Die Kreativität des Christentums: Von der Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt 9783110733075, 9783110737943

"Kreativität des Christentums" bezeichnet die innovative Kraft der christlichen Religion, sowohl die eigene Er

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German Pages 180 [182] Year 2021

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Die Kreativität des Christentums
„Siehe, Neues ist geworden“
Von der religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt
Christentum und moralischer Universalismus
Bruch und Wandel
Religion als Ambivalenzmanagement
Kirchengeschichte und Historische Theologie
Religionstheorie und Religionsproduktivität
Kreativität des Christentums – Kontingenz der Geschichte
„Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt“
„Den Lebensstrom zu dämmen und zu gestalten“
Personenregister
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Die Kreativität des Christentums: Von der Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt
 9783110733075, 9783110737943

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Die Kreativität des Christentums

Troeltsch-Studien Neue Folge

Herausgegeben von Reiner Anselm, Jörg Dierken, Georg Pfleiderer und Friedemann Voigt

Band 7

Die Kreativität des Christentums Von der Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt Herausgegeben von Friedemann Voigt

ISBN 978-3-11-073794-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073307-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073308-2 ISSN 1866-9638 Library of Congress Control Number: 2021930523 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Vom 19. – 21. September 2018 fand in Marburg der XII. Kongress der Ernst-TroeltschGesellschaft „Die Kreativität des Christentums. Von der Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt“ statt. Die damals gehaltenen Vorträge sind in diesem Band der „Troeltsch-Studien NF“ gesammelt. Einige Beiträge wurden im Lichte der Vorträge und Diskussionen der Tagung inhaltlich erweitert. Thema und Programm des Kongresses gingen aus eingehenden Beratungen des Vorstandes der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft hervor. Für die stets konstruktiven Diskussionen in diesem Kreis danke ich Herrn Professor Dr. Arie L. Molendijk, Frau Professor Dr. Maren Bienert und Herrn Professor Dr. Martin Laube ganz herzlich. Vorbereitung und Durchführung des Kongresses wären ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. An erster Stelle ist hier Frau Melanie Hikade zu nennen, die in höchst umsichtiger Weise das Tagungsbüro geleitet hat. Sie erhielt einsatzfreudige Unterstützung von Amelie Rüppel, Sonja Thomaier, Charlotte Heise und Lisa Schmitz. Bei den Korrekturen zur Drucklegung hat Frau Tatjana Rerich wertvolle Hilfe geleistet. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank! Für die verlegerische Betreuung dieser Veröffentlichung danke ich Herrn Dr. Albrecht Döhnert und Frau Katrin Mittmann vom Verlag De Gruyter. Marburg, im Dezember 2020

https://doi.org/10.1515/9783110733075-001

Friedemann Voigt

Inhalt Friedemann Voigt Die Kreativität des Christentums Zur Einleitung 1 Markus Buntfuß „Siehe, Neues ist geworden“ Schöpferische Gestaltung im Christentum

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Hartmut Kreß Von der religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt Das spannungsvolle Verhältnis des Christentums zur Rechtsordnung – mit einem Ausblick auf das heutige Problem „konfessioneller 23 Religionsunterricht versus Ethikunterricht“ Hans Joas Christentum und moralischer Universalismus Überlegungen zu ihrer Genealogie im Anschluss an Ernst 39 Troeltsch Johann Hinrich Claussen Bruch und Wandel Säkularisierung als Realisation (am Beispiel zeitgenössischer Lyrik) 59 Malte Dominik Krüger Religion als Ambivalenzmanagement Überlegungen (auch zu Ernst Troeltsch) im Horizont aktueller 69 Diskurse Wolf-Friedrich Schäufele Kirchengeschichte und Historische Theologie Versuch einer enzyklopädischen Verhältnisbestimmung

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Inhalt

Andreas Kubik Religionstheorie und Religionsproduktivität Am Beispiel der Reformpädagogen Hermann Lietz und Gustav Wyneken 111 Magnus Lerch Kreativität des Christentums – Kontingenz der Geschichte Was katholische Theologie von Troeltschs ‚Wesensschrift‘ lernen 129 kann Ruth Conrad „Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt“ Praktisch-theologische Überlegungen zur (möglichen) Zukunft des 149 Protestantismus im Anschluss an Ernst Troeltsch Georg Pfleiderer „Den Lebensstrom zu dämmen und zu gestalten“ Protestantische Zukunftsethik im Rückgriff auf Ernst Troeltsch Personenregister

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Friedemann Voigt

Die Kreativität des Christentums

Zur Einleitung Der Zusammenhang zwischen religiösem Erleben, dessen Symbolisierung und daraus folgender Weltgestaltung ist ein Zentralproblem der Christentumstheorie Ernst Troeltschs seit seinen frühen Schriften. In den religionsphilosophischen Überlegungen zur Selbständigkeit der Religion, den kulturhistorischen Arbeiten zum Verhältnis von Christentum und moderner Welt sowie den religionssoziologischen Beiträgen wird es explizit verhandelt und in seinen dogmatischen und ethischen Beiträgen der Heidelberger Zeit spielt es implizit eine wichtige Rolle. Ab 1915 wird dieser Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Gestaltung von Troeltsch im Rahmen geschichtsphilosophischer und politischer Überlegungen weiterverfolgt und auf der Höhe der Debatten der Zeit auf das Ziel einer europäischen Kultursynthese gerichtet. Mit den Beiträgen dieses Bandes soll unter dem Leitbegriff der „Kreativität“ an dieses systematische Grundproblem von Troeltschs Denken angeknüpft werden, um es mit neueren wissenschaftstheoretischen und vor allem handlungstheoretischen Aspekten des Kreativitätsbegriffs ins Gespräch zu bringen. Der Begriff der „Kreativität“ hat in der Philosophie der jüngsten Zeit wieder neue Aufmerksamkeit erfahren, angeregt allerdings weniger von der Kulturphilosophie als von der Verarbeitung aktueller Entwicklungen in den Lebenswissenschaften und der sie begleitenden Wissenschaftstheorie.¹ Der Begriff wird dort zur Beschreibung eines Prozesses gefasst, der von der Identifizierung eines Problems zu dessen Lösung führt. Die spezifisch „kreative“ Problemlösung besteht in dem Transfer von Strategien aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen in ein neues Feld. Diese Bedeutung der Kreativität wird derzeit vor allem auf dem Gebiet der sogenannten „converging technologies“ diskutiert, in denen z. B. im Falle der Synthetischen Biologie oder Nanotechnologie durch die Übertragung von Verfahren aus dem Bereich der Ingenieurswissenschaften auf den Bereich der Biologie neuartige Möglichkeiten zur Manipulation und Erstellung von Organismen geschaffen werden.²

 Günter Abel (Hg.): Kreativität. Sektionsbeiträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, 2 Bände, Berlin 2005.  Vgl. Christoph Hubig: Das Neue schaffen – Zur Ideengeschichte der Kreativität, in: K. Kornwachs (Hg.), Bedingungen und Triebkräfte technologischer Innovationen, Stuttgart 2007, S. 293 – 306. https://doi.org/10.1515/9783110733075-002

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Für unsere, auf das Christentum bezogene Fragestellung ist freilich vor allem eine andere Verwendung des Begriffs von Interesse. In einer aus dem Pragmatismus kommenden Perspektive wird Kreativität als sozialwissenschaftlicher Handlungsbegriff entworfen. Hierfür steht insbesondere die Theorie von Hans Joas.³ Es geht dabei um ein Handeln, das sich vom (zweck)rationalen Handeln und normativen Handeln darin unterscheidet, dass auch die expressiven, körperlichen und sozialen Bedürfnisse von Personen berücksichtigt werden. Das Handeln wird also nicht in seiner (zweckrationalen oder normativen) Intentionalität bestimmt, sondern besitzt eine Ambiguität, die im Blick auf die Handlungsfolgen offen ist. In einer daran anschließenden Erweiterung hat Hans Joas den Kreativitätsbegriff auch in eine religionstheoretische Perspektive überführt. Werden die christlichen Idealbildungen auf ihre eigentümliche kreative Funktion hin betrachtet, lassen sie einen Realitätsüberschuss erkennen, der weltverändernde Kraft besitzt und sie auch tatsächlich häufig weltgestaltend realisiert. Die Wirksamkeit dieser Ideale verdankt sich in dieser Betrachtungsweise also der Tatsache, dass sie in der Wirklichkeit niemals vollständig aufgehen. Zugleich wird so plausibel, weshalb die Folgen dieser Weltveränderung nicht durch die in den Idealen inkorporierten Intentionen begrenzt sind, sondern sich vielmehr auch in einer anderen Richtung entfalten können. Ernst Troeltschs religionsphilosophische und christentumstheoretische Arbeiten sind für diese Überlegungen von Hans Joas ein, wenn nicht gar der zentrale Bezugspunkt. In der Weiterschreibung dieser Überlegungen, die Hans Joas auf dem letzten Kongress der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft unter dem Titel „Eine historische Soziologie des Christentums. Ernst Troeltschs ‚Soziallehren‘ und die Frage nach den Wirkungen religiöser Innovationen“ vorgetragen hatte, befasst er sich in diesem Band mit dem Zusammenhang zwischen Christentum und moralischem Universalismus (s.u.). Es ist allerdings zu notieren, dass es sich bei „Kreativität“ nicht um einen Systembegriff Troeltschs handelt, also einen von ihm selbst systematisch verwendeten Topos. Die begriffliche Unterscheidung Hans-Joachim Birkners aufnehmend, handelt es sich um einen „Deutebegriff“⁴, also eine zur Interpretation verwendete Benennung. Freilich spielt in den Debatten zur modernen Kultur und zur Kulturbedeutung der Religion um 1900 der Begriff des „Schöpferischen“ und des „Schöpfers“ eine prominente Rolle. Der Anklang an den theologischen creator mundi ist dabei zwar nicht zufällig, doch handelt es sich bei dem „Schöpfer“ in  Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt 1992.  Hans-Joachim Birkner: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der SchleiermacherInterpretation, in: ders.: Schleiermacher-Studien, hg. von H. Fischer, Berlin/New York 1996, S. 157– 192.

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den Diskursen der Jahrhundertwende nicht um ein göttliches Wesen, sondern um einen Menschen oder besser: einen Menschentypus. Das Handeln dieses schöpferischen Menschen ist nicht durch die ihm vorausliegende Wirklichkeit determiniert, die er verändern, gestalten möchte, sondern, so hat es Georg Simmel formuliert, sein Handeln „steigt als unmittelbare Einheit aus dem tiefsten, zeugenden Grund der Persönlichkeit auf“⁵. Diese ursprüngliche Entäußerung des Individuums ist aber nicht nur kausal, sondern auch intentional von der ihn umgebenden Wirklichkeit unabhängig. Weltbezug und Weltgestaltung sind für den schöpferischen Menschen nicht von leitendem Interesse. Sie mögen zwar als Folgen des kreativen Handelns auftreten, aber es geht zunächst um den Akt der Schöpfung, der Darstellung, Symbolisierung selbst, in welchem sich die Individualität der Persönlichkeit Ausdruck verschafft. Der schöpferische Akt selbst ist also entscheidend, als reiner Akt der Entäußerung von Individualität ohne Entfremdung durch Sachzwänge. Alle Fragen und Sorgen eines möglichen Nutzens oder einer Verwertbarkeit über diese unmittelbare Darstellung von Individualität hinaus werden ebenso ausgeblendet wie solche einer möglichen Verstetigung und Institutionalisierung dieser personalen Freiheit. In Simmels Deutung der modernen Kultur als „Tragödie“ ist das kreative Handeln unter Bedingungen einer das Individuelle nivellierenden sachlichen Kultur ein sittlicher Akt personaler Selbstbehauptung, dem er allerdings kaum Chancen auf Weltgestaltung einräumte. Es bleibt bei ihm der punktuelle Akt der Befreiung des Individuums aus den Zwängen einer ihm vorgegebenen, sachlichen Welt. Wegen dieser personalen Freiheitsemphase wollte Simmel den schöpferischen Menschen nicht als „Mystiker“ verstanden wissen. Nicht die kontemplative Versenkung des Subjekts in das Göttliche, sondern die kreative Entäußerung von Individualität in ästhetischer Symbolisierung ist für den Schöpfer charakteristisch. Ernst Troeltsch sah in diesen Überlegungen Simmels Irrationalismus walten, die „Unfähigkeit oder historische Unmöglichkeit, zu einer festen Form eigenen Inhalts zu finden.“⁶ Auch wenn sich die Analysen der zunehmenden Versachlichung der modernen Kultur und ihrer Verdrängung von Individualität und personaler Freiheit bei Simmel und Troeltsch durchaus ähneln, mochte Troeltsch Simmel nicht in dessen pessimistischer Einschätzung folgen, was die Chancen von freiheitlicher Gestaltung der Welt anging. Die Reduktion von Freiheitschancen auf einzelne schöpferische Akte wollte Troeltsch nicht hinnehmen.  Georg Simmel: Rembrandt (1916), in: ders.: Goethe, Deutschlands innere Wandlung, Das Problem der historischen Zeit, Rembrandt, hg. von U. Kösser, H.-M. Kruckis und O. Rammstedt, Berlin 2003 (Georg Simmel Gesamtausgabe 15), S. 305 – 516, hier S. 509 f.  Ernst Troeltsch: Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen (1917), in: ders.: Deutscher Geist und Westeuropa, hg. von H. Baron, Tübingen 1925, S. 211– 243, hier S. 225.

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Dennoch konnte Troeltsch in den Überlegungen Simmels eine Variation jenes handlungs- und kulturtheoretischen Grundproblems identifizieren, das ihn selbst seit langem beschäftigte. Troeltsch traktierte es unter der Leitfrage, wie religiöses Erleben und religiös motivierte Weltgestaltung zusammenhängen und zu Gestaltungskraft unter Bedingungen der modernen, sachlichen Kultur gelangen können. Wie kann es gelingen, der Religion ihre Selbständigkeit gegenüber anderen Bereichen der Kultur zuzuschreiben, ohne sie von diesen anderen Bereichen abzuschließen? Wie kann die religiöse Erfahrung als eine solche sui generis begriffen werden, ohne daraus die Versenkung in dieses Erleben zur Forderung religiöser Lebensführung zu erheben? Und wie die religiös motivierte Gestaltung der Welt vor der Korruption durch die Kräfte von Kapitalismus und Bürokratismus bewahren, die auch sie zur puren Sozialtechnologie ohne Geist werden lassen? Troeltsch hat diese Fragen in unterschiedlicher Weise immer wieder neu behandelt. In den religionsphilosophischen Überlegungen zur „Selbständigkeit der Religion“⁷, in den ethischen Überlegungen zur Güterethik im Gefolge Schleiermachers⁸, in den großen historischen Untersuchungen zur Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt⁹ und in eigener, bis heute noch nicht hinreichend rekonstruierter Weise in den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“¹⁰. Die hier entfaltete religionssoziologische Typologie von Kirche, Sekte und Mystik stellt diese religiösen Vergemeinschaftungsformen als Medium religiösen Weltverhältnisses dar, die religiös motiviertes Handeln und die Persönlichkeit formen. Im universalistischen Kirchentypus, dem radikalen Individualismus und Liebesgedanken der Sekten sowie dem organisationslosen Individualismus der Mystik stellte Troeltsch unterschiedliche Weisen des christlichen Weltverhältnisses und Weltgestaltungsinteresses dar. Dies war auch ein Kommentar zu Simmel und anderen, die eben jenes individualistische Schöpfertum als die eigentliche Religion auszeichnen wollten. Die Kreativität des Christentums, so lässt sich sagen, erschöpft sich für Troeltsch nicht in dem modernen Schöpfertum.

 Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (1895 – 1896), in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888 – 1902), hg. von C. Albrecht, Berlin/New York 2009 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 1), S. 359 – 536, hier S. 364.  Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 552– 672.  Ernst Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906 – 1913), hg. von T. Rendtorff, Berlin/New York 2001 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 8).  Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 (Gesammelte Schriften Band 1).

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Noch in seinen späten geschichtsphilosophischen Arbeiten reformulierte Troeltsch dieses Thema. Zwar geht es hier nicht mehr um religiöses Erleben und christliche Weltgestaltung, wohl aber um kulturelle Ideale, ihre Verankerung im Bewusstsein von Völkern, Staaten und die daraus folgende Weltgestaltung, die eben nicht den Mechanismen von Bürokratismus und Kapitalismus, aber auch nicht einer der Spielarten des Materialismus überlassen werden sollten. Die Gewinnung von Idealen, die „Idealbildungen“, die zu einer ethisch verantworteten Steuerung der Gegenwart beitragen sollen, beschrieb Troeltsch als den kreativen Akt kultureller Selbstbestimmung einer Epoche. Diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung dürfe nicht nur als Privileg ferner Vergangenheiten romantisiert werden, sondern müsse als Aufgabe der Gegenwart begriffen werden. Aber auch hier warnte Troeltsch vor einem selbstsuffizienten Schöpfertum. Die Idealbildungen der Gegenwart sollen zugleich produktiv sein, sie sollen nicht nur symbolisieren, sie sollen auch gestalten. Diese Vermittlung zwischen dem Schöpferischen und dem Gestalterischen ist deshalb auch ein zentrales Motiv im Spätwerk Troeltschs. In den Schriften der Kriegszeit und der frühen Weimarer Jahre ist dieses Ringen Troeltschs eindrucksvoll dokumentiert. Er konnte schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch in seinen politischen Schriften während des Krieges in den westlichen Menschenrechten eine solche Idealbildung identifizieren und war damit seiner deutschen Zeit weit voraus.¹¹ Er war aber auch mit dem Zeitgeist verwoben und in seinen Verteidigungen der „deutschen Idee der Freiheit“ selbst nicht immer frei von Irrationalismen, vor denen er zugleich zurückschreckte: Simmel hatte seine eigenen Charakterisierungen des Schöpferischen 1917 auch als Ausdruck des „germanischen Geistes“ begriffen.¹² Troeltsch erkannte darin jedoch die Gefahr einer irrationalen Romantik, die für den „deutschen Geist“ stets schädlich gewesen sei.¹³ Für die Troeltsch-Forschung der kommenden Jahre scheint mir die Deutung dieses Spätwerks in der wechselseitigen Beleuchtung von Geschichtsphilosophie und politischen Schriften eine vorrangige Aufgabe, die nun durch die Edition der Schriften und Briefe aus dieser Zeit in neuer Weise möglich wird. Auch wenn diese Aufgaben und Perspektiven der Troeltsch-Forschung nicht direktes Thema dieses Bandes sind, reflektiert sich auch in ihnen

 Zu Troeltschs politischen Kriegsschriften vgl. Friedemann Voigt: Deutsche Freiheit und das europäische Projekt der Moderne. Ernst Troeltsch und der Erste Weltkrieg, in: Joachim Negel/Karl Pinggera (Hg.), Urkatastrophe: die Erfahrung des Krieges 1914– 1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg 2016, S. 281– 303.  Simmel: Rembrandt (wie Anm. 5), S. 509 f.  Troeltsch: Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen (wie Anm. 6), hier S. 225.

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das skizzierte Verhältnis von Erleben, Idealbildung und Gestaltung, oder mit anderen Worten von ästhetischer Symbolisierung und ethischer Realisierung. Der vorliegende Band wird eröffnet von Überlegungen, die Markus Buntfuß zur Aneignung und Ablehnung der Kreativität im Christentum anstellt. Dabei zeichnet er nach, wie einerseits in der jüdisch-christlichen Tradition dem „Neuen“ eine ausgezeichnete Stellung zukommt, was in religionsgeschichtlicher Perspektive einen Bruch mit der Betonung des Überkommenen bedeutet. Andererseits scheint im Christentum die Exklusivität göttlicher Schöpfertätigkeit die Bereitschaft zur Anerkennung menschlicher Kreativität eher zu behindern. Mit den Entwürfen von Paul Tillich und Gordon D. Kaufmann benennt Buntfuß zwei „kreativitätstheologische“ Konzepte, in denen versucht wird, den Gottesgedanken und menschliche Kreativität nicht als Konkurrenz gegeneinander auszuspielen, sondern konstruktiv aufeinander zu beziehen. Mit dem Beitrag von Hartmut Kreß wird im Übergang von der „religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt“ der Ursprung des spannungsvollen Verhältnisses des Christentums zur Rechtsordnung identifiziert. Die mit der Bestimmung des modernen Staates als Rechtsstaat einhergehende Emanzipation aus den normativen religiös-kirchlichen Dominanzansprüchen hat Troeltsch nicht bloß anerkannt. Er hat darüber hinaus auf die Hemmnisse hingewiesen, welche religiöse Bindungen, etwa die Verwurzelung in den autoritären Vorstellungen des Luthertums, für die Durchsetzung des modernen Staatsgedankens bedeuten. In den Spuren dieser kritischen Betrachtung Troeltschs verfolgt Kreß zum einen die bis in die Gegenwart bestehenden Vorbehalte, die im Protestantismus, etwa dem Arbeitsrecht der Kirchen, gegenüber der Durchsetzung moderner Rechtsprinzipien bestehen. Zum anderen stellt Kreß im Anschluss an Troeltschs Güterethik Überlegungen zur Reform des schulischen Religionsunterrichts an. In anderer Weise knüpft Hans Joas an Troeltschs Versuch an, unter Bedingungen einer vom Christentum unabhängigen normativen Gestaltung von Staat und Gesellschaft die konstruktive Bedeutung des christlichen Glaubens für die moderne Welt zu gewinnen. Im Werk Ernst Troeltschs sieht Joas „eine der größten Inspirationen“ für die Aufgabe einer „globalgeschichtlichen Genealogie des moralischen Universalismus“. Troeltschs religions- und geschichtsphilosophische Arbeiten stellen in der Rekonstruktion von Joas Bausteine bereit, das Christentum in die Entwicklung einer Ethik einzuzeichnen, die ein partikulare Interessen transzendierendes Menschheitsethos entwickelt. Zugleich reflektiert Troeltschs Versuch aber auch die historisch-systematischen Schwierigkeiten eines moralischen Universalismus, der doch immer auf historisch-partikulare Artikulationsund Gestaltungsformen angewiesen ist. Aus der notwendigen Beheimatung in festen Formen resultiert die Gefahr, diese Gestaltungen als exklusive Träger des Universalismus zu deuten und damit ihn selbst zu konterkarieren. Joas zeigt, dass

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Troeltsch dieses Problem zwar erkannte, aber – vor allem in seiner Auffassung der nichtchristlichen Religionen – nicht immer befriedigend löste. Inwiefern die Kunst als Trägerin einer solchen Gestaltungskraft dienen kann und soll oder ob sie von allen Zwecken frei ist, war Teil der Debatten um Gestaltertum und Schöpfertum. Für Georg Simmel bildete die Kunst gar den privilegierten Ort der Kreativität in der modernen Welt. Für Troeltsch bedeutete sich selbstzweckhaft verstehende moderne Kunst mit ihrer Bejahung des Sinnlichen vor allem das „Ende der protestantischen Askese“ und darin ein dem Altprotestantismus „entgegengesetztes Motiv“.¹⁴ Damit nahm Troeltsch, wenn auch eher am Rande seines Werkes, an diesen kunsttheoretischen Diskursen teil, insbesondere an der historischen Frage nach der Prägung der modernen Kunst, vor allem der Literatur, durch die Religion, ebenso aber ihrer Emanzipation aus dem Religiösen. Die auch von Troeltsch konstatierte Lösung der modernen Kunst von der Religion führte ihn allerdings zu der Forderung, es sei eine „Aufgabe der modernen Welt“, künstlerischen und religiösen Geist neu zu verbinden.¹⁵ Eine solche Verbindung schlägt in seinem Beitrag zur zeitgenössischen Lyrik Johann Hinrich Claussen vor und knüpft dazu an dem idealistischen Motiv der Realisierung religiöser Gehalte durch ihre Säkularisierung an, das für Troeltsch in der Tradition Hegels und vor allem Richard Rothes von großer Bedeutung war. In ausgewählten Werken der Gegenwartslyrik identifiziert Claussen so kreative Umformungen moderner Religiosität. Malte Dominik Krüger reformuliert in seinem Beitrag die von Joas handlungstheoretisch thematisierte Vieldeutigkeit der Kreativität ästhetisch und zeitdiagnostisch als Ambivalenz. Religion als „Ambivalenzmanagement“ bietet hierauf eine der Moderne angemessene Reaktion. Denn religiöses „Ambivalenzmanagement“ bedeutet nicht die Überführung der Unübersichtlichkeit in Eindeutigkeit, sondern vielmehr eine „Struktur gegensätzlich-gleichzeitiger Mehrdeutigkeit von Gewissheit und Ungewissheit, Glaube und Unglaube, Ja und Nein“. Diese Struktur rekonstruiert Krüger als dem Protestantismus von den Anfängen eingeschrieben und dann besonders in seiner erfahrungstheologischen Tradition auch explizit thematisiert. Diese Tradition verbindet er dann mit seinem eigenen „bildtheologischen“ Verständnis, welches die bildästhetische Erfahrung der „anschaulichen Negation der anwesenden Abwesenheit“ mit der religiösen Thematisierung von Individualität im Horizont des Unbedingten in Beziehung setzt. In der Christologie Ernst Troeltschs und ihrer Vermittlung zwischen per Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (wie Anm. 9), S. 199 – 316, hier S. 294.  Ebd., S. 295.

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sönlicher Jesusfrömmigkeit und religionsgeschichtlicher Wissenschaft identifiziert Krüger einen exemplarischen Entwurf einer solchen ambivalenzsensiblen Theologie. Damit ist an die für Troeltschs theologische Arbeiten der Jahrhundertwende signifikante Spannung von (notwendiger) „persönlicher“ und (unmöglicher) „wissenschaftlicher“ Absolutheit erinnert¹⁶, in der sich ein Grundproblem moderner, historisch-kritischer Theologie reformuliert. Wolf Friedrich Schäufele nimmt dieses Problem als Konstitutionsproblem der Disziplin Kirchengeschichte zwischen Theologizität und Historizität in den Blick. Dabei beschäftigt ihn, wie unter der Voraussetzung, dass die theologische Geschichtsschreibung eine konstruktive Leistung des Kirchenhistorikers ist, zugleich der Anspruch einer normativen Darstellung der Christentumsgeschichte eingelöst werden kann. Schäufele will dies dadurch erreichen, dass die Konstruktion als solche durchsichtig gemacht wird und von ihren normativen Annahmen her sich selbst als positionell ausweist. Die Gestaltungskraft des Christentums wird selbst kreativ, nämlich erzählerisch in einer „zweck- und gegenwartsgeleiteten Perspektivierung“ so dargestellt, dass dadurch der Standort des Historikers als Position in dieser Christentumsgeschichte rekonstruiert wird und dadurch zugleich Gründe für seine Geltung erhält. Damit wird nach Schäufele sowohl der Gegenwartsbezug der Kirchengeschichte als auch ihre „positive“, auf die Praxis zielenden Ausrichtung gewährleistet. In Troeltschs „Soziallehren“, die auf die Frage nach einer dem modernen Christentum angemessenen Sozialgestalt hinauslaufen, erblickt Schäufele eine exemplarische Durchführung eines solchen Versuchs. Zu denken wäre hier auch an Troeltschs historische Methode bei der Rekonstruktion der Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt, in der das Verständnis der Gegenwart das „letzte Ziel aller Historie“ genannt wird.¹⁷ Zu den entscheidenden Standortbestimmungen des Neuprotestantismus zählt zweifellos, sich selbst als Religion zu bezeichnen und damit in die modernen wissenschaftlichen Betrachtungen einzustellen. Andreas Kubik betrachtet  Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: ders.: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912). Mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. von T. Rendtorff, Berlin/New York 1998 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 5), S. 81– 244.  Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (wie Anm. 9), S. 205. Vgl. dazu auch die eingehende Rekonstruktion von Troeltschs Methode, die Trutz Rendtorff vorgelegt hat: Einleitung zu KGA 8, S. 1– 52.Vgl. auch Friedemann Voigt, Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie, in: „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, hg. von F. W. Graf, Gütersloh 2006 (Troeltsch-Studien. Neue Folge Bd. 1), S. 155 – 173.

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anhand von Entwürfen liberaler Reformpädagogik, wie sich dieses Selbstverständnis eines sich dezidiert als Religion verstehenden Protestantismus auf die Vorstellungen von Bildung und Persönlichkeit ausgewirkt hat. Am Beispiel der schillernden Figuren Hermann Lietz und Gustav Wyneken wird von Kubik zugleich die Spannweite der im Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts sozialisierten Religionspädagogik erkennbar gemacht. Beide Vertreter erprobten in ihren Reformschulen entkonfessionalisierte und entdogmatisierte Umformungen der christlichen Religion, die eigentümliche Synthetisierungen von kirchlicher Tradition, neuprotestantischer Bildungsreligiosität und jugendbewegtem Zeitgeist darstellen. Ernst Troeltsch hatte von der „ebenso anregenden wie zersetzenden“ Wirkung Wynekens auf die Jugendbewegung gesprochen¹⁸ und war trotz einer gewissen Offenheit gegenüber diesen reformpädagogischen Ansätzen doch auch immer darum bemüht, die klassische humanistische und religiöse Tradition in Geltung zu lassen. Auch hierin zeigt sich der Versuch seiner Vermittlung zwischen Schöpfertum und Gestaltung. Dass diese Vermittlungsversuche Troeltschs sowohl in ihrer analytischen Schärfe wie synthetischen Programmatik über ihre Zeit bis in die Gegenwart hinausreichen, wurde in den Beiträgen dieses Bandes vielfach thematisiert. Mit den abschließenden drei Beiträgen rückt diese Frage nach der Zukunftsfähigkeit Troeltschs noch einmal in den Fokus. Magnus Lerch nimmt dabei die für Troeltschs Werk charakteristische Spannung zwischen Schöpfung und Gestaltung als Problem der „Umbildung“ wahr, welche als die zentrale Aufgabe seiner Theologie und Religionsphilosophie bestimmt werden kann. In Troeltschs Schriften zum Wesen des Christentums wird dies begrifflich als das Verhältnis von „Wesen“ und „Erscheinung“ gefasst. Lerch rekonstruiert, wie diese Problembestimmung es Troeltsch ermöglicht, dogmatische und metaphysische Traditionsbestände mit neueren Einsichten, besonders der historistischen Geschichtsphilosophie, produktiv zu verknüpfen. Hier sieht Lerch zum einen gleichsam ein Grundmotiv von Troeltschs Denken, das sich von den religionsphilosophischen Arbeiten der Jahrhundertwende bis zu der Geschichtsphilosophie des Spätwerks durchhält. Zum anderen erblickt er in Troeltschs Vermittlungsversuchen zwischen Kreativität und Überlieferungstreue ein Vorbild für eine römisch-katholische

 Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft. Erich von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft (1920); Arthur Salz: Für die Wissenschaft (1921), in: ders.: Rezensionen und Kritiken (1915 – 1923), hg. von F. W. Graf, Berlin/New York 2010 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, Band 13), S. 519 – 566, 546.

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Theologie, die ihrerseits in Modernismus und neueren transzendentaltheologischen Entwürfen Troeltsch nahestehende Anknüpfungspunkte vorzuweisen hat. Zu den Troeltsch vorschwebenden Umbildungsaufgaben im Bereich der Religion gehörten die Umbildungen der protestantischen Kirchenorganisation, die für ihn „dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik“.¹⁹ Die von Troeltsch betonte Dringlichkeit der soziologischen Formgebung kann freilich nicht darüber hinwegsehen lassen, dass diese nur in Wechselwirkung mit dem religiösen Gehalt gelingen kann. Ruth Conrads Beitrag macht deutlich, dass Umfang und Komplexität des Umformungsthemas erst in der „Verbindung von religiöser Idee und soziologischer Form“ vollständig erfasst werden. Damit ist bei Troeltsch ein dynamisches Modell theologischen und soziologischen Wandels grundgelegt, welches über die jeweiligen historischen Gestaltungsversuche hinausreicht. Troeltsch selbst hatte diesen diachronen Wandel in der Komparatistik seiner religionssoziologischen Typologie von Kirche, Sekte und Mystik ja in synchroner Perspektive schon selbst vorausgenommen. Für die kreative Gestaltung dieses Wandels favorisiert Conrad eine liberaltheologische Position, welche Troeltschs Einsichten in den Gemeinschaftscharakter der Religion ebenso bewahrt wie die Bedeutung der freien Persönlichkeit. Daran knüpft wiederum der Beitrag von Georg Pfleiderer an, der sich mit der Zukunftsfähigkeit der Ethik Troeltschs befasst. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass für Troeltsch die kulturelle Gestaltungskraft der Religion in der Moral bzw. Ethik liegt. Insofern reflektiert die Ethik Troeltschs auch die Um- und Fortbildung der religiösen Idee in praktischer Absicht. Anhand der (nicht mehr gehaltenen) Großbritannien-Vorträge rekonstruiert Pfleiderer Troeltschs Versuch, zwischen „deutschem Geist und Westeuropa“, zwischen Individualitätsemphase und Gemeingeist einerseits und den Idealen von Gleichheit und Menschenwürde andererseits zu vermitteln. Diese Kultursynthese ist aber selbst Produkt individueller Verantwortungsübernahme und der Realisierung einer Ethik, welche der freien Persönlichkeit und ihrer Entfaltung in Kulturwerten und Gemeingeist verpflichtet ist. So ist ihr von Grund auf das Bewusstsein unaufhebbarer persönlicher Differenzen in den Überzeugungen mitgegeben, welche nicht eingeebnet, aber durch Kompromisse überbrückt werden können. Pfleiderer skizziert, dass eben hierin für Troeltsch ein wesentlicher Beitrag der christlichen Ethik zur zukünftigen Gestaltung Europas liegt, weil die christliche Einsicht in die Fehlbarkeit menschlichen Handelns moralische Gründe für die moralische Selbstbegrenzung liefert.

 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 10), S. 982.

Markus Buntfuß

„Siehe, Neues ist geworden“ Schöpferische Gestaltung im Christentum In der Neuzeit gilt Religion als altes Wissen. Weder Francis Bacons Novum organum scientiarum (1620) noch Giambattista Vicos Scienza Nuova (1725) räumen der Religion noch einen maßgeblichen Platz in der neuen Ordnung des Wissens ein. Sie rückt vielmehr in die vorweltlichen und urzeitlichen Anfangsgründe menschlicher Welterklärung ein. Jürgen Habermas konstatiert: „Es besteht eine eigentümliche Dialektik zwischen dem philosophisch aufgeklärten Selbstverständnis der Moderne und dem theologischen Selbstverständnis der großen Weltreligionen, die als das sperrigste Element aus der Vergangenheit in diese Moderne hineinragen.“¹ Alter Glaube und moderne Welt scheinen einander zunehmend fremd zu werden. In der Alten Welt verhielt es sich freilich umgekehrt. Dort galt Neuheit als Problem. In der antiken Wissensordnung hatte das Neue keinen Wert, schon gar keinen religiösen. Die antiken Kulturen kennen keinen gehaltvollen Begriff des Neuen. Folgt man den Befunden der Begriffsgeschichte, dann ist das Neue eine Erfindung der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte: „Erst mit der Entstehung der Eschatologie in der alttestamentlichen Prophetie (bes. Deuterojesaja) und folgend in der spätjüdischen und christlichen Apokalyptik wird das Neue thematisch zur Eigenart des Ganz-Anderen, Wunderbaren der End- und Heilszeit.“² Für das Selbstverständnis des Christentums ist die Berufung auf das Neue grundlegend. Seine religionskreative Semantik adaptiert und transformiert vor allem die Novitäten des nunmehr alten Bundes: den neuen Bund und den neuen Äon, den neuen Himmel und die neue Erde, die neue Schöpfung und den neuen Adam bis hin zu dem neuen Gott christlich-gnostischer Kreise. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Kor 5,17). Dieser Satz des Apostels Paulus steht als Leitspruch über dem religionskreativen Novitätsanspruch des Christentums. Das Neue ist geradezu sein Vorname.

 Jürgen Habermas: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft, in: Neue Züricher Zeitung 10. Februar 2007; wieder abgedruckt in: Knut Wenzel (Hg.): Die Religionen und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, Freiburg i. Br. 2007, S. 47– 56.  Jürgen Moltmann: Neu, das Neue, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971– 2007, S. 726. https://doi.org/10.1515/9783110733075-003

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Unter antiken Bedingungen erwuchsen dem jungen Christentum daraus gravierende Nachteile. Im römischen Kaiserreich wurde die neue Religion nicht als religio antiquitus tradita anerkannt, sondern als religio nova illicita abgelehnt. Zwar erging es dem Christentum in der Neuzeit nicht unbedingt anders, aber aus diametral entgegen gesetzten Gründen. Denn nun zählte vor allem das Neue, während das Alte auf den Prüfstand musste. In dem Moment, wo Novität zum kulturellen Leitwert wird, ist das Christentum seinerseits in die Jahre gekommen und mit seinen Überlieferungen und Traditionen beschäftigt. Es ist wie verhext: als religio nova stößt das Christentum in der Antike auf den Primat des Alten und als überlieferter Kirchenglaube stößt es in der Moderne auf den Primat des Neuen. Aber vielleicht war und ist es gerade der daraus resultierende Problemdruck, der das Christentum immer wieder zu religions- und theologiekreativen Problemlösungen sowie zur kreativen Fortentwicklung gezwungen hat. Denn zum Kreativen gehört neben dem Neuartigen und Überraschenden immer auch das Lösungsorientierte und Zielführende. Wie also ist es um die Kreativität des Christentums bestellt?

1 Hürden und Hemmnisse christlich-theologischer Kreativitätsforschung Dass sich die wissenschaftliche Theologie des Themas ‚Kreativität‘ annimmt und selbstreflexiv auf die Erschließung des Christentums anwendet, scheint überfällig. Nachdem der verhältnismäßig junge Begriff in der US-amerikanischen Psychologie der 50er Jahre aufkommt,³ um von dort aus in die deutschsprachige Psychologie und Pädagogik der 70er Jahre auszustrahlen und schließlich zur Jahrtausendwende sogar in der notorisch nachdenkenden Philosophie anzukommen,⁴ hat die Theologie immer noch Nachholbedarf in Sachen Kreativitätsreflexivität. Das gilt zwar nicht für alle Disziplinen gleichermaßen, denn die Kreativität des kirchlichen Handelns in Religionspädagogik und Erwachsenenbildung, in Liturgie und Gottesdienstgestaltung sowie in Kybernetik und Gemeindeaufbau ist in der Praktischen Theologie durchaus schon bedacht worden.⁵

 Joy Paul Guilford: Creativity, in: American Psychologist 9 (1950), Band 5, S. 444– 454.  Günter Abel (Hg.): Kreativität. Sektionsbeiträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, 2 Bände, Berlin 2005.  Matthias Gronover: Kreativität, in: WiReLex – Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100198/), abgerufen am 12.02. 2019.

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In historisch-hermeneutischer und systematisch-begrifflicher Hinsicht dagegen stellt die Erforschung von christlich-religiösen Kreativitätsphänomenen und theologisch-begrifflichen Kreativitätskonzepten immer noch ein Desiderat dar. Aber vielleicht handelt es sich dabei gar nicht um ein Versäumnis? Vielleicht hat die Zurückhaltung der Theologie in Sachen Kreativität gute Gründe? Wie nämlich, wenn die Frage nach der Kreativität des Christentums gar nicht so harmlos ist, wie sie zunächst klingt? Wer die Frage nach dem Erfinden des Neuen stellt, darf sich ggf. nicht wundern, wenn er von der Antwort in unvorhergesehener Weise überrascht wird. Die denkbar radikalste Antwort nämlich besteht in der These, dass es sich bei dem Christentum selbst um eine kreative Erfindung handelt. Dass es eine innovative und hilfreiche religiöse Schöpfung ist, nämlich eine kreative und erfolgreiche Umgangsstrategie der ersten Jüngerinnen und Jünger mit ihren Enttäuschungen angesichts der gescheiterten Mission ihres Meisters und den zerschlagenen Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten. So zumindest lautet eine seit dem 18. Jahrhundert bis heute in zahlreichen Variationen vorgebrachte Antwort auf die Frage nach dem Erfindungsreichtum des Christentums. Die Antwort läge dann nicht in Details, sondern in der Totale: das ganze Christentum ist eine menschliche Erfindung! Insbesondere der Apostel Paulus geriet in diesem Zusammenhang immer wieder in den Verdacht, der eigentliche Erfinder des Christentums zu sein. Ausgehend von dieser religionskritischen These bestünde dann ggf. auch die bleibende Kreativität des Christentums darin, sich zu allen möglichen Zeiten und in allen möglichen Situationen als religiöse Problembewältigung anzubieten, wenn konkrete Lösungen und handfeste Hilfen nicht erreichbar oder nicht erwünscht sind. Die Kreativität des Christentums – wie aller Religion – läge somit in ihrem Kompensationspotential, das es erlaubt, die Augen vor einer gnadenlosen Realität zu verschließen, um den Blick auf eine kreativ imaginierte Gegenwelt zu richten. Die Frage könnte sich also unter der Hand zu einer Antwort auswachsen, der man theologisch nicht noch Vorschub leisten möchte. Aber es gibt auch weniger ideologisch aufgeladene Gründe, die eine konstruktive Allianz von Kreativitätsforschung und Christentumstheorie bisher erschwert haben. Da ist zunächst der Umstand, dass ‚Kreativität‘ kein religiöser oder theologischer Begriff ist. Im Wortprofil des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS),⁶ das die Verwendungen eines Wortes auf der Grundlage realer Textbeispiele erhebt, tauchen keine religiösen, christlichen, kirchlichen

 DWDS-Wortprofil für „Kreativität“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (https://www.dwds.de/wp?q=Kreativit%C3%A4t&comp-method=diff&comp=&pos=2% 20&minstat=0&minfreq=5&by=logDice&limit=20&view=table), abgerufen am 12.02. 2019.

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oder theologischen Worte auf. Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch ist ‚Kreativität‘ offensichtlich Bestandteil eines säkularen semantischen Feldes. Das ist insofern erstaunlich, als es sich von dem lateinischen creare herleitet und damit auf eine der wichtigsten religiösen Vorstellungen überhaupt verweist, nämlich die Erschaffung der Welt und ihr Verständnis als Schöpfung durch einen göttlichen Schöpfer. Demgegenüber scheint die gegenwärtige Wortverwendung die Verbindung zu ihrer sprachlichen wie sachlichen Herkunft gekappt zu haben. Von der lateinischen creatio über das englische creation und die französische création bis hin zur deutschen Kreativität hat sich der Gebrauch des Wortes offenbar säkularisiert. Umgekehrt ignoriert die Theologie diesen prominenten zeitgenössischen Begriff weitgehend. Die großen theologischen Lexika von der ersten bis zur dritten Auflage der RGG einschließlich der allumfassenden TRE führen kein entsprechendes Lemma. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich neuere kürzere Nachschlagewerke, die sich in erster Linie an theologische Praktikerinnen und Praktiker wenden und dafür den gesellschaftlichen Kontext stärker berücksichtigen, wie etwa das einbändige Wörterbuch des Christentums (1988)⁷ sowie das dreibändige Evangelische Kirchenlexikon (1989)⁸ einen Eintrag zum Stichwort aufweisen. Mittlerweile verzeichnet sogar die 4. Auflage der RGG einen entsprechenden Artikel.⁹ Insofern scheint es mittlerweile doch zu einer Beschäftigung mit dem Thema zu kommen. Im Hinblick auf den angeblich säkularen Kreativitätsdiskurs gilt es immerhin, den unleugbaren Befund zu deuten, dass die menschliche Fähigkeit zur Kreativität immer noch unterschwellig von einer religiösen Tiefensemantik des Erfindens und Erschaffens einschließlich der dazugehörigen Intuitions- und Inspirationstopik zehrt. Bis heute ist dem Kreativen durchaus ein religiöser Subtext eingeschrieben, der religionshermeneutisch interpretiert werden will. Denn als Hervorbringung des Neuen eignet dem Kreativen immer auch etwas Unvorhergesehenes, Unableitbares, Unverfügbares und Inkommensurables, mit anderen Worten ein spezifischer Transzendierungscharakter.

 Wörterbuch des Christentums, hg. von Volker Drehsen u. a., Zürich 1988.  Evangelisches Kirchenlexikon, hg. von Erwin Fahlbusch u. a., Göttingen 1989.  Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 4, hg. von Hans Dieter Betz u. a., Vierte, völlig neu bearbeitete Aufl., Tübingen 2001, Sp. 1738 – 1741.

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Gerade diese religionsaffine Dimension menschlicher Kreativität hat jedoch auch tiefgreifende Transformationen erfahren,¹⁰ seit sie in der Renaissance als Inbegriff für die schöpferische Kreativität des gottgleichen Künstlers und Erfinders entdeckt worden ist und in Leonardo da Vinci eine idealtypische Verkörperung erfahren hat. Denn das 20. Jahrhundert hat nicht nur das elitäre Geniekonzept zu dem Ratgeberslogan ‚jeder Mensch ist kreativ‘ demokratisiert,¹¹ sondern auch die Instrumentalisierung und Ökonomisierung von Kreativität so weit forciert, dass der kritisch-emanzipatorische Sinn eines freien, interesse- und zwecklosen Schaffens unter dem gewinnorientierten Kreativitätsdruck einer spätkapitalistischen creative economy zurückgedrängt worden ist. Fungierte die Berufung auf Phantasie und Kreativität noch im Zusammenhang der 68er-Bewegung als ideologiekritische Provokation der instrumentellen Vernunft in der verwalteten Welt, so richtet sich die zeitgenössische Gesellschaftskritik inzwischen gegen die restlos funktionalisierten und reibungslos funktionierenden creative industries. Die innere Verbindung zu einem realitätsüberlegenen ‚Umsonst‘¹² oder einer ‚wertlosen Wahrheit‘¹³ scheint dem Kreativen in dem Maße verloren gegangen zu sein, wie sich ganze Branchen professionell aufs Kreative spezialisiert haben und das kreative Selbstmanagement jedes einzelnen zu einer Art Bürgerpflicht in der sich ständig erneuernden Gesellschaft gemacht worden ist. Kreativität scheint sich also unter der Hand von einem Emanzipativ zu einem Imperativ gewandelt zu haben. Von Künstlern und Intellektuellen jedenfalls ist schon länger kein vorbehaltloses Loblied mehr auf die Kreativität zu hören. Sie üben sich mittlerweile eher in der Kritik an gesellschaftlich eingeforderter und konformierender Kreativität.¹⁴ Und auch der akademische Diskurs schwankt zwischen theoretischer Faszination und kritischer Distanz.¹⁵ Denn längst werden Kreativität und theoretische Neugierde nicht mehr nur als Motor für unkonventionelle Erkenntnisfortschritte und wissenschaftliche Paradigmenwechsel gefeiert wie bei Paul Feyerabend, Thomas Kuhn und Hans Blumenberg. Inzwischen fordern auch Wissenschafts Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a. M. 2012; Ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.  In dem Statement „Jeder Mensch ist von Natur aus kreativ“ gipfelte J. P. Guilfords Antrittsrede vor der Jahresversammlung der US-Psychologenvereinigung APA am 5.9.1950 (wie Anm. 3).  Ingolf U. Dalferth: Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011.  Eberhard Jüngel: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, 2., um ein Register erweiterte Auflage, Tübingen 2003.  Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Neuauflage, Wien u. a. 2016.  Reckwitz, Erfindung der Kreativität (wie Anm. 10), S. 18.

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politiker und Universitätsverwaltungen mehr Kreativität, um die bürokratische Rationalität und ökonomische Effektivität eines durchorganisierten Wissenschaftsbetriebs zu steigern. Soweit einige Beobachtungen zu einem thematisch disparaten Feld sowohl, was das Konzept Kreativität als auch, was dessen Verhältnis zur Theologie betrifft. Ich möchte im folgenden etwas eingehender vom Standpunkt des christlichen Glaubens und seiner Lehre aus nach einem möglichen Verständnis von Kreativität fragen.

2 Göttliche und menschliche Kreativität im Christentum Aus der Binnensicht des christlichen Glaubens und seiner Lehre ist die Rede von einem kreativen Vermögen des Menschen mit theologischen Vorbehalten und Einschränkungen verbunden. Denn Kreativität kommt – wie gesagt – von creare und schöpferisches Handeln ist christlichem Schöpferglauben zufolge Gott vorbehalten. Sei es im Sinne einer lebensdienlichen Gestaltung des urzeitlichen Chaos – wie es die biblischen Schriften erzählen – sei es im Sinne einer uranfänglichen Schöpfung aus dem Nichts – wie es die Kirchenväter lehren. Der menschliche Handlungsspielraum bleibt in jedem Fall darauf beschränkt, die guten Gaben Gottes dankbar in Empfang zu nehmen und verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen. Als Gottes Ebenbild ist der Mensch zwar Gottes Sachwalter auf Erden aber kein zweiter Schöpfer. Menschliche Kreativität kann christlicher Glaubenslehre zufolge kein Erschaffen und Erfinden von Neuem bedeuten, sondern allenfalls das Entdecken der von Gott eröffneten Möglichkeiten. In der Kreativitätsforschung unterscheidet man zwischen Big C creativity und small c creativity. Big C steht für bahnbrechende Neuerungen und innovative Durchbrüche, small c dagegen für die kleinen Einfälle und Lösungen, die das tägliche Leben erleichtern. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die christliche Glaubenslehre dem Menschen nur eine kleine und keine große Kreativität zugesteht. Entsprechend eindeutig sind deshalb auch Aktiv- und Passivposten verteilt: Ingolf U. Dalferth formuliert knapp und bündig: „Gott ist der, der ganz und ausschließlich aktiv ist, der Mensch dagegen der, der zuerst und vor allem passiv ist. Im komplexen Lebensverhältnis zwischen Gott und Mensch ist Passivität die Grundbestimmung des Menschen, Aktivität dagegen die Grundbestimmung Gottes“.¹⁶ Die große Kreativität des Schöpfers hat in der christlichen Glaubenslehre  Dalferth, Umsonst (wie Anm. 12), S. 46.

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die theologische Delegitimierung menschlicher Kreativität zur Folge. Neugierde, Phantasie und Einfallsreichtum galten zumindest jahrhundertelang als Ausdruck menschlicher Selbstüberhebung und somit als Sünde. Doch ganz so einfach und eindeutig liegen die Dinge selbst im Bereich der pura doctrina nicht. Die exklusive Machtverteilung zwischen Gott und Mensch erfährt nämlich schon durch das Schöpfungsmodell gewisse Modifikationen. Die Übertragung des Bildes vom Schöpfer auf Gott hat theologische Nebenfolgen. Es ist nämlich keine Schöpfung denkbar, die nicht auch Rückwirkungen auf den Schöpfer hätte und damit ein Moment der Passivität für diesen bedeuten würde. Und es ist auch kein Geschöpf denkbar, dem nicht schon durch seine Existenz eine gewisse Selbständigkeit und Aktivität gegenüber dem Schöpfer zukäme, zumal wenn dieses Geschöpf mit Freiheit und Verantwortung begabt sein soll. Aktiv- und Passivposten, Spontaneität und Rezeptivität lassen sich also schon im Rahmen des Modells von Schöpfer und Schöpfung keineswegs so säuberlich aufteilen, wie es einer theistisch-theozentrischen Idealvorstellung entspräche. Darüber hinaus kommt es in der facettenreichen Christentumsgeschichte auch noch zu anderen Erweichungen der dogmatischen Ausschlussregel menschlicher Kreativität und Schöpferkraft. Dort z. B., wo die Freiheit des Menschen in den Blick tritt, um etwa die Verantwortung für die Sünde als Bedingung ihrer Schuldhaftigkeit darzutun, wird der Mensch durchaus als Zweitursache zugelassen, was nichts anderes bedeutet als, dass er die Möglichkeit hat, im Rahmen seiner geschöpflichen Freiheit kreative Tatbestände zu begründen, die vorher nicht bestanden haben und auch nicht auf Gott zurückgeführt werden können. Gleichwohl kann man festhalten, dass es in der christlichen Glaubenslehre so etwas wie eine dogmatische Denk- und Sprachregel gibt, die dem Prinzip des theistischen Maximalismus¹⁷ verpflichtet ist, wonach das Gottkonzept durch größtmögliche Aktivität und Kreativität sowie das Menschkonzept durch größtmögliche Passivität und Rezeptivität zu bestimmen ist, ohne dabei in Widersprüche mit anderen Glaubensaussagen zu geraten. Als orthodox können theologische Aussagen demzufolge gelten, wenn sie dieser Regel soweit wie möglich entsprechen. Als heterodox dagegen gelten Aussagen, die diese Regel missachten, z. B. um die damit verbundenen Inkonsistenzen auszuräumen oder um die wachsenden Spannungen zwischen theistischer Schöpfungslehre und modernem Wirklichkeitsverständnis auszugleichen. Zu hoher theologischer Kreativität haben es dabei beide Seiten gebracht. Die orthodox Konservativen, weil sie den

 George A. Lindbeck spricht von dem ‚Prinzip des christologischen Maximalismus‘ (George A. Lindbeck: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, Gütersloh 1994, S. 135 – 142).

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Glauben in seiner überlieferten Gestalt um jeden Preis erhalten wollen und zu diesem Zweck nach kreativen Problemlösungsstrategien suchen und die liberal Fortschrittlichen, weil sie den religiösen Gehalt der überlieferten Glaubensvorstellungen vor dem Forum der kritischen Vernunft verteidigen und in eine zeitgemäße Form bringen wollen. Zu den kreativsten Köpfen der theologischen Fortschrittspartei in neuerer Zeit zählt mit Sicherheit Paul Tillich.¹⁸ Auf ihn will ich im Zusammenhang unserer Fragestellung kurz eingehen, weil er den Kreativitätsbegriff als einziger namhafter Systematiker im 20. Jahrhundert verwendet und zwar bereits zum Zeitpunkt seines Aufkommens in den 50er Jahren, nämlich in seinem dreibändigen Hauptwerk der Systematischen Theologie, die von 1951– 1963 auf englisch und von 1955 – 1966 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Dabei lohnt es sich, die beiden Ausgaben zu vergleichen, denn von den zahlreichen Stellen, wo im Englischen von ‚creativity‘ die Rede ist, werden im Deutschen nur sieben Stellen im ersten Band mit ‚Kreativität‘ wiedergegeben. Das ist insofern berechtigt, als das englische creativity für den emigrierten Tillich kein sachlich neuer Begriff war, sondern eine Übersetzung für das Schöpferische, das im Zusammenhang mit dem Konzept des Dämonischen auch vorher schon zu seinen charakteristischen Kategorien gehört¹⁹ und im ersten Drittel des 20. Jhs. ein kurrenter Begriff in den intellektuellen Debatten Deutschlands war.²⁰ Gleichwohl markiert Tillichs Systematische Theologie nicht nur das erste Vorkommen des Kreativitätsbegriffes in der neueren protestantischen Theologie sondern auch ein klares Problembewusstsein für die religionstheologischen Implikationen des Kreativitätskonzeptes insbesondere im Zusammenhang mit drei Themenkreisen: Erstens im Kontext der fundamentaltheologischen Frage, wie überhaupt ein menschlicher Zugang zu göttlichen Offenbarungen zu denken sei, zweitens im Zusammenhang mit der Rede von Gott und drittens in der theologischen Lehre vom Menschen. In fundamentaltheologischer Hinsicht erscheint Tillich ein Verständnis von religiöser Kreativität bedenkenswert, weil und insofern das Konzept des Heiligen und der Heiligkeit als mögliches Medium von Offenbarung verstanden werden

 So bekennt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade nach einem gemeinsam gehaltenen Seminar im Jahr 1964, Tillich zu erleben sei „the almost charismatic experience of witnessing a creative mind in the very process of creation.“ (Mircea Eliade: Paul Tillich and the history of religions, in: Jerald C. Brauer (Ed.): The future of religions / Paul Tillich, New York 1966, S. 32).  Z. B. Paul Tillich: Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925 – 1927), hg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Werner Schüssler und Erdmann Sturm, Berlin, New York 2005, S. 224– 228.  Karl Heckel: Schöpferische Gestaltung und Ästhetik, Heidelberg 1923; Rudolf Odebrecht: Gefühl und schöpferische Gestaltung. Leitgedanken zu einer Philosophie der Kunst, Berlin 1929.

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kann. Auf der Grundlage von Heiligkeit als religiöser Virtuosität wie sie von Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto entwickelt worden ist, können religiös produktive Personen für andere Menschen zum Offenbarungsmedium werden. Die religiöse Virtuosität der einen kann zum Medium eines Offenbarungserlebnisses für diejenigen werden, „die durch ihre Kraft und ihre Kreativität ergriffen werden.“²¹ Das Kriterium für eine wirkungsvolle religiöse Darstellung und Mitteilung wird von Tillich also in ihrer Kreativität und Kräftigkeit gesehen und nicht in kirchenamtlich oder lehrtechnisch abgesicherter Konformität. Doch das Konzept der religiösen Kreativität erfüllt bei Tillich nicht nur eine formale Funktion sondern erschließt auch einen materialen Gehalt. Denn im Medium der Kreativität religiös produktiver Menschen offenbart sich nicht irgendetwas, sondern die göttliche Kreativität selbst. Was im Medium religiöser Kreativität erlebt werden kann, ist die Kreativität des göttlichen Lebens als ein wesentliches Strukturmoment des Göttlichen. Tillich konzipiert die Gotteslehre bekanntlich mit Hilfe der Spannung von Strukturmomenten, zu denen auch die Polarität von Dynamik und Form gehört. Während Form und Grund für die unveränderliche Seinsmächtigkeit des Göttlichen stehen, bezieht sich der Begriff der göttlichen Kreativität auf das Moment der dynamischen Lebendigkeit des Göttlichen: „Die göttliche Kreativität, Gottes Partizipation an der Geschichte, sein über sich selbst Hinausgehen wurzeln in diesem dynamischen Element.“²² Tillich legt Wert auf die Feststellung, dass es sich hierbei nicht um eine begriffliche Bestimmung des Göttlichen im strengen Sinne handelt, sondern um symbolische Rede. Gottes Kreativität ist also nicht wie im älteren theologischen Supranaturalismus der dogmatische Begründungszusammenhang für die davon abgeleitete kreatürliche Kreativität des Menschen, sondern umgekehrt ist die geschichtliche Kreativität des Menschen der anthropologische und lebensweltliche Entdeckungszusammenhang für die symbolische Rede von der Kreativität Gottes bzw. der göttlichen Kreativität. Und zwar dergestalt, dass in der Rede von der göttlichen Kreativität der Sinnaspekt neben dem Machtaspekt in der Symbolisierung des Göttlichen zur Geltung kommt.²³ Von Tillichs Überlegungen zur göttlichen Kreativität ist es nur ein kleiner Schritt zu der systematisch elaboriertesten Kreativitätskonzeption innerhalb der neueren protestantischen Theologie bei dem amerikanischen Theologen Gordon D. Kaufman, der von 1963 – 1995 an der Harvard Divinity School lehrte. Auf der Basis einer natürlichen Theologie, die die Wirklichkeit konsequent vor dem

 Paul Tillich: Systematische Theologie, Band I, 8. Aufl., Berlin ,New York 1987, S. 147.  Ebd., S. 285.  Ebd., S. 289.

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Hintergrund des kosmologisch-evolutionären und historisch-kulturellen Geschehens versteht, entwickelt Kaufman das Programm einer konstruktiven Theologie, die Religion als menschliche Deutung der Wirklichkeit versteht und dabei der menschlichen Einbildungskraft einen zentralen Stellenwert zumisst. Die Überzeugungskraft religiöser Weltdeutungen bemisst sich an ihrer wirklichkeitserschließenden und ihrer ethisch-orientierenden Leistung. Vor diesem Hintergrund erkennt Kaufman die Aufgabe der Theologie darin, die überlieferten Glaubensvorstellungen des Christentums im Licht des modernen, wissenschaftlich orientierten Wirklichkeitsverständnisses, das heißt im Rahmen einer nichtdualistischen und entwicklungsgeschichtlichen Weltsicht zu rekonstruieren. Von Gott will Kaufman deshalb auch nicht mehr in theistischen Kategorien als von einem übernatürlichen, allmächtigen und personenhaften Schöpfer sprechen, sondern kosmologisch sowie entwicklungs- und kulturgeschichtlich als Kreativität. Kaufman fasst die Thesen seines Buches In the Beginning… Creativity ²⁴ wie folgt zusammen: „we should no longer think of God as The Creator (a kind of super-person) but rather as the creativity manifest throughout the universe from its beginning in the Big Bang, through the cosmic and biological evolutionary developments, all the way down to and including the emergence and development of us humans.“²⁵ Das heißt, „that what we today should regard as God is the ongoing creativity in the universe – the bringing (or coming) into being of what is genuinely new, something transformative; the opening up of new possibilities through time – a creativity that has been, overall, significantly serendipitous for us humans.“²⁶ Mit Kaufmans kreativitätstheoretischer Umformung des Gottesgedankens und der Schöpfungslehre verbindet sich auch eine umfassende Würdigung menschlich-geschöpflicher Kreativität. Im Rahmen eines nichtdualistischen entwicklungs-geschichtlichen Wirklichkeitsverständnisses können göttliche und menschliche Kreativität überhaupt nicht in der Weise unterschieden werden, wie in einem metaphysischen Zwei-Welten-Modell. Von daher leitet das Konzept der göttlichen Kreativität, die keine akzidentielle Eigenschaft eines welttranszendenten Gottes, sondern das substanzielle Wesen des Göttlichen im Weltprozess ist, folgerichtig über zu der schöpferischen Kreativität des Menschen, der nicht nur Statthalter sondern auch Gestalter der Wirklichkeit ist. Damit kann Kaufmans kreativitätstheologisches Modernisierungsprogramm auch jenen an Gordon D. Kaufmann: In the Beginning… Creativity, Augsburg 2000.  Gordon D. Kaufmann: Prairie View Lectures. Some Concluding Remarks, in: Mennonite Life, Band 60, 4 (2005), https://ml.bethelks.edu/issue/vol-60-no-4/article/prairie-view-lectures-someconcluding-remarks/ (abgerufen am 12.02. 2019).  Ebd.

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thropologisch-ästhetischen Kreativitätsdiskurs integrieren, der seit der Renaissance und ihrem neuen Verständnis der Kunst bzw. des Künstlers zu einer bis dahin undenkbaren Hochschätzung menschlicher Schöpferkraft geführt hat. Nach der kreativen Übertragung von Kunst- und Künstlermetaphern auf Gott als deus artifex im Spätmittelalter erfolgt in der Renaissance in umgekehrter Übertragungsrichtung die sakralisierende Metaphorisierung des Künstlers als divino artista. Aufgrund von kreativer Phantasie und schöpferischer Einbildungskraft gilt der Künstler als göttliches Genie, in welchem sich Gottes Schöpferkraft inkarniert. Der kreativen Allmacht des Schöpfers wird der Künstler als Mittler zwischen Gott und den gewöhnlichen Menschen beigesellt. Vergleichbar mit dieser Übertragung des Bildes vom Künstler auf Gott und der Übertragung der Göttlichkeit auf den Künstler kommt es bei Kaufman zu einer metaphorischen Interaktion zwischen Gott und Mensch auf der Basis des Kreativitätskonzeptes. Wie die Kunst in der Renaissance wird bei ihm die Kreativität zum tertium comparationis einer metaphorisch gestifteten Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch. Göttliche und menschliche Kreativität haben gleichermaßen Anteil und sind beide involviert in den Prozess der kreativen Weltgestaltung. Ich komme zum Schluss. Die an zwei Autoren illustrierte kreativitätstheologische Umformung ließe sich theologie- und geistesgeschichtlich natürlich sehr viel umfassender rekonstruieren. Mit ihren religiösen Vorstufen in der Mystik und im radikalem Pietismus, mit ihren spekulativen Höhepunkten in der Religionsphilosophie des deutschen Idealismus sowie mit in ihren modernen Ausprägungen in vitalistischen, transzendentalistischen, monistischen und evolutionistischen Programmen. Was nur deutlich werden sollte, ist die Beobachtung, dass sich die religiöse und theologische Kreativität des Christentums auch von dessen Selbstverständnis her nicht auf die dogmatischen Restriktionen beschränken lässt, die es sich im Rahmen einer metaphysisch-theistischen Lehre vom Schöpfer und seiner Schöpfung auferlegt hat und, dass eine entwicklungsfähige Theologie auch die kreative Fortentwicklung des Christentums zu denken erlaubt. Ein religions- und theologiekreatives Christentum muss sich nicht auf eine geschlossene Entdeckungswelt festlegen lassen, sondern hat Anteil an der aktiven Gestaltung offener Erfindungswelten. Nicht zuletzt die kreative Adaption des Kreativitätsbegriffs seitens der Theologie in Gestalt der Theoriemetapher von der ‚Kreativität des Christentums‘, die uns in den kommenden Tagen sicher zu zahlreichen theologiekreativen Überlegungen anstiften wird, ist geeignet diese Behauptung zu untermauern.

Hartmut Kreß

Von der religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt Das spannungsvolle Verhältnis des Christentums zur Rechtsordnung – mit einem Ausblick auf das heutige Problem „konfessioneller Religionsunterricht versus Ethikunterricht“

Wie verhalten sich Religionen, hier speziell das Christentum einerseits, Staat und Recht andererseits zueinander? Mit dieser komplexen Frage, die mir für den Marburger Troeltsch-Kongress mit der Formulierung „Von der religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt“ als Thema vorgegeben worden war, befasse ich mich im Folgenden ausschnitthaft in fünf Teilschritten. Die fünf Abschnitte greifen kulturgeschichtliche Aspekte auf, wobei im Ergebnis jedoch konkrete Themen der Gegenwart in den Blick gelangen. Einem Troeltsch-Kongress Rechnung tragend werde ich Gedankengänge aufnehmen, die schon für Troeltsch selbst eine Rolle spielten; und es wird sich zeigen, dass bestimmte Ideen, die er als Vordenker des Kulturprotestantismus vor ca. 100 Jahren vortrug, heute erneut zu diskutieren sind. Hierzu gehören seine Reflexionen zum schulischen konfessionellen Religionsunterricht, auf die ich an späterer Stelle schwerpunktmäßig eingehen werde. Dass aktuell über seine Lösungsansätze hinauszugehen ist, kann nicht überraschen. – Um mich dem Fragenspektrum anzunähern, bringe ich das Verhältnis von Recht und Religion zunächst auf der Grundsatzebene kursorisch zur Sprache.

1 Religion und Recht: Paradigmenwechsel in Neuzeit und Moderne Von Troeltsch stammt der markante Satz: „Die Säkularisation des Staates ist die wichtigste Tatsache der modernen Welt“.¹ In der Tat hat sich zur Staatsidee, namentlich auch zur Korrelation von Staat und Religion in der Moderne ein tiefer Einschnitt ereignet. Um ihn zu charakterisieren, erinnere ich zusätzlich an ein Diktum von Immanuel Kant. In seiner „Metaphysik der Sitten“ schrieb er bündig: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechts-

 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Paul Hinneberg (Hg.): Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abteilung IV.1, II. Hälfte, Geschichte der christlichen Religion, 2. Aufl., Leipzig, Berlin 1922, S. 431– 792, hier S. 624. https://doi.org/10.1515/9783110733075-004

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gesetzen.“² Hiermit setzte Kant voraus, dass die Menschen, die in einem definierten Gebiet, einem Territorium, faktisch zusammenleben, einem Staat als Organisationsgefüge auf jeden Fall angehören. Dieser ist als Rechtsstaat zu begreifen; ja er wird mit Gesetz und Recht identifiziert. Das staatliche Recht hat die Funktion, die äußere Ordnung und den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Zugleich grenzte Kant die Zuständigkeit des Staates bzw. des staatlich gesetzten Rechts signifikant ein. Für die Moral und für die persönliche, z. B. religiöse Gesinnung der Menschen kommt dem Staat keinerlei Funktion zu. Vielmehr sind die einzelnen Menschen für ihr Gewissen und für ihr forum internum selbst verantwortlich. Eine derartige Sicht auf den Staat und auf das Recht bedeutete für das Abendland einen Paradigmenwechsel. Im Sinne der Titelformulierung dieses Beitrags erfolgte ein Überschritt von der religiösen zur rechtlichen Gestaltung der Welt. Denn die klassische Vormacht der Religion ist hiermit gebrochen worden. Die Religion macht nun schon gar nicht mehr das Einheitsmoment für menschliches Zusammenleben aus, so wie es idealtypisch im mittelalterlichen römischkatholischen corpus Christianum oder in der frühen Neuzeit in den lutherischen, katholischen oder reformierten Territorien mit ihrem „cuius regio, eius religio“ der Fall gewesen war. Stattdessen sprachen Kant und die Aufklärung den Menschen das Recht zu, ihre Glaubensüberzeugung und ihre Moral eigenständig frei zu wählen und sich dabei auch von einer Kirche oder Religion abzulösen. Genau dies hat ihnen der Rechtsstaat zu garantieren. Im Ergebnis erbringt der Rechtsstaat für sie daher einen sehr hohen Zuwachs an persönlicher Freiheit. Der Übergang von der früheren kulturellen Dominanz der Religion hin zum Vorrang des Staates, der die individuelle Freiheit gewährleistet – von Troeltsch in das zitierte Diktum eingekleidet: „Die Säkularisation des Staates ist die wichtigste Tatsache der modernen Welt“ –, ereignete sich freilich nicht geradlinig, sondern mit Hemmnissen. Die Hemmschwellen beruhten weitgehend – ausgerechnet – auf religiösen Anschauungen und religiöser Erblast. Troeltsch kommt das Verdienst zu, auch diesen Sachverhalt erkannt zu haben. Worum geht es? Unter anderem darum, dass ausgerechnet mit religiöser Begründung der Staat im mitteleuropäisch-deutschen Raum in Neuzeit und Moderne zu stark aufgewertet worden ist. Paradoxerweise wurde dem weltlichen Staat eine Hoheit, Befehlsgewalt und Mächtigkeit zugeschrieben, die genau dasjenige einengte und beschnitt, was er eigentlich achten und schützen soll: die Freiheit und die Selbstbestimmung der Bürger. In aktuellen Debatten wird dieser Sachverhalt als Staatspaternalismus bezeichnet. Troeltsch sprach vom „Patriachalismus“.

 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre § 45, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Kant, Werke in sechs Bänden, Band 4, 5. Aufl., Darmstadt 1968, S. 303 – 634, hier S. 431.

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2 Der Überhang des Paternalismus in der deutschen Rechtsordnung – eine Erblast des Luthertums Den Patriarchalismus bzw. Paternalismus, der im neueren deutschen Staatsverständnis anzutreffen ist, beurteilte Troeltsch als eine bedrückende Folge der Religion, präzis des Luthertums. Die lutherische Linie des Protestantismus hat er nicht sonderlich geschätzt. Das Wort „das Luthertum“ klingt bei ihm oft pejorativ und manchmal geradezu so, als ob ein Unterton der Verachtung mitschwingt. Inhaltlich lastete er „dem Luthertum“ an, in der Neuzeit ein Staats- und Rechtsdenken etabliert oder zumindest gefördert zu haben, das den Staat überhöhte und die einzelnen Menschen erniedrigte. Die Pointe der lutherischen Anschauung sei es gewesen, den Staat zwar zu entklerikalisieren und ihn vom Kirchenrecht zu befreien, ihn dafür aber auf Gott selbst zu gründen und ihn hierdurch zu übersteigern. Weil lutherischer Lehre gemäß Gott den Staat eingesetzt habe, sei dann die Hoheit Gottes des Vaters auf den Staat bzw. auf den Landesvater übertragen worden. Mit Troeltsch gesagt: „Wie das Verhältnis Gottes zu den Menschen selbst ein patriarchalisches ist, so wird auch das der Menschen zu einander ein solches“³ – und zwar dergestalt, dass der von Gott legitimierte, ihn repräsentierende Landesvater über die Landeskinder gebietet. Die kultur- und rechtsgeschichtlich bedrückende Folge bestand darin, dass hierdurch jahrhundertelang der Anspruch untergraben wurde, der den Landeskindern – klassisch gesagt: den Untertanen, modern: den Bürgern – auf ihr persönliches Recht und auf persönliche Freiheitsspielräume eigentlich zusteht. Nun verzichte ich darauf, auf heutigem Forschungsniveau nachzuzeichnen, wie zutreffend Troeltsch‘ Kritik am Patriarchalismus/Paternalismus der lutherischen Staats- und Rechtsidee gewesen ist. Geistesgeschichtlich war es fatal, dass abgesehen vom steilen Obrigkeitsgedanken bei Luther selbst sein Weggefährte Melanchthon die Anschauungen von Aristoteles, die auf die Freiheit der Bürger in der polis abgezielt hatten, staatspaternalistisch umgebogen hat. Auf der gleichen Linie liegt es, dass in der frühen Neuzeit der Staat seinerseits eine „Religionspolicey“ einrichtete und die weltliche Obrigkeit paradoxerweise sogar das religiöse Verhalten, etwa den Kirchgang kontrollierte.⁴ Im Ergebnis ist zu konstatie-

 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 3. Aufl., Tübingen 1923, S. 551.  Vgl. Hartmut Kreß: Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Stuttgart 2018, S. 173 ff., S. 176 f.

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ren: Das Dilemma, dass eine freiheitsorientierte Demokratie und ein liberaler Rechtsstaat in Deutschland erst viel später zum Zuge gelangt sind als in Nordamerika und in Westeuropa, ist geistesgeschichtlich als Hypothek und Erblast zu bewerten, die wesentlich der lutherischen Religion zuzuschreiben bzw. ihr zu „verdanken“ ist. Indessen ist es keineswegs nur geistesgeschichtlich interessant, sich diesen Sachverhalt zu vergegenwärtigen. Die Problematik des staatlichen Paternalismus ist vielmehr noch für die Gegenwart zu bedenken. Zurzeit wird sie juristisch, verhaltensökonomisch, politologisch und sozialethisch reflektiert.⁵ Der Kürze halber gehe ich hier nicht auf die theoretischen Erörterungen ein, sondern beschränke mich darauf, materialethisch zu veranschaulichen, dass und wie in der Bundesrepublik Deutschland ein bedenklicher staatlicher Paternalismus heute geradezu neu Platz greift. Er zeigt sich etwa im Zusammenhang der Biomedizin. In der deutschen staatlichen Gesetzgebung hat sich die Tendenz ausgeprägt, das Selbstbestimmungsrecht von Bürgerinnen und Bürgern im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zumindest punktuell sehr deutlich zu beschneiden. Signifikant sind beispielsweise die Rechtsnormen zur Präimplantationsdiagnostik (PID). Bei einer PID wird ein Frühembryo nach außerkörperlicher Befruchtung darauf untersucht, ob er von schweren Krankheitsgefahren bedroht ist, die in der jeweiligen Familie bereits aufgetreten sind und die die potenziellen Eltern ihrem erhofften Kind ersparen möchten. Im Inland ist die Präimplantationsdiagnostik aktuell zwar nicht mehr strikt verboten. Aber die Bundesrepublik ist weltweit der einzige Staat, der vorsieht, dass jede einzelne Durchführung einer PID von einer Ethikkommission gesondert genehmigt werden muss. Zu diesem Zweck muss die staatlich approbierte Ethikkommission laut einschlägiger Rechtsverordnung beurteilen, ob es im konkreten Einzelfall „psychisch, sozial und ethisch“ überhaupt vertretbar sei, dass eine Frau bzw. ein Paar das Verfahren in Anspruch nimmt. D. h., der Staat entscheidet explizit und gezielt auch in „ethischer“ Hinsicht für bzw. über die Frau und ihren Partner, die sich ein Kind wünschen. Mit einer derartigen Vorgabe hat das geltende deutsche Recht letztlich sogar die Grenzlinie von einem sog. weichen zu einem harten Paternalismus überschritten.⁶

 Vgl. z. B. Reinhard Damm: Imperfekte Autonomie und Neopaternalismus, in: Medizinrecht 20 (2002), S. 375 – 387; Michael Anderheiden u. a. (Hg.): Paternalismus und Recht, Tübingen 2006; Bijan Fateh-Moghadam u. a. (Hg.): Grenzen des Paternalismus, Stuttgart 2010; Frederike Kolbe: Freiheitsschutz vor staatlicher Gesundheitssteuerung. Grundrechtliche Grenzen paternalistischen Staatshandelns, Baden-Baden 2017.  Vgl. Hartmut Kreß: Staat und Person (wie Anm. 4), S. 188 ff.

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Weitere Beispiele für derzeitigen staatlichen moralischen Neopaternalismus sind hier beiseite zu lassen. Sehr zu denken gibt es freilich, in welch hohem Maß staatliche moralische Durchgriffe auf die Bürger namentlich in der Biomedizin in der Bundesrepublik darauf beruhen, dass ausgerechnet die Kirchen sich hierfür einsetzten und gegenüber dem Gesetzgeber entsprechende Empfehlungen aussprachen.⁷ Es stellt also keineswegs nur ein Phänomen der neuzeitlich-modernen Kulturgeschichte dar – so wie es ehedem von Troeltsch analysiert worden ist –, dass staatlicher Paternalismus im Gefolge von Religion auftritt. Vielmehr handelt es sich um ein aktuelles Dilemma der Staatsordnung und der Rechtspolitik. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn ich nun auf den Kerngedanken im modernen Rechtsstaat zu sprechen komme, nämlich auf die Freiheitsidee und die Selbstbestimmungsrechte der Einzelperson.

3 Zugewinn an Freiheit durch den modernen liberalen Verfassungsstaat – Rückstand in den Kirchen Mit meinem Rekurs auf den Freiheitsbegriff erfolgt erneut eine Anspielung auf Troeltsch. Zu erinnern ist etwa an seinen Vortrag vom 21. April 1906 bei der IX. Versammlung deutscher Historiker in Stuttgart über die „Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“. Ihm lag daran, als Qualitätsmerkmal der Moderne die Chance auf eigenständige Entfaltung der eigenen Existenz, mithin eine individualistische Persönlichkeitskultur sowie die Idee der Selbstbestimmung herauszuarbeiten. Deswegen erwähnte er den Rang der Religions- und Gewissensfreiheit, der Wissenschafts- oder Kunstfreiheit und wies generell auf die vom Staat zu schützenden Freiheitsrechte hin. Geistes- oder kulturgeschichtlich leitete er den Zugewinn an Freiheit, der für die Moderne charakteristisch sei, immerhin auch – zumindest indirekt – aus religiösen Wurzeln ab.⁸ Er fand sie bei jenen christlichen Gruppen, die im 17./18. Jahrhundert aus Mitteleuropa nach Nordamerika emigriert waren, also bei freikirchlichen Strömungen, Puritanern, Baptisten und vergleichbaren Glaubensrichtungen. Mit einer derartigen Verankerung moderner Freiheitsideen und -rechte in religiösen  In den letzten Jahren z. B. auch bei Fragen der Sterbehilfe; hierzu Hartmut Kreß: Sterbehilfe: Die Sicht der Theologie, ihre Prämissen und ihre Schwierigkeiten, in: Medizinrecht 36 (2018), S. 790 – 796.  Vgl. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München, Berlin 1906, S. 28, S. 56.

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protestantischen Ursprüngen folgte er den Thesen, die sein Heidelberger juristischer Universitätskollege Georg Jellinek über die Herkunft der Menschenrechte entfaltete hatte.⁹ Historische Einzelanalysen klammere ich aus und erörtere auch nicht, inwiefern Troeltsch die Vorstellungen Jellineks modifizierte.¹⁰ Ich deute auch nur an, dass die genuin religiöse Genealogie der modernen einschließlich einer rechtlichen und menschenrechtlichen Freiheitsidee im Protestantismus, auf die Troeltsch im Anschluss an Jellinek das Augenmerk richtete¹¹, zumindest der Ergänzung bedarf. Denn als Hintergrund des heutigen Rechts auf Freiheit sind vor allem Impulse der Aufklärung, die Theorie vom Staatsvertrag und die profan naturrechtliche Lehre vom Recht auf Eigentum zu veranschlagen. Für Deutschland sind zudem jüdisch-philosophische Wurzeln zu sehen, die von Moses Mendelssohn und in seinem Umfeld entwickelt worden sind.¹² Die Darlegungen sowohl von Jellinek als auch von Troeltsch waren insofern zu schmalspurig angelegt gewesen.¹³ Dennoch bleibt ihre Pointe von Belang, die die Korrelation von Religion und Recht, Religion und Freiheitsrechten betrifft. Zwar hatte das Luthertum der Moderne im Weg gestanden, weil es dem freiheitswidrigen Staatspaternalismus Vorschub leistete. Jedoch haben laut Troeltsch immerhin andere religiöse Strömungen, namentlich der westliche angloamerikanische Protestantismus mit dazu beigetragen, dass der moderne Staat sich auf die Persönlichkeitsund Freiheitsrechte der Menschen verpflichtet hat. Nun mag man in dieser Aussage Troeltsch‘ eine partielle Ehrenrettung von Religion und Protestantismus erblicken. Jedoch wäre es kurzatmig, es hierbei zu belassen. Vielmehr ist – leider – zu ergänzen, dass die Freiheitswidrigkeit des Christentums einschließlich des Protestantismus auf der Tagesordnung bleibt. Mit dem Leitbild persönlicher Freiheit und mit dem Recht auf Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit hadern die christlichen Kirchen noch in der Gegenwart. Seit dem späten 20. Jahrhundert bejahen die römisch-katholische Kirche und evangelische Kirchen die Menschenrechte als staatlich garantiertes Recht jedes Einzelnen auf persönliche Selbstbestimmung und auf Religionsfrei-

 Vgl. ebd., S. 38 ff.  Vgl. Horst Dreier: Zur Bedeutung der Reformation bei der Formierung des säkularen Staates, in: Maik Reichel u. a. (Hg.): Reformation und Politik, Halle 2015, S. 301– 346, hier S. 327 ff., S. 341 ff.  Vgl. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus (wie Anm. 8), S. 38 f., S. 58.  Vgl. Hartmut Kreß: Staat und Person (wie Anm. 4), S. 97 ff., S. 207 ff.  So auch Horst Dreier: Zur Bedeutung der Reformation (wie Anm. 10), S. 330 ff.

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heit, die sie zuvor vehement abgelehnt hatten, zwar prinzipiell.¹⁴ Aber für sich selbst, für ihren Binnenbereich verbleiben sie bis heute bei einem Nein oder zumindest bei starker Zurückhaltung. Dies zeigt sich brennglasartig am deutschen kirchlichen Arbeitsrecht. Um die Problematik zu illustrieren, sei hier nur ein einzelner Sachverhalt erwähnt. Im Jahr 2018 hat der Europäische Gerichtshof den deutschen Kirchen zwei Mal durch Richterspruch ins Stammbuch schreiben müssen, dass sie als Arbeitgeber die Privatsphäre, die persönliche Lebensführung und die Weltanschauungs- sowie Religionsfreiheit ihrer Arbeitnehmer und von Arbeitsplatzbewerbern zu achten haben. Beim ersten Urteil vom 17. April 2018 ging es darum, dass die evangelische Diakonie eine Arbeitsplatzbewerberin wegen ihres „falschen“ Glaubens, nämlich ihrer Religionslosigkeit diskriminiert hatte.¹⁵ Weil die beiden Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland weit vor sonstigen Unternehmen wie der Post AG, VW, Siemens oder Fresenius inländisch die größten Arbeitgeber sind – mit ca. 1,4 Millionen Beschäftigten; nur im staatlichen öffentlichen Dienst wird eine noch höhere Zahl von Menschen beschäftigt –, sind die beiden EuGH-Urteile für sehr viele Menschen relevant: für Ärztinnen und Ärzte in kirchlich getragenen Kliniken, für Erzieherinnen, Sozialarbeiter, Pflegepersonal sowie für weitere Berufsgruppen mit kirchlichem Arbeitsvertrag. Bis heute nehmen die Kirchen in Deutschland als religiöses Privileg in Anspruch, eigene arbeitsrechtliche Normen jenseits des staatlichen Rechts zu setzen. Sie nutzen ihr Privileg dahingehend, dass sie ihren Beschäftigten wesentliche Grundrechte, persönliche Freiheitsrechte sowie Partizipationsrechte als Arbeitnehmer vorenthalten. Am kirchlichen Arbeitsrecht tritt zutage, dass die Kirchen mit dem Zugewinn an Freiheit, den das moderne weltliche Recht erbracht hat, erstens in religiöser Hinsicht und zweitens in der Rezeption für ihren Binnenbereich noch immer größte Schwierigkeiten haben.¹⁶

 Zur verspäteten Anerkennung der Menschenrechte auf katholischer Seite vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2004, S. 193 – 246; zu den Hemmnissen und zur späten Rezeption von Menschenrechten im evangelischen Spektrum vgl. Arnulf von Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, S. 197– 218.  Vgl. Europäischer Gerichtshof, Urteil v. 17.4. 2018, Az. C-414/16 (Fall Egenberger).  Vgl. Hartmut Kreß: Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht – sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten, Baden-Baden 2014; Katharina Kleine Vennekate: Dienstgemeinschaft und das kirchliche Arbeitsrecht in der Evangelischen Kirche in Deutschland – 1945 bis 1980, Münster 2015; Hermann Weber: Kirchliches Arbeitsrecht im Wandel?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 48 (2015), S. 156 – 157; Malte Dürr: „Dienstgemeinschaft sagt mir nichts“. Glaubenseinstellungen, Motivationen und Mobilisierungspotenziale diakonisch Beschäftigter, Berlin 2016; zu den EuGH-Urteilen des Jahres 2018 (evangelisch: Fall Egenberger; katholisch: Chefarztfall) Hartmut Kreß: Der „Chefarztfall“ vor dem EuGH. Eine Richtungsent-

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Mit der Bezugnahme auf das kirchliche Arbeitsrecht ist nun zugleich das Verhältnis von Staat und Kirchen als solches berührt. Ich beleuchte es zunächst auf der Grundsatzebene, um dann in einem fünften und letzten Schritt eine weitere, ganz bestimmte religions- und rechtspolitische Thematik hervorzuheben, zu der aktuell Klärungsbedarf ansteht. Dabei komme ich auch auf Troeltsch zu sprechen.

4 Das rechtliche Verhältnis von Staat und Kirchen: Durchbruch in Weimar, Reformbedarf in der Bundesrepublik Deutschland Ähnlich wie Jellinek war Troeltsch einer der Intellektuellen gewesen, die im wilhelminischen Reich liberale Akzente gesetzt hatten, ohne gegenüber dem Kaiserreich die innere Loyalität aufzugeben. Andererseits erkannte er um 1918 die Notwendigkeit des Übergangs zu Demokratie und Republik, so dass er in das geistige Umfeld der Weimarer Reichsverfassung einzuordnen ist, die im Jahr 1919 für Deutschland den Durchbruch zu einer freiheitlichen Rechtsordnung bedeutete. Bahnbrechend waren ihr Rekurs auf Grundrechte oder konkret z. B. die in Artikel 151 von dem jüdischen Juristen Hugo Sinzheimer geprägte Zielnorm eines „menschenwürdigen Daseins für alle“¹⁷, die ebenfalls von Sinzheimer inaugurierte Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in Artikel 159¹⁸ oder die Bestimmungen zum Staatskirchenrecht in den Artikeln 135 bis 141, die für die Bürger des Deutschen Reiches Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährleisteten und durch die Staat und Kirche voneinander getrennt wurden. Für die deutsche Verfassungsgeschichte symbolisiert die Weimarer Verfassung mithin den Übergang von einer kirchlich-religiösen hin zu einer freiheitlich-rechtlichen Gestaltung der Welt. Die Staat-Kirche-Trennung und der Vorrang rechtlicher vor kirchlichen oder religiösen Prinzipien ist in der Weimarer Republik sogar erheblich konsequenter verwirklicht worden, als es heute in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.

scheidung zum Arbeitsrecht der Kirchen im Gesundheits- und Sozialwesen der Bundesrepublik Deutschland, in: Medizinrecht 37 (2019), S. 25 – 31.  Vgl. Abraham de Wolf: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken im deutschen Arbeitsrecht, Berlin 2015, S. 37; Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 151, 14. Aufl., Berlin 1933, S. 699.  Vgl. Abraham de Wolf: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken (wie Anm. 17), S. 37.

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Soeben wurde bereits der Anachronismus erwähnt, dass in der Bundesrepublik die Kirchen als Arbeitgeber für sich selbst ein religiöses Sonderarbeitsrecht in Anspruch nehmen. Sie haben ein internes kirchliches Arbeitsrecht eingeführt, das sie religiös als christliche Dienstgemeinschaft bezeichnen. Auf dieser Basis schränken sie Freiheitsrechte ihrer Beschäftigten in sozial- und rechtsethisch höchst bedenklicher Weise ein. Interessant ist, dass die Weimarer Republik ein derartiges religiöses Sonderrecht der Kirchen nicht kannte. So besaßen kirchliche Arbeitnehmer damals das Streikrecht, das ihnen heute, unter Duldung des Staates, von den Kirchen verwehrt wird. Eine Exemtion aus dem Betriebsverfassungsgesetz, aus der Unternehmensmitbestimmung oder aus staatlichen Nichtdiskriminierungsnomen, die in der Bundesrepublik gilt, wäre im Horizont der Weimarer Verfassung nicht denkbar gewesen.¹⁹ Anders zugespitzt: Zu wichtigen Fragen im Schnittfeld von Kirchen und Religionen einerseits, dem Staat andererseits hat sich in der Bundesrepublik Deutschland hoher Reformbedarf angestaut. Dieses Desiderat soll nun an einem Thema veranschaulicht werden, mit dem sich ehedem schon Troeltsch befasst hatte.

5 Ein heutiger Diskussionspunkt: Religionsversus Ethikunterricht. Die erstaunliche Aktualität von Troeltsch’ Güterethik Als 1919 die Weimarer Verfassung beraten wurde, war ein Gegenstand bis zum Schluss strittig: der Religionsunterricht, der an öffentlichen Schulen erteilt wird. Aufgrund der damaligen politischen Konstellation erzielte die katholische Zentrumspartei schließlich einen Verhandlungserfolg.²⁰ Sie setzte durch, dass als Relikt der früheren geistlichen Schulaufsicht der konfessionell getragene Religionsunterricht in der Weimarer Verfassung erhalten blieb, obwohl hierdurch eine Leitidee der Verfassung, die Trennung von Staat und Kirche, konterkariert wurde.²¹ Der den Religionsunterricht betreffende Artikel 149 der Weimarer Reichsverfassung ging im Jahr 1949 dann in Artikel 7 Absatz 3 des Bonner Grundgesetzes ein.

 Zusammenfassend hierzu Hartmut Kreß: Kirchliches Arbeitsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Rückfall hinter die Standards der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 63 (2019), S. 131– 136.  Vgl. Ludwig Richter: Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, Düsseldorf 1996, S. 502.  Vgl. ebd., S. 666.

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In der Gegenwart, 100 Jahre nach Weimar, ist die damals geschaffene Konstruktion indessen noch brüchiger geworden. Der Verfassungsnorm gemäß soll an den Schulen flächendeckend konfessioneller kirchlicher Religionsunterricht erteilt werden. Praktisch lässt sich dies heute häufig nicht mehr durchhalten, unter anderem weil die Zahl der Kinder, die einer christlichen Kirche angehören, zu niedrig geworden ist. Teilweise sehen Religionspädagogen und Kirchen einen Ausweg darin, einen bikonfessionellen Religionsunterricht anzubieten und evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu unterrichten.²² In manchen Regionen wie Baden-Württemberg oder Niedersachsen wird dies auch praktiziert. Zu den Schwierigkeiten gehört z. B., dass sich andernorts speziell die römisch-katholische Kirche diesem Ausweg versperrt, etwa in Nordrhein-Westfalen das Erzbistum Köln. Denn sie befürchtet hierdurch eine Einebnung ihrer dogmatischen und moraltheologischen Besonderheiten. Inhaltlich ist für die Kirchen offensichtlich unklar, welchen Zielen ihr Religionsunterricht tatsächlich dienen soll: enggeführt der kirchlichen Verkündigung oder als Alternative allgemein, quasi zivilreligiös der Vermittlung ethischer Werte und der Menschenrechte? Die Konzeptionen, die zurzeit zum Sinn und zum Ziel des Religionsunterrichts dargelegt werden, sind heterogen, widersprüchlich und auch inkohärent. Weitere Zweifelsfragen kommen hinzu. Was die institutionellorganisatorische Dimension anbelangt, soll im Stadtstaat Hamburg künftig der sogenannte „Religionsunterricht für alle“, der schon allein verfassungsrechtlich außerordentlich strittig ist, ausgeweitet und verstetigt werden. Davon abgesehen führen einige Bundesländer analog zum herkömmlichen christlichen einen konfessionellen muslimischen Unterricht ein. Zu diesem Zweck projiziert der Staat Kirchenstrukturen auf den Islam und schafft sich muslimische Beiräte als kirchenanaloges Gegenüber. Auch diese Konstruktion ist bildungs- und rechtspolitisch diskussionsbedürftig und je nach Ausformung verfassungsrechtlich nicht haltbar.²³ Sodann ist ein Problem zu unterstreichen, das sich inzwischen noch viel schärfer als vor 100 Jahren stellt. Die Weimarer Verfassung war sehr weitsichtig gewesen, indem sie in Artikel 137 Absatz 7 neben den Kirchen bzw. den Religionsgemeinschaften auch nicht- oder nachreligiöse Vereinigungen, d. h. Weltanschauungsgemeinschaften anerkannte und diese den klassischen Religionsge-

 Vgl. Carsten Gennerich, Reinhold Mokrosch: Religionsunterricht kooperativ, Stuttgart 2016; ferner bereits Gert Otto: Religionsunterricht, in: Gert Otto (Hg.): Praktisch theologisches Handbuch, 2. Aufl., Hamburg 1975, S. 506 – 525, hier S. 520.  Zu den voranstehend genannten Aspekten zusammenfassend Hartmut Kreß: Konfessioneller Religionsunterricht oder pluralismusadäquater Ethikunterricht? Notwendigkeit einer rechtspolitischen Weichenstellung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 52 (2019), S. 22– 25, mit Nachweisen.

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meinschaften gleichstellte. Andererseits wurde im Vor- und Umfeld der Weimarer Nationalversammlung – und im Übrigen auch von Troeltsch – unterstellt, in der Bevölkerung herrsche letztlich doch noch religiöse Homogenität; sie sei im Großen und Ganzen als christlich zu verstehen, so dass ein christlicher konfessioneller Religionsunterricht die sittliche Basis von Gesellschaft und Staat stabilisieren könne und solle.²⁴ Soziologisch traf eine derartige Einschätzung schon damals nur eingeschränkt zu.²⁵ Heute ist sie endgültig hinfällig. Die größte Teilgruppe der Gesellschaft, ca. 37 %, ist heute auch formal konfessionslos bzw. konfessionsfrei. Folgerichtig verstärkte sich in der Bundesrepublik der Trend zur Nichtteilnahme am Religionsunterricht. Die Politik versuchte den konfessionellen Unterricht indirekt zu stabilisieren, indem sie seit den 1970er Jahren für abgemeldete Schüler eine Ausgleichspflicht schuf und als sogenanntes Ersatzfach den Ethikunterricht einführte. Auf einem anderen Blatt steht, dass der Auf- und Ausbau des Faches Ethik in den verschiedenen Bundesländern nur inkonsequent geschah und das Fach bis heute weder flächendeckend noch schulübergreifend vorgehalten wird.²⁶ Inzwischen ist es an der Zeit, die Schwierigkeiten und Verlegenheiten, die aus dem tradierten, dem 19. Jahrhundert verhafteten und schon damals kritisch diskutierten²⁷ Modell eines konfessionellen Religionsunterrichts resultieren, umfassend aufzuarbeiten und rechtspolitisch einen zukunftsfähigen Neuansatz zu schaffen. Zu diesem Zweck greife ich einen prägnanten Gedanken von Troeltsch auf. Dabei denke ich allerdings nicht an die Voten, die er explizit zum Thema des Reli-

 Vgl. z. B. Friedrich Thimme: Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und seine Veränderung durch die Revolution, in: Friedrich Thimme, Ernst Rolffs (Hg.): Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat, Berlin 1919, S. 1– 50, hier S. 49 f.: „Nur unter stärkster Mitwirkung von Christentum und Kirche kann sich die sittliche Erneuerung unseres armen und gebrochenen Volkes vollziehen.“ Daher dürfe man „den Religionsunterricht, der zu solcher Gesinnung erzieht und tüchtig macht, […] nicht aus der Schule verbannen“; vgl. ferner Ludwig Richter: Kirche und Schule (wie Anm. 20), S. 270 ff.; Norbert Friedrich: Der Kampf der Protestanten für Religionsunterricht und Bekenntnisschule in der Weimarer Republik, in: Günter Brakelmann u. a. (Hg.): Auf dem Weg zum Grundgesetz, Münster 1999, S. 111– 124, hier S. 113, S. 116.  Vgl. hierzu nur die damaligen Reflexionen Max Webers über die Heterogenität, den Pluralismus und den „Polytheismus“ der Kulturwerte.  Zur Übersicht über die Erfolge und über die Rückschläge sowie Hemmnisse beim Aufbau des Faches Ethik vgl. Fachverband Ethik: Denkschrift zum Ethikunterricht – Zwischen Diskriminierung und Erfolg, 2016.  Vgl. nur Karl Richter: Die Emanzipation der Schule von der Kirche und die Reform des Religionsunterrichts in der Schule, Leipzig 1870; Peter C. Bloth: Die Bremer Reformpädagogik im Streit um den Religionsunterricht, Dortmund 1961; Manfred Jacobs: Confessio und Res Publica, Göttingen 1994, S. 101– 126, bes. S. 120 ff.; s. darüber hinaus unten Anm. 29.

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gionsunterrichtes vorgetragen hat.²⁸ Diese stammen aus den Jahren 1906 und 1919 und fielen überraschend strukturkonservativ aus. Obwohl Troeltsch Desiderate und Probleme des damaligen Religionsunterrichts eindringlich beim Namen nannte²⁹, wollte er an dem überkommenen konfessionellen Modell letztlich festhalten. Ihm schwebten nur gewisse Modifikationen vor. So meinte er, der Religionsunterricht solle nicht mehr eng dogmatisch kirchlich bleiben, sondern vom weiten, offenen Geist wissenschaftlicher Theologie getragen werden. In seiner Rede als Prorektor der Universität Heidelberg am 22. November 1906 fiel seine Schlussfolgerung sogar recht radikal aus. Es gelte, den staatlichen Religionsunterricht aus der Obhut der Kirche herauszunehmen und ihn von der „freien Theologie“, d. h. von den staatlichen theologischen Fakultäten tragen zu lassen.³⁰ Der Vorschlag war freilich von vornherein unrealistisch. Als er sich später im Revolutionswinter 1918/1919 erneut zu dem Thema äußerte, war es aus äußeren Gründen, nämlich aufgrund des Zusammenbruchs des bisherigen Staat-Kirche-Systems und des landesherrlichen Kirchenregiments unumgänglich geworden, substanzielle Reformen in Gang zu bringen. Im Ergebnis plädierte Troeltsch jedoch dafür, alles „im wesentlichen beim Alten zu belassen“. Änderungen sollten nur dahingehend erfolgen, dass die Stundenzahl des Religionsunterrichts zu reduzieren sei, die Teilnahme der Schüler freiwillig sein müsse und Lehrer zur religiösen Unterweisung nicht verpflichtet werden dürften; zudem solle die „kirchliche Aufsicht […] sehr weitherzig gehandhabt werden“.³¹ Die schon damals erwogene und – wie er einräumte – „namentlich in Lehrerkreisen vielfach

 Im Unterschied zu der nachfolgend vertretenen Ansicht ein Plädoyer dahingehend, noch in der Gegenwart auf die Ideen Troeltsch‘ zum Religionsunterricht zurückzugreifen: Andreas Kubik: Eine „Periode des Experiments“. Für mehr Realismus in der Debatte um die Zukunft des Religionsunterrichts, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), S. 70 – 81, bes. S. 80.  Vgl. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten (1907), in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903 – 1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin/Boston 2014 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamausgabe Band 6/1), S. 319 – 425, hier S. 408 f.: „Eine widerwillig im konfessionellen Joch gehaltene Lehrerschaft, ein oft widerwillig erteilter Religionsunterricht, die Reibungen der weltlichen und der geistlichen Gewalt in der Schulaufsicht und Schulverwaltung, ein gegen all das leidenschaftlich reagierender Radikalismus eines grossen Teiles der Lehrerschaft, eine völlige Verworrenheit der Lage ist […] in den meisten deutschen Ländern das Ergebnis der Verhältnisse.“ „Am schlimmsten aber ist, dass das System zwar historisch und tatsächlich herrscht, aber von keiner inneren Begeisterung getragen wird.“  Vgl. ebd., S. 420.  Ernst Troeltsch: Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen (1919), in: ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923), hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit, Berlin/New York 2002 (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Band 15), S. 111– 146, hier S. 142.

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vertreten[e]“, inhaltlich „überaus fesselnde und gehaltreiche“ Option, anstelle des Religionsunterrichts einen allgemeinen Ethikunterricht einzuführen, lehnte er ab. Seine Gegenargumente waren vor allem pragmatischer Art: der Widerstand „der Kirchen und der von ihnen beeinflussten politischen Gruppen“; die Sorge, diese Option lasse sich nur in Städten und nur schwer auf dem Land umsetzen; organisatorische Probleme.³² Außerdem argumentierte er staatspolitisch-zivilreligiös. Trotz des Einbruchs der gesellschaftlichen Bindungskraft des Christentums müsse die neu zu schaffende Republik „ein recht großes Interesse an starken konservativen geistigen und sittlichen Mächten“ haben, „die die Gesellschaft auf dem Gebiete der Sitte und des Glaubens zusammenhalten und ein Gegengewicht gegen die Unruhe des politischen Lebens bilden“.³³ Insofern solle man „unseren grössten idealistischen Denkern“, insbesondere Hegel folgen, woraus die Vision eines nach wie vor christlich geprägten Kulturstaates resultiere³⁴ – ein Ideal, über dessen Realitätsbezug, inhaltliche Plausibilität und modern-verfassungsrechtliche Liberalität man sehr geteilter Meinung sein kann.³⁵ Überraschend ist es, dass er für nachreligiöses, atheistisches oder agnostisches Denken und für nichtchristliche Religionen, namentlich für das Judentum, wenig Verständnis aufbrachte.³⁶ Im Ergebnis liefen seine Reflexionen daher darauf hinaus, am Paradigma des 19. Jahrhunderts, dem konfessionellen Religionsunterricht, wenig zu verändern. So tastend und teilweise binnenwidersprüchlich Troeltsch‘ direkte Stellungnahmen zum Religionsunterricht ausfielen und so sehr sie 1918/1919 situationsbedingt den Wirren der damaligen politischen Konstellation geschuldet waren – gegenläufig, indirekt ist ein anderer Gedanke interessant, der von ihm stammt.  Ebd., S. 139, S. 140.  Ebd., S. 126.  Vgl. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche (wie Anm. 29), S. 420.  Nach Kriegsende engagierte sich Troeltsch für die neue demokratische Staatsordnung; vgl. Hartmut Ruddies: Soziale Demokratie und freier Protestantismus. Ernst Troeltsch in den Anfängen der Weimarer Republik, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Protestantismus und Neuzeit. Troeltsch-Studien Band 3, Gütersloh 1984, S. 145– 174. Gleichwohl fällt auf, dass Troeltsch nicht unbedingt einen an individuellen Grundrechten ausgerichteten Freiheitsbegriff vertrat, sondern Freiheit kulturkonservativ als persönliche Orientierung an Geschichte, überlieferter Bildung und an den Staat deutete. Die staats- und kulturkonservative Dimension seiner Freiheitsidee tritt markant zutage, wenn man seine Überlegungen mit denjenigen des Architekten der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, vergleicht; vgl. Michael Dreyer: Hugo Preuß, Stuttgart 2018, S. 303. Erhellend ist es, zwei gleicherweise um 1915 entstandene Werke nebeneinander zu halten, an denen man die unterschiedlichen Akzente – zögerlich versus konsequent freiheitlich – ablesen kann: einerseits Ernst Troeltsch: Deutsche Zukunft, Berlin 1916: andererseits Hugo Preuß: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915.  Zu Troeltsch‘ Mangel an tieferem Verständnis für die jüdische Kultur und Religion vgl. auch Arnulf von Scheliha: Religionspolitik, Tübingen 2018, S. 88 f.

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Hartmut Kreß

Er trug ihn in seiner Schrift „Grundprobleme der Ethik“ vor, die in erster Fassung 1902 erschien. Troeltsch grenzte sich in ihr von der „Ethik“ des Marburger neukantianischen evangelischen Theologen Wilhelm Herrmann ab. Als Gegenentwurf zu Herrmann entwickelte er das Konzept der Ethik als einer Kulturtheorie, die die verschiedenen Güter der Kultur zu bedenken hat. In diesem sozial- oder kulturphilosophisch angelegten Ethikmodell stufte er die Religion als ein kulturelles Gut neben den anderen ein, gestand ihr gegenüber Recht, Wissenschaft, Kunst usw. also keinen Sonderstatus mehr zu und bewertete sie weder als das Fundament noch als die Krone der Kultur – eine Einschätzung, mit der er den Gegebenheiten der Moderne Rechnung trug. Aus seiner Sicht sollte die Ethik „zur Kulturphilosophie unter ethischem Gesichtspunkt“ werden, sich mit den diversen kulturellen Gütern und Zwecken beschäftigen und zugleich einen „Rahmen“ dafür bereitstellen, um auch „die Religionswissenschaft“ zu integrieren und „sich heute dem Religionsproblem“ zu nähern.³⁷ Nimmt man diese Idee einer Ethik der Güter ernst und aktualisiert man sie, dann führt sie zu dem Postulat, in der Bundesrepublik Deutschland schulpolitisch einen Einschnitt zu vollziehen und – im Sinn der Titelformulierung dieses Beitrags – einen weiteren Überschritt von der religiösen hin zur rechtlichen Gestaltung der Welt vorzunehmen. Es drängt sich auf, jetzt einen Weg einzuschlagen, den 2015 das westliche Nachbarland Luxemburg beschritten hat: im weltanschaulich neutralen Staat und in der pluralistischen Gesellschaft den herkömmlichen Religionsunterricht durch Ethik als Pflichtfach zu ersetzen. In diesem übergreifenden Fach Ethik wären die Religionen religionskundlich und -vergleichend als Kulturgüter mit zu thematisieren. Organisatorisch hätte dies sinnvollerweise so zu erfolgen, dass die Schüler nicht mehr wie bisher nach Religions-, Weltanschauungs- oder Konfessionszugehörigkeit getrennt unterrichtet werden. Hierdurch würde ein Manko des konfessionellen Religionsunterrichts korrigiert, das schon im 19. Jahrhundert erkannt und beklagt worden ist, nämlich die Separierung der Schüler.³⁸ Wenn sie sich stattdessen gemeinsam neben sonstigen ethischen und kulturellen ebenfalls mit religiösen Themen befassen³⁹, wäre dies auf schulischer Ebene ein Beitrag zur Einübung materialer, dialogischer Toleranz, die für den Bestand und die Fortentwicklung einer heterogenen, weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft essenziell ist. Um einen derartigen

 Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik, in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Zweiter Band, 2. Aufl., Tübingen 1922, S. 552– 672, hier S. 565, S. 553.  Vgl. Karl Richter: Die Emanzipation der Schule (wie Anm. 27), S. 25, unter Bezugnahme auf Adolf Diesterweg.  Vgl. hierzu auch Jürgen Heumann:Vom Religionsunterricht zum Kulturfach – eine Utopie?, in: Helmut Schirmer (Hg.): Religionspädagogik im Widerstreit, Frankfurt a. M. 2011, S. 203 – 225.

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übergreifenden Ethikunterricht zu etablieren⁴⁰, müsste in der Bundesrepublik letztlich die Verfassung geändert werden. Perspektivisch ist also anzustreben, die Absicherung des konfessionellen Religionsunterrichts in Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz aufzuheben.⁴¹ Sie beruht auf der Weimarer Verfassung, bildete aber schon damals einen fragilen Kompromiss. 100 Jahre nach Weimar kann eine solche neue Weichenstellung kein Tabu sein und sollte diese Perspektive nicht länger verdrängt werden.⁴² Ohne hier weitere Grundsatzfragen, Realisierungsaspekte⁴³ oder Einzelheiten erörtern zu können – im Rahmen eines Troeltsch-Kongresses habe ich ins Licht rücken wollen: Für das Anliegen, Ethik in der Schule künftig als übergreifendes neutrales Pflichtfach einzuführen, das kulturelle Güter einschließlich der Religionen behandelt, bietet die Ethikkonzeption von Troeltsch eine Referenz und einen geisteswissenschaftlichen Bezugspunkt: nämlich seine sozial- und kulturphilosophische Deutung der Ethik als „übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft“⁴⁴ im Sinn einer Güterlehre.

 Hiervon bleibt unberührt, dass es aktuell vordringlich geboten ist, den Ethikunterricht zumindest in seiner bisherigen Form zügig und konsequent auszubauen; vgl. Fachverband Ethik: Denkschrift zum Ethikunterricht (wie Anm. 26).  Vgl. Hartmut Kreß: Konfessioneller Religionsunterricht oder pluralismusadäquater Ethikunterricht? (wie Anm. 23), S. 25. – Alternativ ist vorgeschlagen worden, in Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz auf die Worte zuzugreifen, die die Errichtung bekenntnisfreier weltlicher Schulen legitimieren. Auf dieser Basis könnten die Bundesländer ohne Grundgesetzänderung schon jetzt das Fach Ethik organisieren und auf Religionsunterricht in der bisherigen konfessionellen Form verzichten; vgl. Gerhard Czermak, Eric Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2. Aufl., Berlin 2018, S. 170 f. Der Vorschlag betritt in der Verfassungsauslegung weitgehend Neuland; zu juristischen Aspekten vgl. Andreas Goeschen: Die „bekenntnisfreie weltliche Schule“: kein Fall der „Weltanschauungsschule“ im Sinne des Art. 7 Abs. 5 Alt. 2 GG?, Frankfurt a. M. 2005. Zu den Schwächen des Vorschlags gehört, dass auf diese Weise keine Klarheit und Transparenz in bundesweitem Maßstab hergestellt würde. Zu Argumenten zugunsten des Vorschlags vgl. jetzt jedoch Hartmut Kreß, Religionsunterricht, Religionskunde und die bekenntnisfreie Schule. Klärungsbedarf zum Hamburger Modell, in: NJOZ/Neue Juristische Online-Zeitschrift 20 (2020), S. 1537– 1540.  Bereits jetzt sind didaktische und pädagogische Konzeptionen für ein Schulfach Ethik vorhanden, die genutzt werden können; vgl. z. B. Peter Kriesel u. a.: Grundwissen Ethik/Praktische Philosophie, Stuttgart 2007; Rolf Roew, Peter Kriesel: Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts, Bad Heilbrunn 2017.  Vgl. z. B. auch das im Bundesland Berlin aufgrund eines Volksentscheids von 2009 praktizierte Modell (Ethik als Pflichtfach; zusätzlich Religion im Wahlbereich).  Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik (wie Anm. 37), S. 553, im Original gesperrt gedruckt.

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Christentum und moralischer Universalismus Überlegungen zu ihrer Genealogie im Anschluss an Ernst Troeltsch „Atheistische Ethik“ – so heißt ein früher Aufsatz von Ernst Troeltsch, 1895 in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienen.¹ Der Text ist ein Musterbeispiel für die Bemühungen seines Autors, dem immer stärker werdenden Atheismus seiner Zeit intellektuell entgegenzutreten, ohne dabei zum bloßen Apologeten des Christentums zu werden. Die Ideologie des modernen Sozialismus erklärt er zu einer Verbindung von Utopien und Reformabsichten mit einem „möglichst rücksichtslosen völlig naturalistischen Atheismus.“ Diese Verbindung hält Troeltsch zwar für historisch völlig erklärbar, aber auch für „durchaus akzidentell.“ Dasselbe gilt für ihn für die umgekehrte „unglückselige Verbindung des geängsteten Besitzes mit der Kirche“. Unverhohlen hofft er auf die Lockerung dieser Verknüpfungen von Religion und Klasse, die das Christentum und die niedriggestellten Klassen voneinander entfremdet haben. Mehr als mit dem Sozialismus beschäftigt sich der Aufsatz aber mit dem Atheismus von Konservativen und Liberalen, dessen Vertreter häufig größten Wert darauf legten, mit dem atheistischen Materialismus der Massen nicht gleichgesetzt zu werden. Dieser gebildete oder elitäre, man könnte auch sagen „idealistische Atheismus“ ist es, der Troeltsch vor allem zum Widerspruch herausfordert. Sein Aufsatz ist die Replik auf einen Text in derselben Zeitschrift, der unter der Überschrift „Atheismus und Idealismus“ erschienen war.² In diesem war es nicht um eine Kritik der Religion oder des Christentums gegangen; in den Kreisen der höheren Bildung sei der konsequente Atheismus nämlich bereits eine ausgemachte Sache. Es ging vielmehr (in Troeltschs Worten) um den Nachweis; daß der Atheismus der Kultur der Zukunft als Grundlage dienen und die eigentliche Quelle alles wahren sittlichen Idealismus bilden werde. Er werde leisten, was das religiöse Entwicklungsstadium der Menschheit nur unvollkommen zu leisten vermochte, eine wirklich tragkräftige Unterlage der Ethik. Er befreie die Sittlichkeit von störenden Hemmungen und Durchkreuzungen, von unreinen und fremdartigen Motiven, die mit dem Gottes- und See-

 Ernst Troeltsch: Atheistische Ethik (1895), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2. Tübingen 1913, S. 525 – 551. Die Zitate auf S. 532.  J. Friedheim: Atheismus und Idealismus, in: Preußische Jahrbücher 82(1895), S. 71– 97. https://doi.org/10.1515/9783110733075-005

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lenglauben notwendig verbunden waren; er sei die wahrhaft idealistische Weltanschauung, die die Menschheit zum Ziele einer gesunden Kultur erst führen werde.(…) Nur die auf dem Grunde des Atheismus aufgebaute reinere Ethik des allgemeinsten Gesellschaftswohles gewähre die Kraft und die Einsicht zur Lösung der durch die (sozialen, H.J.) Wirren (der Gegenwart, H.J.) gestellten Probleme; der stolze Neubau einer vernünftigen Gesellschaftsordnung könne sich nur auf der Grundlage dieses Idealismus erheben.³

Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, die Argumentation dieses Autors oder Troeltschs Einwände genau nachzuzeichnen. Troeltsch hatte sich in diesem Fall einen Kontrahenten gewählt, der als im Ruhestand befindlicher Major ein Außenseiter der akademischen Debatten und, seinem ganzen Duktus nach zu schließen, nicht wirklich intellektuell satisfaktionsfähig war. Hinzu kommt, dass sich die Debattenlage in den mehr als hundert Jahren, die seither vergangen sind, massiv gewandelt hat.Vom Schwung und Zukunftsoptimismus der sozialistischen Arbeiterbewegungen, welche auch ihren Atheismus mit Glut erfüllten, ist nirgendwo in Europa etwas übriggeblieben. Im östlichen Deutschland, wo man noch in den 1950er Jahren voraussagte, dass es im Jahr 2000 keine Pfaffen auf dem Territorium des Arbeiter- und Bauernstaats mehr geben werde, findet sich zwar heute ein zur Normalität gewordener Atheismus. Dieser aber hat weitgehend seine Militanz abgelegt und ist jedenfalls bar jeder Hoffnung, er selbst garantiere eine bessere Zukunftsordnung. Der Atheismus der Gebildeten in Deutschlands westlichen Teilen ist vielstimmig. Offensiv wird er von naturalistischen Denkern verfochten, die sich von neueren Entwicklungen in Hirnforschung und Evolutionsbiologie beflügelt sehen und endlich beseitigen wollen, was ihnen als religiöse Wissenschaftsfeindschaft und lächerlich veraltete Metaphysik erscheint. Nicht so offensiv und wesentlich weniger lautstark sind diejenigen, die man vielleicht als zeitgenössische idealistische Atheisten bezeichnen könnte, obwohl sie selbst diese Bezeichnung nicht verwenden. Zu diesen rechne ich alle diejenigen, die ihren ehrlichen moralischen Universalismus mit ausschließlich säkularen philosophischen Mitteln artikulieren, welche sie aus Kant oder aus Hegel, aus der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls oder der Diskursethik von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel beziehen. Bei vielen heutigen Kantianern und Hegelianern wird die enge Verbindung von Christentum und Moralphilosophie bei diesen klassischen Denkern stillschweigend aufgelöst, ohne sie aber offensiv religionskritisch in Frage zu stellen und ihre Überwindung zu proklamieren. Bei den Anhängern von Rawls oder Habermas herrscht die Überzeugung vor, dass hier eine universalistische Moralphilosophie ohne Grundlage in einer universalistischen Religion entwickelt worden sei oder entwickelt werden könne. Viele von ihnen

 Troeltsch: Atheistische Ethik (wie Anm. 1), S. 525.

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reagieren deshalb irritiert auf die Wahrnehmung religiöser Motive beim frühen Rawls oder einer zunehmend wohlwollenden Einschätzung des Potentials der jüdisch-christlichen Religionstradition beim späten Habermas. In dieser unübersichtlichen Lage müssen die einzelnen Argumente, die Troeltsch gegen einen amateurhaften und veralteten idealistischen Atheismus in seiner Zeit vortrug, weniger interessieren als die große, im Hintergrund befindliche Fragestellung, wie sich eigentlich Christentum und moralischer Universalismus historisch und systematisch zueinander verhalten. Ist das Christentum seinem Anspruch, moralischer Universalismus zu sein, in seiner Geschichte grosso modo gerecht geworden? Ist das Christentum die einzige Religion, die den Anspruch erheben kann, den moralischen Universalismus religiös zu verkörpern? Ist der moralische Universalismus des Christentums nur eine verdienstvolle historische Vorform des eigentlichen, rein vernunftbasierten, säkularen moralischen Universalismus, oder wird der Verzicht auf die Vorstellung eines liebenden Gottes, wie sie das Christentum kennzeichnet, den moralischen Universalismus auf Dauer gefährden und eine Regression in Richtung einer Wiederbelebung partikularistischer Moralformen etwa völkischer und rassistischer Art befördern? Kann die Vision eines moralischen Universalismus nach Nietzsche und Freud überhaupt noch Glaubwürdigkeit in einem psychologischen Sinn behalten? Das sind große Fragen, deren erschöpfende Beantwortung in diesem Beitrag nicht zu leisten ist. Sie verweisen aber auf einen Denkzusammenhang, den ich für eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit halte und jedenfalls in meinen eigenen Arbeiten verfolge. Ich nenne diesen die Aufgabe einer globalgeschichtlichen Genealogie des moralischen Universalismus. Was ich damit meine, werde ich gleich etwas näher erläutern. An dieser Stelle soll die eingeschränkte Fragestellung lauten, wie sich Troeltschs Denken in diesem Rahmen ausnimmt. Eine Kurzformel für meine Antwort ist: Troeltschs Denken ist eine der größten Inspirationen dieses Projekts einer Genealogie des moralischen Universalismus; unter dem Gesichtspunkt einer globalgeschichtlichen Genealogie zeigen sich aber auch gravierende Mängel der Durchführung dieses Projekts bei Troeltsch selbst. Zur Erläuterung meiner Fragestellung ist es am besten, schlicht die einzelnen Begriffe kurz zu erklären, aus denen sich die Formulierung „Genealogie des moralischen Universalismus“ zusammensetzt. Mit „moralischem Universalismus“ ist eine moralphilosophische Orientierung gemeint, die das Gute nicht nach seiner Nützlichkeit für eine partikulare Menschengemeinschaft bemisst. Gemeint ist nicht ein kleinster gemeinsamer Nenner der Moral aller Menschen, sondern eine Vorstellung von Menschheit, die alle solche partikularen Kollektive wie Familie, Stamm, Volk, Nation, Staat, Religionsgemeinschaft überschreitet, ein normativ aufgeladener Begriff von „Menschheit“ also, der auch noch über die gegenwärtig lebenden Menschen

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hinaus auf die Existenzbedingungen der zukünftigen Menschen zielt. In Ideen Kants über die Universalisierung von Handlungsmaximen im Überprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs hat diese moralisch-universalistische Intuition, die lange vor Kant schon faktisch vorlag und auch anders artikuliert werden kann, eine ihrer klarsten Ausdrucksformen gefunden. Den Begriff der „Genealogie“ übernehme ich – in diesem philosophischen Sinne – von Nietzsche. Er zielt auf eine Geschichtsschreibung, die in der Vergangenheitsrekonstruktion die Kontingenz historischer Prozesse hinreichend berücksichtigt, also nicht von Fortschrittsideen angeleitet wird, weder von solchen evolutionistischer noch solchen teleologischer Art. Die Geschichte musste, so gesehen, nicht zu uns Heutigen und unseren Werten hinführen; sie wird auch in der Zukunft radikal Neues hervorbringen, das wir nicht voraussehen können und das Menschen der Zukunft als selbstverständlich gut erscheinen wird, obwohl es von unseren heutigen Werten vielleicht weit abweicht. Während Nietzsches eigene Absicht bei der Anwendung dieser genealogischen Methode auf die Geschichte der Moral in Judentum und Christentum eine destruktive war – es soll uns wie Schuppen von den Augen fallen, wie die Ideale, die uns moralisch einengen, einst „fabriziert“ wurden – ist meine Absicht eher die entgegengesetzte. Ich spreche deshalb in meinen Büchern zur Geschichte der Menschenrechte von einer „affirmativen Genealogie“, weil uns die Konfrontation mit den Kontingenzen der Geschichte doch auch etwa mit vergangenem Leid und Unrecht so konfrontieren kann, dass wir uns zutiefst ergriffen fühlen und zu Handlungen aufgerufen, die die Wiederkehr solchen Leids und solchen Unrechts verhindern sollen.⁴ Dieser Begriff „affirmative Genealogie“ scheint mir auch am besten zu kennzeichnen, wie Ernst Troeltsch in seinem großen Historismus-Buch argumentiert hat. Ich bestreite ja entschieden, dass er in diesem Buch gescheitert sei oder sein Scheitern gar selbst eingeräumt habe. Meine Behauptung ist vielmehr, dass Troeltsch auf der Grundlage eines Verständnisses der Kreativität menschlichen Handelns, das er aus der Denktradition von Herder, Humboldt und Schleiermacher bezog, das Faktum der Idealbildung ins Zentrum seiner geschichtstheoretischen Überlegungen stellte, das heißt die empirische Tatsache, dass im geschichtlichgesellschaftlichen Leben notwendig Ideale entstehen, Vorstellungsgehalte, die sich von bloßen Tatsachenbehauptungen, aber eben auch von Normen prinzipiell unterscheiden. Normen nämlich schränken unsere Handlungsmöglichkeiten zunächst einmal ein, während Ideale uns neue, bisher ungeahnte Handlungsmög-

 Zur Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. Hans Joas: Die Entstehung der Werte. Frankfurt/ Main 1997, S. 37– 57; zur „affirmativen Genealogie“ vgl. ders.: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011, S. 147– 203.

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lichkeiten erschließen. Im Unterschied zum klassischen Idealismus ist aber nicht einfach die Gegebenheit von Idealen Troeltschs denkerischer Ausgangspunkt, sondern das Faktum der Idealbildung, das heißt die dynamischen Prozesse, in denen Ideale entstehen, sowie der reflexive Rückgang auf diese Entstehungsprozesse, der nötig ist, um überhaupt den Sinn zu erfassen, der in den Artikulationen von Idealgehalten steckt. Auch der moralische Universalismus ist dann ein solches Ideal, so sehr seine innere Struktur auch die einer Ableitung von Normen aus dem Ideal sein mag. „Genealogie des moralischen Universalismus“ bedeutet dann also die empirische Frage, wann, wo, warum und wie genau dieser moralische Universalismus, der ja nicht schon immer vorhanden war, eigentlich entstanden ist und wie er sich entwickelt hat, wie z. B. aus einem religiösen und philosophischen Ethos dieser Art Formen des Rechts im Rahmen einzelner Staaten oder sogar transnationale Rechtsordnungen hervorgegangen sind und welche Auswirkungen diese haben. Eine solche Genealogie des moralischen Universalismus zieht die Konsequenzen aus dem als Historismus bezeichneten Bewusstseinswandel, das heißt der radikalen Historisierung aller Sachverhalte, ohne dabei in Relativismus zu verfallen. Sie muss heute eine globalgeschichtliche sein. Lange Zeit wurde einfach dem Christentum oder Europa oder dem Westen ein Monopol für den moralischen Universalismus zugesprochen, ohne dass etwa die chinesische und die indische Geschichte überhaupt ernsthaft in den Blick genommen worden wären. Das hat sich zum Glück in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stark verändert, obgleich es weiterhin auch viele Formen des europäischen oder westlichen Triumphalismus gibt. Eine zentrale Rolle spielte dabei ein deutscher Denker, der wesentliche Impulse von Nietzsche und Max Weber aufgenommen hatte, unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen aber auch ganz neue Perspektiven jenseits des Eurozentrismus eröffnete. Gemeint ist Karl Jaspers und der von ihm angestoßene Diskurs über eine „Achsenzeit“, in der es (zwischen 800 und 200 vor Christus) in mehreren großen Zivilisationen zu einer Entstehung von Vorstellungen über „Transzendenz“ und „Menschheit“ gekommen sei. Eine globalgeschichtliche Genealogie des moralischen Universalismus muss von dieser Zeit bis zur Gegenwart reichen und deshalb weit über den Rahmen der Geschichte des Westens oder des Christentums hinausgehen. Sie darf zudem die einzelnen Kulturräume nicht voneinander isolieren, sondern muss aufmerksam sein auf ihre vielfältigen kulturellen, aber auch politischen, ökonomischen und militärischen Verflechtungen. Mit diesen Desideraten habe ich den Rahmen aufgespannt, in dem ich Troeltschs Werk gegenwartsbezogen verorten will. Konkret werde ich das hier nur in zwei Hinsichten tun. Ich werde erstens fragen, wie Troeltsch die Provokation von

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Nietzsches „Genealogie der Moral“, sprich seine Erklärung der Entstehung der jüdischen Betonung von Gerechtigkeit und des christlichen Liebesethos, aufgenommen und verarbeitet hat. Dies soll der Behauptung, Troeltsch sei ein wesentlicher Inspirator meines Projekts, zusätzliche Plausibilität verleihen. Zweitens werde ich eine Einschätzung der Arbeiten Troeltschs, in denen es ihm um die Stellung des Christentums und Europas in der Vielfalt der Universalreligionen und der Weltgeschichte geht, unter dem Gesichtspunkt einer globalgeschichtlichen Genealogie des moralischen Universalismus vortragen. Dies wird mich zu einem Bild Europas führen, das sich von dem Troeltschs doch wesentlich unterscheidet.

1 Troeltsch und Nietzsche Die eine große, umfassende Auseinandersetzung Troeltschs mit Nietzsche findet sich in seinem Oeuvre nicht; aber knappe Kommentierungen und Verweise auf Nietzsche durchziehen sein Werk von früh an bis zum Schluss. Man kann diese verstreuten Stellen in drei Klassen einteilen. Zum einen geht es Troeltsch immer wieder um Nietzsche als kulturelles Phänomen. Anfangs fallen dabei die Charakterisierungen Nietzsches selbst noch höchst pauschal im Sinne eines anarchistischen Individualismus aus, der „von einer materialistischen Schätzung der Selbstsucht aus das auf sich selbst beschränkte Individuum zum unbedingten Maßstab alles Handelns, aller Kunst und aller Wahrheit“ mache – so in einer Sammelrezension theologischer und religionsphilosophischer Werke von 1897.⁵ Vermutlich unter dem Einfluss Georg Simmels, der als einer der ersten Nietzsches epochale philosophische Bedeutung erkannte und verfocht, setzen sich dann aber Bekundungen durch, dass hinter Nietzsche denkerisch nicht mehr zurückgefallen werden dürfe. So wichtig Schleiermacher für Troeltsch war, liegt zwischen diesem und der Gegenwart für Troeltsch doch ein Abgrund, den er unter Verweis auch auf Nietzsche so charakterisiert: „Der Osten ist noch unentdeckt (d. h. die asiatischen Religionstraditionen, H.J.), Schopenhauer und Nietzsche existieren noch nicht, und Strauß hat noch kein Leben Jesu geschrieben.“⁶ In den

 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (1897), in: ders., Rezensionen und Kritiken (1894– 1900), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Dina Brandt, Berlin/New York 2007 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 2), S. 213 – 309, hier S. 230.  Ernst Troeltsch: Rezension Hermann Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher (1913), in: ders., Rezensionen und Kritiken (1901– 1914), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zu-

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Spectator-Briefen schließlich, die Troeltsch aus den Wirren der Revolutionszeit 1918/19 in Berlin heraus schreibt, hört man ihn förmlich stöhnen über den „unvermeidlichen Nietzsche“: „Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland, auch den von ihm tödlich gehaßten Kommunismus und Sozialismus macht man mit Nietzsche schmackhaft“; „Durch den Kommunismus und die Zerschlagung der ganzen bisherigen Ordnung hindurch zum Übermenschentum aller Menschen, zur Vernichtung der bürgerlichen Moral: das ist die Losung.“⁷ Die zweite Klasse von Äußerungen bezieht sich fast ausschließlich auf Nietzsches „glänzende Abhandlung“⁸, die „Zweite Unzeitgemäße Betrachtung“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Troeltsch nennt Nietzsche „den großen geisteswissenschaftlichen Revolutionär des Zeitalters“⁹ und schreibt seiner Kulturkritik zu, die Idee des Fortschritts „von allen intellektualistisch-rationalistischen Maßstäben“ abgelöst und „so das Problem des Maßstabs erschütternd“ aufgeworfen zu haben.¹⁰ Das Problem des Maßstabs bedeutet die Frage, wie Geschichte und Wertung nach der Einsicht in die Kontingenz und Historizität des Wertens selbst aufeinander zu beziehen seien. Das aber ist in einem abstrakten Sinn das Problem, das Troeltsch früh ergriff und nie wieder losließ. Nietzsche sei es gewesen, der diese Frage gegen „die Gedankenlosigkeiten und Unfruchtbarkeiten der bloßen fachgelehrten Historie“ am radikalsten aufgedeckt habe. Keine Rede kann allerdings davon sein, dass Troeltsch sich auch Nietzsches Pseudo-Lösung dieses Problems angeschlossen habe. Nicht eine „neue Eschatologie des Übermenschen“¹¹ ist Troeltschs Perspektive, sondern eine produktive Fortführung der christlichen, aber auch anderer europäischer Kulturtraditionen und ihre Verknüpfung in einer neuen „Kultursynthese“.

sammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan, Berlin/New York 2004 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 4), S. 659 – 666, hier S. 664.  Ernst Troeltsch: Links und Rechts (März 1919), in: ders., Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919 – 1922), hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Nikolai Wehrs, Berlin/Boston 2015 (Ernts Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 14), S. 72– 78, hier S. 74.  Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode der Theologie (1900), in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. von Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 2– 25, hier S. 8.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1922), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger, Berlin/New York 2008 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamausgabe Band 16/1 und 16/2), S. 197.  Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1907), in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903 – 1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin/Boston 2014 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamausgabe Band 6/1), S. 434– 473, hier S. 435.  Troeltsch, Historismus (wie Anm. 9), S. 197.

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Troeltsch macht Nietzsches Atheismus dafür verantwortlich, dass er, der „das Problem einer Begründung der Werte aus der Historie heraus wirklich verstanden und gefühlt habe“, dieses nicht habe lösen können. Bemerkenswert ist, dass Troeltsch auch die Säkularisierungstendenzen seiner Zeit offensichtlich für kontingent und historisch vorübergehend hielt. Er vermutet, dass der Atheismus Feuerbachs und Schopenhauers, Marx’ und Nietzsches in der Zukunft „einmal der Geschichte angehören wird“¹² und hält nichts von den Konstruktionen, die den Atheismus geradezu als notwendiges Resultat der Religionsgeschichte betrachten oder, wie Nietzsche und Max Weber, als Konsequenz des christlichen Wertes der Wahrhaftigkeit oder der prophetischen Magiefeindschaft, puritanischen Askese und Entzauberung. Die dritte Klasse von Troeltschs Äußerungen zu Nietzsche betrifft das Verhältnis von Moral und Religion. Genau für die Zurückweisung des „idealistischen Atheismus“ seiner Zeit wird ihm Nietzsche wichtig. Dieser habe „unermüdlich die Leute verhöhnt, die gebildet genug sein wollen, um keine Religion zu haben, aber zugleich denkfaul genug seien, um dann doch eine Moral des Altruismus zu behalten, die jetzt kein Fundament mehr hat“¹³. Insofern sei Nietzsches „neue Moral jenseits von Gut und Böse, die mit vollem Bewußtsein aus dem neuen Grund auch völlig neue Folgen zieht“¹⁴, der einfachen Vorstellung von „Moral minus Religion“ beträchtlich überlegen. Gleichzeitig führe sie aber „in eine ganz ungeheuer dunkle Welt der rein individuellen Wesenssteigerung“¹⁵. Von Nietzsches tiefem Empfinden, dass die geistige Kultur der Gegenwart kein stolzer weltgeschichtlicher Höhepunkt sei, verspricht sich Troeltsch mehr für eine mögliche Revitalisierung der christlichen Religion als von flachen Fortsetzungen der bürgerlichen Moral. Im Jahr 1913 schwingt sich Troeltsch sogar zu der Voraussage auf, es werde mit Nietzsche noch gehen wie mit Spinoza, „den seine Zeitgenossen den philosophus atheissimus nannten“¹⁶, den die Romantiker aber dann als wesentliche Inspirationsquelle für eine neue Religiosität feierten. Am wichtigsten für Troeltsch ist in dieser Hinsicht Nietzsches Genealogie der jüdischen und christlichen Moral. Hier ist er ähnlich empirisch orientiert kritisch gegenüber Nietzsche wie Max Weber, setzt die Akzente aber etwas anders und entfaltet vor allem ein Argument, das im vorliegenden Zusammenhang zentral ist. Ich beschränke mich auf zwei Aspekte seiner Argumentation.

 Ebd., S. 763.  Troeltsch, Atheistische Ethik (wie Anm. 1), S. 546.  Ebd.  Ebd., S. 530.  Ernst Troeltsch, Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie (1913), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübinghen 1913, S. 805 – 836, hier S. 810.

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Erstens erklärt Troeltsch es für „sehr merkwürdig“, dass Nietzsche, „der sich bezüglich seiner eigenen Moral sehr wohl bewußt ist, daß sie die Konsequenz des Satzes ‚Gott ist tot‘ bildet, nun nicht jener Moral (der des Evangeliums, H.J.) zubilligt, daß sie die Konsequenz des Satzes ist: ‚Gott ist lebendig.‘“¹⁷ Entsprechend bemüht sich Troeltsch, die Bedeutung dieses Glutkerns religiöser Inspiration für Jesus herauszustellen, aber auch nachzuzeichnen, wie diese religiöse Inspiration schon bei den hebräischen Propheten zu finden war und wie sie die frühen Christengemeinden und die alte Kirche lebendig machte. Weder bei den Propheten noch bei Jesus seien die Seligpreisungen der Armen und Leidenden der Ursprung dieser Gottesvorstellung. Sie sind vielmehr Folge und Ergebnis der „Unzerbrechlichkeit des Jahveglaubens und einer Entgegenstellung der inneren Welt gegen die äußere Machtwelt.“¹⁸ Armut und Leid können zu Demut und Gottvertrauen führen und werden deshalb gepriesen. Selbstverständlich kann sich dann das Ressentiment an solche religiösen Vorstellungen anheften. Das sei bei den Juden sicher immer wieder geschehen, ebenso wie im Christentum. Doch sei auch in der christlichen Demut nicht die Ursache der Askese-Ideale, sondern deren Folge zu sehen, und die Entstehung dieser Ideale sei ohne das vorausgehende Liebesethos unverständlich und stehe jedenfalls „in sehr viel komplizierteren Zusammenhängen, als Nietzsche annimmt.“¹⁹ Auch die weitere Geschichte der Askese, etwa im mittelalterlichen Mönchtum, sei nicht zu verstehen, wenn sie nur negativ im Sinn der Abtötung natürlicher Bedürfnisse aufgefasst werde und nicht auch positiv im Sinn der „Entfesselung des religiösen Gefühls“. Gegen Nietzsche betont Troeltsch also, dass das Evangelium viel mehr sei als Askese, und dass diese „Verkennung seines religiösen Grundgedankens“ zu einer „Unterschätzung der von diesem Grundgedanken ausgehenden soziologischen Kräfte führen müsse“²⁰. Hier geht es Troeltsch ähnlich wie Weber offensichtlich um die Verteidigung der „Selbständigkeit der Religion“ gegen einen Reduktionismus der Macht. Ebenso wie für Weber ist das Christentum für Troeltsch auch keine antike proletarische Bewegung, wie Karl Kautsky und andere Marxisten behaupteten. So wichtig für beide der Blick auf die sozialen Träger von Religion war, so wichtig war auch, Religion nicht nur als Verkleidung der eigentlich leitenden materiellen (oder machtbezogenen) Interessen zu verstehen.

 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Tübingen 1994, S. 106.  Ernst Troeltsch: Glaube und Ethos der hebräischen Propheten (1916), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 4. Tübingen 1925, S. 34– 65, hier S. 55.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 17), S. 106.  Ebd., S. 4, Anm. 2.

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Was aber erklärt dann, gegen Nietzsche und Marx sozusagen, den Siegeszug einer jüdischen Sekte hin zum Charakter einer Weltreligion? Für Troeltsch − und das ist der zweite wichtige Aspekt seiner Argumentation − liegt die Erklärung in der Geschichte der antiken Imperien. Schon die Diadochenreiche, in die Alexanders Imperium zerfallen war, vor allem aber das römische Imperium hatten zur „Zertrümmerung der alten Nationalreligionen und der alten festgewachsenen Volksverhältnisse“ geführt.²¹ Ohne diese aber musste sich eine doppelte Tendenz ergeben: hin zum Individuum einerseits, zum Universalismus jenseits der Partikularitäten von Volk und Staat andererseits. „Das Weltreich verlangte nach einer Weltreligion und lenkte, indem es die Güter der alten Zivilisation zerstörte, den Blick auf das Überweltliche und Jenseitige.“ Transzendenzvorstellungen und moralischer Universalismus gewinnen damit an Anziehungskraft – in allen Schichten. In der Oberschicht konnten die so entstandenen Bedürfnisse zum Beispiel durch die stoische Philosophie befriedigt werden; für die Unterschicht aber brauchte es anderes als Philosophie, nämlich „einen neuen Kultus und eine neue religiöse Organisation“ jenseits von Ethnizität und archaischer Staatlichkeit. Das Christentum konnte diese bieten und dabei auch schrittweise die philosophischen Impulse in seine Lehre integrieren. Das neu entstehende christliche Ethos ist eben gerade nicht bloß Ausdruck des Ressentiments der Schwachen oder utopischer Erlösungshoffnungen einer Klasse, sondern löst sich von allen vorgefundenen soziologischen Gliederungen. Für diese Sicht findet sich bei Troeltsch nun ein weiterer wichtiger Beleg. Bis zu seinem frühen Tod trug Troeltsch in sein Handexemplar der Soziallehren immer wieder umfangreiche Ergänzungen ein, die er bei einer Neuauflage berücksichtigen wollte. Am Ende des Kapitels zum Evangelium, das heißt vor dem Übergang zu Paulus, findet sich unter diesen neuen Einschüben die wohl klarste Darstellung dieser genialischen Einsicht in direkter neuerlicher Konfrontation mit Nietzsche. Bei der Entstehung des Christentums sei es gerade um die Lösung von Klassenbedingtheit, „von der Polis, vom Imperium“ gegangen, um „die Entdeckung des Menschen und der Menschheit“²². „Das Entscheidende dabei ist“ – so Troeltsch – „daß dieses neue Ethos“ – und er erkennt, dass es sich eben um ein neues Ethos handelt – „ein von den natürlichen soziologischen Gliederungen lösendes, ein menschheitliches ist und dementsprechend nicht in den naturge-

 Ernst Troeltsch: Die Sozialphilosophie des Christentums (1911), in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903 – 1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin/Boston 2014 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 6/1), S. 779 – 808, hier S. 781.  Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Berlin/Boston 2021 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 9), S. 243.

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gebenen Gliederungen, sondern in der allumfassenden monotheistischen Idee des Absolut-Guten verankert ist. Es steckt in diesen Ideen keine nationale und keine Klassenbedingtheit, sie sind absolute Forderungen an das Individuum und an die Menschheit, sie bedeuten den unendlichen Wert der Seele und die Geistesgemeinschaft der Menschheit als erst in Erkenntnis oder Glaube zu erwerbende und zu schaffende höchste Güter, hinter denen alle anderen als bloß irdische verschwinden“²³. Das scheint mir eine klare Formulierung dessen, was ich mit der historischen Entstehung des moralischen Universalismus in Verbindung mit der Entstehung von Vorstellungen über Transzendenz meine. Troeltsch nennt auch keineswegs nur das Evangelium an dieser Stelle als Ausdruck der „neuen Idealbildung“²⁴, sondern auch „das platonische Ideal der von Vernunft und Erkenntnis geleiteten Gesellschaft und dann das stoische Ideal der auf die Würde des Geistes begründeten Reformpolis“. Gegen Nietzsche einerseits und die Sozialisten andererseits beruft sich Troeltsch hier ausdrücklich auf den französischen Historiker Fustel de Coulanges – der der wichtigste akademische Lehrer Emile Durkheims war und so viele von dessen Erkenntnissen faktisch vorweg nahm, dass Ernst Cassirer ihn zum eigentlichen Begründer einer nicht historisch-materialistischen Religionssoziologie erklärte.²⁵ Wie dieses neue Ideal bewertet wird, ob es als hohes Ideal anerkannt, vielleicht sogar als unübertrefflich aufgefasst wird, oder ob es in Nietzsches Art als „Vernichtung der aristokratischen Herrlichkeit durch plebejische Massenverherrlichung“, als „Auflösung einer ästhetisch-intellektuellen Höhenkultur durch eine lediglich ethisch-religiöse Phantastik der GeistigArmen“ und als „Vernichtung der Natur durch einen phantastischen und blutlosen Idealismus“ abzulehnen oder zu verdammen sei – das ist nach Troeltsch keine Frage, die von der Geschichtswissenschaft mit ihren Mitteln zu entscheiden ist.²⁶ Da aber nichts Menschliches in der Luft schweben kann, bedeutete eben die Loslösung des moralischen Universalismus von allen existierenden Sozialformen die Notwendigkeit der Schaffung neuer Sozialformen. Das ist die Logik, die zur Entstehung der Sozialform Kirche führte. Philosophenvereine und -schulen, die den Platonismus oder Stoizismus pflegten, konnten den Bedürfnissen der Unterschichten gewiss nicht genügen. Das ist wiederum der wahre Kern von Nietzsches bekannter Bemerkung in der Vorrede zu seiner Schrift „Jenseits von Gut

 Ebd., S. 242 f.  Ebd., S. 243.  Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4 (1950). Darmstadt 1973, S. 313.  Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (wie Anm. 22), S. 243.

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und Böse“, das Christentum sei „Platonismus fürs Volk“. Es ist selbstverständlich, dass diese neue und potentiell universalistische Sozialform „Kirche“ von bestimmten Klassen mehr als von anderen in Beschlag genommen werden wird, von bestimmten Staaten und Zivilisationen auch, von denen sie sich aber immer wieder auch lösen und absetzen kann. Der Idee nach, aber selbstverständlich den Anspruch in der Wirklichkeit nicht völlig verwirklichend, ist die christliche Kirche „der erste große Versuch einer davon (das heißt von Staat und Klassen, H.J.) unabhängigen und dann selbstständig erfolgenden Gemeinschaftsbildung der Idee“²⁷. Das ist Troeltschs produktiver Ausgangspunkt für eine Soziologie der Kirche. Dieser Zusatz Troeltschs für die geplante Neuausgabe seiner „Soziallehren“ ist vielleicht der klarste Beleg für seine Einsicht in die Zusammenhänge von moralischem Universalismus und dem, was ich politischen Universalismus nenne, d. h. dem Weltherrschaftsanspruch von Imperien. Sensibilisiert von dieser Stelle kann man wahrnehmen, dass Troeltsch sich in all den Arbeiten, in denen er die Frage nach dem Christentum als bisher höchster oder für alle Zeit unübertrefflicher Stufe der Religionsentwicklung erörtert, besonders für diejenigen Religionen interessiert, die er als „Erlösungs-“ oder eben als „Universalreligionen“ klassifiziert. Seine Begriffsverwendung ist dabei nicht ganz klar, aber deutlich wird, dass Universalreligionen nicht solche Religionen sind, die sich auf dem ganzen Globus finden – das könnte ja einfach die Folge von Migrationsbewegungen sein – sondern diejenigen, die „mit der natürlichen Gebundenheit der Religion an Staat, Blut und Ort und mit der Verflechtung der Gottheit in Naturkräfte und Naturerscheinungen“ gebrochen und die Vorstellung einer „deutlich in die Sinnenwelt hineintretenden übersinnlichen Welt absoluter jenseitiger religiöser Güter“ hervorgebracht haben.²⁸ Individualisierung der Religion und Universalisierung erscheinen hier als logisch miteinander verknüpft, weil die Beziehung der Gottheit „nicht mehr nur auf Familie, Sippe, Staat und Bundesschließung“ sowohl das Individuum wie eine alle Partikularitäten überschreitende universale Sozialität ins Zentrum der Religion rückt. Zu diesen Formen des Universalismus rechnet Troeltsch, wie wir gesehen haben, auch die philosophischen Schulen des Platonismus und der Stoa, aber an anderen Stellen auch indische religiöse Traditionen, Ansätze im Neuplatonismus und Gnostizismus der Spätantike sowie in Judentum und Islam, die er  Ebd.  Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 5), Berlin/New York 1998, S. 191 bzw. S. 193.

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aber als bloße „Gesetzesreligionen“ von den „Erlösungsreligionen“ im Vollsinn unterscheidet. Damit befindet sich das Christentum in einem Feld des Vergleichs religiöser und philosophischer Formen des moralischen Universalismus. Es kann der Frage nicht ausgewichen werden, wie konsequent das Christentum in seiner Geschichte dem moralischen Universalismus seiner Grundinspiration eigentlich treu geblieben ist, welche institutionellen und intellektuellen Formen dieser Universalismus annahm oder wie sehr er sich zu neuen Partikularismen wandelte. Das Christentum kann weiterhin im Vergleich der Religionen dann nicht wie selbstverständlich eine Überlegenheit in Hinsicht auf moralischen Universalismus in Anspruch nehmen. Die erste Frage ergibt eine fruchtbare Perspektive auf Troeltschs Arbeiten zur Geschichte des Christentums, die zweite auf seine lebenslange Erörterung der Stellung des Christentums unter den Weltreligionen. Ich habe schon in meiner ausführlichen Interpretation der „Soziallehren“²⁹ herausgearbeitet, dass sie sich methodisch von einer Geschichtsschreibung klar unterscheiden, die das Christentum im Sinne einer idealistischen Teleologie als die schrittweise Verwirklichung der in ihm lebenden Ideale darstellt. Zentral war dabei die Behauptung, dass Ideale nicht aus sich heraus Institutionen produzieren, sondern Menschen angesichts der Schwierigkeiten der Idealverwirklichung für sie plausible Institutionen schaffen, die dann selbst Wirkungen auf die Weitergabe der Ideale und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung entfalten.³⁰ Entsprechend könnte man meines Erachtens die „organische Sozialethik“, wie Troeltsch sie bei Thomas von Aquin findet, als zeitweise scheinbar harmonische Einfügung des universalistischen Christentums in eine bestimmte soziale und politische Ordnung voller institutioneller Komplementarität interpretieren. Auch die scharfe Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus bei Troeltsch gewinnt meines Erachtens ihren Sinn auf dieser Ebene, nämlich nicht so sehr durch einen Einschnitt in den theologischen Lehren als solchen, sondern durch einen radikalen Wandel in den Vorstellungen über das Verhältnis von Christentum und politisch-sozialer Ordnung, wie sie sich aus dem Bruch mit absolutistischer Staatlichkeit ergibt. Es bedarf gar nicht der Erwähnung, dass die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu Staat und Wirtschaft in Troeltschs Gegenwart Ausgangspunkt des ganzen Projekts der „Soziallehren“ gewesen war. Sehr wohl könnte sich aber der Hinweis lohnen, dass eine Schrift Troeltschs, die in der Rezeptionsgeschichte eher ein Schattendasein führt, in meinem Fragerahmen sich als ganz besonders wichtig erweist. Ich meine Troeltschs ausführliche Inter-

 Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin 2017, S. 169 – 201.  Ebd., S. 191.

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pretation von „De Civitate Dei“ in seinem 1915 erschienenen Buch „Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter“³¹. Troeltsch setzt Augustinus vom Mittelalter und speziell von Thomas radikal ab, da es für diesen um ein christliches Leben in einer letztlich pagan gebliebenen Kultur und einem Imperium, dessen Herrscher dem Christentum ihre Gunst auch wieder entziehen könnten, gegangen sei. Gerade für die Gegenwart aber gewinnt Augustinus damit eine unerhörte Aktualität. Erneut stellt sich ja die Frage, was christliches Leben in Kulturen und Staaten bedeutet, die ihre Werte und Normen weitgehend unabhängig vom Christentum gewinnen.

2 Das Christentum unter den Weltreligionen Damit komme ich zur Frage, wie Troeltschs Schriften sich im Lichte des Projekts einer Globalgeschichte des moralischen Universalismus ausnehmen. Hier erscheint mir vieles als problematisch. Bei aller Kritik am Imperialismus zum Beispiel, die Troeltsch auch mitten im Krieg gegen die Vorstellungen einer von Deutschland zu erringenden „territorialen Veränderung und Erweiterung“ äußert, wird schnell klar, dass sich sein politisches Augenmaß auf Europa beschränkt. Koloniale Erwerbungen „notwendiger Rohstoffgebiete“ – nicht Siedlungskolonien – hält er sehr wohl für geboten.³² Dabei waren es doch wesentlich diese, deretwegen der Diskurs über Imperialismus seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts so stark an Fahrt aufnahm. Auch im engeren Bereich der Wissenschaften von der Religion findet sich eine ähnliche Inkonsistenz. Wie selbstverständlich verwendet Troeltsch Begriffe wie „Kulturmenschheit“ – die ja ihren Sinn aus dem Kontrast mit Begriffen wie Naturreligion, Unzivilisiertheit, Wildheit gewinnen, die wir bei Troeltsch ebenfalls finden. Seine Schriften über „Mission“ sind zwar hochreflektiert und distanziert gegenüber jeder unsensiblen oder gar gewaltsamen Ausbreitung des Christentums, sie enthalten aber viele solche Bezeichnungen, die heute aus guten Gründen im höchsten Maße als „politisch inkorrekt“ gelten. Mit dem Verweis darauf, dass sie unter Troeltschs Zeitgenossen schlicht selbstverständlich waren, lässt sich die Sache nicht einfach abtun. Wir stoßen hier durchaus auf ein Problem, das im Zeichen eines universal- oder globalgeschichtlichen Projekts große Bedeutung hat. Das Problem ist, genauer betrachtet, ein doppeltes. Wir sollten das Christentum und Europa ja nicht

 Ernst Troeltsch:, Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. Im Anschluß an die Schrift „De Civitate Dei“ (1915). München/Berlin 1915.  Ernst Troeltsch: Imperialismus (1915), in: Die neue Rundschau 1(1915), S. 1– 15, hier S. 1.

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gleichsetzen. Zu fragen ist deshalb, wie genau Troeltsch das Christentum in der Vielfalt der Religionen und wie genau er die europäische Kultur in der Vielfalt der Kulturen verortet. Zwei Gründe sind es, die eine einfache und knappe Antwort auf diese Fragen unmöglich machen. Zum einen haben Troeltschs Antworten auf diese Fragen sich im Lauf seiner Werkentwicklung beträchtlich verändert; zum anderen gibt es unübersehbare Spannungen zwischen seinen deklarierten Antwortintentionen und dem faktischen Charakter seiner Antworten. Letztlich kann hier von einer gelungenen Lösung bei Troeltsch meines Erachtens nicht gesprochen werden. Mit einer Andeutung, wie diese aussehen könnte, werde ich diese knappen kritischen Überlegungen schließen. In den ersten Jahrzehnten seines Schaffens gehörte die Frage, ob sich jenseits des alten „Offenbarungspositivismus“ die Absolutheit des Christentums oder zumindest seine historische Höchstgeltung wissenschaftlich demonstrieren lasse, zu Troeltschs wichtigsten Interessen. Er argumentierte in dieser Hinsicht lange Zeit idealistisch-teleologisch. So heißt es in „Wesen der Religion und der Religionswissenschaft“ von 1906, es sei nach der Einsicht in die Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens jetzt die Aufgabe einer Geschichtsphilosophie der Religion, „diese Mannigfaltigkeit als eine aus innerer Einheit hervorgehende und in ihrer Abfolge als einem normativen Ziel entgegenstrebende zu begreifen“³³. Das klingt hegelianisch, ist es aber nicht wirklich, da Troeltsch Hegels Vernunftdialektik ablehnte und in seinem Religionsverständnis eher an Kant, Herder und Schleiermacher anschloss als an Hegel und in seinem Geschichtsverständis eher an Ranke. Er wollte Hegels Ziel in dieser Phase gewissermaßen mit nicht-hegelschen Mitteln erreichen. Seine Beiträge sind in dieser Zeit zumindest ambivalent, wenn nicht selbstwidersprüchlich. Er wollte einerseits an der Vorstellung festhalten, „daß in der Religionsgeschichte ein zusammenhängender Fortschritt erfolgt“³⁴, lehnte es andererseits aber doch ab, dass wir deshalb „einen allgemeinen Begriff der Religion als die Triebkraft dieser Entwicklung aufstellen und das Christentum als dessen notwendige Vollendung erweisen.“ Unter dem Einfluss Nietzsches und anderer Denker der Kontingenz wie Henri Bergson und William James und dann erst recht angesichts der radikalen Kontingenzerfahrung von Weltkrieg und Revolution traten die idealistisch-teleologischen Züge von Troeltschs Geschichtsdenken immer weiter zurück. Das Motiv der Höchstgeltung verschob sich von einem rational-argumentativ erweisbaren Geltungsanspruch zu einer existenti Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1906), in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübingen 1913, S. 452– 499, hier S. 485.  Ernst Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte (1897), in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübingen 1913, S. 328 – 363, hier S. 353.

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ellen Entscheidung. Im Aufsatz „Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie“ von 1913 hieß es bereits, dass „die in der Gegenwart erfolgende Entscheidung das von ihr ergriffene religiöse Lebenssystem nur als das Höchstgeltende, als das Höchsterreichte bezeichnen und keinerlei wissenschaftliche Gewißheit über dessen ewige Dauer oder über die weitere Zukunftsentwicklung geben“ könne.³⁵ Solche Entscheidung findet für Troeltsch freilich selbst in einem Raum statt, der zur historischen Reflexion auffordert. Bei allem Neuschöpfungscharakter der Entscheidung bleibt ein „objektives Element der inneren Notwendigkeit, des religiösen Gewissens, die Treue und Pietät gegenüber der Geschichte, der Wille zur Einstellung in eine innere uns ergreifende Lebensbewegung der Sache selbst: das bewirkt auch hier ein Verpflichtungsgefühl, einen inneren Zwang, der solche Entscheidung aus dem Bereich der bloßen Willkür und des Zufalls hinaushebt“³⁶. Die Grundstruktur von dem, was Eduard Spranger Troeltschs „existentiellen Historismus“³⁷ genannt hat, ist damit schon vor dem Krieg identifizierbar. In den Nachkriegstexten wurde diese Denkfigur noch viel deutlicher. Im letzten seiner einschlägigen Texte – einem der fünf für seine England-Reise verfassten Aufsätze („Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen“) – erläuterte Troeltsch selbst seinen partiellen Gesinnungswandel. Die Arbeit an den „Soziallehren“ habe ihn gelehrt, wie wenig man in der Geschichte von einem einheitlichen Christentum sprechen könne. Das Studium der nicht-christlichen Religionen wiederum habe die Einsicht erbracht, dass auch diese eine „echte Absolutheit“ verkörperten.³⁸ Auf beiden Gebieten sei damit die Idee der Individualität der historischen Phänomene ihm immer mehr ins Bewusstsein getreten; damit aber sei ihm auch klar geworden, dass sein früherer Versuch, Historismus und Höchstgeltungsanspruch des Christentums zusammenzudenken, doch zu einfach geblieben sei. Er erklärte nun aber nicht, eine neue und überzeugende Lösung gefunden zu haben, sondern schob nun das Geltungsproblem, von dem es heißt³⁹, es hafte ihm doch immer etwas Rationalistisches an, einfach in den Hintergrund.

 Troeltsch: Logos und Mythos (wie Anm. 16), S. 823.  Ebd., S. 825.  Eduard Spranger: Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900, in: Hans Leussink u. a. (Hg.), Studium Berolinense. Berlin 1960, S. 425 – 443, hier S. 434.  Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: ders., Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland, hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey, Berlin/New York 2006 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 17), 105 – 118, hier S. 113.  Ebd., S. 114.

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Im Vordergrund standen dagegen jetzt Europäertum und europäisches Christentum in ihrer Individualität. Viele werden wie ich die damit einhergehende Verschiebung zur Verständigung zwischen den vielfältigen „Christentümern“ und den Weltreligionen als sympathisch empfinden. Troeltsch spricht vor und nach dieser Wende höchst aufgeschlossen von der Erneuerung des Christentums, das aus seinen „verrosteten europäischen Formen“ herausmüsse, und von noch gar nicht absehbaren Wirkungen, die die Begegnung des Christentums mit anderen Religionen auslösen werde. Man kann auch behaupten, dass Troeltsch die Entstehung der vergleichenden Religionswissenschaft, deren Produkte er in erstaunlichem Maße konsumierte und die er als die wichtigste Quelle der Erschütterung des christlichen Glaubens bezeichnete,⁴⁰ positiv als Lernprovokation aufnahm. Doch entsteht, wenn man Troeltschs verstreute Kennzeichnungen nicht-christlicher Religionen aus seinen Schriften zusammenstellt, nicht wirklich das Bild gründlicher Kenntnisse. Von der Intensität der Studien Max Webers zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, so mangelhaft auch diese in vieler Hinsicht waren, kann keine Rede sein. Gelegentlich räumte Troeltsch selbst ein, dass seine Arbeiten zur Geschichte des Christentums durch die völlige Außerachtlassung des orthodoxen Christentums und dessen, was er den „orientalischen Katholizismus“ nannte, nur eingeschränkte empirische Ansprüche erheben könnten. Aber über das koptische und äthiopische Christentum äußerte er sich nur abwertend, und sein Russlandbild wirkt verzerrt, zumindest dann, wenn man seine Kriegspublizistik für dessen Ausdruck hält („slawische Herrschsucht und Tücke“⁴¹). Der Islam wird von Troeltsch durchgehend anhand des Bildes einer „nationalarabischen Kriegsreligion“ beschrieben; dem persischen Islam wird etwas mehr zugestanden, der türkische aber als „zerstörende Unkultur“⁴² gewertet. Der Buddhismus wird auf eine „am Pessimismus haftende quietistische“ Lebenseinstellung reduziert.⁴³ All das ist mehr klischeehaft als kenntnisreich und überraschend hinsichtlich der Urteilsfreudigkeit des gelehrten Verfassers. Dies steht im Kontrast zu den ebenfalls bei Troeltsch zu findenden Distanzierungen vom „Europäerhochmut“⁴⁴ und dem Geist der Eroberer, Kolonisatoren und Missionare, der das europäische Denken stark durchdringe. Michael Pye hat schon 1976 davon gesprochen, dass Troeltschs positive Bewertung nicht-christli-

 Troeltsch, Christentum und Religionsgeschichte (wie Anm. 33), S. 333.  Ernst Troeltsch, Nach Erklärung der Mobilmachung. Rede gehalten bei der von Stadt und Universität einberufenen vaterländischen Versammlung am 2. August 1914, Heidelberg 1914, S. 3.  Troeltsch, Wesen (wie Anm. 33), S. 468.  Troeltsch, Christentum und Religionsgeschichte (wie Anm. 33), S. 356.  Troeltsch, Historismus (wie Anm. 9), S. 1023.

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cher religiöser Traditionen im Konkreten so schwach ausfalle, dass damit seine pluralistischen Intentionen und Voraussetzungen effektiv unterlaufen würden.⁴⁵ Wir sind deshalb gezwungen, hier Intention und Leistung deutlich voneinander zu trennen. Meine Kritik an Troeltsch könnte an dieser Stelle so klingen, als käme sie von außen, als legte ich einen Maßstab an ihn an, der anachronistisch ist oder von den Intentionen, die sein Werk antreiben, zu weit entfernt. Ganz anachronistisch dürfte die Kritik insofern aber nicht sein, als schon zeitgenössische gelehrte Freunde Troeltschs in dieser Richtung argumentierten. Max Scheler widersprach in seinem Nachruf „Ernst Troeltsch als Soziologe“ der Vorstellung von einem europäischen Kulturkreis für die Vergangenheit und erst recht die Zukunft, jetzt, nach dem Weltkriege,⁴⁶ und Otto Hintze, der die Verflechtungen von Kulturen, „Rezeptionen und Renaissancen“ hervorhob,⁴⁷ argumentierte in dieselbe Richtung. Auch aus den Islamwissenschaften kam sofort Kritik. Werkfern ist meine Kritik ebensowenig, da Troeltsch ja mit guten Gründen sein Programm einer europäischen Kultursynthese mit dem der Universalgeschichte verknüpfte – gemäß dem für den existentiellen Historismus zentralen Gedanken einer zirkelhaften Beziehung von subjektiver Entscheidung und historisch-objektivem Hintergrund.⁴⁸ Nicht dieser Gedanke ist also Gegenstand meiner Kritik, im Gegenteil, sondern die Einengung der Universalgeschichte auf eine „Weltgeschichte des Europäertums“⁴⁹. Selbstverständlich ist diese einem „gewaltsamen Monismus“ der Geschichtsschreibung und den „Übertreibungen des europäischen

 Michael Pye, Ernst Troeltsch and the end of the problem about „other“ religions, in: John Powell Clayton (Hg.), Ernst Troeltsch and the Future of Theology. Cambridge 1976, S. 172– 195, hier S. 178 f. Zu Troeltsch und globaler Religionsgeschichte auch Michael Bergunder, „Religion“ and „Science“ within a Global Religious History, in: Aries 16 (2016), S. 86 – 141. Der in der englischsprachigen Welt einflußreichste Text ist Kapitel 9 in: Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago 2005, S. 309 – 328. Es ist hier nicht der Ort, um die eklatanten Fehlinterpretationen und philologischen Mängel dieser Arbeit ausführlich zurückzuweisen.  Max Scheler, Ernst Troeltsch als Soziologe, in: ders., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke Bd. 6. Bern/München 1963, S. 377– 390, hier S. 387. Dazu Matthias Schloßberger, Ernst Troeltsch und Max Scheler. „Kultursynthese des Europäismus“ oder „Weltalter des Ausgleichs“, in: Christian Bermes u. a. (Hg.), Solidarität, Person und soziale Welt. Würzburg 2006, S. 123 – 134.  Otto Hintze, Troeltsch und die Probleme des Historismus. Kritische Studien (1927), in: ders., Soziologie und Geschichte. Göttingen 1964, S. 323 – 373, hier S. 364 f. Dazu Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861– 1940. Paderborn 2015, S. 152 f.  Troeltsch, Historismus (wie Anm. 9), S. 1011.  Ebd., S. 1025.

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Selbstgefühls“⁵⁰ vorzuziehen. Aber sie übertreibt eben die Unabhängigkeit Europas und vernachlässigt die Geschichte der europäischen Expansion und ihrer Rückwirkungen auf Europa, der „Unterwerfung der Welt“ (Wolfgang Reinhard)⁵¹ durch Europa. Mir scheint Troeltsch mit dieser These, die ja das Scharnier bilden sollte zwischen seiner Geschichtsphilosophie und der geplanten materialen Kultursynthese, in eine argumentative Sackgasse gekommen zu sein. Eine triviale Erklärung wäre, dass er eine Verflechtungsgeschichte Europas schlicht aus Kenntnismangel nicht hätte schreiben können und die These von der „Weltgeschichte des Europäertums“ eine Art hyperbolischer Rechtfertigung der Einschränkungen seines Projekts darstellte. Tiefer geht aber eine Erklärung, die diese These mit der Verschiebung im Verhältnis von historischer Individualität und Geltungsfrage, auf die ich hingewiesen habe, in Verbindung bringt. Mir scheint das Problem dort zu liegen, wo Troeltsch zwischen Religion und moralischem Universalismus ungenügend differenziert. Ich behaupte in meinen Arbeiten seit dem Buch „Die Entstehung der Werte“ von 1997), dass sich in der Tat die höhere Geltung des moralischen Universalismus gegenüber moralischen Partikularismen argumentativ rechtfertigen lässt. Das ist der wahre Kern der universalistisch-deontologischen Tradition der Moraltheorie. Doch kann kein Individuum und keine Kultur mit dieser Moral leben, ohne sie mit einem bestimmten partikularen Wertsystem und einer bestimmten partikularen Weltdeutung einzuhegen, etwa ihre Anwendungsbereiche und -bedingungen näher zu definieren.⁵² Diese Wertsysteme und Weltdeutungen aber sind interpretationsbedürftig und historisch variabel. Troeltsch geriet in eine Sackgasse, weil er entweder die Höchstgeltung einer Religion als einer umfassenden Weltdeutung und eines Wertsystems beweisen wollte oder, nach der Einsicht in die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, die Geltungsfrage kulturalistisch einklammerte. Eine bloße „Geltung für uns“⁵³ kann aber dem Anspruch des moralischen Universalismus nicht gerecht werden. Ich teile mit Troeltsch die doppelte Frontstellung gegen kulturellen Relativismus und kulturellen Absolutismus⁵⁴: Kulturen als ganze lassen sich in der Tat nicht bewerten; dies zwingt uns aber deshalb nicht zur umfassenden moralischen Urteilsenthaltung. Der moralische Universalismus kann in verschiedenen religiösen

 Ebd., S. 1026.  Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 – 2015. München 2016.  Joas: Entstehung der Werte (wie Anm. 4), S. 272 f.  Troeltsch: Stellung (wie Anm. 38), S. 115.  Sehr gut dazu Ulrich Schmiedel: The Politics of Europeanism: „God“ in Ernst Troeltsch’s War and Post-War Writings, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 22(2015), S. 231– 249.

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und säkularen Formen kulturell artikuliert werden. Es gibt ihn nicht und wird ihn nie geben ohne die Gestalt kultureller Artikulation. Diese Gestalt muss die bestimmter Systeme von Idealen oder Werten sein. Diese können religiöser oder säkularer Art sein. Auch die säkularen aber müssen den Charakter unbedingter Geltung annehmen, wie es etwa beim Glauben an die universale Menschenwürde, die Sakralität der Person, der Fall ist. Eine Beobachtung Troeltschs in der Auseinandersetzung mit der „atheistischen Ethik“ hat darin ihre Ursache. Die atheistische Ethik bedürfe des Ehrgeizes, die religiösen Ethiken zu übertreffen. „In dem Maße, als ihm (dem Atheismus, H.J) dieser Vergleichspunkt aus dem Gesicht kommt, verliert auch der atheistische Idealismus erfahrungsgemäß seinen edlen Charakter“⁵⁵. Die Genealogie des moralischen Universalismus muss sich deshalb auf beides richten, die universalistische Moral und die universalistischen Religionen, und für die Spannungen zwischen ihnen empfindlich sein. Eine globalgeschichtliche Genealogie des moralischen Universalismus aber kann und wird natürlich eine Analyse der Werte Europas als Teil enthalten; es muss aber eine Analyse Europas in seinen globalen Verflechtungen einerseits und unter ernsthafter Berücksichtigung nicht-europäischer und nicht-christlicher Formen des moralischen Universalismus andererseits sein.

 Troeltsch: Atheistische Ethik (wie Anm. 1), S. 539.

Johann Hinrich Claussen

Bruch und Wandel Säkularisierung als Realisation (am Beispiel zeitgenössischer Lyrik)

1 Frage und These Der Begriff „Kultur-Protestantismus“ steht für ein Programm und ein Problem, ist ebenso ein Hoffnungszeichen wie ein Krisenindikator. Er stellt eine Spannungseinheit vor, die einerseits höchst kreativ werden kann und andererseits häufig zu zerreißen droht. Und dies ist für den aufgeklärten Protestantismus (wie auch für den modernen-gebildeten Katholizismus) der wohl wichtigste „Sitz im Leben“. Will man ihn verstehen, kann man viele unterschiedliche Zugänge wählen: ein besonders interessanter ist die Literatur der Gegenwart. Sie bietet sich besonders an, weil in ihr die wichtigsten existentiellen und weltanschaulichen Einstellungen, Stimmungen, Haltungen und Atmosphären ihrer Zeit zur Sprache kommen und deshalb auch besprochen werden können. Und sie bietet sich an, weil die Reformation als Buchrevolution begann, der Protestantismus sich als Lesekonfession entfaltete, seine Nähe oder Distanz zur Kultur der Moderne deshalb hier besonders gut zu diagnostizieren ist. Doch hier stocke ich kurz und frage mich: Was hat Ernst Troeltsch eigentlich von der Literatur seiner Zeit wahrgenommen? Bekannt ist, dass er erstaunliche Lektüre-Pensen absolviert hat. Unendliche viele Klassiker und Neuerscheinungen in Theologie, Philosophie, Soziologie und Historiographie hat er, dieses Wahrnehmungsgenie, rezipiert. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, dass er einige Bücher eher „gescannt“ als studiert hat. Blitzschnell hat er sie zu durchdringen gesucht, ihnen oft mit sicherem Zugriff das Wesentliche entnommen und ihrem theologischen oder zeitdiagnostischen Stellenwert erfasst. Doch hat er die schöne Literatur auch geliebt? Welche Romane oder Gedichte hat er in der angemessenen Muße gelesen? Oder hatte er dafür keinen Sinn und keine Zeit? Manchmal hat ein äußerer Anlass wie ein Jubiläum ihn dazu gebracht, bedeutsame Texte über große Autoren zu schreiben (etwa über Dante¹) oder zumindest

 Ernst Troeltsch: Der Berg der Läuterung, Berlin 1921. https://doi.org/10.1515/9783110733075-006

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zeitkritisch-politische Miniaturen (wie über Dostojewski²). Und er hat sich erstaunlich früh und klug mit George Eliot als einer der ersten großen, dezidiert atheistischen Romanautorinnen des 19. Jahrhunderts befasst.³ Aber wenn man sein gesamtes Werk betrachtet, kommt die Literatur doch vergleichsweise kurz. Und wenn sie vorkommt, hat man nicht selten den Eindruck, dass sie eher als Indiz für diese oder jene Zeitströmung, also zeitdiagnostisch ausgewertet, denn als autonome Kunst wahrgenommen wird. Wenn ich mich in diesem kurzen Vortrag also mit der Frage befasse, was ein Blick in die Literatur der Gegenwart eigentlich für das Verständnis des „KulturProtestantismus“ heute austrägt, dann folge ich einer grundsätzlichen Anregung durch Ernst Troeltsch, aber eher nicht seinem Hauptinteresse. Direkter schließe ich mich einer Autorin an, die auf sehr eigenständige Weise zentrale Einsichten von Ernst Troeltsch für ihre theo-literarische Arbeit übernommen hat. Die Lektüre ihres Hauptwerks war für mich eine besondere und unerwartete Inspiration. Und ich muss gestehen, dass ich ihr bestes Buch erst mit großer Verspätung gelesen habe. Ich spreche von Dorothee Sölle und ihrer Habilitationsschrift „Realisation“⁴. Darin versucht sie ganz im Sinne von Ernst Troeltsch die Entstehung der modernen Literatur nicht als einen Abfall vom Christentum zu deuten, also nicht als „Säkularisierung“ im negativen Sinne, sondern als eine Verwirklichung wesentlich christlicher Motive in einer ganz anderen, nicht mehr kirchlichen, sondern weltlichen Sprachgestalt. Ihr gelingt dabei das interpretatorische Kunststück, ihre systematische These – Säkularisierung als Realisation – zu entfalten und am Beispiel klassischer Romane plausibel zu machen, ohne jedoch die Werke von Karl Philipp Moritz, Jean Paul und anderen dabei argumentativ zu instrumentalisieren und ihnen den Charakter eines autonomen Kunstwerks zu nehmen. Dabei lässt sie sich leiten von der Ausgangshypothese, dass der von ihr jeweils gelesene Dichter „den Ernst, die Radikalität, die Wahrhaftigkeit des Absoluten teile, nicht als ein gegenständliches Wissen von Gott, wohl aber als ein bestimmtes, die je gegebene Wirklichkeit transzendierendes Fragen des Menschen, das man nur umgehen kann um den Preis der Wirklichkeit selber.“⁵ Den Hinweis auf die Habilitationsschrift von Dorothee Sölle verdanke ich dem Germanisten Wolfgang Braungart. In seinen gesammelten Studien über „Literatur und Religion in der Moderne“ (2016) folgt er der Wahrnehmungs- und Deu-

 Z. B. Ernst Troeltsch: Zum Gedenktage an Dostojewskij, in: Kunstwart und Kulturwart 35. Jg, 2. Novemberheft 1921, München, S. 76 – 78.  Ernst Troeltsch: Atheistische Ethik, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 82, Berlin 1895, S. 193 – 271.  Dorothee Sölle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, Darmstadt 1973.  Ebd. S. 105 f.

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tungsspur von Sölle – und damit von Troeltsch. Überzeugend wendet er sich gegen die Vorstellung, das Verhältnis von christlicher Religion und moderner Literatur sei das einer Ablösung und Ersetzung: zuerst das orthodox-konfessionelle Kirchenchristentum, dann die säkulare „Kunstreligion“ (der verlorenen Pastorensöhne). Vielmehr will Braungart zeigen, dass zentrale Figuren der modernen Literatur Europas eine Umformung des Christlichen geleistet haben, die in vielem mit dem Alten bricht, in zentralen Aspekten aber dem wesentlich Christlichen dadurch treu bleibt, dass sie diesem eine neue Gestalt verleiht. Moderne Literatur ist, so Braungart, zum einen Reflexionskunst und zum andern orientiert am Ideal einer „Sakralität der Person“.⁶ In beidem ist sie christentumsnah oder sogar christlich. Die Freiheit, mit der die ästhetische Gestaltung vorgenommen wird, ist keine Absage an das alte Christentum, sondern höchstens an herkömmliche theologische und kirchliche Autoritätsansprüche. Gut reformatorisch „machen“ die Schriftsteller, um die es Braungart geht, Religion. Indem sie „Religion machen“⁷, übernehmen sie Verantwortung für sie und realisieren sie sich als freie Wesen. „Fluchtpunkt ist die Anerkennung ästhetischer Freiheit und damit, symbolisch, die Anerkennung der Freiheit des Subjekts selbst in seiner autonomen Würde. Das ist aus meiner Sicht die entscheidende ‚Metamorphose des Heiligen‘ im 18. Jahrhundert“⁸ – die sich nicht zuletzt auch der Reformation verdankt, deren Spuren Braungart aber auch in ausgewählten Beispielen der Gegenwartsliteratur findet. Allerdings, auch wenn dies Thesen sind, die auf einem Ernst-Troeltsch-Kongress zustimmungsfähig sein dürften, so besitzen sie für Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft durchaus einen provokativen Charakter. Sie rufen etwas auf und hervor, das Widerspruch bei vielen dort auslösen sollte, die auf Distanz zu allem Religiösen oder gar Kirchlichem Wert legen oder die an einer milieutypischen Religionsallergie leiden. Wenn ich dieser Linie nun folge, präsentiere ich keine Mehrheitsmeinung, nichts, was marktgängig wäre. Aber das gehört wohl zu einem anspruchsvollen „Kultur-Protestantismus“ heute: Er ist nicht „mainstream“, sondern „independent“. So stelle ich Ihnen nun eine Autorin und einen Autor vor, die mit ihren Gedichten zwar Anerkennung, aber keinen Erfolg gefunden haben, die aber auf je eigene Weise zeigen, dass die Geschichte der Spannungseinheit „Kultur-Protestantismus“ noch nicht abgeschlossen ist.

 Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne, Paderborn 2016, S. 15.  Ebd., S 16.  Ebd., 87.

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2 Dorothea Grünzweig Berühmt sind die verlorenen Pastorensöhne, des 18., 19. und sogar noch 20. Jahrhunderts, die mit dem Glauben ihrer Väter gebrochen bzw. ihn in ihrer Literatur aufgehoben hatten. Gibt es davon heute noch welche? Zumindest eine verlorene/nicht-verlorene Tochter gibt es. Sie heißt Dorothea Grünzweig, ist 66 Jahre alt und lebt seit vielen Jahren in Finnland. Aber aufgewachsen ist sie in Korntal, einem Zentrum des Schwäbischen Pietismus, als Tochter von Fritz Grünzweig, dem Geistlichen Vorsteher der dortigen Brüdergemeinde. Von Korntal bis nach Hausjärvi, wo sie heute lebt, – das ist ein weiter Weg: Bruch und Wandel, Säkularisierung und Realisation. Vieles wird Grünzweig auf ihm zurückgelassen, abgestreift, verloren haben. Anderes aber wird sie mitgenommen, weitergetragen, in neue Erde eingepflanzt haben. Es ist ein eigener Reiz, beim Lesen ihrer Gedichte genau darauf zu achten. Da ist zum Beispiel dieses Gedicht über ihren Vater. Es geht darin um dessen Mund und Sprache, seinen Glauben und seine Wunden, seine Macht und die Kriegsverletzung an seiner rechten Hand und wie das eine mit dem anderen – die versehrte Hand und der verkündigende Mund, Macht und Ohnmacht – zusammenhängt.⁹ Es scheint mir manchmal, wenn ich müde bin und die fesseln der zeit springen auf vaters des längst schon toten vaters hand zu haben als übernahme- als vermächtnishand der kieselgroße krater auf dem handrücken der abgeknickte mittelfinger wie ein erlegtes wild erstarrte hand sie löste scham aus in uns kindern ehrerbietung heimlich gelehnt an rührung und ein begreifen dass auch gott verwundbar war als kind erschien mir schon manchmal die hand als wäre auch der mund betroffen etwas elendes und doch schwebend getröstetes das nur noch stockend sprechen kann erst später ließ uns vater wissen wie es sich zugetragen hatte die kriegsversehrung durch ein explosivgeschoss entsetzte jammernd und weinend der mund dächte man aber in wirklichkeit wars ihm so vorgekommen wie wenn die eben zum gesicht geführte hand an mundes statt getroffen worden wäre sie eiterte dahin im lazarett

 Dorothea Grünzweig: Kaamos Komsos. Gedichte, Göttingen 2014, S. 17.

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und der mund weil er frei und gerettet war und nicht zerfetzt nicht stumm verstümmelt ein in mitleidenschaft erschütterter raum ein stammel gelände wölbte sich über dem schmerz und lobgesang

In einer Rede hat Grünzweig über ihr Schreiben und dessen gebrochen-geheilten Bezug zur familiär-religiösen Herkunft Auskunft gegeben.¹⁰ Sie beschreibt darin, wie sie in zwei Sprachen aufgewachsen ist: der Alltags- und der heiligen Sprache. Die heiligen Worte des Vaters, der Gebete, der Choräle haben ihr als Kind innerlich einen unendlichen Horizont erschlossen. Aber sie musste bis an den Rand Europas ziehen und in eine sehr fremde Sprache eintauchen, um einen eigenen, unbelasteten, freien Umgang mit dieser heiligen Sprache zu finden. Als Pietistin höherer Ordnung stellt sie sich in die Tradition der deutschen Romantik ein – dies aber aus einer großen Ferne. So bezeugt sie die nicht erloschene Sprachkraft des pietistischen Protestantismus, die Unabgeschlossenheit der romantischen Avantgarde, aber auch die Notwendigkeit, sich von beidem zu entfernen, um ein eigenes Gedicht zu schreiben. Dieses kann von der Macht und Ohnmacht des Vaters, der Scham und Rührung der Tochter sowie der Ahnung, dass auch Gott verletzlich ist, erzählen. Oder es kann, weit weniger passional, einen erfüllten Augenblick beschreiben: „Die dichterische Sprache bringt uns in einen warmen, erfüllten Zustand. Einen Zustand, wo uns die Dinge aufgehoben erscheinen. Mythisch-religiös gedacht ist damit ein Nachschein, ein Nachglühen des Garten Eden gegeben. Novalis betont, auch ein Vorglühen.“¹¹ So in einem Zyklus über die finnische Sonnenwende. ein einziger großer sommertag durch den der fluss streicht die seenkette wir fahren in kanus mit liisa und juha den fluss hinab durch libellentrauben ihr sirren von schillrig kristallenen flügeln wir ziehen unser entzücken nach innen wissen nicht viel vom alltag der nachbarn und löschen die aufsteigenden fragen lieber mit einem schuss schweigen ab später sitzen wir in uns gekehrt in abendgemeinschaft auf felsenhuckeln die verfugt sind mit flechten und moos die wellen vor uns orange gebändert

 Dorothea Grünzweig: Die Holde der Sprache, 2. Aufl., Warmbronn 2016.  Ebd., S. 25.

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sie rubbeln die strähnen der wasserfäden rapsfelder nah ihr rhapsodisches gelb wir sind uns keines kummers bewusst ewig so zu leben uns heut noch zu verlieren es scheint uns gleich wir würden selber zu uferfelsen würden selber zu prachtlibellen welche ihr dasein auflodern lassen und dann erfüllt zu boden sinken lebenssatt

3 Uwe Kolbe Das Leben eines Kultur-Protestanten ist schwer: Niedergang wohin man schaut. Aber es gibt auch glückliche Momente, in denen einem Überraschungen beschert werden. Plötzlich erscheint da, aus heiterem Himmel, ein Gedichtband, der ebenso literarisch überzeugt wie religiös anspricht. Und er folgt keiner protestantischen Traditionslinie, so dass man ihn irgendwie hätte erwarten können, sondern scheint eher das Ergebnis einer spontanen Mutation zu sein. Plötzlich also veröffentlicht ein zeitgenössischer Dichter ein Buch mit Psalmen. Ist das ein Skandal oder ein Wunder? Im Fall von Uwe Kolbe¹² ist dies schlicht eine gute Nachricht, ohne unnötiges Erregungspotential. So außergewöhnlich ist sein Buch ja nicht, sondern verweist auf eine lange Tradition innerhalb der klassischen Moderne. Viele bedeutende Lyriker des 20. Jahrhunderts haben Psalmen geschrieben oder sich vom biblischen Psalter anregen lassen. Man denke an Bertolt Brecht, Georg Trakl, Paul Celan, Nelly Sachs oder Peter Huchel. Einige haben nicht nur einzelne Psalmen, sondern ganze Psalter verfasst wie zum Beispiel SAID oder der junge Thomas Bernhard. Uwe Kolbe ist ein belesener Lyriker, dessen Verse tiefe Wurzeln haben. Vor kurzem hat er in einem Interview mit der Website „kulturkirchen.org“ einige von ihnen aufgezählt: „Wo meine Sprache wurzelt … in der Mutterzunge mit Dialekt, verballhornter Grammatik, drolligen Fehlern im Wortschwall einerseits und andererseits bei einer Internationale von Ägyptern, Griechen, Lateinern, Renaissance-Italienern und Angelsachsen, den Dichtern der französischen und mittelhochdeutschen Versepen, Bibelübersetzern und all denen, die ihnen bis heute nachfolgen.“ Die Bibel war für ihn also immer schon mit dabei, jetzt macht er sie direkt zum Thema. Das ist ebenso ein Zeichen für Traditionsbewusstsein wie ein unerschrockener Akt der Freiheit. Offenkundig hat Kolbe keine Angst davor, in irgendeine Ecke gestellt zu werden, von Kirchen vereinnahmt oder im Kulturmi Uwe Kolbe: Psalmen, Frankfurt a. M. 2017.

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lieu verachtet zu werden. Er kennt nicht die schon von W. H. Auden verspottete „Prüderie der Gebildeten, für die theologische Begriffe weitaus schockierender sind als jedes Schimpfwort“. Das Provokative, aber auch das konstruktive Anliegen seines Psalmenbuches kann man erahnen, wenn man Kolbes Weg bedenkt. Natürlich hasst er es, wenn er als Ost-Autor tituliert und auf seine jungen Jahre in der DDR reduziert wird. Aber in seinem kürzlich erschienenen Anti-Brecht-Buch¹³ kann man erkennen, wie sehr ihn die Verachtung einer diktatorischen Moderne, einer kommunistischen Lügenutopie und einer atheistischen Korruptionsliteratur antreibt und ihn nach etwas suchen lässt, was authentischere Perspektiven eröffnet. So ist er, der ganz unkirchlich aufgewachsen ist, auf eigenen Lesepfaden zur Luther-Bibel und den Psalmen gestoßen und hat irgendwann begonnen, selbst welche zu schreiben. Was aber zeichnet Psalmen eigentlich aus – und was macht Kolbe daraus? Die biblischen Psalmen versuchen in vier Formen, das Ganze des menschlichen Lebens vor Gott auszusprechen: Bitte, Dank, Klage, Lob. Dazu bedienen sie sich starker Sprachbilder und einer eigentümlichen Technik der Wiederholung. Beides zusammen erzeugt einen unvergleichlichen Sog, der auch Jahrhunderte später noch Leser mitten in das „Ich“ oder „Wir“ dieser archaischen Verse hineinziehen kann. Kolbes Verse gehen ebenfalls aufs Ganze der menschlichen Existenz und deshalb über sie hinaus. Das verleiht ihnen einen ähnlich starken Zug ins Unbedingte. Allerdings ahmt Kolbe die biblischen Worte und Bilder nicht nach. Er macht es eher wie ein Jazzmusiker: Er verwandelt traditionelle standards in heutige Musik, nimmt die alten Melodien und Themen auf, vertraut ihrer ungebrochenen Lebendigkeit, gibt ihm aber einen neuen Rhythmus, verwebt sie mit zeitgenössischen Tönen, spielt sie auf modernen Instrumenten, singt sie mit seiner eigenen Stimme. So singt Kolbe in seinen Psalmen von Morgen und Abend, Angst und Vertrauen, Sorgen und Gewissenszweifeln, von „Abgrund und Glück“ – mal im hohen Ton, mal schnodderig, mal erstaunlich nah am Original, dann wieder auf ungewohnten Fährten, verzweifelt oder beglückt oder gelassen. Was Kolbe von den Psalmisten des Alten Testaments unterscheidet, ist natürlich, dass er keine unbefragte Gottesgewissheit vorweisen kann.Was er vorlegt, sind „Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste“, wie er in der Einleitung schreibt, „Lieder nach alter Art“, Gebete vielleicht oder auch nicht, jedenfalls „keine von der sicheren Seite gesprochenen“. Trotzdem spricht er zu „Gott“, als könnte er gar nicht anders. Und er tut dies nicht als bloßes Spiel. Sein „lyrisches Ich“ ist keine Maske oder Rolle, sondern ernst gemeint. Oder wie er in einem Gespräch gesagt

 Uwe Kolbe: Brecht. Rollenmodell eines Dichters, Frankfurt a. M. 2016.

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hat: „Ich gestehe, in meinen Gedichten anwesend zu sein.“ So in seinem – wenn das hässliche Wort gestattet ist – programmatischsten Gedicht.¹⁴ Psalm nach der tonlosen Zeit Ein Lied ohne Gott ist tonlos, es langweilt sich bei sich selbst, und seine Sänger schlafen ein. Dem Lied ohne Gott fehlt Gott, das geistlose hat keinen Geist. Mein eigenes Schwadronieren, gottloses Wort, das ich sagte, betrog all jene, die hörten. Ich fand mich wohl toll in meiner schwarzen Weste, den Fleck meiner Sehnsucht, von der mein Gesang ging, ein sprachloses Sprechen, ein Fragen von Anfang hohl. Das Lied ohne dich ist tonlos, Herr, dies ist mein Psalm.

„Gott“ ist für Kolbe von Interesse, aber in einem tieferen Sinn – nicht als geborgter Intensitätsverstärker, auch nicht als Requisit eines antimodernen chic. Er benutzt dieses Wort nicht, erhebt auch keine Besitzrechte darauf. Dafür ist es ihm zu fraglich, aber auch zu wertvoll: „Ich hoffe nicht, glaube nicht, rufe nur deinen Namen.“ Im schon erwähnten Interview spricht Kolbe davon, wie lang dieses Wort ihn schon begleitet, ohne dass er es sich wirklich zu eigen hätte machen können: „Als Gegenüber hat mein Gedicht ja immer wieder auch Gott, aktuell ausdrücklich in den ‚Psalmen‘. Nur ist dessen Resonanz so langwellig, man müsste ein Ozean oder ein Planet sein, um sie zu fühlen.“ „Langwelligkeit“ – damit könnte man auch die Qualität von Kolbes Psalmen beschreiben. Es sind Gedichte, die sich viel Zeit nehmen, die in seltener Ernsthaftigkeit ihrer Sache auf den Grund gehen, dabei aber frei bleiben, ihr künstlerisches Spiel trieben, sich nicht festzurren lassen und deshalb lange Wellen schlagen. Dichten kann auch heißen, mit Worten zu schweigen, um so einen weiten Raum zu eröffnen, in dem eigentlich Unsagbares zu Wort kommen kann. Ein Protestant ist Uwe Kolbe gewiss nicht, dennoch gehören seine Psalmen in die literarische Wirkungsgeschichte der Reformation. Sie schöpfen aus Luthers Bibelübersetzung, beziehen sich auf sie, setzen sich von ihr ab, durchbrechen sie, formen sie um. Das klingt schroff, frech,

 Kolbe: Psalmen (wie Anm.12), S. 12.

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aufregend, anspruchsvoll, manchmal aber auch einfach schön – wie bei diesem Morgenpsalm.¹⁵ Dein Morgen Wo fange ich an, wohin mit den Augen, den Blick aufzuheben zu deinem Morgen zu nehmen den Weg, wo führt er mich hin, hinaus aus der Irre? Noch singe ich nicht, ein Stammler der Liebe, ich bitte dich, lasse mich sehen den Weg und singen dein Lied.

4 Folgerungen Was lehrt uns das? Wofür stehen diese Gedichte? Ich schrecke davor zurück, großräumige Thesen aufzustellen und allgemeine Konsequenzen zu ziehen. Zu groß ist die Gefahr allzu vollmundiger Behauptungen und eines falschen Zungenschlags. Dorothea Grünzweig und Uwe Kolbe stehen erst einmal nur für sich selbst und ihre eigenen Verse. Sie sind individuelle Künstler. Ganz einsam und verloren sind sie aber auch nicht. Es gibt gar nicht so wenig andere Lyriker in Deutschland und weit darüber hinaus (man denke nur an die großen polnischen Dichter), die auf je ihre Weise mit christlichen Sprachtraditionen brechen, um sie zu verwandeln, die die heilige Sprache in ihre eigene Gedichtwelt ziehen, sie säkularisieren, um sie für sich zu realisieren. Es mag ein Zeichen unserer Zeit sein, dass dies ausgerechnet in der literarischen Gattung geschieht, die die geringsten Marktchancen und das kleinste Publikum besitzt. Umso wichtiger ist es für Theologen, hier hinzuschauen und neugierig zu lesen – mehr Gedichte zu lesen.

 Ebd., S. 11.

Malte Dominik Krüger

Religion als Ambivalenzmanagement Überlegungen (auch zu Ernst Troeltsch) im Horizont aktueller Diskurse Hase oder Ente? Diese Frage stellt sich angesichts einer Abbildung, die zu einem der bekanntesten Bilder einer Philosophie der Wahrnehmung geworden ist. Das Bild findet sich beispielsweise in Ludwig Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ (1953).¹ Es zeigt nach der jeweiligen Perspektive entweder den Kopf eines Hasen oder einer Ente. Bei dem Bild handelt es sich um eine sogenannte Kippfigur, also eine Darstellung, deren Vorlage offenbar identisch bleibt, während ihre Wahrnehmung sich schlagartig verändern kann, ohne dass dies wiederum endgültig so bleiben muss.² Auf diese Weise vereint diese Abbildung die Bestimmtheit mit der Unbestimmtheit bzw. die Eindeutigkeit mit der Uneindeutigkeit. So gilt einerseits ein eindeutiges Entweder-Oder: Man kann entweder nur den Hasen oder nur die Ente sehen; beides zugleich ist nicht möglich. Und andererseits gilt zugleich ein Sowohl-als-Auch: Weder lässt sich die Alternative zwischen Hase und Ente auf der subjektiven Seite des Wahrnehmenden eindeutig entscheiden noch lässt sich auf der objektiven Seite des Dargestellten eine unwiderrufliche Klärung herbeiführen. Es gibt vielmehr eine gleichbleibende Darstellung, die gerade darin zweideutig ist; und es gibt eine eindeutige Wahrnehmung, die gerade darin fragil ist.³ So spricht man im Blick auf dieses Kippbild und

 Mariele Nientied: Kierkegaard und Wittgenstein: „Hineintäuschen in das Wahre“, Berlin, New York 2003, 217. Grundsätzlich zur Thematik: Sara Fortuna: Wittgensteins Philosophie des Kippbilds. Aspektwechsel, Ethik, Sprache, Wien, Berlin 2012. Grundsätzlich gilt für diesen Beitrag: Ist eine Aussage oder ein Beleg nicht unmittelbar am Ende durch eine Fußnote nachgewiesen, ist die Angabe der im Text nachfolgenden Fußnote darauf zu beziehen. Im Text werden die Titel der Originalausgaben mit Jahreszahl genannt, während in den Anmerkungen die heute verwendeten und gängigen Ausgaben angeführt werden können.  Art. Kippfigur, in: www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/kippfigur (abgerufen am 02.02. 2019).  Ludwig Wittgenstein schlägt in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ vor, das Problem so zu lösen, dass es sich bei solchen Kippbildern (wie dem Hasen-Enten-Kopf) nicht um eine bloße Wahrnehmung, sondern um eine Verschränkung von Sehen und Denken handelt. Dieses von Wittgenstein auch „Sehen-als“ genannte „Aspektsehen“ ist mithin auch kognitiv. Das Vermögen, solche Kippbilder nicht zu realisieren, bedeutet nicht, dass dem betreffenden Menschen bestimmte Wahrnehmungen fehlen, sondern dass ihm die Fähigkeit abgeht, auf bestimmte Wahrnehmungen kognitiv zu reagieren. Positiv zeigt sich diese Fähigkeit in sprachlichen Ausdrücken, die auf ein Aha-Erlebnis verweisen und damit ein Erlebnis verbalisieren (Hanjo Glock: Aspekthttps://doi.org/10.1515/9783110733075-007

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solche Darstellungen von einer semantischen Ambivalenz.⁴ Diese Ambivalenz ist so beschaffen, dass sie uns nicht tiefgehend verwirren muss, sondern kreativ stimulieren kann.⁵ Eine solche Ambivalenz verknüpft der evangelische Theologe Michael Klessmann in seiner Studie „Ambivalenz und Glaube“ (2018) mit dem bekannten Satz „Es wackelt alles“ von Ernst Troeltsch und dessen Diagnose, dass sich das Christentum und der Protestantismus in einer Phase tiefgreifender Wandlung befinden.⁶ Und Klessmann macht aus seiner Sicht klar, auch wenn der Bezug auf Troeltsch für ihn nicht im Mittelpunkt seiner Interpretation steht: Die evangelische Theologie, die um ihre Geltung und Relativität ringt und zu den Zeiten von Troeltsch sich dem Historismus-Diskurs stellen musste, muss sich heute dem Ambivalenz-Diskurs stellen, weil beide Diskurse – Schlagworte: Kontingenz, Relativität und Plausibilität – miteinander verwoben sind.⁷ Vor dem Hintergrund dieses kurzen – und sicherlich mehr Fragen als Antworten andeutenden – Problemaufrisses soll im Folgenden die These angedacht werden: Religion ist im Grunde so etwas Ähnliches wie ein realisiertes Kippbild und damit eine Art von Ambivalenzmanagement – mit der Pointe, dass Kippbilder dieses Ambivalenzmanagement nicht nur illustrieren, sondern Bildlichkeit gewissermaßen der Quellgrund von Religion und ihrem Ambivalenzmanagement ist. Genau dies könnte ein aktuelles Licht auf einige, zentrale Einsichten von Ernst Troeltschs Theologie werfen. Letztere könnte so gerade nicht nur als historische

wahrnehmung, in: ders. (Hg.),Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt 2000, 43). Dazu in diesem Beitrag die erste These und ihre Erläuterungen.  Art. Kippbild, in: Glossar der Bildphilosophie (www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/in dex), abgerufen am 02.02. 2019.  Dies schließt grundsätzlich nicht aus, dass es – über anregende Kippbilder hinaus – auch destruktive und schockierende Ambivalenzen im menschlichen Leben geben kann, deren Handhabung – vorsichtig gesagt – keineswegs immer und gelingend als Stimulation von Kreativität zu deuten ist. Doch Menschen müssen, wenn ihr Leben irgendwie kreatürlich und zumindest insofern „kreativ“ weitergehen soll, auch in äußerst kritischen Grenzsituationen mit destruktiven Ambivalenzen umgehen und sei es, dass Menschen diese Ambivalenzen nur – aber was heißt hier „nur“! – annehmen und aushalten. In seiner Studie „Religion nach der Aufklärung“ (1986) hat der Philosoph Hermann Lübbe – freilich unter Absehung von dem AmbivalenzKonzept – in einer solchen Bewältigung von herausfordernder Kontingenz die Eigenart von Religion sehen können (Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung, Granz, Wien, Köln 1986, 127– 218). So stellt sich nicht nur die Frage, wie konstruktive und destruktive Ambivalenzen im menschlichen Leben zusammenhängen, sondern ebenso die Frage, ob und inwiefern damit (die) Religion verbunden ist. Im folgenden Beitrag wird – gleichsam eine Vorarbeit zu der Frage, wie konstruktive und destruktive Ambivalenzen zusammenhängen – allerdings „nur“ der Frage nach dem Verhältnis von Ambivalenz und Religion nachgegangen.  Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube, Stuttgart 2018, S. 12.  Ebd., S. 12– 31.

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Verarbeitung des Theologischen interessant sein. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden in drei Thesen und ihren Erläuterungen entfaltet werden, die in der gebotenen Kürze basale Umrisse von dazu eigentlich noch weiter und tiefer auszuführenden Überlegungen bieten. Die erste These bezieht sich auf den aktuellen Diskurs zur Ambivalenz, die zweite These auf eine protestantische Sicht der Religion und die dritte These auf Einsichten von Ernst Troeltsch. Dabei lassen sich die drei Thesen so lesen, dass sie aufeinander aufbauen. Allerdings ist dieses Verständnis nicht zwingend, wird doch für das Folgende – wie überhaupt in theoretischen Angelegenheiten angebracht – nur eine diagnostische Rationalität im Sinn (nach außen) anschlussfähiger wie (nach innen) stimmiger Plausibilität angenommen: Fast immer gibt es alternativ ernsthaft zu erwägenden Perspektiven, wie es den wissenschaftlichen Diskurs auszeichnet, der gerade deswegen aber auch auf prägnante Deutungsangebote angewiesen ist.⁸ Erste These: Die Rede von der Ambivalenz erscheint zeitdiagnostisch attraktiv. Doch damit sie selbst nicht bloß ambivalent bleibt, obgleich sie darin eine performative Pointe hat, sollte sie eingegrenzt werden. Dafür bietet sich – mit dem Recht relativer Plausibilität – die Rede vom Ambivalenzmanagement an. Der Begriff der Ambivalenz und sein entsprechender Diskurs sind auf Anhieb nicht ganz durchsichtig.⁹ Der Diskurs überschreitet eingespurte Fächergrenzen, führt zur Wahrnehmung begriffsgeschichtlicher Verschiebungen wie sachlicher Uneindeutigkeiten und hat gegenwärtig keine klaren Konturen, die allseits akzeptiert wären. Dennoch gibt es offenbar in diesem gleichsam dschungelartigen Gelände, das noch keiner je von oben gesehen hat, gewisse Wegweiser. Sie verhindern, dass aus dem nachvollziehbaren Interesse reflexiver Performanz, den Begriff der Ambivalenz nicht selbst in eine von Ambivalenz gänzlich freie Be-

 Zu dieser wissenschaftstheoretischen Annahme und ihrer Verankerung in der Spätphilosophie F.W.J. Schellings: Malte Dominik Krüger: Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008, S. 300 – 312.  Dazu das Folgende und zur komplexen Theoriegeschichte: Helmut K. Kohlenberger, Rainer Fabian: Art. Ambiguität (Amphibolie), in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel, Stuttgart 1971, Sp. 201– 204; Carl Friedrich Graumann: Art. Ambivalenz, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel, Stuttgart 1971, Sp. 204– 205; Elisabeth Otscheret: Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit, Heidelberg 1988, S. 3 – 40; Matthias Junge: Ambivalente Gesellschaftlichkeit. Die Modernisierung der Vergesellschaftung und die Ordnungen der Ambivalenzbewältigung, Opladen 2000, S. 224– 230; Ina Jekeli: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz. Soziologie an der Schnittstelle von Psyche und Sozialität, Osnabrück 2002, S. 21– 91; Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube (wie Anm. 6), S. 35 – 87; Frauke Berndt, Stephan Kramer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg 2009, S. 8 – 23.

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grifflichkeit zu zwingen, der Freischein für eine unkontrollierte Beliebigkeit wird. Dies gilt auch und erst recht dann, wenn man meint, die als Postmoderne bezeichnete Gegenwart als Zeitalter der Ambivalenz charakterisieren zu können: Der Begriff der Ambivalenz darf selbst nicht so ambivalent werden, dass sein Inhalt und seine Funktion sich nicht mehr näherungsweise beschreiben lassen, da eine solche Unschärfe unproduktiv wäre. Doch – welche Wegweiser verrät der entsprechende Diskurs? Meines Erachtens kann man sich an dem kulturwissenschaftlichen Begriffsinventar – und seiner expliziten bzw. impliziten Zeitdiagnostik – orientieren. Hier ist festzustellen, dass den Kulturwissenschaften drei Begriffe zur Verfügung stehen, um die mit dem Hasen-Enten-Kippbild angedeutete Struktur gegensätzlich-gleichzeitiger Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit zu beschreiben.¹⁰ Das ist erstens der aus der Rhetorik stammende Begriff der Amphibolie, zweitens der aus der Philosophie stammende Begriff der Ambiguität und drittens der aus der Psychologie stammende Begriff der Ambivalenz.¹¹ Sie sollen im Folgenden der Reihe nach thematisch werden, um daraus dann ein Fazit zu ziehen. Der Begriff der Amphibolie wird – im Anschluss an Überlegungen vor allem von Platon, Aristoteles und Cicero – von dem römischen Rhetoriker Marcus Fabius Quintilianus in dessen einflussreichem Werk „Institutio oratoria“ (ca. 95 n.Chr.) für homonyme Mehrdeutigkeiten lexikalischer Art gebraucht.¹² Spricht Cicero im Blick auf Zweideutigkeiten eines Wortes von „ambigua“, die man grundsätzlich vermeiden soll, aber im rhetorischen Streit auch einsetzen kann, so benutzt Quintilian für diesen Sachverhalt die Rede von der Amphibolie.¹³ Damit nimmt Quintilian faktisch einen teilweise bei Platon und vor allem bei Aristoteles angelegten Sprachgebrauch auf; für Quintilian wird Amphibolie durch Äquivokation bzw. durch das unterschiedliche Verständnis von Worten im Kontext verursacht.¹⁴ Wichtig ist, dass die Amphibolie der Sprache, und zwar besonders der Schriftsprache, der antiken Rhetorik grundsätzlich als irreduzibel gilt.¹⁵ Ebenso weiß letztere darum, dass sich gleichzeitig über die Performativität bzw. Medialität der

 Dazu und zum Folgenden: Frauke Berndt, Stephan Kramer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz (wie Anm. 9), S. 7– 30, bes. 8 – 23.  Ebd., 8 – 10.  Helmut K. Kohlenberger/Rainer Fabian, Art. Ambiguität (wie Anm. 9), S. 201– 204, bes. S. 201 f.  Ebd., 202.  Ebd. – mit dem Verweis auf: Platon: Krat. 437a; Aristoteles: Soph. El. 165b 23 – 27; 166a 6 – 14. 22; Quintilian: Inst. Or. VII, 9.  Frauke Berndt, Stephan Kramer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz (wie Anm. 9), S. 12– 14.

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Sprache in der Regel ein relativ klarer Sinn sprachlicher Semantik erschließt; die Rhetorik dient der pragmatischen Kontrolle dieser unvermeidlichen Amphibolie.¹⁶ Dennoch kann es – zum Beispiel vor Gericht – aus Gründen eindeutiger Entscheidungen darum gehen, die sprachliche Performativität bzw. Medialität überschreiten zu müssen; in diesem Fall rekurriert man entweder auf eine aufzudeckende bzw. angenommene Intention des Autors (eines Schriftstücks) oder versucht eine kontextsensible Plausibilisierung im Blick auf die in Rechnung zu stellenden Referenzen, Personen und Verbindlichkeiten.¹⁷ Während sich die antiken Überlegungen zur Amphibolie in der nachfolgenden Rhetorik des Mittelalters und der frühen Neuzeit teilweise mit begrifflichen Verschiebungen fortschreiben, kommt es dann in Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) zu einer relativen Umbesetzung des Begriffs: Transzendentale Amphibolie meint die Verwechslung eines Verstandesobjekts mit seiner Erscheinung.¹⁸ Nach der Blütezeit der kantischen Philosophie und ihrer Rezeption tritt jedoch der Begriff der Amphibolie in der Philosophie zurück, wie auch die antike Rhetorik mit ihrem Begriffsinventar nicht mehr uneingeschränkt gilt.¹⁹ So ist der Begriff der Amphibolie in gewisser Hinsicht heute eher von historischem bzw. doxographischem Wert.²⁰ Dem entspricht offenbar der Befund, dass der Begriff „Amphibolie“ in unserer heutigen Alltags- und Wissenschaftssprache keine sehr prominente Rolle spielt. Anders verhält es sich mit dem Begriff der Ambiguität. Er ist unter den drei Begriffen (also Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz) derzeit wissenschaftspolitisch und kulturtheoretisch gleichsam das, was man gegenwartsnah als den „Hipster“ bezeichnen könnte: Er ist in Mode und gilt auch als intellektuell ansprechend.²¹ Zwar kann der Begriff der Ambiguität, wie schon angedeutet, in der lateinischen Antike synonym für den Begriff der Amphibolie gebraucht werden.²² Doch sein Eigenprofil als genuin philosophischer Begriff erlangt er erst in der Moderne²³, und zwar in der Philosophie des französischen Existentialismus bei

 Ebd.  Ebd.  Helmut K. Kohlenberger, Rainer Fabian: Art. Ambiguität (wie Anm. 9), Sp. 202.  Ebd. – mit Verweis auf: KrV B 326.  Ebd.  Zum Herausragen des Begriffs der Ambiguität auch: Frauke Berndt, Stephan Kramer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz (wie Anm. 9), S. 8.  Helmut K. Kohlenberger, Rainer Fabian: Art. Ambiguität (Amphibolie) (wie Anm. 9) Sp. 201 f.  Zu dem Sprachgebrauch bei Wilhelm Traugott Krug, der im 19. Jahrhundert in seinem philosophischen Handbuch die Ambiguität bändigen möchte und den sich anbietenden Strategien der Philosophie, entweder die Ambiguität in die Prozesshaftigkeit des philosophischen Denkens

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Maurice Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir.²⁴ Letztere betont in ihrem Beitrag „Pour une morale de lʾambiguïté“ (1947) die Ambiguität der menschlichen Existenz aufgrund ihrer antagonistisch-gleichzeitigen Verfassung von kontingenter Faktizität und negationstheoretischer Freiheit, so dass es der Mensch mit nie endenden Sinngebungsprozessen und einer grundsätzlich ambigen Moral zu tun hat.²⁵ Und in Merleau-Pontys Spätphilosophie wird die Ambiguität – zunächst der Sache und dann ihrem Begriff nach – noch zentraler. Ambig ist – besonders in den Studien „Le philosophe et son ombre“ (1959) und „Le Visible et lʾInvisible“ (1964) – für Merleau-Ponty der menschliche Leib, welcher der Ausdifferenzierung von Subjektivität und Objektivität zugrunde liegt: Im Erfahren des eigenen Leibes zeigt sich gewissermaßen ursprünglich das Leben bzw. das Sein, das sich nicht vereinnahmen und fixieren lässt, sondern indirekt in der Grenzdialektik von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit aufscheint.²⁶ Anders gesagt: Die Ambiguität kommt nach Merleau-Ponty nicht zur Weltbeziehung des Menschen hinzu, sondern charakterisiert vielmehr genau diese Beziehung mit ihren Kontingenzen, Unschärfen und Zukunftshorizonten einschließlich ihrer sozialen Dimension.²⁷ Ersichtlich ist hier: Die Ambiguität ist nicht, wie es seine geschichtliche Nähe zum Begriff der Amphibolie nahelegen würde, auf die Sprachlichkeit des Menschen beschränkt, sondern geht darüber hinaus: Der Umgang mit Zeit, Kontingenz und Faktizität, mit Leiblichkeit und Sozialität rückt in den Mittelpunkt.²⁸ Doch nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie kann nach dem 2. Weltkrieg die Rede von der Ambiguität wichtig und über das Linguistische hinaus entgrenzt werden. So verbindet die deutsch-amerikanische Psychologin Else Frenkel-Brunswik in ihrem Beitrag „Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable“ (1949) die Wahrnehmung von

zu integrieren (Hegel) oder durch eine Einhegung in der Ästhetik zu kontrollieren (Kant): Frauke Berndt, Stephan Kramer (Hg.), Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz (wie Anm. 9), S. 14– 18.  Helmut K. Kohlenberger, Rainer Fabian, Art. Ambiguität (wie Anm. 9), Sp. 203.  Ebd. – mit Hinweis auf: Simone de Beauvoir: Pour une morale de lʾambiguïté, Paris 1947, S. 186, 226, 33, 13.  Malte Dominik Krüger: Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, S. 362– 373, bes. S. 371– 373.  Helmut K. Kohlenberger/Rainer Fabian, Art. Ambiguität (wie Anm. 9), Sp. 203.  Doch auch in den Literaturwissenschaften kann der Ambiguitätsbegriff weit gefasst werden: So gilt der britische Literaturkritiker und Dichter William Empson mit seinem Werk „Seven Types of Ambiguity“ (1930) als wegweisend (Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 52016, S. 33). Unter Ambiguität versteht er – aufgrund seiner Sicht mehrdeutiger, bildhafter Ausdrücke der englischsprachigen Dichtung – schon kleinste Nuancierungen von Bedeutungen, auf die man unterschiedlich reagieren kann (ebd. – mit Hinweis auf: William Empson: Seven Types of Ambiguity, London 31953, S. 1).

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mehrdeutiger Realität und deren angemessener Verarbeitung im Konzept der Ambiguitätstoleranz. Letzteres ist für Menschen mit autoritärem Persönlichkeitsprofil nicht möglich, wenn sie auf der Suche nach Sicherheiten versuchen, mithilfe von Normen die mehrdeutige Realität zu distanzieren.²⁹ Während ambiguitätstolerante Menschen zu Selbstbestimmung, Flexibilität und Wechselseitigkeit tendieren, neigen ambiguitätsintolerante Menschen zu Gehorsam, Rigidität und Rangordnungen.³⁰ Der aktuelle Diskurs zum Begriff der Ambiguität, der die Ambiguität als immer grundlegender für das Selbst in seiner Sozialität zu fassen scheint, ist vor diesem Hintergrund verständlich. So kann man unter Ambiguität für den Menschen zugängliche Phänomene begreifen, die unter- bzw. überbestimmt, unklar bzw. offen, paradox bzw. widersprüchlich sind, so die deutsche Soziologin Ina Jekeli in ihrer Studie „Ambivalenz und Ambivalenztoleranz“ (2002).³¹ Jekeli fasst damit die jüngste Fachdiskussion zusammen und schlägt daran anschließend vor, die Begriffe der Ambiguität und Ambivalenz in ihrem Bezug aufeinander zu unterscheiden: Ambiguität ist in der äußeren Umwelt zu verorten, während Ambivalenz die innere Reaktion einer Person darauf darstellt.³² Hierbei gibt es allerdings keinen Automatismus, sondern ob eine ambige Situation von einer Person ambivalent realisiert wird, hängt von der Relevanz der Situation für diese Person ab. Ambivalenztoleranz bedeutet dann das innere Ertragen der eigenen Reaktion auf äußere Ambiguität, während Ambiguitätstoleranz allgemein das äußere Ertragen äußerer Ambiguität meint, die innerlich nicht die Person betrifft. Daher ist Jekeli der Ansicht, dass etwa Frenkel-Brunswik sich faktisch mit Ambivalenz- und nicht mit Ambiguitätstoleranz beschäftigt. Jekeli zieht daraus den Schluss, dem Begriff der Ambivalenztoleranz vor dem der Ambiguitätstoleranz den Vorzug zu geben.³³ Ein anderer Vorschlag zum Umgang mit der Ambiguitätsbegriff, um ihn nicht zugunsten eines anderen Begriffs zurücknehmen zu müssen, besteht darin, ihn selbst einzugrenzen. Entsprechend votiert der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seiner Studie „Die Kultur der Ambiguität“ (2011). Danach gilt ein Begriff, eine Handlung oder ein Objekt als kulturell ambig, wenn gleichzeitig signifikant voneinander abweichende und miteinander konkurrierende Deutungen vorgenommen werden, soziale Gruppen ihre Normen gleichzeitig aus miteinander konkurrierenden Bereichen bzw. Diskursen beziehen oder innerhalb einer sozialen Gruppe ein Phänomen konkur-

 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, Journal of Personality 18 (1949), S. 108 – 143.  Ebd.  Ina Jekeli, Ambivalenz und Ambivalenztoleranzebd (wie Anm. 9), S. 99.  Dazu und zum Folgenden: ebd., S. 96 – 102.  Ebd.

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rierenden Deutungen unterliegt, ohne dass eine abschließende Beurteilung möglich ist.³⁴ Die damit einhergehende kulturelle Ambiguitätstoleranz meint weder das Konzept von Norm und Abweichung noch ein ethisches Toleranzkonzept, denn diese Konzepte setzen nach Bauer unter der Hand eindeutige Vorannahmen voraus.³⁵ Vielmehr zeichnet sich nach Bauer beispielsweise konkret die Kultur des Islam bis ins 19. Jahrhundert hinein als ambiguitätstolerant aus, insofern verschiedene, nicht miteinander verträgliche Koranexegesen nebeneinander bestehen konnten. Erst durch die Konkurrenz mit dem Westen im Zuge von dessen kolonialer Dominanzkultur ist nach Bauer im Islam die klassische Ambiguitätstoleranz zunehmend verdrängt worden.³⁶ Nach Bauers Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ (2018) betrifft dieser Verlust an Ambiguitätstoleranz nicht nur den Islam, sondern auch die Kultur in der Gegenwart: Unter dem Schein von Vielfalt wird das Unangepasste zurückgedrängt, so dass es zu einem Verlust an Mehrdeutigem kommt – von der Reduktion von gehandelten Obstsorten über das Schubladendenken in Talkshows bis hin zu religiösen Fundamentalismen bzw. Korrektheiten. Auch der Wunsch nach Authentizität verfehlt das Mehrdeutige.³⁷ Auf den aus der Psychologie stammenden Begriff der Ambivalenz ist schon verwiesen worden. Er geht auf den Züricher Psychiater Eugen Bleuler zurück, der diesen Begriff 1910 in einem Vortrag benutzt und dann im Aufsatz „Die Ambivalenz“ (1914) entfaltet.³⁸ Bleuler versteht – ausgehend von Fällen klinischer Schizophrenie – unter Ambivalenz eine tendenziell krankhaft aufzufassende Gleichzeitigkeit widerstreitender Gefühle, die nicht ausbalanciert werden können und zu sozialen Auffälligkeiten führen.³⁹ Ein Beispiel wäre die Hassliebe einer Mutter zu ihrem Kind, das sie liebt, weil es ihr Kind war bzw. ist, und das sie getötet hat, weil sie dessen Vater hasst. Die Ambivalenz kann, so Bleuler, grundsätzlich nach ihrer affektiven, voluntativen und intellektuellen Ausprägung unterschieden werden.⁴⁰ In den Schriften Sigmund Freuds entwickelt sich der Begriff der Ambivalenz dann in unterschiedlichen Phasen.⁴¹ Wichtige Einschnitte

 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität (wie Anm. 28), S. 27.  Ebd., 29.  Ebd., bes. 115 – 223.  Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018, S. 7– 97, bes. S. 7– 40.  Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube (wie Anm. 6), S. 66 – 68; Eugen Bleuler, Die Ambivalenz. Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich, Zürich 1914, 95 – 106.  Michael Klessmann, Ambivalenz und Glaube (wie Anm. 6), S. 66 – 68.  Ebd.  Dazu und zum Folgenden: Elisabeth Otscheret, Ambivalenz (wie Anm. 9), S. 3 – 7.

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scheinen der Aufsatz „Triebe und Triebschicksale“ (1915) und die Studie „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) zu sein.⁴² Ist Freud grundsätzlich schon davor mit dem Phänomen der Ambivalenz vertraut, so kann der Ambivalenzbegriff über seine Verankerung in der Trieblehre für Freud wichtig werden. Ist dies im Aufsatz von 1915 mit der Unterscheidung von Ich- und Es-Instanz und der Abwehr von Ambivalenzen verknüpft, so ist mit der Veränderung der Triebtheorie in der Studie von 1920 klarer: Hinter der Ambivalenz, die jedes menschliche Leben kennzeichnet, steht das Gegen- und Miteinander von Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos). Dies ist nunmehr vom topischen Konflikt zwischen Ich und Es unterschieden. Ist also die Ambivalenz bei Bleuler tendenziell immer etwas Krankhaftes, handelt es sich nach Freud um einen innerseelischen Grundkonflikt, der als Normalfall gelten muss. In diesem Sinn ist das menschliche Leben unumgänglich konflikthaft.⁴³ Auch religionstheoretisch ist das für Freud bedeutsam, wenn er die Religion in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) ausdrücklich in der Ambivalenz des gleichermaßen geliebten wie gehassten Vaters und dem kindlichen Bedürfnis nach einem göttlichen Übervater verankern kann.⁴⁴ Wie psychoanalytisch im Sinn Freuds letztlich alle Versuche – und seien sie noch so mit religiöser Energie aufgeladen – daran scheitern, die Ambivalenz des Lebens zurückzudrängen, so scheitern sie auch soziologisch, wenn man die klassische Studie „Modernity and Ambivalence“ (1991) des polnischbritischen Soziologen Zygmunt Bauman heranzieht.⁴⁵ Im sachlichen Widerspruch zu den zeitlich später erschienenen und oben skizzierten Arbeiten von Thomas Bauer vertritt Bauman die These: Die postmoderne Gegenwart begrüßt tatsächlich die Ambivalenz – und nutzt sie produktiv. Zwar gab es und gibt es nach Bauman durchgängig Ambivalenzen im Leben und Miteinander von Menschen. Doch während die Moderne letztlich totalitär im Holocaust gipfelnd im Sinn einer eindeutigen Ordnung das Uneindeutige und Andere zu eliminieren suchte, hat die Postmoderne die Ambivalenzen angenommen und geht produktiv mit ihnen um:

 Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale, in: ders., Gesammelte Werke, hg.v. Anna Freud, Bd. 10, Frankfurt a. M. 51969, S. 209 – 246; ders., Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Gesammelte Werke, hg.v. Anna Freud, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1955, S. 4– 69.  Auch: Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube (wie Anm. 6), S. 69 – 74, bes. 71 f.  Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt a. M. 1975, bes. S. 129 – 133.  Zur Bedeutung von Baumans Sozialphilosophie auch: Andreas Hetzel, Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz (1991) – Ansichten der Postmoderne (1992), in: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel, Markus Lilienthal: Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart 2001, S. 290 – 311; Ina Jekeli: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz (wie Anm. 9), S. 84– 86.

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Pluralismus und Offenheit stehen nunmehr auf der Tagesordnung.⁴⁶ Bei Baumans Deutung fällt auf, dass er – anders als tendenziell die jüngste Fachdiskussion – unter Ambivalenz nicht die Reaktion auf eine mehrdeutige, äußere Umwelt, sondern letztere selbst versteht. Die persönliche Reaktion darauf scheint bei Bauman eher eine naheliegende Folge zu sein.⁴⁷ Doch dass Ambivalenz nahezu allgegenwärtig erscheint, ist auch schon die Ansicht der Studie „Ambivalenz“ (1988) der Züricher Psychologin Elisabeth Otscheret. Demnach ist Ambivalenz keine krankhafte, sondern eine notwendige Erscheinung in der basalen Spannung zwischen Bindung bzw. Nähe und Lösung bzw. Distanz. Dieser Konflikt kann progressiv zur Autonomie führen, in der Beziehungsfähigkeit und Selbstverwirklichung zusammenkommen, oder regressiv zur Abhängigkeit führen, die zwischen Verschmelzung und Isolation steht. Entscheidend ist, dass die Ambivalenz mit ihren beiden Polen von Bindung und Lösung faktisch unhintergehbar und nie schließbar ist. Dieses Konzept verbindet Otscheret nicht nur mit Martin Bubers „Ich-Du“-Philosophie und seiner Hochschätzung des Dialogischen, sondern auch mit dem biblischen Bilderverbot. In dessen Verbot der rigiden und fixierenden Vergegenständlichung sieht Otscheret ein ambivalenzfreundliches Plädoyer für endliche Relativität.⁴⁸ Auffällig ist, dass Otscheret mit dem Begriff der Ambivalenz letztlich etwas beschreibt, was eigentlich als Ambivalenztoleranz zu bezeichnen wäre; denn ihr geht es um die gelingende Bewältigung von Ambivalenz.⁴⁹ Kristallisiert sich somit der Begriff der Ambivalenztoleranz als ein Leitbegriff heraus, so kann er in sozialwissenschaftlicher bzw. soziologischer Hinsicht wegen seiner normativen Aufladung aufgrund des Toleranzbegriffs anstößig wirken. Stattdessen kann man, um den Eindruck übertrieben moralischer Appellation zu vermeiden, von einem Ambivalenzmanagement sprechen.⁵⁰ Damit

 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, S. 11– 91.  Ina Jekeli: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz (wie Anm. 9), S. 84 f.  Elisabeth Otscheret: Ambivalenz, (wie Anm. 9), S. 42– 102, 145 – 153, bes. S. 41– 48, 71.  Ina Jekeli: Ambivalenz und Ambivalenztoleranz, (wie Anm. 9), S. 82– 84.  Carla Wesselmann: Biografische Verläufe und Handlungsmuster wohnungsloser Frauen im Kontext extrem asymmetrischer Machtbalancen, Opladen 2009, S. 285. Alternativ benutzt der Rostocker Soziologe Matthias Junge in seiner an Georg Simmel anknüpfenden Studie „Ambivalente Gesellschaftlichkeit“ (2000) den Ausdruck der Ambivalenzbewältigung. Dabei betont Junge, dass nicht die auf Ambiguität reagierende Ambivalenz, sondern die Ambivalenzbewältigung das soziologisch Interessante ist. Sie erfolgt auf der individuellen oder institutionellen Ebene und ergibt sich aus gegensätzlichen Handlungs- oder Erlebensorientierungen. Gesellschaftlich sind dabei verschiedene Ordnungen der Ambivalenzbewältigung nachvollziehbar; Ambivalenzbewältigung stellt ein wesentliches Momentum von Vergesellschaftungsprozessen dar, vgl. Matthias Junge: Ambivalente Gesellschaftlichkeit (wie Anm. 9), S. 13 – 22, 221– 265.

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wird das faktische Bewältigen gesellschaftlicher Widersprüchlichkeiten durch Individuen betont, die in nie endenden Aushandlungsprozessen symbolischer und rollengeprägter Kommunikation handeln müssen.⁵¹ In dieser Fluchtlinie können offenbar auch der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie und der Marburger Soziologe Darius Zifonun in ihrem Beitrag „Was heißt Interkulturalität?“ (2010) den Begriff des Ambivalenzmanagements verstehen. Er wird hier benutzt, um ein pragmatistisches Konzept interkultureller Identität vorzulegen, welches Individuen weder auf einen geschichtslosen Universalismus noch auf einen herkunftsfixierenden „Gruppismus“ festlegt, sondern sie in einem nie abschließbaren Sowohl-als-auch von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen in widersprüchlichen Situationen und Einheiten sieht.⁵² Bilanzierend ergibt sich folgendes Fazit: Um Strukturen gegensätzlichgleichzeitiger Mehrdeutigkeit zu beschreiben, bieten sich die Begriffe der Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz an. Weil der Begriff der Amphibolie an den Rand gerückt ist, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die anderen beiden Begriffe. Hierbei scheint sich in einer bestimmten Lesart des gegenwärtigen Fachdiskurses herauszukristallisieren, dass die Ambiguität in der äußeren Umwelt zu verorten ist, während die Ambivalenz die innere Reaktion einer davon betroffenen Person meint. Genauer betrachtet geht es bei der Rede von der Ambivalenz in der Regel weniger um ihre grundsätzliche Realisierung als um die Frage, ob sie im Sinn gelingender und gleichwohl nie abschließbaren Praxis gehandhabt wird. Genau dafür bietet sich der Begriff des Ambivalenzmanagements an.

 Der Begriff des „Managements“ will also nicht die normativen Dimensionen erfolgreicher Ambivalenztoleranz leugnen, sondern – gleichsam etwas technizistisch – den Fokus auf deren bestehende Praxis legen, um moralischen Engführungen entgegenzutreten, die faktisch das Sollen dem Sein abstrakt entgegensetzen. Wichtig ist zudem, dass mit dem Management nicht gemeint ist, dass die genannten Aushandlungsprozesse symbolischer und rollengeprägter Kommunikation im Sinn eines normativen Erfolgsbegriffs irgendwann enden würden oder erledigt wären. Im Übrigen scheint der Begriff des „Managers“ erstmals bei William Shakespeare belegbar zu sein, vgl. Jürgen Feldhoff: Art. Manager, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 709 – 711, Sp. 709, und immerhin Shakespeare dürfte nicht unter Verdacht des Technizismus stehen.  Claus Leggewie, Darius Zifonun: Was heißt Interkulturalität?, Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1/2010, S. 11– 31, bes. S. 24– 28. Darius Zifonun: Widersprüchliches Wissen. Elemente einer soziologischen Theorie des Ambivalenzmanagements, in: Jürgen Raab, Michaela Pfadenhauer, Peter Stegmaier, Jochen Dreher, Bernt Schnettler (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden 2008, S. 307– 316.

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Zweite These: Eine kulturhermeneutisch rechenschaftsfähige Theologie evangelischer Religion kann ihre Aufmerksamkeit auf das spezifisch menschliche Bildvermögen richten, das diskursiv uneindeutig und darin zugleich imaginativ prägnant ist. In diesem Kontext kann man auch von Ambivalenzmanagement reden. Im Folgenden sollen erstens drei Ansätze skizziert werden, die religionstheoretisch bzw. theologisch den Sachverhalt der Ambivalenz und seine Handhabung in den Fokus rücken. Dann soll zweitens in sachlicher Nähe dazu, aber auf eigenständigen Wegen, ein weiterer Vorschlag gemacht werden, so dass drittens ein kurzes Fazit gezogen werden kann. Auch mit Sicht auf das Christentum hat der nordamerikanische Philosoph John D. Caputo in seiner Abhandlung „In Praise of Ambiguity“ (2005) die Ambiguität als basale Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung gewürdigt und empfohlen: Alles, was bedeutsam ist, ist voller Ambiguität – so auch Gott. Dagegen hat dasjenige, was frei von Ambiguität ist, seine Zukunft hinter sich. Ambiguität ist dabei keineswegs Unklarheit, sondern meint einen Bedeutungsüberschuss, der gerade so unserer komplexen Wirklichkeit zu entsprechen vermag.⁵³ Dazu scheint die postmoderne Anlage der Religionsphilosophie von Caputos „The Weakness of God“ (2006) und „Truth“ (2013) zu passen, wonach von Gott nicht objektivierend, sondern allenfalls im Sinn einer Phänomenologie der Gabe und des Ereignisses gesprochen werden kann: Plausibel wird so eine „schwache“ Theologie, die den Glauben nicht mit identifizierbarer Gewissheit oder diskursiver Wahrheit, sondern als Einstellung gegenüber demjenigen versteht, was uns unbedingt angeht und zu der sich die Glaubenden entschieden haben.⁵⁴ Aus einer ganz anderen, nämlich der kantisch-hegelschen, Tradition herkommend hat der Hallenser Theologe Jörg Dierken immer wieder den Glauben pointiert als Erfahrung von Ambivalenz deuten können. So zielt nach Dierkens Studie „Selbstbewußtsein individueller Freiheit“ (2005) das protestantische Glaubensverständnis gerade darauf ab, das endliche Selbst in seiner Ambivalenz zu fokussieren und religiös in den Mittelpunkt zu rücken. Auch der glaubende Mensch ist bleibend und unumgänglich an Erfahrungen von Ambivalenz gebunden.⁵⁵ In dem Sinn kann Dierken eine Theologie des „Zwischen“⁵⁶ entwerfen, die im Sinn einer theologischen Grenzdialektik das Oszillieren in vielfältiger Perspektive beden-

 John D. Caputo: In Praise of Ambiguity, in: Craig J.N. Paulo u. a. (Hg.), Ambiguity in the Western Mind, New York 2005, S. 15 – 35.  Ders.: The Weakness of God. A Theology of the Event, Bloomington-Indianapolis 2006; ders.: Truth. Philosophy in Transit, London 2013.  Jörg Dierken: Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, z. B. S. 25, 188, 436, 216, 63.  Ebd., S. 21, 44.

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ken kann. So hat es Religion mit einem nie definitiv fixierbaren Übergang in seinem Vollzug zu tun, der das Verhältnis zwischen Unbedingtem und Bedingtem, zwischen Selbstbeschreibung und Fremdwahrnehmung, zwischen Binnenfokussierung und Außenperspektivierung und zwischen Institutionalisierung und Individualisierung betrifft.⁵⁷ Auch der Wuppertaler Pastoraltheologe Michael Klessmann kann in der schon genannten Studie „Ambivalenz und Glaube“ (2018) vom Oszillieren sprechen, um die Ambivalenzerfahrung als Struktur gegensätzlich-gleichzeitiger Mehrdeutigkeit von Gewissheit und Ungewissheit, Glaube und Unglaube, Ja und Nein pointiert zu beschreiben.⁵⁸ Damit verbindet sich bei Klessmann die Grundthese, dass in der Postmoderne die Glaubensgewissheit nicht mehr so vertreten werden kann, wie es eine dogmenkonforme und amtskirchliche Theologie mitunter gern möchte, sondern sich in eine Theologie der Glaubensambivalenz verwandeln muss.⁵⁹ Letztere ist zumindest in Spuren des Denkens etwa von Dionysios Areopagita, Nikolaus von Kues oder Martin Luther zu finden, so Klessmann, und ist dem postmodernen Erleben vertraut, das unabschließbar und fragmentarisch, individualisiert, institutionenkritisch und pluralistisch ist.⁶⁰ In dem Sinn ist Ambivalenz kein religiöses Manko, das die Theologie retrospektiv berichtigen muss, sondern führt gleichsam an bzw. in den Grund des Religiösen: Der Glaube zehrt von Ambivalenzen des Lebens und managt diese⁶¹, und zwar so, dass Klessmann von einem „Ungewissheitsmanagement im Glauben“⁶² sprechen kann. Im zweiten Schritt ist der Ansatz einer bildhermeneutischen Theologie zu skizzieren.⁶³ Ausgehend von der Beobachtung, dass evangelischer Glaube sich insbesondere aufgrund der Grundsignaturen von Schrift- und Rechtfertigungslehre verstehen kann, lässt sich eine bildtheoretische Zuspitzung des Protestantismus diagnostizieren. Sie führt zur (religiösen) Einbildungskraft, die auf äußere und innere Weise in der (christlichen) Bibel und im (evangelischen) Glauben

 Ebd., S. 21, 43 f., 232, 363, 426.  Michael Klessmann: Ambivalenz und Glaube (wie Anm. 6), S. 103, 25.  Ebd., S. 12– 31, 253 – 270.  Ebd.  Ebd.  Ebd., S. 265.  Der folgende Absatz stellt eine geringfügig überarbeitete Fassung folgender Passage dar: Malte Dominik Krüger: Wie wirklich sind Träume? Überlegungen aus Philosophie und Theologie, Berliner Theologische Zeitschrift 36 (2019), S. 51– 70, S. 63 ff. Diese Passage wiederum beruht auf Einsichten und Ausführungen von: Malte Dominik Krüger: Das andere Bild Christi (wie Anm. 26), S. 3 – 55, 151– 537; ders., Markus Gabriel: Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, Tübingen 2018, S. 17– 62. Dort finden sich auch präzise Angaben zur Forschung, ihre Diskussion und eine ausführliche Plausibilisierung des hier Zusammengefassten.

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verkörpert ist. So wird in der Schriftlehre nach dem Zusammenbruch der vormodernen Lehre der Verbalinspiration entdeckt, dass im Zentrum der christlichen Bibel der medial ihr eingespeicherte und bei ihrer Rezeption abgerufene Eindruck Jesu steht, d. h. sein Bild bzw. seine Wirkung. Diese Einsicht scheint über die drei klassischen Einschnitte der nachkritischen Bibelauslegung in der liberalen Theologie (besonders des 19. Jahrhunderts), der kerygmatischen Theologie (besonders des 20. Jahrhunderts) und der um anthropologische Anschlussfähigkeit bemühten Theologie (besonders seit Mitte des 20. Jahrhunderts) relativ vermittelbar zu sein. Meines Erachtens kann man so die nachkritische Bibelauslegung im Protestantismus akzentuieren und verstehen, wenn man die Studie „Prinzip und Methode“ (2004) des Münchener Theologen Jörg Lauster zugrunde legt.⁶⁴ Auch in der Gestalt des Rechtfertigungsglaubens zeigt sich diese religiös produktive Einbildungskraft. Hier kann sie – insbesondere im Anschluss an Einsichten der „Systematischen Theologie II“ (1957) und des Beitrags „Rechtfertigung und Zweifel“ (1924) des Kulturtheologen Paul Tillich – über die konstruktive Verarbeitung des neuzeitlichen Projektionsverdachts als kontrafaktischer Wirklichkeitsdeutung zu der Erkenntnis führen: Glaube ist eine Einbildung, nämlich die menschliche Aneignung der Zueignung Gottes, die sich nicht mehr durch eine vormoderne Schriftlehre oder gottbeweisende Substanzontologie absichern lässt.⁶⁵ Dies schließt performativ intellektuelle Werkgerechtigkeit aus und basal kulturhermeneutische Rechenschaft ein: Evangelischer Glaube als Einbildung ist weder eine jenseitige Tat noch eine pure Illusion, sondern eine rechenschaftsfähige Projektion bzw. Idealbildung der Dimension des Unbedingten, die sich genau in dieser Projektion bzw. Idealbildung manifestiert. Gott ist folglich nie direkt anzutreffen, sondern im Gottesbild immer nur nach der Maßgabe der daran beteiligten Einbildungskraft realisiert.⁶⁶ Doch: Was ist die Einbildungskraft? Sie ist das innere Bildvermögen. Als solches bleibt es grundsätzlich an das äußere Bildvermögen des Menschen gebunden, also an die Fähigkeit, mit äußeren Bildern umgehen zu können. Dieses spezifisch anthropologische Vermögen tritt im gegenwärtigen Zeitalter der Bilderflut in den Vordergrund. Die kulturwissen-

 Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, bes. S. 149 – 163, 224– 239, 435 – 439.  Paul Tillich: Systematische Theologie I/II, Berlin/New York 81987, S. 107– 129; ders.: Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Gesammelte Werke VIII, Stuttgart 1970, S. 85 – 100.  Interessanterweise scheinen dafür die hermeneutische Vertiefung der Kerygmatheologie zu einer Theologie der Metapher und die kulturtheoretische Vertiefung der liberalen Theologie zu einer Theologie des Symbols anschlussfähig zu sein: Metapherologie und Symboltheorie lassen sich bildhermeneutisch vermitteln.

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schaftliche Rede vom „iconic turn“⁶⁷ reflektiert dies mediengenealogisch. Wichtig ist es, dennoch das Bildvermögen nicht gegen Sprache und Vernunft auszuspielen, auch wenn es mit seiner Anschaulichkeit und Plastizität nie ganz in der logischen Diskursivität aufgeht. Wie besonders die Studien „Symbolischer Pragmatismus“ (1991) des Münsteraner Philosophen Ferdinand Fellmann (im Anschluss an Wilhelm Dilthey), „Können Tiere denken?“ (2009) des Marburger Philosophen Reinhard Brandt (im Anschluss an kantische anthropologische Einsichten) und „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) des US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello (im Anschluss an biologisch und experimentell verankerte Deutungen) zeigen, bildet sich aus den im Sehvermögen verankerten Zeigegesten der spezifisch menschliche Gebrauch von Bildern und der Einbildungskraft aus.⁶⁸ Bilder zeigen, was sie selbst nicht sind, und weisen somit eine Anwesenheit des Dargestellten auf, das selbst abwesend ist. Diese anschauliche Negation der anwesenden Abwesenheit ermöglicht in diskursiver Verflüssigung die Ausbildung einer arbiträren (zunächst: Laut‐) Sprachlichkeit, die sich als Vernunftvermögen grenzdialektisch selbst thematisieren und relativieren kann; damit sind auf komplexen Wegen die Ausbildung von bewusster Subjektivität und Intersubjektivität verknüpft. Die Pointe ist, dass keines dieser Vermögen ohne die anderen funktioniert. Das Bildvermögen bleibt die Grundlage von Sprache und Vernunft und scheint in deren Bildlichkeit durch, wie umgekehrt das Bildvermögen in der Sprache und Vernunft seine Modifikation erfährt. Dabei ist die Sprache flexibler und die Vernunft reflexiver als das anschauliche Bildvermögen, das wiederum auf dem mit den Tieren geteilten Gefühl beruht. Letzteres, also das Gefühl, wird als der Wahrnehmungsstrom unseres Lebens in inneren Bildern der menschlichen Einbildungskraft immer schon kontrafaktisch umgeformt. Dies erklärt nicht nur den affektiven Zug von Bildern im Vergleich zur Sprache und Vernunft, sondern verweist auch auf die Kontrafaktizität des äußeren Bildes. Denn das äußere Bild ist etwas, was man als ein anschauliches Zeichen beschreiben kann, das in der menschlichen Einbildungskraft negiert wird: Bildlichkeit ist an die negationstheoretische Realisierung gebunden, dass das Bild zeigt, was es selbst nicht ist; insofern muss realisierte Bildlichkeit die Bilder zumindest soweit durchschauen, dass sie etwas als etwas präsentieren, was sie selbst nicht sind. Doch: Was hat das

 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 42006, S. 11– 38, bes. S. 13 – 17.  Dazu und auch zum Folgenden: Ferdinand Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek bei Hamburg 1991, bes. S. 33 – 105; Reinhard Brandt: Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a. M. 2009, S. 28 – 137; Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M. 2009, S. 12– 259.

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mit Religion zu tun? Sie kann man – im Anschluss an einschlägige Diskurse der modernen Religionstheorie – als menschliche Erfahrung begreifen, im Horizont des Unbedingten zu stehen. Damit sind Dimensionen der Ganzheit und Kontrafaktizität verbunden. Diese insbesondere aus der kantischen Tradition bekannten Charakteristika Gottes sind nicht erst auf der Ebene der Sprache oder der Vernunft, sondern schon auf der Ebene des Bildvermögens verankert. Wenn das Bildvermögen das Sehen ist, das sich in Bildern selbst ansieht, kann man Gott indirekt schon auf der Ebene der Wahrnehmung antreffen: Ganzheit erfährt man elementar, wenn der Sehhorizont nicht endet, und Kontrafaktizität erfährt man, wenn man fragt, was nach diesem Horizont kommt. In Bildern wird dies, wie oben dargestellt, negationstheoretisch erfasst und in der Einbildungskraft realisiert. Geschieht dies so, dass Ganzheit und Kontrafaktizität als unbedingt erfahren werden, hat man es meines Erachtens mit Religion zu tun, die darum als Bildvermögen im Horizont des Unbedingten einer gewissen Anschaulichkeit nie entbehren kann. Im Christentum zeigt sich dies in der direkten Ausrichtung des Glaubens auf seine Stiftergestalt, wenn Jesus zum Bild Gottes wird. Dies hängt hermeneutisch an Ostern, wenn aus demjenigen, der über Gott in (Sprach‐) Bildern (von Gleichnissen) redet, mit der Auferstehung derjenige wird, durch den man christlich Gott zu erkennen vermag.⁶⁹ Vermögenstheoretisch formuliert: Menschen sind Menschen, weil sie mit Bildern umgehen können und darauf aufbauend Sprache und Vernunft entwickeln. Über das negationstheoretisch im Bildvermögen sublimierte Sehvermögen sind Menschen mit den religiös deutbaren Kategorien der Ganzheit und Kontrafaktizität vertraut. Letztere können durch den bildlichen Grundzug der Sprache hindurch besonders in bewusster Sprachbildlichkeit stimuliert werden. Genau dies geschieht in den Gleichnissen Jesu, der mit Ostern selbst zum Bild seines Gottes wird und in den – offenbar auch sichtbaren – Erscheinungen so wahrgenommen wird. Aus dieser visionären Wirksamkeit ergeben sich die bildaffine Kultpraxis (in den Sakramenten) und eine sich

 Ostern ist dabei an das ältere monotheistische Deutungsschema gekoppelt, eine irdische Niederlage als himmlischen Sieg wahrzunehmen. Dieses theologische Schema kristallisiert sich vermutlich im nachmals sogenannten Israel im Exil heraus und besagt: Jahwe hat nicht religiös gegen die Babylonier verloren, sondern er hat – nunmehr gleichsam in den universalen Schöpfungshimmel befördert – die Babylonier benutzt, um „Israel“ zu bestrafen. Zu dieser Transzendenz des monotheistischen Gottes passt als Kehrseite sein Bilderverbot, insbesondere dann, wenn zuvor dagegen verstoßen sein sollte – oder man dieses Verständnis (seinerseits kontrafaktisch) nahelegen wollte. Die so entdeckte Kategorie der Kontrafaktizität einer „counter-religion“ kommt Ostern zum Tragen, wenn „sub contrario“ in einem gekreuzigten Menschen sich Gottes wahre Macht erweist. So kann dieser Mensch zum Bild Gottes werden, und zwar zu einem Bild, dessen negationstheoretische Selbstdurchstreichung im Bekenntnis der Gottesverlassenheit (Mk 15,34) seinen prägnanten Ausdruck findet.

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schriftlich (im Kanon der christlichen Bibel) kodifizierende Verkündigung, die szenisch auf die Stiftergestalt verweist. Der christliche Gottesdienst ist dann die Fortsetzung dieses religiösen Grundimpulses, der aus dem Bildvermögen kommt und in es zurückführt, wenn angesichts des Bildes Jesu das Leben an Ganzheit und Kontrafaktizität (neu) ausgerichtet wird. Dabei sind die Ostererscheinungen des Auferstandenen der Dreh- und Angelpunkt der christlichen Religion und als Visionen von bildlicher Natur: Sie sind wahrnehmungsnahe Zeichen, die über die Negation der Einbildungskraft eine kontrafaktische Sicht vermitteln, in der eine bzw. die Dimension des Unbedingten bzw. Gottes erfahrbar wird, nämlich Leben aus dem Tod. Doch: Wenn Religion und Gott (via Gottesbild) so bildhermeneutisch verankert sind, gibt es dann noch eine Möglichkeit, zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Projektionen bzw. Idealbildungen des Unbedingten zu unterscheiden? Meines Erachtens ist dies lediglich mit relativer Plausibilität möglich. Vor dem Hintergrund einschlägiger Diskurse bieten sich die drei Kriterien der Referenz, Kommunikation und Anerkennung an: Was als glaubhaft gelten möchte, muss erstens relativ gut bezeugt sein; im Christentum ist das die Gestalt Jesu. Es muss zweitens weitererzählt werden, da man ansonsten keine Kenntnis davon hätte; im Christentum ist dies die Verkündigung Jesu in Wort und Sakrament. Und was nicht als bloße Illusion gelten will, muss drittens einer kritischen Prüfung standhalten, ob es sich vermutlich so zugetragen hat; im Christentum ist dies das Amt der mit anderen Wissenschaften verbundenen Theologie. Dennoch ergibt sich daraus keine Gewissheit, die jeden Zweifel ausschließen könnte oder würde. Das wäre letztlich auch bildhermeneutisch abwegig, beruht doch evangelische Theologie als selbstkritische Rechenschaft der christlichen Botschaft auf dem komplexen Zusammenspiel der nie endgültig fixierbaren Vermögen von basaler Einbildung (und deren Realisierung des mit Tieren geteilten Gefühls), diskursiver Sprache und reflexiver Vernunft. Formelmäßig verdichtet erscheint Religion dann als spezifisches Ambivalenzmanagement und Gott als geheimnisvolle Unschärfe: (Evangelische) Religion ist eine Handhabung unseres sich unaufhebbar zwischen Gefühl, Einbildungskraft, Sprache und Vernunft bewegenden und stets verkörperten Lebens in seiner spannungsvollen Kontingenz; diese Handhabung, die nie endgültig ist, wird durch ihren Bezug auf die uns entzogene Dimension des Unbedingten in seiner Ganzheit und Kontrafaktizität religiös. Und Gott ist genau diese letztlich nie direkt fixierbare Erfahrung dieses Unbedingten in der Dynamik unseres kontingenten Lebens, das sich retrospektiv in Sprache und Vernunft erschließt und im Christentum geschichtlich tradiert wird. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die negationstheoretische Selbstdurchstreichung des Gottesbildes in Jesus Christus. Bilanzierend ergibt sich folgendes Fazit: Wie verschiedene neuere Ansätze aus der Religionsphilosophie und evangelischen Theologie zeigen, scheint es

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wenig überzeugend, Strukturen gegensätzlich-gleichzeitiger Mehrdeutigkeit aus der Selbstbeschreibung evangelischer Religion auszuschließen. Vielmehr kann die Kultivierung solcher Strukturen im Horizont des Unbedingten eine Pointe evangelischer Religion sein. Eine bildhermeneutische Theologie nach dem „iconic turn“ kann dies so verstehen, dass unser kontingentes Leben so gehandhabt wird, dass es imaginativ und prägnant auf das Bild Jesu bezogen wird. Damit konkretisiert der christliche Glaube die Möglichkeit von Religion, die der Mensch mit seiner Bezogenheit auf Ganzheit und Kontrafaktizität hat, auf deren Realisierung er aber nicht verpflichtet werden kann. In dieser Handhabung bzw. in diesem Management wird mit Ambivalenzen des kontingenten Lebens umgegangen, ohne dass diese damit ein Ende hätten. Insofern gilt: Nicht jede Ambivalenz ist religiös (sondern dazu bedarf es der Aktualisierung des Unbedingtheitshorizonts in Ganzheit und Kontrafaktizität) – und auch (evangelische) Religion ist nicht nur ambivalent (weil im religiösen Umgang mit der Ambivalenz deren relative Handhabung stattfindet, die weder eine ohnmächtige Auslieferung an Ambivalenzerfahrungen noch eine jede Ambivalenz ausschließende Gewissheit meint). Dritte These: Troeltschs Theologie verankert die Plausibilität der evangelischen Religion in einer symbolisch unabschließbaren Bearbeitung der Ambivalenzen des kulturellen Lebens; dabei vermag das Bildliche als mediale Vermittlung eine große Rolle zu spielen. Insofern kann man von einem Ambivalenzmanagement und auch einer Bildhermeneutik sprechen. Nach einem weithin geteilten Urteil gilt Troeltsch als klassischer Repräsentant des deutschen Historismus und als Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule.⁷⁰ Dieses Urteil wird im Folgenden vorausgesetzt. Denn gerade auf der Basis dieser Einordnung steht Troeltschs Denken, dem eine ausgreifende Weite und thetische Kühnheit bescheinigt wird⁷¹, auch für eine als bildhermeneutisch ansprechbare Christologie. Diese These ist angesichts des fragmentarischen Werkes von Troeltsch und dessen unterschiedlicher Deutung und Bewertung keineswegs selbstverständlich.⁷² Doch sie hat eine gewisse Plausibilität, wie im Folgenden in drei Schritten gezeigt werden soll. Erstens ist anzudeuten, inwiefern Troeltschs Willen, falsche Eindeutigkeiten zu vermeiden, einen geschickten Umgang mit

 Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997, S. 14 f., 28 f.  Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Programme der Theologie. Denker, Schulen,Wirkungen.Von Schleiermacher bis Moltmann, München 21978, S. 144.  Zum Überblick: Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 70), S. 4– 10.

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Ambivalenzen darstellt, zweitens soll die bei Troeltsch damit verbundene Rede vom Bild Christi charakterisiert werden und drittens soll ein Fazit gezogen werden. Troeltsch tritt – insbesondere in seinem Beitrag „Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1898) und in seiner Schrift „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (1902) – nach gegenwärtigen Begriffen der Kulturwissenschaften⁷³ gleichsam als Ambivalenztheoretiker der christlichen Religion auf ⁷⁴: Troeltsch geht von gegensätzlich-gleichzeitigen Mehrdeutigkeiten der Gegenwartskultur aus, die symbolisch im dadurch in die Kritik geratenen Protestantismus so bearbeitet werden, dass letzterer – durch die Korrektur falscher Eindeutigkeiten – zu einer relativen Handhabung des menschlichen Lebens befähigt. So konstatiert Troeltsch einen Verlust der Glaubwürdigkeit und Eindeutigkeit des christlichen Glaubens unter den modernen Bedingungen des historisch-relativen Bewusstseins und seiner – teilweise einseitigen – Folgen einer immanenten Zweckrationalität und eines materialistischen Geschichtsmodells. Darauf kann der christliche Glaube überzeugend weder supranaturalistisch mit der Gewissheit eines religiös unvergleichlichen Offenbarungsstandpunktes noch idealistisch mit der Gewissheit einer rational zwingenden Geschichtsdialektik reagieren. Vielmehr ist nach Troeltsch eine tragfähige Reaktion des christlichen Glaubens auf das historisch-relative Bewusstsein gerade nur aufgrund desselben möglich. Infolge dieser Reaktion vermag man allerdings dem Christentum als Persönlichkeitsreligion eine relative Höchstgeltung zuzuschreiben. Insofern liefert Troeltsch den christlichen Glauben weder einem beliebigen Relativismus noch einer vorkritischen Gewissheitsdogmatik aus, sondern versucht mit seiner paradoxen Figur einer relativen Absolutheit eine Auflösung der gegensätzlichen Alternativen. Doch: Wie kommt Troeltsch zu dieser Position? Für ihn führt das – auf den Axiomen des Wahrscheinlich-

 Hier die zweite These und die dazugehörigen Ausführungen.  Dazu und zu den Ausführungen zu Troeltsch: Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode, in: Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, hg.v. Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 2– 25; Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912). Mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, in: KGA 5, hg.v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin/New York 1998 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 5); Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch, Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 160 – 166, 269 – 283; Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit II. Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 128 – 139; Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 70), S. 203 – 251; Friedemann Voigt: Einleitung des Herausgebers, in: Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, hg. von Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. VII – XXXVI, bes. S. XIII – XVIII; Christine Axt-Piscalar: Was ist Theologie? Klassische Entwürfe von Paulus bis zur Gegenwart, Tübingen 2013, S. 265 – 280.

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keitsurteils, des Analogieprinzips und der Wechselwirkungsthese beruhende – moderne Geschichtsbewusstsein selbst dahin. Denn letzteres versucht, die historischen Ereignisse und ihre Bedeutung möglichst genau zu erfassen und vergleicht sie daher auch miteinander. Insofern sind der historischen Denkweise auch Bewertungen eigen, die sich mit der Vorstellung von der Geschichte als einem ungeordneten, unzugänglichen und gleichgültigen Chaos nicht vertragen. Vielmehr kann hier die religiöse Idee, also der Gottesgedanke, ins Spiel kommen. Er steht regulativ für die Einheit der Geschichte ein, die sich allerdings nur relativ zu der bzw. in der konkreten historischen Deutung des vielgestaltigen Materials und seiner streitigen Ideen einstellt. Zusätzlich spricht gegen gewissheitsapodiktische Überzeichnungen, dass nach Troeltsch bei einer historischen Deutung immer auch die subjektive Einfühlung des jeweiligen Historikers erforderlich ist und das Geschichtsverstehen daher grundsätzlich ein relatives Deuten darstellt. Unter dieser Einschränkung ergibt sich für Troeltsch, dass das Christentum mit dem Vorlauf in der altisraelitischen Prophetie innerhalb der Religionsgeschichte von relativer Höchstgeltung ist. Denn in dieser Religionsformation ist der Gedanke der personalistischen Religiosität, der seinerseits dem Übergang der menschlichen Natur zur geistigen Person entspricht, am stärksten betont: Gott wird als der von der Natur unterschiedene und ihr überlegene Wille begriffen. Auch hier ist Troeltsch bewusst relativ, wenn die Absolutheit des Christentums auf den europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis beschränkt wird. Doch gerade für diesen Kulturkreis ist diese Einsicht entscheidend; denn es ist dieser überweltliche Personalismus, der die neuzeitliche Kultur vor der Reduktion auf ein konformistisches Immanenz- und materialistisches Fortschrittsverständnis bewahrt. Dass Troeltsch auf diese Weise ambivalenztheoretisch bemüht ist, geschichtlich gegensätzliche Erfahrungen nicht zwanghaft auf einen Nenner zu bringen und auch nicht einseitig zu bewerten, lässt sich zudem mit dem Hinweis auf die janusköpfige Deutung der Reformation in der Studie „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ (1906) und die Konzeption von Kirche, Sekte und Mystik in dem Werk „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912) verstärken.⁷⁵ Was die Genese des Protestantismus betrifft, so ist für

 Dazu und zu den Ausführungen zu Troeltsch: Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg.v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit m. Christian Albrecht, Berlin/New York 2004 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 7); Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912; HansGeorg Drescher: Ernst Troeltsch (wie Anm. 74), S. 229 – 260, 371– 409; Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit II (wie Anm. 74), S. 128 – 139; Friedemann Voigt: Einleitung des Herausgebers (wie Anm. 74), S.VII – XXXVI, bes. S. XIII – XVIII; Christine Axt-Piscalar: Was ist Theologie? (wie Anm. 74), S. 265 – 280.

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Troeltsch die reformatorische Ursprungsepoche zum einen katholisch-mittelalterlich und modern-kritisch zugleich und zum anderen bezieht der daraus entstehende Neuprotestantismus auch Ideen insbesondere des Humanismus ein, den die Reformatoren eigentlich kritisiert hatten. Nach Troeltsch hat man es also bei der Entstehung des Protestantismus mit einem mehrfach fundierten und in sich dynamischen Mischungsverhältnis zu tun. Und was die gegenwärtige Gestalt des christlichen Lebens betrifft, so leben nach Troeltsch die drei soziologischen Haupttypen von massentauglicher (Anstalts‐) Kirche, von radikaler (Überzeugungs‐) Sekte und von unmittelbarer (Innerlichkeits‐) Mystik gleichermaßen in allen Konfessionen und so auch im Protestantismus fort. Insofern ist dem Protestantismus eine ausgleichende Ausmittlung von konträren Positionen im Sinn eines Kompromisses eigen, so wie in der Geschichte der christlichen Lebensführung kein Ideal ohne Kompromiss bleibt. Auch hier gibt es für Troeltsch keine absolute Eindeutigkeit, sondern das christliche Ethos ist immer eine relative Meisterung bzw. Handhabung sich verändernder Welt- und Lebenslagen, und dies ist aus der Sicht von Troeltsch nicht verkehrt. In der internen – und nicht nur von außen von irreligiösen Systemfaktoren bestimmten – Sicht zielt Troeltsch auf einen religiösen Umgang mit gegensätzlich-gleichzeitigen Mehrdeutigkeiten ab, deren geschickte Handhabung zu einer relativ gelingenden – und darin unter endlichen Bedingungen nie abschließbaren Praxis – führen kann. Genau dies kann man als Ambivalenzmanagement bezeichnen. Dies hat auch Folgen für Troeltschs Auffassung der Dogmatik. Sie wird in seinen Vorlesungen – in der Fluchtlinie Schleiermachers – dezidiert zur „Glaubenslehre“ (1911/12) umgeformt⁷⁶: Troeltsch versucht unter der Einsicht in das zeitgenössische Bewusstsein – und nicht einer vermeintlich supranaturalen Norm aus der Vergangenheit – als religiöser Geltungsinstanz ein individualitätssensibles und pluralismusfähiges Deutungsangebot zu entwickeln. Demnach lässt sich ein Verständnis des Christentums nicht von seiner Wirkungsgeschichte isolieren. Dies schließt für Troeltsch nicht nur das Verständnis der Glaubenslehre als einer praktischen Disziplin und den persönlichen Standpunkt des Dogmatikers ein, sondern hat auch die Unterscheidung von historisch-religiösen und gegenwartsreligiösen Sätze zur Folge. Dabei gebührt letzteren für den gegenwärtigen Glauben eindeutig der Vorrang: Der Historismus-Theoretiker Troeltsch reduziert Glaube und Theologie keineswegs nur auf die Vergangenheit, sondern ist vital an der Gegenwart interessiert.  Dazu und zu den Ausführungen zu Troeltsch: Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, hg.v. Gertrud von Le Fort, München 1925 (ND Aalen 1981); Johann Hinrich Claussen, Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 70), S. 252– 259.

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Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie nach Troeltsch der Glaube an Jesus Christus konstruktiv weitergegeben zu werden vermag. In Troeltschs Beitrag „Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben“ (1911) fällt dazu programmatisch das prominente – und auch von anderen bedeutenden Theologen gebrauchte⁷⁷ – Schlagwort vom „Bild Christi“⁷⁸. Die zur Sache einschlägige Studie „Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie“ (1997) des Hamburger Theologen Johann Hinrich Claussen unterstreicht diese bildhermeneutische Ausrichtung der Christologie bei Troeltsch, wenn es zusammenfassend heißt: „Eine Religion lebt von ihren Bildern. Ihre ,Überzeugungskraftʾ hängt entscheidend daran, ob es ihr gelingt, ihre spezifische Auffassung des Göttlichen anschaulich werden zu lassen. Das zentrale Bild des Christentums ist die Gestalt Jesu von Nazareth. Christlicher Glaube ist primär keine theologische oder moralische Lehre, sondern eine religiöse Lebensposition, die ihre Kraft und Bestimmtheit durch den Bezug auf die Person und Predigt Jesu gewinnt. Das Bild, das in Erzählungen, Hymnen und bildnerischen Darstellungen von ihm gezeichnet wird, ,visualisiertʾ den Ideengehalt des Christentums in einzigartiger Weise. Im Jesusbild wird eine individuelle Gestalt mit einer konkreten Geschichte vorgestellt, die die Idee des Christentums plastisch werden läßt. Was als Offenbarung Gottes gelten soll, wird hier sichtbar. … Das Jesusbild regt Phantasie und Imaginationsvermögen der Gläubigen an, es bietet die Möglichkeit individueller Ausmalungen und immer neuer Färbungen und Akzentuierungen. Jede Zeit entwirft ihr eigenes Jesusbild … Zugleich aber ist das Jesusbild ein Einheitsmoment zwischen den Zeiten“⁷⁹. Wie Claussen zeigt, verdankt sich diese Position von Troeltsch einem eigenständigen Weiterdenken des kantischen Konzepts des Ideals bzw. Urbildes und dessen Umformung bei Friedrich Schleiermacher.⁸⁰ Demnach ist das Jesusbild bei Troeltsch als Medium der religiösen Erinnerung für einen postdogmatischen Protestantismus der entscheidende Ankerpunkt. Er kommt durch das Zusammenwirken von symbolisierender Subjektivität bzw. kreativer Einbildungskraft und geschichtlicher Objektivität bzw. historischem

 Die Wendung „Bild Christi“ kann an programmatischem Ort etwa bei Martin Luther, Friedrich Schleiermacher, Richard Rothe, Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann, Martin Kähler, Dietrich Bonhoeffer u. a. auftauchen (mit Hinweisen zur Forschungsliteratur: Malte Dominik Krüger: Das andere Bild Christi (wie. Anm. 26), S. 25; ders./Markus Gabriel, Was ist Wirklichkeit? (wie Anm. 48), S. 45 f.  Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, in: Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, hg. von Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 61– 92, bes. S. 78 f., 85, 87, 92.  Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch (wie Anm. 70), S. 1.  Dazu und zu den folgenden Ausführungen: ebd., 252– 268.

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Wissen zum Tragen. Dieser Vorgang hat nicht nur eine eminent ästhetische Dimension, sondern so kann in dem Bild Jesu als dem Totaleindruck eines urbildlich gedeuteten Menschen die christliche Lebensmacht wirksam werden. Diese individualpsychologische Sicht kann Troeltsch durch eine sozialpsychologische Sicht erweitern⁸¹: Das Jesusbild gehört ursprünglich in das präreflexive Leben des Kultus, dem ohne dieses Bild sein konstitutiver, gemeinsamer Sammelpunkt fehlen würde. Denn der Kultus lebt und besteht nicht in Dogmen oder Ideen, sondern in einer präreflexiven Vergemeinschaftung, die ihre Pointe im Bezug auf die konkrete und anschauliche Gestalt ihres Stifters hat. Um ihn und vor ihm sammelt sich die gottesdienstliche Gemeinde, und zwar so, dass gemeinsame Bezugnahme und individuelle Ausgestaltung des Jesusbildes in einen relativen Ausgleich kommen. Hierbei ist das Jesusbild für Troeltsch keine bloße Illusion, die historisch beliebig manipulierbar wäre. Vielmehr ist es der lebendige Ausdruck des religiösen Erlebens, das sich an dem – für Troeltsch historisch nachweisbaren – personalen Gottesglauben Jesu, dessen kontrafaktischer Überweltlichkeit und unbedingter Achtung des Einzelnen entzündet. Allerdings lässt sich auch an diesem Punkt für Troeltschs historisch-relatives Bewusstsein keine absolute Deckung zwischen dem vergangenen Jesus und dem aktuellen Glauben herstellen, wie vor allem die ausgebliebene Naherwartung Jesu zeigt. Entsprechend bedeutet für Troeltsch eine Nachfolge Jesu nicht, mit ihm identisch werden zu wollen, sondern sich in der Bezugnahme auf ihn an ihm abzuarbeiten. Es geht Troeltsch darum, in der zeitgenössisch annehmbaren Gestalt postdogmatischer Relativität eine ambivalenzsensible Frömmigkeit zu etablieren, die jenseits von vorkritischer Dogmatik und wertezerstörender Beliebigkeit plausibel für den einzelnen Glaubenden und die kirchliche Gemeinschaft lebbar ist. Bilanzierend ergibt sich folgendes Fazit: Troeltschs religionsgeschichtliche und in den Kontext des Historismus gehörige Theologie ringt um eine glaubwürdige Deutung des protestantischen Christentums unter den Bedingungen des historisch-relativen Bewusstseins. Damit scheiden supranatural-orthodoxe wie idealistisch-rationalistische Gewissheitsansprüche aus, wenn es um die Plausibilität des Protestantismus geht. Vielmehr schlägt Troeltsch vor, den Protestantismus als symbolisch unabschließbare Bearbeitung von strukturellen Mehrdeutigkeiten der zeitgenössischen Kultur zu verstehen. Dies kann nach Troeltsch zu einer dem endlichen Leben angemessen Relativität führen. Bei diesem Ambivalenzmanagement kann die Bildlichkeit der Stifterpersönlichkeit der christlichen Religion eine große Rolle spielen, wenn an dieser Bildlichkeit individual- bzw. sozialpsychologisch die Vermittlungsfähigkeit des protestantischen Christentums

 Dazu und zu den folgenden Ausführungen: ebd., 268 – 285.

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hängt: Innerhalb der Minimalbedingungen des wissenschaftlich rechenschaftsfähigen Eindrucks Jesu kann ohne die menschliche Einbildungskraft kein anschauliches Bild Gottes entstehen, das aktuell das Leben orientiert und kultische Gemeinschaft stiftet. Hase oder Ente? Diese Frage war zu Beginn unter Hinweis auf das bei Wittgenstein prominente Kippbild gestellt worden – mit der thetischen Vermutung, dass Religion als Realisierung und Symbolisierung von gegensätzlich-gleichzeitiger Mehrdeutigkeit nicht nur so etwas wie ein Kippbild ist, sondern auch genuin mit dem Bildvermögen bzw. der Einbildungskraft zusammenhängt. Dafür war der Begriff des Ambivalenzmanagements gewählt worden. Dies lässt sich nach dem Dargelegten kulturwissenschaftlich und gegenwartstheologisch nicht nur stützen, sondern auch auf das Denken von Troeltsch beziehen: Es scheint zumindest Texte, Spuren und Deutungen zu geben, die ihn als Ambivalenztheoretiker und Bildhermeneutiker „avant la lettre“ nahelegen.⁸² Wie es (fast) immer im wissenschaftlichen Diskurs der Fall ist, stellt diese Deutung einen relativen Vorschlag dar, der zu diskutieren ist. Doch wenn er etwas für sich haben sollte, dann wäre Troeltschs Denken auch heute noch – nicht nur aus historischen Gründen – interessant.Vielleicht wäre Troeltsch sogar selbst als eine intellektuelle Kippfigur zu beschreiben – zwischen religionsgeschichtlichem Systematiker und bildhermeneutischem Ambivalenztheoretiker?⁸³

 Selbstverständlich sind auch Differenzen zu registrieren, wenn für Troeltsch nicht eine interdisziplinär entschränkte Kulturwissenschaft, sondern soziologisch fokussierte Geschichte, nicht die Auferstehung Jesu, sondern dessen kultische Verehrung, nicht die projektionstheoretisch deutbare Rechtfertigungslehre, sondern deren Verpflichtung auf eine Opfertheologie etc. plausibel sind. Doch immerhin gibt es mit Wilhelm Dilthey auch einen gemeinsamen Anreger, wenn man nicht sogar von einem Ahnherrn sprechen möchte.  Vielleicht bietet sich genau dafür der Begriff der Einbildungskraft bzw. des Bildes an. So verankert Troeltsch die geschichtstheoretischen Axiome des Wahrscheinlichkeitsurteils, des Analogieprinzips und der Wechselwirkungsthese in der „Kunst der Nachempfindung“ (Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode, a. a.O. (wie Anm. 74), S. 6), die unschwer als nachschaffende Einbildungskraft zu identifzieren ist (vgl. zur Sache auch: Ulrich Barth, Hermeneutik der Evangelien als Prolegomena zur Christologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 275 – 305, bes. 290 – 301). Und in der „Absolutheitsschrift“ taucht der Begriff des Bild(vermögen)s bzw. der Nach-/Anempfindung, freilich in unterschiedlich akzentuierten Bedeutungen, die eine eigene Untersuchung erforderten, oft auf (vgl. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, a. a.O. (wie Anm. 74), z. B. 114, 148f., 156, 175, 177f., 206, 214– 216, 231, 241). Interessant im Sinn religiösen Ambivalenzmanagements ist auch die Einsicht, dass die Lebenskräfte der Religion aus dem „ahnungsvolle[n] Halbdunkel“ (a. a.O., 204) stammen.

Wolf-Friedrich Schäufele

Kirchengeschichte und Historische Theologie Versuch einer enzyklopädischen Verhältnisbestimmung

Dass das Christentum eine kreative Potenz besitzt, die es in die Lage versetzt, nicht nur die je eigene Sozialgestalt, sondern auch seine soziokulturelle Umwelt immer neu zu transzendieren und zu transformieren, lässt sich trefflich bei Ernst Troeltsch lernen. Die Reflexion darüber, wie diese Potenz jeweils neu in den konkreten Weltbezügen zu verwirklichen ist, ist der Theologie als ganzer und in ihren einzelnen Disziplinen als unabschließbare Aufgabe gestellt. Dabei obliegt es dem Fach Kirchengeschichte, die selbst- und welttranszendierende Potenz und Wirkung des Christentums in diachroner Perspektive am empirischen Material aufzuweisen und thematisch zu machen. Unter den klassischen theologischen Disziplinen steht der Kirchengeschichte die Systematische Theologie am nächsten. In der Dogmen- und Theologiegeschichte und darüber hinaus in der Kultur- und Geistesgeschichte haben sie ein breites Überschneidungsfeld, das – mit teilweise differierenden Akzentsetzungen und Erkenntnisinteressen – von beiden gleichermaßen bearbeitet wird. Naturgemäß sind die Affinitäten der Kirchengeschichte zu liberalen und religionsgeschichtlich orientierten Richtungen Systematischer Theologie wesentlich größer als etwa zu einer Wort-Gottes-Theologie. Troeltsch als Vertreter einer historisch interessierten, historisch belehrten und konsequent historisch arbeitenden Systematischen Theologie ist hier ein natürlicher Referenzautor. Seine Schriften, namentlich „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“¹, sind eine wichtige Inspirationsquelle für kirchenhistorisches Arbeiten. Allerdings gibt es, und das ist die These, die hier vertreten werden soll, doch auch eine methodologisch begründete differentia specifica zwischen einer historisch interessierten Systematischen Theologie und einer theologisch interessierten Geschichtswissenschaft, oder, im Abbreviatur: zwischen Historischer Theologie und Kirchengeschichte. Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen zu Aufgabe und Methode des Fachs Kirchengeschichte vortragen, die ich in Abgrenzung zu einer Historischen

 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, mit einer Einführung zu Ernst Troeltschs Leben und Werk von Friedemann Voigt (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 1), Darmstadt 2016. https://doi.org/10.1515/9783110733075-008

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Theologie im Sinne von Troeltsch entwickele. Der Sache und dem heutigen Selbstverständnis des Faches nach wäre statt von „Kirchengeschichte“ besser von „Christentumsgeschichte“ zu reden. Wenn ich trotzdem die traditionelle Bezeichnung „Kirchengeschichte“ gebrauche, so deshalb, weil dieser Terminus in Studien- und Prüfungsordnungen, Institutsnamen und Professurdenominationen fest verankert ist.

1 Entstehung und Entwicklung des Fachs „Kirchengeschichte“ Ein historischer Rückblick erweist die besonderen Herausforderungen und strukturellen Schwierigkeiten, mit denen das Fach „Kirchengeschichte“ zu tun hat. Die Kirchengeschichte ist die jüngste der fünf großen theologischen Teildisziplinen.² Zwar hegten bereits die Reformatoren ein lebhaftes Interesse an geschichtlich-kirchengeschichtlichen Fragen, doch unter dem Einfluss Melanchthons und seines „Chronicon Carionis“ wurde die Kirchengeschichte unselbstständig, als Teil einer erneuerten Universalgeschichte, betrieben, die ihren Ort an den philosophischen Fakultäten der protestantischen Universitäten fand, wo seit etwa 1560 universalgeschichtliche Professuren errichtet wurden. Als eigener Erkenntnisgegenstand behandelt wurde die Kirchengeschichte literarisch schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in den großen, kontroverstheologisch motivierten Geschichtswerken der Magdeburger Zenturiatoren und des Caesar Baronius. Doch erst nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden an den protestantischen Universitäten eigene Professuren oder Lehraufträge für Kirchengeschichte, die nun nicht mehr an der philosophischen, sondern an der theologischen Fakultät angesiedelt waren. Den Anfang machte 1650 die Universität Helmstedt, im Jahr darauf folgte die Universität Gießen, danach in rascher Folge Heidelberg, Marburg und Jena. Auch die sogenannte Profangeschichte fand nun im Rahmen des staatsrechtlich-politischen Unterrichts der Juristen eine institutionelle Vertretung in einer höheren Fakultät.

 Zum Folgenden Emil Clemens Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Ihre Anfänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen Disziplinen, Freiburg i. Br. 1927; Wolf-Friedrich Schäufele, Theologie und Historie. Zur Interferenz zweier Wissensgebiete in Reformationszeit und Konfessionellem Zeitalter, in: Irene Dingel u. a. (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte 74), Mainz 2008, S. 129 – 156.

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Im 17. Jahrhundert waren es immer noch verbreitet kontroverstheologische Interessen, denen die neue theologische Disziplin „Kirchengeschichte“ zu dienen hatte. Doch die historische Betrachtung führte als solche und im Verein mit den neuen Ideen der europäischen Aufklärung bald dazu, dass den Theologen die historische Bedingtheit der kirchlich-theologischen Lehrbildungen wie auch der praktischen religiösen Vollzüge und christlichen Sozialformationen bewusst wurde. Gerhard Ebeling hat nachdrücklich auf diese revolutionierende Wirkung des neuen Fachs hingewiesen: Die Umgestaltung der Kirchengeschichte zu einer theologischen Disziplin vollzog sich nicht als apologetische Reaktion der Theologie gegenüber dem Säkularisierungsprozeß des modernen Denkens, sondern als Einbruch eben dieses modernen Denkens in die Festung des orthodoxen Systems. […] Die historische Methode, die dann in gewaltigem Eroberungssturm auch von der Bibelwissenschaft Besitz ergriff und selbst das Dogma, das eigentliche Gebiet der systematischen Theologie, antastete, erschien darum von vornherein als ein auflösendes Moment in der Theologie, gegen das sich das dogmatische Denken zur Wehr setzte.³

Es erscheint folgerichtig, dass die Kirchengeschichte im 19. Jahrhundert unter den Auspizien des Historismus und des theologischem Liberalismus einen gewaltigen Aufschwung erlebte und schließlich so etwas wie eine Leitdisziplin der akademischen Theologie wurde. Theologen wie Adolf von Harnack setzten sich nachdrücklich für „den unbedingten Primat der Historie in der Theologie, und zwar ohne alle metaphysischen Beiklänge“⁴ ein. Nicht zuletzt Troeltschs Plädoyer für eine als historische Kulturwissenschaft zu betreibende Theologie⁵ zeugt von der eminenten Bedeutung, die historischer Methode und Argumentation für die Theologie im Konzert der Wissenschaften damals zuerkannt wurde. Dass mit Harnack in seiner dreifachen Funktion als Hochschullehrer, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ein Kirchenhistoriker in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so etwas wie ein „Star-Intellektueller“ in Deutschland werden konnte, erscheint heute wie eine Reminiszenz aus einer vergangenen Welt. Interessanterweise ging der Bedeutungszuwachs der Kirchengeschichte in der theologischen Fakultät mit dem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zuneh-

 Gerhard Ebeling: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, Tübingen 1947, S. 5.  Bernd Moeller (Hg.): Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699 – 1927, Frankfurt a. M. 1994, S. 872.  Z.B. Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie, Tübingen 2000, S. 226 – 282.

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mend verbreiteten Selbstverständnis einher, dass es sich bei ihr nach Methodologie und Erkenntnisinteressen nicht um ein eigentlich theologisches Fach handele, sondern um einen Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Statt von „Kirchengeschichte“ wollten manche nun lieber von „Geschichte der christlichen Religion“ sprechen.⁶ Die Reaktion kam mit der antihistoristischen Revolution und insbesondere mit der sogenannten Dialektischen Theologie Karl Barths. Barth bestätigte das säkulare Verständnis der Kirchengeschichte – und zog eben darum diametral entgegengesetzte Folgerungen für ihre Rolle in der Theologie. Obwohl Sohn eines Kirchenhistorikers und selbst nicht ohne historische Interessen, dekretierte er im ersten Paragraphen der „Kirchlichen Dogmatik“: „Die sogenannte Kirchengeschichte antwortet auf keine selbständig zu stellende Frage hinsichtlich der christlichen Rede von Gott und ist darum nicht als selbständige theologische Disziplin aufzufassen. Sie ist die unentbehrliche Hilfswissenschaft der exegetischen, der dogmatischen und der praktischen Theologie“.⁷ Angesichts der hegemonialen Stellung, die die Dialektische Theologie in Deutschland dank der Rolle Barths im Kirchenkampf für Jahrzehnte einnehmen sollte, musste diese Herabstufung von der Leitdisziplin zur Hilfswissenschaft umso einschneidender wirken. Als Reaktion auf diese Herausforderung kam es, gegenläufig zu den Entwicklungen des späteren 19. Jahrhunderts, zu verschiedenen Versuchen einer Retheologisierung der Kirchengeschichte. Die Einzelheiten können hier auf sich beruhen bleiben. Man wird jedoch sagen können, dass die Kirchengeschichte nach den turbulenten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ihren innertheologischen Ort noch nicht wirklich wiedergefunden hat. Die „neue Unübersichtlichkeit“, die Christoph Markschies im Jahr 2001 diagnostiziert hat,⁸ bestimmt noch immer die Situation. Sicher wäre es zu stark, auch heute noch von einer „theologischen Verlegenheit“ gegenüber der Kirchengeschichte zu sprechen, wie Gerhard Ebeling dies 1975 tat.⁹ Doch auch in den gegenwärtigen Debatten spielt –  Christoph Markschies: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung I. Begrifflichkeit und Voraussetzungen, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 4, 4. Aufl., Tübingen 2001, Sp. 1170 – 1179, hier: Sp. 1176.  Karl Barth: Kirchliche Dogmatik. Band 1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik. Erster Halbband, 2. Aufl. Zollikon, München 1952, S. 3.  Christoph Markschies: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung I. (wie Anm. 6), Sp. 1177. Auch Albrecht Beutel: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung II. Entwicklung, 3. Mittelalter und Neuzeit, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 4, 4. Aufl., Tübingen 2001, Sp. 1183 – 1191, hier: Sp. 1190.  Gerhard Ebeling: Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, neu hg. von Pierre Bühler u. a., Tübingen 2012, S. 69.

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jedenfalls im deutschsprachigen Raum – die Frage nach der von Barth bestrittenen Theologizität der Kirchengeschichte immer noch eine Rolle.¹⁰ Den klassischen und bis heute inspirierendsten Versuch, die Theologizität der Kirchengeschichte zu behaupten, hat Gerhard Ebeling 1947 in seiner Tübinger Antrittsvorlesung über „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“¹¹ unternommen. Damit war natürlich keine thematische Begrenzung auf Exegesegeschichte gemeint, vielmehr hat Ebeling den traditionell als „Kirche“ bezeichneten Gegenstand des Fachs durch eine dogmatische Bestimmung in Anlehnung an CA VII ersetzt und erläutert. Demnach würde es um Wirkungen der christlichen Verkündigung im weitesten Sinne gehen.Von hier aus lässt sich durchaus auch eine kulturgeschichtliche Öffnung der Kirchengeschichte begründen. So hat Albrecht Beutel im Anschluss an Ebeling seine deutlich offenere Programmformel von der Kirchengeschichte als „Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen“¹² formulieren können. Im Ganzen herrscht heute dahingehend Konsens, dass Kirchengeschichte als „Christentumsgeschichte“ im weitesten Sinne zu betreiben sei.¹³ Unstrittig ist ebenfalls, dass sie ein Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist und keine anderen Methoden zur Verfügung hat als diese. Über diese beiden Grundüberzeugungen hinaus ist in den wiederholt geführten Debatten eine einheitliche Auffassung von Aufgabe und Charakter des Fachs im Allgemeinen und seiner Theologizität im Besonderen jedoch nicht zu erkennen.¹⁴

 „Die Frage der Theologizität der Kirchengeschichte erscheint […] als eine für das Selbstverständnis des Faches unverzichtbare Frage“: Volker Leppin: Einleitung, in: Wolfram Kinzig u. a. (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 15), Leipzig 2004, S. 11– 15, hier: S. 14.  Gerhard Ebeling: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (wie Anm. 3).  Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte, in: ders., Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, S. 1– 27, hier: S. 5.  Zum sachlichen Unterschied Kurt Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? Über die Verbindung und die Differenz von Kirchengeschichtsschreibung und Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 122 (1997), Sp. 3 – 12, Sp. 10.  Vgl. aus evangelisch-theologischer Perspektive u. a. Gerhard Ruhbach: Die Kirchengeschichte, in: Wenzel Lohff u. a. (Hg.): Wissenschaftliche Theologie im Überblick, Göttingen 1974, S. 39 – 47; Gerhard Ebeling: Studium der Theologie (wie Anm. 9), S. 69 – 82; Christian Uhlig: Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologische Disziplin (Europäische Hochschulschriften 23/ 269), Frankfurt a. M., Bern, New York 1985; Werner Blessing: Kirchengeschichte in historischer Sicht. Bemerkungen zu einem Feld zwischen den Disziplinen, in: Anselm Doering-Manteuffel u. a. (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart u. a. 1996, S. 14– 59; Steffen Storck: Kirchengeschichtsschreibung als Theologie. Theorien der Kirchengeschichts-

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Im Folgenden kann und soll kein eigener Entwurf einer kirchengeschichtlichen Historik entwickelt werden. Ich möchte lediglich einige Grundlinien der Aufgabe kirchengeschichtlicher Arbeit, wie ich sie verstehe, ziehen, und sie von der Arbeitsweise einer historisch arbeitenden Systematischen Theologie abgrenzen. Dabei wird es im Wesentlichen nur um die protestantische Kirchengeschichtsschreibung gehen. Denn auch wenn sich in der praktischen historischen Arbeit die Konfessionsunterschiede immer weniger bemerkbar machen, bleiben die fortbestehenden Unterschiede in der Aufgaben- und Wesensbestimmung akademischer Theologie und ihrer kirchlichen Aufgabe insgesamt für das Verständnis der Kirchengeschichte nicht ohne Folgen.¹⁵

schreibung in der deutschsprachigen evangelischen und katholischen Theologie seit 1945, Aachen 1997; Kurt Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? (wie Anm. 13); Heinzpeter Hempelmann: „Erkenntnis aus Glauben“. Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit von Kirchengeschichte und kirchlicher Zeitgeschichte als theologische Disziplinen, in: Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), S. 263 – 304; Eilert Herms: Theologische Geschichtsschreibung, ebd., S. 305 – 330; Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte (wie Anm. 12); Wolfram Kinzig u. a. (Hg.): Historiographie und Theologie (wie Anm. 10); Klaus Fitschen: Kirchengeschichte, in: Eve-Marie Becker u. a. (Hg.): Handbuch Evangelische Theologie, Tübingen u. a. 2006, S. 157– 214; Markus Wriedt: Über die Nutzlosigkeit der Kirchengeschichte. Anmerkungen zum ökumenischen Gespräch der Gegenwart aus der Sicht eines Kirchenhistorikers, in: ders. u. a. (Hg.): „Kein Anlass zur Verwerfung“. Studien zur Hermeneutik des ökumenischen Gesprächs. FS Otto Hermann Pesch, Frankfurt a. M. 2007, S. 59 – 85; Sebastian Kranich: Christentumsgeschichte contra Theologische Kirchengeschichte. Beobachtungen zu einem Streit, in: Klaus Tanner (Hg.), Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung. FS Trutz Rendtorff (Theologie – Kultur – Hermeneutik 9), Leipzig 2008, S. 55 – 84; Bernd Jaspert (Hg.): Kirchengeschichte als Wissenschaft, Münster 2013; Wolf-Friedrich Schäufele: Theologische Kirchengeschichtsschreibung als Konstruktionsaufgabe. Ein Plädoyer, in: Theologische Literaturzeitung 139 (2014), Sp. 831– 850; Volker Leppin: Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer. Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher Religion, in: Markus Buntfuß u. a. (Hg.): Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive, Berlin 2014 (Theologische Bibliothek Töpelmann 163), S. 69 – 93; Volker Leppin: Kirchengeschichte und Europäische Religionsgeschichte, in: Klaus Fitschen/Wolfram Kinzig/Armin Kohnle/Volker Leppin (Hg.): Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallstudien (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 51), Leipzig 2018, S. 17– 34; Wolfram Kinzig, Wie theologisch ist die „Historische Theologie“? Bemerkungen zur Geschichte eines Begriffs und seiner heutigen Bedeutung, ebd., S. 49 – 91. Vgl. ferner die acht Aufsätze im Themenband „Zur Historik kirchlicher Zeitgeschichte“ in Kirchliche Zeitgeschichte 3 (1992) und die zwei weiteren einschlägigen Aufsätze in Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), S. 331– 358 sowie die zahlreichen kleinen Monographien von Bernd Jaspert zum Thema.  Zur römisch-katholischen Diskussion über Aufgabe und Theologizität der Kirchengeschichte u. a. Raymund Kottje (Hg.): Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder Theologie?, Trier 1970; Hans Reinhard Seeliger: Kirchengeschichte – Geschichtstheologie – Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchenge-

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2 Die Historizität der Kirchengeschichte Das verhältnismäßig geringe Alter der Kirchengeschichte als theologische Disziplin und ihr wechselvolles Geschick im Kanon der theologischen Fächer mögen erklären, warum die Kirchengeschichte mit ihrer nicht-theologischen Bezugswissenschaft, der allgemeinen Geschichtswissenschaft, in einer deutlich engeren Beziehung steht als dies bei den älteren theologischen Disziplinen der Fall ist. Zwar sind auch die Verbindungen der exegetischen Fächer zur Orientalistik, den Altertumswissenschaften und den orientalischen und klassischen Philologien vielfältig, zwar stehen die Systematische und die Praktische Theologie mit der Philosophie und verschiedenen Human- und Sozialwissenschaften und teilweise auch den Naturwissenschaften in inhaltlichen Beziehungen. Schon Schleiermacher hat in seiner klassischen, in ihren Grundzügen bis heute maßgeblichen Enzyklopädie der wissenschaftlichen Theologie in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ (1811/1830) darauf hingewiesen, dass die in der Theologie verhandelten „Kenntnisse und Kunstregeln“ nicht als solche, sondern nur durch ihre Beziehung auf die Aufgabe des Kirchenregiments – also die pfarramtliche Profession – theologischen Charakter haben; andernfalls „hören sie auf, theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören“.¹⁶ Dennoch fällt es schwer, sich die alt- und neutestamentliche Wissenschaft, Systematische und Praktische Theologie einfach als Teilgebiete ihrer außertheologischen Bezugswissenschaften zu denken. Anders verhält es sich mit der Kirchengeschichte. Während die Theologizität der Kirchengeschichte nach dreieinhalb Jahrhunderten mitunter noch begründungs-

schichtsschreibung, Düsseldorf 1981; Victor Conzemius: Kirchengeschichte als „nichttheologische“ Disziplin, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 80 (1985), S. 31– 48; Walter Kasper: Kirchengeschichte als historische Theologie, ebd., S. 174– 188; Steffen Storck: Kirchengeschichtsschreibung als Theologie (wie Anm. 14), bes. S. 312– 490; Mariano Delgado: Auf dem Weg zu einer fundamentaltheologischen Kirchengeschichte, in: Andreas R. Batlogg u. a. (Hg.), Was den Glauben in Bewegung bringt. Fundamentaltheologie in der Spur Jesu Christi. Festschrift für Karl H. Neufeld, Freiburg 2004, S. 338 – 250; Hubert Wolf: Zwischen Theologie und Geschichte. Zur Standortbestimmung des Faches Kirchengeschichte, in: Theologische Revue 98 (2002), S. 379 – 386; Hubert Wolf: Den ganzen Tisch der Tradition decken. Tendenzen und Perspektiven neuzeitlicher Kirchengeschichte, in: Theologische Quartalschrift 184 (2004), S. 254– 276; Paul Oberholzer: Wie kann ein Kirchenhistoriker Theologe sein und gleichzeitig den Anforderungen zeitgenössischer Historiographie gerecht werden?, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 111 (2017), S. 341– 370.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe, hg. von Heinrich Scholz, 2. Aufl. Leipzig 1910 (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 10), ND Darmstadt 1993, S. 3.

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bedürftig erscheint, steht ihre Historizität praktisch außer Frage. Theologische Kirchenhistoriker wie Profanhistoriker stimmen heute darin überein, in der Kirchengeschichte ein Spezial- und Teilgebiet der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu sehen. Und noch immer gilt, „daß von den Theologen gewöhnlich noch am ehesten der Kirchenhistoriker allgemeine wissenschaftliche Reputation genießt“.¹⁷ In der Praxis zeigt sich die Historizität der Kirchengeschichte darin, dass Kirchenhistoriker (und natürlich und hier immer mitgemeint: Kirchenhistorikerinnen) in ihrer Forschung, bei Projekten, Publikationen und Konferenzen eng mit Fachkollegen aus der allgemeinen Geschichte zusammenarbeiten – sehr viel enger gewöhnlich als mit Kolleginnen und Kollegen der anderen theologischen Disziplinen.¹⁸ Zwar trifft es zu, dass die deutschen Kirchenhistoriker, die mit wenigen Ausnahmen studierte Theologen und nicht Historiker sind, sich nicht aktiv an den großen Theoriedebatten beteiligt haben, die seit den 1960er Jahren auch in der deutschen Geschichtswissenschaft ausgetragen wurden und werden, und vielleicht kann man sogar mit einem gewissen Recht von einem „Theoriedefizit der institutionalisierten Kirchengeschichte an kontinentalen konfessionellen Einrichtungen“¹⁹ sprechen. Allerdings hat sich das Fach mit dem Verzicht darauf, sogleich jedem neuen „turn“ nachzulaufen, manche unnötigen Aufgeregtheiten erspart. Und in der Forschungskooperation mit der Profangeschichte wurde selbstverständlich auch die Kirchengeschichte mit der methodischen Weiterentwicklung der allgemeinen Geschichtswissenschaft vom Historismus über die verschiedenen Spielarten sozialgeschichtlicher Forschung bis hin zu den neueren, kulturwissenschaftlich orientierten Richtungen²⁰ konfrontiert – so besonders deutlich in der Reformationsgeschichte, der Pietismus- und Aufklärungsforschung und der Kirchlichen Zeitgeschichte. In der Folge verstärkte sich auch in der Kirchengeschichte immer weiter die Segmentierung nach Epochen, wie sie in der Profangeschichte seit langem üblich ist. Als auf die Frühe Neuzeit spezialisierter Kirchenhistoriker habe ich in meiner Forschung mehr mit allgemeinhistorischen Frühneuzeitlern zu tun als mit Kirchenhistorikern alt- oder ostkirchlicher oder zeitgeschichtlicher Spezialisierung. Umgekehrt werden theo-

 Gerhard Ebeling: Studium der Theologie (wie Anm. 9), S. 69.  So auch Volker Leppin: Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer (wie Anm. 14), S. 73.  Christoph Markschies: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung I. (wie Anm. 8), Sp. 1177.  Hilfreiche Übersichtsdarstellungen bieten z. B. Joachim Eibach u. a. (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002; Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, 4. Aufl. Paderborn 2018.

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logische Kirchenhistoriker von den Vertretern der allgemeinen Geschichtswissenschaft im allgemeinen als Fachkollegen akzeptiert. Das geht so weit, dass gemeinsame Projekte von theologischen Kirchenhistorikern und Profanhistorikern teilweise nicht mehr als „interdisziplinär“ empfunden werden. Dass dabei immer wieder auch einmal Differenzen zwischen Profan- und Kirchenhistorikern hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen und Methoden – gewöhnlich geht es dabei um den Stellenwert der Theologie- und Geistesgeschichte – spürbar und ausgetragen werden,²¹ tut dem im Ganzen keinen Abbruch.

3 Die Theologizität der Kirchengeschichte Während die Historizität der Kirchengeschichte praktisch außer Frage steht, erscheint ihre Theologizität, wie gesagt, tendenziell begründungsbedürftig. Worin aber könnte diese bestehen? Hat Kirchengeschichte als theologische Disziplin ein Proprium, das sie von der Profangeschichte unterscheidet? Meine eigene Auffassung geht dahin, dass die Kirchengeschichte durchaus theologischen Charakter hat und haben muss, also nicht einfach einen Ausschnitt aus der allgemeinen Geschichtswissenschaft darstellt. Aber ich möchte eine „schwache“, das heißt rein formale Bestimmung dieses theologischen Charakters vorschlagen. Wir können uns dabei wieder an Schleiermachers enzyklopädischer Aufgabenbestimmung der Theologie orientieren. Zwar sind die konkreten materialen Ausführungen Schleiermachers zur „historischen Theologie“ für eine heutige Umschreibung des Faches Kirchengeschichte nicht mehr brauchbar. Doch Schleiermachers allgemeine Bestimmung des Propriums der theologischen Wissenschaft kann zeigen, worin die Theologizität ihrer Teildisziplinen begründet ist. Das Wesen der theologischen Wissenschaft ist mit Schleiermacher, modern gesprochen, im Sinne ihres Professionsbezugs zu bestimmen. Als „positive Wissenschaft“ ist die Theologie „der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist“.²² Dabei ist unter „Kirchenregiment“ bzw. „Leitung der Kirche“ nicht allein die Wahrnehmung kirchenleitender Ämter im heutigen Sinne zu verstehen, sondern

 Z.B. die Debatte zwischen Ute Lotz-Heumann, Matthias Pohlig und Christoph Strohm in: WolfFriedrich Schäufele u. a. (Hg.): Das Bild der Reformation in der Aufklärung, Gütersloh 2017, S. 370 – 387.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (wie Anm. 16), S. 2 f., §§ 5 – 6.

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jede Amtstätigkeit der Pfarrerinnen und Pfarrer. Andererseits lässt sich auch der schulische Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes unter Schleiermachers Definition subsumieren, wenn man die Aufgabe der Theologie in einem weiteren Sinne als „autonome, staats- und politikunabhängige Kontinuierung des Religionssystems“²³ versteht. Auch wenn es fatal wäre, das akademische Studium im Sinne der herrschenden „Bologna“-Logik allein unter dem Aspekt der Berufsausbildung und „employability“ zu betrachten, so ist der Professionsbezug des Theologiestudiums doch sachlich wie rechtlich unhintergehbar. Damit ist nun aber zugleich die Positionalität der Theologie insgesamt wie – in unterschiedlichem Maße – ihrer Einzeldisziplinen gegeben. Konstitutiv für jede Theologie ist nach Schleiermacher ihre Beziehung auf eine „bestimmte Glaubensweise“.²⁴ So, wie es die Professionen, auf die die Theologie abzielt, nur in konfessioneller Besonderheit gibt, gibt es auch nicht die eine positionsübergreifende christliche Theologie im Singular, sondern ein Ensemble positionell verschiedener Theologien im Plural. Diese Positionalität unterscheidet evangelische von katholischer oder freikirchlicher Theologie ebenso wie von einer sich als voraussetzungslos verstehenden Religionsgeschichte des Christentums. Beide Propria der wissenschaftlichen Theologie, der kirchliche Professionsbezug und die Positionalität, sind in Deutschland bekanntlich staatskirchenrechtlich garantiert und die raison d’être der theologischen Fakultäten. Die Aufgabe des evangelischen Theologiestudiums kann nach dem Gesagten dahingehend beschrieben werden, dass es die Studierenden befähigen soll, in ihrer späteren Tätigkeit im Pfarramt oder im schulischen Lehramt – unbeschadet ihrer persönlichen evangelischen Freiheit im Einzelnen – für die gegenwärtige Gestalt evangelisch-landeskirchlichen Christentums einzustehen. Dazu ist eine Einsicht in das historische Gewordensein und die gegenwärtige Gestalt der eigenen religiösen Tradition vonnöten, um das evangelische Christentum unter den Bedingungen der säkularen Moderne reflektieren und kritisch verantworten zu können. In der Ausrichtung auf diese Aufgabe besteht die Theologizität der Kirchengeschichte, so wie ich sie verstehe.

 Bernhard Dressler: Religionspädagogik als Modus Praktischer Theologie. Mit einem kritischen Blick auf den Diskurs zur „Kindertheologie“, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 46 (2011), 149 – 163, hier: 151 f.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (wie Anm. 16), S. 1, §§ 1– 2.

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4 Kirchengeschichte und Historische Theologie zwischen Empirie und Normativität Ist eine solche „schwache“ Bestimmung der Theologizität des Faches Kirchengeschichte angesichts der Debatten der vergangenen Jahrzehnte ausreichend? Nicht selten wird die Theologizität und Positionalität der Kirchengeschichte im Sinne von Normativität verstanden. So sieht Volker Leppin die Notwendigkeit, das Verhältnis von Historizität und Theologizität der Kirchengeschichte als doppelte Einbindung in einen empirisch-deskriptiven und einen normativen Diskurs zu fassen.²⁵ Christoph Markschies formuliert sogar als „Leitfrage“ theologisch-kirchengeschichtlicher Arbeit, „wieweit historische Vollzüge, Entwicklungen und Ansichten gelungene oder mißlungene Bezugnahmen, Umsetzungen oder Revisionen biblischer Theologumena, biblischer Lebensordnungen und Frömmigkeitsgestalten sind“.²⁶ In der einen oder anderen Form wird eine solche kritische Funktion gegenüber der gegenwärtigen institutionalisierten Christentumspraxis der Kirchengeschichte heute von vielen Fachvertreterinnen und Fachvertretern zugeschrieben. Ich bin an diesem Punkt zurückhaltender. In der Sache stoßen wir hier auf das Historismus-Problem, an dem sich Troeltsch bis zum Ende seines Lebens abgearbeitet hat und für das er in seiner Wesensschrift und mit dem Konzept der „europäischen Kultursynthese“ beachtliche Lösungsversuche vorgelegt hat.²⁷ Doch während Troeltsch auf diesem Weg die Systematische Theologie auf eine modernetaugliche Grundlage zu stellen suchte, ist fraglich, ob die Kirchengeschichte in der Lage und berufen ist, ihrerseits den umgekehrten Weg vom empirischen Befund zum theologischen Geltungsanspruch, vom Sein zum Sollen, von der Empirie zur Normativität zu beschreiten. Gewiss, der Theologie insgesamt eignet ein normatives Moment, und es gehört zu ihren Aufgaben, die gegenwärtige Lehrform und Sozialgestalt des Christentums kritisch auf Grund von heute als gültig erachteten Werten und Normen zu prüfen. Doch kann das die Aufgabe der Kirchengeschichte sein? Als eine empirisch arbeitende Human- und Sozialwissenschaft, die keine anderen Methoden kennt als die allgemeine Geschichtswissenschaft, verfügt die Kirchengeschichte

 Volker Leppin: Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Wissenschaften (wie Anm. 14), S. 75 f.  Christoph Markschies: Arbeitsbuch Kirchengeschichte, Tübingen 1995, S. 150.  V. a. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hg.von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 16), 2 Bände, Berlin/New York 2008.

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nicht über das methodische Instrumentarium, begründete Werturteile zu fällen. Auch für sie gilt das Postulat der Wertfreiheit, das Max Weber in seinem Objektivitätsaufsatz für die Sozialwissenschaft klassisch formuliert hat: „… wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“.²⁸ Historische Befunde als solche taugen nicht zur Begründung von Geltungsansprüchen, der alte „garstige Graben“ Lessings erweist sich abermals als unüberwindbar. Was der Kirchenhistoriker tun kann, ist, gegenwärtige Gestaltungsformen des Christentums in ihrer historischen Bedingtheit transparent zu machen sowie historische Alternativen in Erinnerung zu rufen und dem status quo gegenüberzustellen. Darin – und nur darin – kann Kirchengeschichte methodisch sauber eine kritische Funktion gegenüber der Kirche und dem Christentum von heute wahrnehmen. Doch sobald es um Geltungsfragen und um Werturteile geht, ist die Kirchengeschichte als empirisches Fach nicht mehr kompetent. Dies ist vielmehr die Aufgabe der Systematischen Theologie, denn nur sie ist in der Lage, Geltungsansprüche zu begründen. Eine als historische Theologie²⁹ betriebene Systematische Theologie kann normativ und kritisch sein, die Kirchengeschichte als solche kann es nicht. Ihr wissenschaftliches Selbstverständnis und ihre methodische Verfasstheit erlegen ihr eine „epoché historica“ auf. Dieselbe „epoché“ hat der Kirchenhistoriker auch in der Beurteilung vergangener Verwirklichungsgestalten und Entwicklungen des Christentums zu üben. Im Wissen um die historische Relativität und Wandelbarkeit aller Werte erscheint es unbillig und sinnlos, Entwicklungen, Ereignisse und Personen der Vergangenheit ex post – oder, mit Raimon Panikkar zu sprechen: katachronistisch³⁰ – nach heute als gültig erachteten Maßstäben beurteilen zu wollen. Es mag sein, dass die Weltgeschichte das Weltgericht ist³¹ – doch der Geschichtsforscher ist nicht der Weltenrichter.

 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 6. Aufl. Tübingen 1985, S. 146 – 214, hier: S. 149.  Hierzu Wolfram Kinzig: Wie theologisch ist die „Historische Theologie“? (wie Anm. 14).  Der von R. Panikkar so genannte „Katachronismus“ ist der dem Anachronismus entgegengesetzte „Fall eines Irrtums der Perspektive, der dann vorliegt, wenn wir heutige Begriffe und Maßstäbe anlegen, um die Vergangenheit zu beurteilen“, Raimon Panikkar: Den Mönch in sich entdecken, München 1989, S. 39.  Friedrich Schiller: Resignation (1784/85), in: Schillers Sämtliche Werke. Säkularausgabe in 16 Bänden, Band 1, Stuttgart, Berlin 1904, S. 199.

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Gewiss kann und muss der Kirchenhistoriker urteilen. Er kann und muss Sachurteile fällen über die strukturellen Möglichkeiten und Grenzen historischer Konstellationen, über Voraussetzungen, Ursachen, Anlässe und Auswirkungen historischer Ereignisse und Entwicklungen, über Prägungen und Motive handelnder Personen, über ereignisgeschichtliche Kausalitäten und geistesgeschichtliche Zusammenhänge, über die Wechselwirkungen religiöser, geistigkultureller, sozialer und ökonomischer Faktoren, über die Angemessenheit der Mittel für die angestrebten Zwecke und auch über die Übereinstimmung historischen Handelns mit den zu seiner Zeit geltenden Normen und Werten. Doch allein mit den Methoden empirischer Geschichtsforschung, ohne einen vorgängigen normativen Begriff vom Wesen des Christentums, ist es unmöglich, auf Grund historischer Befunde aktuelle Geltungsansprüche oder retrospektive Werturteile zu formulieren. An diesem Punkt besteht eine fundamentale Differenz zwischen der Kirchengeschichte, wie ich sie verstehe, und einer Historischen Theologie im Sinne von Troeltsch.

5 Die positionelle Perspektivität der Kirchengeschichte Wenn die mit der Theologizität des Faches gesetzte Positionalität der Kirchengeschichte nicht im Sinne von Normativität und ihre kritische Funktion nicht im Sinne der Formulierung von Werturteilen zu verstehen ist – wie sonst? Ich plädiere dafür, die Positionalität der Kirchengeschichte schlicht im Sinne von Perspektivität zu verstehen. Ohne den grundsätzlichen Methodenkonsens mit der allgemeinen Geschichtswissenschaft preiszugeben, setzt sie sich in ihrer praktischen Arbeit damit deutlich – und für Profanhistoriker mitunter irritierend – von dieser ab. Vorweg sei bemerkt, dass die folgenden Ausführungen nur für die Kirchengeschichte im Vollzug ihrer theologischen Funktion gelten. In ihrer allgemeinwissenschaftlichen Funktion, als Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft, kann und muss sie selbstverständlich auch ohne positionelle Perspektivierung allein nach wissenschaftsimmanenten Prinzipien betrieben werden. Praktisch bedeutet das, dass kirchengeschichtliche Forschung die Geschichte des Christentums in ihrer ganzen Breite und Tiefe mit verschiedensten Fragestellungen und Erkenntnisinteressen bearbeitet. In der Lehre im Rahmen des theologischen Studiums – also in ihrer spezifisch theologischen Funktion – muss sie hingegen bestimmte Schwerpunkte setzen.

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Eine dem Professions- und Konfessionsbezug der Theologie verpflichtete theologische Kirchengeschichtsschreibung bewegt sich nicht in der Schwerelosigkeit des unendlichen Universums der Allgemeingeschichte, wo es keinen bevorzugten Standort und keine ausgezeichnete Vorzugsrichtung, kein „oben“ und „unten“, „links“ und „rechts“ gibt und wo der Betrachter insofern befähigt und genötigt ist, immer wieder neue Standpunkte einzunehmen.Vielmehr ist sie durch ihre institutionelle Ausgestaltung ins Schwerefeld der professionsbezogenen, konfessionellen Positionalität gestellt. Sie steht daher von vorneherein auf einem bestimmten, privilegierten Standort, von dem aus sie ihre Beobachtungen anstellt und ihre Nähe oder Ferne zu den Erscheinungen bemisst. Eine theologische Kirchengeschichtsschreibung ist nicht frei, immer neue, wechselnde „SehePunckte“ (Chladenius)³² zu wählen, ihre Perspektive auf die Geschichte ist vielmehr durch ihren Zweck – die Zurüstung zu einer theologischen Profession unter den Bedingungen evangelischen Christentums hier und heute – vorgegeben. Es gilt, die Entwicklung des Christentums bis hin zu seiner derzeitigen Gestalt historisch nachvollziehbar und verstehbar werden zu lassen und insofern einem legitimen Gegenwartsinteresse zu dienen. In der Praxis wird dies auf eine spezifische thematische Konzentration hinauslaufen. So wird an einer evangelischtheologischen Fakultät in Deutschland der geographische Schwerpunkt der Kirchengeschichte in der Neuzeit auf die europäischen und deutschen Entwicklungen, der konfessionelle Schwerpunkt auf die evangelischen Landeskirchen zu legen sein. In einer Zeit, in der man sich in der Geschichtswissenschaft um die Überwindung des Eurozentrismus, eine postkoloniale Öffnung und die Wahrnehmung globalgeschichtlicher Perspektiven bemüht, mag dies befremdlich und anachronistisch erscheinen. Aber es handelt sich nicht um einen bornierten oder chauvinistischen, sondern um einen rein pragmatischen Eurozentrismus. Für die Zwecke der angehenden Vertreter einer theologischen Profession ist, anders als für speziell wissenschaftlich Interessierte, eben nicht alles Wissbare aus dem Gesamtgebiet der Kirchengeschichte von Belang, sondern in erster Linie dasjenige, was zum Verständnis der historischen Genese der eigenen christlichen Tradition erforderlich ist. In einer zunehmend globalisierten Gesellschaft werden dazu zunehmend auch Grundkenntnisse der Christentumsgeschichte anderer geographischer Räume gehören, doch der Schwerpunkt wird vorerst weiterhin das europäische Christentum und näherhin der landeskirchliche Protestantismus in Deutschland mitsamt seiner Vorgeschichte sein müssen. Selbstverständlich darf Kirchengeschichte in anderen Ländern, anderen Kulturräumen und anderen re-

 Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742, S. 187 ff.

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ligiös-kirchlichen Verhältnissen keinesfalls eurozentrisch betrieben werden, sondern muss, den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, spezifisch anders perspektiviert werden, muss also je nachdem z. B. afro- oder asiozentrisch sein. Diese Art einer zweck- und gegenwartsgeleiteten Perspektivierung ist notwendig teleologisch, und damit setzt sie sich naheliegender Kritik aus der Allgemeingeschichte aus. Tatsächlich liegt hier eine Gefahr, derer man sich bewusst sein muss. Wie jede „present-centered history“ kann eine so betriebene Kirchengeschichte den Anschein eines historischen Determinismus erwecken – so, als sei die geschichtliche Entwicklung notwendig auf die gegenwärtigen Verhältnisse zugelaufen, wodurch diese historisch legitimiert und gegen Kritik immunisiert scheinen. Zugleich können dabei leicht jene historischen Strukturen, Kräfte und Akteure unter den Tisch fallen, die nicht in die unmittelbare Genealogie der Gegenwart gehören, auch wenn sie für ihre eigene Epoche oder ihren eigenen Kulturraum erhebliche Bedeutung gehabt haben mögen und respektable und bedenkenswerte Alternativen zur tatsächlichen Entwicklung darstellen. Dem gilt es sorgsam entgegenzuwirken. Immer muss deutlich bleiben, dass die historische Entwicklung und ihre Ergebnisse kontingent sind, dass die gegenwärtige Gestalt evangelischen Christentums historisch bedingt ist und sich weiter verändern wird und verändern lassen muss. Die positionelle Perspektivierung der Kirchengeschichte im Vollzug ihrer theologischen Funktion erschöpft sich nun aber nicht in der Stoffauswahl, sondern stellt das Fach vor eine kreative Aufgabe besonderer Art: die Konstruktion einer eigenen Geschichtserzählung für evangelische Theologinnen und Theologen, die dazu befähigen soll, die Gegenwartsgestalt evangelisch-landeskirchlichen Christentums in ihrer historischen Genese und Bedingtheit verstehbar zu machen. Eine theologische Kirchengeschichte muss kreativ, mit narrativen Mitteln, die Kreativität des Christentums insgesamt einholen. Sie muss aus isolierten antiquarischen Wissensbeständen deutend und interpretierend einen Verstehenszusammenhang herstellen, eine „große Geschichte“ erzählen, die plausibel erklärt, auf welchen Wegen und aus welchen Gründen aus der Jesusbewegung im Palästina des 1. Jahrhunderts die heutige Gestalt evangelischchristlichen Glaubens und Lebens im Deutschland und Europa des 21. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Ein eindrucksvolles Beispiel einer solchen Erzählung hat nicht zuletzt Troeltsch mit seinen „Soziallehren“ gegeben.³³ Nun sind in der Geschichtswissenschaft mit der Abwendung vom Historismus und in Reaktion auf die kommunistischen und faschistischen Großerzählungen sowie vollends unter dem Eindruck postmoderner und sogenannter revisio-

 Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 1).

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nistischer Ansätze die „großen Erzählungen“ oder „master narratives“ insgesamt in Verruf gekommen.³⁴ Neben den großen Narrativen der Nationalgeschichtsschreibungen, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert etabliert hatten, waren davon auch die verschiedenen Spielarten von Modernisierungstheorien älterer wie neuerer Provenienz betroffen, die nun als Konstrukte erkannt und unter Ideologieverdacht gestellt wurden. Andererseits ist jede Art von Geschichtsschreibung notwendig Konstruktion. Im Zuge des „linguistic turn“ kam es zu einer Wiederentdeckung der Narrativität und ihrer Bedeutung für die Historiographie. Insbesondere Hayden White konnte nachweisen, dass Geschichtsschreibung sich zwangsläufig immer literarischer Erzählstrategien bedienen muss. Dass Erzählungen und auch „große Erzählungen“ zum historischen Handwerk gehören, ist heute weithin anerkannt.³⁵ Ohne Meistererzählungen ist Geschichtsschreibung schlechterdings nicht möglich. Ein Zurück zur Dominanz einiger weniger hegemonialer Erzählungen kann es freilich nicht geben. „Was wir brauchen, sind tatsächlich viele Geschichtserzählungen […] Was wir nicht brauchen, ist die Dominanz einer einzigen Meistererzählung“.³⁶ In diesem Sinne erscheint es auch legitim, eine große Geschichtserzählung zu konstruieren, die evangelischen Theologinnen und Theologen ein historisches Verständnis der gegenwärtigen Gestalt evangelischen Christentums eröffnet. Um wissenschaftlich verantwortbar zu sein, muss sich eine derartige Geschichtserzählung freilich ihres Konstruktionscharakters bewusst bleiben, d. h. ihre Relativität und prinzipielle Revidierbarkeit und Revisionsbedürftigkeit eingestehen und sich vorbehaltlos der Ideologiekritik aussetzen. Zugleich muss sie ihre Standortgebundenheit und Partikularität und das daraus folgende Recht beliebig vieler konkurrierender Erzählungen anerkennen.

6 Fazit Der antihistoristische Impuls der Dialektischen Theologie führte nicht nur zu einer Enthistorisierung der Systematischen Theologie, sondern auch zur Desavouierung der Kirchengeschichte als vermeintlich nicht-theologischer Disziplin.

 Steven Ellis: Revisionismus, in: Joachim Eibach u. a. (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 20), S. 342– 354; Gabriel Motzkin: Das Ende der Meistererzählungen, ebd., S. 371– 387.  Marcus Sandl: Geschichte und Postmoderne, in: Joachim Eibach u. a. (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 20), S. 339 f.; Gérard Noiriel: Die Wiederkehr der Narrativität, ebd., S. 355 – 370; Gabriel Motzkin: Das Ende der Meistererzählungen (wie Anm. 33), S. 378 f.  Steven Ellis: Revisionismus (wie Anm. 33), S. 354.

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Die Versuche einer Retheologisierung der Kirchengeschichte und die apologetisch bestimmten Debatten über ihre Theologizität wirken als eine belastende Hypothek der jüngeren Theologiegeschichte bis in die Gegenwart nach. Die vorstehenden Äußerungen plädieren demgegenüber für einen „schwachen“ Begriff der Theologizität der Kirchengeschichte. Als theologisches Fach hat sie, dem konstitutiven Professionsbezug der Theologie als ganzer entsprechend, eine perspektivierte Geschichtserzählung zu entwickeln, die evangelischen Theologinnen und Theologen die gegenwärtige Gestalt evangelischen Christentums in ihrem Wirkungsbereich aus ihrer Genese heraus verständlich macht. Darüber hinaus kommt ihr eine wie auch immer geartete normative Funktion nicht zu. Geltungsansprüche begründen kann die Kirchengeschichte mit ihren Mitteln nicht, das ist Aufgabe der Systematischen Theologie.

Andreas Kubik

Religionstheorie und Religionsproduktivität Am Beispiel der Reformpädagogen Hermann Lietz und Gustav Wyneken Nach Ernst Troeltsch ist eine spezielle Ausprägung der Kreativität des Christentums darin zu sehen, dass es sich über seine Anfangsgestalt hinaus zum einen als Religionskultur immer wieder erneuert hat: Es ist „ja selbst nichts Starres und Unwandelbares, sondern die Triebkraft einer reichen Entwicklung“.¹ Ebenso charakteristisch ist aber, dass es zum anderen über sich selbst als religiöse Größe im engeren Sinne hinausdrängt und Gehalte von sich im Prozess der Ausdifferenzierung den autonomen Kultursphären zur Verfügung stellt. Dabei kommt es freilich immer wieder zur „Umbildung der christlichen Ideenwelt“;² einer historischen Betrachtung bleiben die Zusammenhänge dennoch nicht verborgen. Zu Troeltschs großen Lebensthemen gehört nicht nur die Frage nach der Selbständigkeit der Religion und relativen Höchstgeltung des Christentums, sondern auch die Frage der „Kulturbedeutung“³ des Christentums im Allgemeinen und des Protestantismus im Besonderen. Da kommen dann Wirkungen in den Blick, die nicht oder zumindest nicht auf den ersten Blick als christlich oder religiös erkennbar sind: In Wirtschaft, Politik, Literatur und in vielen anderen Bereichen des modernen Lebens lassen sich Unterströmungen eines christlichen Einflusses aufzeigen, sodass eine moderne Kulturphilosophie zugleich eine historische Kulturhermeneutik des Christentums darstellt.⁴ An dieser Stelle möchte ich einsetzen und eine ganz spezifische Kulturwirkung des neuzeitlichen Christentums betrachten, nämlich die etwa zeitgleich

Widmung: Michael Murrmann-Kahl zum 60. Geburtstag  Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (1895/96), in: ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888 – 1902), hg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid, Berlin/New York 2009 (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Band 1), S. 364– 535, hier: S. 533.  Ebd., S. 526.  Ernst Troeltsch: Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur. Ueberblick (1913), in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 4, hg. von Hans Baron, Tübingen 1925, ND Aalen 1966, S. 191‒202, hier: S. 191.  Christian Albrecht: Protestantische Identität in moderner Lebenskultur. Der Ort des Religiösen in einer kulturbezogenen Hermeneutik, in: Reiner Anselm u. a. (Hg.): Die Kunst des Auslegens. Zur Hermeneutik des Christentums in der Kultur der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1999, S. 201– 223. https://doi.org/10.1515/9783110733075-009

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entstehende Religionstheorie. Die spezifisch neuzeitliche Auffassung von ‚Religion‘, ihrem Wesen und ihrer Erscheinung nach, „ist in ihren Grundzügen selbst ein Erzeugnis der modernen wissenschaftlichen Bewegung und war vorher völlig unbekannt.“⁵ Von der Aufwertung der religio naturalis in der englischen Frühaufklärung bis zur neuidealistisch grundierten, zugleich aber religionswissenschaftlich belehrten Religionstheorie seiner Zeitgenossen spannt Troeltsch den Bogen, um bei diesem Zwischenergebnis zu landen: „Die Religion ist ein einheitliches Phänomen, das im Zusammenhang mit dem geistigen Gesamtleben, aber nach eigenen Gesetzen sich bewegt, das allen anderen Lebensgebieten gegenüber eine relative Selbständigkeit behauptet“.⁶ Es geht mir also im Folgenden weniger um die Entwicklung der modernen Religion, welche eine kulturwissenschaftlich orientierte Religionstheorie versuchen würde zu begreifen,⁷ sondern um die ‚Kulturbedeutung‘ (im Troeltsch’schen Sinne) der Religionstheorie selbst. Bevor wir zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand kommen, müssen wir deshalb noch einen kleinen Umweg durch das Unterholz der neuzeitlichen Religionstheorie nehmen.

1 Religionsbegriff und Religionstheorie Über „Religion“ wird zwar schon seit der Antike nachgedacht, doch man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Entstehung der neuzeitlichen Religionstheorie die spezifische Situation eben dieser Neuzeit selbst voraussetzt: Die eigentliche Geburt des Religionsbegriffs „fällt in die Epoche der europäischen Aufklärung“.⁸ So beginnen bereits damals christliche Theoretiker das Christentum als eine „Religion“ zu konstruieren und damit in eine Reihe neben andere „Religionen“ zu stellen, mit denen es also in mancherlei Hinsicht auf einer Ebene steht, über die es andererseits aber in der Regel auch hinausragt. Wir brauchen dies an dieser

 Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (wie Anm. 1), S. 367.  Ebd., S. 371.  Die spezifisch moderne Religion zu begreifen ist eine ebenso würdige wie nach wie vor nicht wirklich gelöste Aufgabe, zu der Troeltsch vor allem in seinen Rezensionen namhafte Beiträge geleistet hat; Maren Bienert: Protestantische Selbstverortung. Die Rezensionen Ernst Troeltschs, Berlin/Boston 2014 (Troeltsch-Studien, N.F., Band 5), S. 92– 155. Zur Schlüsselstellung der Zeit um 1900 einleitend Claus-Dieter Osthövener: Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne, in: Andreas Kubik (Hg.): Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge, Göttingen 2011 (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, Band 66), S. 133 – 152.  Ulrich Barth: Religion in der europäischen Aufklärung. England, Frankreich, Deutschland, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, S. 77– 96, hier: S. 95.

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Stelle nicht zu vertiefen;⁹ für unsere Zwecke genügen hier folgende Merkmale, die – denke ich – jede neuzeitliche Religionstheorie in der einen oder anderen Weise zeigen: dass erstens mit einem allgemeinen Religionsbegriff gearbeitet wird, der nicht mit dem Christentum identisch ist, von diesem aber gleichwohl erfüllt wird; häufig, wenn auch nicht immer, läuft es dabei auf eine Bestimmung des ‚Wesens‘ der Religion hinaus. Hieraus folgt, dass zweitens anderen „Religionen“ von vornherein zumindest ein partielles Legitimitätsmoment innewohnt, sodass drittens die Frage des Verhältnisses der „Religionen“ untereinander auf irgendeine Art zu thematisieren ist. Diese drei Merkmale verschärfen sich noch einmal, wenn die Religionstheorie sich unter ein im strengen Sinne religionsgeschichtliches Paradigma stellt, wie es zu Troeltschs Zeit ja bereits der Fall ist.¹⁰ Es gehört zum Hauptsatz einer aufgeklärt-protestantischen Theologie, dass die Religionstheorie von der Religion, die sie zu begreifen versucht, streng zu unterscheiden ist. Diesem Hauptsatz ist nun einerseits zuzustimmen. Andererseits hat die theoretische Debatte um den Religionsbegriff unter strukturalistischen und postkolonialen Paradigmen darauf aufmerksam gemacht, wie sehr der neuzeitliche Religionsbegriff seinerseits christlich eingefärbt ist, sowohl hinsichtlich der Auswahl der betrachteten Phänomene wie hinsichtlich seiner Vereinheitlichungstendenzen als auch schließlich hinsichtlich seiner normativen Implikationen.¹¹ Auch in Troeltschs früherer Religionsstudie überlagert sich ja die Frage der Irreduzibilität der Religion sogleich mit Fragen der Religionshermeneutik einerseits, mit der Frage nach der – relativen – Höchstgeltung des Christentums andererseits.¹² Als „Religion“ erscheint in der Regel, was christlich geprägte Religionsforscher*innen so wahrnehmen. Ich gehe auf die sich damit verbindenden intrikaten Probleme hier nicht weiter ein;¹³ dieser Umstand bildet aber die Brücke für die folgenden Überlegungen.

 Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986; Ernst Feil: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs, 4 Bände, Göttingen 1986 – 2007.  Der Frage der Religionsgeschichte ist der dritte Teil des großen Selbständigkeits-Aufsatzes von Troeltsch gewidmet, dessen Perspektivreichtum bis heute kaum abgearbeitet zu sein scheint; einleitend etwa Norbert Witsch: Glaubensorientierung in „nachdogmatischer Zeit“. Ernst Troeltschs Überlegungen zu einer Wesensbestimmung des Christentums, Paderborn 1997, S. 64– 82.  In aller Kürze etwa nur Gregor Ahn: Art. Religion I. Religionswissenschaftlich, in: Theologische Realenenzyklopädie Band 28 (1997), S. 519 f.  Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (wie Anm. 1), S. 365 – 382. Zu den Problemen, die Troeltsch sich damit einhandelt Michael Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880 – 1920, Gütersloh 1992, S. 353 – 364 und S. 386 – 408.  Damit will ich nicht gesagt haben, dass die Suche nach einem allgemeinen Religionsbegriff grundsätzlich überflüssig ist; man muss aber jederzeit überlegen, wozu er eigentlich dienen soll.

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Die These, die ich im Folgenden zunächst probeweise vorstellen möchte, lautet etwa so: Die neuzeitliche Religionstheorie erzeugt – entgegen der Grundintuition des soeben referierten ‚Hauptsatzes‘ über die Trennung von Religion und Religionstheorie – über die Aufstellung eines allgemeinen Religionsbegriffs langfristig selbst eine eigentümliche Religionsproduktivität. Sie bedingt also eine „Religion“, die immer noch von ihrer theoretischen Erfassung unterschieden, zugleich aber in ihrem Auftreten nicht ohne den Umweg über eine allgemeine Religionstheorie gedacht werden kann. Kürzer gesagt: Es scheint in der Moderne eine „religiöse Praxis“ zu entstehen, welche in ihrer Entstehung direkt durch die neuzeitliche Religionstheorie bedingt ist. Wenn die These richtig ist und zugleich die christliche Herkunft des neuzeitlichen allgemeinen Religionsbegriffs eingeräumt werden muss, dann würde zur Kreativität des Christentums religiöse Praxis gehören, welche sich nicht mehr – oder nur noch im allerweitesten Sinne – als christlich, wohl aber als „religiös“ in Anführungsstrichen begreift und schließlich sogar noch – das wird zu zeigen sein – über die Selbsterfassung als „religiös“ hinaustreibt. Als Fallbeispiele greife ich auf zwei namhafte Vertreter der frühen Reformpädagogik zurück.¹⁴ Ich tue dies nicht, weil sie – der Herkunft nach protestantische liberale Theologen – religionstheoretisch besonders originell gewesen wären. Eher im Gegenteil; sie dürften in ihrem grundsätzlichen religionstheoretischen Denken eher so etwas wie den landläufigen liberal-protestantischen Konsens, für den sie stehen, repräsentieren, was sie an dieser Stelle vor allem exemplarisch interessant macht. Die Reformpädagogik ist aber aus folgendem Grund ein herausgehobener Kandidat für die Untersuchung: Diese Religionstheoretiker waren zugleich auch Praktiker, sie haben als Schulleiter über die Art ihres Religionsunterrichts und die Gestaltung des jeweiligen Schullebens ihre Gedanken über Religion auch praktisch werden lassen, und zwar in einem vom kirchlichen Christentum diskursiv völlig unbeeinflussten Rahmen.¹⁵ Hier kann mithin die Religionsproduktivät der Religionstheorie gleichsam unter abstrakten Laborbedingungen betrachtet werden. Was sie dabei unter „Religion“ verstanden haben und wie diese methodisch anzusteuern war, ist nunmehr zur untersuchen. Ich werde deshalb im Folgenden „Religion“ immer in Anführungszeichen schreiben, um klar zu machen, dass zunächst immer nur das Religionsverständnis von Lietz und Wyneken gemeint ist.

 Weitere könnten hier genannt werden; etwa die – in Teilen etwas distanzlose – Darstellung von Barbara Hanusa: Die religiöse Dimension der Reformpädagogik Paul Geheebs. Die Frage nach der Religion in der Reformpädagogik, Leipzig 2006.  Ihre Selbststilisierung ging dabei häufig weit über die eines Schulleiters hinaus; Jürgen Oelkers: Eros und Lichtgestalten. Die Gurus der Landerziehungsheime, in: Patrick Bühler u. a. (Hg.): Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren, Bern 2013, S. 121– 155.

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2 Die Religionsproduktivität einer auf „Religion“ zielenden Erziehung Ich betrachte hier einmal Hermann Lietz, den Gründer und Leiter der so genannten Deutschen Landerziehungsheime, die zum Teil bis heute bestehen, und ferner Gustav Wyneken, den Gründer und zeitweiligen Leiter der „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“, welche sich ebenfalls als langlebig erwies und erst nach der Wende abgewickelt wurde. Dabei geht es mir nicht um das reformpädagogische Anliegen als solches. Die Meriten, aber auch die Abgründe der reformpädagogischen Experimente wurden in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Gerade die hier behandelten Gründerfiguren sind in hohem Maße von der sich zeigenden Ambivalenz betroffen;¹⁶ bei beiden zeigt sich ein schwer zu durchdringendes Gemisch von mitunter genialer pädagogischer Intuition und stümperhafter, dabei autokratischer Umsetzung.¹⁷ Ich betrachte sie hier ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Theorie und Praxis ihrer religiösen Erziehung. Das Interesse ist dabei ein doppeltes: Die Reformpädagogik ist zum einen Teil der neureligiösen Explosion der Jahrhundertwende um 1900.¹⁸ Sie hat zum anderen Teil an dem religionspädagogischen Reformdiskurs, der gerade um 1900 herum in einer beispiellosen Intensität geführt wurde und die Debatte bis heute inspirieren kann.

 Insbesondere Jürgen Oelkers hat sich daran gemacht, mit dem Mythos Reformpädagogik kräftig aufzuräumen; zuletzt Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim 2011. So unverzichtbar diese kritische Perspektive ist und immer mehr wird, Oelkers‘ Stellungnahmen kranken doch etwas daran, dass durch sie zumindest der ideelle Erfolg der Reformpädagogik letztlich unerklärbar bleibt. Die Gründerfiguren waren ohne Zweifel begabte Blender; allein, man muss auch etwas haben, womit man blenden kann. Einen breit angelegten Versuch der Rettung zumindest der Themen unternimmt Andreas Flitner: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts, 4. Aufl., Weinheim 2010.  Paul Baumann: Berthold Otto. Der Mann – die Zeit – das Werk – das Vermächtnis, 3. Buch, Berlin 1959, bezeichnet Lietz und vor allem Wyneken jeweils als pädagogischen „Diktator“ (S. 46); er meint es allerdings wertfrei in dem Sinne, dass es eben doch immer darauf ankäme, wie die „Tyrannis“ (ebd.) umgesetzt werde.  Meike Sophie Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim 2005. – Bezüglich der Frage der Ableitung dieser Explosion Fritz Osterwalder: Der Erzieher als nationaler Prophet. Nation, Seele, Kind und Entwicklung – liberale Theologie als Kontext deutscher Reformpädagogik, in: Tobias Rülcker, Jürgen Oelkers (Hg.): Politische Reformpädagogik, Frankfurt a. M. 1998: Die „sogenannten ‚Nietzscheanischen Religionen [sind] Varianten des Grundmodells der liberalen Theologie.“ (S. 129, Anm. 7.) Mag dies so apodiktisch auch etwas über’s Ziel hinausschießen, so kann die Bedeutung des liberalen Christentums des 19. Jahrhunderts für die Religionsgeschichte um 1900 doch wohl kaum überschätzt werden.

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2.1 Hermann Lietz Hermann Lietz wurde 1868 als Sohn eines Landwirts geboren und studierte Theologie, Geschichte, Philosophie und Literatur in Halle, wo er später bei Rudolf Eucken promoviert wurde.¹⁹ Eine Laufbahn als Pfarrer – und dem Vernehmen nach auch als freireligiöser Prediger²⁰ – stand im Raum, aber Lietz entschied sich für das pädagogische Fach. Er gehörte zunächst zu der Jenaer pädagogischen Konstellation und lehrte früh an der Universitätsübungsschule unter der Oberleitung von Wilhelm Rein. Lietz hatte seine Wurzeln, wie eine ganze Reihe von Reformpädagogen, in der ‚liberalen‘ Religiosität des aufgeklärten Bürgertums. Sie bleibt – in einer charakteristischen Variation – auch für sein pädagogisches Denken und Wirken bestimmend. In frühen Texten begegnet uns Lietz, wenn man so will, als ganz normaler liberaler, evangelisch-sozialer Theologe des späten 19. Jahrhunderts, erfüllt von aufgeklärtem Wissen, historischem Bewusstsein und von einer unerschütterlichen Sicherheit, dass eine Kern-Schale-Trennung dazu in der Lage sein müsste, das „wahre Christentum“²¹ (S. 47) bzw. „das Gute und Bleibende“ (ebd.) an ihm herauszustellen, welches dann weiterhin der einzige ernstlich in Frage kommende Kandidat für eine religiöse Leitkultur ist. Der Religionsbegriff ist noch nicht prominent, er begegnet aber auf charakteristische Weise schon in Wendungen wie diesen: Ohne aufgeklärte Bibelkritik beispielsweise sei es nur zu verständlich, dass manche „mit der Bibel sofort auch das Christentum und die Religion überhaupt verwerfe.“ (S. 37) „Religion überhaupt“ ist zwar nicht mit dem Christentum identisch, aber taucht in der zitierten Frühschrift von Lietz zunächst nur mit diesem gemeinsam auf. Das Christentum zu verwerfen müsste noch nicht notwendig dazu führen, die „Religion überhaupt“ zu verwerfen, faktisch aber kommt eben doch nur das Christentum als Erfüllung der „Religion überhaupt“ in Frage. Für die religiöse Erziehung werden konsequent die aufgeklärt-protestantischen Prinzipien der „Selbständigkeit“, „Urteilsfähigkeit“ und „Mündigkeit“ (S. 42) aufgerufen. Ganz der liberalen Religionspädagogik entspricht es auch, wenn hinsichtlich der Substanz des Glaubens dargetan wird, der Lehrer müsse selbst

 Zur Biographie Ralf Koerrenz: Hermann Lietz. Grenzgänger zwischen Theologie und Pädagogik- Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1989.  Paul Baumann: Berthold Otto (wie Anm. 17), S. 27. Die Nachricht ist dort für sich nicht gut belegt, scheint mir aber stimmig mit Lietz’ Gesamtentwicklung.  Ich zitiere hier nach der Ausgabe Hermann Lietz: Protestantismus als idealistische Pädagogik. Kleine Schriften zur Religion und zum Religionsunterricht, hrsg. von Ralf Koerrenz (Pädagogische Reform in Quellen Band 14), Jena 2011. Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich im Folgenden auf diesen Band.

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von ihr „durchdrungen“ sein (S. 78), sodass durch seine anschaulichen und ergreifenden biblischen Nacherzählungen auch die Schülerinnen und Schüler „tief ergriffen werden“ (ebd.) könnten, insbesondere von der Persönlichkeit Jesu. Eine gewisse Ausweitung des religiös Infragekommenden nimmt Lietz lediglich dahingehend vor, dass er bestimmte egalitäre religiöse Praxisformen protestantischer „Sekten“ (S. 41), wie etwa die freie Aussprache der Anwesenden im Gottesdienst, nachdrücklich empfiehlt. Zum eigentlichen Reformpädagogen wurde Lietz erst durch einen Aufenthalt in der englischen Reformschule Abbotsholme unter der Leitung von Cecil Reddie. In religiöser Hinsicht ist der dortige Einfluss noch nicht wirklich erforscht,²² aber es scheint so zu sein, dass er die dortige religionspädagogische Praxis als eine organische Weiterentwicklung und Vertiefung seiner bisherigen eigenen Gedanken erfasste. Bevor er selbst als Schulgründer tätig wurde, legte er 1897 eine Art Manifest in romanartiger Form vor, in dem er sich auch über die religiöse Erziehung ausführlich äußerte. Deren Entfaltung hängt davon ab, dass der Religionsbegriff nunmehr ebenso viel tragendes Gewicht bekommt, wie der Begriff des Christentums verliert. Die Verschiebungen wirken auf den ersten Blick im liberaltheologischen Spektrum lediglich marginal, sind aber außerordentlich folgenreich. Zum ersten, „Religion“ wird ganz und gar im Inneren des Menschen loziert. Alle ihre Äußerungen in Kultus und Lehre, alle Gottesdienstformen und vor allem alle Bekenntnisse sind gegenüber dem Innenleben sekundär und relativ. Die einzige nicht-relative Weise, wie „Religion“ ins Leben tritt, ist in der Form des moralischen Handelns. „Wir wollen Religion nicht zur Sache des Mundes und des Verstandes, sondern des Herzens und Lebens erheben.“ (S. 83). Zum zweiten, die „Religion“ selbst wird von Lietz als „heilig“ (ebd.) bezeichnet. Es scheint beinahe, als sei „Religion“ etwas für sich Vorkommendes, das in seinem Für-Sich-Sein als „Herzens-, Gefühls-, Gemüts-, Willenssache“ (ebd.) ganz unabhängig bleibt von irgendwelchen historischen Religionen. „Religion“ in diesem Sinne ist etwas durchaus einheitliches, das gewissermaßen noch unterhalb des religiösen Pluralismus liegt, der – so gesehen – eigentlich ein Oberflächenphänomen darstellt. Und zum dritten, das Feld der möglichen Anlässe zum Erzeugen und Nähren von „Religion“ wird bedeutend ausgeweitet. Der Fokus auf der religiösen Persönlichkeit bleibt zwar erhalten, doch „Religion“ kann auch in der Beschäftigung mit

 Einleitend der Abschnitt bei Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung, 2. Aufl., München 2010, ND Berlin 2018, S. 163 – 178.

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der Literatur, der Geschichte, ja sogar mit der Natur und der Naturwissenschaft befördert werden.²³ Aus seiner Anschauung dessen, was „Religion“ für sich sei, zieht Lietz eine Reihe von Konsequenzen in Sachen der religiösen Erziehung, die er in einer eigenen Schrift und einem eigenen Lehrplanentwurf darlegt. Danach ist „Religion“ in diesem Sinne ein, wenn nicht das zentrale Ziel der Erziehung überhaupt. Der alte Anspruch des Christentums, dass der Glaube das gesamte Leben umfassen und prägen solle, den auch die liberale Theologie in gewandelter Gestalt verfocht, wird von Lietz in nochmals umgeprägter Form aufrecht erhalten. Dies impliziert zunächst, erstens, eine Absage an den Religionsunterricht herkömmlichen Stils. Abgetrennte Behandlung, pädagogische Sanktionen oder Leistungsbewertung können im Feld der Religion gar keinen Ort haben. Auch eine Trennung zwischen abprüfbaren religions- oder christentumskundlichen Kenntnissen und dem Aufbau der subjektiven „Religion“ ist nirgends möglich, wenn anders die im Unterricht verhandelten Stoffe zur persönlichen Annäherung an die „Religion“ dienen sollen. Der herkömmliche Unterricht stellt nach Lietz geradezu eine „Entheiligung […] der Religion“ (S. 83) dar. Demselben Ziel dient, zweitens, die konsequente Absage an einen dogmatischen Unterricht: Dogmen als kognitive Objektivationen zweiter Stufe sind so weit vom religiösen Innenleben entfernt, dass ihre Behandlung als Glaubenswahrheiten mit Notwendigkeit auf „Dogmatismus“ und

 Die Position Lietz‘ klingt beim ersten Hinhören nach einer Art popularisiertem Schleiermacher, und in der Tat hat sich die Reformpädagogik gelegentlich ausdrücklich auf den Kirchenvater des 19. Jahrhunderts berufen. Deshalb scheint es mir durchaus nützlich sein, durch einen kurzen Vergleich die Eigenart der Lietz’schen Position stärker herauszuarbeiten. Zum ersten, auch Schleiermacher ist der Ansicht, dass Religion zunächst eine Angelegenheit des inneren Menschen ist, die erst in einem zweiten Schritt durch Darstellung mitgeteilt wird. Aber diese Äußerungen sind keineswegs relativ, sondern gerade der Anlass für religiöse Gemeinschaftsbildung. Man sammelt sich nach Schleiermacher nicht um innere Anschauungen an sich, sondern um Arten und Weisen, wie diese nach außen treten. Hier kann erst recht keine Rede davon sein, dass die Moralität nach Schleiermacher die zentrale Äußerung der Religion wäre, da diese Ansicht bedeuten würde, das autonome Eigenrecht beider Geistessphären zu verwischen. Zum zweiten, „Religion“ ist nach Schleiermacher nichts, was für sich vorkommt, sondern es hat seine mundane Erscheinungsgestalt immer nur als konkrete, historisch entstandene Religionsgemeinschaft. Zum dritten, auch Schleiermacher ist der Meinung, dass religiöse Kontemplation sich an allen möglichen Gegenständen entzünden könnte. Gleichwohl stellt für ihn die Betrachtung der historischen Religionen selbst den Königsweg dar, auf dem das ‚Wesen der Religion‘ am besten verstanden werden kann. Von einer Gleichordnung der religiösen Anlässe kann eben so wenig Rede sein wie von einer einseitigen Reduktion der historischen Religion auf die religiöse Persönlichkeit. Eine liberale Theologie vom Schlage Hermann Lietz‘ mag in einer Fernoptik zur Schleiermacherschen Richtung gehören; bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch bedeutende Differenzen.

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„Ketzterrichterei“ (S. 89) hinauslaufen muss. Danach ist auch klar, dass – drittens – eine Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach ihrer Herkunftsreligion nicht statthaben darf und nicht stattzuhaben braucht, da es nicht um die Beförderung der Ausbildung einer inhaltlich bestimmten religiösen Identität – als Jude, Katholikin, Protestant usw. – geht, sondern darum, von „Religion“ durchdrungen zu sein. Das alles bedeutet nicht, dass auf einen inhaltlichen Religionsunterricht verzichtet würde. Im Gegenteil. Die Stoffe werden aber allesamt dem Kriterium der Förderlichkeit für „Religion“ unterworfen. Daraus folgt zum einen eine Reduktion des alttestamentlichen Stoffs; weite Teile des AT sind nach Lietz religiös nicht „wertvoll[ ]“ (S. 91); das eigentlich Erbauende am AT sieht er in der Religiosität der Propheten.²⁴ Und zum anderen bedeutet es, auch Inhalte außerhalb des christlichen biblischen und kirchengeschichtlichen Kanons zu thematisieren. Der Unterricht wird je länger je mehr zum „religionsgeschichtliche[n] Unterricht“ (S. 102): nicht im Sinne einer objektivierenden Abstandnahme, sondern im Sinne einer lebendigen Durchmusterung nach Spuren der „Religion“ im gesamten religiösen und kulturellen Erbe der Menschheit. Diese Ausweitung wirft freilich noch einmal die Frage auf, ob es nicht dennoch auch einen kognitiven Einheitspunkt der „Religion“ abgibt. Dieser kann, wie gesehen, nicht in den Lehren oder Bekenntnissen bestimmter religiöser Gemeinschaften liegen. Das, worin die Religionen und Kulturen aber übereinkommen, das sind die „grossen sittlichen Fragen“ (S. 89). Die Antworten auf diese Fragen bleiben gänzlich relativ und bilden gerade in ihrer jeweiligen Relativität eine Art Blumenstrauß für gedankliche Anregung: Der „grössere[ ] Reichtum verschiedenartiger Gedanken“ bildet einen didaktischen „Vorzug“ (ebd.), weil gerade hier die Eigenart der „Religion“ in der Vielfalt der Gedankenbildungen aufscheint: Man lenkt das Gemüt „von dem trennenden Kleinen auf das allen Edeln gemeinsam Grosse“ (ebd.). Religiöse Erziehung spielt sich also in eine Art Ellipse um zwei Brennpunkte herum ab: die sittlich-religiöse Persönlichkeit ei Insgesamt kann man sagen, dass die liberale „Religion“ der Innerlichkeit strukturell mit einem religiösen Antijudaismus zu kämpfen hat, und Lietz macht keine Ausnahme; Erich Meissner: Asketische Erziehung. Hermann Lietz und seine Pädagogik – ein Versuch kritischer Überprüfung, Weinheim 1965, S. 63 – 70. Wie ambivalent die Dinge hier gleichwohl stehen, erkennt man an Meissners Bericht, dass sich Lietz‘ eigene religiöse Prägung weit mehr den alttestamentlichen Propheten als der Person Jesu verdanke: „Lietzschüler gewannen, sofern sie nicht auf ihren Ohren saßen, eine bleibende Beziehung zum Alten Testament.“ (S. 87, Anm. 1). Zur Frage der religionspädagogischen Auslegung des Alten Testaments in der Geschichte des aufgeklärten Protestantismus einleitend Michael Fricke: ‚Schwierige‘ Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, Göttingen 2005, S. 43 – 54.

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nerseits und die großen sittlichen Fragen mit ihren relativen Antworten andererseits. Allerdings ist es mit der Auswahl geeigneter Stoffe noch nicht getan. Mindestens ebenso entscheidend ist die Art und Weise ihrer unterrichtlichen Behandlung. Dem Charakter von „Religion“ entspricht ein Umgang ohne „Spott“ (S. 85); ohne Abwertung nähert man sich ihm mit dem Ziel, immer „ernster, gewissenhafter, ehrfurchtsvoller, bescheidener“ (S. 89) zu werden. Gefragt ist eine Haltung des grundsätzlichen Respekts gegenüber den religiösen und kulturellen Erzeugnissen in Geschichte und Gegenwart – freilich jedoch bloß gegenüber den zuvor als ‚wertvoll‘ etikettierten Stoffen. Konkret setzt sich die Ellipse in der didaktischen Orientierung an den ‚großen Persönlichkeiten‘ der Religionsgeschichte um, gemäß der Idee, dass sich „Religion“ überhaupt in der religiösen Persönlichkeit verwirkliche.²⁵ Lietz entwickelt hier etwas, das man heute als Vorbilddidaktik bzw. Lernen an Biografien bezeichnen würde: Man unterrichtet nicht über Reformation, sondern über Leben und Kämpfe Martin Luthers, nicht über Prophetismus, sondern über die Person Jeremias usw. Bis hierhin befindet sich Lietz noch in weitgehender Übereinstimmung mit dem Hauptstrom der liberalen Religionspädagogik um 1900. Jedoch kann sich aus seiner Sicht der religiöse Unterricht nicht in der – wie immer respektvollen und religionssensiblen – Erschließung schriftlicher Zeugnisse erschöpfen. Stattdessen baut er Methoden, welche in der frühen Reformpädagogik ohnehin beliebt waren, in den religiösen Unterricht ein. Hier sind insbesondere zwei zu nennen: Zum einen propagiert Lietz angeleitete Wanderungen „zum Wasser, Gebirge, in den Wald, unter dem Sternenhimmel“ (S. 83), welche ausdrücklich mit einer religiösen Zielsetzung unternommen werden. Das gemeinschaftliche Naturerlebnis, gepaart mit der Körpererfahrung des Wanderns bildet hier ein religionstreibendes Gemisch, was mit der entsprechenden hermeneutischen Voreinstellung – Achtung, liebe Kinder, jetzt geht’s um „Religion“ – zentrale Bedeutung für die religiöse Erziehung hat. Zum zweiten praktiziert Lietz mit den Schülerinnen und Schülern Naturmeditationen „in stillen, vertraulichen Frühmorgen- oder Abendstunden“ (S. 84), bei denen gerade das Verweilen am Ort und die Betrachtung etwa eines Sonnenauf- oder Untergangs, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Psalmenverses oder dergleichen, das gewünschte „religiöse“ Erleben hervorrufen soll.

 Zur Bedeutung dieses Stichworts im liberal-theologischen Spektrum Michael Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte (wie Anm. 12), S. 481– 491; Friedrich Wilhelm Graf: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 103 – 131.

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Das Gesamtziel der sittlich-religiösen Erziehung freilich kann auch ein methodisch erweiterter Religionsunterricht allein nicht erreichen. Hier greift die Ausgestaltung von „Religion“ im Schulleben. Lietz greift die englische Tradition der morning bzw. evening prayers auf, die er in Abbotsholme vermutlich schon in umgeprägter Form vorgefunden hat und baut sie verbindlich in den Ablauf der Landerziehungsheime ein, wobei er sie deutlich von der kirchlichen Schulandacht der deutschen Regelschule abrückt. „Bei diesen wird morgens ein kurzes Stück der Bibel, eine Art Tageslosung, vorgelesen und eine Liedstrophe gesungen; abends wird irgend etwas aus dem großen Gebiet der Litteratur vorgelesen, durch das besonders Gemüt und Wille der Kinder angeregt werden können, und es wird ein Volkslied, ein Lied sittlich-religiösen Inhalts gesungen […] Nichttheologische Litteratur der verschiedensten Art wird von uns benutzt“ (S. 87). Dabei scheint das heterodoxe Moment im Lauf der Jahre zugenommen zu haben (die Liste auf S. 101). Auch eine Art Liturgie wird nicht vernachlässigt: Lietz weist auf „[s]timmungsvolle Musik, die Ausstattung des Raumes, die Art der Vorträge hin“ (ebd.). Nicht wöchentlich, aber doch regelmäßig findet darüber hinaus eine Art Schulgottesdienst statt, mit Ansprachen des Leiters, die durchaus nicht nur über Bibeltexte reflektieren, sondern ebenso auf Platon beruhen oder gleich ganz freie Themenreden sein können. Auch hierzu ist die freie Natur ein gern gewählter Versammlungsort; zugleich ist es bezeichnend, dass das Lietz’sche Internat auch eine „Kapelle“ vorhält, die dem Vernehmen nach bereits in ihrer Architektur sich wohl an die christliche Kirche anlehnt, sich aber zugleich auch charakteristisch von ihr unterscheidet.²⁶ Angesichts dieses durchaus anspruchsvollen Programms stellt sich die Frage, wer dies eigentlich umsetzen und mit Leben füllen soll. Hier kommt der Lehrperson eine entscheidende Bedeutung zu. Diese muss zunächst die persönlichen Voraussetzungen mitbringen, um diese Rolle erfüllen zu können. Dazu gehört, von „Religion“ in diesem Sinne überzeugt zu sein und sich ihr entsprechend zu verhalten: „Wir suchen Religion nicht vorzulehren, sondern vor- und mitzuleben.“ (S. 85) Gelingt dieser vermeintlich undogmatische Unterricht mit einer entsprechenden Einstellung der Lehrkraft, dann wird der Lehrer „zum Priester der Menschheit und Gottes im wahren Sinne des Wortes“ (S. 84).²⁷ Die Lehrperson ist die exemplarische religiöse Subjektivität, sie ist darin zugleich verantwortlich, die

 Meike Sophia Baader: Erziehung als Erlösung (wie Anm. 18), S. 241– 243.  Ebd. S. 244, weist auf die äußerst problematischen Konnotationen des Begriffs „Priester“Begriffs hin. Es ist richtig, dass Lietz selber „Priester“ (S. 84) sagt. Gleichwohl ist die Rolle dieses Ausdrucks von Baader vielleicht doch etwas überinterpretiert; es ist hier wohl mehr im Sinne eines Priestertums der Gläubigen gemeint: Priester „im wahren Sinne des Wortes“ (ebd.). Lietz war, wie der liberale Protestantismus um 1900 insgesamt, streng antikatholisch eingestellt.

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Stoffe in diesem Geist zu behandeln, dass ihre „religiöse“ Innenseite für die Schülerinnen und Schüler erkennbar wird. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass im Grunde die gesamte Atmosphäre einer Schule „religiös“ geprägt sein muss. Auch der Fachunterricht muss eine zum „Religiösen“ hin offene Seite haben, wie umgekehrt die „Religion“ stets so zu entfalten ist, dass sie mit den Ergebnissen der Natur- und Geschichtswissenschaft nicht in Widerspruch geraten kann: „Wir sondern die Religion nicht von der Geschichte-, der Sprach-, und Naturkunde ab. Wir treiben sie in allen Unterrichtsgegenständen, sei es mittelbar oder unmittelbar.“ (S. 86) So stellt sich das Internat insgesamt als ein Ort dar, welcher eine konzentrierte, einheitliche Erziehung mit und zur „Religion“ garantieren soll. Der Lietz-Schüler Erich Meißner hat die Atmosphäre im Landerziehungsheim am ehesten mit einem „Orden“²⁸ verglichen. Was an Berichten über die Praxis jenseits dieser programmatischen Ausführungen bekannt ist, deutet darauf hin, dass dieses Programm mit einigen Schwierigkeiten behaftet war und weitaus kümmerlicher durchgeführt wurde, als es sich liest.²⁹ Weitere Forschung wäre an dieser Stelle nötig. Doch lassen wir dies beiseite und versuchen zunächst eine kleine Zwischenbetrachtung. Die Ausweitung der Praxis und des Stoffs, worin sich das Lietz’sche Heim von der Regelschule unterscheidet, läuft zu großen Teilen über den Religionsbegriff. Dieser Weg ermöglicht es, sich selbst den Anstrich des Undogmatischen zu geben. Die Folge ist, dass der Unterricht als ‚Religionsunterricht für alle‘ konzipiert ist, denn es geht ja nicht um eine bestimmte historische Religion, sondern um „Religion“ überhaupt. Dabei ist Lietz so ehrlich zuzugeben, dass „das deutschprotestantische Element bei weitem überwiegt.“ (S. 87) Unter den religiösen Persönlichkeiten und Vorbildern sticht Jesus noch einmal besonders heraus (S. 84 f). „Religion“ in diesem Sinne scheint mithin durchaus ihre inhaltlichen Gewichte zu haben. Der Religionsbegriff ist hier vor allem das Vehikel, eine bestimmte Auffassung von „Religion“ zu propagieren und auszubreiten. Diese Auffassung hat die historische und erkenntnistheoretische Kritik des Christentums im Rücken, aber eine Kritik an ihr selbst ist nicht vorgesehen. Dem entspricht die Stellung des Schulleiters: Letztlich ist er es, der die Entscheidungen fällt, was an der religiösen Tradition „wertvoll“ ist und deshalb wert ist in der Schule behandelt zu werden, er entwirft die Liturgien und organisiert die Feiern, er vermittelt die nähere Unterweisung in seinen predigtartigen Auslegungen, und er legt fest, dass diese „Religion“ das Ziel  Erich Meissner: Asketische Erziehung (wie Anm. 24), S. 54. Peter Baumann: Berthold Otto (wie Anm. 17), S. 32 teilt auch noch eine Kloster-Anspielung bei Lietz in den Quellen mit.  Meike Sophia Baader, Erziehung als Erlösung (wie Anm. 18), S. 239 – 249; Jürgen Oelkers: Eros und Lichtgestalten (wie Anm. 15), 144– 153.

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des noch unverstandenen Sehnens nicht nur der christlichen, sondern auch der jüdischen und konfessionslosen Schülerinnen und Schüler ist.³⁰ Das theoretische Nachdenken über das, was „Religion“ ist, hat sich hier unmittelbar in dem Entwurf neuer, wenn auch die Herkunft aus dem Christentum noch überdeutlich verratender religiöser Gestaltungen und Auffassungen niedergeschlagen. Religionswissenschaftlich ist diese Form von „Religion“ unschwer als Spielart des liberalen Protestantismus zu deuten, eine Form freilich, die sich selbst kaum noch selbst so erkennt, sondern meint, „Religion“ überhaupt darzustellen.³¹

2.2 Gustav Wyneken Wyneken ist von unseren beiden Fallbeispielen ohne Zweifel pädagogisch die noch fragwürdigere Person. Erneut soll uns dieser Zusammenhang hier aber nicht weiter interessieren. Wir konzentrieren uns ganz auf den Zusammenhang von „Religion“ und religiöser Erziehung. Wyneken war ebenso wie Lietz der Ausbildung nach Religionslehrer und zeigte sich in seinen Schriften durchaus mit allen Wassern der kritischen Theologie gewaschen. Anders als Lietz, der – wie gesehen – Jesus v. Nazareth nach wie vor als Zentrum des religiösen Unterrichts verstanden wissen wollte und insofern im weiteren Sinne als christlicher Religionspädagoge angesprochen werden könnte, hat sich der Pfarrerssohn Wyneken wohl schon während der Schulzeit dezidiert vom Christentum abgewandt. Deshalb musste der Religionsunterricht an der von ihm konzipierten „Freien Schulgemeinde Wickersdorf“ auch anders ablaufen, worauf ich gleich zurückkommen werde. Wohl konnte sich Wyneken in offizieller Position – er war 1918 für kurze Zeit ein Vorläufer Troeltschs³² als Berater des preußischen Kultusministers Konrad Haenisch³³ – eine durchaus liberal-

 In dem bei Ralf Koerrenz, Norbert Collmar (Hrsg.): Die Religion der Reformpädagogen. Ein Arbeitsbuch, Weinheim 1994, mitgeteilten Gutachten Lietz‘ (S. 43 – 46) zum Bremer religionspädagogischen Reformvorschlag antizipiert dieser Konflikte mit Eltern, die sich „noch nicht zu einer undogmatischen Anschauung durchgerungen haben“ (S. 45). D. h., der Klärungsbedarf wird eindeutig auf die Seite der Eltern verteilt.  Die Lietz’sche „Religion“ ist also ein besonders klar konturierter Fall dessen, was Falk Wagner eine „positionellen Religionstheologie“ zu nennen pflegte, vgl. Falk Wagner: Art. Religion II. In: Theologische Realenzyklopädie Band 28 (1997), S. 526 – 534.  Troeltsch scheint Wyneken gegenüber mindestens sehr reserviert eingestellt gewesen zu sein, wenn man die wenigen Belegstellen in der KGA zu Wyneken durchgeht.  Zu dieser Episode in Wynekens Leben Peter Dudek: „Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!“ Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875 – 1964) – Eine Biographie, Bad Heilbrunn 2017, S. 153 – 174.

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theologische Diktion zu eigen machen, ohne sich dabei verbiegen zu müssen: Im Zuge der zeitweiligen Abschaffung des Religionsunterrichts in Preußen³⁴ teilte Wyneken mit, Religion sei eine „heilige und unantastbare Angelegenheit jedes einzelnen Herzens“ und gehe auf ein „innerstes Erleben“ zurück,³⁵ jeder Zwang zu einem konfessionellen Unterricht sei daher, recht verstanden, gegen die „Religion“ selbst gerichtet. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein durchaus anderes Bild von „Religion“ entwickelte als Lietz. „Religion“ ist für Wyneken eigentlich keine eigene Provinz im Gemüte, keine psychologische Anlage; „Religion“ als psychisches Vorkommnis sei vielmehr ganz auf elterliche Gewöhnung zurückzuführen.³⁶ Ohne „Religion“ in diesem Sinn würde dem Menschen gar nichts fehlen, ja, es sei gar nicht ausgemacht, ob man im Leben ohne sie nicht viel besser dran wäre (S. 219). Gleichwohl geht auch Wyneken davon aus, dass es eine „letzte Wurzel der Religion [gibt], und sie ist unausrottbar.“ (S. 228) Doch diese „Religion“ liegt entwicklungspsychologisch keineswegs am Anfang der Entwicklung des Individuums, sondern vielmehr an deren Ende. Erst wenn man erkannt hat, dass in einem wissenschaftlichen Weltbild „alles, was geschieht, notwendig ist“ (S. 227), erhält der Gedanke sein Recht, dass die Welt im Ganzen nicht notwendig ist, sondern lediglich kontingent. Die Wurzel der „Religion“, so kann man zusammenfassen, liegt in dem Geheimnis, dass der menschliche Geist die Welt, in der alles nach Kausalzusammenhängen geordnet ist, als bloß kontingent erfasst, was schließlich auch die Frage nach dem Selbstverständnis des Geistes in diesem Zusammenhang hervorruft (S. 227 f). Religion ist, wenn man so will, für Wyneken so etwas wie die Hyperventilation des wissenschaftlichen Denkens: „[J]e stärker der Intellekt werden wird, um so stärker wird er sich jenes Grundgefühls bewußt werden, das sich zur Religion formt.“ (S. 228) Aus dieser Wurzel speisen sich unbewusst die historisch gewachsenen Religionen, die aber als eigenständige Gedankengebäude, als ‚Wahrheiten‘ nicht mehr im Ernst in Frage kommen. Gerade die vom liberalen Protestantismus eingeübte religionsgeschichtliche Betrachtung des Christentums führt zu einer abschließenden Relativierung, die durch keine liberal abgespeckte Neuversion oder freireligiöse Ersatzbildung zu kompensieren ist. Wyneken konstatiert das –

 Kristian Klaus Kronhagel: Religionsunterricht und Reformpädagogik. Otto Eberhards Beitrag zur Religionspädagogik in der Weimarer Republik (Jugend – Religion – Unterricht Band 10), Münster 2004, S. 36 – 57.  Die Zitate ebd., S. 48.  Gustav Wyneken: Religionsunterricht und Religiöse Erziehung (1919), in: Ralf Koerrenz, Norbert Collmar: Die Religion der Reformpädagogen (wie Anm. 30), S. 213 – 231, hier: S. 216. Zitate im Haupttext im Folgenden aus dieser Quelle.

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seinem Urteil nach weithin noch geleugnete – Ende des Christentums, und „das Ende des Christentums wäre in unserem Lebenskreis das Ende der Religion überhaupt.“³⁷ Über diesen Gedanken gilt es sich strenge Rechenschaft zu geben. Denn er führt zur Aufstellung des folgenden Dilemmas. Auf der einen Seite gibt es, streng genommen, zur Zeit überhaupt keine ernst zu nehmende Religion. Auf der anderen Seite bleibt jene „Wurzel“ der Religion eben „unausrottbar“. Dieses Dilemma lässt sich für Wyneken nur dadurch auflösen, indem man die neue „Religion“ konsequent in die Zukunft verlegt: „Welche Formen es [= jenes Grundgefühl] aber im Laufe der kommenden Jahrtausende annehmen wird – wir wissen es nicht, und kein Herz vermöchte es wohl heut zu ertragen, wenn es plötzlich von der Religion durchzuckt würde, die nach zehn Jahrtausenden die Menschheit beherrschen wird.“ (ebd.) Infolgedessen ist es das Ziel der höheren religiösen Erziehung, diesen Zusammenhang klar zu machen. Dem entspricht das Zeugnis einer Schülerin von dem konkreten Unterricht, den Wyneken in Wickersdorf erteilt hat: Er habe „mit einem ungemein faszinierenden Geist den Kindheitsglauben […] ehrlich zerstört. Er gab Religionsgeschichte und Philosophie. Ich warf alles über Bord.“³⁸ Da eine positive Unterrichtung in einer bestimmten Religion ohnehin ausfällt, ist Wyneken der Meinung, dass ein eigener Religionsunterricht in der Grund- bzw. Volksschule vollständig überflüssig ist. Ab dem, was wir heute die siebte Klasse nennen, wäre allerdings ein Unterricht in „Religionsgeschichte“ (S. 220), der „mit völliger Objektivität gegeben wird“ (ebd.), angezeigt. Der Sinn dieses Unterrichts geht aber nicht in seiner destruktiven Bedeutung auf. Er besteht zugleich in einer propädeutischen Wirkung bezüglich jenes Ziels der Ausbildung einer neuen Religion. Sich mit der Religionsgeschichte zu befassen hat eine doppelte Funktion. Zum einen liegen in den Materialien, welche die Religionsgeschichte – und zwar die der gesamten Menschheit – bereitstellt, Aufbauelemente der zukünftigen Religion. Man betritt die Religionsgeschichte gleichsam wie eine Schatzkammer und schaut, was daraus auf lange Sicht noch brauchbar ist. Zum anderen lehrt aber der gesammelte und angemessene Umgang mit den großen religiösen Zeugnissen der Vergangenheit, auf den religiösen Affekt aufzumerken, welchen auch die Ahnung einer künftigen „Religion“ hervorruft: Es „kann nicht ausbleiben, daß von selbst manches Seherwort, mancher wundersame Gedanke die

 Gustav Wyneken: Abschied vom Christentum, 2. Aufl., München 1964, S. 252.  Mitgeteilt bei Peter Dudek, Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (wie Anm. 33), S. 123. Weniger scharf, aber ähnlich klingt ein Zeugnis in Bezug auf Lietz bei Erich Meissner, Asketische Erziehung (wie Anm. 24): „Kirchlicher Einfluß war in den Heimen ausgeschaltet. Wir atmeten Ketzerluft in vollen Zügen […] Der Laie wird geistlicher Bevormundung radikal entzogen“ (S. 88). Es fragt sich allerdings, ob hier nicht bloß eine Bevormundung durch eine andere ersetzt ist.

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Gemüter tief berühren und vielleicht einen Klang in ihnen erwecken wird, auf dessen feierlichen, überweltlichen Ernst sie selbst mit Erstaunen horchen.“ (S. 229) Wer sich die grundsätzliche Religionslosigkeit des gegenwärtigen Zeitalters klar gemacht hat, der hat damit auch das Recht, sich die religiösen Affekte anempfindend zu eigen zu machen, darf „den Zauber, die Poesie, die Schönheit und die Stimmungswahrheit z. B. der hohen christlichen Feste oder der katholischen Messe“ (ebd.) genießen und nachempfinden. Das gleiche gilt von den bedeutenden neueren Dichtungen, welche es nach Meinung Wynekens zumindest teilweise mit den alten religiösen Texten aufnehmen, an Prophetengabe für die Religion der Zukunft oft auch übertreffen können. Wyneken setzt hier besonders auf den Schweizer Nobelpreisträger Carl Spitteler.³⁹ Ebenso sind die Ränder der Naturwissenschaft, sofern diese nur eben bereits in ihren Grundgedanken voll erfasst wurden, ein religionsproduktiver Ort. Zusammengefasst kann man sagen: An der Erfüllung des menschlichen Geistes, an all dem, was wir in einem emphatischen Sinne „Kultur“⁴⁰ nennen, wird am ehesten die Platzhalterfunktion für eine „etwaige künftige Religion“⁴¹ deutlich. Dies einzusehen ist das eigentliche Ziel der religionsgeschichtlichen Erziehung: Sie lehrt die Religionslosigkeit der Gegenwart und die Sehnsucht nach der Religion der Zukunft sowie die Kompetenz, sich frei in der Geschichte der Religion und Kultur zu bewegen, wo sich wohl Aufbauelemente dieser zukünftigen Religion finden mögen. Die Religionstheorie ist in diesem Theoriezusammenhang insofern nicht direkt selbst religionsproduktiv – im Gegenteil, hier ist der Ausdruck ‚Religionsersatz‘ einmal angebracht, weil von Wyneken selbst her gedeckt –, sondern Voraussetzung für eine künftige Religionsproduktivität.⁴²

3 Schlussüberlegungen Ich komme zum Schluss. Es ist eine hoch wichtige und m. E. noch nicht hinreichend beantwortete Frage, was das Christentum für sich eigentlich dadurch zu gewinnen meinte, dass es sich selbst als „Religion“ auslegte. Von Haus aus kann sicherlich geltend gemacht werden, dass im Religionsbegriff zunächst ein im-

 Seine Dichtungen gehörten für Wyneken nachgerade zu den „heiligen Schriften“ (mitgeteilt bei Peter Dudek, Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (wie Anm. 33), S. 31.  Gustav Wyneken, Abschied vom Christentum (wie Anm. 37), S. 254.  Ebd., S. 255.  Heinrich Kupffer, Gustav Wyneken, Stuttgart 1970, arbeitet heraus, dass sich Wyneken in diesem Sinne gelegentlich sogar selbst als „Religionsstifter“ (S. 168 – 182) stilisierte; zur näheren Deutung Wynekens im neureligiösen Aufbruch des frühen 20. Jahrhunderts ebd., S. 197– 217.

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menses Emanzipationspotenzial gegenüber einer kirchlich durchnormierten Gestalt von Christentum steckte: „In der überwiegenden Mehrzahl zielen die Forderungen [scil. der Aufklärung] auf Entkonfessionalisierung, Entklerikalisierung und Entdogmatisierung von Religion. […] Auch in Sachen Religion ging es der Aufklärung zuallererst um die Frage der Mündigkeit des Menschen.“⁴³ Im Lichte unserer Untersuchung liegt aber der Verdacht nahe, dass zur Selbstauslegung des Christentums als „Religion“ auf längere Sicht der Versuch gehörte, eine Letztzuständigkeit für „religiöse“ Fragen zu behaupten, welche durch die religionsgeschichtliche Betrachtung gerade in Gefahr geraten war. Dem sich abzeichnenden Pluralismus der Religionen wird der Monismus der „Religion“ gegenübergestellt, welche sich freilich bei kritischem Hinsehen als eine Art ‚Protestantismus in zweiter Ableitung‘⁴⁴ herausstellt. In Gestalt der Religionstheorie wird mithin zugleich ein verdeckter Absolutheitsanspruch der „Religion“ mitgeführt, der gerade aufgrund des Religionsbegriffs ihren Propheten selbst verborgen bleibt, die sich selbst vielmehr völlig als freie Geister fühlen. Diesem Problem kann man scheinbar dadurch entgehen, dass man erklärt, nicht nur keine historische Religion, sondern – wie Wyneken – überhaupt keine „Religion“ mehr zu lehren. Doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass es auch in dieser Zielstellung letztlich um „Religion“ geht, nämlich um die „Religion der Zukunft“. Dies zeigt sich vor allem im Sendungsbewusstsein des Schulleiters, der sich berechtigt und verpflichtet fühlt, den Schülerinnen und Schülern ihren Kinderglauben zu nehmen, da er die wahre Einsicht hat, dass keine heutige Religion mehr ernst zu nehmen ist. Es überrascht daher nicht, dass sich Stoffauswahl und Lehrplan bei Lietz und Wyneken faktisch nur marginal unterscheiden. Ob man diese zwar an sich relativ unbedeutenden, aber dann wiederum doch äußerst exemplarischen Vorgänge in der Reformpädagogik tatsächlich paradigmatisch nehmen darf, ist natürlich noch nicht wahrscheinlich gemacht. Wenn wir es probehalber einmal annehmen, dann würde sich ergeben, dass es zur Kreativität des Christentums gehört, sich selbst auch als „Religion“, d. h. als Nichtmehr-Christentum auszulegen, ja sogar in einer Gestalt, welche sich selbst nicht einmal mehr als Religion erkennt. Es ist deshalb konsequent, wenn die theologische Hermeneutik nach Troeltsch auf lange Sicht der Hermeneutik der Kulturbedeutung des Christentums auch eine ausdrückliche Religionshermeneutik⁴⁵

 Ulrich Barth, Religion in der Aufklärung (wie Anm. 8), S. 95.  Diesen Ausdruck verdanke ich Thomas Klie (Rostock), allerdings von ihm im Zusammenhang mit Spielarten gegenwärtiger Konfessionslosigkeit gebraucht.  Constantin Plaul: Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys. Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage, Tübingen 2019.

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und schließlich sogar eine Kulturhermeneutik impliziter Religion an die Seite gestellt hat.⁴⁶ Eine kurze Bemerkung über die theologische Relevanz im Hinblick auf die Entfaltung eines ‚aufgeklärten Protestantismus‘ bilde den Abschluss. Es gehört zu dessen apologetischer Strategie, sich selbst gleichsam über den Umweg dritter Instanzen als eine vorzugswürdige Form der Religion zu empfehlen. So könnte etwa ‚gezeigt‘ werden, dass der Protestantismus das zuvor religionsphilosophisch aufgestellte ‚Wesen der Religion‘ am besten erfüllt.⁴⁷ Freilich erweist sich dieses Verfahren genau dann als zirkulär, wenn sich zeigt, dass die Wesensbestimmung der „Religion“ ihrerseits bereits von christlichen Prämissen durchzogen ist. Ich denke daher, dass sich dieses Verfahren heute als obsolet erweist. Dass eine partikulare Religionsform sich selbst als vorzugswürdig ansieht, ist keine Überraschung; aber der Umweg über externe Größen, welche – und sei es, wie bei Troeltsch, nur „relativ“ – diese Überzeugung abstützen sollen, fügt dieser in Wahrheit nichts mehr hinzu. Soll also die ‚liberale Religion‘ der Reformpädagogen als Erfüllung von „Religion“ schlechthin gelesen werden, so erweist sich die ganze Albernheit dieses Verfahrens von selbst. Nimmt man jedoch von diesem Anspruch Abstand, so kann man konstatieren, dass die Religion der Reformpädagogen durchaus einen Nerv in der Zeit getroffen hat. Einzelne Auffassungen von dem, was man als aufgeklärte Protestantin und aufgeklärter Protestant unter „Religion“ verstehen möchte, sowie einzelne religionsdidaktische Verfahren scheinen mir durchaus auch heute noch Anregungspotenzial zu besitzen. Insgesamt ist das ‚liberale Christentum‘ als partikulare Religionsform vielleicht weit attraktiver und verbreiteter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.⁴⁸ Von daher wäre vielleicht weniger Umweg über den theologischen Gebrauch einer Religionsphilosophie, sondern mehr Zutrauen zu sich als partikularer Religionsform heute das Angezeigte für einen ‚aufgeklärten Protestantismus‘.

 Andreas Kubik: Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Ein praktisch-theologisches Paradigma der Spätmoderne, Berlin/Boston 2018.  Andere, derzeit gängige Umwege wären etwa besondere Demokratietauglichkeit, große Affinität zu den Menschenrechten, allgemeine Aufgeklärtheit usw.  Aus einer globaleren Perspektive gehören nicht nur weite Teile des ‚westlichen‘ volkskirchlichen Christentums dazu, sondern auch genuine Frömmigkeitsbewegungen wie die Pfadfinder und andere. In der Spiritualitätsforschung ist in dieser Hinsicht noch so gut wie nichts unternommen; Auch das verdienstvolle neue Werk von Peter Zimmerling (Hg.): Handbuch Evangelische Spiritualität, Band 1, Göttingen 2017, geht auf diese Tradition nur ganz am Rande ein.

Magnus Lerch

Kreativität des Christentums – Kontingenz der Geschichte Was katholische Theologie von Troeltschs ‚Wesensschrift‘ lernen kann Troeltschs Schrift „Was heißt ‚Wesen des Christentums‘?“¹ thematisiert die Identitätskonflikte, die sich aus der Kreativität des Christentums ergeben. Denn diese Kreativität begründet ja – wie im Tagungsflyer formuliert – die „Umbildung“ nicht nur der „soziokulturellen Welt“, sondern auch der „eigenen Erscheinungsform“ des Christentums. Es hat schon zu Troeltschs Zeiten Tradition, diese „Umbildung“ in der Differenz von ‚Wesen‘ und ‚Erscheinung‘ des Christentums zu verorten.² Aber das Spezifikum von Troeltschs Ansatz besteht darin, dass er nicht nur den Pol ‚Erscheinung‘ historisiert, sondern auch das ‚Wesen‘. Der Ausdruck ‚Wesen des Christentums‘ wird zu einem historischen Konstruktionsbegriff.³ Da-

 Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, ND der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 386 – 451. – Aus zwei Gründen haben die folgenden Überlegungen in manchen Teilen noch projektförmigen Charakter. Zum einen bestand die mir von den Organisatoren des Kongresses zugewiesene Aufgabe explizit darin, zukünftige Rezeptionsoptionen in der katholischen Theologie auszuloten. Zum anderen erfolgt die Auseinandersetzung mit Troeltschs Wesensschrift im Kontext meines derzeit noch in Arbeit befindlichen Habilitationsprojekts. Das Projekt geht den bisher nicht hinreichend aufgearbeiteten Wesensbestimmungen des Christentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit der Frage nach, wie protestantische und katholische Theologen die Erfahrung radikalen geschichtlichen Wandels verarbeitet haben und auf welchen methodischen Wegen sie dennoch die Identität des Christlichen zu bestimmen versucht haben. Dabei liegt ein entscheidender Fokus auch auf der Analyse der divergierenden Auffassungen von ‚der‘ Moderne (ihren Chancen, Ambivalenzen oder Abgründen), die – so die Arbeitshypothese – Verhältnisbestimmungen von geschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität stets mitbestimmen.  So in prominenter Weise bei Adolf von Harnack, dessen Wesensbestimmung den unmittelbaren Anlass für Troeltschs Wesensschrift bildet: Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. von Claus-Dieter Osthövener, 3., erneut durchges. Aufl., Tübingen 2012, S. 4 f und S. 16. Zur Vorgeschichte der Wesensfrage hier nur Friederike Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Albrecht Beutel u. a. (Hg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen ‚Umformung des Christlichen‘, Leipzig 2004, S. 15 – 32.  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 406: „Der einheitliche Gedanke des Wesens existiert doch überhaupt nur im Denken des zusammenfassenden Historihttps://doi.org/10.1515/9783110733075-010

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durch wird ‚Umbildung‘ des Christentums als unabschließbarer Prozess beschreibbar, so aber auch in seiner prinzipiellen Konfliktivität einsichtig. Dieser Sachverhalt findet seinen Ausdruck in Troeltschs berühmter Formulierung, der zufolge jede Wesensbestimmung zugleich „Wesensgestaltung“ ist, eine ebenso konstruktive wie fragile Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.⁴ Entsprechend schillert auch die Gesamtanlage der Wesensschrift. Sie stellt sich als Analyse sowohl der Funktionen der Wesensbestimmung als auch ihrer Probleme dar. Auf diesem Weg aber stößt Troeltsch in bis dahin wohl unübertroffener Klarheit zu der Einsicht vor, dass die Momente geschichtlicher Diskontinuität und Kontingenz in einer historistischen Wesensbestimmung nicht nur nicht übersprungen werden können, sondern es auch nicht dürfen. Denn sie stellen die geschichtliche Möglichkeitsbedingung der Kreativität des Christentums dar. Das bedeutet nicht, dass Troeltsch den Aufweis geschichtlicher Kontinuität des Christentums – und damit die Wesensfrage als solche – hinter sich lässt. Ziel ist aber die Bestimmung einer Kontinuität, die „nirgends einfach zutage liegt“; einer gebrochenen Kontinuität also, die Troeltsch als „Kontinuum“ bezeichnet.⁵ Die katholische Theologie hat das Problem- und Reflexionsniveau, das Troeltschs historistische Denkform bietet, lange Zeit nicht aufgenommen. Diesem Reflexionsniveau heute zu entsprechen, gehört m. E. – um einen Ausdruck von Friedrich Wilhelm Graf etwas gegen den Strich zu bürsten – zu einer „nachholende[n] Selbstmodernisierung des Katholizismus“⁶. Daher soll zuvor auf die spezifische Rezeptionssituation in der katholischen Theologie eingegangen werden, bevor dann konstruktive Anknüpfungspunkte bei Troeltsch selbst benannt werden, die das Verhältnis von Kreativität und Kontingenz des Christentums betreffen.

kers. Die Wirklichkeit zeigt dieses Wesen nirgends als das schlechthin klare, fertige und überzeugende Resultat des Prozesses.“  Ebd., S. 431: „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung. Sie ist Herausarbeitung der wesentlichen Idee des Christentums aus der Geschichte so, wie sie der Zukunft leuchten soll, und zugleich eine lebendige Zusammenschau der gegenwärtigen und zukünftigen Welt in diesem Lichte. Die jeweilige Wesensbestimmung ist die jeweilige historische Neugestaltung des Christentums. Dem kann sich niemand entziehen, der das Wesen des Christentums rein historisch sucht und dabei an die fortwirkende Kraft dieses Wesens glaubt.“  Ebd., S. 420.  Friedrich Wilhelm Graf: Die nachholende Selbstmodernisierung des Katholizismus? Kritische Anmerkungen zu Karl Gabriels Vorschlag einer interdisziplinären Hermeneutik des II. Vatikanums, in: Peter Hünermann (Hg.): Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, Paderborn u. a. 1998, S. 49 – 65.

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1 Historismus als unerledigtes Problem der katholischen Theologie Eine historistische Wesensbestimmung des Christentums nach Troeltschs Art ist dem Katholizismus lange Zeit fremd geblieben. Ihm fällt bis heute die Anerkennung diskontinuierlicher Geschichtsverläufe und der Kontingenz von Traditionsbildungsprozessen schwer.⁷ ‚Diskontinuität‘ ist hier formal und nicht inhaltlich-wertend gemeint: als Akzentuierung der Radikalität des geschichtlichen Wandels überhaupt, wie sie in den westlichen Industriegesellschaften seit dem 19. Jahrhundert zunehmend ins Bewusstsein rückte und durch den Historismus, d. h. durch eine Denkform orientiert werden sollte, die Wahrheit und Geschichte vermittelt.⁸ Dieser beschleunigte Wandel und das ihm zugeordnete methodische Instrumentarium, der Historismus und seine Problemgeschichte, konnten in der katholischen Theologie nicht auf dem Reflexionsniveau Troeltschs durchgearbeitet werden. Das hat vielfältige Gründe, die hier nur stichwortartig umrissen und an theologiehistorischen Stationen identifiziert werden sollen. Die katholische Theologie hat, erstens, vor und nach dem II. Vatikanum häufig Geschichtstheorien rezipiert, die der Katholischen Tübinger Schule des 19. Jahrhunderts entsprachen. Ungeachtet derer Verdienste kommt es mir jetzt nur auf den Punkt an, dass die Tübinger Schule insgesamt – wenn auch im Einzelnen in höchst verwickelter Weise – einem systematischen Hintergrund verpflichtet ist, von dem sich Troeltsch um die Jahrhundertwende gerade löst⁹, nämlich der idealistischen Geschichtsphilosophie. Mit ihr stimmt die Tübinger Schule überein zwar nicht im Versuch einer hegelianischen Aufhebung von Offenbarungs- in

 Eine konzise Übersicht über dogmatische Entwicklungstheorien liegt nun vor bei Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i.Br. 2018.  Die Forderung, dass Wahrheit bzw. Normativität und Geschichte in ein Verhältnis konstruktiver Vermittlung gesetzt werden müssen, soll hier als Minimalbedingung einer historistischen Denkform bestimmt werden, von der etwa auch Jaeger und Rüsen trotz der faktischen Pluralität historistischer Ansätze sprechen: Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 8 f. Darüber hinaus dokumentiert gerade Troeltschs Position, die sich immer auch als Problemgeschichte der historistischen Wissenschaftstraditionen selbst präsentiert, dass der Historismus keine stabile Position, sondern so in die konfliktiven Modernisierungsprozesse auf politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene eingelassen ist, dass er selbst Teil des unabschließbaren Diskurses der Moderne ist, vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988. Insofern ist es ein Desiderat, dass Jaeger und Rüsen die Positionsmarkierungen Troeltschs in ihrer ansonsten so informierten Wissenschaftsgeschichte des Historismus nicht erwähnen.  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 394.

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Vernunftwahrheit, von religiöser Vorstellung in philosophischen Begriff; wohl aber in der Art und Weise, wie geschichtlicher Wandel nur verstanden werden kann: als kontinuierlicher Fortschritt, organisches Wachstum, sukzessive ‚EntWicklung‘, aber gerade nicht: als kontingente Transformation.¹⁰ Um einen zeitlichen Sprung zu machen: Genau auf dieser Linie thematisiert das II. Vatikanische Konzil in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum zwar eine geschichtliche Entwicklung, aber vor allem unter positivem Vorzeichen.¹¹ Im diesbezüglichen Kommentar hat Joseph Ratzinger 1967 noch kritisiert, was er bereits ein Jahr zuvor gegen die unter der „Fortschrittsidee“ stehende, typisch katholische Konzeption der Dogmengeschichte eingewandt hat: Sofern sie als „reine Aufstiegsgeschichte“ begriffen wird, ist sie nicht nur dem Phänomen historischen Wandels unangemessen, sondern übergeht auch das Moment der Traditionskritik. ¹² Diese Perspektive ist später, in den Debatten um Kontinuität und Diskontinuität des Konzils selbst und der inhaltlichen Aufladung des jeweiligen Pols mit unterschiedlichen kirchenpolitischen Optionen, auffallend zurückgetreten.¹³

 Max Seckler: Der Fortschrittsgedanke in der Theologie, in: Theologie im Wandel, hrsg. von der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Tübingen, Freiburg i.Br. 1967, S. 41– 67, bes. S. 51– 56; Josef Mader: Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes. Hegels Religionsphilosophie als Anstoß für ein neues Offenbarungsverständnis in der katholischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Münster, Hamburg, London 2000, S. 340 – 346; Josef Rupert Geiselmann: Die Katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg i.Br. 1964.  „So führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt. Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt […]: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte“ (DV 8, Übersetzung in: Henrich Suso Brechter u. a. [Hg.]: Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Band 2, Freiburg, Basel, Wien 1967, S. 519).  Joseph Ratzinger: Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie, Köln/Opladen 1966, S. 22. Vgl. die entsprechende Kritik an der in Anm. 11 zitierten Konzilsaussage: „Die Gefahr, die in dieser Aussage (wie überhaupt im dynamischen Traditionsbegriff der Tübinger) lauert, hatte Kardinal Meyer in einer wichtigen Rede am 30.9.1964 signalisiert: Nicht alles, was in der Kirche existiert, muß deshalb auch schon legitime Tradition sein, bzw. nicht jede Tradition, die sich in der Kirche bildet, ist wirklich Vollzug und Gegenwärtighaltung des Christusgeheimnisses, sondern neben der legitimen gibt es auch die entstellende Tradition. […] Das Vaticanum II hat in diesem Punkt bedauerlicherweise keinen Fortschritt gebracht, sondern das traditionskritische Moment so gut wie völlig übergangen. Es hat sich damit einer wichtigen Chance des ökumenischen Gesprächs begeben“ (Joseph Ratzinger: Kommentar zum Prooemium, I. und II. Kapitel, in: Henrich Suso Brechter u. a. [Hg.]: Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Band 2, Freiburg/Basel/Wien 1967, S. 504– 528, hier S. 519 f.).  Vgl. Peter Walter: Kontinuität oder Diskontinuität? Das II. Vaticanum im Kontext der Theologiegeschichte, in: Ansgar Kreutzer u. a. (Hg.), Das II. Vatikanische Konzil und die Wissenschaft der Theologie, Frankfurt a.M. u. a. 2014, S. 11– 31.

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Allerdings brechen auch die Tübinger Schultraditionen, die im Unterschied zur Neuscholastik immerhin an einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung interessiert waren, schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Maße ab, wie, zweitens, die Modernismuskrise um sich greift. Der Anti-Modernismus richtet sich keineswegs nur – vielleicht noch nicht einmal primär – gegen die Aussöhnung von Katholizismus und Moderne in einem allgemeinen Sinn. Ein solcher ‚weiter‘ Modernismusbegriff ¹⁴ droht das eigentliche Sachproblem zu übersehen, um das es damals ging. Die ursprüngliche Stoßrichtung des AntiModernismus besteht in seinem Anti-Historismus ¹⁵ und der Frontstellung gegen die Anerkennung der Kontingenz von Traditionsbildungsprozessen, namentlich bei dem französischen Exegeten Alfred Loisy, dessen auf Harnack kritisch replizierende, aber ebenfalls historistische Wesensbestimmung des Christentums zum Auslöser der Krise wird.¹⁶ Die bei Loisy in der Tat problematische Verhältnisbestimmung von Geschichte und Normativität, die nicht durchgängig, aber oft den Eindruck erweckt, dass die faktische historische Entwicklung des Christentums auch schon dessen normative Legitimität als Überlebensnotwendigkeit der Religion verbürgt¹⁷, ist im damaligen Katholizismus nicht eingeordnet worden in die Krise des Historismus. Rein sachlich gesehen hätte Troeltsch hier ein wichtiger Gesprächspartner sein können, weil er das Normativitätsproblem bei

 Zur Debatte um einen ‚engen‘ und ‚weiten‘ Modernismusbegriff: Friedrich Wilhelm Graf: Moderne Modernisierer, modernitätskritische Traditionalisten oder reaktionäre Modernisten? Kritische Erwägungen zu Deutungsmustern der Modernismusforschung, in: Hubert Wolf (Hg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II.Vatikanums (Programm und Wirkungsgeschichte des II.Vatikanums, Band 2), Paderborn u. a. 1998, S. 67– 106; Otto Weiß: Der katholische Modernismus. Begriff – Selbstverständnis – Ausprägungen – Weiterwirken, in: ders.: Kulturen – Mentalitäten – Mythen. Zur Theologie- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Manfred Weitlauff, Hubert Wolf, Claus Arnold, Paderborn u. a. 2014, S. 339 – 383, hier S. 340 – 347.  Dazu auch Gregor Klapczynski: Katholischer Historismus? Zum historischen Denken in der deutschsprachigen Kirchengeschichte um 1900. Heinrich Schrörs – Albert Ehrhard – Joseph Schnitzer, Stuttgart 2013.  Alfred Loisy: Evangelium und Kirche. Autorisierte Übersetzung nach der zweiten vermehrten, bisher unveröffentlichten Auflage des Originals v. Joh. Grière-Becker, München 1904; Andreas Uwe Müller: Christlicher Glaube und historische Kritik. Maurice Blondel und Alfred Loisy im Ringen um das Verhältnis von Schrift und Tradition (FThS 172), Freiburg i.Br. 2008.  Alfred Loisy: Evangelium und Kirche (wie Anm. 16), S. 102: Die Kirche „ist gewesen, was sie sein mußte, um das Evangelium und mit diesem sich selbst zu retten.“ Sie „wuchs, um dauerhaft zu werden, denn die Wandlungen, die sich in ihr vollzogen, waren die Bedingung ihrer Existenz selbst“ (ebd., S. 110).

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Loisy ebenfalls identifiziert hat.¹⁸ Aber die Modernismusenzyklika Pascendi dominici gregis von 1907 hat die Geltendmachung von geschichtlicher Kontingenz eo ipso als Relativismus verstanden, diesen Relativismus auf die gesamte klassische Moderne im Ausgang von Kant bezogen und erneut auf die Neuscholastik verpflichtet. In der weiteren Folge hat dies den Ausstieg der katholischen Theologie aus dem Diskurs der Moderne überhaupt mitbedingt.¹⁹ Dadurch stehen, drittens, gerade auch die Reformtheologien der Weimarer Zeit, die als Vorläufer des II. Vatikanums gelten, in einer doppelten Fremde zum Historismus: zum einen aufgrund des eigenen, anti-modernistischen Erbes; zum anderen aufgrund des „Antihistorismus“²⁰, den Troeltsch Anfang der 1920er Jahre als flächendeckendes Phänomen der durch den Ersten Weltkrieg bedingten Zäsur beschreibt und den Friedrich Wilhelm Graf als Grundstruktur der dialektischen Theologie und ihres radikalen Neuaufbruchs freigelegt hat.²¹ Wird diese These innerhalb der protestantischen Theologie kontrovers diskutiert²², so ist bezüglich des Katholizismus bis heute die theologiehistorische Landkarte völlig blank, was

 Zur expliziten Kritik Troeltschs an Loisy, die das Fehlen des Normativitätselements im geschichtlichen Wandel des Christentums betrifft, vgl. Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 411.  Richard Schaeffler: Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie, Darmstadt 1980, S. 82– 110 und S. 134– 141. Schaeffler resümiert, dass die „philosophiehistorische Wirkung der Modernismuskrise beinahe erschöpfend mit zwei Sätzen beschrieben werden kann: 1. Die scholastische Philosophie, nun verstanden als der Weg der Vernunft zur Erkenntnis ewiger, dem historischen Wandel überlegener Wahrheiten, wurde für die katholische Theologie allein normativ. 2. Das Gespräch der katholischen Theologen mit der kantischen und nachkantischen Philosophie fand auf lange Zeit nicht mehr statt. Die letztgenannte Wirkung des Modernismusstreits ist umso bedauerlicher, als das Problem des Verhältnisses von Wahrheit und Geschichte, das die Modernismuskrise ausgelöst hatte, gerade in gewissen Schulen der Kantianer mit großer Intensität behandelt worden ist, so daß auch die Theologen hier wertvolle Anregungen hätten empfangen können.“ (Ebd., S. 140 f).  Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923), hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Band 15), Berlin, New York 2002, S. 437– 455, hier S. 451.  Friedrich Wilhelm Graf: Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der 1920er Jahre, in: Wolfgang Küttler u. a. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 – 1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 217– 244.  Vgl. die alternativen theologiehistorischen Rekonstruktionen von Georg Pfleiderer und Folkart Wittekind: Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992; Folkart Wittekind: Christologie als Geschichtsreflexion: Troeltsch und seine ‚Schüler‘, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): ‚Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Ernst Troeltsch in Berlin (TroeltschStudien N.F., Band 1), Gütersloh 2006, S. 49 – 74.

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die Frage angeht, wohin die Historismusproblematik wandert.²³ Auf den ersten Blick fällt jedenfalls auf: Katholische Monographien über das ‚Wesen des Christentums‘ (bzw. des ‚Katholizismus‘) von denen das spätere Konzil beeinflusst ist – wie etwa die von Karl Adam oder Romano Guardini²⁴ –, entstehen erst in einer Zeit, als der Historismus seinen Kredit bereits verloren hat. Damit ist aber insgesamt eine Diskursungleichzeitigkeit zwischen protestantischer und katholischer Theologie von enormer Latenz eingetreten. In diesem Zusammenhang lässt sich auch, wie Georg Essen jetzt gezeigt hat, namentlich die katholische Heidegger-Rezeption als Versuch dechiffrieren, unter Einschluss von neuscholastischen Theoriesegmenten das Historismusproblem zu überwinden, ohne den ‚Umweg‘ über jene Diskurse nehmen zu müssen, die in der Geschichtswissenschaft und protestantischen Theologie des langen 19. Jahrhunderts geführt worden sind.²⁵ Troeltschs kritisch-selbstreflexiver Historismus, der das Verhältnis von Geschichte und Normativität sensibel auszubalancieren versucht, geriet so im Raum der katholischen Theologie zunehmend in den toten Winkel – obwohl man doch den Druck der von ihm moderierten Konflikte spürte, wie eben nicht nur die Modernismuskrise der Jahrhundertwende, sondern auch das Neuaufkommen von Wesensschriften auf katholischer Seite nach dem Ersten Weltkrieg belegt. Die beschriebenen drei theologiehistorischen Stationen werden überlagert von einem Sachproblem, dass mit der Frage nach dem ‚Wesen‘ des Christentums als solcher zusammenhängt. Ihr stand die katholische Theologie seit jeher mit grundsätzlicher Distanz, ja Skepsis gegenüber. Diese liegt darin begründet, dass die Wesensfrage eine wie auch immer näher zu bestimmende Differenz von Christentum und Kirche voraussetzt, die dann aus Sicht katholischer Theologie allzu schnell zu einer völligen Dissoziation beider Größen gerät.²⁶ Allerdings meine ich, dass die Funktion, die die Wesensfrage einmal hatte – also nicht unbedingt der Wesensbegriff – heute auch für die katholische Theologie unverzichtbar ist. Denn sämtliche Entwicklungen im Bereich der Dogmengeschichte,

 Zur Schließung dieser Forschungslücke hoffe ich mit dem in Anm. 1 genannten Habilitationsprojekt beitragen zu können.  Karl Adam: Das Wesen des Katholizismus, Augsburg 1924; Romano Guardini: Das Wesen des Christentums, Würzburg 1938.  Georg Essen: Auf Holzwegen in die Moderne? Die katholische Theologie und Martin Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander u. a. (Hg.): Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der ‚Schwarzen Hefte‘, Frankfurt a. M. 2017, S. 199 – 227.  In diesem Sinne rekonstruiert etwa Karl-Heinz Menke die Geschichte der Wesensfrage: KarlHeinz Menke: Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015, S. 256 – 347.

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Christologie und Ekklesiologie bis hin zur offiziellen Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums weisen in eine Richtung: Die Glaubenswahrheit soll nicht rein formal-autoritativ, sondern primär von ihrem Inhalt her begründet werden. Es ist daher der geschichtliche Ereignis- und Bedeutungszusammenhang selbst, der die dogmatische Lehrentwicklung zuallererst einsichtig macht.²⁷ Die Offenbarungskonstitution Dei Verbum beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes und rekurriert erst dann auf die Orte ihrer Bezeugung.²⁸ Erstmals betont hier ein Text des Lehramts, dass es selbst „nicht über dem Wort Gottes [steht]“, sondern ihm „dient“²⁹. Einführungen in den „Begriff“ des Christentums (so der Untertitel von Karl Rahners „Grundkurs des Glaubens“), haben das auch geltend gemacht, ebenfalls gehört die Diskussion der 1970er Jahre um die ‚Kurzformeln des Glaubens‘ in diesen Kontext.³⁰ Die Verbindung von Wesens- und Historismusdiskurs um die Jahrhundertwende wurde aber nicht aufgenommen. Meine Grundthese besteht darin, dass das Problemniveau, auf dem Troeltsch sich an diesen Diskursen beteiligt hat, immer noch wegweisend ist und als solches auch in die katholische Theologie vermittelt werden sollte – nicht nur aus systematischen, sondern auch aus praktischen Gründen, spielen doch die Kategorien von Kontinuität und Diskontinuität bis in die gegenwärtigen Modernisierungskonflikte hinein immer wieder eine zentrale Rolle (etwa jüngst in der Auseinandersetzung um Amoris Laetitia oder in der seit Längerem schwelenden Debatte um die Erneuerungsprozesse des II. Vatikanums). Troeltschs Problembewusstsein bietet Potenziale, um die eigenen Umbildungsprozesse verstehen und thematisieren zu können und auf diese Weise die Kreativität des Christentums verantwortlich freizusetzen.

 Georg Essen, Thomas Pröpper: Aneignungsprobleme der christologischen Überlieferung. Hermeneutische Vorüberlegungen, in: Rudolf Laufen (Hg.): Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn u. a. 1997, S. 163 – 178.  DH 4202– 4206 (= Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. v. Peter Hünermann, 43. Aufl., Freiburg, Basel, Wien 2010).  DH 4214 (wie Anm. 28).  Rahner stellt den Bezug zwischen seinem Grundkurs, den ‚Kurzformeln‘ und der Wesensfrage explizit her: Karl Rahner: Reflexionen zur Problematik einer Kurzformel des Glaubens, in: ders.: Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, hrsg. von der Karl-Rahner-Stiftung unter Leitung von Karl Lehmann u. a., bearb. von Nikolaus Schwerdtfeger, Albert Raffelt, Freiburg i.Br. 1999, S. 469 – 480, hier S. 470, Anm. 5.

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2 „Unruhe in der geistigen Uhr“. Funktion und Leistung eines Zentralmotivs Die angekündigten Leistungen Troeltschs sollen nun konkretisiert werden anhand der Argumentationslinien, die sich auf den Zusammenhang von Kontingenz und Kreativität des Christentums beziehen. Dazu muss ich vorab eine die Darstellung leitende Kontinuitätsunterstellung zugeben, die hoffentlich keine reine Fiktion ist: Ungeachtet der Tatsache, dass sich Troeltschs Wahrnehmung der Kontingenz durch den Ersten Weltkrieg verschärft, versuche ich, in einem Punkt die Kontinuitäten zwischen Troeltschs Überlegungen zur Wesensbestimmung des Christentums um die Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg einerseits (1903 bzw. 1913) sowie dem monumentalen Spätwerk ‚Der Historismus und seine Probleme‘ andererseits (1922) herauszuarbeiten: und zwar präzise an jenem Punkt, den Trutz Rendtorff³¹ als die Pointe der berühmt-berüchtigten Formulierung Troeltschs ausgemacht hat, es gelte „Geschichte durch Geschichte [zu] überwinden“³². Um dies werkgenetisch, an der Konstanz von Grundmotiven, deutlich zu machen, muss etwas weiter ausgeholt werden. Die Wesensschrift läuft auf die Einsicht zu, dass der Wesensbegriff eine Synthese ist, und zwar eine vom gegenwärtigen Standpunkt aus kreativ gestaltete, auf Zukunft hin gerichtete Synthese aus subjektiven und objektiven Aufbauelementen. Denn für jede Funktion des Wesensbegriffs – also für den Wesens- als Kritikbegriff, als Entwicklungsbegriff, als Idealbegriff – hatte Troeltsch zuvor gezeigt: Keine dieser Funktionen kommt aus ohne empirische ‚Sättigung‘ durch konkrete Geschichte einerseits; aber auch nicht ohne normative Maßstäbe andererseits. Grundsätzlich formuliert, ist die besagte ‚Sättigung‘ deshalb notwendig, weil gerade die historistische Wesensbestimmung das Christentum nicht mit dem Allgemeinbegriff einer Vernunftreligion schlechthin zusammenfallen lassen will, sodass das ‚Wesen‘ (der Vernunft bzw. der Religion) dann das Primäre gegenüber der nur sekundär bedeutsamen historischen ‚Erscheinung‘ wäre. Vielmehr bildet die ‚Selbstständigkeit‘ der Religion bzw. des Christentums ein zen-

 Trutz Rendtorff: Geschichte durch Geschichte überwinden. Beobachtungen zur methodischen Struktur des Historismus, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): ‚Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien N.F., Band 1), Gütersloh 2006, S. 285 – 325.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Band 16, Teilband 2), Berlin, New York, S. 1098.

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trales Grundmotiv Troeltschs.³³ Als historisch individuelle, unableitbare Größe muss das Christentum gewissermaßen ‚aus sich selbst verstanden‘ werden.³⁴ Andererseits kann ‚aus sich selbst verstehen‘ nun keinesfalls bedeuten, dass der Wesensbegriff „einfach aus dem Gesamtverlauf und der Totalität der Erscheinungen abstrahiert werden kann“³⁵. Das ginge nämlich nur, wenn die Entwicklung des Christentums nach apriorischen Vernunftgesetzen rekonstruierbar, will sagen: rationalisierbar wäre. Eben das schließt Troeltsch aber als ungedecktes „panlogistisches Vorurteil“ aus, und genau dies ist der Punkt, an dem er sich schon in der Wesensschrift kritisch von der idealistischen Geschichtsphilosophie absetzt.³⁶ Dasselbe gilt für aufklärerische³⁷ oder evolutionistische³⁸ Wesensbestimmungen, die das Wesen des Christentums entweder vom Wesen der Vernunft oder dem Gesetz kontinuierlich-organischen Wachstums her bestimmen. Troeltschs Problem mit diesen Ansätzen ist stets, dass sie ihre normativen Kriterien nicht anhand des realhistorischen Verlaufs gewinnen, sondern diesen umgekehrt durch rein rationale Instanzen restringieren. Daraus folgt: Unter der doppelten Bedingung, dass, erstens, die ‚Selbstständigkeit‘ des Christentums gewahrt werden und es deshalb auf Basis seiner eigenen Geschichte bestimmt werden muss, zweitens, eben diese Geschichte weder induktiv ablesbar noch deduktiv ableitbar, sondern durch diskontinuierliche Verläufe³⁹ und kontingente Entwicklungen⁴⁰ geprägt ist, kann es für Troeltsch überhaupt keine Alternative geben zur Prozessualisierung des Verhältnisses von Normativität und Geschichte

 Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888 – 1902), hg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 1), Berlin, New York 2009, S. 364– 535.  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 396: „Das Wesentliche am Christentum ist nicht dasjenige an ihm, was sich mit einer allgemeinen auch sonst feststehenden Wahrheit deckt, so daß alles damit sich nicht Deckende zum Unwesentlichen würde. Sondern das Wesentliche ist allein der aus seiner historischen Erscheinung selbst erhellende, seine Entfaltung bewußt und unbewußt bestimmende, für sein eigenes Denken und Wollen im Mittelpunkt stehende Inbegriff religiöser Grundgedanken, der niemals fertig und abgeschlossen ist, solange er lebendig der Geschichte angehört.“  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 405.  Ebd., S. 419: „Es gibt kein logisch-notwendiges und konstruierbares dialektisches Gesetz der stufenhaften Hervorbildung des Wesens, sondern nur ein alles durchwaltendes, reiche Entwickelungsmöglichkeiten in sich enthaltendes Kontinuum.“ Zum Zusammenhang vgl. auch ebd., S. 402 f, S. 418 f und S. 434 f.  Ebd., S. 391, S. 396, S. 418 und S. 434.  Ebd., S. 403 f.  Zum Moment geschichtlicher Diskontinuität vgl. bes. ebd., S. 402– 406 und S. 416 f.  Zum Moment geschichtlicher Kontingenz vgl. bes. ebd., S. 407.

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im Allgemeinen wie auch sämtlicher Funktionen der Wesensbestimmung des Christentums im Speziellen. Daher kommt sowohl in der Geschichts- als auch in der Christentumstheorie für ihn alles darauf an, normative Maßstäbe als „spontan[]“ entstehende und „niemals ruhende[ ]“⁴¹ zu denken, eben weil sie sich im „Verkehr“ mit der Geschichte aus- und umbilden.⁴² Schon der Wesensaufsatz schließt damit, dass daher alle Wesensbestimmungen des Christentums prinzipiell historisierbar sind, „nicht mehr bloß ein Urteil über die Geschichte“, sondern selbst „ein Stück der Geschichte“⁴³. Was nun theoretisch wie eine reflexive, aber negative Grenze, wohlmöglich wie eine missliche, aber unumgängliche Selbstbescheidung erscheinen mag, hat für Troeltsch eine positive Pointe in praktischer Hinsicht. Denn erst die prinzipielle Historisierbarkeit lässt die Wesensbestimmungen als geschichtlich nicht abschließbare Wesensgestaltungen einsichtig werden, die auf Zukunft hin möglich sind. Insofern vollzieht sich in der Wesensbestimmung geradezu die Kreativität des Christentums und ist der spannungsreiche Schwebezustand des Verhältnisses von Geschichte und Normativität zugleich der Preis dieser Kreativität. Dabei denkt Troeltsch freilich an eine solche Kreativität, die nicht voraussetzungslos spontan ist, am fiktiven Nullpunkt beginnend, sondern deren Prozess ohne Stellungnahme zum historischen Verlauf gar nicht erst in Gang kommen kann.⁴⁴ Diese bei Troeltsch durchgängig identifizierbare Weichenstellung verdankt sich nicht einfach einem strukturkonservativen Theoriemoment, sondern einer vertieften Reflexion auf menschliche Freiheit und Autonomie, ca. hundert Jahre nach der Entdeckung ihrer Prinzipienfunktion durch Kant. Troeltschs Historismus unterscheidet sich dadurch von transzendentaler Logik, dass ihn nicht mehr primär das Problem der logischen Geltungsbegründung, sondern die Frage nach den geschichtlichen Möglichkeitsbedingungen der Freiheit umtreibt: ‚Von woher‘ stammen eigentlich die Kräfte, Motivationen, Ideale des materialen Frei-

 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 16, Teilband 1), Berlin, New York, S. 360.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 980. „Immer erst in der Berührung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem bildet sich der eigentliche letzte entscheidende Maßstab, der zugleich die Zukunftsgestaltung in die unbekannte endlose Zukunft hineintreibt.“ Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 371.  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 429 (Hervorhebungen vom Verf.).  Ebd., S. 431: „Es steckt in der Wesensbestimmung die lebendige religiöse Produktion der Gegenwart und zwar einer nicht naiv fortbildenden, sondern auf Grund geschichtlicher Einsicht gestaltenden Gegenwart.“

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heitsvollzugs, der gehaltvollen Selbstbestimmung?⁴⁵ Seine Grundperspektive ist die, dass Kreativität zwar nicht ohne, aber auch nicht allein durch Autonomie zu denken ist, weil Kreativität um ihrer selbst willen auf geschichtliche Vorgaben angewiesen ist.⁴⁶ Die existenziellen Kategorien für diese geschichtlich eingebettete Kreativität, die am Ende der Wesensschrift genannt werden, sind „Wagnis“ (der Kreativität) und „Treue“ (zur Überlieferung)⁴⁷. Beide verweisen genau auf den zuerst von Eduard Spranger und kürzlich von Hans Joas in die Mitte von Troeltschs Denken gestellten „existentiellen Historismus“⁴⁸. Denn Kennzeichen dieses ‚existentiellen Historismus‘ ist eben, worauf schon die Wesensschrift hinausläuft: weder das Wagnis zu überspielen durch Rationalisierung von Geschichte; noch dem Wagnis zu gestatten, in dezisionistischer Weise Geschichte zu überspringen. Strukturell parallel kehren diese Überlegungen wieder am Ende des Historismus-Bandes von 1922 und damit an der Stelle, wo sich die Formel von der Überwindung der Geschichte durch Geschichte findet. Hier tritt – diesmal im kulturphilosophischen Kontext – das Bild von der „Unruhe in der geistigen Uhr“⁴⁹ auf. Diese ‚Unruhe‘ besteht darin, dass Prinzipialisierung und Historisierung von Kulturgehalten sich gegenseitig erfordern, ja provozieren: Reine Prinzipialisierung und reine Historisierung führen nämlich beide zur Resonanzarmut, zum ‚Schweigen‘ der Kulturgehalte. Einerseits mündet ihre Prinzipialisierung in eine

 Vgl. hierzu etwa Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, ND der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 227– 327, hier S. 253 – 260, wo das Problem der „Motivation“ (ebd., S. 253) bzw. der „Motivationskraft“ (ebd., S. 259) des moralischen Handelns als Überhangproblem der nur formalen (kantischen) Moralbegründung behandelt wird.  Ernst Troeltsch: Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, ND der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 837– 862, hier S. 858: „Ueberall handelt es doch um überkommenes Erkenntnisgut und um historisch gebildete Lebensmächte, denen gegenüber es nicht Ersetzung durch neue Eigenerkenntnis, sondern nur lebendige Aneignung und Fortbildung gilt.“  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 447 f.  Eduard Spranger: Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900, in: Hans Leussink u. a. (Hg.): Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1960, S. 425 – 443, hier S. 434; Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 3. Aufl., Berlin 2012, S. 183 f. Außerdem Christian Polke: Existentieller Historismus als affirmative Genealogie. Zur Troeltsch-Interpretation bei Hans Joas, in: Hermann-Josef Große-Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, S. 153 – 169.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 1095.

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Verallgemeinerung von „‚Werten‘, wie man heute so gerne sagt“⁵⁰, die geschichtlich ‚ortlos‘ und existenziell ‚stumm‘ zu werden drohen. Troeltsch verbindet daher „Rationalisierung, Dogmatisierung und Scholastisierung“ von kulturellen bzw. religiösen Gehalten eng mit der Gefahr ihrer „Entleerung“⁵¹. Andererseits führt die Historisierung besagter Gehalte zu deren Regionalisierung, die sie exklusiv an ihren historischen Ort bindet. Damit erzeugt sie genau jene Krise des Historismus, die Troeltsch überwinden will und schon vor der Jahrhundertwende als nicht nur wissenschaftliches, sondern gesamtkulturelles Problem identifiziert.⁵² Kreativität des Christentums ist nur möglich, wenn Bindung an den historischen Ort wie Loslösung von ihm sich ständig in Spannung halten. Rendtorff resümiert: „‚Geschichte durch Geschichte überwinden‘ kann darum beides bedeuten: zum bloß Historischen gewordene ‚Historisierung‘ durch ‚Prinzipien‘ überwinden wie abstrakt gewordene ‚Prinzipien‘ durch ‚Historisierung‘ überwinden. Das macht die ‚Unruhe‘ in der ‚geistigen Uhr‘ aus.“⁵³ Entsprechend begegnen hier – am Ende des Historismus-Bandes ebenso wie in der Wesensschrift – ‚Verjüngungsmetaphern‘⁵⁴. Sie verweisen auf die Aufgabe der Historisierung, religiöse und kulturelle Gehalte auf ihren „Mutterboden“ zurückzuführen⁵⁵, um erst von ihm aus wiederum zu einer neuen Kultursynthese bzw. Wesensbestimmung zu finden. Insofern gibt es „kein nacktes Wesen, sondern das Wesen zieht die Gewänder nebensächlicher historischer Gestaltungen nur aus, um sofort die neuen der Gegenwart und Zukunft anzuziehen. Das Wesen ist ein Idealgedanke, der zugleich

 Ebd., S. 1094.  Ebd.  Ernst Troeltsch: Geschichte und Metaphysik, in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888 – 1902), hg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid, Berlin/New York 2009 (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe Band 1), S. 644– 682, hier S. 681 f: „Der spielende Relativismus, dem alles etwas Werdendes und Vergehendes, Bedingtes und Relatives ist, die geistreich in allen Farben schillernde Entäußerung von jeder persönlichen Ueberzeugung, die Erstickung aller Produktivität und robusten Kraft einfachen Glaubens an allgemeingiltige [sic] Normen, die Auflösung der Wissenschaft in die Schaffung von endlosen Dubletten des schon einmal Dagewesenen, die Gewöhnung an die bloße Routine historischen Spezialistentums, das sind die schweren Gebrechen des Historismus, die mitunter so grell hervortreten, daß sie um den Fortbestand unserer Kultur besorgt machen können.“  Trutz Rendtorff: Geschichte durch Geschichte überwinden (wie Anm. 31), S. 293.  Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 1094– 1098; ders.: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 431 und S. 450.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 1094. Hans Joas nennt dies „die methodische Rückversetzung entstandener Ideale in den status nascendi“, Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt a. M. 2017, S. 185; vgl. ebd., S. 184 und S. 191.

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die Möglichkeit neuer Verknüpfungen mit dem konkreten Leben der Gegenwart bildet; es ist selber eine lebendige, individuelle historische Bildung, die sich an die bisherigen anreiht. Es ist nichts anderes, als die der Gegenwart entsprechende Gestaltung des christlichen Gedankens, die sich an frühere Gestaltungen anfügt, indem sie den Wachstrieb freilegt, aber auch ihn sofort in neue Blätter und Blüten schießen läßt.“⁵⁶ Diese Metaphern stehen – ebenso wie die späte Metapher von der ‚Unruhe in der geistigen Uhr‘ – für ein Zirkelverhältnis von Geschichte und Normativität, das aus kultur- und religionspraktischen Gründen notwendig ist. Dieses Spannungsverhältnis zu einer der beiden Seiten hin aufzulösen, gelänge nur um den Preis theoretischer Selbsttäuschung und existenzieller Resonanzarmut kultureller und religiöser Gehalte. In der Wesensschrift wie im Historismus-Band besteht die entscheidende Einsicht deshalb darin, dass Kontingenz begriffen wird als die Bedingung der Möglichkeit von Kreativität. Deshalb bleibt Kontingenz auch auf höherer Ebene enthalten, nämlich in den normativen Synthesen, die die Wesensbestimmungen als Wesensgestaltungen ausmachen. In dieser Hinsicht, so ist mit Hans Joas entschieden festzuhalten, ist Troeltsch nicht gescheitert⁵⁷: Der Fluchtpunkt von Troeltschs Überlegungen lässt deutlich werden, dass sie eben nicht in eine theoretische Aporie münden, sondern eine praxiskonstitutive Struktur aufdecken.⁵⁸ Um es zuzuspitzen, kann die interne Spannung von Normativität und Geschichte nicht nur theoretisch nicht aufgelöst werden, sondern darf es praktisch gesehen auch nicht. Entsprechend liegt die Pointe von Troeltschs HegelKritik nicht nur darin, dass die idealistische Geschichtsphilosophie theoretisch nicht haltbar ist, sondern dass sie zu einer „kontemplativen“ Geschichtsbetrachtung führt, wie Troeltsch mehrfach hervorhebt.⁵⁹ Da dies die Folge ihrer Rationalisierung von Geschichte und also Kontingenzreduzierung ist, spiegelt sich in Troeltschs Hegel-Kritik der von ihm selbst stark gemachte Zusammenhang von Kreativität und Kontingenz.

 Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 431.  Hans Joas: Die Sakralität der Person (wie Anm. 48), S. 151; Hans Joas: Die Macht des Heiligen (wie Anm. 55), S. 169.  Zur umfassenden Rekonstruktion der praktischen Dimension von Troeltschs Geschichtsphilosophie vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit, Band IV. Lotze, Dilthey, Meinong, Troeltsch, Husserl, Simmel, Göttingen 1986, S. 128 – 164.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 557; ebenso S. 469, S. 484, S. 487, S. 544 und S. 562.

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3 Revozierung der Kontingenz? Zum unklaren Status von Troeltschs metaphysischem Abschlussgedanken Nun ist Troeltsch bekanntlich bei dem oben skizzierten Spannungsverhältnis von Geschichte und Normativität nicht stehen geblieben, sondern in Richtung Metaphysik weitergegangen. Diese Tatsache führt auf eines der kontroversesten Felder der Troeltsch-Forschung.⁶⁰ Relative Einigkeit lässt sich erzielen über die reflexive Tiefe von Troeltschs Problemzugriff. Strittig ist, wie sein Anschluss an Leibniz’ Monadologie und Malebranches Partizpationslehre zu bewerten ist, also der im Historismus-Band vorgelegte Gedanke einer Teilhabe aller Individuen an einer göttlichen Einheit, die wiederum Bedingung der Möglichkeit des Verstehens ist, der „Einbohrung in das Fremdseelische“, wie Troeltsch sagt.⁶¹ Dieser Punkt kann hier nicht ausdiskutiert⁶², soll aber auch nicht überspielt und daher in der gebotenen Kürze behandelt werden. Warum also hat Troeltsch es bei der Beschreibung des fragilen wechselseitigen Auslegungsverhältnisses von Normativität und Geschichte, Wesen und Erscheinung des Christentums nicht belassen? Meine These wäre, dass Troeltschs Metaphysik vor allem zwei Motiven entspringt: erstens einem kontingenzbegrenzenden Motiv, das die ‚Unruhe‘ in der geistigen Uhr zwar nicht stillstellen, aber auch nicht zu „Chaos“⁶³ mutieren lassen will. Troeltsch legt sich selbst die

 Vgl. neben den in Anm. 31 genannten Beitrag von Rendtorff die unterschiedlichen Einschätzungen von: Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs ‚Historismus‘ (TroeltschStudien, Band 11), Gütersloh 2000, S. 243 – 260; Christoph Schwöbel: ‚Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, in: ebd., S. 261– 284; Hartmut Ruddies: ‚Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Historismuskonzept und Gegenwartsdeutung bei Ernst Troeltsch, in: Wolfgang Bialas u. a. (Hg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik (Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Band 2), Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 198 – 217.  Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 998.  Ohnehin stellt sich die Frage, wie weit in diesem Punkt überhaupt eindeutige Klarheit zu erzielen ist. Denn eine befriedigende Bestimmung von Status und Reichweite der Metaphysik Troeltschs würde m. E. jene Grundlegung der Religionsphilosophie erfordern, die Troeltsch immer wieder angekündigt, aber nicht eingelöst hat. Hierzu Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: ders. (Hg.): Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber (Troeltsch-Studien N.F., Band 3), Berlin/Boston 2014, 215 – 240, hier S. 215 – 218.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 174.

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Frage vor, von woher die Hoffnung eigentlich motiviert wird, dass die immer neuen Wesensbestimmungen und Kultursynthesen überhaupt potenziell Sinn, Orientierung, Wahrheit transportieren.⁶⁴ In diesem Argumentationskontext rekurriert er letztlich auf den „Gottesgedanken, der als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken liegt. Jedenfalls gibt es ohne ihn oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabsbildung.“⁶⁵ Zweitens tritt ein zentrales Motiv der Metaphysik Troeltschs hervor, wenn man auf seine Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus achtet, die im zeitlichen und sachlichen Kontext der Wesensschrift angesiedelt ist. Hier wie später im Historismus-Band wird deutlich⁶⁶, dass die Metaphysik bei Troeltsch in der Funktion steht, den Formen-Apriorismus kantischer Provenienz zu überwinden und zwischen den beiden großen geschichtsphilosophischen Strömungen des Neukantianismus und der Lebensphilosophie – der „Formdenker“ und der „Lebensanschauer“⁶⁷ – zu vermitteln. Im Neukantianismus sieht Troeltsch nämlich eine scharfe Differenz von Form und Gehalt wirksam – man könnte auch sagen: von Wesen und Erscheinung des Christentums. Diese Form-Gehalt-Dichotomie bringt nicht nur das von Troeltsch mühsam in Spannung gehaltene Verhältnis von Geschichte und Normativität wieder in eine allzu stabile Lage zugunsten des Normativitätsmoments. Sondern darüber hinaus kann aus Troeltschs Sicht der Neukantianismus einen Entwicklungs- und Kontinuitätsbegriff nicht mehr gewinnen, der vom historischen Material nicht nur ‚in-formiert‘ ist, sondern zuallererst im Umgang mit ihm generiert wird. Um es auf das Tagungsthema hin zuzuspitzen: Die kreative Kraft des Christentums oder anderer Kulturgehalte hinge dann nur daran, dass sie sekundäre, letztlich austauschbare Veranschaulichungen der primären sittlichen Vernunft sind, eben „‚Material der Pflicht‘“⁶⁸. Dadurch verlieren diese Gehalte aber wiederum an Konkretion und Resonanz, weil sie an der Geschichte bloß ‚haften‘, wie Troeltsch ein häufig gebrauchtes Wort Rickerts nicht unironisch zitiert.⁶⁹

 Vgl. im ersten Band: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41): S. 375 – 378 und S. 402– 405 sowie im zweiten Band (wie Anm. 32): S. 986 – 991.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 376.  Vgl. zum Folgenden Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 342– 354, bes. S. 345 – 347 und S. 416 – 442, bes. S. 432 f. Vgl. im zeitlichen Umfeld der Wesensschrift: Ernst Troeltsch: Moderne Geschichtsphilosophie, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, ND der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 673 – 728, bes. S. 724– 726.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 32), S. 1000.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 41), S. 345.  Ebd., S. 344– 346.

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Stimmt diese Rekonstruktion, so könnte man folgern: Auch noch Troeltschs Metaphysik, die den Eindruck erweckt, Kontingenz zu revozieren, steht ursprünglich in der Absicht, Kontingenz anzuerkennen, konkret in gegenüber dem Neukantianismus verschärfter Form.⁷⁰ Dies würde auch der Analyse Georg Pfleiderers entsprechen, der die paradigmatische Differenz zwischen Kant und Troeltsch herausgearbeitet hat, was die Verhältnisbestimmung von Religion und Moderne betrifft: Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass Troeltsch die Relevanz des Glaubens nicht mehr ‚nur‘ auf die Grenzen der Selbstrealisierung sittlicher Vernunft bezieht, sondern grundlegender noch auf die Frage, von woher individueller Freiheit überhaupt Lebenskraft und Sinn zukommen angesichts der „depersonifizierend[en]“⁷¹ Tendenzen der Gegenwart, die durch die Hochindustrialisierung ausgelöst werden und eine fundamentale Krise der Moderne indizieren.⁷²

 Damit würde sich aber auch die Frage stellen, ob die kontingenzbegrenzenden Motive wirklich eine metaphysische Grundlegung erfordern. Denn jenseits von Neukantianismus und Lebensphilosophie stünde auch eine transzendentale Freiheitstheorie offen, die indes keinen Formenapriorismus implizieren muss. Dabei denke ich vor allem an jene von Hermann Krings und Hans Michael Baumgartner in den 1970er Jahren entwickelte Subjekttheorie: Hermann Krings: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, Freiburg, München 1980; Hans Michael Baumgartner (Hg.), Prinzip Freiheit. Eine Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens, Freiburg, München 1979. Namentlich Baumgartners transzendentale Historik hat Troeltschs Kritik am Neukantianismus zustimmend aufgenommen, ebenso wie Troeltschs Einsicht in die wesentlich praktische Dimension des Historismus (Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1997, S. 140 – 146). Diese Subjekt- und Freiheitstheorie ist theologisch von Thomas Pröpper rezipiert worden (Thomas Pröpper: Theologische Anthropologie, 2 Bände, Freiburg i.Br. 2011). Sie steht im Raum katholischer Systematik für eine Theorie, die das Bewusstsein für die Kontingenz sämtlicher Sinnbegriffe ungleich stärker in sich aufgenommen hat, als die Modelle, die unmittelbar vor und nach dem II. Vatikanum zunächst die Synthese mit patristischen und thomistischen Denktraditionen gesucht haben: Hierzu vom Verf.: Magnus Lerch: Verzögerte Modernisierung. Problemkontexte und Lösungspotenziale des transzendentalen Freiheitsdenkens, in: Klaus von Stosch u. a. (Hg.), Streit um die Freiheit. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn u. a. 2018, S. 271– 290.  Ernst Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: ders., Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903 – 1912), hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin, Boston 2014 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 6, Teilband 1), S. 434– 473, hier S. 447 (im Original kursiv hervorgehoben).  Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (wie Anm. 22), S. 62 f und S. 239.

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4 Ausblick Katholische Schriften über das ‚Wesen des Christentums‘, die innerhalb der Weimarer Reformtheologie entstanden sind, haben den historistischen Wesensbestimmungen der Jahrhundertwende oft vorgeworfen, dass sie das ‚Wesen‘ auf einen abstrakten, subjektiv konstruierten Begriff fixieren und so die „Fülle“ der Christentumsgeschichte unzulässig reduzieren.⁷³ Diese Diagnose hatte wohl von Anfang an nur Harnacks Wesensbestimmung im Blick (und diese zumal in einer einseitig essentialistischen Auslegung⁷⁴); Troeltschs Anliegen verkehrt sie jedenfalls ins Gegenteil. Denn sein Motiv besteht darin, um der Kreativität des Christentums willen jede Wesensbestimmung an dessen historische Gestalten zurückzubinden. Daraus erwächst aber gerade die Verpflichtung, sich nun auch zu der Tatsache zu verhalten, dass die Christentumsgeschichte – gerade dann, wenn sie nicht vorab rationalisiert wird, wie die katholischen Wesensbestimmungen gegenüber dem Protestantismus geltend machen wollten – sich durch diskontinuierliche und kontingente Verläufe auszeichnet und diese genetische Struktur auch von geltungstheoretischer Relevanz ist.⁷⁵ Hier zeigt sich die Leistung der Funktion, die damals der Ausdruck ‚Wesen des Christentums‘ innehatte, auch wenn der Begriff heute wohl durch ein Äquivalent ersetzt werden muss, das für essentialistische Missverständnisse weniger anfällig ist.⁷⁶ Bei Troeltsch steht der Wesensbegriff nämlich geradezu stellvertretend für die Grundeinsicht, dass gerade in der Anerkennung diskontinuierlicher Überlie-

 Karl Adam: Das Wesen des Katholizismus (wie Anm. 24), S. 53; Romano Guardini: Das Wesen des Christentums (wie Anm. 24), 2 f.  Etliche bedenkenswerte Gründe, die zu diskutieren hier nicht der Platz ist, führt gegen eine essentialistische Interpretation von Harnacks Wesensschrift Claus-Dieter Osthövener ins Feld: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002) S. 296 – 331.  Wie Michael Seewald aus dogmengeschichtlicher Perspektive rückblickend formuliert, wurde „eine Theorie der Dogmenentwicklung […] im engeren Sinne ja erst durch die Diskontinuitätsvermutung nötig, die die Dogmengeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts formuliert. Sie hat also dem gerecht zu werden, was ihr geschichtlich vorgegeben ist. Wenn aber mit Schelling gilt, im ‚Proceß ist bloße Notwendigkeit, in der Geschichte ist Freiheit‘ […], dann kann eine Theorie der Dogmenentwicklung diese Freiheit nicht selbst wieder mechanistisch-determinativ durch eine Zauberformel, die alle zurückliegende Entwicklung erklären und alle künftige Entwicklung vorwegnehmen würde, hintergehen“, Michael Seewald: Dogma im Wandel (wie Anm. 7), S. 291.  Zwei Beispiele aus der neueren Theologie: Hans-Joachim Höhn: Praxis des Evangeliums – Partituren des Glaubens.Wege theologischer Erkenntnis,Würzburg 2015, S. 45, Anm. 7, spricht von der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen „konstitutiven und kontingenten Merkmalen des Glaubens“; Thomas Pröpper: Theologische Anthropologie, Band 1, Freiburg i.Br. 2011, S. 77, von der „Grundwahrheit“, die er ausdrücklich synonym zur „Wesensbestimmung“ versteht.

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ferungsprozesse die geltungstheoretische Frage nach Wahrheit und Kontinuität des Christentums nicht erledigt ist, sondern von dieser Anerkennung selbst hervorgetrieben wird, aber eben stets neu. Bezüglich des Wahrheitsanspruchs zeigt sich dies daran, dass auf jeder Ebene der Funktionen, die der Wesensbegriff hat – als Kritik-, Entwicklungs- und Idealbegriff (Kap. 2) – der normative Maßstab nicht ausgeschlossen wird, sondern nur seine einseitig-rationalistische, d. h. geschichtslose und nicht-prozessuale Anwendung. Ebenso ist die Anerkennung historischer Diskontinuität und Kontingenz in der Christentumsgeschichte nicht mit der Affirmation des radikalen Bruchs, also der Verabschiedung geschichtlicher Kontinuität gleichzusetzen.⁷⁷ Die Pointe besteht vielmehr darin, dass auch der Kontinuitätsbegriff prozessual zu denken ist: Kontinuität „liegt“ nicht „einfach zutage“⁷⁸, sodass sie immer schon unterstellbar wäre, sondern sie ist je neu, am realhistorischen Verlauf selbst herauszuarbeiten. Die beiden gleichermaßen problematischen Alternativen bestünden entweder in einem rein rationalen, formalen Kontinuitätsbegriff, der zwar sichergestellt, aber auf die tatsächliche Geschichte nicht bezogen wäre und damit unanschaulich bliebe, oder aber in der unterschiedslosen Koinzidenz von faktischem Lebensvollzug und geschichtlicher Kontinuität, d. h. in einer ‚Normativität des Faktischen‘, wie sie von Seiten des kirchlichen Lehramts an Alfred Loisys Wesensbestimmung kritisiert wurde. Entsprechend zeigt der Wesensbegriff an, dass das eingangs eingeforderte (Kap. I) traditionskritische Moment zu einer Theorie der Überlieferungsgeschichte

 Dass die Zumutung des radikalen Bruchs nicht nur eine „Unmöglichkeit“, sondern auch „ein schweres Unrecht“ im Hinblick auf die Mentalität vieler Glaubenden wäre, betont Troeltsch einerseits kirchenpolitisch, vgl. Ernst Troeltsch: Die Kirche im Leben der Gegenwart, in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, ND der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962 (Gesammelte Schriften Band 2), S. 91– 108, hier S. 100. Andererseits hat diese Perspektive auch eine weltpolitische Stoßrichtung: Troeltsch will nach dem Ersten Weltkrieg die Weimarer Republik nicht nur ‚vernunftrepublikanisch‘ anerkennen, sondern geistig und kulturell aktiv stabilisieren, vgl. Gangolf Hübinger: Ernst Troeltsch – Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) S. 189 – 218, hier S. 212. Das gelingt aus Troeltschs Sicht aber nur, wenn in der Gesamtentwicklung Europas die Diskontinuität zwischen ‚westeuropäischen‘ und ‚deutschen‘ Denktraditionen weder überspielt noch als radikaler Bruch verstanden wird. Troeltsch geht es also auch hier, wie in der Wesensschrift, um ein ‚Kontinuum‘, das nicht ‚einfach zutage liegt‘, aber um der verantwortungsethischen Gestaltung willen (hier: der neuen politischen und kulturellen Ordnung nach dem Weltkrieg) herausgearbeitet werden muss. Vgl. Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923), hg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit, Berlin, New York 2002 (Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Band 15), S. 493 – 512, bes. S. 506 f, wo besagtes Kontinuum im Prinzip der Autonomie identifiziert wird, das in unterschiedlichen Formen institutionalisiert worden ist.  Ernst Troeltsch: Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (wie Anm. 1), S. 420.

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nicht nachträglich hinzukommt, sondern ihr immanent ist, der Wesensbegriff von vornherein als Kritikbegriff fungiert. Weil schon der Aufweis geschichtlicher Kontinuität ohne kritische Stellungnahme gar nicht möglich ist, fordert Troeltsch die Transparenz der Bedingungsfaktoren des konkreten Standortes statt des vergeblichen Versuchs seiner prinzipiellen Ausschaltung.⁷⁹ Dies gilt erst Recht, weil in die Bestimmung des Überlieferungszusammenhangs die verantwortungsethische Gestaltung des Christentums auf Zukunft hin mit eingeht (wie die Funktion des Wesens- als Idealbegriff zur Geltung bringt). Deshalb schließen sich das ‚Wagnis‘ der Kreativität und die ‚Treue‘ zur Überlieferung nicht aus, sondern ein. Troeltsch führt geradezu vor, dass dieser Zusammenhang voraussetzt, die Momente der geschichtlichen Kontingenz und der subjekthaften Freiheit anzuerkennen.⁸⁰

 „Je weniger Arbeit man auf den Selbstbetrug verwendet“, dieser Standortgebundenheit „theoretisch entrinnen“ zu können, „um so mehr bekommt man die Hände dafür frei“, diese „praktisch einzugrenzen und ungefährlich zu machen“, ebd., S. 436.  Es müsste freilich genau bedacht werden, wie diese Momente in eine katholische Ekklesiologie integriert werden könnten. In jedem Fall wären dazu in der dogmatischen Ekklesiologie stärker institutionen- und rechtstheoretische Aspekte zu thematisieren, als dies bisher geschieht. Vgl. zuletzt Hans-Joachim Höhn, Kirche und kommunikatives Handeln. Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas’ (FTS 32), Frankfurt a. M. 1985. Jetzt aber auch: Georg Essen: ‚Leib Christi‘ – eine verbrauchte Metapher. Eine freiheitstheoretische Kritik der Leib-Christi-Ekklesiologie in dogmatischer Absicht, in: Matthias Remenyi, Saskia Wendel (Hg.): Die Kirche als Leib Christi. Geltung und Grenze einer umstrittenen Metapher (QD 288), Freiburg i.Br. 2017, S. 263 – 294.

Ruth Conrad

„Die Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur sind gezählt“

Praktisch-theologische Überlegungen zur (möglichen) Zukunft des Protestantismus im Anschluss an Ernst Troeltsch Wird nach der – möglichen – Zukunft und den – möglichen – Zukunftsaufgaben von Protestantismus und Kirche gefragt,¹ so drängt sich unmittelbar die Frage auf, wie solche theologische, respektive praktisch-theologische Überlegungen dergestalt grundgelegt und modelliert werden können, ohne dass sie von vornherein in den Verdacht geraten, entweder Kaffeesatzleserei zu betreiben oder verdeckte theologie- wie kirchenpolitische Interessen zu verfolgen. Zu solchen verdeckten Interessen gehört m. E. beispielsweise das Interesse, die künftige Gestalt von Christentum und Kirche möglichst und ausschließlich den je eigenen ästhetischen, ethischen und religiösen Präferenzen entsprechen zu lassen, da andernfalls, so der mehr oder weniger deutlich artikulierte Unterton, mindestens die Kirche dem baldigen Untergang geweiht sei. „DIE Kirche MUSS“ lautet der entsprechende Satzanfang. Dieses Dilemma der Modellierung von Zukunftsaussagen ist kein neues Problem, sondern findet sich bereits bei Ernst Troeltsch, wenn er in den Schlussbetrachtungen der Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen beschreibt, dass eine „Ableitung von Grundsätzen für die Zukunft“ aus einer „Schilderung der gegenwärtigen Lage“ eher „untunlich“ sei. Denn wie „das neue Haus aussehen wird […], weiß heute noch niemand“.² Freilich entledige diese Einsicht, so Troeltsch, dann eben doch nicht der Aufgabe, gerade in der Auseinandersetzung mit der „Ideen- und Lebenswelt des Christentums“ in Geschichte und Gegenwart „Bleibendes und Ewiges als Gehalt des christlichen Sozialethos“ zu finden, gleichsam einen „Leitstern […] für die Gegenwart und für die Zukunft, etwas, was nicht bloß dem Begreifen, sondern auch dem Gestalten der Lage dient“.³ Es sind die bleibenden Gehalte wie Einsichten des Christentums, denen die Potenz zur Gestaltung der künftigen Sozialgestalt des Christlichen zugetraut

 Folgende Überlegungen bieten – entsprechend den Kongressvorgaben – einen kurzen Impuls für eine Podiumsdiskussion. Der deshalb auf Pointierung zielende Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten, die Darstellung aber um erläuternde Anmerkungen ergänzt.  Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften Band 1), Anastatischer Neudruck der Ausgabe von 1912, Tübingen 1919, S. 966.  Ebd., S. 977. https://doi.org/10.1515/9783110733075-011

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wird. Im Blick auf die Kirche ist die Lage, die es nicht bloß zu begreifen, sondern auch auf Zukunft hin zu gestalten gilt, für Troeltsch an einem Punkt relativ eindeutig, dass nämlich die „Tage des reinen Kirchentypus in unserer Kultur […] gezählt“ seien.⁴ An diesem Punkt will ich ansetzen und fragen, was es gegenwärtig im Blick auf die – mögliche – Zukunft von Protestantismus und Kirche bedeuten könnte, dass das Ende des „reinen Kirchentypus“ nicht bloß zu begreifen, sondern zu gestalten ist? Dabei möchte ich zwei Spuren nachgehen. Erstens werde ich Überlegungen vortragen, ob es weiterhin wirklich ‚nur‘ um ein „bloßes“ Begreifen gehen kann oder ob nicht vielmehr ein grundlegendes und damit umfassendes Begreifen und Akzeptieren dieses Umstandes vonnöten ist, um dem protestantischen Elend des Schwankens zwischen Rekatholisierung, Dogmatisierung und Staatsnähe ein Ende zu bereiten. Hier fokussiere ich auf die verfassten evangelischen Kirchen. In einem zweiten Schritt werde ich fragen, ob das Ende des „reinen Kirchentypus“ nicht notwendig nahelegt, die praktisch-theologische Kirchentheorie zu einer Theorie religiöser Vergemeinschaftung bzw. Theorie religiöser Gemeinschaft(en) weiterzuentwickeln. Hier lege ich den Schwerpunkt stärker auf die Theologie, bzw. Praktische Theologie. In beiden Punkten gehe ich vom Schlusskapitel der Soziallehren aus und beziehe die dortigen Überlegungen auf Fragen, die sich aus der praktisch-theologischen Reflexion auf gegenwärtige Konstellationen ergeben. Einen Dualismus von „Begreifen“ und „Gestalten“ versuche ich zu vermeiden,⁵ da m. E. gerade im Ineinander von beidem das kreative Potential für die Zukunft von Kirche und Protestantismus zu finden ist.

 Ebd., S. 981.  M. E. ist diese Vorsicht bei Troeltsch selbst angelegt, wenn er „Erkenntnisse ewiger ethischer Werte“, die das Gestalten orientieren, als außerhalb der Wissenschaft angesiedelt einstuft (ebd., S. 977).

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1 Das Ende des „reinen Kirchentypus“ nicht „bloß“ begreifen, sondern endlich grundlegend begreifen – oder: vom Elend des Schwankens zwischen Rekatholisierung, Dogmatisierung und Staatsnähe „Reines“ Kirchentum wäre, in der Beschreibung von Troeltsch, unter anderem gekennzeichnet durch die Möglichkeit zur Erfassung von Massen, einer weitestgehenden Weltanpassung sowie einer objektiven Fassung der Glaubensgegenstände. Das Luthertum, im Blick auf die heutige Kirchengestalt von besonderem Interesse, habe dabei „das objektive organisierende Element in die heilige Schrift und die ihr innewohnende Geisteskraft, sowie in das sie auslegende Predigtamt“ verlegt.⁶ In der Moderne freilich gebe es, so die Diagnose bei Troeltsch, das Kirchentum nicht mehr als eine reine Sozialform. Vielmehr durchdringe es sich zunehmend mit Lebensgehalten der Sekte und Mystik. M. E. ist es genau diese Entwicklung, die es nicht „bloß“ zu begreifen gilt, sondern die endlich grundlegend und damit umfassend zu begreifen als Aufgabe immer noch aussteht. Das nämlich würde bedeuten, diese Entwicklung nicht länger nur als religiös-kirchlichen Verfall und machtpolitische Marginalisierung entweder schlicht zu ignorieren oder abwehrend-apologetisch zu bekämpfen, sondern als Bedingung der Möglichkeit von Kirche überhaupt zu akzeptieren. Dass ein solches grundlegendes und umfassendes Begreifen des Endes des reinen Kirchentums innerhalb der Kirche selbst noch ausständig ist, ein entsprechender Selbstreflexionsprozess also nicht stattgefunden habe, macht bereits Troeltsch an mindestens drei Phänomenen fest, nämlich denen der Rekatholisierung, der Dogmatisierung und einer forcierten Staatsnähe. Zum ersten: Beständig würde die lutherische Kirche nach der katholischen Kirche – dem Prototypus des Kirchentums – schielen. „Es ist kein reines Kirchentum mehr, wenn auch der kirchliche Konformitätsgeist leidenschaftlich genug gegen diese unaufhaltsame Entwickelung sich empört und verschämt oder unverschämt nach katholischen Idealen hinüberschielt“.⁷ Dort hoffe man zu finden und adaptieren zu können, was man selbst entbehrt – gesellschaftsumfassende kirchliche Bedeutsamkeit in vorneuzeitlicher Machtfülle. Unwillkürlich fühlt man sich erinnert an die von Rekatholisierungstendenzen nicht freie Konzeption und  Ebd., S. 981.  Ebd., S. 982

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Durchführung des Reformationsjubiläums in der zurückliegenden Dekade⁸ oder an Reklerikalisierungstendenzen in der kirchlichen Ausbildung. Zweitens sei bezüglich der Fassung der Glaubensinhalte, so Troeltsch, festzustellen, dass die Tendenzen der Beharrung auf den „objektiven Gnaden- und Erlösungsschatz“⁹ in der religiösen Kommunikation der Kirche anhielten. Dies zeige sich besonders markant in der Struktur der Christologie. Der Christus der Kirche sei „der Erlöser, der in seinem Heilswerk die Erlösung und Begnadigung ein für allemal vollbracht hat und, durch Amt,Wort und Sakramente in der Kirche wunderbar wirkend, sein Heilswerk den einzelnen zueignet.“¹⁰ Diese Beschreibung zitiert gleichsam eine Parole, von der auch gegenwärtig nicht wenige kirchenamtliche Dokumente wie auch Predigten ebenso konstant wie penetrant durchzogen sind. Man kann zwar, wie bereits Troeltsch konstatiert,¹¹ durchaus Durchmischungen mit den christologischen Modellen von Sekte und Mystik feststellen – nämlich Christus als „Vorbild“ und „Gesetzgeber“ wie Christus als innerliches „Gefühl“.¹² Diese Durchmischungen erfolgen m. E. aber in der Tendenz intuitiv-additiv und weniger ideell-gedanklich. Damit aber spiegelt sich auf der Ebene der dogmatischen Repräsentation wie religiösen Kommunikation ein Sachverhalt wider, der auch die Sozialgestalt von Kirche in der Moderne durchgängig prägt. Auch hier ist nämlich kein „diese Motive versöhnende[s] Gebilde“ entstanden.¹³ Für Troeltsch lagen indes die zentralen Zukunftsaufgaben der Kirche in eben dieser „gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihrer Vereinigung zu einem all diese Motive versöhnenden Gebilde“. Er erkannte darin „Aufgaben soziologisch-organisatorischer Natur, die dringender sind als alle Aufgaben der Dogmatik“.¹⁴ Dieses Aufgabe liegt auch heute für die evangelische Kirche noch als weitgehend unbewältigte oben an. Vor dem Hintergrund der angesprochenen, auch gegenwärtig evidenten Verbindung von religiöser Idee und soziologischer Form ergibt sich m. E. eine doppelte Aufgabe: Zum einen wäre innerhalb der Praktischen Theologie die interne Relevanz, womöglich auch Macht der religiösen Idee oder gar des Dogma-

 Vgl. z. B. Thomas Kaufmann/Martin Laube: So nicht! Die EKD hat die Reformation theologisch entkernt, in: Zeitzeichen 4 (2017), S. 20 – 22.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 967.  Ebd., S. 968.  Vgl. ebd., S. 969.  Ebd., S. 968.  Ebd., S. 982. Ebenso wenig aber ist die Pluralität der Formen einer konstruktiven, weil auf das Prinzipielle zielenden Würdigung unterzogen worden. Funktionale Addition ist freilich noch nicht theologische Anerkennung oder gar wechselseitige Durchdringung.  Ebd.

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tischen für das Selbstverständnis unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften vergleichend zu diskutieren. Das Gespräch zwischen Praktischer und Systematischer Theologie ließe sich in solchen Fragen noch vertiefen.¹⁵ Zum andern: Im Blick auf die Kirche hält m. E. das von Troeltsch konstatierte Schwanken „zwischen einem System von durch sich selbst gültigen Gedanken und einem historisch-autoritativen, wunderbeglaubigten Dogmenkreis“¹⁶ bis in die Gegenwart an. Hier wäre die Diskussion um eine kreative Umformung der Dogmatik in eine Glaubenslehre noch zu vertiefen und pointierter zu profilieren, gerade um der religiös-theologischen Parolen- und Floskelproduktion entgegenzuwirken.¹⁷ Notwendig ist eine ‚Umformung‘, die das bei Troeltsch zentrale Ineinander von Christologie, Soteriologie und Kultus für gegenwärtige Menschen verständlich und lebensweltlich relevant darzustellen und zu gestalten vermag.¹⁸ Grundlegend und umfassend „zu begreifen“ wäre drittens, dass eine wesentliche Voraussetzung, auf die die Kirchentümer aufbauen, zunehmend brüchig wird, nämlich deren Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Ohne staatliche Unterstützung „gibt es kein dauerndes, konformes und unzertrennbares Kirchentum.“¹⁹ Ohne die gegenwärtige religionspolitische Situation vertiefter diskutieren zu können, kann doch festgehalten werden, dass „der Staat“ und „die Kirchen“ sich nicht länger als zwei eindeutig zu identifizierende Größen gegenüberstehen, die die Schnittmenge der Felder „Religion“ und „Politik“ in mehr oder weniger deutlich zu beschreibenden dualen Konfigurationen bespielen. Die Zeiten, in denen eine allgemeine Christlichkeit der Gesellschaft behauptet werden konnte, welche eine der Voraussetzungen dieses Gegenübers darstellt, sind vorbei. Das Feld ist unübersichtlicher, pluraler. Darauf hat im Rahmen der Auswertung der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung Martin Laube hingewiesen:

 M. E. wäre in diese Diskussion sehr viel stärker als bisher auch dogmatische und ethische Konzepte aus dem evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Bereich einzubeziehen, um ein theologisches und nicht ausschließlich phänomenologisches Gespräch mit diesen wachsenden Sozialformationen des Christentums voranzubringen. Als wesentlichen Impuls siehe hierzu: Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie. Hg., übers. und eingel. v. Jörg Haustein und Giovanni Maltese. Mit einem Vorwort von Michael Bergunder, Göttingen 2014.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 970.  Auf diesen Sachverhalt hat für die Praktische Theologie insbesondere Wilhelm Gräb immer wieder hingewiesen. Vgl. zuletzt ders.: Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie, Tübingen 2018.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 969: „Die religiöse Lehre ist der Ausdruck der zunächst im Kultus sich sammelnden und ausströmenden religiösen Lebendigkeit und die Ausbildung des Gedankens, soweit Gedanken überhaupt zu diesem Zwecke nötig waren. Alles Philosophische und rein Dogmatische ist sekundär.“  Ebd., S. 981.

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„Die säkulare Signatur des gegenwärtigen Zeitalters – welche das Christsein zu einer bloßen ‚Option‘ degradiert – auf der einen Seite, die forcierte religiöse Pluralisierung auf der anderen lassen die Behauptung einer allgemeinen Christlichkeit der Gesellschaft nur mehr als wehmütige Erinnerung erscheinen“.²⁰ Dass – wie Troeltsch formulierte – „das ganze Volk zur Kenntnis der Heilspredigt komme und jedermann wenigstens mit dem göttlichen Heil in Berührung gebracht werde“,²¹ war schon damals und ist heute umso deutlicher eine Illusion, kirchenamtlich geforderten Taufquoten²² oder ethische Führungs- und Orientierungsansprüche seitens der Kirchenleitungen hin oder her. Kirche ist eine Akteurin unter vielen, eine wesentliche, aber nicht die einzige. Dies endlich grundlegend und umfassend zu begreifen, wäre womöglich der Anfang vom Ende des schon von Troeltsch beklagten „täglich schlimmer werdenden Kirchenelends“.²³

2 Das Ende des reinen Kirchentypus gestalten – oder: von der Notwendigkeit, religiöse Vergemeinschaftung kreativ zu denken und mit liberalem Gestus zu pflegen Von den drei bei Troeltsch unterschiedenen Typen religiöser Gemeinschaftsbildung hat m. E. der Typus der Mystik und damit – etwas grob vereinfacht – der Typus der individualisierten Religion in der praktisch-theologischen Forschung in den zurückliegenden Jahren die größte Zuneigung erfahren.²⁴ Das Interesse galt und gilt der Religion am Ort des Individuums. Auch kirchentheoretische Überlegungen wurden weitgehend im Hinblick auf diesen Typus und dessen Bedürfnisse

 Martin Laube: Religion als Praxis. Zur Fortschreibung des christentumssoziologischen Rahmens der EKD-Mitgliedschaftsstudien, in: Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hg. v. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung, Gütersloh 2015, S. 35 – 49, hier S. 41.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 971.  So oft zitiert: Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD. Hg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2006, S. 51.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 980.  Vgl. auch die Einschätzung bei Volkhard Krech/Jens Schlamelcher/Markus Hero: Typen religiöser Sozialformen und ihre Bedeutung für die Analyse religiösen Wandels in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 51– 71, hier S. 52.

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entwickelt.²⁵ Dagegen wurde die Erforschung von Gemeinschaften, die – ebenfalls grob vereinfacht – dem Sektentypus zuzurechnen sind, in der Tendenz der außertheologischen Religionsforschung überlassen.²⁶ Freikirchen, evangelikale und pentekostale Christentümer und Gemeinden, Mega-Churches oder Migrationsgemeinden waren und sind keine zentralen Gegenstände praktisch-theologischer Forschung. Den religiös Hochmotivierten galt deutlich weniger die Sympathie als den ‚Distanzierten‘²⁷. Damit aber kam es in der praktisch-theologischen Religions- wie Kirchentheorie zu einer gleichsam indirekten Fortschreibung des Erbes des christentumssoziologischen Programms der 1960er, das ein Gegenüber der „im modrigen Kirchenmuff erstarrten ‚Kerngemeinde‘“ und „das in freier Luft atmende Christentum der ‚Distanzierten‘“ forcierte.²⁸ M. E. werden derzeit aber die theoretischen wie auch gestalterischen Grenzen einer solchen schwerpunktmäßig am Individuum orientierten Religionsforschung und praktisch-theologischen Theoriebildung deutlich erkennbar. Denn erstens bleibt damit mehr oder weniger explizit der verfasste Kirchentypus als Orientierungsmarker präsent. Damit freilich wird innerhalb der Praktischen Theologie eine Fokussierung auf die europäische Religionsgeschichte fortgeschrieben, die mittlerweile „bei der Untersuchung der Sozialgestalt außerchristlicher Religionen“ an ihre Grenzen stößt.²⁹ Eine solche Untersuchung ist für eine Evaluierung der religiös-kirchlichen Gegenwartslage und der Beschreibung wie Gestaltung möglicher Zukunftsaufgaben auch der hiesigen Kirchen freilich zunehmend unerlässlich. Nicht nur, aber auch aufgrund postkolonialer Migrationsbewegungen. Zweitens kommt die Notwendigkeit der Formulierung einer die Kirchentheorie überschreitenden Theorie religiöser Vergemeinschaftung bzw. Theorie religiöser

 Das ist bspw. dort der Fall, wo der Kirchenbegriff kasualtheoretisch fundiert wird. Vgl. etwa Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart, Gütersloh 2003, 2. überarb. u. erw. Aufl. 2011.  Mit diesem Hinweis sollen nicht unzeitgemäße disziplinäre Unterscheidung revitalisiert werden.Vielmehr geht es lediglich darum, Desiderate bzw. Leerstellen der praktisch-theologischen Forschung zu markieren. Vgl. deshalb für den deutschsprachigen Bereich z. B. Sabrina Weiß: Migrantengemeinden im Wandel. Eine Fallstudie zu koreanischen Gemeinden in NordrheinWestfalen, Bielefeld 2017; Alexander-Kenneth Nagel (Hg.): Diesseits der Parallelgesellschaft. Neuere Studien zu religiösen Migrantengemeinden in Deutschland, Bielefeld 2013; ders. (Hg.): Religiöse Netzwerke. Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden, Bielefeld 2015; Hanna Rettig: Making Missionaries. Junge Evangelikale und ihre Mission. Ethnografie einer Jugendorganisation auf Reisen, Bielefeld 2017.  Formuliert im Anschluss an Gerald Kretzschmar: Distanzierte Kirchlichkeit. Eine Analyse ihrer Wahrnehmung, Neukirchen-Vluyn 2001.  Laube: Religion als Praxis (wie Anm. 20), S. 44.  Krech/Schlamelcher/ Hero: Typen religiöser Sozialformen (wie Anm. 24), S. 53.

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Gemeinschaft(en) nicht hinreichend in Blick. Dass und wie Religion immer auch der Gemeinschaft bedürftig ist, wurde lange kaum diskutiert. Troeltsch freilich insistiert: „Ohne Gemeindeorganisation und ohne Kultus ist das Christentum nicht fortpflanzungs- und zeugungsfähig“.³⁰ In dieser Linie argumentierte unlängst Martin Laube, dass es nämlich ohne „Einbindung in eine soziale Praxis […] auf Dauer keine innere Frömmigkeit geben“ könne.³¹ Und folgert daraus: „Ohne Kirche keine Religion“.³² Diesen Gedanken weiterschreibend, wäre daher auch zu formulieren: ohne Gemeinschaft kein Protestantismus, auch kein liberaler Protestantismus. Troeltsch präferierte seinerzeit unter den drei religiösen Sozialformen die Volkskirche,³³ schlicht auch, weil für eine „Nachahmung […] des angelsächsischen Freikirchentums d. h. des Neucalvinismus“ die „psychologischen Vorbedingungen, die dafür vorauszusetzende Menschenart“³⁴ fehlten. Ob sich angesichts der Transformierung der dem modernen Protestantismus besonders verbundenen bürgerlichen Gesellschaft und deren Bildungsidealen hier nicht doch Veränderungen ergeben werden bzw. längst ergeben haben, wäre m. E. ausführlicher zu diskutieren.³⁵ Troeltsch geht davon aus: „Man will die Volkskirche, nicht die vielen Freikirchen; man will den Zusammenhang mit der Wissenschaft, nicht die moralistische Gesetzlichkeit; man will die gegenseitige Duldung einer überhaupt ein bißchen ins Ungewisse und Unklare gekommenen religiösen Lehre, nicht die sich gegenseitig ausschließende Rechtgläubigkeiten.“³⁶ Auch bei großer Sympathie für volkskirchliche Mittellagen kann m. E. gegenwärtig nicht endgültig gesagt werden, ob diesen Mittellagen in religiösen Fragen die Zukunft gehören wird.³⁷

 Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 980.  Laube: Religion als Praxis (wie Anm. 20), S. 48.  Ebd.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 980.  Ernst Troeltsch: Luthers Kirchenbegriff und die kirchliche Krisis von heute. II. Erwiderung, in: ZThK 28 (1920), S. 117– 123, hier S. 120 f.  Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 976. Vgl. hierzu z. B. Patrick Heusen/Christian Ludwig (Hg.): Sozialformen der Religion im Wandel, Wiesbaden 2014.  Troeltsch: Luthers Kirchenbegriff (wie Anm. 34), S. 121.  Zum Begriff der „Mittellagen“ vgl. Johann Hinrich Clausen: Religion ohne Gewissheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: Pastoraltheologie 94 (2005), S. 439 – 454, v. a. S. 447. Claussen beschreibt dort eine religiöse Haltung, der „eine kritische Sympathie für das Mittlere, eine Musikalität für kleinere Register, eine Freude an leiseren Tönen, eine Urbanität, die mit ambivalenten Andeutungen und diskreten Ansätzen umzugehen weiß“ eigen ist. Theologischer Gewährsmann ist ihm hierfür Adolf von Harnack.

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Dessen ungeachtet hätte eine auf Gestaltwerdung und Gestaltung angelegte liberaltheologisch orientierte Theorie religiöser Gemeinschaft gerade solche Mittellagen zu kultivieren. Jenseits von organisatorisch-soziologischen Festlegungen würde sie damit einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag zur – möglichen – Zukunft von Kirche und Protestantismus leisten: einerseits, indem sie als Antwort auf religiöse Gemeinschaften, die sich im Modus autoritärer Identitätsprofilierung organisieren, nun gerade „einen metaphysisch begründeten, durch keinen Naturalismus und keinen Pessimismus zerstörbaren Persönlichkeits- und Individualitätsgedanken“³⁸ mit einem „wirklich unerschütterlichen Sozialismus“ verbindet.³⁹ Und andererseits, indem sie im Modus einer mittellagigen Theoriebildung und einer ebensolchen Pflege religiöser Gemeinschaft einen Beitrag zu mehr Gelassenheit in der Debatte um die Gestaltung der – möglichen – Zukunft der Kirche bietet. Warum aber sollte gerade sie dazu in der Lage sein? Weil eine liberaltheologisch orientierte Theorie religiöser Gemeinschaft um das Prinzip der Vorläufigkeit weiß. Das „Gottesreich[] der Zukunft“,⁴⁰ so Troeltsch, bleibt dem zukunftsgestaltenden Handeln der Menschen entzogen. Dieser Gedanke aber „ist eine Quelle der angespannten Aktivität und der Zielsicherheit zugleich“⁴¹. Ohne diese beiden aber gibt es definitiv keine Zukunft für die Kirche.

   

Troeltsch: Soziallehren (wie Anm. 2), S. 978. Ebd. Ebd., S. 979. Ebd.

Georg Pfleiderer

„Den Lebensstrom zu dämmen und zu gestalten“ Protestantische Zukunftsethik im Rückgriff auf Ernst Troeltsch

1 Einleitung: Ethik als Zukunftsethik Dass eine Beschäftigung mit der kulturellen Gestaltungskraft des Christentums auch – und in gewisser Weise vor allem – dessen ethisches Potenzial in den Blick zu nehmen hat, ist evident, zumal dann, wenn sich solche Beschäftigung im Rückgriff auf Gedanken von Ernst Troeltsch vollziehen soll. Denn so gewiss Troeltsch einerseits die kulturelle Vielfalt solcher Gestaltungskraft des Christentums deutlich genug vor Augen stand und er andererseits natürlich auch darum wusste, dass die Ausbildung einer religiösen Moral kein Spezifikum des Christentums darstellt, sondern jeder Religion eignet; so ebenso gewiss hat er doch, wenn er von der dem Menschen als solchen gestellten Aufgabe sprach, „den Lebensstrom zu dämmen und zu gestalten“¹, stets vor allem an deren ethische Dimension gedacht. Der entscheidende Transmissionsriemen kultureller Gestaltungskraft durch und aus Religion liegt, davon war Troeltsch überzeugt, in der Moral bzw. in der Ethik. Und dies gelte, davon war er ebenfalls überzeugt, zumal für den Protestantismus, insbesondere für den neuzeitlichen Protestantismus. Dass die Gestaltungskraft des Protestantismus für die moderne Kultur und Gesellschaft – ebenso wie die umgekehrte Beeinflussung des Protestantismus durch die moderne Kultur – zuvörderst im Feld jenes Transmissionsriemens Moral und Ethik zu suchen sei, liesse sich an Troeltschs diesbezüglich einschlägiger Schrift „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“² im Einzelnen zeigen. Nur stichwortartig sei in Erinnerung gerufen: Lebensweltlich ist aus Troeltschs Sicht das Feld der Familien- bzw. Sexualmoral besonders wichtig,  Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924). Christian Thought. Its History and Application (1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 17), Berlin/New York 2006, S. 103.  Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906 – 1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin/New York 2001, S. 183 – 316. https://doi.org/10.1515/9783110733075-012

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im politisch-rechtlichen Bereich die – aus der reformatorischen Zweireichelehre hervorgehende Stärkung des säkularen Staats³, in der Wirtschaft – gut weberisch – die Durchsetzung der protestantischen Arbeitsaskese.⁴ Aber auch bei den weniger evident moralisch konnotierten Sphären von Wissenschaft und Kunst hebt Troeltsch auf den fundamentalen moralisch-ethischen Aspekt ab, bei der Wissenschaft auf die Ausbildung des „wissenschaftliche[n] Gewissen[s] und der Freiheit des Gedankens“⁵, bei der modernen Kunst insofern, als er deren relative Resistenz gegen protestantische Beeinflussung gerade als das „Ende der protestantischen Askese …“ bezeichnet und damit auf ein „… seinem Wesen entgegengesetztes Prinzip“⁶ zurückführt. Wenn Kulturgestaltung im Allgemeinen, religiöse im Besonderen nach Troeltsch mithin erstens – wenn auch in den beschriebenen Grenzen, siehe Kunst – eine fundamental ethische Aufgabe und Fragestellung darstellt, so ist sie zweitens und eben als solche fundamental zukunftsorientiert. Denn indem die ethische Perspektivierung die Zukunft, also das, was möglicherweise sein wird, unter die Perspektive des Sollens oder Wollens stellt, verhält sie sich zur Unsicherheit dessen, was vielleicht sein wird, in spezifisch reflexiver Weise: Sie reflektiert nämlich darauf, dass das Entscheidende an unserem Verhältnis zur Zukunft die Art des Interesses ist bzw. sein muss, das wir an ihr nehmen. Denn diese bestimmt bereits die Fundamentalfrage im Umgang mit Zukunft, mit welchen von den der Möglichkeit nach unendlich vielen künftigen Möglichkeiten wir uns denn überhaupt beschäftigen sollten. Umgekehrt ist gerade dies – ihre spezifische Zukunftsorientierung – das Charakteristikum der Ethik in Troeltschs Augen. Denn Zukunftsbewusstsein ist ja nichts anderes als nach vorne geklapptes Geschichtsbewusstsein, angewandter Historismus. Und die Problematik der geschichtlichen Relativität des Ethischen bzw. die Problematik der ethischen Normgewinnung im Angesicht dieser Problematik ist die Grundeinsicht bzw. das Thema der Ethik Troeltschs. Ethik mit und nach Troeltsch könnte also eigentlich immer und strukturell „Zukunftsethik“ heissen (obwohl er diesen Ausdruck m.W. nicht gebraucht hat); und diese Bezeichnung wäre auch insofern berechtigt, als Troeltsch ein starkes Bewusstsein vom Innovationsbedarf der Ethik, seiner zeitgenössischen Ethik hatte, der genau darin gründet, dass in seinen Augen die beschriebene futuristische Struktur des Ethischen der Alltagsmoral, aber auch den professionellen

   

Ebd., S. 257– 269. Ebd., S. 269 – 279. Ebd., S. 289. Ebd., S. 294.

„Den Lebensstrom zu dämmen und zu gestalten“

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Ethikern im Allgemeinen zu wenig vor Augen steht: „ein Neues muss gepflügt werden“ (S. 103)! Im Folgenden soll den hier angedeuteten Strukturen einer solchen Zukunftsethik im Sinne von Ernst Troeltsch nachgegangen werden. Aus praktischen Gründen beschränke ich mich dabei auf ein bekanntes Textkonglomerat, nämlich die postum veröffentlichten Grossbritannienvorträge, die seit 2006 in der Werkausgabe kritisch ediert sind. Diese Beschränkung ist aus dem formellen, wenn auch etwas akzidentellen Grunde sinnvoll, dass Troeltsch bei diesen fünf Vorträgen von 1922/23 noch mehr als vielleicht in anderen Arbeiten, wenn auch überwiegend implizit, sozusagen in die Zukunft geblickt hat, und zwar weil und indem er auf eine spezifische Weise zurückschaut auf sein Lebenswerk und dessen entscheidende Motive. Darum konnten diese Vorträge mit einem gewissen inneren Recht als das gelesen werden, was sie faktisch wurden, seine letzten wissenschaftlichen Worte, sein Testament. Inhaltlich eignen sich die Vorträge sehr gut, um an ihnen Grundeinsichten und Grundlinien einer Zukunftsethik im Sinne von Ernst Troeltsch nachzuzeichnen – in einer Weise, die hoffentlich für unsere eigene Gegenwart und deren ethische Zukunftsprobleme erhellend ist. Dass solchen Aktualisierungsabsichten angesichts des zeitlichen Abstandes von bald hundert Jahren gewisse enge Grenzen gesetzt sind, ist nicht zu bestreiten. Diese betreffen schon die thematische Eingrenzung: aussagekräftig sind Troeltschs Vorträge nur im Bereich der Fundamentalethik; mit den vielen Fragen angewandter Ethik, wie sie heute die gesellschaftlichen Ethikdiskurse dominieren, beschäftigen sie sich nur sehr zum Teil, nämlich mit politischer Ethik, praktisch alle anderen Felder, angefangen mit Wirtschaftsethik, auch Familienethik etc. thematisieren sie gar nicht. Und natürlich werden auch heute so heiss diskutierte Bereichsethiken wie Bioethik oder Medienethik aussenhalb der Betrachtung gelassen. Überraschender ist der Ausfall von Reflexionen über das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Ethik – für die Ethik. Eine andere Schranke dieses Materials für unseren Zweck könnte darin bestehen, dass Troeltsch in diesen Vorträgen bekanntlich nicht direkt als Theologe, als theologischer Ethiker spricht, sondern als Kulturphilosoph. Das könnte freilich auch ein Vorteil sein.

2 Zum Ansatz von Troeltschs ‚Zukunftsethik‘ in seinen Grossbritannien-Vorträgen Von den fünf Grossbritannien-Vorträgen bilden die ersten drei einen relativ geschlossenen Gedankengang, dessen Thematik „Ethik und Geschichtsphiloso-

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phie“ für unsere Fragestellung besonders einschlägig ist. Troeltsch schlägt hier bekanntlich einen Bogen von den beiden miteinander zusammenhängenden Hauptthemen seiner Ethik, nämlich einer „Persönlichkeits- und Gewissensmoral“ (S. 68 – 80), die sich zu einer „Ethik der Kulturwerte“ (S. 80 – 92) erweitert, zu einem Thema, das unter der Überschrift „Der Gemeingeist“ (S. 92– 104), man könnte sagen, zivilgesellschaftliche Realisierungschancen einer solchen Ethik beschreibt. Der vierte Vortrag „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen“ (S. 105 – 118) wechselt inhaltlich zwar in die religions- und geschichtsphilosophische Thematik der Absolutheitsschrift, lässt sich aber auch als kulturund religionstheoretische Kontextualisierung der zuvor skizzierten normativen Grundlagen der Ethik lesen. Mit Titel und Themenstellung des fünften und letzten Vortrags „Politik, Patriotismus, Religion“ (S. 119 – 132) folgt der Autor einer entsprechenden Bitte der Veranstalter;⁷ gleichwohl ist das hier Dargelegte auch als beispielhafte Konkretion und als eine – ideengeschichtlich präsentierte – praktische Exploration der Probleme, denen sich eine solche Ethik insbesondere auf dem Feld des – für solche Problemexploration besonders relevanten – Politischen zu stellen hat, zu verstehen.⁸ Auf Betreiben von Troeltschs Witwe bekamen die fünf Grossbritannienvorträge zu ihrer deutschen Veröffentlichung im Berliner Pan Verlag Rolf Heise den Titel „Die Überwindung des Historismus“⁹, was Oskar Siebeck, den Verleger von Troeltschs kurz zuvor publiziertem letztem Hauptwerk „Der Historismus und seine Probleme“¹⁰, verständlicher Weise wenig freute. Berechtigt ist diese Titel-

 Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge (wie Anm. 1), S. 43: „Die London Society for the Study of Religion hatte sich als Thema ‘Patriotismus und Religion’ gewünscht.“ Troeltsch wollte diese Thematik offenbar in den weiteren historischen Horizont des Verhältnisses von Politik und Religion stellen und erweiterte darum den Titel entsprechend.  Was die Reihenfolge angeht, folge ich damit der Anordnung der deutschen Ausgabe. In der englischen Ausgabe steht der christentumstheoretische Vortrag voran, was durchaus auch einen sinnvollen Gedankengang ergibt. Dann wird die religionsphilosophische bzw. -theoretische Grundierung von Troeltschs Ethik und Geschichtsphilosophie stärker betont. Die Abfolge der für verschiedene Orte und Einrichtungen vorgesehenen Vorträge (S. 33) weicht allerdings schon wegen der dreifachen Wiederholung des Christentumsvortrags von beiden Publikationsreihenfolgen ab. Sie stimmt auch mit der Abfassungschronologie nicht überein, insofern Troeltsch zuerst den Patriotismusvortrag ausgearbeitet hat, sodann die drei geschichtsphilosophischen und vermutlich zum Schluss den Christentumsvortrag. Allerdings gingen die Arbeiten wohl auch nebeneinander her (S. 45 f). Vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltsch in Nachrufen (Troeltsch-Studien, Band 12), Gütersloh 2002, S. 50.  Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge (wie Anm. 1),S. 62.  Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schlossberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 16, 1+2), Berlin/New York 2008.

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gebung jedoch insofern, als sich Troeltsch in der Tat in den Vorträgen dem Historismusproblem und dessen Folgen für normative Orientierung im Allgemeinen, vor allem für die Ethik, widmet und dafür nach konstruktiven Lösungen sucht.¹¹ Er skizziert hier Grundgedanken, wie sie ihm zu diesem Zeitpunkt für den geplanten zweiten Teil des Historismusbandes vorschwebten: „Die Idee des Aufbaus [der europäischen Kulturgeschichte, d. Hg.] heisst Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen. Auf ihr muss die gegenwärtige Kultursynthese beruhen, die das Ziel der Geschichtsphilosophie ist. Davon soll … der nächste Band handeln.“¹² Entscheidend ist, dass in diesem Leitbegriff der „Kultursynthese“ zum einen dessen Mehrstimmigkeit gehört wird. Er hat erstens und in gewisser Weise dominierend eine ideengeschichtliche, also theoretisch-geschichtsphilosophische Dimension, die sich aber zweitens als die Basis praktischer kultureller und politischer Gestaltungsarbeit versteht. Zum andern muss man sich in Erinnerung rufen, dass die entscheidende intellektuelle und zugleich politisch-kulturelle Problematik, der sich die Gewinnung einer europäischen Kultursynthese in Troeltschs Augen gegenübergestellt sieht, diejenige der Überwindung des nach wie vor ‘garstig breiten Grabens’ zwischen dem „deutschen Geist und Westeuropa“ ist, also zwischen den westeuropäischen „Ideen von Naturrecht, Humanität und Fortschritt“¹³ basierend auf dem „Grundgedanke[n] …“ der „… Würde der allgemein-menschlichen Vernunft in jedem Individuum“¹⁴ einerseits und andererseits dem deutschen romantischen Konzept der „Humanitätsidee“ auf der Basis des Gedankens der „Vollauswirkung des Geistes nach allen Seiten,in der Einzelperson zuvörderst und dann auch in der Gemeinschaft“¹⁵, basierend auf der Orientierung am „Individuelle[n], Positive[n], Immer-Neu-Produktive[n], Schöpferische[n], Geistig-Organische[n]“¹⁶. Vor diesem Hintergrund eines seinerseits, wenn man so will, idealistischen Wissenschaftsverständnisses ist auch die konkrete Mission zu verstehen, der Troeltsch sich mit seinen Grossbritannien-Vorträgen verschrieben hatte. Er verstand diese als die Gelegenheit zum pionierhaften Brückenschlag über jenen Graben; und damit als Bildungsmission in fundamental kulturpolitischer Absicht. Seinen britischen Zuhörern wollte Troeltsch vorführen, dass sich die auf den

 Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge (wie Anm. 1),S. 68.  Ebd., S. 23.  Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (1922), in: FriedemannVoigt (Hg.): Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte, Tübingen 2003, S. 294– 314, hier: S. 298.  Ebd., S. 299.  Ebd., S. 304.  Ebd.

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ersten Blick scheinbar gegensätzlichen „Systeme …“ bei näherer Betrachtung doch auf ein Fundament mit zwei entscheidenden gemeinsamen Grundüberzeugungen zurückführen lassen, nämlich auf „… die Idee der Autonomie des Menschen und der Persönlichkeit …“, sowie auf „… die kritische Grundhaltung gegen Wirklichkeit und Überlieferung …, welche die Aufklärung geschaffen hat.“¹⁷ Wenn Troeltsch sich auf der Suche nach den Möglichkeiten und Strukturen einer solchen Selbstüberwindung des Historismusproblems im kulturpolitischen Hinblick auf eine europäische Kultursynthese in den ersten drei Vorträgen der Ethik zuwendet, dann hat dies nicht nur einen explikativen, sondern darüber hinaus den systematischen Zweck die fundamentale, methodologische „Bedeutung der Ethik für die Geschichtsphilosophie“ zu erhellen.¹⁸ Diese Bedeutungsfunktion aber ist im Sinne jener Devise keine Einbahnstrasse, sondern sie ist wechselseitig: Die Grundprobleme von Ethik und Geschichtsphilosophie lassen sich nur lösen durch das Durchdenken ihres Wechselverhältnisses. So dürfte sich der programmatische Gedanke bestimmen lassen, der in den Vorträgen entfaltet wird. Denkt man sich einen inneren Verweis beider Disziplinen auf Metaphysik, das Absolute bzw. Religion hinzu, dann ist nicht zu viel gesagt, wenn man mit dieser Fragestellung das intellektuelle Lebensthema Troeltschs in der zu dem Zeitpunkt nach Abfassung des Historismusbandes passenden Formulierung präzise bezeichnet findet. Die Entfaltung des Gedankens verläuft über folgende Schritte, die ich thetisch zu rekonstruieren versuche: (1) Moralische Akte gehören – wie auch logische, ästhetische oder rechtliche Akte – zum Genus freier Vollzüge geistiger oder wertorientierender Normbildung. Diese lassen sich zwar in der geschichtlichen Wirklichkeit nicht so leicht als solche Vollzüge identifizieren und sie sind auch faktisch häufig sozusagen kontaminiert durch Vollzüge bzw. Zwecksetzungen, die sich psychologisch oder soziologisch auf „Zufälligkeiten des psychologischen Geschiebes …“ oder auf „… psychophysische Naturgesetzes des Bewusstseinsstromes“¹⁹ zurückführen lassen; dies ändere jedoch nichts daran, dass solche normativen Vollzüge sich

 Ebd., S. 308.  Ernst Troeltsch: Fünf Vorträge (wie Anm. 1), S. 42; vgl. S 69: „[D]ie Historie verlangt eine Auseinandersetzung mit der Idee eines bleibenden und massgebenden Systems der Werte, das doch gerade von diesem Strom unterwaschen und zerfetzt zu werden schien. Das System der Werte aber ist nichts anderes als dasjenige, was wir mit anderen Worten das System der Ethik nennen. Welches ist Rolle und Bedeutung des Systems der Ethik für die grosse Aufgabe einer Bewältigung und Begrenzung der an sich grenzenlosen historischen Bewegung? – das ist die grosse Frage. Und diese Frage ist es, über die ich in diesen drei Stunden sprechen möchte.“  Ebd., S. 70.

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ihrer Eigenintention und Eigenlogik nach eben diesem „Fluss des psychologischgesetzlichen Getriebes entgegenstellen und Recht und Notwendigkeit dazu aus ihrem sachlichen Gehalt schöpfen …. Nicht das Wie der Genese, sondern das Dass der sachlichen Inhalte und ihrer logischen Verknüpfungen entscheidet“.²⁰ Die Aufklärung der Möglichkeitsbedingung dieser fundamentalen Differenz lässt Troeltsch hier bewusst auf der Seite, weil es ihm stattdessen darauf ankommt, als das eigentliche Problem die historische Variabilität und vor allem die spannungsreiche Komplexität der aus solchen normativen Akten resultierenden „Positionen“²¹ in den Blick zu nehmen. Ihn interessiert die Frage, wie unter den Bedingungen „historische[r] Bedingtheit und Komplexität der Normen … für jede Gegenwart trotzdem eine normative Position gefasst werden kann“²². Für die Lösung dieser alle kulturelle Normativität betreffenden Frage sieht Troeltsch die Ethik in einer privilegierten Situation, weil für sie in seinen Augen mehr noch und deutlicher als bei jenen anderen normativen Akten in einem spezifisch gesteigerten Sinne „Komplexität“²³ strukturbildend sei, nämlich eine solche, die zum grossen Teil „aus den inneren sachlichen Spannungen und Zusammengesetztheiten des ethischen Gedankens selbst“²⁴ resultiere. Wenn es also gelinge, für die Ethik, also an der Konstitution des moralischen Aktes, zu zeigen, inwiefern diesem eine solche Komplexität mit innerer Notwendigkeit eigne, ohne dass dadurch die innere Kohärenz und die Qualität dieses Aktes als normativ-moralischen in Frage gestellt wird, inwiefern solche Komplexitätsintegration im Gegenteil die Möglichkeitsbedingung des Gelingens des moralischen Aktes sei, dann, so dürfte Troeltsch zu verstehen sein, ist nicht nur eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Moral, sondern darüber hinaus auf die Frage nach der Möglichkeit von kulturell-geschichtlicher Orientierung und Sinngebung überhaupt, also auf das durch den Historismus gestellte geschichtsphilosophische Problem, gegeben. (2) Um die spezifische Komplexität des moralischen Aktes aufzuhellen, setzt Troeltsch beim Gewissensbegriff ein. Damit soll jedoch gerade nicht auf ein dem moralischen Handeln transzendentes normatives ‚Organ‘ oder auf die moralische Vernunft in ihrer abstrakten formalen Bestimmtheit rekurriert sein;²⁵ mit „Gewissen“ soll vielmehr eine bei jedem moralischen Akt notwendig mitlaufende Bestimmtheit adressiert sein, näherhin die „Zweckbestimmung, die auf die „Ge-

     

Ebd., S. 71. Ebd. Ebd. Ebd., S. 72. Ebd. Ebd., S. 72 f.

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winnung und Behauptung der freien, in sich selbst begründeten und einheitlichen Persönlichkeit“²⁶ zielt. „Persönlichkeit“ soll dabei wiederum gerade nicht psychologisch-substanzhaft oder metaphysisch gedacht, sondern sie soll vollzugslogisch als das im moralischen Akt notwendig, weil für diesen konstitutiv mitlaufende Ziel der „Selbstschöpfung der Persönlichkeit“²⁷ verstanden werden. In diesem Gedanken ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt von Troeltschs Gesamtargumentation zu sehen: Normative Sittlichkeit bzw. Moralität und individuell-personale Selbstgestaltung sind als die beiden Seiten ein und desselben Lebensvorgangs zu fassen. Die „Selbstschöpfung der Persönlichkeit“ ist zugleich Voraussetzung, Modus und letztes Ziel des moralischen Aktes. (3) Aus dem formalen Charakter dieses Gedankens glaubt Troeltsch eine ganze Reihe von Tugenden und Pflichten gegen sich selbst, aber auch gegen andere,²⁸ auch Grundvorstellungen von Gerechtigkeit und Solidarität, ableiten zu können; und er ist auch der Meinung, solche moralische Selbstreferenz nicht nur Individuen, sondern auch „Kollektivpersönlichkeiten“²⁹ zuschreiben zu können. Und er ist ferner der Meinung, dass sich eine solche Persönlichkeitsmoral aus inneren Gründen zu einer Ethik universaler Inklusion aller Menschen erweitern lasse.³⁰ Praktisch und konkret lasse sich aber diese „allgemeine Moralität“³¹ nur im Modus des „immer neue[n] Kampf[es]“³² gegen die Natur und das Naturwesen in uns realisieren. Hier hat der für Troeltsch so entscheidende Begriff des „Kompromiss[es]“³³ seinen Ort, der seinerseits das Wesen des „Willen[s] zur Verantwortung“³⁴ ist, der wiederum ein Synonym von „Gewissen“³⁵ darstellt. So lasse sich der „historische Relativismus“³⁶ moralisch eindämmen. „Aber der eindämmende Akt ist jedesmal ein nach Lage und Umständen, Entwicklungsreife und Lebensschwierigkeit verschiedener.“³⁷ (4) Entscheidend für die Komplexität des Ethischen in Troeltschs Sicht ist nun aber, dass in jedem moralischen Akt jener Zweck der Ausrichtung auf die Selbstschöpfung der individuellen freien Persönlichkeit zwar mitlaufen muss und

           

Ebd., S. 73. Ebd. Ebd, S. 74. Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd. Ebd., S. 79. Ebd. Ebd., S. 80. Ebd., S. 79. Ebd.

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auch für dessen eigentliche normative, ‚übergeschichtliche‘ Bestimmtheit verantwortlich ist,³⁸ dass aber der direkte Zweck einer moralischen Handlung jeweils ein anderer material bestimmter ist; nämlich die Realisierung eins bestimmten „ethischen Kulturwerte[s]“.³⁹ Diese Kulturwerte sind stets sozial, kulturell und geschichtlich vermittelt – das Gebiet der Sittlichkeit, der gesellschaftlichen Institutionen.⁴⁰ Erst jene formale, zeitlose Persönlichkeits- oder „Gewissensmoral“und diese materiale „Kulturethik“⁴¹ „zusammen machen das Ganze des ethischen Bereiches aus“.⁴² Mit dieser Ethik der Kulturwerte scheine die Lösung der geschichtsphilosophischen Zentralaufgabe der „Dämmung und Gestaltung des historischen Stroms“⁴³ auf den ersten Blick leichter als mit der formalen Persönlichkeitsmoral; aber der Schein trüge, denn alle Versuche der Konstruktion einheitlicher Kulturwertsynthesen im Stile Schleiermachers, Hegels oder Comtes müssten als gescheitert gelten,⁴⁴ allzu deutlich sei deren Abhängigkeit von partikularen Voraussetzungen ihrer eigenen Zeit und Perspektive. Mit eben dieser Einsicht müsse darum jeder Versuch der Lösung des geschichtsphilosophisch-ethischen Grundproblems kultureller Normierung einsetzen, der darum immer eine historisch-aposteriorische Komponente habe.⁴⁵ Er müsse auf die Konstruktion eines „gegebenen grossen Kulturkreises“⁴⁶ zielen, eine Kultur-„Synthese“⁴⁷, die als solche wiederum nur die „schöpferische Tat und das verantwortungsbereite Gewissen“⁴⁸ zu leisten vermöge. Geschichtsphilosophische, ja geschichtliche Konstruktionsarbeit selbst, ohne welche zukunftsgerichtete, kulturelle Gestaltungstätigkeit gar nicht möglich ist, wird hier auf ihren ethischen Kern durchsichtig. „Die Idee der Persönlichkeit, die als Freiheit in der Gewissensmoral, als Sachgehalt in der Gütermoral alles bestimmt, ist selber ein abendländischer Glaube, den der ferne Osten in dieser Weise nicht kennt und der vor allem unser individuelles Schicksal des Europäertums ist. Aber wir können angesichts unserer ganzen Geschichte nicht umhin zu glauben, dass er die

          

Ebd., S. 84. Ebd. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 82. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Ebd., S. 89. Ebd., S. 91. Ebd.

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Wahrheit für uns ist.“⁴⁹ Die vor diesem Hintergrund betriebene intellektuellpraktische Kulturarbeit sei wiederum nur möglich im Bewusstsein eines religiösen Glaubens, theologisch einer „Rechtfertigungslehre“, und in „dieser Lehre gipfelt nicht umsonst die religiöse Idee unseres abendländischen Kulturkreises und diese Rechtfertigungslehre ist für Katholiken und Protestanten gleich gültig.“⁵⁰

3 Protestantische Zukunftsethik im Rückgriff auf Ernst Troeltsch?! Nicht erst der letzte, explizite Hinweis auf die Rechtfertigungslehre macht deutlich, dass der Ansatz von Troeltschs geschichtsphilosophischer Ethik einen sehr bestimmten geistes- und kulturgeschichtlichen Ort hat, für den die protestantische Konfession und theologische Ausbildung seines Urhebers von mehr als nur biographischer Bedeutung ist. Dass der christlich-religiöse Grundgedanke der Erlösung nicht als supranaturale Hoffnung auf ein besseres Jenseits, sondern als Möglichkeitsgrund des Glaubens, der seinerseits das Medium freier, individueller Selbstentfaltung in der geschichtlichen Wirklichkeit bildet, zu verstehen ist, ist die reformatorische Grundidee, die in der neuzeitlich-protestantischen Theologie eindrucksvoll ausgelegt worden ist. In einem gewissen Sinn lässt sie sich darüber hinaus in der Tat auch schon als allgemein-abendländisch-ökumenische Grundüberzeugung fassen, sofern man die Genese dieses neuzeitlichen Selbst bereits bei Augustin (als Jesus-, Paulus- und Psalmenrezipient), im mittelalterlichen Beichtinstitut oder in der Gnaden- und Tugendlehre der Hochscholastik angelegt sieht. Was ist von der so in Erinnerung gerufenen Ethik Troeltschs in Bezug auf die Aufgaben, die sich einer protestantisch-theologischen Ethik angesichts der drohenden Zukunftsprobleme heute stellen, zu lernen? Vielleicht in etwa Folgendes: (1) Gegenüber einer ethischen Diskurslage, die sehr stark von kollektiven konkreten, oft politischen und rechtlichen Entscheidungsfragen bestimmt ist, schärft Troeltsch ein, dass das eigentliche Subjekt von Moral und Ethik das Individuum ist. Zwar redet Troeltsch, wie erwähnt, auch von der moralischen „Kollektivpersönlichkeit“, und im „Gemeingeist“-Vortrag widmet er der Bildung solcher Kollektivpersönlichkeiten besondere Aufmerksamkeit. Aber deren konstruktionstheoretische Struktur und ihr Stellenwert ist ein abgeleiteter: „Verant Ebd., S. 92.  Ebd., S. 91.

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wortung“, „Gewissen“ und „Persönlichkeit“ als ethische Leit- und Grundbegriffe sind am Individuum abgelesen und haben dort ihren eigentlichen Ort. Zu erfassen sind diese ethischen Leitbegriffe in ihrem bildungsprozessualen, darin selbstreflexiven Sinn. Darin vor allem dürfte die gegenwarts- und zukunftsorientierte Bedeutung der Ethik Troeltschs liegen; denn sie hilft, sich allen substanzialistisch-mechanistischen Vorstellungen von Subjektivität oder Personalität zu widersetzen, wie sie derzeit etwa durch die rasanten Entwicklungen der Neurorobotik provoziert werden. (2) Genauso im Blick zu behalten ist aber auch Troeltschs Gedanke, dass die prozessual-reflexive Selbst-Gestaltung moralischer Autonomie alias Persönlichkeit nur möglich ist im Rahmen der Bereitschaft zur Beteiligung an der Bildung einer – gemeinschaftlich-individuellen – Kultursynthese, d. h. der konstruktiven Einstellung in einen grösseren überindividuellen kulturellen Bedeutungszusammenhang. Leitbegrifflich dafür kann zu Troeltschs wie zu unseren Zeiten der Europagedanke stehen. Blickt man auf den heutigen ethischen Pluralismus in Europa, dann wird man gegenüber Troeltschs Dualismus von englisch-französischem West- und deutschsprachigem Mitteleuropa sicher noch eine Anzahl weiterer Ethoskulturen und vor allem auch sehr viele Bruchlinien innerhalb jener beiden zu berücksichtigen haben. Eine gewisse Orientierungskraft kommt Troeltschs Basisunterscheidung aber durchaus noch zu: oft stehen utilitaristische Tendenzen kantisch-deontologischen gegenüber. Beide sind berechtigt; auflösen lassen sie sich nur im Medium individueller wie kollektiver moralisch-politischer Urteilsbildungsprozesse. Als deren Leitwert und Norm wird jedoch stets wiederum die Ermöglichung individueller, freier Lebensgestaltungsprozesse in den Blick zu nehmen sein. (3) Bereits mit der strukturellen Unhintergehbarkeit der Individualität moralischer Akte, aber mehr noch mit der für Troeltschs Ethik noch wichtigeren Einsicht in die spezifische Komplexität des Ethischen verbindet sich eine Begrenzung der Erwartung an die allgemeine Rationalisierbarkeit des Ethischen. Der aus der Nichtbeachtung dieser Einsicht folgenden Tendenz der Moral zur Polemogenität ist eine Bereitschaft zum Kompromiss entgegenzusetzen. Diese hat ihren Ort somit nicht erst in der Politik oder im Recht, sondern bereits im moralischen Bewusstsein selbst. (4) Ihre eigentliche Begründung verweist jedoch aus der Moral selbst hinaus bzw. an deren – religiöse – Grenze. Die Rechtfertigungslehre beschreibt nichts anderes als den Möglichkeitsgrund dessen, die eigene moralische Überzeugung aus moralischen bzw. moralisch-religiösen Gründen zu begrenzen. Für heutige liberale Theologie und Ethik dürften diese Aktualisierungsempfehlungen wenig anstössig sein. Sie formulieren eher so etwas wie den ethischen Gemeingeist dieses „Tribe“.

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Darum gilt es zum Schluss sich auch das vielleicht provokativste Moment in Erinnerung zu rufen, welches Troeltschs ethischer Liberalismus gegenüber vielen Spielarten unseres heutigen kennzeichnen mag: Sein Insistieren auf die Prozessualität der moralischen Persönlichkeitsbildung, die als solche der Möglichkeitsgrund ihrer Normativität ist, widerstreitet jedweder quasi-naturalistischen Rede von „Menschenwürde“ und einem lauen Toleranzmoralismus, der sich aus aktuellen politischen Debatten vornehm-wissenschaftlich heraushält. Troeltsch fordert vielmehr von Vertretern liberaler Persönlichkeitsethik eine tugendethische Deckung, die er auch selbst geleistet hat. Die Bereitschaft dazu, „dass der einzelne über sich selbst hinauswächst bis zum Opfer für das Ganze, wenn das notwendig werden sollte“⁵¹, hat er gelebt, gerade in diesen letzten Lebensjahren, -monaten und -wochen, die wissenschaftlich dem Historismus, seinen Problemen und deren reflexiver Überwindung gewidmet waren, politisch der Etablierung einer bürgerlichen Demokratie und universitär und fakultär der Durchführung und Ermöglichung eines wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrbetriebs trotz und gerade wegen der bitteren sozialen und wirtschaftlichen Not, von der Studierende wie Dozierende, selbst so gut verdienende Professoren wie der Berliner Stargelehrte Ernst Troeltsch, schlimm betroffen waren. Die unter einer mehrfach bekundeten „‚furchtbaren Arbeitslast‘“⁵² im Inflationswinter 1922/23 hektisch zusammengeschriebenen „Grossbritannienvorträge“ sind nicht nur Troeltschs intellektuelles Testament, sondern sie bildeten faktisch auch, wie man in der ebenso stupend kundigen wie ergreifenden Einleitung Friedrich Wilhelm Grafs in den von ihm herausgegebenen Nachrufe-Band nachlesen kann, den Sargnagel seiner seit Monaten angegriffenen, ehedem bekannt vitalen Gesundheit.⁵³ Man kann sich zu diesem erschütternden Vorgang und Dokument der Selbstzerstörungsbereitschaft protestantisch-politischer Intellektuellenaskese heute gewiss auch im Gestus kritischer Distanz verhalten, Troeltschs persönliche Einsatzbereitschaft für seine Ethik und sein Ethos einer europäischen Kultursynthese bleibt bis heute – und gerade in den Zeiten einer neuen Rollensuche für politisches Intellektuellentum in den Zeiten populistischer Auflösungsbedrohung der Zivilgesellschaft – vorbildlich.

 Ebd., S. 75.  Friedrich Wilhelm Graf: Polymorphes Gedächtnis. Zur Einführung in die Troeltsch-Nekrologie, in: ders. (Hg.).: Ernst Troeltsch in Nachrufen, S. 21– 173, hier: S. 55.  Ebd., S. 55 – 63.

Personenregister Adam, Karl 11, 135, 146 Apel, Karl-Otto 40 Aristoteles 25, 72 Auden, Wystan Hugh 65 Augustinus von Hippo 52, 168

Eliade, Mircea 18 Eliot, George 60 Empson, William 74 Essen, Georg 79, 135 f., 148 Eucken, Rudolf 116

Bacon, Francis 11 Baronius, Caesar 94 Barth, Karl 92, 96 f., 112, 127 Bauer, Thomas 74 – 77 Baumann, Zygmunt 115 f., 122 Baumgartner, Hans Michael 145 Beauvoir, Simone de 74 Bergson, Henri 53 Bernhard, Thomas 64, 102 Beutel, Albrecht 96 – 98, 129 Birkner, Hans-Joachim 2 Bleuler, Eugen 76 f. Blumenberg, Hans 15 Bonhoeffer, Dietrich 90 Brandt, Reinhard 44, 83 Braungart, Wolfgang 60 f. Brecht, Berthold 64 f., 132 Buntfuß, Markus 6, 11, 98

Fellmann, Ferdinand 83 Feuerbach, Ludwig Andreas 46 Feyerabend, Paul 15 Frenkel-Brunswik, Else 74 f. Freud, Sigmund 41, 76 f., 156

Caputo, John David 80 Celan, Paul 64 Chladenius, Johann Martin 106 Cicero, Marcus Tullius 72 Claussen, Johann Hinrich 7, 59, 86 f., 89 f., 156 Conrad, Ruth 10, 149 Coulanges, Fustel de 49 Dalferth, Ingolf Ulrich 15 f. Dante Alighieri 59 Dierken, Jörg 80, 143 Dilthey, Wilhelm 83, 92, 127, 142 Dionysios Areopagita 81 Dostojewski, Fjodor 60 Durkheim, Emile 49 Ebeling, Gerhard

95 – 97, 100

https://doi.org/10.1515/9783110733075-013

Gräb, Wilhelm 153 Graf, Friedrich Wilhelm 8 f., 35, 44 f., 48, 103, 120, 130, 133 f., 137, 139, 142 f., 162, 170 Grünzweig, Dorothea 62 f., 67 Grünzweig, Fritz 62 Guardini, Romano 135, 146 Guilford, Joy Paul 12, 15 Habermas, Jürgen 11, 40 f., 131 Haenisch, Konrad 123 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 63 Harnack, Adolf von 95, 129, 133, 146, 156 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 35, 40, 53, 74, 132, 142, 167 Herder, Johann Gottfried 42, 53 Herrmann, Wilhelm 36, 90 Hintze, Otto 56 Huchel, Peter 64 Humboldt, Wilhelm von 42 Jaeger, Friedrich 131 James, William 53 Jaspers, Karl 43 Jean Paul 60 Jekeli, Ina 71, 75, 77 f. Jellinek, Georg 28, 30 Jeremia 120 Jesus Christus 85, 90 Joas, Hans 2, 6 f., 39, 42, 51, 57, 140 – 142 Junge, Matthias 71, 78, 155

172

Personenregister

Kähler, Martin 90 Kant, Immanuel 23 f., 40, 42, 53, 73 f., 134, 139, 145 Kaufmann, Gordon Dester 6, 20, 152 Kautsky, Karl 47 Klessmann, Michael 70 f., 76 f., 81 Klie, Thomas 127 Kolbe, Uwe 26, 64 – 67 Kreß, Hartmut 6, 23, 25 – 29, 31 f., 37 Krings, Hermann 145 Krug, Wilhelm Traugott 73 Krüger, Malte Dominik 7 f., 69, 71, 74, 81, 90 Kubik, Andreas 8 f., 34, 111 f., 128 Kuhn, Thomas 15 Laube, Martin 152 – 156 Lauster, Jörg 82 Leggewie, Claus 79 Leibniz, Gottfried Wilhelm 143 Leppin, Volker 97 f., 100, 103 Lerch, Magnus 9, 129, 145 Lietz, Hermann 9, 111, 114 – 125, 127 Lindbeck, George Arthur 17 Loisy, Alfred 133 f., 147 Lotz-Heumann, Ute 101 Lübbe, Herrmann 70 Luther, Martin 25, 65 f., 81, 90, 120, 156 Malebranche, Nicolas 143 Markschies, Christoph 96, 100, 103 Marx, Karl 46, 48 Meißner, Erich 122 Melanchthon, Philipp 25, 94 Mendelssohn, Moses 28 Menke, Karl-Heinz 135 Merleau-Ponty, Maurice 74 Moritz, Karl Philipp 60 Murrmann-Kahl, Michael 92, 111, 113, 120 Nietzsche, Friedrich Wilhelm Nikolaus von Kues 81

41 – 49, 53

Oelkers, Jürgen 114 f., 122 Osthövener, Claus-Dieter 112, 129, 146 Otscheret, Elisabeth 71, 76, 78

Otto, Rudolf 133 f.

19, 32, 98, 115 f., 122, 124,

Panikkar, Raimon 104 Paulus 11, 13, 48, 87, 168 Pfleiderer, Georg 10, 134, 145, 159 Platon 72, 121 Pohlig, Matthias 101 Preuß, Hugo 35 Pröpper, Thomas 136, 145 f. Pye, Michael 55 f. Quintilianus, Marcus Fabius

72

Rahner, Karl 136 Ranke, Franz Leopold von 53 Ratzinger, Joseph 132 Rawls, John 40 f. Reddie, Cecil 117 Rein, Wilhelm 111, 116, 133, 140, 151 Rendtorff, Trutz 4, 8, 34, 45, 48, 50, 87, 98, 137, 141, 143, 145, 159 Ritschl, Albrecht 90 Rothe, Richard 7, 90 Rüsen, Jörn 131 Sachs, Nelly 64 Schaeffler, Richard 134 Schäufele, Wolf Friedrich 8, 93 f., 98, 101 Scheler, Max 56, 134 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 2, 4, 19, 42, 44, 53, 82, 86, 89 f., 99, 101 f., 118, 167 Schopenhauer, Arthur 44, 46 Seewald, Michael 131, 146 Shakespeare, William 79 Siebeck, Oskar 162 Simmel, Georg 3 – 5, 7, 44, 78, 142 Sinzheimer, Hugo 30 Sölle, Dorothee 60 f. Spinoza, Benedictus/Baruch de 46 Spitteler, Carl 126 Spranger, Eduard 54, 140 Strauß, David Friedrich 44 Strohm, Christoph 101, 154 Thomas von Aquin

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Personenregister

Tillich, Paul Johannes 6, 18 f., 82 Tomasello, Michael 83 Trakl, Georg 64 Troeltsch, Ernst 1 – 10, 23 – 25, 27 f., 30 f., 33 – 37, 39 – 61, 69 – 71, 86 – 95, 103, 105, 107, 111 – 113, 123, 127 – 131, 133 – 154, 156 f., 159 – 166, 168 – 170

Wagner, Falk 113, 123 Weber, Max 29, 33, 43, 46 f., 55, 104, 143 White, Hayden 108 Wittekind, Folkart 134 Wittgenstein, Ludwig 69 f., 92 Wyneken, Gustav 9, 111, 114 f., 123 – 127 Zifonun, Darius

Vico, Giambattista

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