Die kriminelle Belastung der männlichen Prostituierten: Zugleich ein Beitrag zur Rückfallsprognose [1 ed.] 9783428407842, 9783428007844


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German Pages 125 Year 1967

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Die kriminelle Belastung der männlichen Prostituierten: Zugleich ein Beitrag zur Rückfallsprognose [1 ed.]
 9783428407842, 9783428007844

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Berliner Juristische Abhandlungen Band 15

Die kriminelle Belastung der männlichen Prostituierten Zugleich ein Beitrag zur Rückfallsprognose

Von

Klaus Ulrich Klemens

Duncker & Humblot  ·  Berlin

KLAUS U L R I C H

KLEMENS

Die kriminelle Belastung der männlichen Prostituierten

Berliner

Juristische

Abhandlungen

unter Mitwirkung von

Walter G. Becker, Karl August Bettermann, Hermann Blei, Arwed Blomeyer, Gustav Boehmer, Martin Drath, Erich Genzmer, Ernst Heinitz, Heinrich Herrfahrdt, Ernst E. Hirsch, Götz Hueck, Hermann Jahrreiß, Wolfgang Kunkel, Richard Lange, Peter Lerche, Walter Meder, Dietrich Oehler, Werner Ogris, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Erwin Seidl, Karl Sieg, Klaus Stern, Wilhelm Wengler, Fritz Werner, Franz Wieacker, Herbert Wiedemann, Hans Julius Wolff (Freiburg i. Br.)

herausgegeben von

Ulrich von Löbtow

Band 15

Die kriminelle Belastung der männlichen Prostituierten Zugleich ein Beitrag zur Rückfallsprognose

Von Dr. iur. Klaus Ulrich Klemens

DUNCKER & HUMBLOT/

BERLIN

Gedruckt m i t Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk

Alle Rechte vorbehalten © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Zweck und Aufbau der Darstellung

7

A. Methode der Untersuchung

10

B. Herkunft und Entwicklung der Stridijungen

15

I. Geburtsort

.

II. Alter

15 18

III. Vorstrafen

22

IV. Kriminelle Handlungen in strafunmündigem Alter

28

V. Familienverhältnisse 1. 2. 3. 4. 5.

Familienstand Unehelichkeit Erziehungsverhältnisse Geschwisterzahl Beruf des Vaters

29

.

VI. Schule

30 31 35 43 46 48

VII. Beruf

52

VIII. Taten

57

1. 2. 3. 4. 5.

Gleichgeschlechtliche Handlungen Erstes homosexuelles Erlebnis Die verhängten Strafen Nebentaten Homosexuelle Veranlagung

58 62 63 65 68

C. Die spätere Straffälligkeit der männlichen Prostituierten

72

D. Versuch einer Rückfallsprognose

92

I. Problem und Geschichte der sozialen Prognose II. Die Rückfallprognose bei den männlichen Prostituierten 1. Erbliche Belastung 2. Alter beim Auftreten als Strichjunge

92 72 100 101

Abkürzungen

6

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Vorstrafen Uneheliche Geburt Scheidung der Eltern Erziehungsverhältnisse Zahl der Geschwister Erfolg in der Schule Erfolg in der Lehrzeit Homosexuelles Empfinden

E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

102 103 104 104 105 105 106 107 113

Anhang: Die von männlichen Prostituierten begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikte 116 Literaturverzeichnis

122

Abkürzungen

a.a.O.

am angegebenen Ort

Glueck I

Sheldon u. Elenor Glueck: Five Hundred Criminal Carreers New York 1930

Glueck I I

Jugendliche Rechtsbrecher, Wege zur Vorbeugung, Stuttgart 1936

Hdk

Handwörterbuch der Kriminologie, 1. Band 1933, 2. Band 1936, Berlin-Leipzig

JGG

Jugendgerichtsgesetz

Kriminalistik

Kriminalistik. Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Heidelberg-Hamburg

Krim. Abhandl.

Kriminalistische Abhandlungen, herausgegeben von Franz Exner, Leipzig

Mon.Krim.Biol.

Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform, Organ der Kriminalbiologischen Gesellschaft, herausgegeben von Franz Exner, München-Berlin

SGH

Soziale Gerichtshilfe

StGB

Strafgesetzbuch

Einleitung

Zweck und Aufbau der Darstellung Die männliche Prostitution gilt allgemein als eine Erscheinung, deren Erkennung und Bekämpfung von größter Bedeutung sind. Man hat sie als eine „Brutstätte des Verbrechertums, eine Quelle schwersten Ärgernisses und eine besondere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung" bezeichnet 1 . Mehr noch als die weibliche Prostitution trete sie mit anderen strafbaren Handlungen gemeinsam i n Erscheinung 2 . Der männliche Prostituierte, der sogenannte Strichjunge, beschränke sich gewöhnlich nicht auf bloße Unzuchtshandlungen, sondern nütze gerade diese zur Begehung aller möglichen anderen Straftaten aus 5 . Diesen Angaben entsprechend führt Weindler 4 den Strichjungen unter der Gruppe der Berufsverbrecher auf. I n der vorliegenden Arbeit w i r d versucht, die Frage zu beantworten, inwieweit die männliche Prostitution zu Recht eine Quelle der Kriminalität genannt werden kann. Es soll vor allem untersucht werden, i n welchem Maße die Strichjungen neben und nach der gewerbsmäßigen Unzucht noch weitere Straftaten begehen, welche Delikte dabei begangen werden und welche Strichjungen i n erster Linie nach Beendigung ihrer „Laufbahn" wieder straffällig werden. Gewissermaßen als Ergebnis der Sammlung des Grundmaterials für die Beantwortung dieser Fragen gibt die Arbeit gleichzeitig einen kleinen Überblick über das Strichjungenwesen i n Westberlin i n den Jahren 1948—1960. Da die Unterlagen für diese Arbeit ausschließlich aus Westberlin stammen, erhebt sie selbstverständlich nicht den A n spruch; in ihren Schlußfolgerungen ganz allgemein für die männliche Prostitution zu gelten, denn es ist denkbar, daß angesichts seiner besonderen Lage hier ein bestimmter Typ des Strichjungen vorherrscht und damit auch die Rückfallkriminalität der männlichen Prostitution bestimmt, der anderswö vielleicht die Ausnahme bildet. ι Begründung zum Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches 1927, S. 148. 2 Bartsch, S. 36. 3 Kuhn, S. 92. 4 Weindler-Selig, S. 36. ... :

Einleitung

8

Es dürfte überhaupt meist recht gewagt sein, i n einzelnen Beziehungen von der männlichen Prostitution schlechthin zu sprechen, ist sie doch noch weit mehr als die weibliche an die Großstadt gebunden und w i r d i n jeder Stadt ihr eigenes Aussehen haben, das von den soziologischen und geographischen Gegebenheiten der jeweiligen Stadt und ihrer näheren Umgebung bzw. ihres „Einzugsgebietes" geprägt ist. Ergebnisse zum Strichjungenwesen insgesamt werden sich nur gewinnen lassen, indem man örtlich begrenzte Untersuchungen vornimmt, aus denen dann i n einem zusammenfassenden Vergleich mit großer Vorsicht gemeinsame Faktoren entnommen und als allgemeingültig bezeichnet werden, während andere durch die jeweilige örtliche Verschiedenheit bedingt sind und nicht allgemeinverbindlich sein können. Die Erscheinung der männlichen Prostitution w i r d auf diese Weise besser erfaßt, als wenn man bei den Untersuchungen die örtlichen Gegebenheiten unberücksichtigt läßt. Dieser Gesichtspunkt w i r d auch bei Kuhn 5 betont, dessen Arbeit auf Hamburg beschränkt ist, während sich die Ausführungen von Redhardt* auf Frankfurt beziehen. Das Strichjungenwesen ist ein Sonderfall der Prostitution, bei der die „Kunden" homosexuelle Männer sind und daher nicht die Dirne, sondern den Strichjungen als Partner suchen. Während aber über die Homosexualität und die „normale" weibliche Prostitution eine fast unübersehbare Fülle von Literatur vorhanden ist, gibt es nur sehr wenig Arbeiten über die männliche Prostitution. Aus diesem Grunde soll hier über das Wesen der Homosexualität i m allgemeinen nur das gesagt werden, was i m Zusammenhang mit dem Strichjungenwesen unbedingt erforderlich ist. Ihre medizinische Seite, wo vor allem das Problem, ob sie anlage- oder (auch) unweitbedingt ist, w o h l nie mit letzter Sicherheit geklärt werden kann 7 , wird, soweit es möglich ist, nicht erneut erörtert werden; ebensowenig die besonders von den Betroffenen immer wieder aufgeworfene Frage nach der Strafbarkeit der einfachen widernatürlichen Unzucht 8 . Die männliche Prostitution soll hier vielmehr i n erster Linie aus juristisch-kriminalistischer Sicht betrachtet werden, wobei die Angaben über die soziale Struktur der Strichjungen i m Vordergrund stehen, zumal medizinische Aussagen i n vielen Fällen nicht zur Verfügung standen, so daß sie auch nicht statistisch verwertet werden konnten. « • 7 «

S.1 S. 22 ff. Gatzweiler, S. 19; Klimmer, Gatzu>eiler, S.35ff.

S.91.

Zweck und Aufbau der Darstellung

9

Die Untersuchung gliedert sich i n drei Hauptteile. Zunächst w i r d untersucht, welche Faktoren die Strichjungen besonders auszeichnen und zu ihrer negativen Entwicklung beigetragen haben, indem der prozessuale Anteil bestimmter kriminologisch interessanter Merkmale ermittelt und m i t den Zahlen für andere Verbrechergruppen oder für die gesamte Bevölkerung verglichen wird. I m zweiten Teil schließt sich die Feststellung der späteren Straffälligkeit der männlichen Prostituierten an. Sie erfolgt durch die Auswertung der Strafregisterauszüge. Der dritte Teil beschäftigt sich m i t der Frage, ob das zukünftige kriminelle Verhalten eines Strichjungen auf Grund bestimmter objektiv feststellbarer Tatsachen vorauszusagen ist. Es handelt sich insoweit um einen Beitrag zum Problem der Rückfallsprognose. Zum Schluß folgt als Anhang eine kurze Übersicht über die von männlichen Prostituierten begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikte, sind es doch gerade diese Taten, die oft als Anzeichen dafür bewertet werden, daß die männliche Prostitution eine „Brutstätte des Verbrechertums" sei. Dieser Anhang erschien auch deswegen zweckmäßig, w e i l das erfaßte Material die wirklich vorhandene Kriminalität nicht lückenlos wiedergeben kann.

Α. Methode der Untersuchung Bei den folgenden Untersuchungen handelt es sich um Reihenuntersuchungen i m Sinne Exners 9. Z u ihrer Durchführung w i r d eine A n zahl von Einzelfällen herangezogen, die in gewissen, kriminologisch bedeutsamen Punkten gleich gelagert sind. Hier ist das allen Fällen gemeinsame Merkmal die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht durch einen männlichen Täter. Eine solche Untersuchung setzt zunächst voraus, daß das Material repräsentativ ist, d. h. daß es ein Spiegelbild des Durchschnitts ergibt. Dazu ist es erforderlich, die Fälle ausschließlich nach dem oben genannten gemeinsamen Merkmal auszuwählen. Er dürfen also nicht nur besonders interessante Fälle herausgesucht werden, oder solche, über die das umfangreichste Aktenmaterial vorliegt 1 0 , vielmehr muß eine bestimmte Voraussetzung aufgestellt werden, nach der dann alle Täter, die diese erfüllen, von der Untersuchung erfaßt werden. Als eine solche Voraussetzung bietet sich z.B. der Anfangsbuchstabe des Namens an, eine andere Möglichkeit besteht darin, alle innerhalb eines willkürlich gewählten Zeitraumes vorgekommenen Fälle zu untersuchen 11 . Der Untersuchende darf also m i t anderen Worten nicht erst nach Durchsicht eines Einzelfalles entscheiden, ob er ihn mit heranziehen w i l l oder nicht, diese Entscheidung muß vielmehr durch die A r t der Auswahl von vornherein feststehen. Bei der Auswertung der Ergebnisse muß man den Gesichtspunkt, nach dem die Auswahl getroffen wurde, immer i m Auge behalten, um allgemeine Schlußfolgerungen mit der durch die Auswahl gebotenen Einschränkung zu gewinnen. Außerdem ist eine möglichst große Zahl von Fällen heranzuziehen, denn nur dann kann man zu annähernden Durchschnittswerten gelangen, da die Fehlerquelle m i t steigender Zahl der Fälle abnimmt. Es war also eine ausreichende Anzahl von Strichjungen festzustellen und auf bestimmte Merkmale hin zu untersuchen. Dabei mußte bewußt auf einige wichtige Angaben, wie ζ. B. Vorstrafen der Eltern, verzichtet • Kriminologie S. 11. 1° Vgl. υ. Rhoden, S. 7. 11 Exner, Kriminologie S. 13.

Α. Methode der Untersuchung

11

werden, da über einige Punkte i n vielen Fällen keine Berichte vorlagen, und zwar aus folgenden Gründen: Eine bis ins letzte gehende Ausforschung ist nur möglich, wenn über jeden Täter eine umfangreiche Akte m i t sämtlichen interessierenden Einzelheiten vorliegt oder wenn wenigstens eine persönliche Befragung offene Punkte klären kann. Diese Methode war bei dem vorliegenden Ausgangspunkt — Täter = Strichjunge — nicht durchführbar. Zwar wurden i n den Jahren 1948—1961 von der Westberliner K r i m i nalpolizei ungefähr 1500 Strichjungen karteimäßig erfaßt 12 , i n dieser Kartei sind aber nur Alter, Geburtsort und der Tathergang bzw. Tatverdacht verzeichnet. Es gibt i n Westberlin keine Stelle, an der umfangreiches Aktenmaterial über männliche Prostituierte aussortiert und gesammelt ist. Ebenso entfiel die Möglichkeit, entsprechende Befragungen i n Gefängnissen vorzunehmen, die besteht, wenn es sich nicht u m eine so spezielle Tätergruppe handelt 1 3 . Selbst wenn man davon ausgeht, daß die jeweils einsitzenden Strichjungen feststellbar gewesen wären, so wäre ihre Zahl i n einer Westberliner Strafanstalt auch über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg nie groß genug gewesen, um sich statistisch auswerten zu lassen: außerdem wäre damit schon von vornherein eine unerwünschte Auslese getroffen worden. Es bot sich daher zunächst der Weg an, das erforderliche Material aus den einschlägigen Gerichtsakten zu erhalten. Dabei wurden alle i n Westberlin i n den Jahren 1948 bis 1953 wegen eines Verbrechens gemäß § 175a Nr. 4 StGB Verurteilten berücksichtigt, soweit sie aus den Registern der Staatsanwaltschaft ersichtlich waren. Leider ließ sich nicht genau feststellen, inwieweit diese Zahlen den wirklich erfolgten Verurteilungen entsprechen, denn die Kriminalstatistik für Westberlin führt bis zum Jahre 1951 die nach § 175a StGB Verurteilten zusammen m i t den nach § 175 StGB Bestraften und auch danach werden die Fälle des § 175a StGB nicht nach dessen Ziffern getrennt. I n den Jahren 1952 und 1953 wurden 20 bzw. 25 Personen wegen eines Verstoßes gegen § 175a StGB verurteilt. Davon sind schätzungsweise höchstens die Hälfte solche gemäß § 175a Nr. 4 1 4 . Wenn man dies berücksichtigt und davon ausgeht, daß die Zahl der Verurteilungen i n den Jahren davor etwa die gleiche Höhe hatte — eine höhere Zahl ist unwahrscheinlich, weil die entsprechenden Werte i n den folgenden 12

Vgl. Schramm-Kaiser in Kriminalistik 1962/257, Cabanis , S. 153. Vgl.. Stury, S. 7.. " Vgl. die Zahlen bei Kuhn, S. 20. ..

18

12

Α. Methode der Untersuchung

Jahren steigen (1955 = 41, 1956 = 48, 1957 = 57) — kommt man zu dem Ergebnis, daß wahrscheinlich nur ein sehr geringer Prozensatz von Verurteilungen nicht erfaßt wurde, denn es konnten 64 Fälle ermittelt werden. Daraus ergibt sich aber gleichzeitig, daß die Zahl für eine statistische Auswertung recht gering war, es verbot sich aber, noch viel mehr Jahrgänge (etwa bis 1958 oder 1960) heranzuziehen, weil für die Feststellung der Rückfälligkeit der Zeitraum für die späteren Jahre zu gering gewesen wäre. Es mußte daher nach einer anderen Methode gesucht werden, um etwas umfangreicheres Material zu gewinnen. Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung waren die i m Landeskriminalamt von Westberlin geführten Karteikarten der Strichjungen. I n ihnen führt die Kriminalpolizei alle Personen, die unter dem Verdacht der Strichjungentätigkeit stehen bzw. überführt sind. Aus diesen Karteikarten wurden nun die Namen derjenigen entnommen, die geständig waren oder praktisch als überführt gelten konnten, i n den Jahren 1948—1956 der gewerbsmäßigen Unzucht nachgegangen zu sein. Das waren ungefähr ein Drittel aller Fälle. Dazu ist zu bemerken, daß der Kreis der bei der Kripo als Strichjungen geführten Personen etwas weiter ist als der der Täter des § 175a Nr. 4 StGB, denn es w u r den auch Täter geführt, auf die i m Einzelfall z.B. das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit nicht zutrifft bzw. später vor Gericht nicht bewiesen werden kann. Demzufolge waren unter den 186 verwerteten Fällen nur 152 einschlägige Bestrafungen oder solche nach § 175 StGB, während der Rest teilweise überhaupt nicht bestraft wurde oder wegen schwerer Delikte verurteilt war, so daß hinsichtlich der gleichgeschlechtlichen Betätigung § 154 StPO Anwendung fand. Es wurde nur die Kartei verwendet, i n der die Täter schon als Strichjungen aussortiert sind, nicht die Namenskartei aller Homosexuellen, da dort die Unterscheidung Verdacht — Überführung nicht m i t Sicherheit zu treffen war. So erklärt sich auch die relativ geringe Zahl i m Vergleich zu den über 1500 Personen, die nach dem Kriege als zumindest verdächtig registriert wurden. Von den so gewonnenen Tätern wurden nun noch die ausgeschieden, deren Geburtsort i n der Bundesrepublik lag, u m die Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Strafregisterauszüge nicht noch mehr zu vergrößern. Ihre Zahl war aber so gering (nach Durchsicht der Karteikarten schätzungsweise höchstens 5 % , eventuell sogar unter 3 °/o), daß sie für das Gesamtbild keine Rolle spielt. Die Angaben aus den Gerichtsakten wurden zur Kontrolle und Ergänzung m i t herangezogen und erscheinen bei den einzelnen Merkmalen unter dem Stichwort „Gerichtsakten".

Α. Methode der Untersuchung Nachdem die Namen der Strichjungen i n der oben beschriebenen Weise ermittelt worden waren, wurde versucht, diese Namen i n den Akten der Sozialen Gerichtshilfe (SGH) wiederzufinden. Die SGH ist Hilfsmittel der Justiz und gleichzeitig Fürsorgeeinrichtung 1 5 . Ihre Akten enthalten mehr oder weniger ausführliche Angaben über Herkunft, Erziehung, beruflichen Werdegang und begangene Straftaten des Täters, nur i n einigen Fällen jedoch medizinische oder psychologische Gutachten, so daß diese für eine allgemeine Auswertung nicht i n dem wünschenswerten Ausmaß herangezogen werden konnten. Nach dem vorläufigen Entwurf für die Richtlinien der SGH soll auf ihre M i t w i r k u n g u. a. nicht verzichtet werden bei Personen zwischen 21—25 Jahren und bei Sittlichkeitsverbrechen. Die Minderjährigen werden von der Jugendgerichtshilfe betreut. Ihre Akten wurden hinzugezogen, soweit es erforderlich war. Wenn die weitaus überwiegende Zahl der Fälle bei der SGH geführt wurde, obwohl die meisten Strichjungen Minderjährige sind, so liegt das daran, daß die Untersuchung i m Jahre 1964 stattfand, die i n den 50er Jahren tätigen Strich jungen also meistens schon volljährig waren. Von den bei der Kripo ermittelten Namen wurden etwa 80—85°/o i m Material der SGH wiedergefunden. A u f diese Weise ergaben sich schließlich für die Jahre 1948—1956 186 Fälle. Eine ergänzende Untersuchung i n derselben A r t (aber ohne Feststellung der Rückfälligkeit) wurde für die Jahre 1959/60 vorgenommen, u m eventuelle Änderungen i n der Gesamtstruktur festzustellen. Sie erbrachte 65 Fälle. Es wäre möglich gewesen, die Fälle aus den Gerichtsakten m i t denen der SGH zusammenzulegen, wobei sich eine Zahl von etwa 230 ergeben hätte, da ein Teil der Strichjungen i n beiden Akten geführt wurde. So vorzugehen, erschien aber unzweckmäßig, w e i l die Gerichtsakten i m Durchschnitt wenger Angaben als die der SGH enthielten, so daß bei dieser Methode weitere Merkmale für eine Auswertung unbrauchbar geworden wären. Das Material der Sozialen Gerichtshilfe w i r d bei den einzelnen Punkten m i t SGH I (die 186 Fälle) und SGH I I (die 64 Fälle) angegeben werden. Aus dem eben Gesagten w i r d klar, warum manche an sich wichtigen Punkte nicht berücksichtigt werden konnten. Es kommt daher, daß das Aktenmaterial auf Grund der gewählten und hier auch w o h l einzig " Zur Mitwirkung der SGH in Strafsachen siehe Amtsblatt für Berlin, 14. Jahrgang Nr. 1 vom 3. Januar 1964.

14

Α. Methode der Untersuchung

möglichen Auswahlmethode i n seiner Vollständigkeit unterschiedlich ist, d. h. nicht jede Akte enthält i n jedem wichtigen Punkt genaue und sichere Angaben. Wenn z.B. in 20 von 186 Akten ausdrückliche A n gaben darüber vorhanden sind, daß der Vater vorbestraft ist, während 80 von einem ordentlichen Vater sprechen, so ist damit für die Frage der Vorstrafen des Vaters keine sichere Aussage zu gewinnen. Z u welchen Fehlern es führen kann, wenn man unvollständige Angaben auswertet und dann ohne die nötigen Einschränkungen daraus Schlüsse für den Durchschnitt zieht, soll an einer späteren Stelle anhand des Merkmals „Beruf des Vaters" gezeigt werden. I n vergleichbaren Fällen unvollständiger Berichte wurde daher lieber auf Angaben verzichtet, die nicht ganz eindeutig schienen und zu I r r tümern hätten führen können, als daß eine scheinbare Vollständigkeit auf Kosten der Richtigkeit herbeigeführt wurde. Aus diesem Grunde werden einige Merkmale fehlen müssen bzw. etwas dürftig i n ihrem Aussageinhalt erscheinen. Die Bedenken, die sich für die Ziehung allgemeiner Schlüsse auf Grund der Auswahl der Unterlagen ergeben, werden bei den einzelnen Punkten behandelt werden.

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen I. Geburtsort Der Geburtsort der Täter hat als kriminologisches Merkmal keine erstrangige Bedeutung. Er ist auch als Anhaltspunkt für eine Rückfallsprognose ohne großen Wert. Daher w i r d er i n den Arbeiten über die Rückfallsprognose nicht mit herangezogen 16 . Andererseits sind i n den Arbeiten über das Strichjungenwesen i n Hamburg 1 7 und Frankfurt 1 8 Angaben über den Geburtsort bzw. die Herkunft der Täter vorhanden, so daß es ganz zweckmäßig erschien, die entsprechenden Ergebnisse für Westberlin zum Vergleich heranzuziehen. Dafür spricht auch die Tatsache, daß die männliche Prostitution praktisch auf die Großstadt beschränkt ist, der Täterkreis aber naturgemäß nicht ausschließlich aus Großstadtbewohnern besteht, so daß jede größere Stadt eine A r t „Einzugsgebiet" für ihre Strichjungen hat. Daß diese Überlegung i n ganz besonderem Maße für Westberlin zutrifft, das dank seiner von der Umgebung verschiedenen Wirtschaftsstruktur auch für zwielichtige Elemente einen starken Anziehungspunkt bildet, bedarf angesichts seiner politisch-geographischen Lage keiner weiteren Erörterung. Es soll hier noch kurz auf den Unterschied zwischen Herkunft und Geburtsort verwiesen werden. Während Kuhn 19 vom Geburtsort spricht, ist bei Redhardt 20 von der Herkunft der Strichjungen die Rede, wobei nicht angegeben wird, wonach dieses Merkmal i m einzelnen bestimmt wurde. Die Herkunft eines Menschen i n diesem Sinne bestimmt sich danach, wo er seine Kindheit verbracht hat, d. h. i m Normalfall nach dem Ort seines Elternhauses. Nun werden insoweit Herkunft und Geburtsort i n der überwiegenden Zahl der Fälle übereinstimmen, es ist aber i« " « » w

Siehe z.B. Schiedt, S.29; Kohnle, S.42; Schwaab, S.22. Kuhn, S. 23. Redhardt, S. 27. a.a.O. a.a.O.

16

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

auch möglich, daß der Täter nicht an dem Ort geboren wurde, wo er später seine Kindheit verbrachte bzw. wo sein Elternhaus stand. Gerade i n dem Durcheinander der Kriegs- und Nachkriegszeit dürfte das oft der Fall gewesen sein, und zwar i m östlichen Teil Deutschlands und i n Berlin i n weit stärkerem Maße als i n den übrigen Ländern der Bundesrepublik. Da aus den vorliegenden Akten nur der Geburtsort m i t Sicherheit zu entnehmen war, nicht aber die Herkunft i n dem oben erwähnten Sinne, können ohne Einschränkungen nur Angaben über den Geburtsort gemacht werden, wobei zu beachten ist, daß die Herkunft, die als kriminologisches Merkmal natürlich interessanter ist, i n einzelnen Fällen von i h m abweichen kann. Wegen der relativ geringen Bedeutung des Merkmals wurde auf eine Auswertung der Gerichtsakten verzichtet. Der Geburtsort der Probanden SGH I Gebiet Berlin Sowjetzone Ostgebiete Ausland (Polen)

Probanden

°/o

116 44 24 2

62,4 23,6 12,9 1.1

186

100

Die wenigen i n der Bundesrepublik geborenen Täter sind vorher ausgeschieden worden. Einschließlich der i n Berlin Geborenen stammen 74,2 °/o aus Städten m i t über 100 000 Einwohnern und 1,1% aus Städten m i t 50 000 bis 100 000 Einwohnern. Der Rest von 24,7 °/o kommt aus Kleinstädten bzw. vom Land. Von den 70 Nichtberlinern wurden 46, das sind rund zwei Drittel, i n kleineren Städten oder auf dem Land geboren 21 . SGH I I Gebiet Berlin Sowjetzone Ostgebiete Ausland (Polen)

Probanden

•/β

44 15 5 1

67,7 23,1 7,7

65

' V5 100

.

.

Vgl. die entsprechenden Zahlen bei Kuhn, S. 23 und Redhardt, S. 28.

I. Geburtsort

17

Ein Proband kam als eitern- und namenloses Flüchtlingskind nach Berlin. Er wurde i n die Rubrik „Ostgebiete" eingereiht. Außer den Berlinern stammen noch 10,8 % der Täter aus Großstädten, 4,6 °/o aus Städten m i t 50—100 000 Einwohnern und 15,4% aus Kleinstädten oder Dörfern. Das oben erwähnte Flüchtlingskind konnte hierbei nicht eingereiht werden. Von den 21 Nichtberlinern kommen rund die Hälfte vom Land oder aus Kleinstädten. Bei einem Vergleich der Prozentzahlen der i n Großstädten geborenen Probanden fällt auf, daß der Wert von 67,9 %, der für die Hamburger Strichjungen angegeben wird, relativ klar unter den Angaben für Frankfurt (82%) liegt, während Berlin m i t 74 bzw. 78 % die Mitte hält. Diese Unterschiede könnten daher kommen, daß i n der weiteren Umgebung Frankfurts mehr große Städte liegen, als das i m norddeutschen „Einzugsgebiet" für Hamburg der Fall ist, während i n Berlin der „Einzug" von Strichjungen aus der an sich auch überwiegend ländlichen Umgebung etwas durch die unterschiedlichen politischen Verhältnisse zwischen Stadt und Einzugsgebiet gehemmt war. M i t der Insellage Westberlins ist es auch zu erklären, daß i m Vergleich zu den beiden anderen Städten der Anteil der außerhalb der Stadt geborenen Täter sehr viel geringer ist. So stehen den rund 65 % i n Berlin geborenen Probanden ζ. B. nur 15,2 % gebürtige Hamburger i n dem Material bei Kuhn gegenüber. Wesentlich interessanter als die eben genannten Zahlen ist aber der Vergleich innerhalb Berlins zwischen den Jahren bis 1953 und den Jahren 1959 und 1960. Der Anteil der Täter aus den Ostgebieten geht fast um die Hälfte zurück und der Prozentsatz der i n Berlin Geborenen steigt etwa entsprechend, während der Anteil der aus der Zone Gebürtigen fast genau gleichbleibt (23,6 bzw. 23,1 %). Diese Zahlen sind wahrscheinlich damit zu erklären, daß die Auswirkungen des Flüchtlingsstromes, der i n den ersten Nachkriegsjahren aus den Ostgebieten kam, allmählich nachgelassen haben, daß insoweit eine Konsolidierung eingetreten ist. Dementsprechend ist die Zahl der i n Berlin Geborenen unter den Strichjungen auf Kosten der Täter aus den Ostgebieten gestiegen. Andererseits scheint der Reiz Westberlins m i t seinen großstädtischen Verlockungen und auch auf krimineller Ebene besseren Verdienstmöglichkeiten mindestens gleich geblieben zu sein, worauf die gleichbleibende Zahl der aus der Zone Stammenden hinweist, die trotz der immer stärker werdenden Isolierung ihren Weg i n die Stadt gefunden haben. Daß heute nach dem Bau der Mauer die Zusammensetzung der Strichjungen eine andere ist, dürfte klar sein; auch ist anzunehmen, 2 Klemens

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

18

daß der Prozentsatz der Westdeutschen gestiegen ist, da i m Zuge des staatlich geförderten Trends „jeder einmal i n Berlin" auch kriminelle Elemente i n erhöhtem Maße i n die Stadt kamen, was ein Blick i n die Tagespresse lehrte. I I . Alter Das Alter eines Menschen ist für seine Bereitschaft zur Begehung strafbarer Handlungen von entscheidender Bedeutung 22 . I n den meisten Kulturstaaten behandelt daher die Kriminalstatistik i n Erkenntnis dieser Tatsache den Altersaufbau der verurteilten Täter 2 3 . Dabei hat sich herausgestellt, daß der Hang zur Verbrechensbegehung bei beiden Geschlechtern schon recht frühzeitig i n Erscheinung tritt, m i t zunehmendem Alter aber voneinander abweichend verläuft. Die hier nur interessierende Linie der männlichen Straffälligkeit 2 4 steigt i m jugendlichen Alter stark an, u m ihre höchste Spitze etwa i m 25. Lebensjahr zu erreichen 25 , von wo sie dann wieder absinkt 2 6 , ohne von neuem zu steigen. Diese Angaben zeigen, daß der junge Mensch i n ganz besonderem Maße dazu neigt, Straftaten zu begehen. Der Beginn der kriminellen Tätigkeit i n jugendlichem Alter ist aber auch als Anhaltspunkt für eine Rückfallsprognose sehr bedeutsam 27 . Frühes Einsetzen der K r i m i nalität ist ein wesentliches Merkmal des späteren Gewohnheitsverbrechers 28 . So hat z.B. Schnell 29 bei 500 untersuchten Rückfallsverbrechern fast 70 °/o festgestellt, die bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres verurteilt waren und nur 7 °/o sind nach Vollendung des 27. Jahres erstmals kriminell geworden. Nun ergibt sich allerdings für die vorliegende Arbeit eine Einschränkung der Bedeutung des Alters als wichtiges individuelles Merkmal der Kriminalität. Das hängt m i t der Auswahl des Materials zusammen. Wie schon erwähnt, ist die Strichjungentätigkeit auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt, da die meisten homosexuellen „Freier" Partner ablehnen, die ein gewisser Alter überschritten haben. Demzufolge sind fast alle Probanden Frühkriminelle, da sie die gewerbs22

Exner, Kriminologie, S. 147. 23 Einzelheiten siehe Roesner in HdK I, S. 22 ff. 24 zur weiblichen vgl. Exner, Kriminologie S. 148 f. « Exner, a.a.O.; Roesner, a.a.O.; S.23; Herold, S. 13. 26 Vgl. die nicht ganz übereinstimmenden Angaben bei Exner a.a.O. und Roesner a.a.O. 27 Schiedt, S. 41. 2 ® Mezger, Kriminologie S. 232. 2 ® S. 99.

19

Π. Alter

mäßige Unzucht bereits i n jungen Jahren aufnahmen und ein Teil auch schon davor andere Straftaten begangen hatte. Da fast alle Täter i n jugendlichem Alter straffällig wurden, ist die Frühkrimnalität hier als prognostischer Anhaltspunkt nicht so bedeutsam, wie es der Fall wäre, wenn sich das Augangsmaterial aus einem Täterkreis zusammengesetzt hätte, der altersmäßig dem Durchschnitt aller Straffälligen entspricht. Dennoch ist die Variationsbreite i n den vorliegenden Unterlagen genügend groß, u m nicht ganz bedeutungslos zu sein. Selbstverständlich können Angaben über das Alter der Strichjungen bei ihrer Tätigkeit nur annähernde Werte sein. Das ist nun einmal dadurch bedingt, daß es männliche Prostituierte gibt, die mehrere Jahre ihr „Gewerbe" betreiben; außerdem sind genaue Daten nur über den Tag der Verurteilung vorhanden, wobei man davon ausgehen kann, daß ihre letzte Tat i n der Regel mindestens einige Wochen davor lag. I n den Akten der Sozialen Gerichtshilfe gab es, wie schon erwähnt, Täter, die nicht einschlägig verurteilt waren. I n diesen Fällen wurde das Jahr herangezogen, i n dem der Proband nach den Karteikarten der Kriminalpolizei als Strich junge auf getreten war, und zwar wurde als Stichtag der 1. J u l i (Jahresmitte) genommen. Bei dieser Methode dürfte die Abweichung nicht größer sein, als wenn man den Tag der Verurteilung heranzieht und einige Monate abrechnet. Außerdem war dieses Verfahren nur i n wenigen Fällen erforderlich, so daß zur E r m i t t lung des wahren Alters auch bei dem Material der Sozialen Gerichtshilfe einige Monate abzuziehen sind. Das Alter der Probanden bei Verurteilung bzw. Auftreten Gerichtsakten Alter

Probanden

°/o

15 16 17 18 19 20 21 22 bis 24 28 bzw. 34

3 9 10 8 15 5 7 5 2

4,6 14,1 15,7 12,6 23,4 7,8 10,9 7,8 3,1

64

100

Diese Zahlen zeigen, daß die Strichjungen auf einen Täterkreis beschränkt bleiben, der zum größten Teil weniger als 21 Jahre zählt, 2*

20

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

höchstens aber 23—24. Der 34jährige hatte schon als 16jähriger homosexuelle Kontakte, so daß nicht auszuschließen ist, daß er auch schon damals Geld nahm und nur nicht gefaßt werden konnte, während man den 28jährigen, dem vor seinem 27. Lebensjahr kein gleichgeschlechtlicher Verkehr nachzuweisen war, als atypischen Fall bezeichnen kann. Das Durchschnittsalter bei der Verurteilung beträgt 18 Jahre und 11 Monate. SGH I Alter 15 sowie ein 14jähriger 16 17 18 19 20 21 22/23 älter (bis 28)

Probanden 16 22 28 27 33 24 16 12 8 186

°/o 8,6 11,8 15,1 14,5 17,7 12,9 8,6 6,5 4,3 100

Die 5 Probanden, die älter als 24 Jahre waren, können wiederum als Ausnahmen bezeichnet werden. Das Durchschnittsalter dieser Gruppe liegt bei 18 Jahren und 6 Monaten. Der gegenüber den Gerichtsakten um 5 Monate geringere Wert dürfte einmal daher kommen, daß einige Fälle dabei sind, i n denen nicht die Verurteilung, sondern das Auftreten maßgebend war (s. o.). Außerdem sind hier auch noch die Beobachtungszeiträume der Jahre 1954—1956 behandelt, die das Durchschnittsalter wahrscheinlich herabdrücken, denn die Tendenz geht dahin, daß zumindest die ermittelten Strichjungen i m Durchschnitt immer jünger werden, wie die nächste Tabelle zeigt. SGH I I Alter

Probanden

%

15 und jüngere, dabei 3 14jährige 16 17 18 19 20 21—24

8 9 12 15 8 9 4

12,3 13,8 18,5 23,1 12,3 13,8 6,2

65

100

II. Alter

21

Die Täter der Jahre 1959 und 1960 haben ein Durchschnittsalter von 17 Jahren und 11 Monaten. Die Tendenz, daß die Strichjungen immer jünger werden, zeigt sich nicht nur am Durchschnittsalter, sondern auch an den extremen Werten: Während der älteste i n den Gerichtsakten ermittelte Proband 34 Jahre alt war, betrug der entsprechende Wert für die Gruppe S G H I nur noch 28 Jahre. I n den Jahren 1959 und 1960 war der älteste Täter ein 24jähriger, andererseits traten drei Täter auf, die erst 14 Jahre zählten, während nur ein derartiger Fall i n dem Material S G H I vorkam. Diese Angaben finden ihre Parallele bei Redhardt 80, der für die Jahre 1950/51 bei den von i h m untersuchten Strichjungen ein Durchschnittsalter von 20 1/2 Jahren feststellte (Extremwerte 16 und 31 Jahre) und davon spricht, daß sich der Nachwuchs aus etwas jüngeren Tätern rekrutiert. K u h n 3 1 ermittelte für seine Probanden aus den Jahren 1948—1954 ein durchschnittliches Alter von 19 Jahren und 11 Monaten. Der jüngste Täter war 13 Jahre alt, der älteste 37. Es gibt keine sichere Erklärung für die Tatsache, daß die männlichen Prostituierten i m Durchschnitt ständig etwas jünger werden, jedenfalls soweit es die ermittelten Täter betrifft. Eine i m Laufe der Jahre verbesserte Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei m i t der Folge, daß die Strich jungen schon i n einem früheren Stadium ihrer Entwicklung zum ersten M a l überführt werden, ist nicht m i t Sicherheit nachzuweisen außerdem ist auch nicht gesagt, daß eine intensivere Bekämpfung eine frühere Erfassung der Täter zur Folge haben muß. M i t ihr w i r d nur die absolute Zahl der ermittelten Fälle größer, wovon das Durchschnittsalter aber unberührt bleiben dürfte. Wahrscheinlich sind die männlichen Prostituierten i m Durchschnitt wirklich jünger geworden (und nicht nur die ermittelten). Diese Erscheinung könnte m i t der beschleunigten körperlichen Entwicklung der Jugendlichen zusammenhängen, aber auch das ist nur eine nicht nachweisbare Vermutung. Zusammenfassend läßt sich über das Alter der Strichjungen folgendes sagen, und zwar gilt das, wie die vergleichbaren Zahlen bei Kuhn 82 und Redhart 33 zeigen, nicht nur für Westberlin, sondern ganz allgemein: Der Kreis der männlichen Prostituierten setzt sich m i t wenigen älteren Ausnahmen aus 15- bis 23jährigen zusammen, da nur sie vom so s . 30. 31 S. 22. 32 a . a . O .

33 a.a.O.

22

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

größten Teil der „Freier" akzeptiert werden, wobei die Strichjungen zwischen 21 und 23 Jahren einen relativ geringen Prozentsatz ausmachen. Der größte Teil ist 16—21 Jahe alt (über 80 °/o des gesamten Materials), wovon wiederum die 18- und 19jährigen den Hauptanteil stellen. Dementsprechend beträgt laut Cabanis 34 das Durchschnittsalter der i n den Jahren 1949—1963 von der Westberliner Kriminalpolizei ermittelten über 1500 Strichjungen 19 Jahre und 4 Monate, wovon die 18jährigen m i t 16 °/o die Hauptgruppe bilden. Wenn diese Zahl etwas höher ist als die hier festgestellten Durchschnittswerte, so kann das daran liegen, daß sie vielleicht aus einem anderen Grundmaterial gewonnen wurde, es kann aber auch daher kommen, daß für diese Arbeit nur wirklich geständige oder überführte Strich jungen herangezogen wurden, die i m Durchschnitt jünger sein mögen als alle wirklich existierenden, da vor allem den Älteren ihr Treiben schwer zu beweisen ist, denn sie wissen aus Erfahrung, daß sie fast immer nur durch ein Geständnis zu überführen sind 3 6 und verhalten sich bei ihrer Vernehmung entsprechend zurückhaltend. Es zeigt sich also, daß die männliche Prostitution zum allergrößten Teil von Jugendlichen oder Heranwachsenden ausgeübt wird, dabei aber weder i n den Tatbestandsmerkmalen noch i n reifungsbiologischer Hinsicht als typisches Jugenddelikt angesehen werden kann 3 6 . Für die Annahme, daß die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht oft nicht erst der Anfang einer kriminellen Karriere oder nur eine Jugendverfehlung ohne weiteres Absinken ist, sondern ein Symptom fortgeschrittener Verwahrlosung dartsellt, spricht die Zahl der Vorbestraften unter den Strich jungen, m i t denen sich der nächste Abschnitt befaßt. ΠΙ. Vorstrafen Die große Rolle, welche die Zahl der Vorstrafen bei der Beurteilung eines Täters spielt, steht außer Zweifel 3 7 . Sie geht schon daraus hervor, daß die Strafhöhe der meisten Urteile ganz entscheidend von den Vorstrafen des Verurteilten abhängt 38 . Ebenso einleuchtend ist ihre Bedeutung für eine Rückfallsprognose, w i r d doch jeder Rückfall, betrachtet man i h n rückblickend bei einer erneuten (dritten) Verurtei34 S. 153. 35 Vgl. Phillip in: Der medizinische Sachverständige 1965, S. 6. 36 Cabanis a.a.O. 37 Sauer, S. 319. 38 Schiedt, S. 42.

III. Vorstrafen

23

lung, seinerseits wiederum zu einer Vorstrafe i n bezug auf den Zeitpunkt der letzten Tat 8 9 . Wie die Kriminalstatistik zeigt, beruht die Zunahme der Kriminalität weniger darauf, daß die Zahl der erstmals Bestraften wächst, als vielmehr auf dem Umstand, daß strafbare Handlungen durch bereits Vorbestrafte begangen werden 4 0 . Die Gefahr, rückfällig zu werden, ist also wesentlich größer als die Gefahr, sich erstmals strafbar zu machen 41 , und zwar ist die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung i m nächsten Jahr bei einer i n den letzten zehn Jahren vorbestraften Person über siebenmal so groß wie bei einem i n diesem Zeitraum nicht bestraften Menschen 42 . Hier ist nicht der Platz, die Gründe für diese Tatsache ausführlich zu erörtern. Es sei nur daran erinnert, daß es neben den verschiedenen Faktoren aus Anlage und Umwelt des Täters, die seine Neigung zur Begehung von Straftaten erklären und als Vorstrafen ihren sichtbaren Niederschlag finden, auch die Tatsache der Bestrafung selbst ist, die dazu führen kann, daß ein Mensch erneut straffällig wird. Die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber einem Vorbestraften und die Hindernisse, die i h m daher i n erhöhtem Maße bei der Bewältigung des Lebenskampfes bereitet werden, können dazu führen, daß auch derjenige wieder straffällig wird, der an sich den guten Willen und die nötigen Fähigkeiten hatte, u m sich zukünftig straffrei zu führen 4 3 . So kommt der Vorstrafe neben ihrer Bedeutung als Anzeichen für eine kriminelle Bereitschaft des Verurteilten eine eigene, i n ihrem Vorhandensein selbst liegende Wirkung für einen Rückfall zu, die bestimmt nicht ganz unerheblich ist. Die Anzahl der Vorstrafen ist demnach als kriminologisches Merkmal sehr wichtig. Dabei darf man aber nie vergessen, daß ihre Bedeutung für eine Beurteilung kein absoluter Wert ist, sondern zu dem der Untersuchung zugrunde liegenden Material i n Beziehung gesetzt werden muß, wobei sich für diese Arbeit sogleich einige Einschränkungen ergeben. Es ist klar, daß die Vorstrafenzahl bei einer Untersuchung von Gewohnheitsverbrechern eine ganz andere sein wird, als wenn man ζ. B. nur Jugendliche untersucht. Dem Ausgangsmaterial entsprechend w i r d auch die Variationsbreite und damit die Aussagekraft der einzelnen Zahlen verschieden sein. s» Einzelheiten bei Hagemann HdK II, S. 993 f. 40 Hagemann a.a.O., S. 994. 41 Mezger, Kriminologie S. 222. 42 Roesner, HdK I I S. 1008. « Hagemann, HdK I I S. 996 f.

24

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

A m besten dürfte die Zahl der Bestrafungen bei den Untersuchungen zu verwerten sein, die ihre Unterlagen aus einem Täterkreis gewinnen, der möglichst wenig nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt ist, wie z.B. bei Schiedt u, denn dort sind alle Möglichkeiten vertreten und ihre Verteilung kann entsprechend gewürdigt werden. M i t zunehmender Spezialisierung des Materials w i r d i n der Regel auch die Zahl der Vorstrafen innerhalb eines bestimmten Rahmens liegen und damit für eine prognostische Auswertung von geringerer Bedeutung sein. So läßt sich ζ. B. bei Gewohnheitsverbrechern, die kraft Gesetzes eine bestimmte Zahl von Strafen aufweisen müssen (§ 20a StGB), gar nichts aus der Tatsache gewinnen, daß es keine Unvorbestraften gibt und nur wenig daraus, daß die meisten ζ. B. mehr als 6mal vorbestraft sind, während umgekehrt bei einer Erfassung von Jugendlichen der Zahl der Vorstrafen nach oben naturgemäß verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt sind. Das t r i f f t auch für diese Arbeit zu. Die ermittelten Strichjungen sind zum größten Teil Jugendliche oder Heranwachsende (s. o.). Da nur wenige Probanden älter als 24 Jahre sind und das Durchschnittsalter der Täter unter 19 Jahren liegt (s. o.), kann die Zahl der Vorstrafen, von Ausnahmen abgesehen, schon rein theoretisch nicht sehr hoch sein. Daher w i r d dieser Faktor bei einer Beurteilung nicht so wichtig sein Wie etwa bei Schiedt 46 ; andererseits ist es von Interesse, wie viele der Strichjungen bereits vor der Aufnahme ihrer Unzuchtstätigkeit oder wenigstens vor der einschlägigen Verurteilung schon wegen anderer Taten bestraft wurden und so zu erkennen geben, daß bei ihnen das Absinken i n den Kreis der männlichen Prostitution wohl Ausdruck einer bereits eingetretenen Verwahrlosung ist. Bei der Auswertung der Zahlen muß berücksichtigt werden, daß sie Mindestangaben sind, d. h. es ist nicht ausgeschlossen, daß einige Verurteilungen unberücksichtigt geblieben sind, w e i l sie aus den Akten nicht ersichtlich waren. Gerade bei den aus der Sowjetzone und Ostberlin kommenden Strich jungen war die Gewähr für eine Vollständigkeit der Angaben nicht immer gegeben. Die „Dunkelziffer" dürfte zwar nur gering sein, dennoch sollte diese Tatsache nicht unerwähnt bleiben. Da die eben erwähnte Fehlerquelle bei der tungen etwas größer geworden wäre, wurden folgenden Tabellen nicht berücksichtigt, zumal bedingt Ausdruck eines kriminellen Verhaltens 44 Siehe S. 27. 45 a.a.O.

Angabe von ÜbertreÜbertretungen i n den einige davon nicht unsind.

25

III. Vorstrafen

Als Vorstrafen wurden alle Fälle geführt, i n denen der Täter vor Gericht eines Vergehens oder Verbrechens für schuldig befunden wurde, unabhängig von der A r t der Ahndung, also auch Maßnahmen des Jugendgerichts einschließlich einer Verwarnung, die aber nur bei wenigen Probanden ausgesprochen wurde. Außerdem wurde Schwarzhandel als zeitbedingte Tat außer acht gelassen, ebenso alle Verurteilungen, die i n der Sowjetzone oder Ostberlin wegen politischer Delikte erfolgt waren. Auch die von Kriegsgerichten verhängten Strafen wurden nicht berücksichtigt, soweit es sich um Verstöße handelte, die nur ein Soldat begehen konnte, wie z. B. Fahnenflucht. Zahl der Vorstrafen Gerichtsakten Vorstrafen

Probanden

keine eine zwei drei und mehr

30 24 7 3 64

46,8 37,5 11,1 4,6 100

Gegen 34 Probanden wurden insgesamt 51 Strafen verhängt. I n 35 Fällen erfolgte (auch oder allein) eine Verurteilung wegen einfachen oder schweren Diebstahls, 9mal wegen Unterschlagung, 5mal wegen Betruges, während alle übrigen Delikte nicht mehr als 2mal vorkamen. Ein Täter war einschlägig (nach § 175 StGB) vorbestraft. Da einige Urteile wegen verschiedener Verstöße erfolgten, ist die Gesamtzahl der angeführten Vorschriften größer als die Zahl der Vorstrafen. Von den 34 Vorbestraften hatten 30 = 88,4% Vermögensdelikte (davon 29mal Diebstahl) i n ihren Vorstrafen, und zwar 29mal als erste Verurteilung. SGH I Vorstrafen keine eine zwei drei und mehr 4«

Probanden

%

95 54 24 13

51,1 29,0 12,9 7,0

186 46

Dabei je dreimal 4 bzw. 5, in zwei Fällen 6.

100

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

26

A u f 91 Täter fielen zusammen 156 Vorstrafen. Von ihnen waren 68 = 74,7 °/o wegen Diebstahl verurteilt, davon 66 beim ersten Mal. M i t den anderen Vermögensdelikten sind es 75 = 82,4 °/o, so daß nur 16 = 17,6 o/o nicht wegen einer gegen das Vermögen gerichteten Straftat verurteilt sind. Eine Aufteilung der einzelnen Delikte i n der Gruppe SGH I zeigt folgendes Bild: Vorschrift

Zahl der Verurteilungen

§§ 242, 243 StGB § 246 StGB § 249 StGB § 253 StGB § 259 StGB § 263 StGB Urkundendelikte § 223 StGB § 175 StGB Sonstiges (kein Delikt mehr als 2mal)

101 17 1 1 3 9 12 3 4 18

SGH I I Vorstrafen

Probanden

°/o

keine eine zwei drei

39 22 2 2

60,0 33,9 3,1 3,1

65

100

Die 26 Vorbestraften wurden zusammen 32mal verurteilt, davon 21mal wegen Diebstahls und 4mal wegen Unterschlagung. A l l e übrigen Delikte traten nicht mehr als 2mal auf, nach § 175 StGB war keiner vorbestraft. Unter den 26 vorbestraften Probanden sind 23 = 88,5 % wegen eines Vermögensdeliktes bestraft, davon 15 wegen Diebstahls, und zwar alle schon beim ersten Mal. Bei einer zusammenfassenden Betrachtung der drei Gruppen fällt auf, daß die Zahl der Vorbestraften etwas zurückging, nämlich von 53,2 °/o i n den Gerichtsakten und 48,9 %> i m Material SGH I auf 40,0 °/o i n den Jahren 1959/6047. Es wäre aber voreilig, daraus zu schließen, die 47

Vgl. die entsprechenden Zahlen bei Kuhn, S. 32.

III. Vorstrafen

27

Strichjungen des Jahres 1960 seien i m Durchschnitt eher besserungsfähig als die vor 10 oder 12 Jahren, weil sie weniger Vorstrafen haben. Es ist durchaus denkbar, daß die höhere Zahl der Vorstrafen bei den älteren Unterlagen m i t der damaligen wirtschaftlichen Situation zusammenhängt, die auch nicht i m eigentlichen Sinne kriminelle Elemente aus echter Not straucheln ließ, so daß die niedrigeren Zahlen der Bestraften nicht unbedingt Folge einer geringeren' charakterlichen Verwahrlosung sein müssen. Außerdem ist das Durchschnittsalter der Täter etwas niedriger geworden. Für diese Überlegung spricht auch die Tatsache, daß der Anteil der Verurteilungen wegen Diebstahls i m Verhältnis zu anderen Vermögensdelikten gesunken ist. Waren bei den Vorstrafen der aus den Gerichtsakten ermittelten 30 Probanden, die Straftaten gegen das Vermögen begangen hatten, 29 allein oder auch wegen Diebstahls bestraft, so ist das Verhältnis bei der letzten Gruppe (SGH II) nur noch 23 :15, d. h. 8 Probanden hatten nicht gestohlen, sondern betrogen oder unterschlagen. Diebstahl, besonders von Sachwerten wie Lebensmittel oder Heizmaterial, ist aber eine Tat, die eher echter materieller Not entspringt als ζ. B. Betrug, der meistens aus bloßem Gewinnstreben erfolgt und wohl nur selten auf die Erlangung von Sachen wie Kohlen oder Kartoffeln gerichtet sein wird. Der hohe Prozentsatz der Straftaten gegen das Vermögen beweist, daß für die meisten Strichjungen der Übergang von Vermögensdelikten zur Gewerbsunzucht nur ein Wechsel der M i t t e l ist, auf kriminellem Wege zu materiellem Gewinn zu gelangen 46 . Der größte Teil der Strichjungen ist zum ersten M a l wegen Diebstahls verurteilt worden, die oben genannten Zahlen sind jedoch insoweit einzuschränken, als einige Probanden schon vorher Übertretungen, wie ζ. B. Betteln und Landstreicherei, begangen hatten. Diese Übertretungen sind aber aus den oben erwähnten Gründen nicht berücksichtigt worden. Durch die A r t der Auswahl des Materials erklärt sich die geringe Zahl der einschlägigen Vorstrafen (§§ 175, 175a Nr. 4 StGB), denn fast alle Probanden sind bei ihrer ersten Verurteilung wegen eines gleichgeschlechtlichen Delikts erfaßt worden (s. o.). Vier von fünf bereits nach § 175 StGB Verurteilten haben ihre Strafen von Gerichten der Sowjetzone erhalten, darunter i n einem Fall sogar 1 Jahr Zuchthaus.

48 Vgl. demgegenüber die Straftaten der echten Homosexuellen, angeführt bei Kuhn, S. 33.

28

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen IV. Kriminelle Handlungen in strafunmündigem Alter

Die Zahl der Vorbestraften unter den Strichjungen hat gezeigt, daß viele von ihnen schon erheblich verwahrlost und kriminell belastet sind, wenn sie beginnen, der gewerbsmäßigen Unzucht nachzugehen. Die erfolgten Verurteilungen allein ergeben aber noch kein vollständiges Bild, denn dabei sind alle kriminellen Handlungen nicht berücksichtigt, die bereits i m strafunmündigen Alter begangen wurden oder die nicht zur Aburteilung kamen, weil keine Anzeige erstattet wurde. Gerade die nicht seltenen Fälle von Diebstählen i m Elternhaus oder i m Erziehungsheim fanden oft keine gerichtliche Ahndung, da es die Eltern wahrscheinlich i n den meisten Fällen vorzogen, das Verhalten ihrer Kinder nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen und auch die Heimleiter bei nicht zu schwerwiegenden Verstößen ihren Zöglingen noch eine Chance geben wollten, sich zu bewähren. Aus diesen Gründen sind die Angaben über Kriminalität i m strafunmündigen Alter i n weit größerem Maße als die bei den Vorstrafen als Mindestzahlen aufzufassen. Während dort die Zahl der Verurteilungen bis auf wenige Ausnahmen der Wirklichkeit entsprechen dürfte, kann hier der Prozentsatz der nicht erfaßten Taten unter Umständen nicht ganz unerheblich sein. Nicht mitgezählt wurden auch homosexuelle Handlungen i n strafunmündigem Alter, da sie oft nur Anzeichen einer Verführung durch Ältere 4 9 sind und daher nicht i m eigentlichen Sinn als kriminell bezeichnet werden können. Sie werden später i n dem Abschnitt über homosexuelle Kontakte vor Beginn der strafbaren Handlung behandelt werden. Kriminelle Handlungen Material Gerichtsakten SGH I SGH I I

Probanden

%

4 12 5

6,2 6,4 7,8

Es wurden nur die Fälle verwendet, bei denen einwandfrei feststeht, daß der Proband eine kriminelle Handlung beging, bevor er 14 Jahre alt war. A l l e i n i n der Gruppe SGH I gibt es 9 weitere Fälle, bei denen der gleiche Verdacht besteht, aber aus den A k t e n nicht einwandfrei nachzuweisen ist. Schon daraus w i r d ersichtlich, daß die angegebenen Zahlen wahrscheinlich erheblich hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. 4

» Dann meist Täter des § 175a Nr. 3 StGB.

V. Familienverhältnisse

29

Bei den ausgeführten Taten handelt es sich fast ausnahmslos u m Diebstähle. Das ist angesichts der großen Zahl von entsprechenden Verurteilungen nicht verwunderlich. Das Fehlen anderer Taten kann einmal damit zusammenhängen, daß andere Vergehen nicht erwähnenswert erscheinen, sowie damit, daß der Strafunmündige zur Begehung anderer Delikte wie z.B. Betrug, Urkundenfälschung oder Körperverletzung nicht die nötigen geistigen oder körperlichen Voraussetzungen mitbringt. Auffallend ist auch, daß bei den insgesamt 21 Fällen 12mal keine Vorstrafe verzeichnet ist; aus dem Fehlen einer Vorstrafe kann daher nicht immer geschlossen werden, der Proband habe sich seit frühester Jugend wenigstens insoweit einwandfrei geführt, als er keine k r i m i nelle Handlung begangen hatte. V. Familienverhältnisse Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Persönlichkeit eines Menschen entscheidend davon abhängt, i n welcher Umgebung er seine Kindheit und Jugend verbringt und welche Personen auf seine Erziehung Einfluß nehmen. Man bezeichnet diese persönlichkeitsgestaltenden Faktoren 5 0 gern mit einem zusammenfassenden Begriff als Umwelt. I n den ersten Lebensjahren ist i n der Regel ausschließlich die Familie Umwelt in diesem Sinne, später kommen in erster Linie Schule und Beruf als Erziehungsgemeinschaften 51 hinzu und bilden zusammen mit den übrigen Fällen der üblichen zwischenmenschlichen Kontakte wie ζ. B. Jugendgruppen, Sportvereine oder persönliche Freundschaften die Umwelt des Menschen. Die Bedeutung der Familie als Erziehungsgemeinschaft i m Sinne Exners 52 geht m i t zunehmendem Alter zurück, sie bleibt aber wichtig als entscheidender Faktor des privaten Lebens und als persönlichkeitsgestaltendes Moment. Die Erfahrungen, die der Mensch auf privater Ebene macht, werden sich gewöhnlich auch auf sein Verhalten nach „außen" übertragen und somit das B i l d entscheidend beeinflussen, das er als Mitglied der Gemeinschaft abgibt. Man kann daher die private Umgebung eines Menschen als seine Familienverhältnisse i m weitesten Sinne bezeichnen und insbesondere seinen Familienstand dazu zählen, der von einem gewissen Alter ab einen ersten wichtigen Hinweis auf die persönliche Lebensgestaltung des Einzelnen abgibt. Ebenso kann die eheliche oder uneheliche Geburt eines Menschen ein Anhaltspunkt für 50

Exner, Kriminologie S. 221. Vgl. Exner, a.a.O. S.223. m a.a.O. 51

30

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

seine Stellung i n der Familie bzw. das Fehlen einer echten Familie sein, jedenfalls i n seiner Kindheit und Jugend. Daher sollen als erste Merkmale der hier i m weitesten Sinne verstandenen „Familienverhältnisse" der Familienstand und die eheliche bzw. uneheliche Geburt behandelt werden und erst i m Anschluß daran die Erziehungsverhältnisse der Probanden, d. h. die Frage, wer i n den entscheidenden Jahren ihre Erziehung geleitet hat. Es ist klar, daß die Behandlung der beiden ersten Faktoren an dieser Stelle nicht systematisch zwingend bedingt, sondern eine Geschmacksfrage ist und auch an anderer Stelle hätte erfolgen können.

1. Familienstand Der Familienstand ist neben dem Geschlecht und dem Alter eines der wichtigsten persönlichen Tätermerkmale 6 3 und hat daher grundsätzlich als Verbrechensfaktor große Bedeutung. I m Gegensatz zum Alter und Geschlecht handelt es sich bei i h m nicht u m ein biologisches, sondern um ein soziales bzw. rechtliches Merkmal 6 4 . Seine Betrachtung darf aber nie isoliert erfolgen, sondern muß immer Geschlecht und Alter der Täter mitberücksichtigen. Daraus ergibt sich schon eine wesentliche Einschränkung für diese Untersuchung. Die A r t ihres „Gewerbes" und ihre damit verbundene Eigenart oder i n einigen Fällen auch Veranlagung bringt es m i t sich, daß auch die älteren männlichen Prostituierten i n der Regel nicht heiraten 6 6 . Es ist aber nicht so, daß der Strichjunge schon vom Begriff her ledig sein müßte. Immerhin fanden sich unter allen untersuchten Probanden (rund 290) fünf, die verheiratet waren 6 6 , abgesehen von denen, die schon sehr bald nach Aufgabe der gewerbsmäßigen Unzucht eine Ehe eingingen. Einer ist der schon erwähnte älteste Proband von 34 Jahren. Er war zur Zeit seiner Verurteilung i m Jahre 1948 bereits wieder geschieden. Das Datum der Eheschließung konnte nicht ermittelt werden, so daß nicht m i t Sicherheit feststeht, ob er auch während seiner Tätigkeit als Strichjunge verheiratet war. Immerhin hatte er schon m i t 16 Jahren gleichgeschlechtlichen Verkehr, war also auch kein unbeschriebenes Blatt, als er heiratete. « Roesner, HdK I S. 401. 64 Roesner, a.a.O. S. 398. 55 Womit noch nicht gesagt ist, daß sie auch nach Aufgabe ihrer Tätigkeit ledig bleiben, ββ Vgl. die entsprechenden Angaben bei Kuhn, S. 24.

V. Familienverhältnisse

31

Die übrigen vier waren zur Zeit der Eheschließung 19, 20, 21 und 22 Jahre alt 6 7 . Zwei von ihnen waren schon zur Tatzeit verheiratet, den anderen beiden konnte erst später eine Strichjungentätigkeit nachgewiesen werden; einer von ihnen hatte aber schon vorher homosexuelle Kontakte, während bei dem anderen immerhin die Möglichkeit besteht, daß seine früheren Taten nicht nachgewiesen werden konnten. Zwei der vier Probanden wurden bereits nach 1 bzw. 2 Jahren wieder geschieden. Interessant ist auch die Tatsache, daß von den fünf Tätern drei angaben, sie fühlten sich gleichgeschlechtlich veranlagt. Dieser Prozentsatz ist wesentlich größer als der bei allen Probanden ermittelte, wegen der geringen Zahl der Fälle können daraus aber weiterreichende Schlüsse nicht gezogen werden. 2. Unehelichkeit Die Kriminalität der unehelich Geborenen ist ein beliebtes Thema i n der kriminologischen Literatur 5 8 . Trotz der Vielzahl der Untersuchungen weichen die Ergebnisse sehr voneinander ab und lassen keine einheitliche Tendenz erkennen. Viele Menschen glauben, uneheliche Kinder seien besondes zu strafbaren Handlungen disponiert 59 . Gerade diese Meinung kann aber auf Grund der bisherigen Forschungen i n dieser allgemeinen Formulierung nicht als bewiesen gelten 6 0 . Die Unterschiede i n den Ansichten sind sehr groß und reichen von der Behauptung, der Anteil der Unehelichen unter den Kriminellen sei relativ doppelt so hoch wie der der Ehelichen 6 1 bis zur Feststellung, die unehelich Geborenen neigten — von den legitimierten und Angeheirateten abgesehen — eher weniger als der Durchschnitt dazu, strafbare Handlungen zu begehen 62 . A m auffallendsten ist die unterschiedliche Beurteilung der vorehelich Geborenen und später Legitimierten. Während Exner sie günstiger beurteilt, da die „allbekannten Umweltschäden" durch die spätere Legitimation größtenteils wieder aufgehoben würden 6 3 , führt Nährich 64 Vgl. die entsprechenden Angaben bei Kuhn, S. 25. «β Nährich, S. 1. 5 » Schiedt, S. 34. 60 Eine Übersicht über die verschiedenen Ergebnisse zu dieser Frage gibt Nährich, S. 3 ff. ei Tönnies, S.48. 62 So Nährich, S. 38. 63 Exner, Kriminologie S. 229. S. 43.

32

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

aus, die oft unfreiwillig geschlossene Ehe der Kindesmutter schaffe für das K i n d oft ein ungünstigeres Milieu, als es ohne die Eheschließung bestanden hätte. Die stark abweichenden Ergebnisse sind zum Teil sicher durch die Verschiedenartigkeit des Materials bedingt, das den Untersuchungen zugrunde lag, zum Teil auch durch die Schwierigkeiten der ziffernmäßigen Erfassung, denn es ist ζ. B. nicht sicher und nachweisbar, ob der feststellbare Prozentsatz der unehelich Geborenen auch i m strafmündigen Alter gleich geblieben ist 6 5 . Die Tatsache der unehelichen Geburt allein sagt noch nichts über die Familienverhältnisse und die Erziehung aus, die das K i n d genießen w i r d 6 6 , und die einen entscheidenden Einfluß auf seine Entwicklung haben werden. Seine Erziehung kann i m Einzelfall durchaus harmonisch verlaufen, obwohl der Vater i n der Regel als Erzieher ausfallen wird. Die uneheliche Geburt und damit die Wahrscheinlichkeit, ohne Vater aufwachsen zu müssen, stellt daher nur ein kriminologisches Gefährdungsmoment dar 6 7 und gibt nicht schon von vornherein die Gewißheit, daß das K i n d i n ungünstigen sozialen Verhältnissen aufwachsen wird. I n kriminalbiologischer Hinsicht kann eine stärkere Gefährdung der Unehelichen nur angenommen werden, wenn man schon aus der außerehelichen Verbindung der Eltern auf deren Minderwertigkeit schließt und daher annimmt, die Unehelichen stammten i m Durchschnitt von minder wertvollen Eltern; nach der überwiegenden Meinung 6 8 kann man diesen Schluß jedoch nicht ziehen. Daher haben schlechte Familienverhältnisse einen viel stärkeren Einfluß auf die asoziale Entwicklung als die Unehelichkeit 69 . Sie sind aber nicht m i t derselben Leichtigkeit und Sicherheit festzustellen wie diese. Die Familienverhältnisse eines Menschen setzen sich aus einem ganzen Komplex von Tatsachen zusammen, die von Außenstehenden nie ganz zu erfassen sein werden und deren ausreichende Beurteilung viel Zeit und Mühe erfordert, dabei aber immer subjektiv bleiben muß. Aus diesem Grund ist es auch viel schwieriger, ausreichendes Material zu erhalten, als bei einem rein formalen Merkmal wie der Unehelichkeit, die m i t einem Blick i n den Akten festgestellt werden kann, und deren Beliebtheit als Objekt kriminologischer Untersuchungen zum Teil auch daher rühren dürfte. 65

Vgl. Exner, Kriminologie S.228. ββ Sauer, S. 151. 67 Elster, HdK I I S. 837. es Vgl. Exner, Kriminologie S. 329; Elster, a.a.O. β» Nährich, S. 44.

V. Familienverhältnisse

33

Bei allen Widersprüchen und Unsicherheiten über die Bedeutung der unehelichen Geburt als Merkmal für eine erhöhte Neigung zur Verbrechensbegehung lassen sich aber zwei übereinstimmende Gesichtspunkte feststellen, die gerade i m Hinblick auf diese Arbeit bedeutsam sind. Die Unehelichkeit w i r k t sich besonders bei jüngeren Tätern aus 70 , wahrscheinlich, weil die negativen Wirkungen eines disharmonischen Familienlebens sich i n der Jugend stärker bemerkbar machen und später nachlassen, wenn die Erziehung des unehelich Geborenen abgeschlossen ist und er sich selbständig gemacht oder sogar seine eigene Familie gegründet hat. Für die mehrfach bestätigte Tatsache, daß der Prozentsatz der Unehelichen bei den Sittlichkeitsverbrechern relativ höher ist als bei den anderen 71 , läßt sich eine befriedigende Erklärung nicht finden, es bleibt nur die Vermutung, daß hier eventuell doch insoweit anlagebedingte Faktoren mitspielen 7 2 , obwohl eine vererbte generelle Minderwertigkeit der Unehelichen nicht m i t Sicherheit angenommen werden kann (s. o.). Da es sich bei den Strichjungen u m jüngere Sittlichkeitsverbrecher (im weitesten Sinne) handelt, sind beide Merkmale vorhanden, die für einen relativ großen A n t e i l der unehelich Geborenen sprechen. Bevor geprüft wird, ob diese Annahme durch das vorliegende Material bestätigt wird, seien noch einige vergleichende Zahlen zum Anteil der Unehelichen an der Gesamtbevölkerung bzw. anderen Verbrechergruppen genannt. Der Anteil der Unehelichen i n Deutschland, der das strafmündige Alter erreicht, w i r d von Exner auf 7 °/o geschätzt 73 . Dem entspricht ungefähr der Prozentsatz der unehelich Geborenen unter den 500 mehr als 3 Monate Freiheitsstrafe abbüßenden Probanden bei Schiedt 74, der 8 °/o angibt. Höher liegen die Zahlen der 500 Rückfallsverbrecher Schnells 75 (16 °/o) und bei den zu Tod oder Zuchthaus verurteilten 3174 Tätern Tönnies 76 (14,8 °/o). Der A n t e i l aller unehelichen Strafmündigen i n Deutschland dürfte daher i n keinem Fall viel mehr als 10 % betragen, wahrscheinlich etwas weniger 7 7 , während bei den Gruppen von Straffälligen die Höchstzahl unter 20 ·/· liegt 7 8 . 70 Nährich, S. 19. 71 Elster, a.a.O. S. 32. 72 Elster, a.a.O. 73 Kriminologie S. 228. 74 S. 34, mit weiteren Zahlen. 75 Schnell, S. 55. 7β S. 5. 77 Vgl. Schiedt, a.a.O.; Exner, a.a.O. 78 Siehe die weiteren Angaben bei Exner, Krimonologie, S. 329. 3 Klemens

34

Β. Herkunft und Entwicklung der Strich jungen

Bei der nun folgenden Aufstellung werden i m Gegensatz zu der Arbeit Nährichs die vorehelich Geborenen und später Legitimierten nicht zu den Unehelichen gezählt, da das K r i t e r i u m nicht die uneheliche Geburt, sondern der Status des Probanden zur Tatzeit sein soll. Es ist klar, daß auch auf diese Weise nicht genau erfaßt werden konnte, wo der Proband nun w i r k l i c h gelebt hat, denn es ist ja denkbar, daß ζ. B. die Heirat der Mutter und die Legitimation erst später erfolgte; der genaue Zeitraum konnte mit den vorhandenen statistischen Angaben aber nicht erf aßt werden. A u f jeden F a l l ist nicht das formale Merkmal der unehelichen Geburt entscheidend, sondern die Tatsache, daß der Nichtlegitimierte ohne männliche Erziehung oder jedenfalls nicht bei seinem leiblichen Vater aufwächst. Die unehelichen Täter Material

ehelich

°/o

unehelich

°/o

Gerichtsakten

52 81,2 davon 2 Legitimierte

12

18,8

SGH I

151 81,2 davon 5 Legitimierte

35

18,8

11

16,9

SGH I I

54

83,1

Wie diese Tabelle zeigt, liegen die Zahlen für die unehelichen unter den Strichjungen i m Vergleich zu den Angaben bei anderen Verbrechergruppen (s. o.) an der oberen Grenze der festgestellten Werte. Rechnet man die Legitimierten noch dazu, ergibt sich i n zwei Materialgruppen die absolute Höchstzahl von mehr als 20 °/o. Damit bestätigt sich bei den männlichen Prostituierten die Ansicht, daß der Prozentsatz der Unehelichen bei jüngeren Tätern sowie bie Sittlichkeitsverbrechern besonders hoch sei. Für die Meinung Nährichs 79, das unehelich geborene, aber später durch Eheschließung der Eltern legitimierte K i n d komme durch die Ehe der Eltern oft i n eine schlechtere Umgebung, scheint durch die Tatsache bestätigt zu werden, daß drei der fünf Elternpaare aus dem Material SGH I, bei denen das K i n d durch eine spätere Heirat ehelich wurde, sich nach kurzer Zeit bereits wieder scheiden ließen. Auffallend ist auch der recht erhebliche Unterschied zu den Angaben Kuhns, der nur 12,8 °/o unehelich Geborene ermittelte 8 0 . 79 S. 43. so Kuhn, S. 38.

V. Familienverhältnisse

35

Die Zahlen über die Berliner Strichjungen werden von Phillip 81 bestätigt, i n dessen Material sich 22 °/o unehelich Geborene befanden, allerdings darf dieser Aussage angesichts der geringen Zahl seiner Probanden keine allzu große Bedeutung beigemessen werden. I n diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß auch unter den Homosexuellen sehr viele Uneheliche zu finden sind. Das Fehlen des Vaters führt oft bei den Jugendlichen dazu, daß diese bei der unbewußten Suche nach einem Vaterersatz das Bedürfnis haben, sich eng an eine fremde männliche Person anzulehnen. Kommen sie dann m i t einem Homosexuellen i n Berührung, dann ist die Gefahr sehr groß, daß sie auf ein homosexuelles Verhalten fixiert werden, sich nicht mehr davon freimachen können und so selbst zu Homosexuellen werden 8 2 . Es ist daher nicht verwunderlich, daß Phillip 83 unter 139 verurteilten Homosexuellen (ohne Strichjungen) 30 = 21,6 °/o fand, die unehelich geboren waren. Auch Klimmer 84 meint, daß unter den Homosexuellen relativ viel Uneheliche seien. Bei den männlichen Prostituierten kommen somit drei Faktoren zusammen, von denen schon jeder für sich für einen verhältnismäßig hohen Anteil an unehelich Geborenen spricht: Jugendliches Alter, Begehung eines Sittlichkeitsverbrechens und Homosexualität, wobei nicht verkannt werden soll, daß die meisten Strichjungen nicht gleichgeschlechtlich fühlen, das Moment der Verführung kann aber hier zutreffen und führt dann jedenfalls dazu, daß gleichgeschlechtliche Handlungen geduldet werden. Der hohe Prozentsatz der Unehelichen unter den männlichen Prostituierten ist daher leicht zu erklären. Der Anteil der unehelich Geborenen unter den Berliner Strichjungen von 1948—1956 beträgt rund 20 °/o, wenn man die Legitimierten hinzuzählt, und liegt damit mindestens doppelt so hoch wie bei den gesamten strafmündigen Unehelichen i n Deutschland 85 . 3. Erziehungsverhältnisse Wie schon erwähnt wurde, sind die Familienverhältnisse eines Menschen einer der wichtigsten Faktoren für seine weitere Entwicklung und können daher, wenn sie erziehungswidrig sind, zur Ursache späIn: Der Medizinische Sachverständige, 1965, S. 6. 82 Kuhn, a.a.O. 83 a.a.O. S. 2. 84 S. 120. 8« Vgl. die Zahlen bei Schiedt, S.34; Exner, Kriminologie S.228; Kuhn, S. 39. 3·

36

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

terer Straffälligkeit werden 8 6 . Hinter dem Schlagwort „Familienkreis" oder „Erziehungsverhältnisse" verbirgt sich eine ganze Reihe von Tatsachen, die zum Teil konkret feststellbar sind, wie ζ. B. die erwachsenen Personen, die überhaupt i n dem Haushalt sind, dem der Proband angehört, und die daher grundsätzlich als Erzieher i n Frage kommen. Zum Teil sind sie nur einer wertenden Beurteilung zugänglich, wie die Frage, wer i n der Familie nun w i r k l i c h durch seine Erziehung die Persönlichkeit des Kindes formt; daneben gibt es auch Faktoren, die von außen i n der Regel überhaupt nicht zu prüfen sind. Dazu gehört die Frage der Zuneigung des Kindes oder des Jugendlichen zu einem Elternteil, woraus sich i n der Regel ein Hinweis auf den tatsächlichen Einfluß der betreffenden Person ergibt, denn man kann w o h l davon ausgehen, daß gewöhnlich nur dessen Erziehung auch innerlich ohne ernste Vorbehalte akzeptiert wird, dem das K i n d eine gewisse Zuneigung entgegenbringt und sich damit nicht nur äußerlich einer Autorität beugt. Das alles hat zur Folge, daß eine eingehende kriminologische Untersuchung und Bewertung der Familienverhältnisse m i t großen Schwierigkeiten verbunden ist und nie erschöpfend sein kann, vor allem, wenn eine persönliche Befragung der Probanden oder sogar ein unmittelbarer Kontakt mit den Eltern nicht möglich ist, alle Angaben vielmehr den Akten entnommen werden müssen, wie das hier der Fall war. Es wurde daher von vornherein darauf verzichtet, die Erziehung der einzelnen Probanden m i t einem zusammenfassenden Prädikat zu bewerten, wie dies bei Schiedt 87 geschehen ist. Ein solches Vorgehen verbot sich schon, w e i l nicht i n allen Fällen bewertende Aussagen über das häusliche Milieu vorhanden waren. Das Fehlen von Angaben spricht zwar i n der Regel für ein normales, d. h. halbwegs geordnetes und harmonisches Familienleben, kann aber auch andere Gründe haben. Eine allgemeine Bewertung wäre somit möglicherweise die Quelle vieler Fehler geworden und wurde deshalb unterlassen. Eine für alle Probanden durchführbare Untersuchung der Erziehungsverhältnisse mußte aus diesen Gründen i m wesentlichen auf äußere Angaben beschränkt bleiben, wie etwa Heimerziehung, Wegfall oder Wechsel der Erziehungspersonen und Scheidung der Eltern. Solche negativen Tatsachen werden regelmäßig den Schluß auf eine gestörte Erziehung zulassen, es ist aber durchaus denkbar, daß diese i m Einzelfall trotzdem harmonisch verläuft. Auch dieser Gesichtspunkt verbot eine Einteilung der Erziehungsverhältnisse i n gute und schlechte. 86 87

Exner, Kriminologie S. 224. S. 35.

V. Familienverhältnisse

37

Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände wurden folgende Merkmale ermittelt, die sich teilweise überschneiden oder ergänzen, aber zusammengenommen einen Überblick über die äußeren Erziehungsverhältnisse geben: 1. Ort der Erziehung (privater Haushalt oder Erziehungsheim) 2. Person der Erzieher (Fehlen eines oder beider Elternteile als Erzieher) 3. Wechsel oder späterer Wegfall einzelner Erziehungspersonen (ohne Berücksichtigung der Gründe) 4. Scheidung der Eltern 5. Hinweise auf Minderwertigkeit eines oder beider Elternteile (als einziges nicht rein äußeres Merkmal) Zum Schluß wurden alle Fälle zusammengestellt, i n denen sich aus den Punkten 1.—5. irgendwelche negativen Merkmale ergeben hatten, einschließlich der schon vorher behandelten unehelichen Probanden. Ihnen wurden alle die Strichjungen gegenübergestellt, über deren Erziehung keine negativen Angaben vorhanden waren, d. h. alle, die ehelich geboren und von beiden Eltern erzogen wurden, ohne daß über diese Nachteiliges bekannt wäre. Bei der Durchsicht der einzelnen Punkte mag auffallen, daß die Verwaisung der Probanden, der Kerscher 88 eine ganze Arbeit gewidmet hat, nicht als gesondertes Merkmal aufgeführt ist. Sie ist i n den unter 2. und 3. bezeichneten Angaben mitenthalten. Ihre gesonderte Betrachtung erschien entbehrlich und wäre auch i m Sinne der Definition Kerschers 89, nämlich als Verlust eines oder beider leiblichen Elternteile vor dem 16. Lebensjahr, nicht immer nachzuweisen, da Berichte über das Leben der unehelichen Väter nur sehr selten vorhanden waren. Außerdem sagt sie väterlicherseits gerade bei den unehelichen Kindern nichts über den Wegfall einer erziehungsberechtigten Person aus, da i m allgemeinen der uneheliche Vater nicht an der Erziehung des Kindes beteiligt ist. Stichtag für die untersuchten Merkmale ist die Vollendung des 16. Lebensjahres, soweit nicht ausdrücklich auf ein anderes Alter hingewiesen wird. Bei dieser Abgrenzung sind die Jahre der Pubertät noch miteinbezogen, i n denen der Jugendliche die führende elterliche Hand besonders nötig hat, da die Diskontinuität und Labilität seines Gefühlslebens eine sorgfältige und verständnisvolle Führung verlangen 90 . es Krim. Abhandlungen, Heft 29. 89 a.a.O. S. 7. oo Schnell, S. 56.

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

38

Andererseits verliert die Familie etwa u m diese Zeit für den jungen Menschen etwas von ihrer bis dahin dominierenden Bedeutung, da er gewöhnlich zu diesem Zeitpunkt ins Berufsleben eintritt und infolgedessen den größten Teil des Tages anderen Einflüssen ausgesetzt ist, wenn er nicht sogar ganz aus seinem Elternhaus wegzieht 91 . Da die Angaben i n den Gerichtsakten i m allgemeinen lückenhafter waren als die der übrigen Unterlagen und viele dieser Fälle auch i n dem Material SGH I enthalten sind, wurde darauf verzichtet, die Gerichtsakten i n allen genannten Punkten auszuwerten. Gerichtsakten Merkmal Heimkinder davon überwiegend im Heim längere Zeit nach dem 10. Jahr; auch über 16 Jahre hinaus vorübergehend (mindestens mehrere Monate) vom 6. Lebensjahr ab praktisch immer von beiden Eltern erzogen, in 3 Fällen von Pflegeeltern Vater fehlt vom 6. Jahr ab (davon mit Stiefvater) Mutter fehlt, Stiefmutter beide Eltern fehlen

Probanden

%

18 (4)

28,2 (7,8)

(9)

(6,3)

(5)

(14,1)

31 24 (7) 2 7

48,3 37,5 (11,1) 3,1 11,1

64

100

Die Erziehung durch Großeltern wurde i n dieser Tabelle nicht berücksichtigt. Bei den Jahresangaben handelt es sich selbstverständlich nicht u m exakte Zahlen, sondern teilweise um Näherungswerte, d.h. i n Fällen, wo die bestimmte „Personenkombination" ζ. B. erst m i t dem siebenten Jahr begann oder schon m i t 15 Jahren aufhörte, wurde diese auch i n die Tabelle übernommen. Es war natürlicherweise unmöglich, die Mannigfaltigkeit dieser Lebensvorgänge i n aller Genauigkeit tabellarisch wiederzugeben. Soweit es darum ging, einen Probanden einer bestimmten Rubrik zuzuordnen, stand also i n einigen Fällen ein Beurteilungsspielraum offen. 91

Kerscher,

S. 7.

39

V. Familienverhltnisse SGH I Merkmal Heimkinder davon praktisch immer im Heim längere Zeit**, 8 schon früh vorübergehend ohne Angaben „Rest" (keine Heimkinder) Praktisch immer von Eltern erzogen, in 7 Fällen von Pflegeeltern Vater fehlt vom 6. Jahr an (davon mit Stiefvater) Mutter fehlt vom 6. Jahr an beide Eltern fehlen (davon vorübergehend in Pflegestelle bzw. bei Großeltern) keine Angaben

Probanden

%

58

31,2

(3) (42) (13) 7 121

(1,6) (22,6) (7,0) 3,8 65,0

186

100

03 50 (13) 8 27

50,0 26,9 (7,0) 4,3 14,5

(6) (6) 8

(3,2) (3,2) 4,3

186

100

Auch hier gab es zahlreiche Grenzfälle, die eingeordnet werden mußten. I n einem einzigen Fall (der i n der ersten Spalte geführt wird) hüteten Vater und Stiefmutter die Erziehung. Starb der Vater nach dem 12. Lebensjahr, wurdé der Proband auch noch m die erste Spalte eingereiht. Normalerweise wurde die nur wenige Jahre dauernde Kriegsteilnahme der Väter nicht berücksichtigt. I n einem Fall aber (Nr. 167), wo der Vater vom 5. bis zum 14. Lebensjahr des Probanden i m Krieg und Gefangenschaft war, wurde er als abwesend geführt. SGH I

:

Merkmal Eltern geschieden (auch nach dem 16. Lebensjahr des Probanden) Hinweise auf Minderwertigkeit eines Elternteils (davon die Mutter) (beide) Wechsel oder Wegfall einer Erziehungsperson 92



"

Einzelheiten_siehe. bei ^Gertchtsakteii".

^

Probanden

°/o

41

22,0

30 (11) (4)

16,1 (5,9) (2,1)

89

47,1

40

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

I n die letzte Spalte wurden u. a. alle Fälle aufgenommen, i n denen der Vater i m Krieg fiel, die Eltern geschieden wurden oder ein Stiefvater hinzukam bzw. wegfiel, nicht aber automatisch die Fälle unehelicher Geburt, da sie nichts über einen Wechsel i n der Person der Erzieher aussagen. Als minderwertig wurde ein Elternteil nur bezeichnet, wenn Berichte über Vorstrafen, Geisteskrankheiten und Trunksucht vorlagen; bei Bezeichnungen wie „verlogen", „egoistisch" oder „jähzornig" wurde noch keine Minderwertigkeit i n diesem Sinne angenommen. Nach Prüfung aller Merkmale blieben schließlich noch 60 Probanden = 32,2% übrig, bei denen keine Hinweise auf eine gestörte Erziehung vorlagen, d. h. die bis zum 16. Lebensjahr von ihren leiblichen Eltern erzogen wurden, von denen nichts Nachteiliges bekannt war. Bei allen anderen waren irgendwelche negativen Angaben vorhanden, die mindestens äußerlich für ein gestörtes Familienleben sprechen, wobei noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen wird, daß vielleicht i m einzelnen Fall die Erziehung durchaus harmonisch verlaufen ist, obw o h l z.B. ein Elternteil fehlte. SGH I I Merkmal Heimkinder (davon immer im Heim längere Zeit, 5 schon früh vorübergehend) keine Angaben „Rest" (keine Heimkinder) Praktisch immer von Eltern erzogen, in 3 Fällen von Pflegeeltern Vater fehlt vom 6. Lebensjahr ab (davon mit Stiefvater) Mutter fehlt vom 6. Lebensjahr an (davon mit Stièfmutter) beide fehlen keine Angaben

Probanden

•/β

25 (2) (20) (3) 3 37

38,5 (3,1) (30,8) (4,6) 4,6 56,9

65

100

25

38,5

28 (8)

43,0 (12,4)

5 (4) 4 3

7,7 (6,2) 6,2 4,6

65 Eltern geschieden, auch nach dem 16. Lebensjahr negative Angaben über die Mutter Wechsel oder Wegfall einer Erziehungsperson

100

13

20,0

4

6,2

44

67,7

V. Familienverhältnisse

41

Von allen Probanden gab es nur bei 16 = 24,5 °/o keine negativen Angaben, bei den übrigen war die Erziehung mindestens „äußerlich gestört". Auffallend i m Vergleich zur Gruppe SGH I ist, daß i n keinem Fall ein Hinweis auf die Minderwertigkeit des Vaters vorlag. Das dürfte aber zum Teil daran liegen, daß i n dem verhältnismäßig hohen Prozentsatz der Probanden, die ohne Vater aufwuchsen (43 °/o, aber nur 27 °/o i m Material SGH I), wahrscheinlich auch die minderwertigen Väter enthalten sind, über die aber nichts gesagt werden konnte, weil sie Mutter und K i n d verlassen bzw. sitzengelassen hatten. I n wie hohem Maße die Erziehung der Strichjungen mangelhaft war, geht vielleicht am besten aus den Zahlen über die Heimkinder hervor. I m Gegensatz zu den meisten anderen negativen Angaben kann man hierbei wohl fast ohne Ausnahme davon ausgehen, daß die i n ein Heim eingewiesenen Probanden keine ausreichende Erziehung genossen haben, setzt doch die Heimeinweisung geradezu eine durch mangelhafte Erziehung hervorgerufene Verwahrlosung voraus. Zwar konnten keine verläßlichen Vergleichszahlen für den allgemeinen Prozentsatz an Heimkindern i n Deutschland oder Berlin ermittelt werden, es erscheint aber als sicher, daß die angeführten Zahlen von 28, 31 und 38 % um ein Vielfaches über dem allgemeinen Durchschnitt liegen. Der höhere Anteil an Heimkindern i n dem Material SGH I I muß angesichts der relativ geringen Zahl der Probanden dieser Gruppe nicht unbedingt als symptomatisch angesehen werden, man kann nur vermuten, daß er eventuell m i t der Verbesserung und Vergrößerung der sozialen Einrichtungen zusammenhängt, d.h. daß die Möglichkeit und Bereitschaft des Staates gestiegen ist, dem gefährdeten K i n d einen Heimplatz zuzuweisen. Bei den Heimkindern kann man i m wesentlichen zwei Gruppen unterscheiden, wobei die Ubergänge natürlich fließend sind, so daß eine tabellarische Erfassung nicht angebracht war. Die kleinere besteht aus den Strich jungen, die schon i n den ersten Lebensjahren i n ein Heim kamen, weil es niemanden gab, der sich um ihre Erziehung kümmerte, z.B. wenn die uneheliche Mutter ihr K i n d nicht behalten wollte. Die weitaus größere Gruppe bilden aber die Probanden, die zwar i n einem Haushalt aufwuchsen, bei denen sich aber besonders in den Pubertätsjahren die i n irgendeiner Hinsicht unzureichende Erziehung so stark bemerkbar macht, daß sie von dem Erziehungsberechtigten nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können und daher i n ein Heim müssen. Dies geschieht oft audi i m Interesse der Allgemeinheit, denn von einem gewissen Alter an macht sich eine verfehlte

Β. Herkunft und Entwicklung der Strichjungen

42

Erziehung i n stärkerem Maße nach außen h i n bemerkbar und kommt durch Herumstreunen, Betteln und kleine Diebstähle zum Ausdruck. Daß die fehlende Kontinuität der Erziehung, die bei einem Großteil der Probanden festgestellt wurde, von Ausnahmen abgesehen, einen schwerwiegenden Erziehungsmangel darstellt, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung 9 3 . Der wesentlich höhere Anteil dieser Fälle i n den Unterlagen SGH I I (67 °/o gegenüber 47 °/o) kann nur registriert, aber nicht befriedigend erklärt werden. Unter wie ungünstigen Verhältnissen viele Strichjungen aufwachsen mußten, ergibt sich auch daraus, daß nur rund die Hälfte von ihnen von beiden Eltern erzogen wurden. I n der Gruppe SGH I I waren es sogar nur ungefähr 40 °/o. Eine zufriedenstellende Erklärung dafür ließ sich nicht finden, wegen der geringen Zahl der Probanden sind die Angaben für die Jahre 1959/60 auch besonders vorsichtig zu bewerten. Die Unvollständigkeit der Familien, die für so viele Strichjungen kennzeichnend ist, beruht auf der unehelichen Geburt, dem Tod eines Elternteils oder der Scheidung der Eltern. Die Durchschnittsziffern dieser drei Komponenten für die Gesamtbevölkerung sind für die Unehelichkeit 7—10 °/o94, für die Verwaisung i m Jahre 1937 rund 16 °/o95 und für die sogenannten Ehescheidungswaisen desselben Jahres ungefähr 1,1 einen erfolgreichen Lehrabschluß aufzuweisen 276 . Auch hier standen sich also die beiden Alternativen i n einem ungünstigen Zahlenverhältnis gegenüber. Wie sich gezeigt hat, gibt es kein Merkmal, bei dem der Unterschied i n den Rückfallssätzen seiner Alternativen mehr als 20 °/o beträgt und nur wenige, bei denen er wenigstens so groß ist, daß man i h m noch einen gewissen prognostischen Wert beimessen kann. Der Grund für diese auf den ersten Blick so verblüffende Tatsache, daß das Punkteverfahren hier u m so viel weniger brauchbar ist als bei anderen vergleichbaren Untersuchungen w i r d sofort klar, wenn man die einzelnen Verbrechermassen betrachtet, an denen die Möglichkeiten einer objektiven Rückfallsprognose geprüft worden sind. Bei einigen Autoren 2 7 7 besteht das Untersuchungsmaterial aus Tätern aller Delikte; die Probanden sind nicht danach ausgewählt, ob sie einem bestimmten Verbrechertyp angehören oder die gleichen Taten begangen haben, sondern lediglich nach allgemeinen Kriterien, wie ζ. B. dem Zeitpunkt ihrer Entlassung. Dort steht der debile Notzüchter neben dem hochintelligenten Betrüger, der unverbesserliche Rückfalldieb neben dem fahrlässigen Verkehrssünder, bei dem die Rückfallsgefahr sehr gering ist, der ältere Urkundenfälscher neben dem jugendlichen Totschläger. Da die Täter so verschieden sind, gibt es für die meisten Merkmale die verschiedensten Möglichkeiten und Alternativen; das Alter schwankt z.B. zwischen 25 und 70 Jahren, die Zahl der Vorstrafen zwischen 0 und 20; die Täter haben eine ganz unterschiedliche Erziehung genossen und stammen aus den verschiedensten Berufen. Es ist klar, daß bei einer solchen Variationsbreite einem einzelnen Merkmal ein größerer prognostischer Wert zukommt als bei einem Material, das schon nach speziellen Gesichtspunkten ausgesucht ist. Es erscheint einleuchtend, daß von 500 Tätern, die aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen kommen, keiner einheitlichen Altersgruppe angehören und auch von der A r t des begangenen Delikts her nichts gemeinsam haben, eher einem Teil eine einigermaßen sichere Prognose zu stellen ist, als wenn es sich u m Probanden handelt, die alle einem bestimmten Tätertyp angehören. 27β Der Rest waren (noch) Lehrlinge und Schüler. 277 ζ. B. bei Meywerk und Schiedt.

II. Die Rückfallsprognose bei den männlichen P r o s t i t u i e r t e n 1 1 1 Hier handelt es sich aber gerade u m eine solche speziell ausgewählte Verbrechermasse m i t vielen gemeinsamen Merkmalen. Die Strichjungen stellen schon i n ihrer Gesamtheit eine negative Auslese dar, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, daß sie aus jüngeren Tätern besteht, die i m Durchschnitt eine bestimmte Schulbildung nicht übersteigen, deren Erziehung meist nicht i n geordneten Bahnen verlief und die i m Berufsleben fast ausnahmslos versagt haben. Es ist klar, daß ein sonst so wesentlicher Faktor wie die Frage des beruflichen Erfolges dann als Unterscheidungsmerkmal praktisch ausscheidet, wenn der ganz überwiegende Teil der Probanden zu den beruflichen „Versagern" gehört, also von Ausnahmen abgesehen gar keine Alternative besteht. Ähnlich ist es bei den Schulleistungen, da es kaum gute Schüler unter den Strichjungen gab. Aus diesen Gründen ist die Durchführung eines Punkteverfahrens mit der Aufstellung einer Erfahrungstafel bei den männlichen Prostituierten wenig erfolgversprechend. Es ist allerdings nicht so, daß alle die negativen Merkmale, die die Mehrzahl der Strich jungen auf weist, damit unter den Tisch gefallen wären. Sie kommen darin zum Ausdruck, daß der allgemeine Rückfallsatz bei den Strichjungen m i t 67,7 °/o viel höher ist als bei einer nichthomogenen Verbrechermasse, bei der er rund 50 °/o ausmacht 278 . Der einzelne Strichjunge ist dadurch gewissermaßen „vorprognostiziert", daß von i h m feststeht, daß er einer Verbrechergruppe angehört, die einen erhöhten durchschnittlichen Rückfallssatz aufweist. Die Häufung der negativen Faktoren bei dem Gesamtmaterial hat zu dem hohen allgemeinen Rückfallsanteil beigetragen, gleichzeitig sind diese Merkmale damit aber für die Gewinnung einer objektiven Prognose innerhalb bzw. aus dieser Gruppe weitgehend unbrauchbar geworden. Je spezieller eine Gruppe ausgesucht ist, d.h. je mehr bestimmte Merkmale auf alle Probanden zutreffen müssen, desto geringer ist die Möglichkeit, aus diesem Material eine Erfahrungstafel zu bilden, da die Zahl der noch verwertbaren Faktoren immer kleiner wird. Diejenige Verbrechermasse ist also am besten für die Aufstellung einer objektiven Prognosetafel geeignet, die am wenigsten ausgesucht ist. Da die Strichjungen eine sehr spezielle Gruppe bilden, ist dies Verfahren bei ihnen weniger geeignet. Das zeigte der nach den vorangegangenen Ausführungen beinahe überflüssige Versuch, m i t den wenigen noch bedingt brauchbaren Merkmalen eine Erfahrungstafel aufzustellen 279 . Er ergab, daß auch von den 30 Probanden, die keinen 278 siehe Schwaab, S.23; Schiedt, S. 30. 279 Es blieben nur vier Punkte; das soll noch eventuell zur Aufstellung einer Erfahrungstafel reichen; vgl. Exner Mon.Krim.Biol. 28, S. 230.

112

D. Versuch einer Rückfallsprognose

Schlechtpunkt aufwiesen, 53,3 °/o rückfällig wurden und von den 30 Tätern, die drei und vier Punkte hatten, 83,3 %. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die allgemein als Rückfallsfaktoren anerkannten Merkmale Psychopathie und Trunksucht hier fehlen, da insoweit keine sicheren Angaben vorhanden waren, dürfte es doch sicher sein, daß auch m i t ihnen die Tabelle nicht so vervollständigt werden könnte, daß sie praktisch brauchbar wäre. Damit kann die am Anfang dieses Abschnittes gestellte Frage zusammenfassend beantwortet werden: Die Aufstellung einer Erfahrungstafel als Grundlage für eine objektive Rückfallsprognose ist für die Gruppe der männlichen Prostituierten nicht möglich, da es nicht genügend Merkmale gibt, die innerhalb dieser Masse eindeutig für eine erhöhte Rückfallswahrscheinlichkeit sprechen. Die individuelle Beurteilung des künftigen Verhaltens eines Strichjungen kann sich daher weniger als bei anderen Tätern nach objektiven Anhaltspunkten richten, insbesondere haben sonst so wichtige Merkmale wie schlechte Erziehungsverhältnisse, Mißerfolg i n der Schule und berufliches Versagen keinen oder nur einen verhältnismäßig geringen prognostischen Wert.

E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse M i t den Ausführungen über die soziale Prognose sind die Untersuchungen über die Berliner Strichjungen i m wesentlichen abgeschlossen, soweit sie auf den Angaben beruhen, die aus den Gerichtsakten und den Unterlagen der Sozialen Gerichtshilfe zu entnehmen waren. Bevor die wichtigsten Ergebnisse noch einmal i n wenigen Sätzen zusammengefaßt werden, soll festgestellt werden, ob und welche Unterschiede zwischen den männlichen Prostituierten bestehen, die i n den Gerichtsakten und i n dem Material SGH I erwähnt sind und denjenigen, welche einige Jahre später der gleichgeschlechtlichen Unzucht nachgingen und i n den Unterlagen erscheinen, die als SGH I I bezeichnet wurden. Dabei handelt es sich weniger darum, irgendwelche Vergleichszahlen einander gegenüberzustellen, es geht vielmehr darum, i n einer Gesamtbetrachtung bestimmte Unterschiede sichtbar zu machen, die zwar nicht unbedingt i n abweichenden Prozentsätzen zum Ausdruck kommen, aber doch zeigen, daß sich die Struktur der Strichjungen — insgesamt gesehen — i n bezug auf gewisse Merkmale verändert hat. Die deutlichsten Veränderungen sind da festzustellen, wo w i r t schaftliche Faktoren eine Holle spielen. Früher kam ein großer Teil der Strichjungen aus der Sowjetzone nach Berlin; i n den Jahren 1959/60 waren es nur noch wenige. Das mag damit zusammenhängen, daß es damals leichter war, sich von „drüben" abzusetzen, sicher war es auch bedeutsam, daß auch dort die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr so schlecht waren wie noch acht oder zehn Jahre zuvor. I n den ersten Jahren nach der Währungsreform war noch sehr oft der Typ des Strichjungen anzutreffen, der seine Eltern und (oder) seine Arbeitsstelle i n der Zone verlassen hatte, ganz allein nach Berlin kam, sich hier ohne Geld arbeits- und obdachlos herumtrieb und sich bei der ersten Gelegenheit der männlichen Prostitution zuwandte, von deren Bestehen er i n manchen Fällen vorher noch nichts gewußt hatte. Ganz charakteristisch für diese Jugendlichen sind diejenigen, welche zum Bergbau, meist nach Aue, eingezogen wurden und von dort mittellos nach Westberlin flüchteten. Bei ihnen ist zumindest nicht 8 Klemens

114

E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

auszuschließen, daß es nach ihrer A n k u n f t i n Berlin teilweise echte Not war, die sie zur männlichen Prostitution trieb. Aber auch die aus Berlin stammenden Probanden standen damals oft i n einer ähnlichen Situation, d. h. ihre äußere Verwahrlosung war i m Durchschnitt stärker als bei den Strichjungen der Jahre 1959/60. Zwar hatten auch bei diesen die meisten insoweit keine ordnungsgemäße oder normale Erziehung genossen, als eine Erziehungsperson fehlte (bei unehelichen Kindern) oder später wegfiel (durch Kriegsgefangenschaft, Tod oder Scheidung), viele waren auch vorübergehend i n Heimen untergebracht; dennoch gab es bei den wenigsten konkrete Hinweise, daß die häuslichen Verhältnisse so schlecht waren, daß der Proband — freiwillig oder unfreiwillig — den elterlichen Haushalt verließ und ganz auf sich gestellt war. Dafür, daß der äußerliche Verwahrlosungsprozeß bei den Strichjungen, die aus den älteren A k t e n ermittelt wurden, i m Durchschnitt schon weiter fortgeschritten war, bevor sie sich der männlichen Prostitution zuwandten, als bei den anderen, sprechen noch mehr Tatsachen. Sie hatten mehr Vorstrafen und waren auch durchschnittlich älter, dafür gab es bei ihnen weniger, die selbst an gleichgeschlechtlichen Handlungen Gefallen fanden. Bei ihnen w a r es also die bereits eingetretene Verwahrlosung, an der sie nicht immer allein die Schuld hatten, die sie schließlich zu Strichjungen werden ließ. Demgegenüber fanden die i n den späteren Jahren aufgetretenen Täter meist ohne längere „Umwege" aus einem halbwegs geregelten Leben direkt zur männlichen Prostitution. Sie hatten nicht so sehr unter den Nachkriegsverhältnissen zu leiden, das Leben ihrer Eltern und damit auch ihr eigenes verlief i n geordneten Bahnen. Es waren also weniger äußere Einflüsse, die sie straucheln ließen, als vielmehr innere Charakterzüge wie Arbeitsscheu und Gewinnsucht. Daß es auch bei den „älteren Jahrgängen" letztlich diese Eigenschaften waren, die zum Versagen führten, ist klar, denn ein gefestigter Charakter w i r d sich auch gegen schlechte Umwelteinflüsse behaupten können. Bei ihnen kamen aber noch die ungünstigen äußeren Verhältnisse hinzu, während die anderen günstige äußere Bedingungen vorfanden und dennoch versagten. Selbstverständlich gelten diese Unterschiede nur für den Durchschnitt, sie kennzeichnen nur den allgemeinen Trend, und es ist klar, daß es Einzelfälle geben kann, wo es genau umgekehrt var. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, daß das Strichjungenwesen nicht von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage abhängig ist und nicht etwa zu Notzeiten i n besonderer Blüte steht, sondern nur seine Formen wechselt.

E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Ohne daß dafür zahlenmäßige Unterlagen vorhanden wären, kann auf Grund dieser Entwicklung vermutet werden, daß die Zahl der sogenannten „Edelstrichjungen" i m Steigen begriffen ist und noch zunehmen wird, ebenso wie sich die Anbahnungsorte für homosexuelle Handlungen immer mehr von der Straße auf bestimmte Lokale verlagert haben. Die vorangehenden Abschnitte haben gezeigt, welche kriminologisch bedeutsamen Merkmale die Gesamtheit der männlichen Prostituierten auszeichnen, wie hoch der Prozentsatz der Rückfälligkeit ist und wie es u m die Möglichkeit einer objektiven Rückfallsprognose bestellt ist. Z u m Schluß seien noch einmal die wichtigsten Ergebnisse daraus i n wenigen Worten zusammengefaßt. 1. Die Strichjungen sind jugendliche Kriminelle, deren Entwicklung i n hohem Maße gestört ist und die insofern als eine negative Auslese bezeichnet werden können. Besonders die Leistungen i n der Schule und i m Beruf sowie die Erziehungsverhältnisse waren i m Durchschnitt wesentlich schlechter als bei vergleichbaren Gruppen, die sich aus Tätern aller Delikte zusammensetzten. 2. Mehr als zwei D r i t t e l aller Probanden — genau 67,7 °/o — wurden nach ihrer Ermittlung bzw. Verurteilung als Strich junge wieder rückfällig. Nur wenige entwickelten sich aber zu Berufs- oder Gewohnheitsverbrechern; es überwogen die Täter, die nur h i n und wieder leichtere Vermögensdelikte begingen. Die m i t Abstand häufigste Tat, die von den männlichen Prostituierten vor, während und nach der Ausübung ihres „Gewerbes" begangen wurde, war Diebstahl. Demgegenüber war die Zahl der festgestellten Erpressungen nur gering. 3. Die Voraussage des künftigen kriminellen Verhaltens eines Strichjimgen kann weniger als bei anderen Rechtsbrechern auf die Heranziehung objektiver Merkmale gestützt werden.

Anhang

Die von männlichen Prostituierten begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikte Die Tatsache, daß die bisher untersuchten männlichen Prostituierten nur i n ganz wenigen Fällen wirkliche Schwerverbrechen wie Raub, Mord und Totschlag begingen, darf nicht zu der Annahme verleiten, diese Delikte seien auch von der absoluten Zahl ihrer Begehung her so unbedeutend. Man muß vielmehr berücksichtigen, daß die Probanden, deren Uberprüfung die Grundlage dieser Untersuchung bildete, nur einen Teil aller Strichjungen darstellen, die i n den entsprechenden Jahren i n Westberlin auftraten. Daher spiegeln die bisher gewonnenen Ergebnisse nur den verhältnismäßigen Anteil der einzelnen Taten wider, geben aber keine Auskunft darüber, wie viele dieser schweren Delikte i n einem bestimmten Zeitraum insgesamt von Strichjungen begangen wurden. U m auch zu dieser Frage einen kleinen Beitrag zu leisten, war es erforderlich, von einem neuen Material auszugehen, da die bisher benutzten Unterlagen 2 8 0 nur einen Teil aller männlichen Prostituierten erfaßten. Es mußte der umgekehrte Weg wie bisher eingeschlagen werden, d. h. es galt nicht, eine bestimmte Zahl von Strichjungen auf gewisse Merkmale h i n zu untersuchen, vielmehr mußten alle Fälle eines Delikts daraufhin geprüft werden, wie oft männliche Prostituierte als Täter daran beteiligt waren. Es lag nahe, diese Untersuchung anhand der Mord- und Totschlagsfälle durchzuführen, nicht nur, w e i l diese besonders schwere Verbrechen darstellen, sondern auch aus der praktischen Erwägung heraus, daß bei der Berliner Staatsanwaltschaft eine einzige Abteilung damit befaßt ist, so daß der Arbeitsaufwand i n bezug auf das Ergebnis nicht ganz unverhältnismäßig groß war. Die hierzu erforderlichen Unterlagen wurden auf folgende Weise gewonnen: Aus den Registern der Staatsanwaltschaft wurden sämtliche Fälle ermittelt, i n denen während der Jahre 1959—63 Anklage wegen Mor2so „Gerichtsakten", SGH I. SGH II.

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des oder Totschlags erhoben worden war. Dieser späte Zeitraum wurde gewählt, weil für die früheren Jahre die Zahl der Täter, deren Akten nicht mehr zu beschaffen waren, immer größer wurde. Von den so gefundenen Fällen mußten nun noch diejenigen ausgeschieden werden, i n denen Frauen angeklagt worden waren. Es blieben schließlich 91 übrig 2 8 1 , davon konnten 79 aktenmäßig ermittelt und ausgewertet werden. Diese meist recht umfangreichen Unterlagen wurden daraufhin geprüft, ob die Taten ihren Ursprung i m homosexuellen Milieu hatten, vor allen Dingen, ob der Täter ein Strichjunge und das Opfer ein Homosexueller war. Ihre Auswertung erbrachte die folgenden Ergebnisse. 66 Täter wurden i n der Hauptverhandlung überführt 2 8 2 einen (versuchten) Mord oder Totschlag begangen zu haben, bei den übrigen konnte der i n der Anklage erhobene Vorwurf nicht bewiesen werden. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen, der Rest wegen anderer Delikte 2 8 3 verurteilt. Die 66 Probanden, die nun noch für eine Untersuchung i n Frage kamen, hatten folgende Taten begangen: Tat vollendeter versuchter vollendeter versuchter

Mord Mord Totschlag Totschlag

Zahl der Probanden 21 17 11 17

Bei 56 von ihnen fanden sich i n den Lebensläufen keinerlei Hinweise auf eine gleichgeschlechtliche Betätigung, ebensowenig waren bei ihren Opfern Anzeichen einer homosexuellen Veranlagung festzustellen 2 8 4 . Die 10 Fälle, i n denen der Täter oder das Opfer homosexuelle Erfahrungen hatten, sollen jetzt i n Stichworten skizziert werden. Fall 1: Einziger Hinweis: homosexuelles Erlebnis m i t 12 Jahren; ermordete Schwägerin und erhielt lebenslänglich Zuchthaus. sei Einschließlich der Anklagen, die nur auf versuchten Mord oder Totschlag lauteten. 282 Nicht alle wurden als schuldig verurteilt, da in einigen Fällen Unzurechnungsfähigkeit angenommen wurde. 283 Und zwar wegen Verstoßes gegen §§ 223a, 226, 240, 251, 315a a.F., 330a StGB. 284 Soweit es überhaupt Männer waren.

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Fall 2: Hinweis: Trieb sich nach Abbruch der Fleischerlehre herum, bekam anscheinend auch Kontakt zu homosexuellen Kreisen. Wollte Eltern erschlagen, kam daraufhin nach Wittenau (§51 StGB). Fall 3: Debiler Hilfsschüler; kam mit 17 Jahren zum Stuttgarter Platz und dort mit Homosexuellen i n Berührung; Anklage wegen Mordversuchs an Frau, die i h n beim Diebstahl überraschte; Freispruch wegen § 51 Abs. 1 StGB. Fall 4: Keine eindeutigen Hinweise, daß der Täter selbst der gewerbsmäßigen Unzucht nachging; verkehrte aber m i t männlichen Prostituierten 2 8 5 ; verriet Strichjungen, der einen Mord begangen hatte und früher sein Komplice bei Diebstählen war; erhielt daraufhin Belohnung; mehrfach vorbestraft; fuhr mit gestohlenem P K W auf Polizisten los; wurde wegen dieser und anderer Taten zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Fall 5: Keine Hinweise auf gleichgeschlechtliche Erfahrungen des verheirateten Täters; ging aber m i t Homosexuellen und zwei Strichjungen i n dessen Wohnung. Nachdem die „Stricher" gegangen waren, schlug er sein Opfer nieder und nahm Geld; erhielt wegen versuchten Mordes und schweren Raubes 12 Jahre Zuchthaus. Fall 6: Hilfsschüler, Heimkind; m i t 22 Jahren Strichjunge i n Hamburg; w i l l acht Jahre später seinen Vater umbringen, m i t dessen Tochter (also wohl seiner Halbschwester) er verkehrte; bekam wegen versuchten Totschlags und Blutschande vier Jahre Zuchthaus. Fall 7: Keine Hinweise auf frühere Strichjungentätigkeit; ermordete und beraubte Homosexuellen i n dessen Wohnung, als dieser i n t i m werden wollte; erhielt 15 Jahre Zuchthaus. Fall 8: Hilfsschüler; ging bereits 1952 als Dreizehnjähriger der gewerbsmäßigen Unzucht nach; suchte i n der Zoogegend Männerbekanntschaften und erhielt Beträge bis zu 20,— DM; brach Lehre ab und trieb «es Teilweise aus dem Material SGH I bekannt!

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sich herum; Dezember 1958 erste Verurteilung wegen Verstoßes gegen § 175a Nr. 4 i n 70 Fällen. Änderte auch nach Strafverbüßung sein Leben nicht; ging nach zwei weiteren Strafen wegen schweren Diebstahls am 1.12.1962 m i t einem alten, homosexuellen Mann i n dessen Wohnung; erschlug am nächsten Morgen den noch schlafenden „Freier" und entwendete Geld; wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Fall 9 und 10: Beide Täter wurden von älteren Homosexuellen verführt und gerieten so schließlich zur männlichen Prostituion. Der intelligentere der beiden („ . . . leistete auch i n der Oberschule Überdurchschnittliches . . . " ) erhielt Beträge bis zu 200,— DM. I m A p r i l 1958 gingen beide als Strichjunge und „Kunde" getarnt i n ein Absteigequartier, erschlugen die Pensionsinhaberin und deren Neffen und verschwanden unter Mitnahme von 1.200,— D M und einigen Wertgegenständen. Sie verließen Berlin und lebten i n Zürich von reichen Freiern. Nachdem beide i m Jahre 1960 ihre Strichjungentätigkeit aufgegeben hatten und ehrlich arbeiteten (einer war sogar verheiratet), stellte sich einer selbst der Polizei und verriet damit auch seinen Komplicen. Beide wurden wegen gemeinschaftlichen Mordes i n zwei Fällen zu je 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Betrachtet man diese Fälle zusammenfassend, so ergibt sich, daß vier Täter Strichjungen waren 2 8 6 , während drei von ihnen insoweit zumindest stark verdächtig schienen 287 . Drei der Betroffenen waren Homosexuelle 288 . Dabei ist es interessant, daß nur in einem Fall die „klassische" Situation eingetreten war, i n der ein homosexueller „Freier" von einem Strichjungen getötet wird. Die anderen beiden Homosexuellen fielen Tätern zum Opfer, die vorher nicht als männliche Prostituierte i n Erscheinung getreten waren. Man kann überhaupt nur von vier Taten sagen, daß sie ihren Ursprung i m homosexuellen Milieu hatten. Dazu gehören die drei Fälle, i n denen homosexuelle Männer nach oder vor der Ausübung des von ihnen beabsichtigten gleichgeschlechtlichen Verkehrs getötet bzw. fast getötet wurden, sowie der von zwei Strichjungen an der Inhaberin eines Absteigequartiers und an deren Neffen begangene Doppelmord. Die übrigen Taten wurden zwar von jungen Männern begangen, die schon m i t homosexuellen Kreisen Berührung hatten, standen selbst aber i n keiner Beziehung zu diesen Vorkommnissen, sondern richteten 286 Die Fälle 6, 8, 9, 10. Die Fälle 2, 3, 4. 288 Die Fälle 5, 7, 8.

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sich gegen insofern völlig neutrale Personen, wie ζ. B. gegen weibliche Verwandte oder diensttuende Polizisten. Vergleicht man die vorliegenden Zahlen m i t dem Anteil der Homosexuellen an der gesamten männlichen Bevölkerung, so w i r d deutlich, daß der homosexuelle Mann als Opfer vorsätzlicher Tötungsdelikte überdurchschnittlich stark gefährdet ist. Diese Tatsache w i r d noch klarer, wenn man die Zahl aller i n Westberlin begangenen Morde und die dabei getöteten Homosexuellen einander gegenüberstellt. Von 1949 bis 1961 wurden i n Westberlin 15 Morde und 4 Mordversuche an Homosexuellen begangen 289 . Davon sind noch 7 Morde 2 9 0 ungeklärt. Das sind relativ viele, wenn man berücksichtigt, daß von den 222 Morden und Totschlagsdelikten, die nach einer Statistik der Mordinspektion vom Sommer 1948 bis zum Ende des Jahres 1964 i n Westberlin begangen wurden, 181 = 81,5% aufgeklärt werden konnten. Die Gesamtzahl der i n Westberlin von (ehemaligen) Strichjungen begangenen Morde ohne Rücksicht auf die A r t des Opfers ließ sich nicht feststellen, sie dürfte nach den für die Jahre 1959—63 ermittelten Ergebnissen aber mindestens genauso groß sein wie die der getöteten Homosexuellen. Die Tatsache, daß sich i n dem der Hauptuntersuchung zugrunde liegenden Material insgesamt nur ein vollendeter und ein versuchter Mord befanden 291 , sagt also nichts über die absolute Zahl der von männlichen Prostituierten begangenen Morde aus, sondern spricht nur dafür, daß bei der Vielzahl der anderen verübten Delikte Gewalttaten wie Raub und Mord i m Vergleich zu jenen die Ausnahme bilden 2 9 2 . A n der Gesamtzahl der Morde gemessen, nehmen aber die von Strichjungen begangenen Taten einen verhältnismäßig großen Anteil ein und sprechen für die besondere Gefährlichkeit dieser jungen Verbrecher. I n allerletzter Z e i t 2 9 8 geschahen i n kurzem Abstand wieder zwei „einschlägige" Morde i n Berlin, wobei i n einem Fall ein 35jähriger Homosexueller von einem 21jährigen ermordet wurde; der andere Täter war ein 25jähriger ehemaliger Strichjunge, der einen 70jährigen (nicht homosexuellen) Rentner niederschlug und erwürgte. 2

8® Schramm-Kaiser, Kriminalistik 1962, S. 255. 290 Die vorsätzliche Tötung eines Homosexuellen wird fast immer ein Mord sein, da sie in der Regel aus Habgier, zur Verdeckung einer anderen Straftat oder aus anderen niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 StGB, ganz abgesehen von einer heimtückischen oder grausamen Ausführung. 291 Auch Kuhn hat in seinem Material nur zwei Mordfälle; siehe Seite 97 ff. 2 2 » Kuhn, S. 96. «93 i m September 1965.

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Als Abschluß können die an einer früheren Stelle zusammengefaßten wichtigsten Ergebnisse u m einen weiteren Satz ergänzt werden. Er lautet: Innerhalb der vorsätzlichen Tötungsdelikte nehmen die von männlichen Prostituierten begangenen Taten einen verhältnismäßig großen Raum ein und zeigen damit, daß die Entwicklung der Schwerstkriminalität aus den Kreisen der Strichjungen nicht so unbedeutend ist, wie es zunächst 294 den Anschein hatte, daß vielmehr auch insoweit das Wort von der männlichen Prostitution als einer „Brutstätte des Verbrechens" nicht ganz zu Unrecht geprägt worden ist.

294

Bei der Erörterung der späteren Rückfälligkeit.

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