Auch wenn die Ärztin ihm versichert, dass man ohne Blutplättchen gut leben kann, erträgt Thomas die Aussicht auf ein Leben als Behinderter in ständiger Angst, sich irgendwo
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anzustoßen und damit eine Hämorrhagie zu verursachen, nicht länger: „Entweder lebt man, oder man ist tot“23. Er entscheidet sich, seinem lebensunwerten Dasein ein Ende zu bereiten. Luc scheint das zu spüren. Doch er akzeptiert seine Entscheidung und lässt ihn gehen: In der Morgendämmerung zieht sich Thomas am Strand aus, bewegt sich nackt mit entschlossenem Blick auf den Horizont zu, er schwimmt zunächst mit den Wellen, doch sein Körper wird von der starken Strömung angesogen und vom Ufer weggetrieben, er taucht schließlich unter und findet im Meer seine letzte Ruhestätte. Aus dem Off stimmt Marianne Faithfull mit „ash to ash, dust to dust“ schließlich einen Grabesgesang an und Luc registriert mit nachdenklichem Blick aufs Meer, das für ihn zur Projektionsfläche der Erinnerungen an die verlorenen glücklichen Tage wird, die schmerzliche Abwesenheit seines Bruders. Doch vorher gibt es eine letzte Szene absoluter Intimität am Strand, in der sich beide Brüder endlich nach so langer Zeit mühevoll die entscheidenden Worte abringen: „Ich liebe dich sehr. Ich möchte, dass du das weißt. Ich habe dich immer sehr geliebt“ (Thomas). „Ja, ich liebe dich auch sehr“ (Luc).24.Und wieder erleben die Zuschauer, nachdem sich die Brüder am Strand in der Bretagne ihre Zuneigung eingestanden haben und zurück im Haus sind, einen dieser einfühlsamen Chéreau-Momente, der keiner überflüssigen Worte bedarf und das stille Einverständnis der beiden zum Ausdruck bringt: Kommunikation über Beobachtung und Blicke: Beide rauchen und nehmen ein Whisky-Getränk zu sich. Plötzlich reicht Thomas Luc seine Hand, dieser sieht ihn an und hält seine Hand, um ihm zu verdeutlichen, dass sie bis zum bitteren Ende zusammenhalten (Abb. 13). Thomas kann – im Bewusstsein, seinen Bruder Luc ein letztes Mal zu sehen, den letzten Abend mit ihm zu verbringen – die Tränen nicht zurückhalten. All das ohne ein einziges Wort, unsentimental, man hört nur die Atemgeräusche der Akteure. Luc ist demnach der letzte Hüter25 seines Bruders und wird zum Zeugen und Begleiter bzw. auch zum Partner Thomas’. In der Schlusseinstellung wird erneut die Meeresbucht gezeigt, in der die Ertrunkenen angespült werden (Abb. 14), vermutlich – das lässt Chéreau offen – auch die sterblichen Überreste Thomas’.
Abb. 13/14: Screenshots aus SON FRÈRE
23 Besson: Sein Bruder, S. 150. 24 Chéreau: SON FRÈRE (01:17:27). 25 Knörer: Sein Bruder. Berlinale-Kritik, a.a.O.
Von „alten Herren“ und „neuen Frauen“: Genderkrisen in der utopischen Literatur des Spätviktorianismus E CKART V OIGTS
Einführung: Gender und Krise Eine Krise ist die Zuspitzung von etwas, das virulent ist. Sie wird angezeigt durch anschwellenden Diskurs. Häufig ist dies ein Angstdiskurs: je dringlicher etwas als Problem empfunden wird, umso lauter, schwieriger, divergenter und divisiver die zugehörige Krisenkommunikation. Dabei ist die Krise immer ein Konstrukt, nämlich eine Stimmung, ein Bewusstsein von Handlungsträgern. So oder ähnlich lauten gängige Definitionen der Krise und um genau eine solche Krise wird es im Folgenden gehen. Dieser Beitrag untersucht die männliche Krisenkommunikation im Angesicht der „Frauenfrage“ zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien. Diese Krise ist als politisch-ideologisch zu beschreiben, sie wird zwischen unterschiedlichen Interessengruppen ausgefochten. Es geht um den Gegendiskurs zum „First-Wave“-Feminismus, zu den wirklichen, jedoch vor allem auch fiktionalen New Women, die hergebrachte Gender-Vorstellungen des viktorianischen Patriarchats durcheinander wirbelten. Erst im „SecondWave“-Feminismus der späten 1960er und frühen 1970er Jahre gab es wieder eine vergleichbare Dynamik bei der gesellschaftlichen Progression in den Geschlechterbeziehungen und eine vergleichbare Männerangst vor einer (mit Michel Foucault oder Stuart Hall gesprochen) „Dezentrierung“ des souveränen, stabilen männlichen Subjekts, der die Welt als Objekte ordnet. Der Beitrag geht so vor, dass zunächst die Geschichte des Feminismus im Kontext der sich abzeichnenden generellen Krise des Fin de siècle dargestellt wird, bevor der patriarchale Gegendiskurs an zwei fiktionalen Beispielen, den Gegenutopien The Coming Race (Edward Bulwer-Lytton, 1871) und The Revolt of Man (Walter Besant, 1882) illustriert wird.
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Etymologisch ist das Wort „Kris“ aus dem griechischen krínein, „trennen“ und „unterscheiden“ abzuleiten – und bereits diese etymologische Ableitung lässt es als reizvoll erscheinen, die sog. „Frauenfrage“ und „Frauenbewegung“ am Ende des 19. Jahrhunderts als Krise zu beschreiben; denn mithin ist es eine geschlechtliche Trennung und Unterscheidung, die im Mittelpunkt dieses Beitrags liegt. In der Geschichte der Emanzipation ist das Ende des 19. Jahrhunderts als Wendepunkt zu beschreiben, an dem zum einen die patriarchale Herrschaft und das two-sex model, das die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betont, besonders ausgeprägt waren, zum anderen jedoch Brüche und Konflikte zum Ausbruch kamen, deren weitere Entwicklungen die fundamentale Umkehr in den Geschlechterbeziehungen auslösten, die heute sichtbar werden. Wenn an der Wende zum 21. Jahrhundert Judith Butler die binäre Unterscheidung der Geschlechter als Normen beschreibt, die über lange Zeit sedimentierte, soziale Fiktionen transportiert werden1, so steht dies den viktorianischen Auffassungen diametral entgegen. Gleiches gilt für die Butler’sche Vorstellung von Gender als Performance2 – dabei erscheint gerade die völlige Auflösung der scheinbar doch so stabilen viktorianischen Gender-Auffassungen gerade als stichhaltiges Argument für Judith Butlers Thesen, denn die liquiden Gender-Performances zwischen 20. und 21. Jahrhundert – von androgynen Frauen bis zum cross-dressing der drag queens – zeigen ja, wie sehr Änderungen der sozialen Skripte die scheinbar naturalisierten Sphären von Männlichkeit und Weiblichkeit determinieren.
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„Consider that there is a sedimentation of gender norms that produces the peculiar phenomenon of a natural sex, or a real woman, or any number of prevalent and compelling social fictions, and that prevalent and compelling social fictions, and that this is a sedimentation that over time has produced a set of corporeal styles, which, in reified form, appear as natural configuration of bodies into sexes which exist in a binary relation to one another.“ Butler, Judith: „Bodily Inscriptions. Performative Subversions“ (1990), in: dies./Salih Sara (Hg.), The Judith Butler Reader, Oxford 2004, S. 114. „The act that one does, the act that one performs, is, in a sense, an act that has been going on before one arrived on the scene. Hence, gender is an act which has been rehearsed, much as a script survives the particular actors who make use of it, hit which requires individual actors in order to be actualised and reproduced as reality once again.“ Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution“ (1988), in: Michael Huxley/Noel Witts (Hg), The 20th Century Performance Reader, London 1996, S. 127.
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Neue Frauen: First-Wave-Feminismus und die Krise des Spätviktorianismus Rechtliche Gleichheit, besonders für den Fall der Heirat, ist der Kern der ersten Frauenbewegung, für die Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Women (1792) als Pioniertext gilt und die in der Suffragettenbewegung kulminierte, die erst 1928 das allgemeine Wahlrecht für Frauen erreichte. Wollstonecraft attackierte vor allem die gesellschaftliche Doppelmoral sowie die fehlende und fehlgeleitete Erziehung von Frauen zu dümmlichem ‚Männer-Spielzeug‘ und mahnte – durchdrungen vom rationalistischen Geist der „Gleichheit“ und „Brüderlichkeit“ der französischen Revolution – einen gemeinsamen, universellen Wertekodex für Männer und Frauen an: „I have already granted, that, from the constitution of their bodies, men seem to be designed by Providence to attain a greater degree of virtue. I speak collectively of the whole sex; but I see not the shadow of a reason to conclude that their virtues should differ in respect to their nature. In fact, how can they, if virtue has only one eternal standard?“3
Anzumerken ist, dass Woolstonecraft die „natürliche“ Geschlechterordnung und ihren Sitz sowie Begründung im überlegenen männlichen Körper nicht anzugreifen scheint – lässt man das einschränkende „seem to“ im ersten Satz außer Acht. Der weibliche Körper dagegen, wird durch falsche edukative Ideale zu einem dekorierten Gefängnis: „Taught from their infancy that beauty is woman's sceptre, the mind shapes itself to the body, and, roaming round its gilt cage, only seeks to adorn its prison.“ (Wollstonecraft 1833:46) Im zweiten klassischen Text der frühen Frauenbewegung – erschienen signifikanterweise erst knapp 80 Jahre nach Woolstonecrafts Vindication – argumentiert John Stuart Mill bereits gegen eine natürliche Differenzqualität zwischen Männern und Frauen. In „The Subjection of Women“ (1869) setzt er sich mit dem vorherrschenden Bio-Determinismus auseinander. Er verneint zwar nicht die Möglichkeit eines natürlichen Unterschieds, aber doch seine Erfahrbarkeit in einer ungerechten sozialen Situation: „I deny that anyone knows, or can know, the nature of the two sexes, as long as they have only been seen in their present relation to one another. […] What is now called the nature of women is an eminently artificial thing – the result of forced repression in some directions,unnatural stimulation in others.“4
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Woolstonecraft, Mary: A Vindication of the Rights of Woman (1792), New York 1833, S. 46. Mill, John Stuart: The Subjection of Women, London 21869, S. 38-39.
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Diese ungerechte Situation war gegeben und wurde von Frauen wie auch einigen Männern zunehmend moniert. Die rechtliche Situation der Frau im Fall einer Heirat war subaltern: Der Mann verfügte über das Sorgerecht für die Kinder, das Einkommen und Vermögen der Frau und hatte Anspruch auf sexuelle Dienstleistungen. Die gesetzgeberischen Fortschritte, die erst in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts spürbar wurden (Married Women’s Property Act, 1882), sind auch als Anzeichen einer Krise zwischen den Geschlechtern zu werten. Der Zensus von 1891 machte deutlich, wie exotisch arbeitende Frauen zumindest im viktorianischen Bürgertum waren. Zwar waren immerhin 4,5 Mio. (von 13 Mio.) Frauen berufstätig, doch waren sie ganz überwiegend Frauen aus der Arbeiterklasse in schlecht bezahlter, abhängiger Arbeit. So arbeiteten 2 Mio. Britinnen als Hausbedienstete und 1,5 Mio. in der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Kernbranche der industriellen Revolution, 80.000 in der Landwirtschaft. Nur 264.000 arbeiteten als Lehrerinnen und Krankenschwestern und in der Tat standen gerade intellektuellen, gebildeten Frauen außer dem Lehrberuf und einer Anstellung als Gouvernante nur äußert wenige Optionen zu Gebote.5 Im letzten Viertel des Jahrhunderts wurde dann die sog. „Frauenfrage“ (woman question) in einer Weise diskutiert, die den Begriff der Krise zulässt. Der Westminster Review bestätigte 1890 mit signifkant spöttischem Unterton die Dominanz des Krisendiskurses: „It is not possible to ride by road or rail, to read a review, a magazine or newspaper, without being continually reminded of the subject which lady-writers love to call the ‚Woman Question‘.“6 Die erste „Women’s Right Convention“ fand 1848 in Seneca Falls, New York, statt. Den Organisatorinnen Elizabeth Cady Stanton und Lucretia Mott war bei der „Anti-Slavery Convention“ in London 1840 der Zutritt verwehrt worden. Es ist das Umfeld von Abolitionismus und, in Großbritannien, der revolutionären Chartistenbewegung, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „Frauenfrage“ am Köcheln hielt. Erst mit John Stuart Mill jedoch, stark beeinflusst von seiner Partnerin und möglicherweise auch KoAutorin Harriet Taylor, konnte der Diskurs um die Frauenfrage in einen Moment produktiver Krise eintreten. Emmeline Pankhurst, Emma Goldmann, oder Dame Ethel Mary Smyth waren in Großbritannien die Wortführerinnen der Bewegung. Romanciers wie Sarah Grand und George Egerton verfassten heute klassische Werke der sogenannten New Woman Fiction. Es ist Konsens in der inzwischen umfangreich vorliegenden Forschung zur New Wo-
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Richardson, Angélique/Willis, Chris: „Introduction“, in: dies. (Hg.), The New Woman in Fiction and Fact: Fin-de Siècle Feminisms, Basingstoke 2002 sowie Richardson, Angélique: „Introduction“, in: dies. (Hg.), Women Who Did: Stories by Men and Women 1890-1914, London 2005. Zit. nach Richardson/Willis (Hg.): The New Woman in Fiction and Fact, S. 1.
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man,7 dass sie primär ein Diskursphänomen ist – jedoch punktuell natürlich auch tatsächlich in Erscheinung trat. 1869 wurde (abseits der Männer-Colleges) das Girton College, Cambridge, gegründet (jedoch erst 1948 offiziell anerkannt), um Frauen den Hochschulzugang zu ermöglichen. Mit dem sogenannten „Girton girl“ erschien erstmals die nach gängigen Maßstäben intellektuell gebildete Mittelklasse-Frau auf der öffentlichen Bühne – nun ein ernster zu nehmendes Phänomen als die versprengten Zirkel der höfischen literati der vorhergehenden Jahrhunderte wie Aphra Behn oder einzelner religiös geprägter Vordenkerinnen wie der Puritanerin Anne Bradstreet. Andrew Langs Gedicht Ballad of the Girton Girl charakterisiert Grundzüge der New Woman: „She has just ‚put her gown on‘ at Girton, She is learned in Latin and Greek, But lawn tennis she plays with a skirt on That the prudish remark with a shriek.“8
Wie ikonisch die New Woman wurde, lässt sich an allgegenwärtigen satirischen Zeichnungen, z.B. in Punch, ablesen.
Abb. 1: Ein Kulturstereotyp – Rauchende New Woman in Knickerbockern („bloomers“) auf dem Fahrrad9
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Vgl. stellvertretend für eine große Anzahl von Büchern seit Cunningham, Gail: The New Woman and the Victorian Novel, London 1978: Ledger, Sally: The New Woman. Fiction and Feminsim at the Fin de Siècle, Manchester 1997; Thompson, Nicola (Hg.): Victorian Women Novelists and the Woman Question, Cambridge 1999; Heilmann, Ann: New Woman Fiction: Women Writing FirstWave Feminism, Basingstoke 2000 sowie Richardson/Willis (Hg.): The New Woman in Fiction and Fact. „Ballade of the Girton Girl“, in: The Poetical Works of Andrew Lang, hg. von Leonora Blanche Lang, 4 vols., London 1923, Bd. 1, S. 189-90.
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Willis10 akzentuiert das positive Körperbild im Kulturstereotyp der neuen, sportlichen und selbstbestimmten Mittelklasse-Intellektuellen – die nichtsdestotrotz in der populären Imagination als „girl“ verniedlicht wurde. Der Zugriff und die Verfügungsgewalt auf den eigenen Körper ebenso wie das weibliche Körperbild insgesamt waren schon damals, lange vor dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“, mit dem die „zweite Welle“ der Frauenbewegung („Women’s Lib“) in den 1970er Jahren das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einforderte, ein zentrales Moment der Diskussion. Die Contagious Diseases Acts (1864-69) etwa sahen eine Zwangsuntersuchung für Frauen und Mädchen auf Geschlechtskrankheiten vor, die nach kontroversen Debatten jedoch bereits 1885 wieder aufgehoben wurde. Es mag in gewisser Weise und in Teilen als Erfolg des bald einsetzenden patriarchalen Gegendiskurses gewertet werden, dass die 1890er Jahre, genannt Fin de siècle nach der gleichnamigen, 1888 in Paris aufgeführten Komödie von F. de Jouvenot und H. Micard, als Epoche der Krise mit einem damals meist negativ konnotierten Schlagwort belegt wurde. Heute gilt der Begriff als Bezeichnung einer ästhetisch-politischen Bewegung mit den Zentren Paris und Wien,11 aber zumindest für die Zeitgenossen überwog der Eindruck von krisenhaften Erscheinungsformen – und hier hatten sicherlich auch die wachsenden Ansprüche der Gleichheit einfordernden Frauenbewegung maßgeblichen Anteil. Opulenz und Dekadenz, Pessimismus, Skeptizismus, das Bewusstsein einer Spätzeit und Erleben von Geschichte als Kontingenz im Fin de siècle können in Teilen auch als Reaktion auf die New Woman gesehen werden.
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Quelle: Punch, Bd. 108 (1895), Website von Dr Chris Snodgrass, University of Florida: http://web.clas.ufl.edu/users/snod/6256_F08syllabus.htm vom 12.04. 2012. 10 „‚Heaven defend me from political or highly educated women!‘: Packaging the New Woman for Mass Consumption“, in: Richardson/Willis (Hg.): The New Woman in Fiction and Fact, S. 53-65, hier S. 55f. 11 Wie Federico gezeigt hat, standen Frauen – selbst solche die eine Affinität zum Ästhetizismus hatten wie die populäre Schriftstellerin Marie Corelli – der ästhetizistischen Bewegung eher kritisch gegenüber. Elaine Showalter beklagte die fehlenden Denklinien zwischen Wilde und dem frühen Feminismus. Vgl. Federico, Annette R.: „Marie Corelli. Aestheticism in Suburbia“ (S. 81-99) und Gagnier, Regenia: „Productive Bodies, Pleasured Bodies“ (S. 270-289), beide in: Talia Schaffer/Kathy A. Psomiades (Hg.), Women and British Aestheticism, Charlottesville VA 1999. In der Wahrnehmung des zeitgenössischen Krisendiskurses fielen Dandy und New Woman jedoch oft als zwei Seiten einer Medaille zusammen, vgl. Dowling, Linda: „The Decadent and the New Woman in the 1890s“, in: Nineteenth-Century Fiction 33.4 (1979), S. 434-453.
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Der Diskurs über das Ende einer alten Welt („la belle époque“) setzt ja gerade das Alte und das Neue dichotomisch und hier ist sicher die ‚neue Frau‘ antagonistisch zu setzen. Im Fin de siècle war die Frau vor allem Objekt – entweder idealisiert als Verkörperung ästhetizistischer Schönheit oder als kulturprägende femme fatale, die Faszination mit Tod und Vergänglichkeit, im Kontext eines Bewusstseins des Überholten, Überlebten, des gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls und der daraus resultierenden Untergangs- oder Endzeitstimmung – all dies hat eine klare Gender-Komponente.12 Angelique Richardson rückt diese Dimension der Genderkrisen im Fin de siècle ins Zentrum ihrer Darstellung. Sie beschreibt: „An explosive cocktail of endings, beginnings and transitions, a remarkably dynamic time in which aesthetes, dandies and decadents rubbed shoulders with social purists, rational dressers, striking match-girls, smoking and cycling New Women – and alarmed reactionaries. It was a time of heightened self-consciousness, of confusion, uncertainty and questioning: the century was coming to an end, but what would follow in its wake?“13
Alte Herren: Die Gegenutopie als anti-feministischer Krisendiskurs Zwar existierte die New Woman vor allem als Kulturstereotyp auf Fiktion und auf Papier14, aber, wie Gail Cunningham zu Recht anmerkte, war sie selbst als Diskursphänomen alles andere als marginal, sondern markierte im Gegenteil vor allem eine „crisis of masculinity“15. Wie reagierte nun das herrschende Patriarchat auf diese Kulturrevolte der selbstbewußten, sozial und durch das Fahrrad auch geographisch mobilen neuen Frau? Angélique Richardson und andere notieren einen Angstdiskurs, der progressive Veränderung vor allem mit einem deterministischen Körperbild begegnete. Charles Darwin, insgesamt eher vorsichtig argumentierend, traf in The Descent of Man 1870 insofern den biodeterministischen Zeitgeist als er Männer
12 Psomiades, Kathy A.: Beauty's Body. Femininity and Representation in British Aestheticism. Stanford CA 1997. Vgl. zur Diskussion um das progressive Potential der femme fatale als ‚unpolitischer‘ Variante der New Woman: Youngkin, Molly: „The Legacy of Sensation Fiction: Bodily Power in the New Woman Fiction“, in: Pamela K. Gilbert, The Oxford Companion to the Sensation Novel, Oxford 2011, S. 579-589. 13 Richardson: „Introduction“, a.a.O., S. xxi. 14 Schaffer, Talia: „Nothing but Foolscap and Ink“, in: Richardson/Willis (Hg.), The New Woman in Fiction and Fact, S. 50. 15 Cunnigham, Gail: „‚He-Notes‘: reconstructing masculinity“, in: Richardson/Willis (Hg.), The New Woman in Fiction and Fact, S. 105.
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als more „courageous, pugnacious, and energetic“16 sah, Frauen, die er als Zwischenstufe zwischen Kind und Mann beschrieb, ihnen jedoch mehr Intuition und Imitationskraft zusprach. Hier erinnert die Formulierung trotz völlig anderer Argumentationszusammenhänge doch sehr an John Ruskin in „Sesame and Lilies“ (1865), wo Ruskin zwar eine Geschlechtersuperiorität ablehnt, ihnen jedoch völlig unterschiedliche, wenn auch komplementäre Qualitäten zuordnet: „The man‘s power is active, progressive, defensive. He is eminently the doer, the creator, the discoverer, the defender. His intellect is for speculation, and invention; his energy for adventure, for war, and for conquest […] But the woman‘s power is for rule, not for battle, – and her intellect is not for invention or creation, but for sweet ordering, arrangement, and decision.“17
Herbert Spencer formuliert schon aggressiver; er sieht die physische Degeneriertheit von „pale angular, flat-chested young ladies so abundant in London drawing rooms“ als Folge von reproduktionsfeindlicher weiblicher Über-Bildung (1861)18. Sogar Autoren, die sich selbst als feministisch beschrieben wie Grant Allen, übernahmen das biodeterministische Denkgebäude. Er forderte, Frauen sollten Mütter werden, sonst würden sie in Zukunft „as flat as a pancake“ und „as dry as a broomstick“19. Die Diagnose ist in Feminismus und Anti-Feminsmus ähnlich: Die New Woman betreibt ein Männer-Mimikry. Dies jedoch positiv als dezentrierende Performance zu sehen, ist dem viktorianischen Mann weitgehend unmöglich. Da die Gender-Revolution der New Women auch mit dem Beginn der Science-Fiction bzw. der zunehmenden Technisierung von utopischen, und fantastischen Erzählungen, Schauer- oder Abenteuerromanen zusammenfällt, finden sich in den seit etwa 1870 gehäuft auftretenden Zukunftsvisionen häufig Szenarien einer weiblichen Dominanz. Dunja Mohr fasst zusammen: „If women ruled in anti-feminist sf, the dreadful gynocratic matriarchies of cruel but positively lecherous women were eventually overthrown by the return of the Father who firmly re-established male supremacy.“20 Arbeiten wie die von Mohr oder Joanna Russ’ Pionieraufsatz von 1980 – der jedoch erst 1926 ansetzt und insofern die Genderkrise um die New Woman 16 Darwin, Charles: The Descent of Man (1870), New York 2004, S. 505-506. 17 Ruskin, John: Sesame and Lilies. Two Lectures Delivered at Manchester 1864, New York 1865. 18 Spencer, Herbert: Education: Intellectual, Moral, and Physical, New York 1898, S. 278. 19 Dieses und weitere Beispiele in: Richardson, Angélique: Love and Eugenics in the Late 19th Century. Rational Reproduction and the New Woman, Oxford 2003, S. 43. 20 Mohr, Dunja M.: Worlds Apart: Dualism and Transgression in Contemporary Female Dystopias, Jefferson/NC 2005, S. 44.
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völlig außer Acht lässt21 – zeigen deutlich, dass mit dem Aufkommen des Second-Wave-Feminism vorwiegend männliche Autoren wiederum mit dem gleichen futurischen Krisendiskurs antworten: nämlich von Angst geprägten cautionary tales um ein außer Kontrolle geratenden Matriarchat. Nach Heilmann ‚kolonisierte‘ die männliche Gegenliteratur den Typus der New Woman, brachte dabei jedoch lediglich eindimensionale Propagandanarrative zustande.22 Während Bulwer-Lyttons The Coming Race 1871 noch nicht in einem solchen Propagandazusammenhang stand, ist Heilmann im Fall von Besant in vollem Umfang zuzustimmen. Der konservative Schriftsteller Bulwer-Lytton, als Autor von „silver-fork novels“ über das Leben der upper classes sowie historischer Romane, Kriminalliteratur und Theaterstücke ausgesprochen erfolgreich, schrieb auch mit The Coming Race einen Bestseller.23 In psychoanalytischer Kontextualisierung mit Rider Haggards She und Sigmund Freuds Traumdeutung ist z.B. für Mazlish The Coming Race eine anti-materialistische, anti-demokratische und anti-evolutionäre Verschiebung verborgener, männlicher Angst vor dem Femininen in die Sphäre der Technologie24. Der Erzähler (von der weiblich dominierten neuen „Rasse“ als „Tish“, „Fröschchen“ und „kleiner Barbar“ verunglimpft)25 ist reicher Amerikaner britisch-adeliger Abstammung, der als utopischer Reisender, aus der Distanz fortgeschrittenen Alters mit einem warnenden Erzählgestus über seine Begegnung mit der neuen Rasse der unteriridischen Vril-ya berichtet. Diese, vom zeitgenössischen Ideal des Hellenismus architektonisch und handwerklich geprägte Superrasse warden von ihm abschließend als „our inevitable destroyers“ (120) eingeschätzt – hier stand sicherlich die Warnung vor zukünftigen Entwicklungen nach evolutionistrischen Denkfiguren Pate.26 Unter der Erde herrscht konsequente Rationalität, die Unver-
21 Russ, Joanna: „Amor Vincit Foeminam. The Battle of the Sexes in Science Fiction“ (1980), in: dies., To Write Like a Woman. Essays in Feminism and Science Fiction, Bloomington 1995. 22 Heilmann, Ann: „The ‚New Woman‘ Fiction and Fin-de-Siécle Feminism“, in: Womenތs Writing 3.3 (1996), S. 197. 23 Er verkaufte 4000 Exemplare in mehreren Neuauflagen zwischen 1871 und 1873. Darko Suvin urteilt, es sei der meistdiskutierte Text der viktorianischen SF: Suvin, Darko: „The Extraordinary Voyage, the Future War, and Bulwerތs The Coming Race: Three Sub-Genres in British Science Fiction, 1871-1885“, in: Literature and History 10.2 (1984), S. 231-248, hier S. 242. 24 Mazlish, Bruce: „A Triptch: Freudތs The Interpretation of Dreams, Rider Haggardތs She, and Bulwer-Lyttonތs The Coming Race“, in: Comparative Studies in Society and History 35.4 (1993), S. 726-745. 25 Bulwer-Lytton: The Coming Race, S. 72. Alle Zitate aus diesem Text beziehen sich im Folgenden auf die Ausgabe von 1871. 26 1844 schrieb Chambers in Vestiges of the Natural History of Creation: „Are there yet to be species superior to us in organization, purer in feeling, more powerful in device and act, and who shall take a rule over us!“ (zit. nach:
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einbares vernichtet (29), die Vision einer technologisch aufgerüsteten, vegetarischen Menschheit amalgamiert mit der Warnung vor der Dominanz des Femininen. Die Vril-ya vereinen mediterrane Schönheit und Wärme, sie erscheinen nach Tizianischen Bildern als transformierte, im wahren Wortsinn ‚entfaltete‘ und Europäer von geheimnisvoller Schönheit (56), die an Dampfbäder und Aromatherapie (48) glauben und vegetarisch leben. Ethnie wie auch Kleidung (Tunika und Tiara) lassen sich auf die postnapoleonische Ägypten-Begeisterung zurückführen: sie gemahnen an hochkulturelle, dunkelhäutige antike Orientale, die zeitlich, ethnisch und geographisch im Gegensatz zur westlich- industriellen Welt und ihren immer wieder beklagten Kulturverlusten des Mitt- und Spätviktorianismus stehen. Ihre Uniformität, Glätte, Stärke, die ästhetische Perfektion der klassischen Welt, sind dabei nicht gegensätzlich zur maschinellen Körpererweiterung gedacht (wie sonst häufig im romantisch-viktorianischen Diskurs zur Dissozierung von Mensch und Maschine). Ihr abstinenter, vegetarischer (85) und stressfreier Lebenswandel läst diese Rasse selbst als hyprerationalistische, geradezu göttlichen und folgerichtig auch ‚ghosts‘ und (12) genannten Maschinen erscheinen, die den eigenen Verschleiß minimieren. Nicht von ungefähr besteht nun bei den Vril-ya eine Dominanz des Weiblichen, denn der Roman partizipiert, wie auch Rider Haggards She (1887) und seine Göttin Ayesha („she-who-must-be-obeyed“), am Angstdiskurs der Männer vor einer weiblichen Machtergreifung. Der unmittelbare Kontext des Romans ist Bachofens Studie des Matriarchats: (Das Mutterrecht, 1861) und die oben skizzierte Kritik an der New Woman und der viktorianischen Frauenbewegung, speziell die harsche Antifeministin Eliza Lynn Linton.27 Bei den Vril-ya sind die Männer bartlos, während ältere Frauen eine Bartbehaarung entwickeln können. Der Name der Frau (Gy) wird hart, also als velarer Okklusiv ausgesprochen und damit homophon zum englischen „guy“ (30). Diese Frau ist selbstverständlich berufstätig: Bra, die Frau des utopischen Gastgebers Aph-Lin, beaufsichtigt die Maschinen und Kinderarbeiter (83). Der Erzähler konzediert: „Among these people there can be no doubt about the rights of women, because […] the Guy, physically speaking, is bigger and stronger than the An. […] Therefore, all that our philosophers above ground contend for us as to rights of women, is conceded as a matter of course in this happy commonwealth.“ (109-10)
Houghton, Walter E. [1957]: The Victorian Frame of Mind 1830-1870, New Haven 1968. S. 36. 27 Campbell, James L. (1987): „Edward Bulwer-Lytton's The Coming Race as a Condemnation of Advanced Ideas“, in: Essays in Arts and Sciences 16 (1987), S. 55-63, hier S. 59. Zu nennen sind Lintons Artikel zur „Girl of the Period“ und „The Shrieking Sisterhood“ im Saturday Review.
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Die New Woman erscheint in The Coming Race auch insofern, als gerade junge Frauen stärker, schöner und furchteinflößender sind als die Männer und vor allem die zivilsationsgebende Vril-Technologie besser beherrschen (54). Die New Woman ist also, im wahren Wortsinn, viril, und, wie das folgende Zitat zeigt, nicht nur durch ihren ausgeprägten Daumen auch Besitzer des Phallus („slender rod“) – nach Lacan also der Subjektmacht und Ordnungsgewalt: „She set complicated pieces of machinery into movement, arrested the development or continued it, until, within an incredibly short time, various kinds of raw material were reproduced as symmetrical works of art, complete and perfect. Whatever effect mesmerism or electro-biology produces over the nerves and muscles of animated objects, this young Gy produces by the motions of her slender rod over the springs and wheels of lifeless mechanism.“ (54)
Abb. 2: Bulwer-Lyttons New Woman mit Tiara und Vril-Stab als mediterrane, phallische Überfrau mit Flügeln28 Nach der Heirat ist nun der metaphorische Komplex von Objektbeherrschung, Flugfähigkeit und weiblicher Sexualität seltsamerweise freiwillig aufgehoben (78). Das akademische „College of Sages“, ein Kollegium für hypertrophes Theoretisieren und Orchideenfächer, wird nur von Witwen und unverheirateten jungen Frauen bevölkert (28). Hier wird Bulwer-Lyttons antifeministische Satire deutlich: erkennbar wird hier das kulturprägende Streotyp der jungen Akademikerin à la Girton College attackiert.Den „kommenden“ Frauen wird in diesem Gender-Topsy-Turvy immerhin die Fähigkeit zu maskuliner Ritterlichkeit zugeeignet:
28 Quelle: Kolorierte Zeichnung für The Coming Race (ohne Datum), Perry Special Collections, Brigham Young University.
288 | E CKART V OIGTS „though a virgin Gy is so frank in her courtship […] the bearing of the Gy-ei towards males in ordinary is very much that of high-bred men in the gallant societies […] deferential, complimentary, exquisitely polished – what we should call ‚chivalrous‘.“ (113)
Die Paarungswerbung ist Sache der Frau: der menschliche Erzähler Tish wird von Aph Lins Tochter Zee umworben und ist wegen der sich abzeichnenden Mésalliance mit der amazonenhaften Überfrau mit dem Tod bedroht. Hier entwirft Bulwer-Lytton die umgekehrte Vision einer rassenschändlichen „miscegnation“, also einer interkulturellen Mischehe, die auch in ethnische Muster gepägt wird, die die Zeitgenossen dekodieren könne: „Instances of such an mésalliance would be as rare as those of Anglo-Saxon emigrants and the Red indians“. (111) Der allmächtige Vril-Stab macht die Bewohner zu durchtechnologisierten Wesen. Vril, heute gern mit der ‚Force‘ aus Star Wars29 oder der Atomenergie verglichen, ist synonym mit technologischer Herrschaft, bio-technologischer Willenskraft, ja sogar mit Zivilisation und Gesellschaftsverfassung. Vril ist das Zeichen einer ganz überwiegend weiblichen Technokratie. Die amazonenhafte Zee, ausgestattet mit Flügeln und durch die Beherrschung von Vril zum Fliegen ermächtigt, äußert sich herablassend zu den rein organischen Bemühungen Tishs, das Fliegen zu erlernen: „I see [...] that your trials are in vain [...] from irremediable, because organic, defect in your power of volition“ (78). Das Fliegen hat – wie später bei Erica Jongs Klassiker des Second-wave-Feminism The Fear of Flying (1973) – natürlich auch einen Subtext sexueller Emanzipation. Die New Woman ist hier also ein technisiertes Gegenbild zum organischen Mann. Dieser wiederum muss sich der Abrogation seiner Attribute erwehren, denn natürlich ist Vril eine Kontraktion von „viril“ (virilis, mannhaft, kraftvoll), die im Übrigen die Sprache der kommenden „Rasse“ als kulturgebend dominiert: Zivilsation ist „A-Viril“, Zivilisierte sind „Viril-ya“. Der telephatisch-telekinetische Einfluß, den die Tochter Zee mit Vril auf ihn ausübt, macht Tish zu einer „mere machine“ (74). Für die viktorianische Abenteurer-Männlichkeit von Tish kann diese Form von Zivilsation nur als einengend und monoton, also im wietesten Sinne, häuslich, empfunden werden: „The virtuous and peaceful life [...] began to oppress me with a sense of dulness [sic!] and monotony. Even the serene tranquillity [sic!] of the lustrous air prayed on my spirits. I longed for change, even to winter, or storm, or darkness“ (108). Bulwer-Lyttons Roman zeigt hier eine interessante Unsicherheit in seiner Definition von Männlichkeit: die jungen Frauen der Coming Race sind zwar männlich, aber nur als Fake, denn es kann keine „richtige“ Männlichkeit in der falschen geben.
29 Vgl. Mazlish: „A Triptch: Freudތs The Interpretation of Dreams, Rider Haggardތs She, and Bulwer-Lyttonތs The Coming Race“, a.a.O., S. 740.
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Solche Ambivalenzen machen einen Reiz für heutige Rezipienten aus, der dem abschließend besprochenen Text meist abgeht. Walter Besants The Revolt of Man (1882) amüsiert nur noch durch eine klobig und mühsam narrativisierte Vision eines Matriarchats, das als Zerrbild des First-Wave-Feminism gemeint war, aber heute als verzweifeltes und ästhetisch wie sozial eindimensionales Rückzugsgefecht eines reformunfähigen viktorianischen Antifeminismus zu werten ist. Dabei war Besant zu seiner Zeit ein hochgeachteter Dickens-Epigone, der durchaus sozialreformerische Erfolge aufweist und mit seinen East-End-Fiktionen erhebliche Diskursmacht entwickeln konnte (All Sorts and Conditions of Men, 1882; The Children of Gibeon, 1886). Sein antifeministischer Plot fokussiert die junge Innenministerin Constance, Countess of Carlyon, der zu Romanbeginn verboten wird, eine Rede über Männeremanzipation im House of Peeresses zu halten. Ihre natürliche Schönheit wird betont, um die schädlichen Einflüsse intellektueller Aktivität dagegen abzuwiegen. Das Frauenparlament ist Schauplatz unwürdiger Plapperei, nachdem die letzten Männer ausgezogen sind. Ihr Cousin, Lord Edward Chester, soll eine Männerrevolte anführen, ausgebildet durch die dissidente Historikerin Professor Ingleby. Ingleby lehrt nicht zufällig an der University of Cambridge und propagiert dort die Rückkehr zu den ‚exakten‘ Wissenschaften – hier wird unterstellt, dass im Matriarchat eine vorrationalistische Theokratie die männlich-exakten Wissenschaften ersetzt. Grund der Revolte: Dem zweiundzwanzigjährigen Chester droht eine Gefängnisstrafe, falls er einen Antrag der fünfundsechzigjährigen Duchess of Dunstanburgh ablehnt, die das Land diktatorial und durch Nepotismus regiert. Die Duchess kann mit ihrer Perückenmähne und ausgeprägter Stirn als Zerrbild einer gealterten New Woman gelten, die drei Ehemänner überlebt hat und durch ihren Ehrgeiz und Stolz gezeichnet ist. Eine Gruppe von Männern um Lord Chester opponiert mit dem Schlachtruf „Scheidung!“ gegen die Zwangsverheiratungen junger Männer unter dem Matriarchat. Nach dem Marsch der 10.000 auf London und Hilfestellung, besonders durch junge Frauen, kommt es schließlich ohne Kampf zur Restitution der alten Ordnung. Die Rückkehr in die selbstverschuldete Unmündigkeit wird gerade von jungen Frauen gerne angenommen: „No more reading for professions! Hurrah! Did any girl ever really like reading law? No more drudgery in an office! Very well. Who would not prefer liberty and seeing the men work?“ Constance heiratet Lord Chester, der sein Erbe antritt und zum König ausgerufen wird. Sie gesteht das komplette Versagen des Matriarchats ein: „We reigned for a hundred years and more, and everything fell to pieces; you return, and all begins to advance again.“30 Anders als Bulwer-Lytton legt Besants Angstdiskurs eine kontrastive Inversion des viktorianischen England vor. So markiert er einen ausgeprägten
30 Besant, Walter: The Revolt of Man, London 51882, S. 354. Weitere Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
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biodeterministischen Gegensatz zwischen der ‚natürlichen‘ Brutalität des Mannes und der ‚künstlichen‘ Zivilisation der Frau: „Man was like Nature, which takes infinite pains to construct an insect of marvellous beauty, and then allows it to be crushed in thousands almost as soon as born. Woman, on the other hand, considers the means“ (147). Folgerichtig unterwirft sich Innenministerin Constance schließlich der überlegenen Stärke Lord Chesters: „She was conquered; Man was stronger than Woman“ (314). Zunächst widmet sich jedoch der Roman eines äußerst skizzenhaften Überblicks über die Umkehrung der viktorianischen Geschlechterverhältnisse: „As girls at school, everybody had learned about the Great Transition, and the way in which the transfer of Power, which marked the last and greatest step of civilisation, had been brought about: the gradual substitution of women for men in the great offices; the spread of the new religion; the abolition of the monarchy; the new religion; the abolition of the monarchy; the introduction of pure theocracy, in which the ideal Perfect Woman took the place of a personal sovereign; the wise measures by which man's rough and rude strength was disciplined into obedience […] Even men, who learned little enough, were taught that in the old days strength was regarded more than mind, while the father actually ruled in the place which should have been occupied by the mother“ (3)
Es wird deutlich, dass mit dem Feminismus gleich die zentralen Grundfesten der viktorianischen Gesellschaft (Religion, Monarchie, Demokratie, Privatschulen wie Eton/Rugby) mitbedroht sind. Die Fabriken in den Midlands sind stillgelegt, die Liverpooler Docks leer, die Bahntrassen überwuchert: Manchester ist wieder sauber und gefertigt wird in manueller Heimarbeit. Interessant ist auch, dass am überlegenen Körperbild des Mannes festgehalten wird – dessen Kraft jedoch hinter einer durchintellektualisierten Kulturnorm zurücktritt. Außer Sport bleibt Männern kaum ein Betätigungsfeld, vor allem da häusliche Gewalt gegen Frauen mit lebenslanger Zwangsarbeit bestraft wird und – ein beliebtes Motiv bei der Satire auf die Frauenbewegung – dazu führt, dass der Mann den Namen der Frau annehmen muss. Frauen haben Männersphären erobert (Politik, Kunst, Literatur), aber Shakespeare ist verboten und natürlich sind sie weder willens noch in der Lage ‚große‘ Tragödien zu schreiben. Der Kult der ‚Perfect Woman = Feminine Divinity of Thought, Purpose and Production‘, angelegt bereits, indem der katholische Marienkult konspirativ die Anbetung Christi ersetzt, zeichnet sich durch Instabilität aus. Impliziert wird das alte Klischee von der wankelmütigen Frau, denn die Göttin ist je nach der neuesten Mode gekleidet. MännerRepräsentationen sind dagegen künstlerisch lediglich Beiwerk und zudem unmännlich androgyn ausgeführt. Männer sind unterwürfig und tragen ihr Haar ‚curly‘. Sie werden gezwungen, ältere Frauen zu heiraten. Nach der Logik der Umkehrung zeigt der Roman jedoch implizit auch auf, wie die Viktorianer Frauen behandeln. Vor der Männerrevolte ist Männern Bildung vorenthalten, sie bleiben zu Hause, ziehen die Kinder auf und
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dürfen nicht ohne Frauenbegleitung auf der Straße gehen. Zumindest implizit muss Besant also ein Gleichheitsideal ebenso wie bestehende Ungleichheiten akzeptieren. Figuren wie Constance, der idealisierte Gegenentwurf der New Woman, und ihre intellektuell-konservative Mentorin Ingleby sind ohnehin zutiefst ambivalent. Sie werden genährt und gefördert im Matriarchat, aber gleichzeitig besitzen sie die (offenbar höchstens angeborene) Weisheit, der Frauenherrschaft abzuschwören. So ist es ironischerweise eine intellektuelle Frau, Professor Ingleby, die fundamentale antifeministische Weisheiten erkennt: „Astronomy, which widened the heart, is neglected; medicine has become a thing of books; mechanics are forgotten – […] Because women, who can receive, cannot create; because at no time has any woman enriched the world with a new idea, a new truth, a new discovery, a new invention; because we have undertaken the impossible.“ (143)
So lässt sich der Katalog der Männerknechtung in Besants kruder Satire immerhin nicht rein antifeministisch, sondern auch als Kritik am Eherecht und der ökonomischen Bevorzugung von Männern im viktorianischen England lesen, wie bereits eingangs Lady Constances Inversion der viktorianischen Situation: „I showed that the whole of the educational endowments of this country have been seized upon for the advantage of women. I suggested that a small proportion might be diverted for the assistance of men. Married men with property, I showed, have no protection from the prodigality of their wives. I pointed out that the law of evidence, as regards violence towards wives, presses heavily on the man. I showed that single men's wages are barely sufficient to purchase necessary clothing. I complained of the long hours during which men have to toil in solitude or in silence, of the many cases in which they have to do housework and attend to the babies, as well as do their long day's work.“ (16)
Ein antagonistischer Krisendiskurs, so wird hier deutlich, durchdringt die jeweiligen Beiträge – so dass die New Woman als Krisenphänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts beträchtliche Spuren nicht nur in der feministischen, sondern auch in der anti-feministischen Krisenpropaganda hinterlassen hat. Die rauchende, radfahrende, sozio-ökonomisch argumentierende Frau löste einen markanten Angstdiskurs aus. Je stärker Autoren wie Bulwer-Lytton und, noch viel ausgeprägter, Walter Besant die Stabilität viktorianischer Geschlechterverhältnisse zementieren wollten, desto ausgeprägter dokumentieren sie die durch den Darwinismus bereits angelegte Dynamik im Wandel der Geschlechterverhältnisse. Trotz des in allen Texten mehr oder weniger hervorstechenden Biodeterminismus ist Bulwer-Lytton in seiner Vision einer androgynen Weiblichkeit dabei deutlich näher bei Judith Butler als der mit ausgeprägter Geschlechterdifferenz arbeitende Besant.
Krise der Volksparteien – Krise der Demokratie? S IGRID B ARINGHORST
Schüsselstellung der Parteien zwischen Gesellschaft und Staat Die Kritik an politischen Parteien hat insbesondere in Deutschland eine lange und unrühmliche Geschichte. Insbesondere rechtskonservative Kräfte bekämpften die Weimarer Republik unter dem Schlagwort des ‚Parteienstaates‘ und setzten der Parteiendemokratie ein nostalgisches Plädoyer für die konstitutionelle Monarchie mit tradierten ämter- und beamtenstaatlichen Strukturen entgegen.1 Der politische Diskurs fand seine Entsprechung und Legitimation in einer konservativen Staatsrechtslehre, die sich vor allem gegen die von den politischen Parteien verkörperte Verschränkung der als dual gedachten Sphären von Staat und Gesellschaft wandte. Der Staat, so die konservative Rechtsvorstellung, verkörpere eine über den gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikten stehende Institutionenordnung sui generis. Deren Eigenständigkeit werde jedoch durch die doppelte Funktion der politischen Parteien als einerseits Sprachrohr gesellschaftlicher Partikularinteressen und andererseits Teil des parlamentarischen Systems bedroht. Der Staat, so etwa Carl Schmitt in seiner 1931 veröffentlichten Schrift „Der Hüter der Verfassung“, sei in der Weimarer Parteiendemokratie einem die Einheit des Volkes untergrabenden, „zerstörerischen politischen Pluralismus“ ausgeliefert. Die Parteien agierten als eine zum „Parteienstaat gewordene Gesellschaft selbst“2; sie bemächtigten „sich als solche der staatlichen Willlensbildung“ […] ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein.“3
1 2 3
Minzel, Alf/Alemann, Ulrich von: „Parteienstaat“, in: Dieter Nohlen (Hg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1995, S. 510-513, hier S. 510. Schmitt, Carl: Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 79. Ebd., S. 71.
294 | SIGRID B ARINGHORST „Die alten Gegner, die ‚indirekten‘ Gewalten von Kirche und Interessenorganisationen, sind in diesem Jahrhundert in moderner Gestalt als politische Parteien, Gewerkschaften, soziale Verbände, mit einem Wort als ‚Mächte der Gesellschaft‘ wiedererschienen. Sie haben sich auf dem Wege über das Parlament der Gesetzgebung und des Gesetzesstaates bemächtigt und konnten glauben, den Leviathan vor ihre Fahrzeuge gespannt zu haben.“4
Die Kritik an den politischen Parteien der Gegenwart unterscheidet sich, wie im Folgenden näher erläutert wird, in vieler Hinsicht von der rechten Fundamentalkritik der Weimarer Republik. Eher wird eine zu geringe und nur selektive Transmission von gesellschaftlichen Interessen in das politische System hinein moniert als eine zu starke Orientierung am gesellschaftlichen Pluralismus. Gemeinsam ist beiden Krisendiskursen jedoch, wie zu zeigen sein wird, eine Betonung der Schlüsselstellung von politischen Parteien zwischen Staat bzw. Politik und Gesellschaft sowie eine Deutung des gegebenen Zustands in Narrativen der Krise. Nach einer kurzen Skizzierung der rechtstheoretischen und rechtlichen Grundlagen der Bonner Parteiendemokratie werden die unterschiedlichen normativen Erwartungshaltungen, die den Diskurs über die politischen Parteien seit 1949 in Deutschland bestimmen, sowie die unterschiedlichen Phasen der öffentlichen Debatte und der politikwissenschaftlichen Forschung systematisch gegenübergestellt. Besonders fokussiert werden anschließend die Grundzüge des gegenwärtigen Diskurses über eine ‚Krise der Volksparteien‘. Dabei werden die im Krisendiskurs häufig erwähnten Krisenindikatoren sowie die zu deren Erklärung angeführten Narrative herausgearbeitet und – orientiert an den zuvor erörterten Paradigmen normativer Erwartungshaltung – systematisch eingeordnet. Inwiefern die ‚Krise der Volksparteien‘ tatsächlich eine Krise oder nur einen schlichten Prozess des Parteienwandels im Sinne einer Anpassung an umfassende Prozesse der Modernisierung darstellt und inwiefern dieser Strukturwandel der Parteien und des Parteiensystems tatsächlich eine ‚Krise der Demokratie‘ bedeutet, wird Gegenstand der abschließenden Überlegungen sein.
Rechtstheoretische und rechtliche Grundlagen des Bonner Parteienstaates Die bundesrepublikanische Rechtsauffassung zur politischen Funktion und Organisation von Parteien wurde maßgeblich beeinflusst durch den Staatsrechtler und langjährigen Richter am Bundesverfassungsgericht (1952-1971) Gerhard Leibholz. In seiner frühen kritischen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt war Leibholz ähnlich wie dieser von einer romantischen Vorstel4
Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg-Wandsbek 1938, S. 116f.
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lung des Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts geleitet; doch ging er im Gegensatz zu Schmitt von einer prinzipiellen Unaufhaltsamkeit der „Entwicklung zum massendemokratischen Parteienstaat“ aus. Unwiderruflich werde die „liberal-repräsentative Demokratie“ des 19. Jahrhunderts von der parlamentarischen Massendemokratie abgelöst, in der dem Parlament die zentrale Funktion eines „Zwischenbau[s] von Staat und Gesellschaft“ zukomme.5 Der moderne Parteienstaat sei „in seinem Wesen nichts anderes als eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie im modernen Flächenstaat.“6 Ihre besondere in Verfassung und Parteiengesetz hervorgehobene rechtliche Stellung ergibt sich nach Leibholz daraus, dass allein die Parteien die Möglichkeit haben, „die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen“. Die Parteien seien „das Sprachrohr [...], dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern zu können, und in der politischen Sphäre handlungsfähig zu werden […].“ Die ‚Mediatisierung‘ des Volkes durch die Parteien [gehört] sozusagen zum Wesen der modernen Demokratie. In dieser haben die Parteien die Tendenz, sich mit dem Volk zu identifizieren; noch pointierter ausgedrückt, sie erheben den Anspruch, das Volk zu sein.“7 Dabei erkannte er jedoch durchaus die der identitätstheoretischen Konzeption inhärente Gefahr einer Verselbstständigung der Parteien und infolgedessen einer partikularistischen Abkoppelung der Parteien vom Volk. Damit die Parteien sich nicht zum Selbstzweck werden und zu einem Fremdkörper oder gar ‚Staat im Staate‘ entwickeln, der nur seine eigenen Partikularinteressen verfolge, plädierte er zur institutionalisierten Sicherstellung demokratischer Rückkoppelung für die rechtliche Verankerung und Umsetzung des Prinzips der innerparteilichen Demokratie.8 Auch wenn seine identitätstheoretische Vorstellung des Verhältnisses von Volk und Parteien im modernen Parteienstaat schon früh als ideologische Verzerrung der empirischen Wirklichkeit kritisiert wurde9, beeinflusste sie ganz wesentlich die parteienrechtlichen Normierungen der bundesrepublikanischen Demokratie nach 1945. So sichert das Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Verfassung die unverzichtbare Existenz und politische Vermittlungs- und Mitwirkungsfunktion der Parteien an der politischen Willensbildung verfassungsrechtlich ab: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, so Art. 12 Abs. 1 GG. Genauer differenziert werden die den Parteien zugewiesenen Aufgaben im Parteien-
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Leibholz, Gerhard: Strukturproblem der modernen Demokratie, Frankfurt a.M. 1964, S. 25. Ebd., S. 146. Leibholz, Gerhard: Verfassungsstaat – Verfassungsrecht, Stuttgart u.a. 1974, S. 81. Leibholz: Strukturproblem der modernen Demokratie, S. 124. Vgl. z.B. Saage, Richard: „Zum Begriff der Parteien und des Parlaments bei Carl Schmitt und Gerhard Leibholz“, in: Das Argument 50 (1969), S. 174-193.
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gesetz von 1967. Danach wirken die Parteien „auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ an der politischen Willensbildung mit. Dies geschieht insbesondere, indem sie „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger herausbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten Ziele in den Prozess der staatlichen Willlensbildung einführen, für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.“ (§ 1 (2) des Parteiengesetzes von 1967). Fasst man die Aufgabenzuweisungen zusammen, so umfasst der Funktionskatalog eine breite Palette an Transmissionsfunktionen: eine allgemeine Partizipationsfunktion, eine Sozialisations- und Bildungsfunktion, eine Artikulations- und Aggregationsfunktion bezogen auf die öffentliche Thematisierung und Bündelung gesellschaftlicher Interessen, die Funktion der Elitenrekrutierung und der Übernahme von Regierungsverantwortung sowie eine auf die gesamte Gesellschaft bezogene politische Integrationsfunktion.10 Unter der Voraussetzung, dass die Parteien diese ihnen zugewiesenen Aufgaben angemessen erfüllen, tragen sie, so die Annahme, ganz wesentlich zur legitimatorischen Absicherung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland bei.
Parteien im öffentlichen Diskurs nach 1945 – Paradigmen normativer Erwartungshaltungen In der politikwissenschaftlichen Parteienforschung sowie im öffentlichen Diskurs wurden und werden die genannten Funktionszuschreibungen unterschiedlich gewichtet und akzentuiert. Auf Basis dieser unterschiedlichen Gewichtungen lassen sich mit Elmar Wiesendahl drei allgemeine Paradigmen normativer Erwartungshaltungen beschreiben, die bis in die Gegenwart sinnvolle Anhaltspunkte für eine systematische Einordnung von einzelnen Kritikpunkten im Rahmen aktueller Krisennarrative bilden.11 Das „Transmissionsparadigma“12 ist parteientheoretisch eng mit konflikt- und identitätsdemokratischen Vorstellungen verbunden, wie sie von Robert Michels und Gerhard Leibholz entwickelt wurden und knüpft historisch an die Entstehung der großen Massenparteien im ausgehenden 19. und 10 Vgl. Alemann, Ulrich von: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 32003. 11 Wiesendahl, Elmar: „Parteientheorie“, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 2, München 2002, S. 626-630, hier S. 626ff. 12 Ebd., S. 626.
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frühen 20. Jahrhundert an. Michels hatte in seiner Charakterisierung von Parteien als Instrumente des Klassenkampfes vor allem die auf Massenmobilisierung und massenhafte Mitgliedschaft gründenden modernen Arbeiterparteien im Blick.13 Mobilisierung, Organisation und Repräsentation von gesellschaftlichen Kollektivinteressen bilden für ihn die Hauptaufgaben von Parteien. Sie sollen diese Kollektivinteressen in die staatliche Sphäre ‚transmittieren‘, in die politischen Beratungs- und Entscheidungsgremien hineintragen und für deren Umsetzung in konkrete politische Maßnahmen sorgen. Weniger konflikt- als identitätstheoretisch ausgerichtet, wie oben erläutert, ist die Transmissionsvorstellung bei Leibholz. Auch seine Interpretation des Parteienstaates gründet vor allem auf der Sprachrohrfunktion der politischen Parteien. Wie weiter unten genauer ausgeführt, bietet gerade diese Annahme der Identität zwischen Volk und Parteien zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein an der Tendenz zur Oligarchisierung und gesellschaftlichen Abkopplung ansetzendes aktuelles Narrativ der Parteienkritik. Aber auch eine Kritik an mangelnder innerparteilicher Demokratie sowie mangelnder Konfliktfähigkeit der Parteien findet im Transmissionsparadigma ihre Legitimation. Normative Erwartungshaltungen, die sich unter dem „Integrationsparadigma“14 bündeln lassen, heben insbesondere die gesamtgesellschaftliche Integrationsleistung der politischen Parteien hervor. Nicht die konfliktorientierten, ideologisch aufgeladenen Massenparteien des frühen 20. Jahrhunderts, sondern die erst Ende der 1940er bzw. 1950er Jahre in Deutschland entstehenden Volksparteien werden hier zum Orientierungsmaßstab für die Beurteilung der Leistungen von Parteien. Entsprechend der insbesondere nach 1945 dominierenden stabilitätsorientierten Leitvorstellungen sollen Parteien für ein möglichst konfliktfreies, harmonisches und konsensuales Regieren sorgen und prinzipiell für alle gesellschaftlichen Schichten offen sein. Leitbild der Parteien wird die weitgehend entideologisierte, Interessen ausgleichende und zunehmend policy-orientierte, d.h. pragmatisch an einzelnen Sachfragen ausgerichtete Parteiprogrammatik der Volksparteien CDU und SPD. Gesellschaftliche Konflikte sollen sich demnach in den Flügeln der als grundsätzlich kooperations- und gemeinwohlorientiert gedachten Volksparteien abbilden.15 Im Vergleich zu den ideologisch aufgeladenen Massenparteien verlieren die Parteimitglieder trotz institutionalisierter Regeln innerparteilicher Demokratie in den Volksparteien an Einfluss. Diese maßgebliche Steuerung durch Parteieliten entspreche, so die Annahme, den Erfordernissen einer zunehmend professionalisierten Parteipolitik.
13 Vgl. Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911 [=Philosophisch-soziologische Bücherei XXI]. 14 Wiesendahl: „Parteientheorie“, a.a.O., S. 626. 15 Vgl. Kirchheimer, Otto: „Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems“, in: Politische Vierteljahresschrift 1 (1965), S. 29f.
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Die seit Mitte der 1970er Jahre thematisierte Entwicklung der Volksparteien zu professionalisierten Wählerparteien16 bzw. Berufspolitikerparteien17 findet ihre legitimatorische Rechtfertigung im „Konkurrenzparadigma“18. Die Erwartung an politische Parteien ist entsprechend dieser normativen Parteienkonzeption bezogen auf ihre Partizipations-, Integrations- und Sozialisationsleistung eher gering: Rekurrierend auf sog. realistische, eliteorientierte Demokratietheorien19 werden Wähler als rational agierende KostenNutzen-Maximierer und Parteien primär als Stimmenfangunternehmen betrachtet. Wesentlich für die Parteiendemokratie ist entsprechend des Konkurrenzparadigmas der insbesondere in Wahlkämpfen ausgetragene Wettbewerb um Wählerstimmen. Dabei geht es im Wahlkampf analog dem marktwirtschaftlichen Wettbewerbsmodell vor allem darum, zwischen programmatischen Angeboten der Parteien und den Präferenzen der Bürger ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zu schaffen. Auf diesem Wege stelle sich, so die Annahme, automatisch eine optimale Versorgung der Bürger mit öffentlichen Dienstleistungen her. Angesichts der nur geringen Erwartung an die Transmissions- und Integrationsleistungen der Parteien nehmen, wie weiter unten erläutert wird, aktuelle Parteienkritiker nur relativ wenig Bezug auf das „Konkurrenzparadigma“. Eher werden gerade die Auswüchse eines schonungslosen Parteienwettbewerbs skandalisiert. Ebenso fokussiert werden auch die Gefahren der Korruption und des Machtmissbrauchs, der Schwächung innerparteilicher Demokratie sowie die Ignoranz gegenüber dem Willen der Bürger nach und zwischen den Wahlen, die in den konkurrenzdemokratischen Parteivorstellungen in der Regel wenig thematisiert werden. Die paradigmatischen Erwartungshaltungen lassen sich, wie skizziert, unterschiedlichen Parteitypen wie vor allem Massenparteien, Volksparteien und professionalisierten Wählerparteien zuordnen. Diese systematische Zuordnung sagt jedoch wenig über die Dominanz bzw. Relevanz der einzelnen Paradigmen im historischen Verlauf öffentlicher wie politikwissenschaftlicher Diskurse aus. Bezogen auf den Diskursverlauf in Deutschland nach 1945 zeigt sich zunächst eine den Stabilitätserwartungen der kriegsgeschüttelten Bevölkerung entsprechende Vorherrschaft des Integrationsparadigmas. Mit Entstehung und Erstarken der neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren verlagert sich die Erwartung an die Parteien zugunsten einer deutlicheren Wertschätzung einer konfliktorientierten Transmissionsfunktion. Parteien sollen gesellschaftliche Konflikte nicht schon intern ausglei-
16 Panebianco, Angelo: Political Parties: Organization and Power, Cambridge 1988. 17 Beyme, Klaus von: Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Wiesbaden 2000. 18 Wiesendahl: „Parteientheorie“, a.a.O., S. 626. 19 Vgl. z.B. Schumpeter, Joseph: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart 82005 und Downs, Anthony: Eine elektronische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.
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chen oder generell tabuisieren, sondern in die parlamentarischen Arenen hineintragen, so eine Forderung. Gegen die Tendenz zur De-Ideologisierung wird vor allem von linken gesellschaftlichen Gruppen im Sinne der allgemeinen Emanzipationsforderung eine Re-Ideologisierung und klassenkämpferische Ausrichtung der seit dem Godesberger Programm (1957) zur Volkspartei gewandelten ehemaligen sozialdemokratischen Massenpartei gefordert. Infolge des Scheiterns des sog. real existierenden Sozialismus wird diese linksgerichtete Parteienkritik im öffentlichen sowie im wissenschaftlichen Diskurs nach 1989 eher marginalisiert. Mit dem Siegeszug von RationalChoice- und Systemtheorien in den Sozialwissenschaften gewinnen auch in der Politikwissenschaft konkurrenzdemokratische Vorstellungen an Bedeutung. Politikwissenschaftliche Begriffe wie „professionalisierte Wählerparteien“20, „Kartellparteien“21, moderne „Berufspolitikerparteien“22 oder „professionalisierte Medienkommunikationsparteien“23 finden zunehmend Eingang in den öffentlichen Diskurs. Entsprechend dem dominanten empirischanalytischen und nicht normativen Selbstverständnis der deutschen Politikwissenschaft wird der Übergang der Volksparteien zu professionalisierten Wähler- oder Medienparteien jedoch von vielen Parteienforschern nicht als ‚Krise‘ der Volksparteien beschrieben, sondern vielmehr anhand von Indikatoren – wie z.B. Veränderungen von Mitgliedschaft und Wählerbasis, Einfluss der Parteimitglieder, programmatische Ausrichtung und Repräsentationsidee sowie veränderte Medienorientierung – empirisch nachgezeichnet. Eher spricht man von einem noch nicht abgeschlossenen strukturellen Wandlungsprozess der politischen Parteien, so etwa der allgemeine Tenor in dem von Uwe Andersen herausgegebenen Sammelband Parteien in Deutschland. Krise oder Wandel? aus dem Jahr 2009. Dieser Wandel wird als mehr oder weniger unausweichlicher Prozess der Modernisierung und der organisatorischen und programmatischen Anpassung der politischen Parteien an eine sich verändernde soziale, kulturelle, politische und mediale Umwelt verstanden.24 Dabei werden drei Dimensionen der Veränderung von Kontextbedingungen in ihren Auswirkungen auf einen Wandel der Parteien besonders hervorgehoben: Erstens der Wandel der Medien und seine Folgen für eine Präsidialisierung und stärkere Elitenbildung in den Parteien; zweitens der Wandel von Wählermärkten im Zuge gesellschaftlicher Individuali-
20 Vgl. Panebianco: Political Parties. 21 Katz, Richard/Mair, Peter: „Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party“, in: Party Politics, Jg. 1, H. 1 (1995), S. 5-28. 22 Beyme: Parteien im Wandel. 23 Jun, Uwe: Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie. SPD und Labour Party im Vergleich, Frankfurt a.M. 2004. 24 Jun, Uwe: „Parteienforschung“, in: Uwe Andresen (Hg.), Parteien in Deutschland. Krise oder Wandel?, Schwalbach/TS 2009, S. 11-38.
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sierung und Ent-Traditionalisierung und die damit verbundenen Auswirkungen im Sinne sinkender Parteibindungen und Parteimitgliedschaften; sowie drittens der Wandel politischer Kontextfaktoren wie vor allem einer Komplexitätszunahme von Problemen und Entscheidungsarenen und damit einhergehenden Folgen für die Steuerungsprobleme des modernen Staates und dem daraus folgenden, wachsenden Vertrauensverlust der Parteien.
Niedergang der Volksparteien – Krisenindikatoren und -erklärungen in aktuellen Krisendiagnosen Die wenig dramatisierenden und strukturelle Zwänge betonenden Parteienforscher des politikwissenschaftlichen Mainstreams finden in den auf Dramatisierung zielenden öffentlichen Debatten weniger Gehör als diejenigen, die den strukturellen Wandel von Volksparteien zu ‚Berufspolitikerparteien‘ oder ‚professionalisierten Medienparteien‘ mit Begriffen wie ‚Niedergang‘ oder ‚Krise der Volksparteien‘ beschreiben. Die folgende Darstellung rekurriert vor allem auf Diskursbeiträge von in der ‚seriösen‘ Presse häufig zitierten Wissenschaftlern, die wie die Politologen Karl-Rudolf Korte, Franz Walter, Gerd Langguth und Elmar Wiesendahl, der Historiker Paul Nolte oder der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim gegenwärtig wichtige Vertreter eines dramatisierenden Krisen-Narrativs sind. Wesentliche Befunde dieser im öffentlichen Diskurs der letzten Jahre formulierten und debattierten Krisendiagnosen sollen im folgenden Abschnitt entlang von Krisenindikatoren und Krisenerklärungen systematisiert und erläutert und den oben skizzierten Erwartungsparadigmen zugeordnet werden. Schon die Titel einschlägiger, auf ein breites Leserpublikum zielender Buchveröffentlichungen, wie etwa Volksparteien ohne Volk25 oder Im Herbst der Volksparteien26, künden bei den genannten Autoren von einer dramatisierenden Einschätzung der diagnostizierten Veränderungsprozesse. So spricht auch Karl-Rudolf Korte 2005 in einem sinnfällig mit dem Titel „Den Volksparteien läuft das Volk davon“ überschriebenen Artikel von einer „echten Krise der Volksparteien“.27 Auch Paul Nolte sieht die Volksparteien angesichts sinkender Wählerstimmen nur noch als „Drittelparteien“
25 Arnim, Hans Herbert von: Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009. 26 Walter, Franz: Im Herbst der Volksparteien. Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeld 2009. 27 Korte, Karl-Rudolf: „Den Volksparteien läuft das Volk davon“, in: Die Welt vom 25.09.2005, URL: http://www.welt.de/print-wams/article132678/ Den_ Volksparteien_laeuft_das_Volk_davon.html vom 06.09.2011
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und diagnostiziert die Aufsplitterung des Parteiensystems in der FAZ als „Strukturbruch im Parteiensystem“28. Fragt man nach den Indikatoren, die den als krisenhaft diagnostizierten Zustand der Volksparteien belegen sollen, so werden immer wieder folgende Entwicklungen mit empirischen Daten belegt: eine seit Mitte/Ende der 1970er Jahre vor allem auf den Ebenen von Ländern und Kommunen zu verzeichnende deutlich abnehmende Wahlbeteiligung verbunden mit zurückgehenden Beteiligungsraten auf der Bundesebene. So sank die Beteiligung an Bundestagswahlen von 91,1 Prozent im Jahr 1972 auf 84,3 Prozent im Jahr 1987. Die Wahlbeteiligung lag dann 1990 bei 77,8 Prozent und nahm anschließend weniger stark ab (2005: 77,7 Prozent, 2009: 72,6 Prozent). Damit verbunden verringerte sich der Konzentrationsgrad der politischen Parteien und die Aufsplitterung des Parteiensystems hin zu einem asymmetrischen Mehrparteiensystem nahm zu: Konnten die im Bundestag vertretenen Parteien CDU/CSU, SPD und FDP noch 1976 bei den Bundestagswahlen 99,1 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen, ist der summierte Stimmenanteil der Volksparteien nach Einzug der Partei ‚Die Grünen‘ in den 1980er Jahren und der PDS in den 1990er Jahren (seit 2005 ‚Die Linke‘) deutlich gesunken. Bei der Bundestagswahl 2009 vereinigten CDU/CSU und SPD nur noch 56,8 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich, davon entfielen 33,8 Prozent auf die CDU/CSU und 23 Prozent auf die SPD. Die Volksparteien haben nicht nur Stimmenanteile an kleinere Parteien abgeben müssen; ihre Schwächung zeigt sich auch in der Abnahme ihres Stammwähleranteils von ca. 60 Prozent auf 40 Prozent. Damit geht eine deutliche Abnahme der Mitglieder der Volksparteien sowie der Intensität ihrer Parteiaktivitäten einher: Hatte die SPD 1976 in ihrem Spitzenjahr noch über eine Million Mitglieder, zählte sie 2009 nach Parteiangaben noch 513.000 Parteibücher. Die CDU hatte in ihrem mitgliederstärksten Jahr 1983 noch 750.000 Parteimitglieder; 2009 ist diese Zahl auf 529.000 gesunken. Seit 1990 haben beide großen Volksparteien ca. 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Hinzu kommt eine deutliche Überalterung von CDU und SPD – gegenwärtig ist jeweils fast die Hälfte der Mitglieder über 60 Jahre alt. In den Krisenerklärungen der genannten Autoren werden Veränderungen struktureller Rahmenbedingungen durchaus thematisiert und problematisiert. Doch finden sich in ihren Kausalattribuierungen häufig Mischungen von Beschreibungen struktureller Wandlungsprozesse und Kritik an strategischen Fehlentscheidungen von Parteispitzen oder moralisierender Kritik am Fehlverhalten von Politikern. Die Krisennarrative der genannten Autoren erfreuen sich wohl nicht zuletzt deshalb einer hohen Resonanz in den Medien, weil sie einerseits – der Aufmerksamkeitslogik der Medien folgend – den Strukturwandel der Parteien dramatisierend als Krise, Niedergang
28 Nolte, Paul: „SPD und CDU bleiben Drittelparteien“, in: Der Tagesspiegel vom 24.09.2005, S. 2.
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oder Ende beschreiben und weil sie andererseits in der Begründung der Krise den Politikern, vor allem in den Führungseliten der Parteien, konkrete Verantwortlichkeiten zuschreiben: So verweist z.B. Karl-Rudolf Korte in erster Linie auf eine falsche programmatische Ausrichtung der Volksparteien in seiner Erklärung für das schlechte Abschneiden der Volksparteien bei der Bundestagswahl 2005: „Die Programme der Volksparteien waren immer austauschbar“, so seine Argumentation. Doch wer alle Wähler umarmen wolle, verliere sein inhaltliches Profil. Die Volksparteien hätten nicht die großen Konfliktlinien der Gesellschaft angesprochen und abgebildet. Sowohl CDU als SPD hätten etwa ihre arbeitsmarktpolitischen Reformen nur als ökonomisch begründete Ideen, nicht aber als kulturelles Projekt präsentiert: „Die Zukunftsperspektive in der Wertorientiertheit der jeweiligen Partei hat gefehlt.“29 Betonen die wissenschaftlichen Krisendiagnostiker inhaltliche Angleichung und Profillosigkeit als zentrale Ursachen für den Stimmen- und Mitgliederverlust der Volksparteien, so bedienen Journalisten in ihren Krisennarrativen noch deutlicher die Leserbedürfnisse nach Personalisierung, Konfliktorientierung und Dramatisierung. Anschaulich illustriert werden kann diese Tendenz zur personalisierenden Schuldzuweisung etwa in einem Artikel in der FAZ vom 22.07.2007 zum Thema „Deutschland im Wandel. Zur Krise der Volksparteien“: „Die Flügel der beiden großen Volksparteien sind inhaltlich und personell schwach. Daher verlieren CDU und SPD die Kraft, Mitglieder zu werben und Wähler dauerhaft an sich zu binden. Nicht unklare Kompromisse, die vom Parteiapparat vorgegeben werden, machen Parteien für die Bürger attraktiv und ziehen Menschen an, sondern die Auseinandersetzung mit Themen, Zielen und Sachverhalten. Doch bedarf es dazu unverfälschter Wortführer und Vordenker, die nicht von vornherein der jeweiligen Mitte zustreben. Daran mangelt es in beiden Lagern. So schwach, wie der konservative Teil der Union geworden ist, so einflusslos ist der Gewerkschaftsflügel der SPD. Frühere Repräsentanten wie Alfred Dregger (CDU) oder Georg Leber (SPD) haben keine Nachfolger gefunden. Die Wirkungsmöglichkeiten der CDU-Sozialausschüsse und der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen sind begrenzt. Ihre Stellungnahmen sind innerhalb der Parteiführungen ohne Belang. Ihre Wortführer haben keine Aussichten auf hervorragende Posten. Sie haben keine Parteitagstruppen.“30
Deutlich wird in den Krisennarrativen ein eher nostalgisches Bekenntnis zu einem konfliktorientierten Transmissionsparadigma. Danach sind die Volks-
29 Zit. nach: Die Welt vom 25.09.2005, URL: http://www.welt.de/print-wams/ article132678/Den_Volksparteien_laeuft_das_Volk_davon.html vom 06.09.2011. 30 Bannas, Günter: „Deutschland im Wandel. Zur Krise der Volksparteien“, in: FAZ vom 22.07.2007, URL: http://www.faz.net/artikel/S30923/deutschland-imwandel-die-krise-der-volksparteien-30102787.html vom 06.09.2011.
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parteien vor allem deshalb in der Krise, weil sie zu sehr dem harmonieorientierten Integrationsparadigma, einer Vorstellung von Volksparteien als Catch-All- bzw. Allerweltsparteien, gefolgt sind und darüber die Aufgabe der Artikulation und Bündelung gesellschaftlicher Konflikte vergessen haben. Moniert wird zugleich eine dem Konkurrenzparadigma folgende Entwicklung der Parteien zu reinen „Wahlkampfmaschinen“31. Dies führe zu einer fortschreitenden Professionalisierung, in deren Folge die Mitglieder als ehrenamtliche Helfer zunehmend überflüssig würden. „Ihre Manager besuchen seit Jahren amerikanische Parteitage. Dort haben sie manches gelernt, aber nicht, wie die Anhängerschaft zu verbreitern sei“, so eine sarkastische Schlussfolgerung in der FAZ.32 Die Orientierung an Allerweltspositionen geht einher, so das dominante soziologische Erklärungsmotiv der wissenschaftlichen Literatur, mit einer grundlegenden Entkoppelung der Volksparteien von ihren tradierten gesellschaftlichen Milieus. Während die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft zu einem Niedergang des Kirchgängertums und damit zu einem ‚Verdorren‘ der sozialkatholischen Wurzeln der CDU führe, erodiere die Arbeiterschaft, das ehemals tragende Sozialmilieu der SPD, infolge des Übergangs der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Hinzu komme eine Abwanderung vieler Intellektueller zu den Grünen, während frustrierte Arbeitslose und working poor in den Parteien des linken und rechten Randes eine neue Heimat suchen. Beide großen Parteien haben demnach infolge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse ihre traditionellen Milieus verloren. Im Zuge ihres Schrumpfens haben sie sich gleichzeitig ihrem jeweiligen Volkspartei-Pendant „mehr und mehr angenähert“: „Die früher kontrastierenden Eigenarten in Lebenswelten und Überzeugungen haben sich abgeschwächt; der Zug zur Nivellierung ist im letzten Vierteljahrhundert massiv angewachsen.“33 Die mangelnde Transmissionsleistung der Volksparteien wird jedoch erst dann zu einem Skandalon, wenn ihre abnehmende gesellschaftliche Verankerung in der Bevölkerung mit unverminderter staatlicher Alimentierung und Patronage einhergeht. Schon Richard von Weizsäcker hatte 1992 in einem Interview die „Machtversessenheit“ und „Machtvergessenheit“ der Parteien offen kritisiert: Parteien seien „machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgaben“.34 An diese Kritik anknüpfend kritisiert auch Franz Walter das Missverhältnis zwischen geringer politischer Legitimität und fortdauernder außerordentlicher Parteienmacht:
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Ebd. Ebd. Walter: Im Herbst der Volksparteien, S. 10. Zit. nach Bovermann, Rainer: „Politische Interessenvermittlung: Parteien“, in: Christiane Frantz/Klaus Schubert (Hg.), Einführung in die Politikwissenschaft, Münster 2005, S. 127-138, hier S. 127.
304 | SIGRID B ARINGHORST „Aber im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lockerte sich die Klammer zwischen den Parteien und ihren ursprünglichen Trägerschichten. Die Parteien entzogen sich der Gesellschaft mehr und mehr, glichen indessen zugleich ihren sozialen Präsenzverlust durch großzügige staatliche Alimentationen und kräftige Personalpatronage in den staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen aus, wodurch sich der Abstand vom Volk allerdings noch weiter vergrößerte. [...] Am Ende beschränkten sich die Parteien [...] auf Auswahl und Präsentation des politischen Personals für Parlamente und Regierungen.“35
Die Beschränkung auf die Elitenrekrutierungsfunktion erzeuge einen Teufelskreis der gesellschaftlichen Abschottung der Parteien. Während in allen Parteien Akademiker die Mehrzahl der Mitglieder stellen, sei das untere Drittel der Bevölkerung völlig unterrepräsentiert.36
Wandel der Volksparteien – Krise der Demokratie? Die in den Krisennarrativen herangezogenen Befunde zur Mitglieder- und Wählerentwicklung sind in der Regel durchaus empirisch fundiert. Fraglich ist jedoch, ob aus diesen Zahlen schon eindeutig ein ‚Niedergang‘ der großen Parteien abgeleitet werden kann. Dies gilt insbesondere bezogen auf die SPD, die in den meisten Beiträgen als besonders bedrohte und vor dem Niedergang stehende Volkspartei wahrgenommen wird. Ein Blick auf die Wahlen zum Hamburger Senat im Februar 2011 und das sehr gute Abschneiden der SPD mit 48,3 Prozent zeigt, dass Totgesagte auch im Parteienwettbewerb zuweilen länger leben als gedacht. Strittig ist, ob die genannten Veränderungen als ‚Krise‘ oder ‚Wandel‘ gedeutet werden und – damit verbunden – welche Handlungsaufforderungen die großen Parteien aus den veränderten Rahmenbedingungen ableiten sollen? Greift man etwa den als Vorwurf formulierten Aspekt der inhaltlichen Profillosigkeit auf und zieht daraus den Schluss, dass die Parteiprogrammatik stärker am jeweiligen Stammklientel auszurichten ist, wie auch vom konservativen Flügel der CDU bzw. linken Flügel der SPD gefordert, so löst man damit das Problem gesellschaftlicher Individualisierung und wachsender milieuspezifischer Ausdifferenzierung keineswegs. Eine stärkere Orientierung an den kulturellen und weltanschaulichen Wertpositionen von Kirchgängern bzw. Arbeitern würde die − dann weniger oder gar nicht – angesprochenen gesellschaftlichen Gruppen vermutlich nur in die Arme der kleinen Parteien drängen oder weitere Parteineugründungen zur Folge haben. Denn eine zu starke Re-Ideologisierung der Parteien wird gerade von den heiß umkämpften Wechselwählern der gesellschaftlichen Mitte abgestraft.
35 Walter: Im Herbst der Volksparteien, S. 9f. 36 Ebd., S. 10.
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Auch zur monierten Karriereorientierung und Stromlinienförmigkeit der verbliebenen aktiven Parteimitglieder gibt es, wie nicht zuletzt Aufstieg und Fall des CSU-Ministers K.T. zu Guttenberg belegen, kaum überzeugende Alternativen. Das Rotationsmodell der Grünen ist nicht zuletzt auch wegen der wachsenden Komplexität des gesellschaftlichen Regelungsbedarfs und der politischen Handlungsarenen gescheitert. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden in Zukunft kaum übersichtlicher und einfacher werden. Ragen Politiker aus dem oft beklagten Mittelmaß heraus, ist die Gefahr groß, dass gerade sie von den Medien, die ihnen heute Außergewöhnlichkeit und herausragende Talente bescheinigen, morgen auf ein wenig schmeichelhaftes Mittelmaß zurückgestuft werden. Dies liegt weniger an der moralischen Fehlbarkeit herausragender Politiker oder übereifriger Journalisten als vielmehr an der sensationsorientierten Handlungslogik eines extrem wettbewerbsorientierten Mediensystems. Zudem birgt das Bedürfnis nach Politikern mit Ecken und Kanten auch immer die latente Gefahr des Populismus. Modernisierung ist nach Ulrich Beck in Abwandlung eines Zitats von Max Weber „kein Fiaker, aus dem man, wenn es einem nicht passt, an der nächsten Ecke aussteigen kann37“. Die Tendenz zur Transformation von Mitglieder- und programmorientierten Volksparteien zu „professionalisierten Medienparteien“38 ist vermutlich nicht aufzuhalten. Doch bedeutet dieser Strukturwandel der großen Parteien, wie der Krisendiskurs zugleich suggeriert, eine Legitimationskrise oder gar ein Ende der Demokratie? Folgt man der sog. realistischen Demokratietheorie, ist Demokratie, wie Joseph Schumpeter orientiert am Beispiel der amerikanischen Demokratie formuliert hat, im Wesentlichen nicht mehr als eine ‚Methode‘: „Die Demokratie ist diejenige Ordnung der Institution zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben.“39 Doch insbesondere das massenhafte kritische Aufbegehren von Bürgern in Volksabstimmungen und Straßenprotesten, wie z.B. gegen die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken oder das Stuttgarter Bahnhofsprojekt, zeigen, dass das sog. realistische „schwachdemokratische“40 Demokratiekonzept die politische Beteiligungsbereitschaft der Bürger unterschätzt. Die abnehmende Partizipation an Wahlen und Parteiaktivitäten ist weder mit einem Verlust der generalisierten Zustimmung der Bürger zur Demokratie als Staatsform verbunden, auch wenn hier die Werte im Osten Deutschlands noch immer bedenklich unter denen im Westen liegen, noch
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Beck, Ulrich (Hg.): Politik in der Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1991, S. 50. Jun: „Parteienforschung“, a.a.O. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 428. Barber, Benjamin: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 233.
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ist sie verbunden mit einem Desinteresse an Politik im Allgemeinen und zivilgesellschaftlichem Engagement im Besonderen. Versteht man Demokratie als umfassende, nicht auf den Wahlakt beschränkte Partizipation der Bürger an der Regelung ihrer öffentlichen Angelegenheiten, dann ergeben sich aus den in den Krisennarrativen offengelegten Integrations- und Transmissionsdefiziten von CDU und SPD wichtige Konsequenzen hinsichtlich der staatlichen Machtabsicherung der Parteien. Die schwächer gewordene gesellschaftliche Verankerung der großen Parteien entzieht den oben erläuterten identitätstheoretischen Grundlagen des deutschen Parteienstaates ihre Rechtfertigung. Wenn aus Gründen der Unumkehrbarkeit von Modernisierungsprozessen die Forderung eines ‚Zurück in die Zukunft‘ sinnlos ist und Parteien sich kaum zu ‚echten‘ Sprachrohren der gesamten Bevölkerung entwickeln werden, sind entsprechende rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen zu ziehen: Konkret bedeutet dies, dass der umfassende Einfluss der Parteien auf die Gestaltung von Politik und Gesellschaft gemindert und entsprechend die staatliche Alimentierung der Parteien überdacht werden muss. Der „Parteienfeudalismus“, in dem, so Rüdiger Voigt, der Grundrechtsartikel 21 als „Die Parteien nehmen die politische Willensbildung des Volkes vor“ überinterpretiert wird und Parteien nicht nur im Staat, sondern in allen relevanten gesellschaftlichen Institutionen – wie Schulen, Medien, Gerichten, Rundfunkanstalten und Verwaltungen – ihren Einfluss geltend machen, muss beendet werden.41 Dazu wäre in jedem Einzelfall neu zu bestimmen, wie viele Privilegien, Macht und Geld den Parteien für die Bewältigung ihrer politischen Transmissions- und Integrationsaufgaben eingeräumt bzw. zur Verfügung gestellt werden. Der nicht aufzuhaltende Wandel der Volksparteien zu professionalisierten Wähler- und Medienparteien bedeutet eine Schwächung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Doch diese Schwächung muss nicht unbedingt eine „Krise der Demokratie“ oder eine „Staatskrise“42 bedeuten. Sie bietet zugleich die Chance für einen Wandel der parlamentarischen Demokratie im Sinne der Stärkung partizipativer und deliberativer Formen der Beteiligung. Folgt man unkritisch den Prämissen des Konkurrenzparadigmas, so wird ein von weiten Teilen der Bevölkerung als defizitär eingeschätzter status quo bestätigt. Durchaus vorhandene Reformmöglichkeiten werden ausgeblendet. Die Unterforderung der Bürger in einer machtvergessenen Parteiendemokratie ist ebenso problematisch wie eine deliberative Demokratie als „Gentlemen’s Club“43, die gesellschaftlich benachteiligte Gruppen diskriminiert, statt eine inklusive, partizipatorische oder „deliberative Politik
41 Vgl. Voigt, Rüdiger: Staatskrise. Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen?, Stuttgart 2010, S. 75. 42 Vgl. ebd. 43 Dryzek, John: Deliberative Democracy and Beyond. Liberals, Critics, Contestations, Oxford/New York 2002, S. 57.
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von unten“44 zu ermöglichen. Doch statt den Parteienwandel primär unter den Aspekten der ‚Krise‘ und des ‚Niedergangs‘ zu beschreiben, wäre es sinnvoller, die in ihm liegenden Chancen für eine demokratische Erneuerung zu diskutieren und institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Beteiligungsbereitschaft der Bürger stärken.
44 Yang, Mundo: Deliberative Politik von unten, Baden-Baden 2012.
Die Komik der Krise J ENS G RIMSTEIN
1. K OMIK
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K RISE
Historiker dürften Krisenphänomenen1 freundlich gesinnt sein – bilden sie doch Bergkämme, an denen Geschichte zu ihren Höhepunkten kommt.2 Je
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2
Vgl. zum Begriff „Krise“ auch den Eintrag Reinhart Kosellecks in Geschichtliche Grundbegriffe. Mit etwas Ironie kann man semantisch behaupten, dass der Terminus Krise sich ontosemantisch selbst in einer solchen befindet. „Krisen“ treten nicht nur in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen auf, sondern erzeugen in diesen Bereichen auch jeweils andere Verhaltensweisen und Haltungen dazu als in anderen sozialen Segmenten. Dementsprechend empfinden Ökonomen eine Krise aus ihrem Spezialwissen schneller als drastisch als dies z.B. ein Geisteswissenschaftler tun würde. Gerade wegen dieser Varietät ist eine, systemtheoretisch gesprochen, Redundanz notwendig, um durch das interdisziplinäre Aufgreifen fachfremder Themen wie „Finanzmarkt“ ein gegenseitiges Verständnis voneinander zu erhalten und damit auch einen einheitlicheren Krisenbegriff herzustellen oder wenigstens die verschiedenen Auffassungen davon kennen zu lernen. Wann und Wo eine Krise allerdings beginnt und wo sie aufhört, ist temporär wohl eher schwierig einzugrenzen. Krisen haben die Eigenschaft, dass sich die Wahrnehmung nur auf sie konzentriert und weniger auf ihre (zeitlichen) Ränder. Eine Gegenwartsdiagnose der aktuellen Krise versucht u.a. auch Bernhard Schlink in einem Gespräch mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 25/2012, abrufbar unter: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/ 37713/1/1 vom 20.08.2012. Die Bergkamm-Metapher erfreut sich im Übrigen einiger Beliebtheit bei Philosophen und Dichtern (wobei die Benutzung hier demnach auch aus eklektischen Motiven erfolgt): U.a. haben Nietzsche (Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart 1970, S. 20), Grünbein (Grünbein, Durs: „Weltliteratur: ein Panoramagemälde“, in: ders.: Antike Dispositionen, Frankfurt a.M. 2005, S. 23f.)
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höher ihre Gipfel also ragen, desto bedeutender die Ereignisse – im negativen wie im positiven. Ob ein Thesenanschlag an Kirchenpforten, Revolutionserfolge, Kriegsenden oder Wirtschaftsabstürze: Es sind meist solche prekären Momente, in denen sich Gesellschaften vor innere und äußere Zerreißproben gestellt sehen, in denen Grundsteine für technischen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Fortschritt gelegt werden. Der Hollywoodfilm der vergangenen Jahrzehnte hat dies von allen Medien stets am wirkungsvollsten zu Nutzen gewusst.3 Als außerordentliche Herausforderungen für Individuum und Gesellschaft besitzen Krisen also ein besonderes Produktivitätspotenzial. Kann es zu bestimmten Zeitpunkten effektiv abgerufen werden, trägt dies entscheidend zur Bewältigung bei. Hinter diesem Bewältigungswillen versteckt sich allerdings auch dessen Gegenteil, das Scheitern. Es bleibt immer ein Restrisiko, welches jede Krise zu einer neuen (historischen) Versuchsanordnung macht. In dieser Kontingenz zeichnet sich krisenontologisch eine Figur ab, die man Wolfgang Iser zufolge als ein ‚Kipp-Phänomen‘ beschreiben kann.4 Unvorhersehbar und unkontrollierbar drohen Krisen entweder in diese oder jene Richtung auszuschlagen.5 Isers Neologismus stammt ursprünglich aus einer Arbeit zum Gattungsereignis des „Komischen“, in der er seine Überlegungen dazu vorstellt.6 In seinen Ausführungen entdeckt er eine Regelmä-
3
4 5
6
oder Sloterdijk (Sloterdijk, Peter: Derrida ein Ägypter, Frankfurt a.M. 2007, S. 19) darauf Bezug genommen. Neben Oliver Stones Klassiker WALL STREET (USA 1987) sind zuletzt auch zwei Filme im Kino erschienen, die sich zum einen mit der Finanzkrise von 2008 (MARGIN CALL, USA 2011, R: J.C. Chandor, Darsteller: Kevin Spacey, Jeremy Irons, Paul Bettany und Demi Moore. Ein margin call bezeichnet die Pflicht eines Wertpapieranlegers, einen in einem Terminkontrakt entstandenen Saldo finanziell auszugleichen oder mit der erdrückenden Parallelwelt des Finanzmarkts (COSMOPOLIS, USA 2012, R: David Cronenberg, Darsteller: Robert Pattinson, Juliette Binoche, Paul Giamatti) auseinandersetzen. In seiner Erzählweise deutlich an Filmplots angelegt ist darüber hinaus Robert Harris’ Roman The Fear Index (London 2011), das ebenfalls in der hiesigen Finanzwelt spielt und nicht selten handliche Erklärungen der Marktgeschehnisse liefert. Vgl. Bachmaier, Helmut (Hg.): Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart 2005, S. 117-120. Drei Szenarien der ‚Kipp-Metapher‘: In der Restauration wird die Krise so bewältigt, dass wieder der vorherige Normalzustand erreicht wird, in der Renovation gibt es einen Erfolg mit fundamentalen Neuausrichtungen und in der Perdition, dem worst case, das Scheitern und den damit verbundenen Zusammenbruch der Ordnung. Jede dieser Varianten bestätigt, dass Krisen besondere Wendepunkte darstellen. Diese Szenarien finden sich nicht in Isers Text, ergeben sich aber aus allgemeiner Beobachtung von Krisenphänomenen. Vgl. Iser, Wolfgang: „Das Komische: ein Kipp-Phänomen“, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.), Das Komische. Poetik und Hermeneutik 7,
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ßigkeit des komischen Moments, die er als ‚Kipp-Phänomen‘ bezeichnet und die in der „Wechselseitigkeit des Kippens“7 Analogien zu idealtypischen Krisenerscheinungen erlauben: „Indem die Positionen zusammenbrechen, hebt sich auch die Möglichkeit der Zuordnung eines solchen Zusammenbruchs auf.“8 Es bedarf für ein diesbezügliches ‚Kippmoment‘ vor allem eines crucial point, an dem ein Ereignis auf die Probe gestellt wird. Krisen sind derartige Vorfälle, sie sind historische, soziale, wirtschaftliche und nicht selten auch persönliche ‚Kipp-Phänomene‘. Einer solchen Extremsituation kann das Individuum allerdings ein erlösendes Moment entgegenstellen: das Lachen. Gegenwartshistorisch befand sich die Welt vor wenigen Jahren in einer Lage, die man umgangssprachlich mit der Metapher des „auf der Kippe Stehens“ umschreiben kann. Die Finanzmarktkrise des Jahres 2008, die sich mittlerweile zu einer Staatsschulden- und Europakrise gewandelt hat, gilt vielen als Beleg für einen Wendepunkt kapitalistischer Ordnungssysteme. Als hätte sich die berühmte „Gier“-Rede des Börsenmagnaten Gordon Gekko aus Oliver Stones WALL STREET (1987) in real existierende, marktübliche Gesetzmäßigkeiten übersetzt, begegnet man seitdem dem Kapitalmarkt mit steigender Skepsis.9 Was allerdings in der kritischen Aufnahme seitens der Öffentlichkeit gegenüber dem Finanzmarkthandel bislang noch nicht berücksichtigt wurde, ist die Frage danach, in welchen Kontexten die Krise eigentlich komisch wird, genauer: 1) die Frage nach Komikangeboten im Metadiskurs namens Krise, 2) die Frage nach der (Selbst-)Darstellung eines der wesentlichen Agenten der Krise – dem Finanzmarkt – und 3) die Frage nach der werkproduktiven Umsetzung einer Krisenkomik. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen an die Felder Komik und Krise zeigt sich überdies, dass beide neben ihrem Unterhaltungswert auch Potenzial zur soziopolitischen Aufklärung besitzen: ein Lachen der Erkenntnis.10 Vieles an der
München 1976, S. 398-402. Kurioserweise beruht Isers Kipp-Phänomen selbst auf einer unsicheren, kippenden Vorausnahme. Der erste Satz beginnt mit „Geht man davon aus, dass die im Komischen zusammengeschlossenen sich wechselseitig negieren, zumindest aber in Frage stellen, so bewirkt dieses Verhältnis ein wechselseitiges Zusammenbrechen dieser Positionen.“ 7 Iser: „Das Komische“, in: Bachmeier (Hg.), Texte zur Theorie der Komik, S. 118. 8 Ebd. 9 Eine ungewöhnliche Reihe von Großdemonstrationen haben sich innerhalb des letzten Jahres ereignet, von denen die New Yorker „Occupy Wall Street“ und die Madrider „Indignados“ am konkretesten gegen eine vor allem von Finanzmärkten und deren politischen Handlangern dominierte Gesellschaft vorgehen. 10 Wie nicht zuletzt Kathrin Rögglas Text beweist. – Die Verbindung von Komik und Krise stellt im Übrigen nur eine Variante zur ihrer Beschreibung dar. Eine andere könnte mit den Begriffen Hayden Whites aus Metahistory als „tragische Satire“ bezeichnet werden. Vgl. dazu White, Hayden: Metahistory. Die histori-
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beschriebenen Krise gibt dementsprechend Anlass zum räsonierenden Amüsement, und sie erzeugt zudem ein Lachen und/oder Lächeln in der Überraschung des scheinbar beiläufigen, weil krisengewohnten Vergnügens.11 Und auch wenn auf den ersten Blick eine Fusion zweier so unterschiedlicher Gegenstände wie Krise und Komik überraschend, vielleicht unvereinbar scheint, bietet der Kapitalmarkt gerade deshalb in seiner Selbstund Fremdwahrnehmung eine solche Lesart an. Im Folgenden sollen also das komische Potenzial der Banken- und Börsenwelt (Frage 2), Hayden Whites Geschichtspoetik aus den 1970er Jahren und Kathrin Rögglas „Wiener Vorlesung“ von 2009 (Frage 3) insgesamt Aufschluss über den Konflikt zwischen diesen Polen von Spaß (Komik) und Spannung (Krise) geben (Frage 1).12
2. F INANZMARKT
UND
K RISE
Warum ist die jüngste Finanzmarktkrise komisch? Anders gefragt: „Was ist schiefgegangen?“13 In einem umgangssprachlichen Verständnis gibt das medial erzeugte Erscheinungsbild der Krise einerseits genug Anlass, diese „komisch“, wenn nicht „bizarr“, zu finden, wenn z.B. auf Online-Portalen überregionaler, üblicherweise seriöser Zeitungen sogenannte „Eilmeldungen“ ohne progressiven Informationswert erscheinen oder ein „Liveticker“ tatsächlich suggeriert, die „Ereignisse“ am „Markt“ in Echtzeit mitverfolgen
sche Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. [1973] 1991, 2008, S. 22ff. 11 In einer solchen „Gegensinnigkeit“ von Krise und dem Komischen, um mit Hans Robert Jauß zu sprechen, ist parallel zu bedenken, dass „das Komische zu erheitern (vermag), ohne dass darüber gelacht werden muss.“ Vgl. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1991, S. 217. 12 Spaß (als Komik) wird hier im Sinne des „delectare“ verstanden, d.h. den erfreulichen Aspekten einer Gegebenheit. Vgl. dazu auch Winkler, Markus: „Komik, das Komische. Teil A. und B. III“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, S. 1166-1174, hier S. 1167. 13 Arnoldi, Jakob: Alles Geld verdampft. Finanzkrise in der Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a.M. 2009, S. 22. Ebd. kann dem Autor beigepflichtet werden: „Die Ursachen der gegenwärtigen Krise nachzuzeichnen ist keine einfache Aufgabe.“ Und auch Unvollständigkeit bei einem Mikroresümee wie oben beschrieben unausweichlich. Arnoldis Zeilen beziehen sich auf die Finanzkrise von 2008, nicht auf die gegenwärtige. – Was den jeweiligen hysterischen Krisendiskurs der Ökonomie heutiger und vergangener Zeiten betrifft, sind Krisen eben kein böser Zufall, sondern im Gegenteil, kapitalistische Notwendigkeit. Einen historisch aufschlussreichen Überblick hierzu geben Reinhart, Carmen M./Rogoff, Kenneth S.: This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009.
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zu können. Andererseits liegt die befremdliche Seite dieser Geldhandelskrise in ihrer Verfassung begründet. Die globale Vernetzung von Finanzinstituten aller Art untereinander birgt auch die Gefahr, dass es beim spekulativen Zündeln zu Flächenbränden kommen kann. Das meist in Termingeschäften unentwegt fluktuierende fiktive Kapital besitzt durch seine Beweglichkeit den Nachteil, dass es sich nicht als Eigenkapital irgendwo lange aufhält. Spekulative Kreditgeschäfte solcher Kapitalanlagen (z.B. die subprimes) enthalten hohe Ausfallrisiken, die man durch weitere gewagte Finanzprodukte, die überdies von den Geldhäusern zu staatlichen und halbstaatlichen Institutionen hin- und hergeschoben werden, zu versichern versucht. Wenn ein Glied dieser Sollkette zu wackeln beginnt und schließlich reißt, zieht es die anderen mit in einen Strom hinein, der vor allem ein Gefühl produziert: Verlustwarnung bzw. Gewinnangst. Der monetäre Sektor verhält sich folglich allzumenschlich (systemtheoretisch gesprochen: autopoietisch), indem die einzelnen Handelshäuser ihre Aktiva beschützen, wodurch es schließlich zu einer starken Kreditebbe kommt. Die Unterbrechung der Geldfluktuation aber versetzt den Finanzmarkt in Schockstarre und droht schließlich, weil die Kredite für die Realwirtschaft schließlich ausbleiben, auf diese überzugreifen.14 In dieser Genese der Globalökonomie können Finanzkrisen bei längerer Dauer Realwirtschaftskrisen mit Arbeitsplatzabbau, Einstellungsstopp und Rezessionen erzeugen. Vor vier Jahren beendete das Primat der Politik länderübergreifend diese Spirale durch die berüchtigte Bankenrettung, die auch kollektive Konto- und Depoträumungen verhinderte. Im Selbstverständnis des Finanzmarkts überlagerten sich hier drei wesentliche Bedeutungen des Krisenbegriffs: der ökonomische, der theologische und der medizinische. Der durch die Finanzindustrie herbeigeführte Problemzustand drohte in ein Weltuntergangsszenario abzudriften, gegen das nur der Staatskörper immun zu sein schien.15 Somit wurden von Nationalparlamenten weniger körpereigene als medikamentöse Hilfen herbeigerufen16, um diese bei Bedarf intravenös in die Finanzwelt hineinzupumpen.
14 Die derzeit immer noch anhaltende Eurokrise scheint diesen Effekt vor allem durch fortwährende Kreditaufnahmen für den Markt finanziell vertrauenswürdiger Länder hinauszuzögern. Auch wenn nicht im direkten Bezug zur Finanzkrise, geben doch die Schriften Jochen Hörischs zum Medium Geld in seiner ontosemantischen Tauschfunktion wertvolle Einblicke in das Wesen dieses Edelmetalls. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass im Begriff „Finanzmarkt“ der Zahlakt fest verankert ist und dies überall auf der Welt über das Medium Geld läuft. Vgl. Hörisch, Jochen: Tauschen, sprechen, begehren, München 2011, S. 29-134 und Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a.M. 1996. 15 Der Form nach: Mögen Märkte anfällig auch sein; Staaten können nicht pleite gehen. 16 Damit ist gemeint, dass die Regierungen sich bereit erklärten, mit Bürgschaften für die finanziellen Ausfälle an den Geldinstituten haften zu wollen, also Gläubi-
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Und auch der Staatskörper kann, wie man seitdem lernen musste, von Finanzviren erheblich bedroht werden. Das launische Treiben an den Wertpapiermärkten während der vergangenen und, wie die Medien derzeit suggerieren, nicht enden wollenden Krise vollzieht sich dabei auf Makro- und Mikroebenen. Die Finanzmarktrhetorik entwickelt zum einen auf ihrer Innenseite bereits eine höchst unfreiwillige Komik durch eine überspannte Kompositabildung (wie z.B. „Light Sweet Crude Future“17) und Metaphorizität. Der Begriffsinhalt beispielsweise von (auch: nackter) „Leerverkauf“ dürfte problemlos in die „Unwort“-Rubrik der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung fallen, bezeichnet es doch die Veräußerung eines z.B. Unternehmensanteils in Form von Aktien, der im Moment des Verkaufs noch gar nicht im Besitz des Verkäufers ist. In diesem Prinzip Hoffnung – denn es wird auf eine klassische ‚Kipp-Situation‘ in der binären Form Erfolg/Scheitern gewettet – regiert statt eines rationalen finanzmathematischen Kalküls vielmehr ein kühner Wille zum finanzökonomischen Risiko. Dass bei solchen Transaktionen der Verkäufer zwischen der Option bearish und bullish18 wählen darf, erhöht noch den semiotischen Irritationsgrad; die Option ist für sich ein zeitlich engbegrenztes Vertragskaufrecht, welches mit den langfristig operierenden Börsenkursindikatoren des Bären und Bullen unvereinbar ist.19
gerforderungen im Zweifelsfall zu übernehmen. Solche Garantien konnten sie allerdings nur hypothetisch geben – denn die Regierung kann nicht einfach direkt an die Aktiva ihrer Bürger – sondern musste als Kreditnehmer an internationalen Finanzmärkten um die (mögliche) Bereitstellung solcher Geldmittel werben. „Körpereigen“ wäre also ein direkter Zugriff auf Steuergelder und andere Haushaltsmittel gewesen, „medikamentös“ allerdings ein von außen zugeführtes Geld in Form von Kredit. 17 Dies bezeichnet einen der meistgehandelten Ölkontrakte der US-Terminbörse Nymex. Der Kontrakt sieht vor, dass die gelieferten Ölsorten bestimmte Standards in Dichte und Schwefelgehalt erfüllen. Der Kontrakt funktioniert nach dem Dominoprinzip, denn der Preis des als nächster zu behandelnden Kontrakts erzeugt den jeweils aktuellen Ölpreis für die Finanzmärkte. Je schneller also die Handelsdichte des Kontrakts, desto schneller die Preisbildungen und so auch die Reaktionen auf die Preise. – Im Übrigen besitzen dem LSCF untergeordnete Ölkontrakte Bezeichnungen, die auch gut ins Lexikon der Whiskey- oder Betäubungsmittelsorten passen würden: „North Texas Sweet“, „Nigerian Bonny Light“ oder „New Mexican Sweet“. 18 Dies bezieht sich auf die Heraldik der Börsen mit den beiden Wappentieren Bär und Bulle. „Bearish“ bedeutet also für einen Anleger oder Verkäufer, auf fallende Kurse, „bullish“ auf steigende Kurse am Aktienmarkt zu setzen. Aus der Krisensemantik Scheitern/Erfolg heraus kann man diese beiden Zuschreibungen auch narrativ als mise en abyme einordnen. 19 Das zuletzt genannte Beispiel soll die rhetorische Bluffstrategie der Terminologie des Finanzmarkts hervorheben: Der Begriff Option wurde gar nicht als Bör-
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Auf der Außenseite des Finanzmarktselbstverständnisses aber wiegt zum anderen vor allem eine andere Diskrepanz höher. Von einer wirtschaftswissenschaftlichen Bewegung ab den 1950er Jahren erst unterstützt und schließlich mittels intelligentem Lobbying von Politik, Wirtschaft und Durchschnittsgesellschaft als alternativlos anerkannt, mündeten die Ideale der Bewegung in einem radikalen Verständnis der Selbstorganisation von Märkten. Diese Deregulierung koinzidiert mit einer „Relativität des Komischen“.20 Die in der Komiktheorie formulierte Fallhöhe eines Protagonisten untergräbt den wirtschaftstheoretischen Anspruch des Finanzmarkts, dieser Fallhöhe nicht mehr ausgesetzt zu sein, da „der Markt sich von selbst regelt.“21 Joseph Vogl beschreibt in Das Gespenst des Kapitals eindrücklich die Genealogie eines solchen Geldmarkts, der sich als Verwirklichungsexperiment einer derartigen prästabilisierten Harmonie versteht.22 Diese Feier der Unantastbarkeit gerät dann zur ambivalenten Angelegenheit, wenn in der Narration dieser Geldgeschichte sich ein unerwarteter Moment ereignet. Eine derartige Normverletzung in der Konfliktsituation ‚Krise‘ manövriert einen Hoheitsdiskurs wie den des Markts dann in die Sphäre des Komischen. Science-Fiction-Löhne von Investmentbankern, gerne mit dem Argument des Angebot/Nachfrage-Prinzips der freien Wirtschaft geheiligt, befördern solche Eindrücke zusätzlich.
senvokabular benutzt, lässt sich aber aufgrund seiner Kolonialisierung durch die Kapitalökonomie aus jedem festen Sinn herauslösen und gegen sich verwenden. „Bearish“ und „bullish“ werden jedenfalls, anders als im obigen Aufsatz geschehen, in anderen Kontexten am Finanzmarkt benutzt und hängen nicht, wie der Satz suggeriert, zwangsläufig mit „Options“ zusammen. 20 Winkler, Markus: „Komik, das Komische“, a.a.O., S. 1167. 21 Finanzmathematische Transzendenzlogiken wie das Black-Scholes-Modell, benannt nach seinen Begründern Fisher Black und Myron Scholes, stellen hierbei den Versuch dar, die Unbestimmtheit kapitalanlageaktiver Handlungen, d.h. das potentiell unvermeidbare Scheitern eines jeden Geldgeschäfts, mit arithmetischen Mitteln zu überwinden. Sie wird hier als transzendenzlogisch bezeichnet, da ihr prognostizierender Anspruch zur Funktionsweise des Finanzmarkts und ihre theorieinterne Abstraktionsnotwendigkeit ihr Bedürfnis, realen Ereignissen am Markt in Krisenzeiten zu entsprechen, übersteigt. Dazu passt auch, dass zum Zeitpunkt der Erfindung des Black-Scholes-Modells informationstechnologische Entwicklungen im Computerwesen eingetreten sind, die in der Folge das (mithin idealisierte) börsentypische „Handeln“ in den akut riskanten elektronischen Hochfrequenzhandel überführt haben. Kontingenzreduktion wird so als Fortschrittsprogramm verkauft. 22 Vgl. Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2011, S. 83-114 (Idylle des Markts II). Zum selben Thema sind im gleichen Verlag auch Christian Marazzis Verbranntes Geld sowie Hyman P. Minskys Instabilität und Kapitalismus (beide 2011) erschienen.
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Bereits aus einer derartigen Vogelperspektive – man könnte an anderer Stelle z.B. die konkreten Abläufe auf dem Börsenparkett untersuchen – auf die Welt des schnellen Wertpapiers ergeben sich Lesarten des ‚Kippens‘. Isers Feststellung, dass durch „die wechselseitige Negativierung der zusammenbrechenden Positionen […] die kognitiven bzw. emotiven Vermögen […] nicht mehr aufgefangen und zum Stillstand kontrollierten Begreifens gebracht werden können“23 bringt die inkohärenten Eigenschaften aus der Innen- und Außenseite des Finanzmarkts auf einen gemeinsamen Nenner. Ähnelt das weltweit numerisch zirkulierende Kapital unsichtbar hyperbeweglichen Kleinstlebewesen, repräsentieren der Staat auf der einen und seine Zivilgesellschaft auf der anderen die makro- und mikrosoziale Dimension dieses empfindlichen Organismus, der im weitesten Sinne als Ökonomie gelten darf. Dass in dieser Divergenz „das Lachen eine Krisenantwort des Körpers“24 ist, dürfte aus naheliegenden Gründen eher dem Individuum entsprechen als dem Staat, müssen doch die politisch Handelnden stets ihr Tun vor zuviel Komiknähe schützen, nicht zuletzt anhand einer durch Staatsinteressen motivierten Vermeidung einer Zahlungsfähigkeit.25
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HISTORISCHE
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Kursierende Bezeichnungen eines „historischen Ausmaßes“ und der „Einmaligkeit“ einer solchen Krise belegen metonymisch ihre Historizität. Das Verfassen von Geschichte wiederum ist nicht bloß ein wissenschaftliches Repräsentieren von Daten und Ereignissen, sondern auch ein nicht zu unterschätzender narrativer Akt, wie Hayden White vor etwa 30 Jahren herausgearbeitet hat.27 Als Erzählung benutzt Geschichtsschreibung en passant auch Gattungsmerkmale und Tropen, die üblicherweise der Literatur zugerechnet werden. Zu den typischen Erzählformen von Geschichtswerken zählt White u.a. auch die Komödie, deren zentrales Kennzeichen das Thema der „Ver-
23 Bachmeier: Texte zur Theorie der Komik, S. 119. 24 Ebd. 25 Diese Materie regt dabei gerne zu literarischen Vergleichen mit der Thematik an. Der Musiker Peter Licht z.B. beschreibt in einem Interview Banken auch als ein Reich, „das Franz Kafka nicht besser hätte schaffen können“ und als ein „Humortheater“. Wer wollte ihm da widersprechen? Siehe Zeit-Online: „Yippieh, yippieh, Therapie“, Interview mit dem Sänger Peter Licht, http://www.zeit.de/ kultur/musik/2011-09/peter-licht-interview vom 06.10.2011. 26 Zur Vorbeugung begrifflicher Missverständnisse sei hier auf den Eintrag Klaus Schwinds im Lexikon der Ästhetischen Grundbegriffe verwiesen. Dort heißt es: „‚Komisch‘ kommt von der Komödie.“, S. 332. 27 Vgl. White: Metahistory. Sein 1973 erstmals im englischen Original erschienenes Werk Metahistory war ein – übrigens alles andere als unumstrittenes – Novum für die Geschichtswissenschaft.
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söhnung“ zweier gegensätzlicher Prinzipien ist: „Die Versöhnungen, die am Ende der Komödie stattfinden, sind Versöhnungen zwischen Menschen, der Menschen mit ihrer Welt und ihrer Gesellschaft [...].“28 Die Komödie erlaubt dem verzweifelten Menschen eine (temporäre) Erlösung einer in Ursprungsmythen angelegten Weltentfremdung, die durch das Narrativ der Paradiesvertreibung ausgelöst wurde und so zur ontologischen Differenz von z.B. Sexualität (männlich vs. weiblich), Existenz (Vitalität vs. Tod), Sprache (Signifikant vs. Signifikat) oder Arbeit (Kontemplation vs. Aktivität) geführt hat. Die Selbstdarstellung des Finanzwesens als alternativlose Marktnotwendigkeit, d.h. als Versöhnung mit der Kontingenz von Weltkonjunkturen, deckt sich mit dem Postulat Hayden Whites, dass historische Komödien erwartungsgemäß mit „organizistischen Welthypothesen“29 operieren. In diesem Modus der Weltaneignung gelten „Ideen“ oder „Prinzipien“ als gleichsam platonisch ontologisierte ewig gültige Entitäten. Individuelle Markthandlungen gehen demzufolge in einem höheren Prozess auf, „offensichtlich zerstreute Elemente verdichten sich zu einem Gebilde“.30 White formulierte hier zu Beginn der 1970er Jahre Paradigmen, die sich verblüffend mit finanzökonomischen Positionen der Chicagoer FriedmanSchule überlagern31: Das langfristige Ziel einer deutlichen Risikominderung von Kapitalanlagen sollte paradoxerweise mit einer Zunahme von Risiko durch noch schnellere und noch profitablere Geldprodukte synthetisiert werden. Haben die historische Komödie und der Finanzmarkt, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, das Ringen um Marktstabilität, analog zur Versöhnung, gemeinsam, unterliegen sie jedoch beide auch dem „befristetem Triumph“32, also einer unberechenbaren Zukunft, in der der Status quo stets angezählt ist. Sowohl die Komödie als auch das Geldgeschäft müssen jederzeit mit dem Zusammenbruch ihrer Ordnung rechnen. Dieser temporäre Zwang korrespondiert mit Isers Annahme der ‚Kipp-Theorie‘, dessen Merkmal des „ständigen Umkippens“33 sich in größeren Zeiträumen als das Aufund Ab von Wirtschaftsverläufen oder als die „dramatischen Berichte von Wechsel und Veränderung“34 verwirklicht sieht. Erreicht die moderne Finanzmarkttheorie ihren eigenen Ansprüchen nach einerseits so eine Versöhnung mit der unvermeidbaren Kontingenz von
28 Ebd., S. 23. 29 White: Metahistory, S. 30f., 36f. u. 45f. White unterscheidet drei Arbeitshypothesen, mit denen Historiker an ihre Erzählungen herangehen: organizistisch, mechanizistisch und kontextualisierend. 30 Vgl. ebd., S. 30. Das Zitat entspricht nicht dem genauen Wortlaut. 31 Auch dort reintegriert der radikal liberalisierte Markt einzelnes Fehlverhalten problemlos in Ausgleichsprozesse, die diesem selbstregulativen System voraussetzungslos inhärent sind. 32 White: Metahistory, S. 23. 33 Bachmeier: Texte zur Theorie der Komik, S. 117. 34 White: Metahistory, S. 23.
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Marktmechanismen, erzeugt sie andererseits eine erhebliche Differenz zur Außenwelt. Aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit koppelt sich eine Finanzoligarchie, die nach derartigen Theorien handelt, sukzessive von der Realwirtschaft und deren Vertretern ab, obwohl die Finanzwelt mit der Herausforderung angetreten war, insbesondere unter der Devise des „it’s the economy, stupid“35 einen aus wirtschaftlichen Prozessen generierenden, konstant gesamtgesellschaftlichen Nutzen herzustellen. Diese Inkongruenz ist wiederum typisch für die Komik und es sind nicht zuletzt auch abstruse Neologismen in z.B. englischer und deutscher Sprache, die gesellschaftlich das Befremden zwischen Geldwirtschaft und Zivilgemeinschaft abbilden. Es bleibt dem Beobachter der vom Finanzgeschehen produzierten Krise wohl nur der Ausweg, „angesichts der Verkehrtheiten der Welt“36 ein „Gelächter der Vernunft“37 anzustimmen.
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4.1 Rhetorik Ein solches Gelächter der Vernunft findet sich in Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion. Dieser Text basiert auf einer Rede Kathrin Rögglas vom Februar 2009 im Wiener Rathaus, in der sie der anwesenden Zuhörerschaft einen mit rhetorischer Raffinesse versehenen Beitrag zum Thema präsentiert. Röggla legt dazu zwei divergierende Komponenten, Film und Finanzmarktkrise, übereinander und beschreibt sie als zwei Seiten einer Medaille. Das Zusammenführen von drei Redegattungen38 arbeitet hierbei den Finanzmarkt vor dem Hintergrund der gerade erlebten Finanzkrise von 2008 35 Einschlägiges Bonmot, welches dem Berater des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, James Carville, zugeschrieben wird. Offener kann der damals moderne und bis in unsere Gegenwart hineinreichende Schulterschluss zwischen der Politik und einer bestimmen Auffassung von Marktwirtschaft kaum ausgedrückt werden. Das Primat der Gesellschaft obliegt der Aussage nach einzig der Ökonomie, wenn es auch nicht ganz ironiefrei ist, dass das Selbstverständnis der Politik damit missachtet wird. Mehr noch aber verweist es darauf, dass es insbesondere Clintons Reformen waren, die die Finanzindustrie in den USA in hohem Maße liberalisiert hatten. 36 Bachmeier: Texte zur Theorie der Komik, S. 125. 37 Ebd. 38 So enthält Rögglas Rede aus klassischer, aber in der Rhetoriktheorie immer noch gültigen Einteilung von Redegattungen sowohl Elemente einer Gerichtsrede (genus iudicale), einer Beratungsrede (genus deliberativum) und einer Lobrede (genus demonstrativum): Sie klagt an und bezieht sich dabei auf einen vergangenen Vorfall (die Finanzkrise 2008), sie verhandelt dabei Sozialkritik, Drama und Sa-
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auf. Rögglas Text liest sich analog zu antiken Produktionsstadien einer Rede: Die Inventio besteht bei ihr in der Entdeckung des Genrefilms zur Charakterisierung der Krise. Mit der Einteilung desselben in den 1) Katastrophenfilm, den 2) Gespensterfilm, den 3) Fernsehkrimi, das 4) ShakespeareRemake sowie einer abschließenden 5) Filmkritik wird die Dispositio aufgefächert. Gleichermaßen gibt die Genrefilmanalogie die Tonart für die Elocutio, der sprachlichen Ausgestaltung des Vortrags, vor, wobei Röggla dafür ihre Diktion dem vermeintlich „leichten“ künstlerischen Niveau der Filme anpasst. Statt hohen wissenschaftlichen Abstraktionsgrads volkssprachliche Zurückhaltung, Litotes statt Lautstärke – Rögglas Logismus bleibt rhetorisch unprätentiös. Passenderweise verwendet sie im Vortrag dazu die Lakonie des genus humile (auch: genus tenue oder stilus simplex), d.h. einer ornamentarmen Stilhöhe, um darin bei Gelegenheit mit dezenter Komik zu punkten.39 Der Finanzmarkt und seine Krise werden dem Publikum anhand dieser Figur popolärkultureller „Übertragung“ hermeneutisch zugänglicher. Diese filmgenerischen Redeteile umschließt der Text Rögglas darüber hinaus mit einem pyramidalen Dramenaufbau40: Nach einer kurzen Exposition zur Fiktionalität des Finanzgeschehens fallen bei ihr der Katastrophenfilm als erregendes Moment und der Gespensterfilm mit seiner Surrealität als Höhepunkt zusammen, der wiederum vom retardierendem Moment des Fernsehkrimis eingeholt wird.41 Röggla widersteht hierbei einer Dämonisierung und besetzt daraufhin das vierte Kapitel ihrer Rede mit der Referenz eines Meisters im tragischen und komischen Fach: „Das Shakespeare-Remake“. Dieses geistert mimetisch als Kopie herum (denn „die Welt ist nicht mehr im Shakespear’schen Sinne erzählbar“42); das „Remake“ und die darauf folgende „Filmkritik“ sind jeweils beide nur Folgeprodukte eines Originals, sie verkleinern auf diese Weise die Omnipräsenz der Krise. Im „Shakespeare-Remake“ verzögert Röggla dann auch strategisch durch eine
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tire; sie stellt den Schaden des Kapitalhandels heraus, sie mahnt und entwirft dessen Zukunftsfähigkeit, sie wird politisch und belehrend; zuletzt tadelt sie die Unehrenhaftigkeit des Geldsystems und hält formal die Rede zum Anlass ihrer Preisverleihung. Vgl. zu den Kategorien Plett, Heinrich F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 2001, S. 17. Vgl. ebd., S. 128 und Göttert, Karl-Heinz: Einführung in die Rhetorik, Paderborn 4 2009, S. 31. Vgl. zur Dramentheorie Gustav Freytags aus seinem Werk Die Technik des Dramas (1863) Geisenhanslüke, Achim: „Dramentheorie“, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, Bd. 3, Stuttgart 32007, S. 170-171, hier S. 170f. In der Art Gertrude Steins („A rose is a rose is a rose“): TITANIC trifft auf PIRATEN DER KARIBIK trifft auf DERRICK. Röggla, Kathrin: Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion. Wiener Vorlesungen, Wien 2009, S. 45. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
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etwas stärkere Theoretisierung ihres Vortrags die Passagen aus der „Filmkritik“, in der sie schließlich das eigentliche Anliegen ihres Textes zusammenführt43: „Ich könnte mir das also ansehen und sagen, dass wir derzeit zwischen drei Rhetoriken eingespannt sind: Da ist zunächst die sozialdarwinistische Rhetorik des reinigenden Gewitters [...] und zu der komplementär eine vulgärmarxistische Revolutionsrhetorik gehört [...]. Dann finden wir die Rhetorik des Beschwichtigungsflusses vor, der aus den Mündern der Politiker strömt und zu guter Letzt hören wir eine apokalyptische, zumindest alarmistische Rhetorik, die in den Medien vertreten ist [...]. Alle drei Rhetoriken [...] sind ineinander verkeilt und schaffen jene angsterzeugende Mischung, mit der wir konfrontiert sind. [...] Da werden Verluste erwirtschaftet, Minuswachstümer und Gewinnwarnungen bekannt gegeben sowie vor Negativaufnahmen gewarnt. Ja, immer noch, könnte ich fortsetzen, wird dies in einem Duktus vorgetragen, der einem das Gefühl gibt, dass der Sportreporter eben erst in die Wirtschaftsabteilung gewechselt ist […]. So sehr erinnert das an Autorennen und Skiabfahrtsläufe. Am Ende meiner sprachkritischen Betrachtung würde ich zurück zu den Anleihen aus dem Katastrophenfilm kommen […]. Besonders beliebt derzeit: der Tsunami – da ist von dem Finanzmarkttsunami, dem Weltwirtschaftstsunami die Rede.“ (S. 51-54).
Der Text konfrontiert in diesen vom Ausdruck her nüchternen Passagen die öffentliche Krisenrhetorik der Medien, Experten und Politiker mit deren eigenen rhetorischen Strategien. Röggla verzichtet dabei zugunsten der politischen Aussage auf komikanalytische Operationen und vollzieht in ihrem Vortrag in den beiden letzten Kapiteln nicht zufällig eine Bewegung hin zur offenen Kritik. Und auch die pessimistische Haltung der „Filmkritik“ („Denn mit der Filmkritik sieht es schlecht aus“, S. 50) kippt sie am Ende ins Gegenteil um und bietet eine Lösung durch Introspektive:
43 Analog zum Schauspiel führt Röggla im Text fort: „Eine der unheimlichsten Theatererfahrungen ist, wenn Sitznachbarn, ja der ganze Theatersaal, an den falschen Stellen lachen. Das zweitunheimlichste aber ist, wenn sie einen kapitalismuskritischen Film missverstehen, noch mehr in die kritisierte Richtung zu gehen: [...] Das skrupellose Gebaren des Brokers, dargestellt von Michael Douglas, sei bis heute das gefeierte Vorbild für Banker.“ (S. 51). Und weiter: „Ja, anscheinend haben wir es zumindest in Deutschland und Österreich absurderweise mit einer gleichzeitigen Verdrängung wie Überthematisierung zu tun. Je schriller die rhetorischen Farben, umso mehr scheinen diese abzuperlen. [...] Ja, trotz der großen Volksaufklärung, die uns seit Monaten erfasst, [...] scheinen wir es nicht zu begreifen. [...] Wir bleiben zurück und glauben einen Moment lang Bescheid zu wissen über makroökonomische Zusammenhänge, Leitzinssenkungen und Währungsfragen [...].“ (Röggla: Gespensterarbeit, S. 54f.).
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„Sind wir Frösche, die nicht mehr wahrnehmen, dass das Wasser um sie zu kochen beginnt [...]? Ist unsere politische Reaktionsfähigkeit schon so auf null gesunken, das Phlegma schon so weit verbreitet, dass wir nichts anderes mehr erwarten als drastisch Einschnitte und Sparmaßnahmen im Sozialen?“ (S. 56-57).
Diese rhetorischen Fragen eines Appells an die Vernunft verbalisieren wechselseitig die Hoffnung auf ein bürgerliches Zurückerobern des aktuellen Weltlaufs. Das im Titel mittig positionierte „Krisenmanagement“ wird so auch paratextuell als gesellschaftliches Handeln zwischen die beiden Ökonomiepole der „Gespensterarbeit“ und der „Weltmarktfiktion“ im Sinne des Bewältigens, Leitens (managen) ins Zentrum gerückt. Mit dieser, an Hayden Whites Versöhnungstheorem erinnernde Aussicht auf Rückgewinnung individueller Autonomie und Beherrschbarkeit des Finanzmarktnarrativs stellt Röggla eine subtile thematische Überleitung zum ebenfalls auffällig komischen Gehalt in ihrem Text her.
4.2 Komik Um die stilistischen Fertigkeiten ihres Textes zur Komik des krisenanfälligen Markts inhaltlich, d.h. komisch-kritisch, zu vollenden, verlegt Röggla, ganz im Sinne ihrer Wiener Gastgeber, die Zuständigkeit der Rhetorik in den Bereich einer textimmanenten Kritik: „Die Programmatik der Wiener Vorlesungen lautet: Aufklärung statt Vernebelung, Analyse statt Infotainment, Differenzierung statt Vereinfachung, Tiefenschärfe statt Oberflächenpolitur, Utopien statt Fortschreibung, Widerspruch statt Anpassung, Auseinandersetzung statt Belehrung. Die Wiener Vorlesungen analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen [...].“44
Dieser im Kulturdezernatsdeutsch verfasste, ehrgeizige Vortragskatalog empfiehlt sich zunächst nicht gerade als Komiklieferant. Hatte Kathrin Röggla also bereits auf der Genrefilmgliederungsebene ihrer Vorlesung klare Anleihen am Infotainment gemacht, musste sie auch auf der Textebene dem kritischen Anspruch der Vortragsreihe gerecht werden. Zu diesem Zwecke greift sie auf die refraktorischen Mittel der Komikgewinnung zurück. Das aktuell weit verbreitete bürgerliche Unbehagen gegenüber der Krisenneigung der Finanzwelt ist auch das Ergebnis einer elitären Eigenwahrnehmung der trader gegenüber den Bevölkerungsschichten, die sich durch mangelndes Interesse an der Thematik auch selber isoliert haben.45 Dieses
44 Vorwort von Hubert Christian Ehalt in Röggla: Gespensterarbeit, S. 8. 45 Dies zeigt sich nicht unbedingt immer in direkten Protestbewegungen wie der aktuellen „Occupy Wall Street“-Demonstration. Seit Beginn des Jahres 2011 hat es
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Auseinanderfallen zweiter Interessengruppen nutzt Röggla, indem sie aus dem zivilen Empfinden der Entfremdung an ausgewählten Stellen des Texts komisches Kapital schlägt: „Mein erster Gesprächspartner für meine Recherche zu ‚wir schlafen nicht‘ war ein New Yorker Investmentbanker von Morgan Stanley, den ich im Oktober 2001 in einem höhergelegenen Stockwerk eines Büroturms in Midtown aufsuchte. [...] Er war stolz, sein kleines Investment- und Nachrichtenimperium vorzuführen, er war stolz auf seine speziellen Kunden, die sich aus den ehemals oberen Zehntausend rekrutierten, superreiche Familien, mit deren Verrücktheiten wie Stammbäumen er gleichermaßen vertraut schien. [...] Aber eigentlich war ich gekommen, um mit ihm über den 11. September zu sprechen, schließlich war sein Unternehmen in zahlreichen Stockwerken des World Trade Center vertreten gewesen. Kollegen waren gestorben, einer, eine Art Intimfeind oder -freund, so genau war das nicht zu unterscheiden, habe nicht und nicht von seinem Schreibtisch aufstehen wollen, weil, das waren anscheinend seine letzten Worte, es einen Grund gebe, warum er hier sei. [...] Also, dass er diese Karriere geschafft hat, lag an seiner Bereitschaft, alles zu geben und sich nicht von so Lächerlichkeiten wie einem Flugzeug, das ins Gebäude eingedrungen war, ablenken zu lassen. Legendenbildung natürlich am Tag danach garantiert.“ (S. 22)
Der unbeirrbare Banker hier generiert durch sein zwanghaftes, an soldatische Tugenden erinnerndes Verhalten fragwürdiger Standhaftigkeit ein Unbehagen, das Henri Bergson in Le rire als „raideur mécanique“ beschreibt und in dessen Worten „Donc, ici encore, c’est bien une espèce d’automatisme qui nous fait rire“46 sich geradezu die tragische Komik der Verhaltensauffälligkeit dieses Bankbediensteten offenbart. Rögglas Kunst, diese irritierenden Aussagen so offensichtlich normal wie möglich zu vermitteln, obwohl sich gerade hier eine Unvereinbarkeit zwischen den Werten der Banker und der Allgemeinheit angesichts einer Großkatastrophe manifestiert, lenkt die Aufmerksamkeit auf das komische Moment des „Kipp-Phänomens“. Die Autorin vermeidet es, sich über ihre Figuren lustig zu machen; stattdessen lenkt sie deren eigene Berufshysterie durch ihre teilnahmslose Beobachtung auf eine Sachebene, die zwar die Informationen objektiv vermittelt, aber die darin enthaltene Komik offensiv zur Schau trägt. An anderer Stelle erhöht sie die Ironiefrequenz gar zum Sarkasmus:
weltweit mehr Proteste gegeben als in den beiden Jahren zuvor. Es ist anzunehmen, dass die Bewegungen in Madrid, in Kairo, Tunis oder Tripolis und auch teilweise in London nicht nur politischen Charakter haben, sondern auch die Mitbestimmung an der Teilhabe der globalen Reichtumsverteilung thematisieren, die nicht zuletzt am Finanzmarkt und vor allem in den finanzpolitischen Institutionen (IWF, Weltbank und zahlreiche Lobbyverbände) ausgehandelt werden. 46 Bergson, Henri [1924]: Le rire, Paris 2011, S. 40 und 45. Es hat hinsichtlich der „an vorderster Front“-Rhetorik des Bankers anekdotischen Charakter, dass Bergson seinerzeit gerade Soldatenmärsche als lächerlich betrachtete.
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„Sind wir also schon im Horrorfilm gelandet? Zumindest auf dem lost highway. Überall sind Bremsspuren zu sehen, nur das Wrack zeige sich noch nicht, es trete auch erst Mitte des Jahres 2009 zur Gänze in Erscheinung, ist zu hören. – Bremsspuren! Wird unser Filmheld rufen, auch das noch! Wo wir doch auf Beschleunigung angewiesen sind, auf Wachstum! und zwar nicht auf irgendein Wachstum, sondern ein ziemlich starkes.“ (S. 31)
Rhetorische Fragen wechseln sich mit Sachkommentaren, Abfolgen von Exklamationen mit Imitaten aus Narration und Dialog ab – Kathrin Röggla kopiert die Krisenhektik und überspitzt sie, indem sie stakkatoartig, an Bergsons Mechanismus und Automatismus erinnernd, Diskursbausteine mit der größten Komiknähe zusammensetzt.47 Und nur ein paar Zeilen weiter ergänzt sie: „Eines der verblüffendsten Dinge der Krise ist ja, wie viel die Rede ist von Verstecktem und Verborgenen: versteckte Schulden, verborgene toxische Zertifikate [...]. Man könne direkt meinen, Bankgeschäftsführung sei eine Arbeit mit zahlreichen Unbekannten. Mal ist die Rede von komplizierter Finanzmathematik, mal die Rede von den Verpackungskünstlern der Wallstreet, ‚die allmählich dazu übergingen, Ramschkredite zu Paketen zu verarbeiten. Und dann Scheibchen an Investoren weiterzureichen.‘ So die Sprache des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, auf YouTube genial in Szene gesetzt von dem britischen Komikerduo Bird and Fortune, [...].“ (S. 32)
Dabei geht es Röggla nicht nur um die ironische Enthüllung, sondern ihre Vorlesung versteht sich auch als ein seriös-kritischer Beitrag. Ihr Text funktioniert stellenweise nach einem ‚Wipp-Schema‘, in dem sich, Sachargumente mit komischen Einschüben abwechseln: „‚Wenn zwei sich kloppen, das ist Drama‘, hat Einar Schleef in einem Interview mit Alexander Kluge gesagt. Dieser Satz mag irgendwo seine Richtigkeit haben, für mich stimmte immer eher sein Gegenteil: ‚Wenn zwei sich nicht kloppen, das ist ‚Drama‘. [...] Woran liegt es, dass sich zwei nicht mehr kloppen? Beziehungsweise die zwei, die sich kloppen sollten in einem Konflikt. Vielleicht gibt es ein räumliches und auch ein zeitliches Problem. Die Szene ist sozusagen zerrissen. So meint zumindest Harald Welzer, der in seinem Buch ‚Klimakriege‘ der Frage nachgeht, wieso sich niemand für den Klimawandel und die daraus resultierende Gewalt verantwortlich fühlt. Er stellt ein Problem der Menschen fest, Ursache- und Wirkungszusammenhänge zu se-
47 S. auch Röggla: Gespensterarbeit, S. 17: „Vierzig Jahre später sind sich alle einig, dass das Fiktive das Reale überwuchert hat, zumindest legt das der gegenwärtige Diskurs über Börsen und Konjunkturfragen nahe, und dennoch drängt sich bei den meisten immer noch der Wunsch auf, zu erfahren, was da eigentlich los ist. Irgendwo müsse da doch noch ein Boden sein! – Aber nein, alles zerfliegt in Psychologie! So zumindest die gegenwärtige Behauptung in Politik und Medien“.
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Die alltägliche Sprache täuscht den Leser leicht darüber hinweg, dass die Analogie zum Drama vor allem amüsant sein soll. Röggla nimmt geradezu nonchalant Schleefs reduktionistisches Zitat auf, um es in ihrem Sinne zwecks des Komikeffekts zu doppeln. Gesellschaftlich hochangesehene Kunst – Theater! – wird mit einem verfremdenden Sprachregister versehen („Wenn zwei sich nicht kloppen“), das darüber hinaus Definitionsmacht innehat („das ist Drama“). Mit dieser Pirouette leitet Röggla über zu einer sachinformierenden Darstellung von Konfliktproblematik in modernen Zeiten; sie führt wissenschaftliche Autoritäten an und resümiert stilsicher deren Beiträge, um schließlich dem Rezipienten einen für das Komische typischen Akt zu vollziehen, den Wiederaufruf des „Klopp“-Theorems, welches durch seinen Kontrast den wissenschaftlichen Abschnitt auf zweierlei Weise charakterisiert: Zum einen als überraschende Zäsur, die ein Staunen hervorruft, zum anderen als desavouierende Nachricht an den Sachteil, dessen sich mit nur acht Worten als ersetzbar erweist. Die genannten Beispiele streichen einen Zug aus Rögglas Vortrag heraus, der vor allem ihre Nähe zum ‚Kipp-Phänomen‘ herausstellt. Ihr Text verfährt gegensatzproduktiv, er stellt durch Komik ausgelöste ‚Kippmomente‘ her. Die Groteske einzelner Situationen, am eindringlichsten in der Darstellung des New Yorker Investmentbankers und seiner Erwähnung über die Arbeitsauffassung eines am elften September 2001 gestorbenen Kollegen erkennbar, zieht Röggla nicht ins Lächerliche, was angesichts der Worte des Bankers naheliegend gewesen wäre, sondern verharrt im unbeteiligten Konjunktiv der Berichterstattung und manövriert das Ereignis so zurück ins Komische.48 In Anbetracht des Krisenthemas eines kippwilligen Finanzmarkts stellt Rögglas Text durch solche Verfahren einen Umgang mit dessen Diskurshegemonie zur Verfügung, der immerhin die Bilanz auf der Kommunikationsseite zugunsten der Kunst verbessert.
5. F AZIT „Krise(n)“ bilden begriffsgeschichtlich die Verlängerung von Kritik(en), was sich nicht zuletzt in den altgriechischen Bedeutungen von Krise als „Urteilsfindung“ oder „Entscheidungsprozess“ manifestiert.49 Stets bemüht, durch kritische Exegese die kulturelle Urteilsfindung zu unterstützen, er-
48 Allerdings nicht ohne Seitenhieb: Sie bezeichnet die bestürzende Erzählung des Bankers als „Anekdote“. 49 Vgl. Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 617-650, hier S. 617f.
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laubt eine literaturwissenschaftliche Inventur der Finanzmarktkrise von 2008 (und ihre gegenwärtige Fortsetzung) Einsichten, die sich vor dem Hintergrund moderner Komiktheorie – dem ‚Kipp-Phänomen‘ – ausbreiten. Darin zeigt sich, dass der Finanzmarkt auch entgegen seiner wirtschaftstheoretischen Fundamente mehr als nur börseninterne Ausschläge vor allem anfällig für symbolsystemische Ordnungen wie geschichtspoetologische Außendarstellungen und rhetorische Evaluierungen ist. Solche Beobachtungen haben einen Erkenntniswert darin, dass dadurch nicht zuletzt die gesellschaftliche Wahrnehmung gegenüber der Finanzindustrie sensibilisiert wird, was in Zeiten steigender Unzurechnungsfähigkeit von Mensch und Markt mindestens einer Bevölkerungsgruppe auch ein politisches Anliegen sein dürfte.50 Ein Theorietransfer von Komik zur Krise und vice versa vermittelt somit verschiedene, sich ergänzende Semantiken miteinander. Whites Poetik historischer Beschreibungsmodelle subsumiert hierbei die Komödie als eine Variante geschichtlicher Darstellung, die die Spaltung des Subjekts von der Welt durch eine Strategie der Versöhnung, äquivalent zum „happy end“, wenigstens für eine kurze Zeit zu lindern versucht. Die historische Komödie ist somit auf einer geschichtsphilosophischen Perspektive eine Illusionsfabrik, die den historisch Verunsicherten kurzzeitig für sich gewinnt, um ihn umso rücksichtloser daraufhin zurück in die unheile Welt von Finanzkrisen und Rezensionen zu entlassen. Ein Erleben der Wirklichkeit erhält so den Charakter eines Theater- oder Kinobesuchs. Ihre Dynamik bezieht die historische Komödie aus dieser Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das darin enthaltene Konfliktpotenzial droht allerdings jederzeit hervorzubrechen. Diese Triade eines Ruhezustands, der sich zur Krise wandelt und daraufhin aufgelöst wird, entspricht Hayden Whites dreifacher Komödienstruktur.51 Sie lässt gegenwartshistorische Vergleiche zu den vergangenen vier bis fünf Jahren in Europa zu, in der nach Jahren der Prosperität (2004-2007) ein dramatischer Einbruch 2008 stattfand, dessen Einfluss auf die gegenwärtige Situation unhintergehbar ist und an dessen Lösung lediglich ein Kontinent arbeitet. Noch unbekannt sind die nächsten Versöhnungsoptionen für die derzeitige Krise.
50 Als stärkste Belege können hierfür das 1) nicht mehr nachvollziehbare Entlohnungssystem der Finanzler mit Millionenabfindungen, Boni und anderen Geldgeschenken und 2) ironiefreie Aussagen wie die des Goldman-Sachs Vorstandes Lloyd Blankfein, der die Kapitalhändler als „Masters of the Universe“ charakterisierte, gelten. Beispiel Nr. 2 wirkt noch bizarrer, wenn man neben den theologischen Größenwahnsinn Blankfeins die gleichnamigen Spielfiguren („He-Man“, „Skeletor“, „She-Ra“) aus den 1980er Jahren stellt. – Kosellecks Beobachtung zu Krisen, dass es sich „um lebensentscheidende Alternativen, die auf die Frage antworten sollten, was gerecht oder ungereicht, heilsbringend oder verderbend, gesundheitsstiftend oder tödlich sein würde“ handelt, lässt sich auch auf den Finanzmarkt beziehen. Koselleck: „Krise“, a.a.O., S. 619. 51 Vgl. White: Metahistory, S. 232.
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Kathrin Röggla wiederum nimmt die Geldmarktkrise von 2008 zum Anlass, mittels eines originell gestalteten Vorlesungstexts dem Finanzmarkt und seiner eingeschriebenen Krisenaffinität rhetorisch Paroli zu bieten. Sie übersetzt hierfür ihre Beobachtung der öffentlichen Wahrnehmung von Markt und Krise in eine semiologisch handliche Genrefilmanalogie, die wiederum sowohl in einer formalen Verkörperung dramatischer Bauprinzipien als auch stilistisch im Innentext komische Effekte erzielt. Sie streut auf der rhetorischen Textebene politisch nachvollziehbare Argumente zur Charakterisierung eines irritierenden Kapitalmarkts ein, um wiederum auf der komischen Textebene Störungselemente einzubauen, welche die Sachebene durch ihre Kontrastivität produktiv erhellen. Komik hat so eine regulative Wirkung inne: Den Instabilitäten eines Irrfahrtssystems wird ein Spiegel vorgehalten und das Publikum, inklusive des Kulturwissenschaftlers, kann aufatmen. Vor allem aber platziert Kathrin Röggla in ihrer rhetorischen Operation des Komischen ein Humorkonzept, das in seiner sezierenden Art des „l’humour a quelque chose de plus scientifique“ dem Henri Bergsons aus dem Kapitel „Le comique des mots“ in Le rire entspricht: „On accentue l’humour [...] en descendant de plus en plus bas à l’intérieur du mal qui est, pour en noter les particularités avec une plus froide indifférance.“52 Sie verfährt humoristisch mit den Instrumenten der medizinischen Krisenmetaphorik, um konkret – z.B. ihre Recherchen in der Finanzwelt vor Ort – am rhetorischen Körper dessen komische Krankheiten, in diesem Falle die wuchernden Zellen einer Finanzkrise, freizulegen: „L’humoriste est ici un moraliste qui se déguise en savant, quelque chose comme un anatomiste qui ne ferait de la dissection que pour nous dégoûter [...]“.53 Die zwei unterschiedlichen Auseinandersetzungen Hayden Whites und Kathrin Rögglas zur Krise vermitteln an zwei unterschiedlichen Polen – Poetologie der Geschichte und Rhetorik – die Kipptendenzen der Geldmarktkrise, indem sie werkimmanent (Röggla) und poetologisch (White) den „Entlarvungseffekt des Komischen“54 zur Anwendung bringen. Durch die Aufdeckung absurder und lächerlicher Elemente in der diskursiven (Selbst-)Wahrnehmung des Finanzmarkts und seiner Krisenaffinität erweist sich dessen ostentative Seriosität und globalökonomische Singularität als hinfällig. In einer besonderen Form der Selbstüberschätzung verkehren sich diese selbstgestellten Prämissen ins Gegenteil; sie kippen in einen Zustand, der mit dem Adjektiv ‚komisch‘ sowohl ‚eigentümlich‘ als auch ‚lachhaft‘ bedeuten kann. Die ursprünglich nicht aus Komikgründen verfassten Texte Whites und Rögglas erlauben es, diese Ambiguität herausarbeiten zu können und dabei die ‚Kippthematik‘ Isers in Hinblick auf die Geldökonomie vor-
52 Bergson: Le rire, S. 130. 53 Ebd. 54 Bachmeier: Texte zur Theorie der Komik, S. 117. Induktiv bei Röggla: Vom Text zum Thema. Deduktiv bei White: Vom Thema zum Text.
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wegzunehmen (White) oder anzuschließen (Röggla).55 Ein solches Entfalten heiterer Momente der Kapitalmarktkrise hat die heilsame Eigenschaft, deren semantischen Leerverkäufe aufzudecken. Oder lakonischer: Die Komik der Krise als Korrektiv.56
55 Epochenhistorische Parallelen: 1550, zur Hochzeit der Renaissance, beginnt mit Vincenzo Maggis De ridiculis die „subversive Natur des Komischen“ sich als Leitdiskurs für darauffolgende komiktheoretische durchzusetzen. Parallel dazu war die Renaissance aber auch die Phase, in der die Grundlagen moderner Geldwirtschaft gelegt wurden. Die veränderte Zinswirtschaft hat sich seitdem prächtig fortentwickeln können. Allerdings auch die Komiktheorie. Ein Brantscher Zeitgenossenschelm, wer Böses dabei denkt, dass gerade die theoretische Weiterentwicklung des Komischen und die Karriere des Kredit hier gleichermaßen ihren Ursprung haben. Schwind, Klaus: „Komisch“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 2001, S. 332-384, hier S. 342. Vgl. auch Richter, Peter: „Ist das Mittelalter endlich vorbei?“, in: FAZ Online, 29. Oktober 2011, http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/renaissance-der-renais sance-ist-das-mittelalter-endlich-vorbei-11502292.html vom 01.09.2011. 56 Beziehungsweise mit einem Satz in Le rire Bergsons endend: „Inutile de pousser plus loin cette analyse pour le moment“. Bergson: Le rire, S. 45.
Die Wiederkehr des Verdrängten1 J ÜRGEN K AUBE
Auch nach der Atomkatastrophe in Japan ist wieder der Satz zu hören, nichts werde mehr sein wie zuvor. Dabei belegen alle großen Krisen, dass die Normalität schneller zurückkehrt als gedacht. Die Politik könnte diesen Prozess verändern, tut es bisher aber nicht. Es ist erstaunlich, in wie vielen Fragen, die ihre Selbsterhaltung betreffen, die Menschheit keinen Schritt vorankommt. Zeitdiagnostiker melden uns seit Jahrzehnten ständig neue Epochenschwellen: vom „Ende der Ideologien“ über die „globalisierte Welt“ bis zum Eintritt in die Wissensgesellschaft. Das „Atomzeitalter“ gehörte auch einmal dazu, war jedoch schon Ende der sechziger Jahre wieder vergessen worden. Mitte der achtziger Jahre kam dann die „Risikogesellschaft“ ins Gespräch, um ihrerseits bald wieder von anderen Epochenbefunden überholt zu werden. Dieser ständige Wechsel der Schlagworte verschleiert, wie wenig sich tatsächlich ändert. Wie oft ist nicht der Satz schon geschrieben worden, nichts werde nun mehr sein wie zuvor? Alle großen Krisen aber belegen, dass im Bereich unserer Lebensprobleme mit einer ständigen Wiederkehr des Gleichen zu rechnen ist. Was sich ändert, ist nicht Art, sondern Größenordnung der Probleme sowie die technischen Mittel, die sie hervorbringen und die sie zugleich lösen sollen.
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Dieser Aufsatz erscheint hier als Wiederabdruck des gleichnamigen Artikels im Feuilleton der FAZ vom 17.03.2011, siehe auch URL: http://m.faz.net/aktuell/ feuilleton/zeitenwende-die-wiederkehr-des-verdraengten-1604667.html vom 01.12.2012.
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Es ist dieselbe Wirtschaft wie zuvor Das zeigt die jüngste Finanzkrise genau so wie die nukleare Katastrophe in Japan. Als die Banken kollabierten, hieß es, wir seien an einem Abgrund historisch einmaliger Tiefe gestanden, doch inzwischen beherrsche man derartige Krisen besser als noch 1929. Kurz darauf allerdings schon war der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, im Wesentlichen gehe alles den gleichen Gang wie zuvor. Das heißt: Die Zahl und Wirkungskraft der finanz- oder fiskaltechnischen Instrumente ist gewachsen, was das Ausmaß der Krise wie die Möglichkeiten steigert, ihre Folgen zu verwalten. Darüber hinaus jedoch scheint die gesellschaftliche Lernfähigkeit beschränkt. Es ist dieselbe Wirtschaft wie zuvor. Das Desaster in Fukushima ist ein analoger Vorgang auf einem anderen Krisengebiet. Auch hier werden wir in der Zeit zurückversetzt. Wer wäre denn in der Lage, einem Jugendlichen zu erklären, dass alles, was gerade erörtert wird, genau so auch schon vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren diskutiert wurde? Es gibt kein einziges neues Argument. Man kann jetzt alle Texte – von Anders und Jungk und Steinbuch und Weizsäcker oder wie dergleichen vergessene Sachbuchautoren sonst heißen – noch einmal lesen. Es gibt nicht einmal entscheidend neues Wissen in der Sache. Denn die Gleichung, nach der äußerst kleine Wahrscheinlichkeiten, wenn sie mit ungeheueren Schadensgrößen multipliziert werden, zu ungeheuren Erwartungen führen, hat keinen historischen Index. Welcher Nutzen solchem Schrecken gegenübergestellt werden könnte, so dass sich beides die Waage hielte, das hat bislang noch kein Politiker oder Wissenschaftler anzugeben vermocht.
Kein einziges Argument zur nuklearen Frage ist neu Wie kommt es aber, dass der Schrecken eintreten muss, um als möglich zu erscheinen? Wie kommt es, mit anderen Worten, dass denkenden Wesen erst die eingetretene Wirklichkeit ihre Möglichkeit erweist? Für die Bundeskanzlerin enthalten die Geschehnisse in Japan die Lehre, das für unmöglich Gehaltene könne sehr wohl eintreten. Doch wer hat es ernsthaft für unmöglich gehalten, dass ein Erdbeben ein Atomkraftwerk zerstören kann? Auch der Begriff „unmöglich“ kann nicht beliebig verwendet werden. Dass kein einziges Argument zur nuklearen Frage, welches jetzt in der Diskussion bemüht wird, neu ist, zeigt allerdings, dass es nicht in erster Linie auf Argumente ankommt. Ob die Politik ihrer Pflicht genügt, wenn sie diesen Eindruck verstärkt, indem sie erkennbar das, was sie tut, nicht aus Über-
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legung in der Sache, sondern aus strategischer Erwägung tut, muss bezweifelt werden. Wofür sie damit jedenfalls sorgt, ist ein zweiter Verlust an Zeitgefühl. Denn nicht nur liegen alle Bücher über das Atomzeitalter vor uns, als seien sie soeben erst geschrieben worden. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass wir sie nicht in, sagen wir: drei oder sechs oder zwölf Monaten längst schon wieder ins Antiquariat getragen haben werden. Epochal wäre, die Verzichte zu beziffern Die bemerkenswerte Formel von einem „Aussetzen der Laufzeitverlängerung für drei Monate“ scheint darauf kalkuliert. Das Bedürfnis, in einer normalen Welt zu leben, ist enorm und setzt sich gegen jedes bessere Wissen durch. Die Politik bezieht daraus die Lizenz, auf Zeit zu spielen und Stimmungen abzuwarten. Normale Welt, das heißt hier: eine Welt, die gar nicht genug an Strom erzeugen kann. Immer wieder ist die nukleare Frage als eine des Friedens oder als eine der Technik gestellt worden. Es gehe darum, wem der Besitz der Bombe zugestanden werden soll, oder darum, ob die Wissenschaft verantworten kann, was sich an technologischen Folgen aus ihren Erkenntnissen entwickelt. Die Katastrophe von Fukushima enthält aber den Hinweis darauf, dass nicht „Bombe“ oder „Atom“, sondern „Energie“ das entscheidende Wort ist. Die Sicherung des Lebensstandards um jeden Preis – auch um den, Katastrophen für unmöglich zu halten – treibt die politischen wie die technischen Versprechen. Ein Moratorium für diese Handlungsnorm scheint undenkbarer als der Eintritt aller Restrisiken. Insofern wäre erst eine Politik, die es wagte, jene Verzichte zu beziffern, die ein Leben ohne Kernenergie und die Komplettverfeuerung des Planeten bedeuten würde, etwas Neues, etwas Epochales.
Wahrnehmung und Folgen ökonomischer Krisen K ARL -J OSEF K OCH / A NNIKA J UNG
Der Begriff der Krise erschien uns in den letzten Jahren als allgegenwärtig. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist seit 2007 ein ungebrochen aktuelles Thema in der politischen Diskussion und in den Medien. Die Staatsschuldenkrise in Griechenland, die sich seit 2010 rapide zugespitzt hat und sich in Irland, Portugal, Italien und Spanien fortsetzte, sowie die Eurokrise als Währungskrise der Europäischen Währungsunion sind nachfolgende ökonomische Krisen von europaweiter Bedeutung und stellen ohne Frage auch über Europa hinaus eine Bedrohung der ökonomischen Systeme dar. Doch wie werden ökonomische Krisen medial vermittelt und was versteht man unter diesem Begriff, der uns scheinbar ständig begegnet? Bei der Untersuchung dieser Fragestellung wird es nicht gelingen, den methodischen Ansprüchen der betroffenen Wissenschaften umfassend zu genügen. Die ökonomischen Ursachen erscheinen in der fachwissenschaftlichen Betrachtung noch nicht abschließend diskutiert und keineswegs vollständig verstanden. Die Wirkungen sind bis heute nicht einmal vollständig realisiert. Es bleibt der Versuch, im interdisziplinären Ansatz Regelmäßigkeiten im „Narrativ“ wirtschaftlicher Krisen zu finden.
Andeutung einer Definition der Krise Es gibt keine Definition der „Ökonomischen Krise“ schlechthin. Unter einer ökonomischen Krise versteht man gemeinhin eine auffällige, über regelmäßige Schwankungen („Konjunkturen“) hinausgehende und über längere Zeit anhaltende Verschlechterung des Zustands des gesamten ökonomischen Systems. Eine solche Krise zeigt sich im Einbruch wichtiger makroökonomischer Kennzahlen wie der Beschäftigung, dem Preisniveau, den Finanzmarktindikatoren und nicht zuletzt der Veränderung des Bruttoinlandsprodukts als Maß der gesamtwirtschaftlichen Produktion von Waren und
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Dienstleistungen. Es gäbe gute Gründe, eine erweiterte Auffassung des Begriffs zu verwenden. So können mikroökonomische Krisen den Verlust der Beschäftigung, des Vermögens, fehlende Lebensgrundlagen o.Ä. bedeuten. Als ökonomische Krisen könnte man aber auch die Lebenssituation benachteiligter Gruppen, wie z.B. von Alleinerziehenden und ihren Kindern oder alternden Menschen, bezeichnen. Unternehmenskrisen treffen mehr Menschen als nur das Management großer Unternehmen und die von der Entlassung bedrohten Beschäftigten. Regionale oder globale Strukturkrisen können durch den Niedergang eines Industriesektors oder einer Branche ausgelöst werden, man denke an den Kohlebergbau oder die Stahlindustrie. Der Niedergang der Wirtschaftskraft einer Region kann die Lebensqualität von ganzen Landstrichen substanziell erschüttern, wie etwa in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung.
Bubbles und Hypes Ökonomische Krisen haben sehr unterschiedliche Erscheinungsbilder. Ökonomen verwenden den Begriff der spekulativen Blase („bubble“) als Genotyp für bestimmte Entwicklungen, die gemeinhin als krisenhaft bezeichnet werden. Man erachtet die Entwicklung eines Marktes oder mehrerer Märkte als solche, wenn die Marktpreise anhaltend und auffällig steigen, der Preisanstieg jedoch nicht schlüssig durch eine Veränderung des Wertes der gehandelten Ware erklärt werden kann. Typischerweise treten in einen solchen Markt immer mehr neue Käufer ein, die sich aufgrund der beobachteten Preisentwicklung große Gewinne beim eventuellen späteren Verkauf ausrechnen. Spätestens, wenn die freie Liquidität der Geldmärkte aufgesogen ist, bricht der Preisanstieg ab und die Marktteilnehmer versuchen möglichst schnell, zu hohen Preisen zu verkaufen. Sie finden aber kaum noch Käufer und so verfällt der Preis rasend schnell, die Blase „platzt“. Auf der anderen Seite betrachtet man Hypes als Genotyp ökonomischer Krisen. Die Tatsache, dass spekulative Blasen keine realwirtschaftliche Grundlage haben, ist für eventuell resultierende Krisen nicht ausschlaggebend. Unter Umständen genügt der dramatische Anstieg gewisser ökonomischer Aktivitäten, der aus realen Gründen nicht beliebig fortsetzbar ist. Auftreten kann ein solcher Hype zum Beispiel als explosionsartig ansteigende Nachfrage nach einer Ressource oder einem bestimmten Gut, die nur begrenzt befriedigt werden kann, oder als Flucht der Bevölkerung aus bestimmten Regionen aus unterschiedlichsten Gründen. Auch die schnell um sich greifende Abwanderung von Unternehmen aus bestimmten Landstrichen kann einen solchen Hype darstellen.
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Historische Beispiele Historisch gesehen gibt es eine ganze Reihe spektakulärer (spekulativer) Blasen. An den frühen Beispielen sieht man recht gut, wie schwer es sein kann, zwischen einer spekulativ begründeten Preissteigerung und einer, die auf einer intrinsischen Wertsteigerung beruht, zu unterscheiden. Die Beispiele dienen zugleich dazu, den Bezug zwischen der Blase oder dem Hype und „dem Rest der Welt“ zu illustrieren. Diese Verbindung zwischen einem auslösenden Moment und der eigentlichen Krise, ist eines der Elemente, an denen sich die Bedeutung des Narrativs festmachen lässt. Die Tulpen-Hysterie (1636/37) ist wohl das bekannteste Beispiel einer Wirtschaftskrise, die durch das Platzen einer spekulativen Blase ausgelöst wurde. Als die Tulpe im 16. Jahrhundert nach Europa gebracht wurde, verbreitete sich bald ihr Ruf als Luxuspflanze, die in den schönsten Farben gezüchtet wurde. Im Zuge des steigenden Interesses an den Geschäften mit Tulpenzwiebeln wurden zur Zeit der Blüte im April und Mai Vorwärts-Verträge über den Kauf von Zwiebeln der im Frühjahr bewunderten Pflanzen gehandelt. Es wurden also bereits sogenannte ‚futures‘ verwendet. Die entwurzelten Zwiebeln konnten später im Herbst auf den ‚spot markets‘ gehandelt werden. Hier kamen bereits moderne Finanzmarktinstrumente zum Einsatz. Das Handelsvolumen nahm schnell zu und im Jahr 1636 konnte man einen explosionsartigen Anstieg der Preise für Tulpenzwiebeln beobachten. Charles Mackay berichtet vom Verkauf einer Tulpenzwiebel für zwei Ladungen Weizen, vier Ladungen Roggen, vier Ochsen, acht Schweine, 12 Schafe, Unmengen Wein, Bier, Butter, Käse und andere Dinge im Gegenwert des 25-fachen Jahreseinkommens eines qualifizierten Arbeiters. Über Spekulationen gelangten Einzelne zu unglaublichem Reichtum.1 Die Blase platzte, als im Frühjahr 1637 die Kaufkraft der Spekulanten erschöpft war. Unweigerlich entstanden Auseinandersetzungen, in denen die rechtliche Verbindlichkeit von noch nicht abgewickelten Vorwärts-Verträgen in Frage gestellt wurde. Nach Mackay ordneten die Gerichte die Verträge als ‚Wettverträge‘ ein und verweigerten die Durchsetzung der Forderungen. Um die Lage zu beruhigen, ordnete die holländische Regierung an, jedermann könnte gegen eine Entschädigung von 10% des Nennwertes von solchen Vorwärts-Verträgen zurücktreten 2. Doch ökonomische Krisen können auch andere Konsequenzen mit sich bringen, d.h. sich nicht nur im Verlust des Vermögens äußern. Die Ausrottung der Büffel in Nordamerika (um 1875) geht auf die gestiegene Nachfrage nach Fleisch im Zuge der Besiedlung des amerikanischen Westens zu-
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Vgl. Mackay, Charles: Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds, Ch. 3, London 21848, URL: http://www.econlib.org/library/ Mackay/macEx3.html#Ch.3,%20The%20Tulipomania vom 05.04.2011. Vgl. Garber, Peter M.: „Famous First Bubbles“, in: The Journal of Economic Perspectives, Vol. 4, Nr. 2 (1990), S. 35-54.
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rück. Der Büffeljäger George „Hodoo“ Brown berichtet 1871 in einem Interview von einem Gespräch mit einem anderen Büffeljäger: „‚We told them the weather was getting so warm it was almost impossible to get meat to market before it spoiled.‘ They said to me, ‚Why don’t you skin them and just take the hides, and let the meat lay?‘ I say, ‚What the devil would I do with the hides?‘ One man said, ‚Ship them to Leavenworth to W.C. Lobenstine. He’ll buy your hides and send a check.‘ So Burdett and I on our next trip went to skinning.“3
Zwischen 1871 und 1878 stieg die Zahl der getöteten Büffel ins Unermessliche. Beinahe die Hälfte der ursprünglich rund 20 bis 30 Millionen Büffel wurde abgeschlachtet. Hauptsächlich die Felle fanden Verwendung, Fleisch in diesen Mengen konnte man nicht brauchen. Die Verwertung der Felle war durch in Europa entwickelte neue Methoden des Gerbens der Häute möglich geworden. In der Hochphase der Ausrottung der Büffel stieg der Preis für Büffelhäute, um mit der Beinahe-Ausrottung wenige Jahre später zu kollabieren.4 Eine Krise, die noch nicht so lange zurückliegt und deren Folgen sicherlich noch heute zu spüren sind, ist die Argentinien-Krise (1998-2002). Sie bahnte sich über einen längeren Zeitraum an. Um die Hyperinflation der späten 1980er Jahre zu stoppen, hatte Argentinien den Peso mit einem festen Wechselkurs an den US-Dollar gebunden. In den 1990er Jahren verstärkten sich dadurch das Handelsbilanzdefizit und schließlich die Staatsverschuldung. Mexiko und Brasilien werteten ihre Währungen ab, was durch die Abwanderung vieler argentinischer Unternehmen die Lage im Land weiter verschlechterte. Eine unentschlossene Wirtschafts- und insbesondere Währungs- und Finanzpolitik führte schließlich Ende 2001 zum Quasi-Staatsbankrott. Das Eingreifen des Währungsfonds verhinderte das Schlimmste, führte aber gleichzeitig zu Irritationen der politisch-wirtschaftlichen Führung des Landes. In der Zeit der Krise sank das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens um insgesamt 21%, die Armutsrate stieg auf 57%, die Arbeitslosenquote erreichte 23%. Makroökonomisch erscheint dies dramatisch, bedenkt man jedoch, welche persönlichen Schicksale hinter diesen Zahlen stehen, lässt sich das Ausmaß der Krise kaum beschreiben.
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4
Vgl. Interview mit George W. Brown, in: Miles Gilbert/Leo Remiger/Sharon Cunningham, Encyclopedia of Buffalo Hunters and Skinners, 2003, S. 55, URL: http://www.beijer.kva.se/PDF/41110606_Disc225.pdf vom 10.11.2012. Taylor, M. Scott: „Buffalo Hunt: International Trade and the Virtual Extinction of the North American Bison“, in: American Economic Review 101/7 (2011), S. 3162-3195.
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Abb. 1: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Argentinien5
Abb. 2: Inflation in Argentinien6 Im Sommer 2007 begann mit der US-Immobilienkrise eine Banken- und Finanzkrise von bisher nicht gekanntem Ausmaß. Auch diese Krise wurde im Wesentlichen durch Spekulationen verursacht. Anfang des Jahrtausends platzte die sogenannte ‚Dotcom-Blase‘ in den USA. Man spekulierte damals auf das Wirtschaftswachstum in der IT-Branche. Mit dem Platzen der Blase 5
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http://www.munich-business-school.de/intercultural/index.php/Argentinien_-_ Wirtschaftliche_und_kulturelle_Bedeutung_der_Wirtschaftskrise#Bruttoinlandsp rodukt vom 24.11.2012. http://www.munich-business-school.de/intercultural/index.php/Argentinien_-_ Wirtschaftliche_und_kulturelle_Bedeutung_der_Wirtschaftskrise#Inflation vom 24.11.2012.
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fielen die Aktien und Anleger zogen ihr Kapital zurück. Um einer möglichen Krise entgegen zu wirken, senkte die US-Zentralbank Federal Reserve (kurz: Fed) den Leitzins, verlieh also Geld zu geringen Zinssätzen an die Geldinstitute. So sollten neue Anlagemöglichkeiten geschaffen werden. Die Banken verliehen das Geld in Form günstiger Kredite auch an Kreditnehmer mit sehr geringer Bonität. Diese sogenannten ‚Subprime-Kredite‘ unterlagen kaum einer Kontrolle. Mit Hilfe der Kredite kauften viele US-amerikanische Verbraucher Häuser und verhalfen der Immobilienbranche zu einem Boom. Die Nachfrage nach Immobilien stieg und so auch die Preise, eine Preisspirale entstand. Hauseigentümer vermuteten eine weitere Preissteigerung ihrer Immobilie und beruhigten sich mit der Annahme, das Haus noch mit Gewinn verkaufen zu können, sollten sie die Schulden nicht begleichen können. Die variablen Zinssätze stiegen jedoch mit der allmählichen Anhebung des Leitzinses durch die Fed bis auf 5,25% im Jahr 2006 an. Und als eben dieser Moment eintrat, in dem die Eigentümer ihren Kredit nicht mehr bezahlen konnten und ihr Haus verkaufen wollten, brachen die Immobilienpreise aufgrund des plötzlich gestiegenen Angebots drastisch ein. Die Risiken der Kredite wurden – von vornherein – von den Banken ausgelagert, das heißt, die Gläubigerbanken verkauften ihre Forderungen an andere Bankhäuser. Eigens hierfür gegründete Zweckgemeinschaften, sogenannte ‚conduits‘, bündelten, strukturierten und verbrieften die Hypothekenkredite und verkauften sie an Investoren weltweit.7 Auf diesem Weg investierten bald auch ausländische Anleger in die sogenannten „Mortgage Backed Securities“, die von den Rating-Agenturen eine positive Bewertung erhielten. Mit dem Einbruch der Immobilienpreise kam es zu großen Zahlungsausfällen, welche die Banken und Investoren schwer trafen. Das Eigenkapital der Banken minderte sich hierdurch stark, was die Geldinstitute dazu veranlasste, Vermögenswerte mit Preisverlusten zu verkaufen, um die nötige Eigenkapitalreserve, also das vorgegebene Verhältnis zwischen Eigenkapital und Forderungen, aufrecht zu erhalten. Auch die Preise der abgestoßenen Vermögenswerte sanken dadurch. Dies brachte die Stabilität der Kreditinstitute ins Wanken und beeinträchtigte das Vertrauen zwischen den Banken. Sie vergaben einander keine Kredite mehr. Dies nahm seinen Höhepunkt mit der Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008.8 Weltweit erschütterten zunächst Verluste und Insolvenzen bei Unternehmen der Finanzbranche das globale Wirtschaftssystem. Seit Ende 2008 wirkte die Krise auch unmittelbar in der Realwirtschaft, es kam zu einer Rezession. Aktienkurse, Exporte und Rohstoffpreise brachen ein. Im Jahr 2009 sank das Bruttoinlandsprodukt der hoch entwickelten Volkswirt-
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Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Globalisierung – Zahlen und Fakten: Finanz- und Wirtschaftskrise. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise_ab_2007 vom 05.04.2011.
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schaften krisenbedingt um 3,2% gegenüber dem Vorjahr.9 Die staatlichen Rettungsmaßnahmen drohen mittlerweile sogar zu einer so großen Belastung zu werden, dass Staatsinsolvenzen nicht ausgeschlossen sind, federten aber die Auswirkungen der Krise ab. Die globale Auswirkung der Krise zeigt die folgende Graphik:
Abb. 3: Globale Auswirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise 200910 Die Erzählweise solcher Krisen, also das ökonomische Narrativ, soll uns im Weiteren beschäftigen. Die ökonomische Literatur kennt keine Definition des ökonomischen Narrativs. In Anlehnung an den Beitrag von Walburga Hülk in diesem Band lässt sich jedoch ein Entwurf für eine Definition formulieren. „Ein ökonomisches Narrativ ist ein Bericht, in dem Fakten und Interpretation nicht immer zu unterscheiden sind. Ökonomische Narrative […] überführen Erfahrenes in bekannte Kategorien, stellen vertraute Kontexte her. Komplexe Sachverhalte werden ausgewählt, reduziert und auf das Narrativ hin zugespitzt. Das ökonomische Narrativ interpretiert und scheint zu erklären. Ökonomische Narrative perpetuieren kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken“11. 9
Vgl. International Monetary Fund (October 2010): World Economic Outlook, S. 177. Hoch entwickelte Volkswirtschaften: USA, Euro-Zone, Großbritannien, Japan, Kanada. 10 International Monetary Fund (April 2010): World Economic Outlook, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Globalisierung – Zahlen und Fakten: Finanzund Wirtschaftskrise. 11 Siehe den Aufsatz von Walburga Hülk in diesem Band, S. 113-131.
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Das Narrativ „Ökonomische Krise“ reagiert auf ein unübersichtliches Geschehen, dessen Folgen schwer abzuschätzen sind, aber kollektiv für bedrohlich gehalten werden. Ausgehend von dieser Definition ist es kaum möglich, Narrative ökonomischer Krisen in ihrer Gänze zu erfassen. Gespräche zwischen einzelnen Individuen, die über unterschiedliche Fachkenntnisse verfügen und deren Betroffenheit erheblich variieren kann, eignen sich wohl nicht als Grundlage einer Untersuchung. Analysen von Gesprächen zwischen Studenten der Wirtschaftswissenschaften tragen möglicherweise genauso wenig zum Verständnis der Narrative bei, wie Diskussionen zwischen Mitarbeitern eines betroffenen Unternehmens, wie Stammtischerzählungen oder wie der Austausch innerhalb einer Familie. Es bleibt der Blick auf die Ausdrucksweise der Wirtschaftswissenschaften und die Berichterstattung in den Medien.
Ökonomische Systeme als Herausforderung Die Komplexität literarischer Gedankenwelten oder anderer Bezugssysteme von Narrativen sind gewiss nicht zu unterschätzen. Ökonomische Krisen, wie die andauernde weltweite Finanzkrise, stellen jedoch eine eigene komplexe Herausforderung dar. Unglaublich viele Individuen tragen mehr oder weniger gleichzeitig zur Entwicklung und zum Ausgang bei. Unternehmen im Finanzsektor und außerhalb mit mehr oder weniger großem Einfluss wirken ihrerseits auf den Verlauf einer Krise und politische Institutionen auf nationaler und supranationaler Ebene verändern immer wieder die Rahmenbedingungen. Es gibt konkurrierende Theorien, die das Funktionieren des ökonomischen Systems in seinen verschiedenen Ausprägungen zu erfassen versuchen. Die Wirkungsweise einzelner Aktionen (mikroökonomisch) und das Zusammenwirken der Vielzahl gleichzeitiger Aktionen (makroökonomisch) zu evaluieren, erscheint sehr schwierig. Auch die Formulierung normativer Einsichten oder Prognosen ist schwer möglich. Die Globalisierung ökonomischer Systeme hat die Interessengegensätze, die innerhalb des Systems in irgendeinem Sinne zu vereinbaren sind, verschärft. Die Modellierung dezentraler Entscheidungen in einem solchen Rahmen ist dementsprechend eine der großen Herausforderungen der Wirtschaftswissenschaften. Spezialisten verwenden Datenbanken, Statistiken, komplizierte Graphiken und mathematische Modelle, um das komplexe, angegriffene System zu beschreiben und zu bewerten. Ob jedoch die allgemeine verbale Diskussion oder die formalisierte einen größeren Einfluss auf den Verlauf von Krisen haben, ist kaum zu entscheiden. Ökonomen versuchen schon lange, Märkte unterschiedlichster Art und Funktionsweise mit Modellen in mathematischer Form zu repräsentieren. Insbesondere machen solche Modelle – unter Annahmen an das grundsätzliche Verhalten, die Ziele und die Kompetenzen der Akteure auf dem Markt – normative Aussagen darüber, mit welchen Ak-
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tionen die Akteure am besten ihre Ziele erreichen können, und treffen Voraussagen, wie der Markt auf die Aktionen reagieren wird. Die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Funktionieren ökonomischer Systeme ist in der allgemeinen Wirtschaftsberichterstattung zweitrangig. Eher liegt das Augenmerk auf der mehr oder weniger sachlichen Abbildung der realwirtschaftlichen Entwicklung, der Vorgänge auf den Finanzmärkten und den damit verbundenen politischen Debatten und Entscheidungen. Die Narrativierungen ökonomischer Krisen beginnen in den Köpfen der Medienschaffenden und setzen sich fort in der Wahrnehmung der medialen Präsentation. Dabei verbinden sich die entstehenden Narrative mit den realen Ereignissen und beeinflussen im Zusammenwirken von öffentlichem Druck, wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen den Gang der Dinge. Sie geben in Berichten und Fiktionen die gesellschaftliche Erfahrung mit der Krise wieder. „Aufgrund der hohen Komplexität des Themas dominiert […] die Berichterstattung in Printmedien.“12 Hier wird die größte Anzahl von Beteiligten und Interessierten mit sehr unterschiedlichen Fachkenntnissen eingebunden. Die Darstellung der Krise dient teils nur der Information, teils dient sie als Grundlage wichtiger Entscheidungen. Die breite Öffentlichkeit nimmt in erster Linie Visualisierungen und verbale Darstellungen wahr, schließlich ist es für Einzelne kaum möglich, die konjunkturelle Entwicklung direkt zu beobachten oder sich aus anderen Quellen selbst zu informieren. „Direkt wahrnehmbar sind allenfalls punktuelle Aspekte wie z.B. die Teuerungsrate“13. Bertram Scheufele beschreibt die Wirtschaftsberichterstattung in einem Interview mit Martin Gantner14 grundsätzlich als verantwortungsbewusst, erkennt aber einige Auffälligkeiten im Zeitverlauf einer Krise. Vor dem Ausbrechen einer Krise gibt es demnach eine positive Berichterstattung. Während der Finanzkrise erfolgte dann „eine starke Personalisierung des Problems“, Manager wurden in die Kritik genommen. Die Nachrichten waren sehr reißerisch, Schlagworte wie „Gier“ und „Größenwahn“ dominierten und es wurden Metaphern herangezogen, die das Ende des kapitalistischen Systems heraufbeschworen. Darüber hinaus wurden zumeist dramatische Bilder, wie solche von verzweifelten Aktienhändlern oder Tumulten vor Bankhäusern während der großen Depression 1929 genutzt, die das „Ungreifbare sichtbar“ machten. Die Suche nach Vergleichen mit krisenhaften Situationen aus anderen „greifbareren“ Lebensbereichen kann
12 Vgl. Heinrich, Jürgen/Moss, Christoph: Wirtschaftsjournalistik: Grundlagen und Praxis, Wiesbaden 2006, zit. nach: Scheufele, Bertram: Medien und Aktien, Wiesbaden 2008, S. 79. 13 Scheufele: Medien und Aktien, S.95. 14 Vgl. Gantner, Martin: „Die Medien und die Herde“, ZEIT online, 06.12.2008. URL: http://www.zeit.de/online/2008/45/medien-finanzkrise vom 05.04.2011.
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ein Hinweis auf die hohe Komplexität der Wirtschaftskrise sein15. Im gleichen Zug wurde die Frage nach einer neuen Wirtschaftsordnung gestellt und mehr Moral und Verantwortungsbewusstsein in der Finanzwelt verlangt. Es gab Forderungen nach institutionellen Änderungen auf globaler, regionaler sowie nationaler Ebene. In einem Memorandum forderten Gesine Schwan, René Obermann und Berthold Huber am 17.10.2010 unter dem Titel „Elite muss lernen“, dass ‚wir gründlich umdenken‘ und uns von verschiedenen Dingen ‚verabschieden‘ müssen16. So kritisieren sie die ‚Verabsolutierung des Marktes‘, die ‚zunehmenden Diskrepanzen zwischen Arm und Reich‘, den ‚Finanzsektor ohne Geschäftsethik und Selbstbeschränkung‘ und fordern ‚neue Maßstäbe für Wohlstand und Wachstum‘. Diese Kritik sowie die resultierenden Forderungen entsprechen dem Grundtenor vieler Artikel zum Thema, die zwischen 2007 und 2010 entstanden. Als die ersten Krisenmonate vorüber waren und politische Maßnahmen einsetzten, wurde auch die Krisenberichterstattung ruhiger. Informationen wurden sachlicher und wenig reißerisch weitergegeben, häufig wurden Experten befragt, lediglich die Bilder blieben dramatisch17. Krisenunabhängig sagte man der Wirtschaftsberichterstattung der Medien bisher einen Hang zum Negativen nach und kritisierte sie „aufgrund ihrer zu komplexen, für Laien wenig verständlichen Sprache“18.
Die Macht der Narrative Ohne Zweifel haben Umfang und Tiefe der Informationen Einfluss auf Denken und Emotionen und verleihen somit den Medien, also den Narrativen, eine Macht, deren Einfluss kaum zu benennen ist. „Die Medien können die Wahrnehmungen der aktuellen wirtschaftlichen Situation unter Rezipienten oder deren Wahrnehmung der Relevanz wirtschaftlicher Themen beeinflussen“.19 Auf unterschiedlichste Art und Weise gelangen Informationen über ökonomische Krisen in die Köpfe der Menschen und auf nicht minder unter-
15 Vgl. Bund, Kerstin: „Zwischen Alarmismus und Aufklärung“, in: Die Zeit, Nr. 47 vom 13.11.2008. 16 Vgl. Schwan, Gesine et al.: „Elite muss lernen“, in: DIE ZEIT online, URL: http://www.zeit.de/2010/41/Finanzkrise-Memorandum vom 30.10.2012. 17 Vgl. Bund: „Zwischen Alarmismus und Aufklärung“, a.a.O. 18 Scheufele: Medien und Aktien, S. 82. 19 Vgl. z.B. Behr, Roy L./Iyengar, Shanto: „Television news, real-world cues, and changes in the public agenda“, in: Public Opinion Quarterly, 49 (1985), S. 38-57; Brettschneider, Frank: „Reality Bytes: Wie die Medienberichterstattung die Wahrnehmung der Wirtschaftslage beeinflußt“, in: Jürgen W. Falter/Oskar W. Gabriel/Hans Rattinger (Hg.), Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich, Opladen 2000, beide zit. nach: Scheufele: Medien und Aktien, S. 95.
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schiedliche Art und Weise gehen sie damit um. Unweigerlich beeinflussen sie das Verhalten, die Erwartungen und damit wiederum das ökonomische System. Die Berichterstattung kann beispielsweise das Konsumentenverhalten so beeinflussen, dass es die Krise erst herbeiführt, wie das Beispiel der Ölkrise 1973 verdeutlicht. Damals wurde die Ölversorgung in Deutschland in den Medien fälschlicherweise als so prekär dargestellt, dass es zu Hamsterkäufen von Benzin und Heizöl kam und somit tatsächlich ein Engpass in der Ölversorgung entstand.20 Wladimir Laptew, ein russischer Politiker, war sich dieses Wirkungspotenzials offenbar bewusst, als er eine ungewöhnliche Vorgehensweise gegen die Finanzkrise wählte. Er hat den Begriff einfach verboten. „Die Krise findet im Kopf statt, nicht in der Wirtschaft“, nannte der Verwaltungschef der östlich von Moskau gelegenen Region Noguinsk der Zeitung „Kommersant“ als Grund für seine Entscheidung. Beamten in Laptews Einflussbereich, die sich in der Öffentlichkeit nicht an die neue Sprachregelung hielten, drohe die Entlassung, berichtete das Blatt. In der Region herrschten „Bedingungen für normale Arbeit“. Die Finanzkrise werde aber von Unternehmen als Vorwand für Entlassungen benutzt: „Unter dem Slogan der Finanzkrise, weigern sie sich, ihren Verpflichtungen nachzukommen“, sagte Laptew.“ hieß es in einer Meldung von AFP auf der Internetseite von N24 am 09.06.200921. Zur Auswirkung der Maßnahme von Laptew gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Maßnahme setzt aber offensichtlich genau dort an, wo dem Narrativ der Krise eine eigene, intrinsische Bedeutung neben der wissenschaftlichen Diskussion über die Krise eingeräumt wird. Ohne Zweifel wäre es äußerst interessant herausfinden, welche Bedeutung das Narrativ für den Verlauf und insbesondere für die Steuerbarkeit einer krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung besitzt. Schließlich ist im extremsten Falle vorstellbar, dass weder die ökonomische Analyse noch der Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente den Ausgang einer wirtschaftlichen Krise entscheiden, sondern die Narrative der Krise.
20 Vgl. Scheufele: Medien und Aktien, S. 96. 21 Vgl. http://www.n-tv.de/panorama/Finanzkrise-wird-verboten-article327224.html vom 05.04.2011.
Pest, Atomkrieg, Klimawandel − Apokalypse-Visionen und KrisenStimmungen M AREN L ICKHARDT / N IELS W ERBER
Immer wieder – Szenarien des Weltuntergangs Jede Zeit lacht über apokalyptische Endzeitängste ihrer Vorzeit. Jede Gesellschaft lässt sich ausschließlich von der für sie zugeschnittenen Katastrophe in Endzeitstimmung versetzen. Ist es heute der GAU oder gar SuperGAU, so dominierten im Mittelalter Vorstellungen der Apokalypse, die sich auf die Pest stützen konnten. Der Name der Pest eilte ihren Erregern voraus und bereitete den Nährboden für die Erwartung großen Unheils. Diese Ausbreitung einer zunächst rein kommunikativen Drohung, auf die dann das große Sterben folgte, bot ein Medium, an das die Apokalypse andocken konnte. Aber warum gleich die Apokalypse? Weil die Pest unheilbar war? Weil Massen von Menschen starben? Oder konnte die Pest deshalb zur Apokalypse hochstilisiert werden, weil sie nicht nur menschliche Körper, sondern die Organisationsform der mittelalterlichen Gesellschaft selbst zu zerstören drohte? Die Pestepidemien des 14. bis 17. Jahrhunderts trafen auf eine Gesellschaftsform, die durch Hierarchisierung und die Differenz von Stadt und Land gekennzeichnet werden kann. Dieser Modus gesellschaftsstruktureller Differenzierung wurde semantisch durch die Religion und ihre politische Theologie gestützt. Gerade weil alle Menschen vor Gott gleich seien, konnten Hierarchien akzeptiert werden. Den Ständedifferenzen wurde alles Irdische zugeordnet: Moral, Einkommen, Würde, Wissen, Macht. Selbst der Tod hatte unterschiedliche Gestalt, wie sich im schlichten Verscharren des Bauern und der Prunkbestattung des Fürsten im Ahnengrab zeigt. Die Pest jedoch attackiert diese basalen Differenzen: Jeder kann daran erkranken, keine sozialstrukturelle Differenz hält die Pest und ihre Folgen auf.
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Alessandro Manzoni hat dies in seinem Roman Die Verlobten1 von 1840-42 anhand der Seuche im Mailand des 17. Jahrhunderts beschrieben. Unter dem Regiment der Pestpfleger herrscht ein Ausnahmezustand, der die soziale Ordnung zugunsten der Differenz von ‚krank/gesund ދsuspendiert. Der beinahe allmächtige adelige Don Rodrigo wird von seinem treuesten Gefolgsmann sogleich an die Pesthelfer ausgeliefert und in das Franziskaner-Hospital überführt, als sich die ersten Symptome zeigen. Rodrigos Hoffnung auf standesgemäße Sonderbehandlung durch einen Arzt, der „die Krankheit geheimhält, wenn man ihn gut bezahlt“ (V 771), wird enttäuscht. Er endet wie alle Kranken auf einer Matratze eines Gemeinschaftsraumes, wo nur sein „Adelsmantel“, der als Decke fungieren muss, sinn- und folgenlos seinen Stand indiziert (V 840). Alle erkranken, und alle Toten werden nackt auf die Karren der Pestpfleger geworfen, alle Kleidung, alle Möbel der Infizierten werden verbrannt. Sogar die soziale Differenzierung beim Totenkult wird auf diese Weise unmöglich. Die Einebnung schlechthin aller Unterschiede bedroht die Organisationsstruktur des Sozialen selbst und erzeugt Panik, zumal die Spezialisten für säkulare Probleme versagen: Weder der Griff zum Schwert, noch der Ruf nach einem Arzt schützten vor „Schwarzem Tod“ und „Massengrab“ (V 751). Da offenbar die Spitzen der Gesellschaft – der Rat der Dekurionen, das Gesundheitsamt, der Gouverneur, die Oberen, die Ärzteschaft usw. – hilflos sind, das Problem konkret zu lösen, verweist der Text auf die Lösungsmöglichkeit der semantischen Reorganisation: „Der Kardinalerzbischof sollte gebeten werden, eine feierliche Prozession zu veranstalten und dabei den Leichnam des heiligen Carlo durch die Stadt zu führen.“ (V 740) Manzoni zeigt, wie die Suche nach Hilfe und Deutung quasi über die Spitze der Hierarchie ins Außen des Sozialen verlagert wurde: zu Gott. Dass die Prozession nicht hilft, sondern die Ansammlung großer Menschenmassen der Seuche ein ideales Medium einräumt und sie erheblich forciert, weckt keine Zweifel an der Macht heiliger Reliquien, sondern unterstützt nur den Glauben an einen mächtigen Gegenspieler: Der Teufel bedient sich verführter Seelen, um mit giftigem „Hexenpulver“ die Pest zu verbreiten und seine Regentschaft auf Erden vorzubereiten (V 742, 748). Die Katastrophe kann nun dramatisiert werden als Konflikt von „Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Hinterlist und Aufrichtigkeit“ (V 748). Die unsichere Sachlage erhält eine sichere Semantik. Der Ursprung der Pest ist nun bekannt: die Sünden der Menschheit. Der Sinn der Pest enthüllt sich: göttliche Strafe. Es tun sich scheinbar konkrete Handlungsmöglichkeiten auf: Sühne und Umkehr. Endlich haben die Toten ihren Platz im Lauf der Welt.2
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Manzoni, Alessandro: Die Verlobten, München 1991. Im Folgenden zitiert mit der Sigle V und Seitenangabe. Vgl. auch De Pestilitate von Paracelsus, in dem der satanische Ursprung der Pest betont wird. Aber auch hier wird auf die Apokalypse (des Johannes in diesem Fall) hingewiesen. Die Pest ist in diesem Zusammenhang eher schon Zeichen für
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Endlich kann selbst das Chaos als Ordnung erfahren werden. Menschheit wie Gesellschaft bleiben allerdings dadurch erhalten, dass die Apokalypse zumindest partiell ignoriert wird. Das Problem wird schließlich von denen gelöst, die die Apokalypse nicht beachten. Städtebauer, Hygieneexperten und Ärzte immunisierten sich zunächst gegen die Infektionskraft apokalyptischer Erwartungen und – machten einfach weiter. Aber gerade dadurch entzog man auf lange Sicht der Pest den Boden und der Apokalypse ihr Medium – ohne das bewusste Wissen oder den Anspruch haben zu können, die Pest besiegt zu haben. Gedankt wurde dann auch nicht anonymen Städteplanern und Medizinern, sondern Gott. In der mittelalterlichen Sinnwelt wurde die als real kommunizierte Drohung der Apokalypse durch Gottes Gnade tatsächlich gelöst. Die Gebete wurden erhört. „Gepriesen sei der Herr!“, beten die Überlebenden in Manzonis Mailand. Von der Apokalypse her betrachtet, ist die Angst vor dem Untergang fast stetig präsent und wechselt nur ihre Themen, d.h. weder die Angst vor dem Untergang noch die Weise, über ihn zu reden, sind sonderlich originell. Nur die Anlässe wechseln. Seit Jahrtausenden preschen die apokalyptischen Reiter durch die Vorstellungswelten einer Spezies, die ihr Ende nahe wähnt. Nicht das erste Mal schlägt die Uhr der Weltzeitalter fünf vor zwölf. Seit dem alttestamentarischen Propheten Daniel erwarten Apokalyptiker das Ende der bekannten Welt und den Anbruch einer neuen Zeit. Eine dualistische Äonenlehre schlägt den Takt der Apokalypse. Auf die zertrümmerte Weltgeschichte des Diesseits folgt das völlig Andere des Jenseits. Auf die Zeit folgt die Ewigkeit. Die Verdammnis droht und das Paradies lockt. Gerade das biblische Beispiel zeigt, dass Apokalypsen-Angst und Krisen-Stimmung auf jeden Fall erst in, mit und durch Kommunikation entstehen, und dass Narrativierungen und Ästhetisierungen einen großen Anteil an der ‚Apokalypsierung ދvon vorhandenen Problemen haben. Dass vor dem Risiko zunächst einmal alle gleich sind, ist ein weiteres Merkmal aller Apokalypsen3 und betrifft demnach auch die apokalyptischen Szenarien des 20. Jahrhunderts: die ins Haus stehende atomare Vernichtung der Welt oder die zu erwartende Zerstörung des Planeten durch Klima- und andere Umweltsünden. Dabei zeigt sich erneut, dass die Apokalypse nie endet, sondern nur ihre Gegenstände wechseln, und dass diese fast nach Belieben, zumindest aber unabhängig von realen Bedrohungen aufgegriffen und fallengelassen
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die Ankunft des Antichristen und den Beginn des Endkampfes vor dem Jüngsten Gericht. An der Struktur der Sinngebung ändert sich damit nichts. Dass es allein, nach Auskunft des Neuen Testaments, die eine Apokalypse gebe, wird im vorliegenden Kontext nicht angenommen. Wir gehen aber davon aus, dass es einige typische Merkmale des Apokalyptischen gibt, die ihren historisch und kulturell einmaligen Niederschlag beim Erscheinen einer bestimmten Apokalypse findet. Konkrete Apokalypsen und der Verweise auf die Struktur der Apokalypse im Singular wechseln also ab, ohne dass von der Apokalypse ausgegangen wird.
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werden können. Schon in den 1980er Jahren konnte gerade in Bezug auf Klimafragen auf eine „ungeheure[…] Menge apokalyptischer Reden“4 zurückgeblickt werden. So vergleicht Hoimar von Ditfurth angesichts der Thematik die Gesellschaft mit „einem Menschen, der ahnungslos in einem Minenfeld umherirrt und sich dabei um seine Altersrente Sorgen macht“5. Obwohl „die Wege, die uns sogleich aus aller Gefahr führen würden“, bekannt seien, „sind wir, wenn nicht alles täuscht, verloren“6. Von Ditfurth glaubt nicht an eine Rettung, weil die gegebenen Handlungsspielräume leider nicht genutzt würden, aber er empfiehlt „wenigstens bei vollem Bewusstsein“ unterzugehen; die Gefahren seien also „so realistisch darzustellen und detailliert zu begründen, dass der Versuchung, vor ihnen die Augen weiterhin geschlossen zu halten, möglichst keine Schlupflöcher bleiben.“7 Diese „aufklärerische“ Apokalypse versteht sich als letzte „subversive Form des Widerstands“8 – gegen allen blinden Fortschrittsoptimismus.9 Wer Ditfurths weitere Botschaft aufnahm, dem konnte kein Krieg mehr etwas anhaben, selbst die zuvor noch als Apokalypse wahrgenommene Bedrohung durch einen alles vernichtenden Atomschlag nicht. Stattdessen wird nun auf den globalen „Öko-Kollaps“ gewartet. Es sind nicht mehr die Dunkelmänner an den roten Knöpfen, die durch machtvolles Handeln im Affekt die Katastrophe auslösen. Für Ditfurth liegt die Tragik in der Passivität. Der Untergang vollzieht sich als langsames, aber kontinuierliches Fortschreiten der bestehenden (Miss-)Verhältnisse. Ganz widerstandslos wird der Themenwechsel in der Apokalyptik allerdings nicht hingenommen. Für die Propheten der atomaren Verwüstung steht ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Günther Anders, der die Warnung vor der Bombe zu seinem Lebensthema machte, mahnte schon 1956 seine Zeitgenossen, sich nicht allzu früh zu freuen. „Sistiert ist die Bedrohung nie. Sondern immer nur verschoben.“10 Dennoch musste er 1971 die „Wichtigkeit“ anderer Bedrohungen einräumen, etwa dem „täglichen Anwachsen der Angst vor der vielfältigen und gleichfalls apokalyptische Ausmaße annehmenden Umweltverseuchung“11. Betrübt musste er feststellen, dass „in den Augen von Millionen die absolute Bedro-
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Böhme, Hartmut: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 382. Ditfurth, Hoimar von: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, Hamburg 1985, S. 9. 6 Ebd., S. 10. 7 Ebd., S. 9. 8 Ebach, Jürgen: „Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung“, in: Einwürfe 2 (1985), S. 5-61, hier S. 16. 9 Vgl. Böhme: Natur und Subjekt, S. 388: „Die Apokalypse ist also selbst eine Wurzel der Kritik – ja sie ist Kritik.“ 10 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 307. 11 Anders, Günther: Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, S. XII.
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hung, die die Atomwaffen darstellen, zu einer relativen Bedrohung geworden“ sei – „zu einer Bedrohung unter anderen Bedrohungen“12. Verzweifelt über die Blindheit der Menschen, hegt Anders den dunklen Verdacht, dass „die Überdeckung der Atomangst durch andere Ängste gewissen politischen und militärischen Kreisen willkommen ist; wenn nicht sogar, dass diese Kreise bestimmte Ängste hochgespielt haben und auch heute manipulieren, um die Atombewegung zu entkräften“13. Apokalypsen sind Prognosen, die die Kritik an ihrer Negation einschließen. Aus der Sicht des Apokalyptikers ist jeder Widerlegungsversuch ein Komplott, der das Ende der Welt näher rücken lässt. Seine Ignorierung hat er in die strenge Konstruktion seiner Prophezeiung eingebaut, als Bedingung der Möglichkeit ihres Eintreffens. Wenn aber die Apokalypsen derart hermetisch sind, wenn sie weder Kritik noch Widerlegung zulassen, können sie nur durch neue Apokalypsen überwunden werden. Nicht das Ausbleiben der Katastrophe macht eine Apokalypse zum Irrtum, sondern ihre Nachfolgerin. Im Lichte einer neuen Angst verliert die alte ihre Absolutheit und vergeht. So weit zur Apokalypse, die stets neu semantisiert werden kann. Umgekehrt kommen bestimmte Themen immer wieder auf die Tagesordnung, tauchen also zyklisch als Apokalypse auf. Verfolgt man beispielsweise die Diskussionen um den Klima-Wandel und die dabei zur Debatte stehenden AngstSzenarien zeigen sich über Jahre und Jahrzehnte Zuspitzungen und Abflachungen. Im Zuge der zuvor skizzierten Untergangsszenarien beobachtet dies Niklas Luhmann bereits 1986 in seiner Veröffentlichung Ökologische Kommunikation. Er zitiert die öffentliche Wahrnehmung einer sich noch anbahnenden, aber schon von der Eskalation bedrohten Krise: Noch nicht völlig aussichtslos seien ökologische Umstellungen, jedoch dränge die Zeit, und es sei gerade noch möglich, jene anzuvisieren.14 ‚Noch nicht ganz ދund ‚gerade noch so ދbilden die Schlagworte in Bezug auf Umwelt- und Klimafragen über einen langen Zeitraum. Aber dass die Apokalypse unmittelbar droht, auch wenn sie nicht wahrnehmbar ist, wird immer wieder beschworen. So negiert Michael LePage im Newscientist die Notwendigkeit von wissenschaftlichen Beweisen für den vom Menschen gemachten Klimawandel und suggeriert die Evidenz des alljährlichen, persönlichen Empfindens. Nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt geschehe etwas: „Forget about the temperature records compiled by researchers […]. Next spring, go out into your garden or the nearby countryside and note when the leaves unfold, when flowers bloom, when migrating birds arrive and so on. Compare your findings
12 Ebd., S. XII. 13 Anders: Endzeit und Zeitenende, S. XIII. 14 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1988, S. 112/113.
350 | M AREN LICKHARDT / NIELS WERBER with historical records, where available, and you’ll probably find spring is coming days, even weeks earlier than a few decades ago.“15
Vorboten der Katastrophe sind schon im eigenen Vorgarten spürbar; wir müssen sie nur beachten. Weniger subtil stellen sich die Szenarien von Dürre- und Überflutungskatastrophen sowie untergehenden Zivilisationen dar. Wenn bild.de in einer Verquickung von fiction und science die „HorrorPrognose“ formuliert, dass „der steigende Meeresspiegel […] die Existenz von rund 40 Ländern“ bedroht und „viele intensiv bewirtschaftete Regionen […] in den Fluten versinken“16 werden, und Verschwörungstheoretiker vor ominösen Öko-Diktaturen warnen, zeigen sich Elemente und Plot aus der biblischen Apokalypse, Katastrophenfilmen und Thrillern. Ästhetische, narrative Muster speisen die Apokalypse und entheben sie jeglicher Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit. Dieser Prozess der Narrativierung und Verbildlichung setzt nicht erst auf der Ebene der massenmedialen Konstruktion ein, sondern betrifft die Naturwissenschaften selbst.17 Im Kontext der Klimadebatte sind es die Meteorologen, Geowissenschaftler und Physiker, die narrative Szenarien entwerfen, wie sich die Erdoberfläche durch die globale Erwärmung, das Abschmelzen von Polareis und Gletschern und den Anstieg des Meeresspiegels verändern wird. Sie bedienen die Apokalypse, obwohl sie tatsächlichen Problemen rational und funktional entgegen treten können. Sie sehen aber keine Chance auf Gehör ohne Narrativierungen, die beunruhigende Daten zur Apokalypse stilisieren. Auch Claus Leggewie und Harald Welzer haben ganz profane Handlungs- und Lösungsvorschläge, doch auch sie setzen vor dem Kopenhagener Klimagipfel 2009 zunächst auf die Inszenierung der Katastrophe. Ein großer Teil ihrer Buchpublikation Das Ende der Welt, wie wir sie kannten liefert möglichst plastische Untergangsszenarien als Folge des anthropogenen Klimawandels im ‚epischen Futur ދsowie die ‚Gerade noch jetztދ-Rhetorik, die allerorts kursiert. Rasches Handeln „entscheidet über die Lebensverhältnisse künftiger Generationen“18. Bleibt dieses aus, werden „unsere Nachkommen eine Atemluft vorfinden, wie sie heute nur in engen und stickigen Unterseebooten herrscht“19. Es geht um
15 LePage, Michael: „Why there’s no sign of a climate conspiracy in hacked emails“, URL: http://www.newscientist.com/article/dn18238-why-theres-nosign-of-a-climate-conspiracy -in-hacked-emails.html vom 01.12.2011. 16 URL: http://www.bild.de/politik/2009/gipfel/700-millionen-menschen-verlierenihre-heimat-8646922.bild.html vom 03.01.2012. 17 Vgl. Binczek, Natalie: „‚Von der Unsterblichkeit ދund andere ‚große Erzählungen“ދ, in: dies./Nicola Glaubitz/Klaus Vondung, Anfang offen. Literarische Übergänge ins 21. Jahrhundert, Heidelberg 2002, S. 122. 18 Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M. 2009, S. 10. 19 Ebd.
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den Kampf darum, dass „die Erde in hundert Jahren überhaupt noch bewohnbar ist“20. Pest, Atomkrieg, Klimawandel – all diese Phänomene stehen nicht nur für sich selbst, sondern weil sie als unüberwindbare Apokalypse inszeniert werden – sei es naiv und ernsthaft oder zum Zweck der Alarmierung –, indizieren sie tiefgreifende Krisen. Gerade die kommunikativen Zyklen um die Erderwärmung zeigen, dass das Schlagwort Klimawandel weniger parallel zu wirklichen oder vermeintlichen Veränderungen des Phänomens auftaucht, sondern dass das Thema immer dann aktualisiert wird, wenn allgemeine Krisen-Stimmung herrscht, kulturelle (Neu-)Ordnungen in Frage stehen und diffuse Ängste zirkulieren, die sich um das Stichwort kristallisieren können. Apokalypse und Krise weisen dabei eine ähnliche Struktur auf. Sie sind beide nicht an konkrete Inhalte geknüpft, sondern fungieren als Medien, um je aktuelle Problemlagen zu formieren. Beide wollen sie als jeweiliger Wendepunkt auftreten. Ob sie nur ihre Themen variieren oder nicht vielmehr selbst noch fluktuieren, wäre zu überlegen. Im Folgenden geht es allerdings mehr um die Frage, worin sich Apokalypsen- und Krisensemantiken unterscheiden, d. h. es soll die Frage nach der Komplexität oder aber der zweckgerichteten Handhabbarkeit der besagten Rhetoriken nachgegangen werden. Kurz gesagt: Apokalypsen lassen erstarren; sie können allenfalls negiert werden, was ihren Status aber nicht schmälert. Krisen eröffnen Handlungsspielräume und bergen Chancen.
Die Überkomplexität der Apokalypse Dass Pest, ökologische Katastrophen, atomare Bedrohung und Klimawandel als Apokalypse kommuniziert werden, liegt zunächst einmal daran, dass dabei von den Gutmeinenden auf Alarmierung gesetzt wird. Stets operiert die Apokalypsensemantik über Untergangsdrohung (jüngstes Gericht) und Wendeverheißung (goldenes Zeitalter). Stets überführt sie die Unsicherheit der Sachlage in die Gewissheit des Endes. Nichts scheint plausibler, als Katastrophen zur Apokalypse zu stilisieren. In ihr verschmilzt die Katastrophe, die darin besteht, dass alles so weitergeht, mit der Angst davor, dass alles nicht so weitergeht. Der Theologe Jürgen Ebach definierte die Apokalypse entsprechend: „daß es einmal nicht ‚immer so weitergehen ދwerde“ mache gerade „die apokalyptische Erwartung“21 aus. Ebach betont die revolutionäre Kraft, die auf die epochale Wende abziele, nicht auf den langsamen Untergang. Die hypertrophen oder realistischen Warnungen vor dem nahen Ende werden – wie im Mittelalter gesehen – mit der Forderung oder Hoffnung einer radikalen Wende verbunden. Kehrt um oder geht unter! Apokalypse now! Über die Alarmierungsfunktion hinaus geht die Apokalypse mit
20 Ebd., S. 15. 21 Ebach: „Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung“, a.a.O., S. 56.
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der Komplexität der Phänomene einher, die die Selbstbeschreibungsformen der Gesellschaft überlastet. Als heuristische These kann unterstellt werden, dass sich Gesellschaften traditionell über Apokalypsen mit Problemen konfrontieren, die sie überfordern; dass zudem die Komplexität der Probleme, die eine Gesellschaft in den Blick nehmen kann, von ihrer Struktur abhängt. Die Pest wäre für uns heute keine sinn- und welterschütternde Herausforderung, sondern ein simpler Fall der Impfung. Es ist jedoch zu fragen, ob Apokalypsen in bestimmten Fällen heute noch ein adäquates Semantisierungsinstrument darstellen können. Wie setzt sich aber Bedrohung gegen Bedrohung durch, wenn doch die Angst dieselbe bleibt: totale Vernichtung der Lebenswelt? Mit der gleichen Selbstgewissheit, mit der jede Gesellschaft sich als fortgeschrittenste gegenüber allen früheren begreift, reklamiert auch jede Apokalypse, alle Vorgängerinnen zu überbieten. Jeder Komplexitätsgewinn in der sozialen Struktur erhöht nicht nur die Problemlösungskompetenz, sondern auch die Überforderungskompetenz. Das Niveau der ‚unlösbarenދ Probleme steigt. Eine auf Katastrophen ständisch organisierter Gesellschaften zugeschnittene Apokalyptik dürfte als Mittel zur Thematisierung aktueller Überforderungen selbst überfordert sein. Dass sie dennoch zur Katastrophenkommunikation benutzt wird, zeigt, dass unsere Gesellschaft auf ein für sie offenbar überkomplexes Problemsyndrom mit einer für ihren Gesellschaftstyp deutlich unterkomplexen Semantisierung reagiert. Aber vielleicht macht genau dies den Erfolg der Apokalypse aus. Um Endzeitvisionen gesellschaftsfähig zu machen, muss sich zunächst die Gesellschaft angesichts der besagten Komplexität für inkompetent erklären. Womöglich kann eine in funktionsspezifische Sozialsysteme ausdifferenzierte Gesellschaft kein Problemsyndrom lösen, das nicht nur ein System, sondern alles betrifft. Die Klimakrise wäre hierfür ein geeigneter Kandidat. Wenn die Problemlage in Relation zur Gesellschaftsstruktur überkomplex ist, wird das Problem dann zumindest semantisch ‚gelöstދ. Die Apokalypse reduziert Komplexität im Sinnbereich, die auf sozialer Ebene nicht mehr abgearbeitet werden kann. Apokalypsenfähig ist also nur das, was die Strukturen der Gesellschaft selbst betrifft und ihr Komplexitätsniveau überfordert. Diese Forderung wurde eine Zeit lang durch die Bombe erfüllt. Zum ersten Mal hatte die Menschheit die Mittel zu ihrer globalen Vernichtung selbst in der Hand. Die Möglichkeit der Selbstvernichtung führt dadurch auch zur unwiderruflichen Säkularisierung der Apokalypse. Immerhin waren diese Probleme politisch lösbar. Die ökologische Apokalypse erfüllt diese Bedingung der Überforderung überzeugender, denn sie scheint alle Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen – nicht nur die Politik. Dies zeitigt den Effekt, dass sie nicht mehr als ‚Druck auf den roten Knopf ދmetaphorisierbar ist. Die ökologische Untergangsvision verliert die räumliche und personale Lokalisierbarkeit der atomaren Bedrohung (Weißes Haus, Kreml, usw.) und fordert eine globale wie diffuse Thematisierung geradezu heraus. Wenn Ängste um sich greifen, bringen Apokalypsen Ordnung in das Gewirr. Sie kanalisieren und bringen Schrecken auf einen Nenner. Wo reli-
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giöse oder politische Wirren, Hunger, Not und Krieg Sinnkrisen verursachen und Weltbilder zerfasern, bieten Apokalypsen verunsicherten Seelen sicheren Halt: die Gewissheit eines sinnvollen Prozesses. Das semantische Chaos wird mit einer Zauberformel geordnet: „Das Ende der Welt ist nahe; das Reich Gottes kommt.“ Mit dem Tipp zur Umkehr last minute (vgl. das Ninive-Beispiel in Jona 3,4ff.) werden erfolgreich Gläubige rekrutiert – oder Wähler. Genau die Simplizität dieser Universalgeschichte von Ende, Aufbruch und Umkehr verleiht ihr solche Attraktivität. Sie passt immer. Apokalypsen haben immer Konjunktur – wenn auch bisweilen nur mit lokalem Erfolg. Allgemein gilt: wenn politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Argumente allein Probleme (etwa Krieg, Pest, Hunger) nicht mehr sinnfähig halten können, setzen Apokalypsen sich durch. Sie überzeugen noch und genau dann, wenn sonst alles versagt. Und wenn das Ende der Welt ausbleibt? Wird Gott gedankt (vgl. zahllose Pestsäulen und katholische Pestheilige), und das Jüngste Gericht vertagt sich auf ein Neues. Die Apokalypse ist enttäuschungssicher. Vielleicht hat sie heute die Chance, erstmals durch ihr Eintreten zu brillieren.
Die Chancen der Krise Die Pest wurde letztlich bezwungen. Die Bedrohung durch den Atomkrieg hat sich schrittweise nicht nur real, sondern auch kommunikativ reduziert. Zur Zeit ist der Druck auf den roten Knopf nicht mehr oder doch noch nicht zu erwarten. Der Klimawandel bleibt brisant, jedoch zeigen sich auch in Bezug auf dieses Thema Möglichkeiten der Handhabung. Gerade in seiner zynischsten Variante wird deutlich, dass Komplexitätsreduktion das Mittel ist, um aus einer drohenden Apokalypse eine Krise mit all ihren Chancen und Risiken zu machen. Im Kontext des Klimawandels von Instrumentalisierung zu sprechen und die Differenz zwischen Klimawarnern und Klimaskeptikern zu betrachten, fällt leicht. So ist fraglich, warum auf bild.de kein Treffer zu erzielen ist, wenn man den East Anglia Hacker-Skandal sucht, bei dem angeblich erwiesen wurde, dass Klimawissenschaftler Daten manipuliert haben, um den anthropogenen Klimawandel in seiner schlimmsten Variante vorzutäuschen. Auf bild.de wird also weiterhin der Klimawandel beschworen und gleichzeitig die Rechnung präsentiert, dass man CO2-Emissionen am günstigsten über Atomenergie reduzieren könne.22 Ebenso fraglich ist die oft erwähnte Verbindung der Klimaskeptiker Steven McIntyre und Ross
22 Acht überraschende Wahrheiten in bild.de vom 13.12.2009, vgl. URL: http://www.bild.de/politik/2009/klimawandel/zum-klimawandel-10802650.bild. html vom 01.12.2011.
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McKitrick zur Kohleindustrie.23 Dies trifft aber nicht den Kern der Klimadebatte. Die Differenzen sind fundamentaler, als dass sie lediglich im Bejahen oder Verneinen derselben Frage bestünden. Es handelt sich nicht bloß um den Konflikt zwischen Klimawarnern und Klimaskeptikern, sondern um nahezu inkommensurable Zugangsweisen verschiedener gesellschaftlicher Systeme zu einem in irgendeiner Weise als Krise wahrgenommenen Phänomen, und aus dieser Konstellation ergeben sich die Moventia und Intentionen der skizzierten Apokalypse-Erzählungen, die am Ende wieder auf ein Krisen-Phänomen reduziert werden können, das natürlich nicht weniger von Narrativierung und Ästhetisierung lebt.Systemtheoretisch gesprochen, verfährt jedes System innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft nach Maßgabe seines eigenen Codes. Der Funktionscode des Rechtssystems, der mit der Opposition recht/unrecht die Welt beobachtet, ist nicht identisch übersetzbar in die Codes der Wissenschaft (wahr/falsch) oder etwa der Wirtschaft (zahlungsfähig/nicht-zahlungsfähig). Jedes System wirft ein Netz über die Welt, das aus seinem Code geknüpft ist. So lässt sich die Welt in gut und böse, wahr und falsch, profitabel und verlustbringend usw. zerteilen, ohne dass diese Welten kongruent wären. Was politisch als angemessen gilt, entspricht nicht zwingend der Gesetzeslage; was moralisch vertretbar scheint, kann ökonomisch verheerend sein, was der Karriere nützt, kann dem Seelenheil schaden. Die Klima-Debatte scheint geflissentlich zu übersehen, dass die Gesellschaft durch die ökologische Katastrophe keineswegs direkt bedroht ist. Ihre Funktionssysteme reproduzieren sich durch ihre jeweiligen Spezialcodes, die mit dem ‚ökologischen Code‘ der Differenz von umweltfreundlich/umweltfeindlich nicht ohne weiteres harmonieren: zunächst einmal lassen sich mit dem kommunikativen Ereignis der Umweltzerstörung Wahlen gewinnen, Produkte verkaufen, Forschungsgelder einsammeln, Gläubige ermahnen... All dies dient primär der Selbstproduktion der Systeme, nicht der Natur. Und dennoch gibt es schon Kosmos. Die Zeitschrift für die Umwelt, als sei ihr Interesse nicht der Verkauf einer hohen Auflage. Die Semantik der gemeinsamen und globalen Gefährdung verstellt den Blick auf die Operationsweise der Systeme, die ganz verschiedene Umwelten im Blick haben, in der die ‚Natur‘ differente Rollen spielt – wenn überhaupt. Ganz ohne Luft und Gravitation läuft es also schlecht, was aber nicht heißt, dass sich Gesellschaften per se mit Luft oder Schwerkraft beschäftigen müssten. Es lief Jahrtausende auch ohne dieses Wissen. Gesellschaften können untergehen, ohne dass die Natur zerstört wird. Umgekehrt können Menschen auch in intakten Sozialsystemen dahingerafft werden. Dass Leben bedroht ist, hat nicht unvermittelt zur Folge, dass die sozialen Systeme ihre Reproduktion ebenfalls für gefährdet halten. Es läuft auch anders herum: Wissenschaftler untersuchen sterbende Biotope; Unternehmer
23 Vgl. Nonnenmacher, Peter: „Die E-Mails des Herrn Jones“, URL: http://www.fronline.de/politik/klima-gehackt-die-e-mails-des-herrn-jones,1472596,3263022. html vom 01.12.2011.
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machen mit immer knapperen Ressourcen immer höhere Gewinne; Politiker regieren auch Länder ohne Wälder; Prediger verweisen angesichts einer sterbenden Schöpfung umso überzeugender auf die Transzendenz. Auf der Systemebene wird die Umweltkatastrophe in den Code eingebaut. Es gibt kein soziales System, das auf den Erhalt der Art ‚Mensch‘ oder gar der ‚Umwelt‘ spezialisiert wäre. Die ökologische Debatte, an der sich jedes System zu beteiligen scheint, wird von einer Differenz gesteuert: umweltfreundlich/umweltschädlich, die mit den Funktionscodes der Systeme kaum harmonisierbar ist: umweltfreundlich ist nicht gleich politisch opportun, profitabel, rechtmäßig, transzendent oder wahr. Obgleich mit der Natur die Menschheit und mit der Menschheit die Gesellschaft bedroht wäre, ist die Umwelt oder Arterhaltung in der Gesellschaft nur ein sekundäres Problem. Gerade diese funktionale Spezialisierung ist auf gesellschaftsstruktureller Ebene das Problem, das eine Apokalypse herausfordert: dass nämlich für die Erhaltung der biologischen Umwelt kein System zuständig ist. Sämtliche Funktionen der Subsysteme stehen zum Auftrag des Arterhalts quer. In der Semantik artikuliert sich diese Situation als Phänomen der Problemzirkulation. Die Verantwortung für die Umweltkatastrophe und vor allem deren Verhinderung, wird horizontal durch alle sozialen Bereiche verschoben oder in Vergangenheit und Zukunft ausgelagert: unsere Enkel gehen dann an den Fehlern unserer Großeltern zugrunde. Um den Klimawandel zu handhaben, müsste ein System entlang des Codes umweltfreundlich/umweltfeindlich operieren. Tatsächlich gibt es mittlerweile Teilsysteme der Wissenschaft, die sich derart auf das Klima spezialisiert haben. Und gerade die Klimawissenschaftler haben am Aufbau apokalyptischer Szenarien mitgewirkt, weil sie zwar diejenigen sind, die primär die Umwelt beobachten, jedoch nicht diejenigen, die wirtschaftliche Umstrukturierungen vornehmen und politische Entscheidungen treffen können. Daher sind sie angewiesen auf rhetorische Strategien, mittels derer sie die Aufmerksamkeit der anderen Systeme auf den Klimawandel ziehen wollen. Was sie – sehr wahrscheinlich zu Recht – als Krise wahrnehmen, wird als Apokalypse semantisiert, und wieder geht die Komplexität des Phänomens an den Funktionen der handlungsrelevanten gesellschaftlichen Bereiche vorbei. Die Funktionssysteme der Gesellschaft könnten sich des Phänomens also nur dann annehmen, wenn es ihren eigenen Handlungskompetenzen bzw. ihren Funktionscodes entspricht. Dabei wird das Medium der Krise, das selbstverständlich ähnlichen Zyklen folgt, wie das der Apokalypse, im vorliegenden Kontext als funktionaler betrachtet, weil es nicht zwingend immer global ausgerichtet ist und auch nicht den unaufhaltsamen Untergang propagiert, sondern Chancen und Risiken vereint. Die Wahrnehmung einer Krise lässt größeren Handlungsspielraum als die der Apokalypse, die auch in der Negation nicht ausgesetzt ist. Ist das Problem erst einmal in seiner Komplexität reduziert, die Apokalypse also als Krise codiert, können die einzelnen Systeme nicht nur eine Chance zur Rettung der Umwelt erkennen, die so erst einmal nicht verarbeitet werden könnte, sondern die dem eigenen System angemessenen Chan-
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cen. Auch mit Klimaschutz lassen sich Profite erzielen und Wahlen gewinnen, wenn das Thema erst einmal den verschiedenen Funktionsbereichen angepasst wird, wenn also deutlich wird, dass die Wirtschaft nicht auf Profite verzichten muss, weil beispielsweise klimaschonende Technologien verkauft werden können, und dass die Politik auf Wählerstimmen zählen kann, wenn politische Entscheidungen im Sinne der Umwelt gefällt werden. Auch bei Krisen jagt eine die nächste, jedoch besteht die Möglichkeit, dass die vorherige tatsächlich produktiv gelöst werden könnte und nicht einfach nur ausgesetzt ist.
Das Risiko der Krise Die These einer funktionsdifferenzierten Gesellschaft, die sich nur nach ihren eigenen Maßgaben auf ihre Gefährdung einstellen kann, ist freilich selbst kontingent. Ein Risiko, das sich aus der oben skizzierten Übersetzung ökologischer Risiken in ökonomische Chancen ergibt, liegt aus der von Michel Foucault auf den Weg gebrachten und von Jürgen Link operationalisierten normalismustheoretischen Sicht24 in ihrer semantischen Organisation: Krisen werden in „gouvernementalen“ Gesellschaften mit großer Wahrscheinlichkeit „normalisiert“.25 Krisen folgen einem narrativen, medialen und visuellen Schema, das Extreme letztlich ausbalanciert und in ‚normale‘ Fahrwasser leitet. In einem im Sonderheft „Gefahrensinn“ des Archivs für Mediengeschichte publizierten Text zur Normalisierung apokalyptischer Szenarien zeigt Jürgen Link, dass der „strukturelle Kern normalistischer Ver-Sicherung und ‚Stabilität‘ im Vertrauen auf Kontinuität liegt“.26 Es endet nie. „Dass es so weitergeht, ist normalistische Gewissheit.“ Dies sieht man auf einen Blick an den Kurvenlandschaften der ‚Börse‘ oder, so würden wir ergänzen, des Klimawandels, die ja selbst nach ‚Crashs‘ und ‚Katastrophen‘ nie aufhören, sondern immer stetig weiterführen. Curva non facit saltus. Alles bleibt immer anschlussfähig. Wenn Links Beobachtungen zutref-
24 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1983; Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 19771978, Frankfurt a.M. 2004; Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 19771978, Frankfurt a.M. 2004; Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. 25 Link, Jürgen: „Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen. Normalismustheoretische Überlegungen“, in: Archiv für Mediengeschichte 9 (2009), S. 11-22. Siehe auch den Beitrag von Jürgen Link in diesem Band. 26 Ebd., S. 18
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fen27, dann wird die Ebene der massenmedialen Semantisierung des Wissens von einem hegemonialen Trend dominiert, selbst im Falle von „Crashs“ und „Katastrophen“ auf „Bodenbildungen“, „Wege aus der Krise“, „Licht am Ende des Tunnels“ oder „Anzeichen der Erholung“ umzuschalten. „Solange es stets Aussicht auf Normalisierung gibt, werden alle alarmistischen Narrative als ‚zweckpessimistisch übertrieben ދrezipiert. ‚Die Welt wird davon nicht untergehenދ. Die gecrashten Kurven werden sich normalisieren, weil sonst ja der Systemkollaps käme, der aber undenkbar ist.“28 Eine Konsequenz dieses „mediopolitischen“ Normalismus wäre es also, dass Diskontinuitäten und Anormalität wenige Chancen auf Beachtung haben. Diese normalistische Blindheit trübt den Gefahrensinn der Gesellschaft und steht der These Luhmanns und letztlich auch Leggewies und Messners entgegen, dass die Gesellschaft sich mit ihren Bordmitteln auf ökologische Gefährdungen einstellen. Die Gesellschaft, trotz und aufgrund aller Prognosen, könnte enden.
27 Und eine Reihe von Kultur- und Medienwissenschaftlern folgen ihm hier. Vgl. Bartz, Christina/Krause, Marcus (Hg.): Spektakel der Normalisierung, München 2007; Bohn, Cornelia: „Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet“, in: Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorf (Hg.), ‚Normalität ދim Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg 2003, S. 39-50. 28 Link: „Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen“, a.a.O., S. 19.
Autorinnen und Autoren Averkorn, Raphaela, Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Siegen seit 2005; Studium an der WWU Münster, Université Michel de Montaigne (Bordeaux 3), Promotion (WWU Münster), Habilitation (LU Hannover), 2009 Jean Monnet Chair „ad personam“ (European Integration History), Gastprofessuren (Spanien, Italien, USA). Forschungsschwerpunkte: Geschichte Europas und der Europäischen Integration, Geschichte der internationalen Beziehungen, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Kirchen- und Ordensgeschichte, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Gender History, Geschichte der Geschichtsschreibung. Publikationen: „Macht und Expansion auf der Iberischen Halbinsel. Aragón, Kastilien und Portugal im Spiegel ihrer auswärtigen Beziehungen um 1308“, in: 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit, hg. von A. Speer/D. Wirmer, Berlin/New York 2010, 41-92; „L’Europe identitaire et ses racines médiévales – quelques remarques“, in: G. Laschi (Hg.), Oltre i confini: l’UE tra integrazione interna e relazioni esterne, Collana „Fonti e studi sul federalismo e integrazione europea - Crie“, Bologna 2012, 51-72; „Europa – América Latina: Leopoldina de Austria y Teresa de Baviera, dos viajeras entre culturas y continentes en el siglo XIX“, in: Europa - América Latina: Dos caminos ¿un destino común?, hg. von Universidad de Concepción, Concepción 2012, 239-278. Baringhorst, Sigrid, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen; Studium der Sozialwissenschaften und Germanistik an der RWTH Aachen. Promotion 1991 an der Universität Münster. Habilitation 1997 an der Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte sind politische Kommunikation, politische Partizipation sowie vergleichende Migrations- und Integrationspolitik. Autorin, Co-Autorin und Mit-Herausgeberin zahlreicher Bücher und Sammelbände, u.a.: Fremde in der Stadt (1991), Politik als Kampagne (1998); Unternehmenskritische Kampagnen. Politischer Protest im Zeichen digitaler Kommunikation (2010) (zus. m. Kneip, Veronika/Niesyto, Johanna/März, Anne), Politische Steuerung von Integration – Intentionen und Wirkungen (2006) (hg. zus. mit U. Hunger/K. Schönwälder, Herausforderung Migration (2006) (hg. zus. mit J. Hollifield/U. Hunger), Poli-
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tik mit dem Einkaufswagen (2007) (hg. zus. m. V. Kneip/A. März/J. Niesyto), Political Campaigning on the Web (2010) (zus. m. V. Kneip/J. Niesyto). Brandt, Stefan L., Prof. Dr., unterrichtet English and American Studies an der Universität Wien. Nach seiner Dissertation, die er in Berlin, Ithaca und Berkeley verfasste, forschte und lehrte er als Visiting Professor an der Freien Universität Berlin, Universität Siegen und Harvard University. Neben drei Monographien – Männerblicke (1999), Inszenierte Männlichkeit (2007) und The Culture of Corporeality (2007) – hat er vier Sammelbände publiziert: Douglas Sirk’s IMITATION OF LIFE (1999), Transnational American Studies (mit W. Fluck/I. Thaler) (2007), Making National Bodies (mit A. Fellner) (2010), Transcultural Spaces (mit W. Fluck/F. Mehring) (2010). Weitere Veröffentlichungen umfassen Aufsätze aus dem weiten Feld der Literatur- und Kulturkritik, u.a. zum Utopiebegriff in Xena Warrior Princess, zu ethnischer Alterität im amerikanischen Stummfilm, zu Liminalität in der postmodernen Literatur sowie zum Coolness-Faktor bei Elvis Presley und Eminem. Braun, Bernhard, Dr. phil., Assistenzprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, geb; Studium der Chemie und Philosophie in Innsbruck und Salzburg; Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung, im Ausstellungs- und Museumswesen. Wissenschaftliche Arbeitsgebiete: Geschichte der Philosophie, Ästhetik, Kunstund Kulturphilosophie. Fenske, Uta, Dr. phil., nach dem Studium der Fächer Anglo-Amerikanische Geschichte, Japanologie und Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Hartford, CT und Köln Mitarbeiterin im Haus der Geschichte in Bonn. Anschließend Promotion im Fach Anglo-Amerikanische Geschichte an der Universität Köln. 2005-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 431: „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ an der Universität Tübingen. Von 2007-2010 Mitglied im DFG-Netzwerk: „Körper in den Kulturwissenschaften“. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Siegener Zentrum für Gender Studies, seit 2010 auch am Institut für Didaktik der Geschichte. Veröffentlichungen: Mannsbilder. Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946-1960, Bielefeld 2008. Netzwerk Körper in den Kulturwissenschaften (Hg.): What Can a Body Do? Praktiken/Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften., Frankfurt a.M./New York 2012; zus. mit Gregor Schuhen (Hg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012. Grimstein, Jens, DAAD-Lektor an der Université Paris-Est Créteil (seit 2008); Arbeitet aktuell an der FU Berlin bei Irene Albers/Institut AVL zum Begriff der Arbeit in Texten der literarischen Moderne, Studium der Allge-
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meinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Anglistik in Bonn, Paris (Sorbonne), Berlin (FU) und Lausanne. Daneben Tätigkeiten als Theatertechniker, Reise- und Gruppenleiter in Großbritannien, Irland und den USA sowie als Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache und Englisch in Deutschland und im englischsprachigen Ausland; 2007-2008 DAAD-Sprachassistent an der University of Aberdeen. Kleinere Veröffentlichungen zu DaF-Themen, zur Narrativität der Finanzkrise sowie Herausgeber des Bandes Texte zur Theorie der Arbeit (zus. mit T. Skrandies/U. Urban, Stuttgart, im Erscheinen). Hülk, Walburga, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley. 2008 Forschungsprofessur an der MSH, Paris. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit, literarische und mediale Anthropologie, Dialog der Künste und Wissenschaften, Sozialgeschichte der Literatur. Monographien zum Feuilletonroman des 19. Jahrhunderts und zur Subjektivität in der französischen Literatur des Mittelalters; DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ (bis 2009). Seit 2010 DFG-Projekt (zus. mit Georg Stanitzek): „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität“. Aktuelle Publikationen: Haussmann und die Folgen: Vom Boulevard zur Boulevardisierung (hg. zus. mit Gregor Schuhen), Tübingen 2012; Bewegung als Mythologie der Moderne: Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry, Bielefeld 2012. Jaeger, C. Stephen, Prof. em. für Germanistik, Komparatistik, und Mediävistik an der Universität Illinois, Urbana/Champaign; außerdem Lehre in der Abteilung Cinema Studies. Letzte Monographie: Enchantment: On Charisma and the Sublime in the Arts of the West (2012). Weitere Bücher: The Origins of Courtliness: Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals, 939-1210 (1985; dt.: Über die Entstehung der höfischen Kultur: Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, 2001); The Envy of Angels: Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200 (1994) und Ennobling Love: In Search of a Lost Sensibility (1999). Er lebt in Chicago, Illinois. Jung, Annika, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Volkswirtschaft der Universität Siegen (Prof. Dr. Karl-Josef Koch). Kaube, Jürgen, leitender Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Studium der Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und der Wirtschaftswissenschaften an der FU Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Bielefeld, seit 1992 Mitarbeit am Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1999 Eintritt in die Redaktion, zunächst als Berliner Korrespondent,
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seit September 2000 in Frankfurt. Schwerpunkte: Wissenschafts- und Bildungspolitik, u.a. die Seiten „Forschung und Lehre“, zuletzt Leiter des Ressorts „Sachbuch“ und „Geisteswissenschaften“. Veröffentlichungen: Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten, Springe 2007; als Herausgeber: Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik, Berlin 2009. Koch, Karl-Josef, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Siegen (seit 2006); 1987 Promotion zum Dr. rer. pol. im „European Doctoral Program for Quantitative Economics“ an den Universitäten Bonn, Louvain-LaNeuve (Belgien) und an der London School of Economics, 1996 Habilitation an der Universität Konstanz. Mitglied der European Economic Association und der Econometric Society. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Gleichgewichtstheorie, Preistheorie, Umweltökonomie, Welthandel, Wirtschaftswachstum. Ausgewählte Publikationen: „Multi-Dimensional Transitional Dynamics: A Simple Numerical Procedure“, in: Macroeconomic Dynamics, 12 (2008), S. 301-319 (zus. mit Thomas M. Steger und Timo Trimborn); „When economic growth is less than exponential“ (mit Thomas M. Steger und Christian Groth), in: Economic Theory, Vol. 44 (2010), 2, S. 213-242. Krummacher, Michael, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, arbeitet in eigener Praxis in Köln. Zuvor als Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Evangelischen Krankenhauses in Bergisch Gladbach (Kooperationskrankenhaus der Universität Witten-Herdecke) tätig. Weiterbildung in der Systemischen Psychotherapie am Mental Research Institute in Palo Alto, Kalifornien. Veröffentlichung: Kunst, Liebe, Tod - Suizid und Todesgedanken im autobiographischen Werk von Michel Leiris, Promotion an der Universität Bonn (1999). Leschke, Rainer, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Siegen. Studium der Germanistik und der Philosophie in Bochum. Promotion 1986 mit einer Arbeit zum Verhältnis von Hermeneutik und Poststrukturalismus; 1998 Habilitation in Medienwissenschaften/Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zu Reproduktionszyklen und seriellen Strukturen in der Literatur. Lehrtätigkeit an den Universitäten Siegen, Bochum, Innsbruck und Basel. Publikationen zu Fragen der Medientheorie, der Medienästhetik und der Medienethik. Zuletzt erschienen: Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien, Konstanz 2010; Hg. zus. mit Henriette Heidbrink: Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien, Konstanz 2010. Lickhardt, Maren, Dr. phil., Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2009 Promotion; seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Sie-
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gen (zwischenzeitlich an der FernUniversität in Hagen), Mitglied des Netzwerks ‚Spielformen der Angst‘. Veröffentlichungen: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane, Heidelberg 2009; „Selbstreferenz/Fremdreferenz – Joseph Roth“, in: Niels Werber (Hg.) unter Mitarbeit von Maren Lickhardt: Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, New York/Berlin 2011, S. 363-372; „Postsouveränes Erzählen und eigenmächtiges Geschehen in Musils Mann ohne Eigenschaften“, in: LiLi 165 (2012), S. 10-34; „Schemen, Leerstellen und Räume der Angst. Narrative Strategien der Repräsentation und Evokation“, in: LiLi 167 (2012), S. 148-160. Link, Jürgen, Prof. em. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Bochum und Dortmund (seit 2006 a.D.); u.a. Studium der deutschsprachigen und romanischen Literaturen in Göttingen, Caen und München; Promotion 1967 (Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik); Habilitation 1975 (Korpus über strukturale Symboltheorie: u.a. Die Struktur des literarischen Symbols); Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus, München 1978; Hg.: A. v. Platen, Lyrik (München 1982), kultuRRevolution, Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie (Essen 1982 ff.), (mit Wulf Wülfing:) Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, Nationale Mythen und Symbole, Stuttgart 1991, (mit Ute Gerhard u.a.:) Infografiken, Medien, Normalisierung, Heidelberg 2001, (Nicht) normale Fahrten, Heidelberg 2003; weitere Publikationen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, München 1974; Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983; Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42009, Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen/Wiesbaden 1999; zahlreiche weitere Publikationen zur neueren Literaturgeschichte, zur Theorie und Geschichte der Kollektivsymbolik (in Massenmedien und Literatur), zur struktural-funktionalen Literatur- und Kulturtheorie sowie zur systematischen und historischen Diskurs- und Interdiskurstheorie; Übersetzungen aus dem Französischen (Castel, Lantz, Le Rider, Rancière). Roman: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, Oberhausen 2008. Neumaier, Otto, Ao. Univ.-Prof. (seit 2005) am Institut für Philosophie der Universität Salzburg, Studium der Philosophie und Germanistik in Innsbruck. Arbeitsgebiete: Ethik, Ästhetik und Philosophische Anthropologie. Bücher und Editionen (Auswahl): Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie (Hg. 1994), Vom Ende der Kunst (1997), Applied Ethics in a Troubled World (MHg. 1998), Ästhetische Gegenstände (1999), Maria Anna Mozart. Die Künstlerin und ihre Zeit (MHg. 2001), Ist der Mensch das Maß aller Dinge? (Hg. 2004), Rudolf Arnheim oder Die Kunst der Wahrnehmung (MHg. 2004), Fehler und Irrtümer in den Wissenschaften (Hg. 2007), Moralische Verantwortung (2008), Rationalität und Emotionalität (MHg. 2009), Guernica. Über Gewalt und politische Kunst (MHg.
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2010), Fehler in Wissenschaft und Kunst (Hg. 2010), Natürlich Kunst… (MHg. 2011). Schrader, Sabine, Professorin für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck (seit 2009), Studium der Romanistik und Geschichte an den Universitäten Göttingen, Venedig und Köln, Forschungsschwerpunkte: Literaturwissenschaft auf medien- und kulturwissenschaftlicher Basis, französische u. italienische Literatur des 19. und 20. Jh., Gender Studies, Interkulturalität, Film- und Fernsehgeschichte der Romania. Publikationen: La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon. Italiens Weg in die Moderne (Heidelberg, im Druck), „Si gira!“ - Literatur und Film in der Stummfilmzeit Italiens, Heidelberg 2007, „Mon cas n’est pas unique“. Der homosexuelle Diskurs in französischen Autobiographien des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1999; hg. zus. mit Daniel Winkler: The Cinemas of Italian Migration. European and Transatlantic Narratives (Cambridge, im Druck), zus. mit Barbara Tasser: Futurismo 100% - Futurismus 100%, Innsbruck 2011, mit Dirk Naguschewski: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich und frankophonen Ländern, Marburg 2008. Schuhen, Gregor, Dr. phil., Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen. Nach dem Studium der Romanistik und Anglistik an den Universitäten Siegen und Paris XII wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFGForschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ an der Universität Siegen, 2005-2006 wiss. Mitarbeiter an der Universität Leipzig; Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 17. bis 20. Jh. im europäischen Kontext, Gender und Men’s Studies, Pop- und Jugendkultur, klassische Avantgarden, Wissenschaftsgeschichte. Seit 2011 Leiter der Forschungsstelle für Literatur & Men’s Studies (LIMES) an der Universität Siegen. Publikationen (Auswahl): Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust, Heidelberg 2007; (Hg. mit Uta Fenske): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012; „Das Madonna-System oder Eine Heilsgeschichte der Weiblichkeit“, in: Ivo Ritzer/Marcus Stiglegger (Hg.), Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2012, S. 211-231; „Weimar, Paris, London. Faust als Denkfigur der Krise im 19. Jahrhundert“, in: Walburga Hülk et al. (Hg.): Die Kunst des Dialogs: Sprache, Literatur, Malerei im 19. Jahrhundert / L’Art du dialogue: langue, littérature, peinture au 19e siècle, Heidelberg 2010, S. 165-191.
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Tschilschke, Christian von, Professor für Romanische Literaturwissenschaft/Genderforschung an der Universität Siegen (seit 2007); Studium der Romanistik, Slavistik und Philosophie an den Universitäten Heidelberg und Lyon, 2006 Habilitation an der Universität Regensburg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: spanische Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, französische und spanische Kultur der Gegenwart, spanischer Afrikadiskurs, Dokufiktion. Veröffentlichungen u.a.: Epen des Trivialen. N.V. Gogols „Die toten Seelen“ und G. Flauberts „Bouvard und Pécuchet“, Heidelberg 1996; Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen 2000; zus. mit Isabella von Treskow (Hrsg.), 1968/2008. Revision einer kulturellen Formation, Tübingen 2008; Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Madrid/Frankfurt a.M. 2009; zus. mit Dagmar Schmelzer (Hg.), Docuficción. Enlaces entre ficción y no-ficción en la cultura española actual, Madrid/Frankfurt a.M. 2010; zus. mit Volker Roloff/Scarlett Winter (Hg.), Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust, Tübingen 2011. Voigts, Eckart, Professor für Anglistik/Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Adaption und Konvergenzkultur; Literatur und Medien; zeitgenössisches britisches Theater und Drama; NeoViktorianismus; Literatur, Technik und Humanwissenschaften. Ausgewählte Publikationen: Introduction to Media Studies (Stuttgart 2004), Janespotting and Beyond: British Heritage Retrovisions since the Mid-1990s (Tübingen 2005), The New Documentarism (ZAA 2008) und Adaptations – Performing Across Media and Genres (Trier 2009). Mit Genderaspekt zuletzt: „Visuelle Evidenz und neoviktorianische Appropriationen der Fotografie“, in: Korte/Becker (Hg.), Visuelle Evidenz. Fotografie im Reflex von Literatur und Film (Berlin/New York 2011). Ein Sammelband über die Darwin-Industrie (Reflecting on Darwin) soll 2013 erscheinen. Vögle, Theresa, Dr. phil., Mitarbeiterin in der Romanistik der Universität Siegen seit 2006; 2002-2007 Studium der Literatur-, Kultur-, und Medienwissenschaften in Siegen und Genua; 2011 Promotion mit einer Dissertationsschrift zum Thema Mediale Inszenierungen des Mezzogiorno. Die „Südfrage“ als Prüfstein der Einheit Italiens und der Idee Europas, Heidelberg 2012). Seit Oktober 2012 freiberufliche Tätigkeit als Lektorin für wissenschaftliche Arbeiten (fachübergreifend). Vorträge bei internationalen Tagungen (u.a. Venedig, Graz, Innsbruck) und Publikationen zu Themen der italienischen und französischen Literatur- und Kulturwissenschaft (u.a. zu Zolas Rougon-Macquart-Zyklus, zur italienischen Migration im Kino, zu Konstruktionen des Mezzogiorno).
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Werber, Niels, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Im Sommersemester 2011 war er Fellow am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlage der Integration“ der Universität Konstanz. Im Sommer wird im Fischer Verlag seine Studien über Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte erscheinen. Arbeitsschwerpunkte: Geopolitik der Literatur. Medien und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Soziale Insekten. Zuletzt erschienen: Systemtheoretische Literaturwissenschaft, Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin 2011; Niklas Luhmann: Schriften zu Literatur und Kunst (2008, Suhrkamp Wissenschaft, Hg.), Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007; „Jüngers Bienen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philologie (Heft 2, 2011); „Ameisen und Aliens: Zur Wissensgeschichte von Soziologie und Entomologie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Heft 3/2011, S. 242-263.
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen April 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5
Adam Paulsen, Anna Sandberg (Hg.) Natur und Moderne um 1900 Räume – Repräsentationen – Medien Mai 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2262-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3
Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen 2012, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden März 2013, 462 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen Februar 2013, 350 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls April 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5
Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Hg.) Zonen der Begrenzung Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne 2012, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2044-3
2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
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