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German Pages 148 [144] Year 2014
Peter Engelhard Die Ökonomen der SPD
Edition Politik | Band 1
Peter Engelhard (Dr. rer. pol.) arbeitet als Volkswirt im Vorstandsstab eines deutschen Industriekonzerns. Sein privates und ehrenamtliches Interesse gilt der wirtschaftswissenschaftlichen Ideengeschichte.
Peter Engelhard
Die Ökonomen der SPD Eine Geschichte sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in 45 Porträts
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Inhalt
Einleitung | 9 Eduard Bernstein (1850-1932) Demokratie und Selbstbestimmung | 15 Karl Kautsky (1854-1938) Sozialistische Revolution, Vergesellschaftung und Demokratie | 18 Richard Calwer (1868-1927) Revisionistische Wirtschaftspolitik | 21 Alfred Weber (1868-1958) Freier Sozialismus und Marktwirtschaft | 24 Rosa Luxemburg (1871-1919) Imperialismus und Sozialismus | 27 Paul Lensch (1873-1926) Demokratischer Kriegssozialismus | 30 Johann Plenge (1874-1963) Der Geist von 1914 und die Idee der Organisation | 33 Rudolf Hilferding (1877-1941) Organisierter Kapitalismus | 35 Emil Lederer (1882-1939) Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit | 38 Wladimir Woytinsky (1885-1960) Aktive Wirtschaftspolitik | 41 Fritz Naphtali (1888-1961) Wirtschaftsdemokratie | 44 Eduard Heimann (1889-1967) Christliche Gesellschaftsordnung und Sozialpolitik | 47
Hans Staudinger (1889-1980) Der Staat als Unternehmer | 50 Erik Nölting (1892-1953) Gegen die Zwangswirtschaft | 53 Fritz Baade (1893-1974) Wohlstand durch Planung und Fortschritt | 56 Adolph Lowe (1893-1995) Gemischtwirtschaft und freie Gesellschaft | 59 Hans Neisser (1895-1975) Keynesianische Makroökonomie | 62 Friedrich »Fritz« Sternberg (1895-1963) Die zweite industrielle Revolution | 64 Viktor Agartz (1897-1964) Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik | 67 Gerhard Colm (1897-1968) Der Staat im volkwirtschaftlichen Kreislauf | 70 Ludwig Preller (1897-1974) Sozialökonomische Strukturpolitik | 73 Gerhard Weisser (1898-1989) Wirtschaftsstil und Lebenslage | 76 Heinrich Deist (1902-1964) Freiheitliche Wirtschaftsordnung | 79 Gert von Eynern (1902-1987) Gemeinwirtschaftliche Bindung von Unternehmen | 82 Bruno Gleitze (1903-1980) Analyse der Planwirtschaft | 85 Richard Löwenthal (1908-1991) Jenseits des Kapitalismus | 87 Heinz-Dietrich Ortlieb (1910-2001) Konstruktiver Nonkonformismus | 90 Karl Schiller (1911-1994) Globalsteuerung und Konzertierte Aktion | 92 Erich Potthoff (1914-2005) Die Organisation des Gemeineigentums | 95 Karl Kühne (1917-1992) Marxismus und Gemeinwirtschaft | 98
Kurt Nemitz (1925) Sozialer Pragmatismus und sozialistische Minimalplanung | 101 Herbert Ehrenberg (1926) Investitionsorientierte Nachfragepolitik | 104 Wilhelm Hankel (1929) Soziale Geldordnung und Globalisierung | 107 Reimut Jochimsen (1933-1999) Regionalisierte Strukturplanung | 110 Jürgen Kromphardt (1933) Angebots- und Nachfragepolitik | 113 Hans-Jürgen Krupp (1933) Wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung | 116 Herbert Schui (1940) Kritik der Sozialen Marktwirtschaft | 119 Ursula Engelen-Kefer (1943) Beschäftigungspolitik und qualitatives Wachstum | 122 Bert Rürup (1943) Bevölkerungsentwicklung und Sozialpolitik | 125 Ulrich Steger (1943) Systemkopf Deutschland | 127 Heiner Flassbeck (1950) Wachstumsorientierte Geld- und Lohnpolitik | 130 Peter Bofinger (1954) Wohlstand für alle | 133 Gustav Adolf Horn (1954) Soziale Gerechtigkeit in der Globalisierung | 136 Christa Müller (1956) Emanzipatorische Familienpolitik | 139 Karl W. Lauterbach (1963) Die soziale Bürgerversicherung | 141
Einleitung
Der vorliegende Band stellt das Werk von 45 deutschen Wirtschaftswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen vor, die in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten lebten und wirkten. Sie alle zeichnen sich als präzise und objektive Analytiker des Wirtschaftslebens aus. Hierin unterscheiden sie sich in nichts von allen anderen ernstzunehmenden akademischen Volkswirten. Sie wurden in dieses Buch aufgenommen, weil sie den gesellschaftlichen Idealen der Sozialdemokratie verbunden waren oder sind. Auf dieser ethischen Grundlage nutzen sie ihre Erkenntnisse, um Empfehlungen und Handlungsanleitungen zur Wirtschaftspolitik, also zur Gestaltung des Wirtschaftslebens zu geben. So prägten sie im 20. und 21. Jahrhundert das Wirtschaftsprogramm der deutschen Sozialdemokratie maßgeblich mit. Warum wurde dieses Buch geschrieben? Zunächst aus einem geistesgeschichtlichen Interesse an einer der deutschen Sozialdemokratie verpflichteten Volkswirtschaftslehre. Liberale Denker – wie zum Beispiel Walter Eucken, Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und andere – sind in Deutschland als Väter der Sozialen Marktwirtschaft weit bekannt. Weniger bekannt sind die Theoretiker des demokratischen Sozialismus, die teils als Gelehrte, teils auch als Praktiker und in Staatsämtern, die geschichtliche Entwicklung der Wirtschaftsverfassung in Deutschland ebenfalls geprägt haben. Ihr wirtschaftswissenschaftliches Gedankengut soll mit dem vorliegenden Buch in allgemeinverständlicher Weise dem wirtschaftspolitisch interessierten Leser nahegebracht werden. Wie ist dieses Buch geschrieben? Es ist ohne wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung les- und verstehbar. Es mag als Nachschlagewerk oder auch als durchgehende Lektüre benutzt werden. Die Reihe der Denker, die hier behandelt werden, beginnt mit dem 1850 geborenen Eduard Bernstein. Sie endet mit einem Abschnitt über Karl W.
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Lauterbach, der dem Jahrgang 1963 angehört. Dazwischen werden die übrigen Kapitel in der zeitlichen Reihenfolge der Geburtsjahre der dargestellten Wissenschaftler angeordnet. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Darstellung des Lebensweges des jeweiligen Gelehrten. Darauf folgt eine Zusammenfassung seiner wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Hauptgedanken, die abschließend aus heutiger Sicht gewürdigt werden. Weitere Lesehinweise sollen dem Interessierten eine vertiefende Befassung erleichtern. Auf einen akademischen Zitier- und Quellenapparat wurde hingegen verzichtet. Die Gelehrten dieses Bandes lassen sich mehreren wissenschaftlichen und politischen Strömungen zuordnen, die in ihrer Gesamtheit das Wirtschaftsdenken der deutschen Sozialdemokratie charakterisieren. Die ursprünglich innerhalb der SPD vorherrschende, marxistisch geprägte Wirtschaftsprogrammatik läßt sich auf Karl Kautsky (18541938) zurückführen. Auch Rosa Luxemburg (1871-1919) kann man hier einordnen. Sie repräsentierte aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg den äußeren linken Rand der SPD. Eine besondere Erscheinung des Ersten Weltkriegs und der frühen Zwischenkriegsjahre waren die national-marxistischen Ansätze Paul Lenschs (1873-1926) und Johann Plenges (1874-1963), deren Anhänger im Laufe der Zwischenkriegszeit teilweise in das nationalkonservative Lager überwechselten. Ebenfalls marxistisch ausgerichtet, wenngleich unorthodox in der Analyse und im politischen Handeln, waren Denker wie Rudolf Hilferding (1877-1941) und der ihm eng verbundene Fritz Naphtali (1888-1961). Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Bedeutung der marxistischen Wirtschaftswissenschaft innerhalb der Reihen sozialdemokratisch orientierter Ökonomen in Deutschland stark ab. Späte Vertreter dieser Schule waren Friedrich Sternberg (1895-1963), Richard Löwenthal (1908-1991) und Karl Kühne (1917-1992). Als Gegenströmung zur marxistischen Theorie entwickelte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der SPD der Revisionismus, der den Kapitalismus nicht auf dem Wege der sozialen Revolution, sondern der schrittweisen sozialen Reform überwinden wollte. Als geistiger Vater des Revisionismus gilt Eduard Bernstein (1850-1932). In seiner Folge entwarf eine Reihe wichtiger Ökonomen die Ansätze einer revisionistischen Wirtschaftspolitik. Ihre Gedanken kreisten um die Möglichkeit sozialpolitischer Reformen innerhalb der Marktwirtschaft sowie um die Neugestaltung der Eigentumsordnung. Dieser Strömung sind Vorstellungen über die Gemeinwirtschaft und
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gemischtwirtschaftliche Systeme mit privaten, öffentlichen und genossenschaftlichen Eigentumsformen zu verdanken. Hier sind Gelehrte wie Richard Calwer (1868-1927), Eduard Heimann (1889-1967), Hans Staudinger (1889-1980), Erik Nölting (1892-1953), Adolph Lowe (1893-1995), Ludwig Preller (1897-1974), Gerhard Weisser (1898-1989), Gert von Eynern (1902-1987), Heinz-Dietrich Ortlieb (1910-2001), Erich Potthoff (1914-2005) und Kurt Nemitz (1925) einzuordnen. Dem revisionistischen Ansatz eng verbunden ist die nachfrageorientierte oder keynesianische Strömung innerhalb der sozialdemokratisch orientierten Wirtschaftswissenschaft. Der Gedanke, den Wirtschaftsverlauf durch staatliche Steuerungsmaßnahmen und eine aktive Nachfragepolitik zu lenken, verbreitete sich in den 1920er und 1930er Jahren – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise. Umfassende Konzepte legten Emil Lederer (1882-1939), Wladimir Woytinsky (1885-1960), Fritz Baade (1893-1974) und Gerhard Colm (1897-1968) vor. Hier wurden in Deutschland Gedanken entwickelt, die keynesianische Vorstellungen teilweise bereits vorwegnahmen beziehungsweise wirtschaftspolitisch präziser faßten als der große englische Ökonom John Maynard Keynes dies in jener Zeit selbst tat. In den frühen 1930er Jahren konnten sich die »Keynesianer« mit ihren Ansätzen zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zur aktiven Wirtschaftspolitik innerhalb der SPD noch nicht durchsetzen. Dort herrschte noch die vor allem auf Hilferding zurückgehende Vorstellung, die Weltwirtschaftskrise sei eine geschichtlich zwangsläufige Erscheinung des fortgeschrittenen Kapitalismus, der mit solchen Maßnahmen nicht beizukommen sei.1 Die keynesianische Wirtschaftswissenschaft, auch Makroökonomie genannt, wurde in den folgenden Jahren vor allem im angelsächsischen Sprachraum weiterentwickelt. Neben anderen emigrierten deutschen Ökonomen nahm dabei auch Hans Neisser (1895-1975) eine führende Rolle ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wirtschaftspolitik in Deutschland durch die liberalen Ordnungsvorstellungen Ludwig Erhards bestimmt, der auf den freien Markt setzte und dessen Ergänzung um einen sozialen Ausgleich. Innerhalb der SPD entwickelten aber Denker und Praktiker wie Heinrich Deist (1902-1964), Karl 1 | Statt dessen bemächtigten sich bald darauf die Nationalsozialisten des Gedankens staatlicher Konjunkturprogramme mit Arbeitsbeschaffung, öffentlichen Bauten und Steuererleichterungen, aber auch einem umfangreichen Rüstungsprogramm.
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Schiller (1911-1994) oder Herbert Ehrenberg (1926) die Grundlagen einer keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik weiter, die auch Eingang in das von 1959 bis 1989 gültige Godesberger Programm fanden. Ihnen ging es um eine Verbindung der Marktwirtschaft mit der Verstetigung von Produktion und Beschäftigung durch konzertierte Aktionen der Tarifpartner und staatliche Steuerung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage. Ihre Blütezeit erlebte diese Strömung, nachdem Karl Schiller als Wirtschaftsminister der ersten Großen Koalition erfolgreich die deutsche Nachkriegsrezession von 1966 bekämpfen konnte. Der Keynesianismus bestimmte die Wirtschaftspolitik in Deutschland und vielen anderen Ländern noch in den 1970er Jahren, geriet dann aber in Mißkredit, als die Erscheinung der »Stagflation« auftrat, eine Kombination aus unzureichendem Wirtschaftswachstum und hoher Inflation. In den 1980er und 1990er Jahren gewann dann die Angebotsökonomie die wirtschaftspolitische Oberhand, die statt auf Nachfragesteuerung stärker auf die Liberalisierung und Deregulierung der Märkte setzte. Dem stellte zum Beispiel der Wachstums- und Konjunkturtheoretiker Jürgen Kromphardt (1933) stets seine Botschaft entgegen, daß Angebots- und Nachfragepolitik in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Heute legen darüber hinaus Wirtschaftswissenschaftler wie Heiner Flassbeck (1950), Peter Bofinger (1954) oder Gustav Adolf Horn (1954) neue wirtschaftspolitische Ideen und Konzepte vor, die in der Tradition keynesianischer Makroökonomie stehen. Die Schule der Linkskeynesianer verbindet die Nachfrageökonomie teilweise mit der marxistischen Wirtschaftslehre. Als deren wichtigster deutscher Vertreter in der Nachkriegszeit kann Viktor Agartz (1897-1964) gelten. Heute betrachtet sich der von der SPD zur Partei Die Linke übergewechselte Herbert Schui (1940) als linkskeynesianischer Ökonom. Eine Reihe sozialdemokratischer Wirtschaftswissenschaftler läßt sich freilich keiner dieser Hauptströmungen zurechnen. So zum Beispiel der Ökonom und Soziologe Alfred Weber (1868-1958), der Statistiker Bruno Gleitze (1903-1980) oder in jüngster Zeit auch der Vordenker der wissenschaftlichen Politikberatung Hans-Jürgen Krupp (1933) sowie der geistige Vater der regionalisierten Strukturplanung Reimut Jochimsen (1933-1999) und der modernisierungstheoretisch ausgerichtete Ulrich Steger (1943). Als Spezialisten für sozialpolitische Fachthemen haben sich Ursula Engelen-Kefer (1943), Bert Rü-
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rup (1943) und Karl W. Lauterbach (1963) hervorgetan, sowie Christa Müller (1956), die heute der Partei Die Linke angehört. Als auffälliges Merkmal dieser Zusammenfassung tritt hervor, daß eine Tendenz zur Spezialisierung und zum Expertentum auch das sozialdemokratische Wirtschaftsdenken erfaßt hat. Übergreifende gesellschaftstheoretische Entwürfe legten zuletzt Ökonomen vor, die entweder der marxistischen oder der revisionistischen Strömung zugerechnet werden. Es läßt sich aber sagen, daß beide Strömungen in Deutschland heute keine noch tätigen wissenschaftlichen Vertreter mehr finden, daß sie in der Nachkriegszeit gewissermaßen ausliefen. Dennoch hinterläßt gerade der Revisionismus ein wichtiges und inspirierendes Erbe. In den 1960er und 1970er Jahren rückte die keynesianische Globalsteuerung in den Vordergrund des sozialdemokratischen Wirtschaftsdenkens. Die Keynesianer denken zwar in gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen. Im Gegensatz zum älteren Revisionismus kommt aber eine technokratischere Einstellung zum Tragen. Es ging nun weniger um die Gestaltung einer freiheitlichen und gerechten Ordnung des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens, die die vorangegangenen Wissenschaftlergenerationen bewegt hatte, sondern über weite Strecken um die effektive Steuerung eines komplexen Wirtschaftsapparates. Letzteres freilich mit dem Ziel, Wohlstand zu schaffen und ihn gerecht zu verteilen. Heute ist es unverkennbar, daß sich die Wirtschaftswissenschaften dem Fachexpertentum zuwenden und übergreifende wirtschaftsund gesellschaftspolitische Denkansätze in den Hintergrund treten. Auch bei den sozialdemokratisch orientierten Ökonomen ist diese Tendenz beobachtbar. Das Fachexpertentum ist in der Lage, ein Einzelthema sehr viel genauer zu durchdringen als der Generalismus. Gleichwohl tritt das Denken in Gesamtentwürfen und -ordnungen oft in den Hintergrund. Denken in Gesamtordnungen, wie es älteren sozialdemokratischen Wirtschaftswissenschaftlern geläufig war, hat die politische Auseinandersetzung in besonderer Weise inspiriert. Man denke hier an die spannungsvollen Verhältnisse von Plan und Markt, von Gemeinwirtschaft und Privateigentum, von unternehmerischer Freiheit, gesellschaftlicher Freiheit und sozialer Sicherheit. Dort wo heute um technische Einzelheiten der Systeme sozialer Sicherung gerungen wird, stand einmal die Erkenntnis, daß sich Sozialstaat und Markt dialektisch ergänzen müssen, um eine freiheitliche und menschenwürdige Ordnung zu schaffen.
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Eduard Bernstein (1850-1932) Demokratie und Selbstbestimmung
Eduard Bernstein entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen. Von 1866 bis 1878 arbeitet er als Bankkaufmann. 1872 trat er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei, deren Vereinigung mit Lassalles Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein er 1875 mit vorbereitete. Von 1878 bis 1901 lebte Bernstein in Zürich und London. Zwischen 1880 und 1890 wirke er als Redakteur der Zeitung »Sozialdemokrat«, und 1891 entwarf er gemeinsam mit Karl Kautsky das Erfurter Programm der SPD. Eduard Bernstein war bis 1928 dreimal Mitglied des Reichstages.
E DUARD B ERNSTEINS W ERK Eduard Bernstein war vor dem Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Theoretiker der SPD. Mit seinem Hauptwerk »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« legte er die Grundlagen des Revisionismus, jener Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, die sich vom dogmatischen Marxismus absetze und einen reformorientierten Weg zur sozialistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung suchte. Das »sozialistische Prinzip« sah Bernstein in Demokratie und Selbstbestimmung für alle Mitglieder der Gesellschaft verkörpert. Er wandte sich in seinen Schriften gegen
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die seinerzeit in der SPD herrschende, marxistisch geprägte Vorstellung, die sozialistische Umformung von Gesellschaft und Wirtschaft werde sich geschichtlich-zwangsläufig durch den krisenhaften Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ergeben. Bernstein legte dar, daß die tatsächliche Entwicklung, die sich in den am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern seiner Zeit vollzog, keinen derartigen Zusammenbruch erwarten ließ. Wirtschaftskrisen gehörten für Bernstein zum Wesen des Kapitalismus. Er beobachtete aber keine Tendenz zu deren Verschärfung. Ebenso entkräftete Bernstein die marxistische These von der zunehmenden Verelendung der Arbeiterklasse. Das statistische Material, das er auswertete, zeigte vielmehr, daß die Realeinkommen der Arbeiter anstiegen und sich die Arbeitszeiten verkürzten. Schließlich erkannte Bernstein, daß die kapitalistische Wirtschaft durchaus einen Hang zur fortschreitenden Konzentration der Unternehmen zeigt. Im Gegensatz zur marxistischen Theorie leitete er hieraus aber nicht den Untergang der sozialen Mittelschichten ab. Die Zahl der Großunternehmen und deren Anteil an der volkswirtschaftlichen Produktion wachsen, so Bernstein, zwar ständig, dennoch bleibt die Zahl der Klein- und Mittelbetriebe stabil – und mit ihnen die soziologische Grundlage des Mittelstandes. Zudem wurde der Mittelstand seiner Erkenntnis nach durch die stark wachsenden Berufgruppen der Beamten und Angestellten noch verstärkt. Die Aufgabe der Sozialdemokratie lag für Bernstein folglich darin, die erstrebte sozialistische Ordnung innerhalb eines an sich stabilen kapitalistischen Rahmens, einer von großer industrieller Vielfalt geprägten Wirtschaft mit breitem Mittelstand zu verwirklichen. Dies konnte für ihn nur gelingen, wenn das »sozialistische Prinzip« schrittweise immer breitere Geltung erlangt, wenn Mitbestimmung und gesellschaftliche Regelung der Wirtschaft eingeführt und ausgedehnt werden. Die wichtigsten Mittel hierfür waren aus Bernsteins Sicht die Stärkung der Gewerkschaften, die paritätische Mitbestimmung in der Wirtschaft und im Sozialwesen, das Wachstum des selbstverwalteten Genossenschaftswesens und die Mitarbeit von Arbeitervertretern in den Parlamenten.
E DUARD B ERNSTEIN (1850-1932)
E DUARD B ERNSTEINS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Eduards Bernsteins revisionistische Wirtschafts- und Gesellschaftslehre setzte sich längerfristig innerhalb der SPD gegen die marxistische Orthodoxie, wie sie von Kautsky vertreten wurde, ebenso durch wie gegen den Linksradikalismus Rosa Luxemburgs. Sie prägt bis heute die programmatischen Grundlagen der Sozialdemokratie. Bernsteins Verständnis vom demokratischen Sozialismus als einer fortdauernden gesellschaftlichen Konstruktionsaufgabe ist auch heute noch die Grundlage jeder ernsthaften, am sozialen Fortschritt orientierten Reformpolitik.
L ESEHINWEISE Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin und Bonn 1984. Thomas Meyer: Eduard Bernstein, in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus I, München 1991, S. 203-217. Bildquelle: Deutsches Historisches Museum.
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Karl Kautsky (1854-1938) Sozialistische Revolution, Vergesellschaftung und Demokratie
Karl Kautsky studierte in Wien Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. 1875 trat er der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) bei. Zwischen 1883 und 1917 leitete er das SPD-Theorieorgan »Neue Zeit« und war 1891 gemeinsam mit Eduard Bernstein Verfasser des Erfurter Programms der SPD. 1917 trat Kautsky der USPD bei und wurde 1918 Vorsitzender der Sozialisierungskommission sowie Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 1922 kehrte kehrte er in die SPD zurück und war 1925 Mitverfasser des Heidelberger Programms. Ab 1924 bis zu seinem Lebensende wirke Kautsky als freier Schriftsteller.
K ARL K AUTSK YS W ERK Karl Kautsky war zwischen 1891 und 1914 der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie und als Wortführer der orthodoxen marxistischen Linie innerhalb der SPD wichtiger politischer Ideengeber August Bebels. Er kritisierte den reformorientierten Revisionismus, wie er von Bernstein vertreten wurde, wandte sich aber auch
K ARL K AUTSKY (1854-1938)
gegen den revolutionären Radikalismus Rosa Luxemburgs und den Bolschewismus sowjetischer Prägung. Im Erfurter Programm der SPD umriß Kautsky die Entstehung des Sozialismus als Notwendigkeit, die aus der historischen Entwicklung des Kapitalismus unbedingt folgt. Der Kapitalismus führte für ihn zwangsläufig zu einer Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen weniger Großeigentümer, während die Mittelschichten und das Proletariat verelenden. Damit wird das wirtschaftliche Privateigentum immer weniger mit den allgemeinen Interessen der Gesellschaft vereinbar. Anders als Marx sah Kautsky den Übergang zum Sozialismus aber nicht durch den krisenhaften Zusammenbruch des kapitalistischen Systems verursacht, sondern durch den Kampf der Arbeiterklasse für die Sozialisierung des bisherigen Privateigentums. Die Arbeiterklasse führt, so Kautsky, diesen Kampf nicht in ihrem eigenen Interesse, sondern sie macht sich zur Sachwalterin der Interessen breitester Gesellschaftsschichten. Hierfür strebt sie die Macht im Staate an. Die Sozialdemokratische Partei muß nach Kautsky diesen Kampf geistig führen, die Arbeiterklasse aufklären und den Übergang zum Sozialismus zielbewußt organisieren. Für Kautsky galt, im Gegensatz zu Marx oder später Lenin, der Grundsatz, daß die Sozialdemokratie die politische Macht nur mit demokratischen Mitteln erobern darf und sie auch danach der demokratischen Gesellschaftsordnung verpflichtet sei. Deshalb mußte für ihn die Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch demokratische Entscheidungen legitimiert sein und hätte nicht von einer revolutionären Regierung dekretiert werden können. Weiterhin muß sich nach Kautsky, im Gegensatz zur ursprünglichen marxistischen Vorstellung von der »Diktatur des Proletariats«, auch die sozialistische Regierung regelmäßigen freien Wahlen stellen, und zwar auch auf die Gefahr hin, in ihnen wieder zu unterliegen. Mit Gewalt hätte die sozialistische Regierung ihre Entscheidung nur gegen solche ihrer Gegner durchsetzen dürfen, die nicht bereit sind, demokratische und legale Entscheidungen hinzunehmen. Auch nach erfolgter sozialistischer Revolution sollten nach Kautskys Vorstellung demokratische Grundrechte also nicht in Frage gestellt werden. Dies war seiner Auffassung nach notwendig, um freie Kritik an der Regierung nicht zu behindern und somit bürokratischer Verknöcherung und Korruption in der sozialistischen Wirtschaft entgegenzuwirken. Weiterhin sollte die Mitwirkung der Gesellschaft an
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den Aufgaben des Staates und Selbstverwaltung auf verschiedensten Gebieten ein Kennzeichen der sozialistischen Ordnung sein.
K ARL K AUTSK YS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Im Kreise der demokratischen Sozialisten war Kautsky, ungeachtet seiner Kritik an Lenin oder Luxemburg, ein Vertreter der revolutionären Linie. Der Kampf für soziale Reformen diente ihm der Vorbereitung des Sozialismus. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde diese Denkweise in der SPD allerdings weitgehend durch den reformorientierten demokratischen Sozialismus überlagert, dem es um die Verbesserung der bestehenden Gesellschaft geht. Marxistische Vorstellungen, wie sie noch Kautsky pflegte und sie die SPD des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägten, gehören heute den Randbereichen des politischen Spektrums an. Dennoch mahnt das geistige Erbe Kautskys auch heute noch den Auftrag der Sozialdemokratie zur aktiven Gestaltung der Wirtschaftsordnung an, und zwar im Sinne von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
L ESEHINWEISE Ingrid Gilcher-Holtey: Karl Kautsky, in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus I, München 1991, S. 233-249. Werner Hoffmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1968. Bildquelle: Library of the US-Congress.
Richard Calwer (1868-1927) Revisionistische Wirtschaftspolitik
Richard Calwer studierte in Tübingen, München und Berlin Theologie und Volkswirtschaftslehre. 1891 trat er der SPD bei. Zunächst war Calwer als Journalist und Wirtschaftsforscher tätig. Von 1898 bis 1903 gehörte er dem Deutschen Reichstag an. Nach ideologischen Auseinandersetzungen mit dem marxistischen Flügel der Partei trat er später aus der SPD aus, blieb ihr und den Gewerkschaften aber weiterhin verbunden.
R ICHARD C ALWERS W ERK Richard Calwer erlangte niemals einen formalen akademischen Abschluß. Dennoch gilt er als einer der wichtigsten sozialdemokratischen Wirtschaftswissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts. Auf ihn gehen statistische Grundlagenarbeiten wie der »Calwer-Index« zur Messung der Inflation zurück. Vor allem aber gelangen ihm wichtige Beiträge zu den wirtschaftspolitischen Grundlagen des Revisionismus, der reformsozialistischen Gegenströmung zur marxistischen Orthodoxie in der SPD. Für orthodoxe Marxisten strebt der Kapitalismus unaufhaltsam seiner Selbstaufhebung durch Wachstumskrisen und den zunehmenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbei zu. Der Übergang zum Sozialismus wird schließlich durch die proletarische Revolution und die Enteignung des Privatkapitals eingeleitet. Für den von Eduard Bernstein beeinflußten Revisionisten Calwer war eine solche Zwangsläufigkeit in der Wirklichkeit aber nicht erkennbar. Nach seiner Auffassung war der privatwirtschaftliche Kapitalismus noch auf lange Zeit in der Lage, positive Ergebnisse zu erzielen, indem er den
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Stand der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte verbessert und erhöht. Hieran konnte für ihn gerade auch der Arbeitnehmer teilhaben und sich wachsenden Wohlstands erfreuen. Die Enteignung des Privatkapitals durch die proletarische Revolution war für Calwer daher kein erstrebenswertes Ziel des Sozialismus: »Der Gedanke einer generellen Verstaatlichung der Produktionsmittel als eines Radikalmittels zur Beseitigung der Schäden der heutigen Wirtschaftsordnung muß fallen« (R. Calwer 1914). Calwer sah die Aufgabe sozialistischer Wirtschaftspolitik vielmehr darin, die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung ebenso zu fördern, wie auch in sinnvolle und gerechte Bahnen zu lenken. Auf- und Abschwünge der kapitalistischen Wirtschaft und die damit verbundene Arbeitslosigkeit kann der Staat durch gegenzyklische Programme ausgleichen (womit Calwer bereits Bestandteile des späteren Keynesianismus vorwegnahm). Die zunehmende Bildung von Kartellen in der deutschen Wirtschaft war für ihn ein geeigneter Weg, um Überproduktionskrisen zu vermeiden. Auch Schutzzölle betrachtete Calwer als Mittel, um Störungen des ökonomischen Fortschritts zu vermeiden. Schließlich trat er dafür ein, den Raum für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft zu erweitern, sei es durch die Zollunion mit anderen Ländern, sei es durch den Erwerb von Kolonien. Die gerechte Teilhabe der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Fortschritt zu erstreiten, war für ihn die Aufgabe der Gewerkschaften. Damit sie eine ausreichende Verhandlungsmacht gewinnen, empfahl Calwer schon vor dem Ersten Weltkrieg die Bildung großer Einheitsgewerkschaften, die auch wesentliche sozialpolitische Aufgaben wie die Arbeitslosenversicherung übernehmen sollen. Die Bildung von Konsumgenossenschaften war für ihn ein wichtiger Bestandteil gemeinwirtschaftlicher Selbsthilfe der Arbeitnehmer.
R ICHARD C ALWERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Einzelne Bestandteile der wirtschaftspolitischen Ansichten Calwers wirken heute nicht mehr zeitgemäß, wie etwa seine kolonialistischen Vorstellungen, die dem Zeitgeist des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschuldet sind. Sie treten aber hinter seine ausgesprochen hellsichtigen Erkenntnisse zur produktiven Kraft der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsentwicklung zurück, die auch aus heutiger Sicht im Grundsatz noch gültig sind.
R ICHARD C ALWER (1868-1927)
L ESEHINWEISE Calwer, Richard: Das sozialdemokratische Programm, Jena 1914. Engelhard, Peter/Heiko Geue: Arbeitslosenversicherung in tarifpartnerschaftlicher Regie, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 24 ,1998, S. 132-146. Hoffmann, Werner: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1968.
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Alfred Weber (1868-1958) Freier Sozialismus und Marktwirtschaft
Alfred Weber studierte Archäologie und Kunstgeschichte in Bonn, Rechtswissenschaften in Tübingen und promovierte in Berlin im Fach Nationalökonomie. 1904 folgte er einem Ruf an die Universität Prag. 1907 wurde Alfred Weber Professor für Nationalökonomie in Heidelberg. Aus Protest gegen den Nationalsozialismus legte er 1933 sein Lehramt nieder. Alfred Weber gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den Gründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und trat nach dem Zweiten Weltkrieg der SPD bei.
A LFRED W EBERS W ERK Als Wirtschaftswissenschaftler trat Alfred Weber in der Zwischenkriegszeit zunächst mit seinen Arbeiten zur industriellen Standortlehre hervor. In der inneren Emigration der 1930er und 1940er Jahre arbeitete er seine wichtigsten kulturhistorischen und kultursoziologischen Werke aus, durch die er nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der einflußreichsten Gelehrten des »anderen«, des demokratischen Deutschland wurde. In der Nachkriegszeit entstanden auch seine Beiträge zur sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik, mit denen sich Alfred Weber für einen »Freien Sozialismus« einsetzte. Damit versuchte er die Grenzen des marxistischen und planwirtschaftlichen Denkens,
A LFRED W EBER (1868-1958)
das in der SPD noch lebendig war, zu überschreiten. Er verknüpfte den Markt als maßgeblichen volkswirtschaftlichen Lenkungsmechanismus mit Formen des Gemeineigentums und der Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Die Marktwirtschaft ist, so Alfred Weber, auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung unentbehrlich, um ein Planwirtschaftssystem zu vermeiden, das jegliche Freiheit bis in den Konsum der privaten Haushalte hinein beseitigen würde. Eines der besonderen Kennzeichen der modernen Wirtschaft war für ihn allerdings, daß das kapitalistische Großunternehmen den Arbeiter vom unmittelbaren marktwirtschaftlichen Handel und Austausch der Ergebnisse seiner Arbeit trennt. Statt dessen gliedert es ihn in ein eigenes Verteilungsschema ein, nach dem der Ertrag des Unternehmens in Profite und Löhne, Renten und Kapitalzinsen aufgeteilt wird. Ein weiteres Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist nach Alfred Weber, daß das kapitalistische Großunternehmen nicht, wie zum Beispiel ein Handwerker, auf die unmittelbare und bekannte Marktnachfrage gerichtet produziert, sondern gleichsam spekulativ für eine zukünftig erwartete und noch weithin unbekannte Bedarfsentwicklung. Damit nimmt das Risiko von Konjunkturkrisen zu, weshalb die moderne Wirtschaft, so Weber, nicht mehr sich selbst überlassen bleiben kann, sondern der Staat regelnd eingreifen muß. Die Vergesellschaftung der kapitalistischen Großbetriebe war für Weber aber nicht die richtige Lösung. Ein bloßer Wechsel der Eigentumsform hebt nicht die beschriebenen Funktionseigenschaften des Großbetriebs auf. Zudem birgt die Verstaatlichung die Gefahr, die Wirtschaft zu bürokratisieren. Vielmehr setzte sich Weber für eine planvolle Entflechtung hochkonzentrierter Wirtschaftszweige, wie etwa der Schwerindustrie, ein. Eine weitere, unbürokratische Kontrolle des Wirtschaftslebens sollte nach Weber durch »Wirtschaftsinspektoren« erfolgen, staatlichen Beauftragten, die vertraulich die Bücher der Unternehmen einsehen dürfen und die so etwaige überzogene Gewinnspannen und Preiswucher aufdecken und bereinigen können. Schließlich sollte ein öffentlicher Investitionsrat den volkswirtschaftlichen Kreislauf in gesellschaftlich gewünschter Weise stabilisieren. Der Investitionsrat wäre nach den Vorstellungen Webers ein von der Tagespolitik einigermaßen distanziertes Organ aus Vertretern der Zentralbank, sachkundigen Parlamentariern und Vertretern des Wirtschaftsministeriums.
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Schließlich setzte sich Alfred Weber kritisch mit den in seiner Zeit noch verbreiteten Vorstellungen von einem wirtschaftlich autarken Deutschland auseinander. Welthandel und Weltfinanzmarkt waren für ihn wohlstandsfördernd. Gleichzeitig forderte er die Schaffung internationaler Organisationen, die den weltweiten Kreditstrom stabilisieren und die Ausbreitung von Finanzkrisen begrenzen können.
A LFRED W EBERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT In der praktischen wie der theoretisch-programmatischen Wirtschaftspolitik wird Alfred Weber heute kaum noch wahrgenommen. Die Sprache und der Aufbau seiner Werke wirken etwas altväterlich. Dennoch war Weber ein bemerkenswert moderner Denker, der zum Beispiel mit dem Investitionsrat Formen der Konzertierten Aktion vorweggenommen hat und dem internationale Organisationen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds schon früh vorschwebten. Sein Eintreten für die sozial gebundene Marktwirtschaft und eine Stabilisierung des internationalen Finanzsystems paßt auch heute noch in die wirtschaftspolitische Diskussion.
L ESEHINWEISE Alfred Weber/Alexander Mitscherlich: Freier Sozialismus, Heidelberg 1946. Alfred Weber: Sozialistische Marktwirtschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 9/1950, S. 393-401. Bildquelle: Die Woche, 1907.
Rosa Luxemburg (1871-1919) Imperialismus und Sozialismus
Rosa Luxemburg studierte an der Universität Zürich Staatswissenschaften. Ab 1894 gehörte sie zu den führenden Mitgliedern der polnischen Sozialdemokratie, übersiedelte aber 1898 nach Berlin und trat der SPD bei. 1904, 1906, 1915 sowie ab 1916 war Luxemburg aus politischen Gründen in Haft. 1907 wurde sie Dozentin an der SPD-Parteischule in Berlin. 1918/19 gehörte Rosa Luxemburg zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie wurde 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet.
R OSA L UXEMBURGS W ERK Rosa Luxemburg gehörte zu den prägnantesten und gleichzeitig zu den extremsten Denkern der demokratischen Linken im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Ganz im Gegensatz zu zeitgenössischen reformorientierten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern vertrat sie die Ansicht, daß sich der Übergang vom »ausbeuterischen« Kapitalismus in eine gerechte sozialistische Ordnung nur bewerkstelligen läßt, wenn das Proletariat revolutionär die Macht im Staate erobert. Für Luxemburg zielte der (Klassen-)Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung gleichzeitig auch darauf, die bürgerliche
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Gesellschaftsordnung zu überwinden. Das Mittel der Wahl sollte dabei der Massenstreik, die Aufgabe der Sozialdemokratie die entsprechende Mobilisierung der arbeitenden Massen sein. Die geistigen Grundlagen ihrer revolutionären Weltanschauung spiegelt Rosa Luxemburgs wissenschaftliches Hauptwerk »Die Akkumulation des Kapitals« wider. Danach wird der Kapitalismus im Laufe seiner Entwicklung zunehmend instabiler. Denn der fortschreitenden Akkumulation des Kapitals steht, wie es Karl Marx vorhersagte, die Verelendung der arbeitenden Bevölkerung und somit ein – gemessen an der möglichen Produktion – unzureichender Konsum gegenüber. Daraus ließ sich für Luxemburg allerdings nicht ableiten, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem zwangsläufig an seinen inneren Widersprüchen scheitern muß. Schließlich gab es viele Länder und Gegenden der Welt, in denen noch vorkapitalistische Verhältnisse herrschten. Diese standen für die »kapitalistische Ausbeutung« auf absehbare Zeit noch zur Verfügung. Es war bei Luxemburg somit die »imperialistische Expansion«, die den Kapitalismus am Leben erhielt. Gleichwohl, je knapper die verbliebenen »Akkumulationsgebiete« würden, desto schärfer müßte auch die Konkurrenz der imperialistischen bürgerlichen Staaten um neue Wachstumsmöglichkeiten werden. Als Folge sah Luxemburg in zunehmender Zahl Krisen, Kriege und Revolutionen. Wenngleich der Kapitalismus nicht notwendig in sich zusammenbricht, so bedingte es nach Luxemburg der geschichtliche und dialektische Gegensatz zwischen den sozialen Klassen, daß ihm ein starker Gegenspieler entstand, nämlich der Sozialismus beziehungsweise die sozialistischen Massen der Arbeiterschaft. Ob sich der Sozialismus durchsetzt, hing für sie davon ab, in wie weit das Proletariat in revolutionärem Bewußtsein zum entschlossenen politischen Kampf mobilisiert werden kann.
R OSA L UXEMBURGS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Rosa Luxemburgs extreme Thesen inspirierten zeitgenössische linkssozialistische Kreise und tun dies am äußeren Rand des linken politischen Spektrums noch bis heute. Dies nicht zuletzt, da sie, anders als Lenin, den Kampf für den Sozialismus als breite Bewegung des Volkes ansah und nicht als Aufgabe für einen elitären Zirkel von Berufsrevolutionären. Ihren Ansichten gibt dies ein gleichsam basis-
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demokratisches Aussehen. Innerhalb der Sozialdemokratie wurden ihre politischen und ökonomischen Schlußfolgerungen aber bereits zu Lebzeiten stark kritisiert, so zum Beispiel von Bernstein, Kautsky oder Hilferding. Schließlich ist die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus im 20. Jahrhundert auch durchaus anders verlaufen als in den apodiktischen Vorhersagen Rosa Luxemburgs. Sie gehört zweifellos zu den Klassikern des sozialistischen Denkens. Von modernen sozialdemokratischen Vorstellungen bleibt sie allerdings weit entfernt.
L ESEHINWEISE Hoffmann, Werner: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1968. Wolfgang J. Mommsen: Imperialismus, in: Willi Albers u.a. (Hg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Vierter Band, Stuttgart u.a. 1988, S. 90ff. Helga Grebing: Rosa Luxemburg, in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus II, München, 1991, S. 58-71. Bildquelle: Marxists Internet Archive.
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Paul Lensch (1873-1926) Demokratischer Kriegssozialismus
Paul Lensch studierte in Berlin und Straßburg Nationalökonomie. 1902 wurde er Redakteur, später Chefredakteur der Leip ziger Volkszeitung und 1912 für die SPD in den Reichstag gewählt. 1919 folgte Lensch dem Ruf auf eine Professur für Nationalökonomie in Berlin. 1922 trat er aus der SPD aus und wurde später Chefredakteur der rechtskonservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung.
P AUL L ENSCHS W ERK Im Verlauf des Ersten Weltkrieges griff der Staat in Deutschland und anderen Staaten stark planend und lenkend in den Wirtschaftsablauf ein. Rohstoffe und Lebensmittel wurden den Betrieben und Verbrauchern zunehmend nach amtlichen Vorgaben und festgelegten Mengen zugeteilt. Für Paul Lensch war mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges deshalb auch das Ende des marktwirtschaftlichen, auf freier Konkurrenz beruhenden Kapitalismus angebrochen. Unter dem Eindruck allgemeinen Mangels wandelte sich für ihn das vorherrschende Wirtschaftsprinzip, und zwar weg von der Marktwirtschaft und hin zu einem »demokratischen Kriegssozialismus«. Der Krieg hatte für Lensch insofern einen revolutionären Charakter, als er der allseitigen staatlichen Planung Vorschub leistete,
P AUL L ENSCH (1873-1926)
mit der auch die überkommenen Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen angeblich überwunden werden konnten. Denn der kriegführende Staat stand für ihn über den einzelnen Klassen. Er regelte und plante vermeintlich nach objektiven Gesichtspunkten und nicht im Interesse einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Sozialismus war für Lensch deshalb kein Ergebnis des Klassenkampfes, sondern vielmehr eines der nationalen Aussöhnung unter dem Eindruck zwingender Kriegserfordernisse. Als wichtigste Träger einer sozialistischen Volksgemeinschaft sah Lensch die Großindustrie, die Staatsbürokratie sowie eine starke und gut organisierte Arbeiterschaft. Diese Kräfte sollten nach seiner Vorstellung auch nach dem Friedensschluß das wirtschaftliche Leben weiter bestimmen. Verursacher des Ersten Weltkrieges war für Lensch England, das seine weltweite Vormachtstellung als Industrienation gegen das aufstrebende Deutschland zu verteidigen suchte. Darin bildete Lensch auch seine Vorstellung von einer geschichtlichen Auseinandersetzung zwischen dem liberalen Kapitalismus englischer und einem demokratischen Sozialismus deutscher Prägung ab. Der Weltkrieg geriet bei ihm zur Weltrevolution. England war für Lensch liberal und individualistisch, allerdings nicht demokratisch, was sich für ihn zum Beispiel im gesellschaftlichen Vorrang des englischen Bürgertums und des im frühen 20. Jahrhundert noch immer nicht allgemeinen Wahlrechts zeigte. Das wilhelminische Deutschland hielt Lensch hingegen für fortschrittlicher, als gemeinhin angenommen wurde. So sei die deutsche Gesellschaft kulturell bedingt sehr viel solidarischer gewesen als die englische. Allgemeines Wahlrecht zum Reichstag, allgemeine Schulpflicht und allgemeine Wehrpflicht waren für ihn typisch deutsche soziale Errungenschaften und Ausdruck einer fortschrittlichen nationalen Kulturgemeinschaft. Auch die deutsche Arbeiterbewegung war für Lensch stärker und geschlossener als die englische, die durch vielfältige Privilegien in das kapitalistische Wirtschaftssystem eingebunden gewesen sei.
P AUL L ENSCHS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Paul Lensch forderte in prägnanter Weise eine wechselseitige, solidarische Bindung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit seinem stark nationalistischen, teils völkisch geprägten Gedanken entfremdete er sich allerdings stark der demokratisch-sozialistischen Wer-
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te- und Vorstellungswelt. In seinen späteren Lebensjahren wurde er zu einem Vordenker der »konservativen Revolution« in Deutschland und fand sich auf der äußeren politischen Rechten wieder. Sein Austritt aus der SPD, mit dem er einem Ausschluß zuvorkam, war Ausdruck dieses politischen Ortswechsels.
L ESEHINWEISE Rolf Peter Sieferle: Die konservative Revolution: fünf biografische Skizzen, Frankfurt a.M. 1995. Bildquelle: Reichstags-Handbuch, 13. Legislaturperiode, 1913.
Johann Plenge (1874-1963) Der Geist von 1914 und die Idee der Organisation
Johann Plenge war Soziologe und Volks wirt. An der Universität Münster bekleidete er einen Lehrstuhl für Staatswissenschaften und Volkswirt schaftslehre. Innerhalb der SPD wur de er der national-mar xistisch orien tierten »LenschCunow-Haenisch-Gruppe« zugeordnet. Plenge war Doktorvater von Kurt Schu macher.
J OHANN P LENGES W ERK Johann Plenge vertrat, ähnlich wie Paul Lensch, eine stark national geprägte Spielart des Sozialismus, eine »Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus«, die unter dem Eindruck der Kriegsgeschehnisse und den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Deutschland geboren worden sei. Das Jahr 1914 war für ihn, ähnlich dem Jahr der Französischen Revolution 1789, ein Wendejahr der Geschichte. Dem Ideal der Freiheit, das er mit 1789 verband, stellte Plenge nun das Ideal der Organisation entgegen, das sich für ihn im deutschen »Kriegssozialismus« verwirklichte. Die Freiheitsidee des Liberalismus, wie sie sich in der Französischen Revolution manifestierte, begriff Plenge als die abstrakte Freiheit der Einzelwesen in einer gleichsam atomistischen Gesellschaft. Dem entgegen stand für ihn die »Organisation« des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens als der eigentliche Inhalt und Ausdruck einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Mobilmachung im August 1914 sah Plenge als Beginn einer »gesunden« Zusammenfassung aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte im Staate. In der Kriegswirtschaft wurde die Marktwirtschaft als ökonomisches Steue-
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rungsprinzip aufgegeben. An ihre Stelle trat die Lenkung von Produktion und Verbrauch durch den Staat. Plenge erblickte in dieser Form der autoritären Organisation einen Mittelweg zwischen Staatssozialismus und reiner Demokratie, die Entstehung eines »nationalen Produktionsorganismus«. Der »Geist von 1914« und die »Idee der Organisation« würden, so Plenge, ähnlich wie die Ideen von 1789 ihren Siegeszug um die Welt antreten. So war es für ihn auch die geschichtliche Aufgabe Deutschlands, in diesem Sinne eine Neuordnung Europas zu erreichen. Die eigentlichen Träger des deutschen Kriegssozialismus sollten dabei die Gewerkschaften und die (Mehrheits-)Sozialdemokratie sein, die sich bei der straffen Ordnung des Volkes und der Arbeiterschaft hervorgetan hätten. Allerdings sah Plenge es als notwendig an, daß die Sozialdemokratie schließlich auch den Revisionismus und ihre Reformorientierung überwindet, um den »organisatorischen Sozialismus« auch ideologisch zu verinnerlichen, also einen Sozialismus, der wesensmäßig auf Ordnung und Pflicht beruhen sollte.
J OHANN P LENGES W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Ähnlich wie die Paul Lenschs, sind auch Johann Plenges Vorstellungen von einem »organisatorischen Sozialismus« mit ihren völkischen und autoritären Untertönen mit modernen Auffassungen von demokratischem Sozialismus nicht vereinbar. Bereits in den 1920er Jahren traten solche Vorstellungen innerhalb der SPD stark zurück, wenngleich in der Kriegswirtschaft in Deutschland erstmals Formen der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaft verwirklicht wurden. Letzteres war von bleibendem gesellschaftlichem Wert. Daraus aber, wie es die national-marxistischen Denker der Kriegsjahre taten, einen Übergang in eine sozialistische Ordnung zu sehen, hat sich als Irrtum erwiesen.
L ESEHINWEISE Joachim Müller: Die »Idee von 1914« bei Johann Plenge und in der zeitgenössischen Diskussion, Neuried 2001.
Rudolf Hilferding (1877-1941) Organisierter Kapitalismus
Rudolf Hilferding war einer der wichtigsten sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiker im 20. Jahrhundert. Er studierte in Wien Medizin, Nationalökonomie und Finanzwirtschaft. 1906 wurde Hilferding Dozent an der Parteischule der SPD und nahm danach von 1907 bis 1915 die politische Schriftleitung des Vorwärts wahr. Von 1917 bis zu deren Wiedervereinigung mit der SPD 1922 gehörte er der USDP an. 1923 machte Gustav Stresemann ihn in zum Reichsfinanzminister. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung lebte Hilferding im tschechoslowakischen und französischen Exil. 1941 kam er im Pariser Gestapo-Gefängnis ums Leben.
R UDOLF H ILFERDINGS W ERK Hilferdings Hauptwerk ist das 1910 erschienene Buch »Das Finanzkapital«, in dem er die Rolle der Banken in der modernen Industriewirtschaft untersuchte. Die Banken, so Hilferding, finanzieren die Großunternehmen. Deshalb tragen sie dazu bei, daß das kleine und mittlere Gewerbe zunehmend aus dem Markt verdrängt wird. Gleichzeitig beteiligen sich die Banken, bei denen ebenfalls die kleinen Bankiers immer mehr durch die Großbank ersetzt werden, am Aktien-
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kapital der Industrie. Deshalb können sie deren Geschäftsverhalten steuern. Diese Entwicklung konsequent fortgesetzt, gibt es am Ende nur noch einen Verbund aus wenigen Großunternehmen, in dem eine verbliebene Bank die Produktion und die Verteilung der Güter ordnet und steuert. Der marktwirtschaftliche Kapitalismus als freie Konkurrenz zwischen vielen kleinen Unternehmern wird also durch den »organisierten Kapitalismus« abgelöst, in dem im theoretischen Idealfall ein einziger Konzern die gesamte Volkswirtschaft umfaßt. Die Produktion von Gütern erfolgt dann mehr oder weniger zentral und durch eine Konzernbürokratie gelenkt, in der die Arbeitnehmer die Rolle der Wirtschaftsbeamten spielen. In der Wirklichkeit, meinte Hilferding, wird der voll ausgeformte »organisierte Kapitalismus« zwar nie erreicht, weil es immer wieder Gegenbewegungen gibt. Die Tendenz gehe aber dorthin. Wichtig ist nun, daß Hilferding den »organisierten Kapitalismus« als Vorstufe und Voraussetzung für die Wirtschaftsdemokratie sah. Zunächst war der »organisierte Kapitalismus« für ihn nichts anderes als die Herrschaft des »Großkapitals«. Er konnte für Hilferding aber demokratisiert werden, wenn gesetzlich verfügt wird, daß in den Leitungsgremien der Industrie und der Banken neben den Kapitaleignern und dem Direktorium auch die Arbeiter und Angestellten, sowie gesellschaftliche Vertreter Sitz und Stimme haben. Dies durchzusetzen war für Hilferding die geschichtliche Aufgabe der Sozialdemokratie. Wenn sie die Regierung im demokratischen Staat bildet, könnte sie auch für demokratische Verhältnisse in der Wirtschaft sorgen. Hilferding wies allerdings stets darauf hin, daß die Wirtschaftsdemokratie nicht den Entscheidungsspielraum der eigentlichen Unternehmensleitung einschränken darf. Auch soll sie von möglichst unabhängigen Vertretern der Arbeitnehmer und der übrigen Gesellschaft getragen werden.
R UDOLF H ILFERDINGS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die meisten Wirtschaftswissenschaftler würden Hilferdings marxistisch geprägte Vorstellung, die freie Marktwirtschaft hebe sich gewissermaßen selbst auf, indem zwangsläufig eine immer größere Machtzusammenballung bei einzelnen Unternehmen stattfinde, heute so nicht mehr teilen. Nicht zuletzt besteht heute eine Wettbewerbsgesetzgebung, die die übermäßige Konzentration der Wirtschaft verhindern soll. Die sozial eingebundene und durch Wettbe-
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werbsregeln geschützte Marktwirtschaft kann den Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise offenbar eher verbessern als der zentral gelenkte, gesamtwirtschaftliche Großkonzern, der Hilferding letztlich vorschwebte. Auf der anderen Seite entwickelte Hilferding wichtige gedankliche Grundlagen für die tarifpartnerschaftliche Mitbestimmung im Unternehmen. Die wichtigste Folgerung, die man aus sozialdemokratischer Sicht aus dem wirtschaftspolitischen Denken Hilferdings auch heute noch ziehen kann, dürfte aber folgende sein: Die moderne Industriegesellschaft mit ihren technischen und organisatorischen Fortschritten steht den sozialdemokratischen Zielen der Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten nicht entgegen oder bedroht diese. Im Gegenteil eröffnet sie, einen positiven Gestaltungswillen vorausgesetzt, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten.
L ESEHINWEISE Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, Stuttgart 2000. Walter Euchner: Rudolf Hilferding, in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus II, München, 1991, S. 99-111. Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv.
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Emil Lederer (1882-1939) Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit
Emil Lederer studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Wien und München. Von 1918 bis 1931 war er Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg und von 1923 bis 1931 Direktor des Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften. 1931 nahm Hilferding den Ruf auf eine Professur für Staatswissenschaften in Berlin an. 1933 emigrierte er aufgrund seiner demokratisch-sozialistischen Überzeugungen und seiner jüdischen Abstammung nach New York, wo er fortan als Professor an der New School for Social Research wirkte.
E MIL L EDERERS W ERK In der Zeit der Weltwirtschaftskrise erkannte Emil Lederer bereits früh, daß die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland eine ernste Gefahr für die Demokratie war. Er widersprach der Auffassung klassisch-liberaler Wirtschaftstheoretiker, nach der Arbeitslosigkeit lediglich eine vorübergehende Anpassung sei, die bei Störungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts auftrete, die sich in der freien Marktwirtschaft aber von selbst wieder regle. Arbeitslosigkeit ist nach Lederer vielmehr mit der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft selbst verknüpft. Sie ergibt sich aus dem Zusammenhang von Kapitalbildung, technischem Fortschritt und Beschäftigung, der sogenannten Klassischen Triade. Diesem Denkansatz zur Folge gibt es in jeder Volkswirtschaft »statische« und »dynamische« Unternehmen. Dynamische Unternehmen zeichnen sich für Lederer dadurch aus, daß sie durch Rationalisierungsinvestitionen versuchen, eine höhere Kapitalrendite zu
E MIL L EDERER (1882-1939)
erzielen, also das Verhältnis von Gewinn zum eingesetzten Kapital zu erhöhen. Sie verbessern damit ihre Stellung im Wettbewerb am Kapitalmarkt und ziehen weiteres Kapital an sich, das im Ergebnis den statischen Unternehmen nicht mehr zur Verfügung steht. Lederer kam zu dem Schluß, daß in diesem Prozeß die Lohnsumme, das heißt das Produkt aus Lohnsatz und der Zahl der Beschäftigten, vergleichsweise stärker sinkt als die Summe der Gewinne, die durch die Rationalisierungsmaßnahmen erzielbar sind, auf der anderen Seite ansteigt. Deshalb wächst die Volkswirtschaft nun insgesamt langsamer. Dies ist der Kern des »Lederer-Stagnationstheorems«. Mit dem langsameren Wirtschaftswachstum steigt auch die Arbeitslosigkeit an. Denn in den rationalisierenden Unternehmen kommt es zu einer »primären« Freisetzung von Arbeitskräften. Hinzu tritt eine »sekundäre« in den statischen Unternehmen, deren Kapitalbildung eingeschränkt wurde. Solche Verwerfungen in Ablauf der Volkswirtschaft werden nach Lederer durch ungleichgewichtige Kapitalumschichtungen hervorgerufen, die eine starke Monopolisierung und Konzentration des Kapitals in einzelnen Wirtschaftszweigen (wie sie in der Weimarer Republik ausgeprägt war) noch begünstigt. Arbeitslosigkeit wird für Lederer also vor allem durch den schnellen, arbeitssparenden technischen Fortschritt hervorgerufen. Technischer Fortschritt ist aber nicht generell und in jedem Fall mit Arbeitslosigkeit verbunden. Wenn neuartige Produkte auf den Markt kommen, die bestehende nicht verdrängen, sondern neue Bedürfnisse befriedigen und neue Nachfrage schaffen, erhöht technischer Fortschritt sogar die Beschäftigung. Solche Innovationen sind nach Lederers Einschätzung allerdings vergleichsweise selten. Staatliche Kreditprogramme können nach Lederer eine volkswirtschaftliche Wachstumsschwäche oder Konjunkturkrise nicht dauerhaft entschärfen, da sie, abgesehen von einer kurzfristigen Verbesserung der Liquidität von Unternehmen, nicht zu einer ausreichenden Realkapitalbildung beitragen. Investitionen in neue Produktionsanlagen sind aber die Voraussetzung, um Arbeitslosigkeit abzubauen. Als staatliche Sofortmaßnahme in Krisenzeiten hielt Lederer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für sinnvoller, da die Beschäftigung von Arbeitslosen in staatlichen Unternehmen zuverlässiger zur Erhaltung und Erweiterung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks beitragen (»Lederer-Plan«).
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E MIL L EDERERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die Vorstellungen Emil Lederers zur Entstehung, dem Verlauf und die Bekämpfung von Wirtschaftskrisen können in vieler Hinsicht auch heute noch als lehrreich gelten. Vor allem sein Hinweis auf die positiven Beschäftigungswirkungen von Produktneuerungen sowie zusätzlicher Investitionen in neue Produktionsanlagen (bei denen durchaus auch der Staat eine vorantreibende Rolle spielen kann, wenn die private Initiative ausbleibt), ist aktuell und kann die Leitlinie für eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik sein.
L ESEHINWEISE Emil Lederer: Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit, Frankfurt a.M. 1981. Ulrich Eßlinger: Neue Produkte gegen Arbeitslosigkeit, in: Die Zeit, Nr. 44, 29.10.1993.
Wladimir Woytinsky (1885-1960) Aktive Wirtschaftspolitik
Wladimir Woytniski war ein russischer Wirtschaftsstatistiker und Wirtschaftspolitiker. 1922 übersiedelte er aufgrund seiner anti-bolschewistischen Einstellung nach Deutschland und arbeitet zunächst als freier Schriftsteller. 1929 wurde Woytinski Leiter des Forschungsinstituts des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Von 1933 bis 1935 arbeitete er für die International Labour Organisation (ILO) in Genf und wanderte 1935 in die USA aus, wo er in die Dienste verschiedener Regierungsbehörden trat (Central Statistical Board, Social Security Board).
W L ADIMIR W OY TINSK YS W ERK Wladimir Woytinsky machte sich im Deutschland der 1920er Jahre einen Namen als Verfasser umfassender wirtschaftsstatistischer Zahlenwerke. Seine empirischen Kenntnisse der Wirtschaft bildeten in der Weltwirtschaftskrise auch die Grundlage seiner umfassenden Kritik an der Wirtschaftspolitik der Reichsregierung, die auf Deflation, das heißt sinkende Löhne und Preise setzte. Der Deflationsstrategie entgegnete er seine Vorstellungen von aktiver Wirtschaftspolitik und Arbeitsbeschaffung, um die Krise zu bekämpfen. Auf ihnen beruhte auch der im Januar 1932 veröffentlichte Arbeitsbeschaffungsplan des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), der nach den Initialen seiner Verfasser (neben Woytinsky auch Fritz Tarnow und Fritz Baade) oft WTB-Plan genannt wurde. Innerhalb der Parteispitzen der SPD wurde der WTB-Plan skeptisch aufgenommen. Besonders Rudolf Hilferding, der die Krise als natürliche Erscheinung des Kapitalismus auffaßte, mußte eine aktive Konjunktur- und Ar-
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beitsmarktpolitik als vergeblicher und auf dem Weg zum Sozialismus letztlich hemmender Versuch erscheinen, die Fehler der kapitalistischen Ordnung zu heilen. Fritz Naphtali warnte im Parteivorstand vor den Inflationsgefahren, die mit dem über öffentliche Kredite finanzierten WTB-Plan verbunden seien. Für Woytinsky hingegen war eine aktive Wirtschaftspolitik des Staates geeignet, den anarchischen Verlauf des Kapitalismus durch eine höhere und organisiertere Form der Wirtschaft zu ersetzen. Die orthodoxe, marxistisch inspirierte Auffassung, die Krisen des Kapitalismus seien unvermeidlich, trügen am Ende aber zu dessen Überwindung bei, hielt er für »sozialistische Zukunftsmusik«. Aktive Wirtschaftspolitik umfaßte für Woytinsky zwei Kernbereiche: erstens die Stabilisierung der Preise und Stützung des Preisniveaus, zweitens die öffentliche Arbeitsbeschaffung. Seine statistischen Studien zeigten ihm, daß steigende Großhandelspreise die Wirtschaft in der Krise beleben können, da sich hierdurch Kredite verbilligen. Inflation erkannte er dann als Gefahr für die Wirtschaft, wenn sie vernünftige Grenzen überschreitet und ihre Geschwindigkeit übermäßig stark ansteigt. Die Arbeitsbeschaffung sollte dem unmittelbaren Ausgleich der Konjunkturschwankung dienen. Hier kam es für Woytinsky darauf an, daß die entsprechenden Staatsausgaben zusätzlich zum normalen Haushalt getätigt werden. Sie dürfen nicht durch höhere Steuern oder durch Einsparungen anderenorts finanziert werden, da dies die Kaufkraft der Bevölkerung schmälert und den Konjunktureffekt der Arbeitsbeschaffung wieder einschränkt.
W L ADIMIR W OY TINSK YS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Woytinsky hat, wohl unabhängig von Keynes, die Grundgedanken der späteren keynesianischen Konjunkturpolitik, wie sie etwa von Karl Schiller unter dem Begriff der »Globalsteuerung« bekannt gemacht wurde, bereits in den frühen 1930er Jahren vorweggenommen. Schon damals wies er darauf hin, daß dieser Ansatz hohe Anforderungen an die Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hand stellt. So muß die aktive Wirtschaftspolitik bereits vor der Krise beginnen, indem in guten Zeiten Mittel zurückgelegt werden. Die Arbeitsbeschaffung darf hingegen erst auf dem Tiefpunkt der Krise einsetzen, um voll wirken zu können. Dann sind die öffentlichen Kassen aber oft schon leer. Sehr zeitgemäß ist auch Woytinskys Einsicht, daß erfolgreiche aktive Kon-
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junkturpolitik international abgestimmt sein muß (er selbst sprach ursprünglich von der »Weltwirtschaftspolitik«), zum Beispiel wenn es darum geht, die Preise durch eine gemeinsame Währungspolitik der Länder zu stabilisieren.
L ESEHINWEISE Wladimir Woytinsky: Aktive Weltwirtschaftspolitik, in: Die Arbeit, 6/1931, S. 413-440. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1998, S. 51 -53.
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Fritz Naphtali (1888-1961) Wirtschaftsdemokratie
Fritz Naphtali besuchte die Handelshochschule in Berlin. Seit 1911 war er Mitglied der SPD. Nach einer kaufmännischen Tätig keit arbeitete Naphtali von 1912 bis 1926 bei verschiedenen Zeitungen als Wirtschaftsredakteur. 1927 wurde er Leiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), bis er schließlich 1933 nach Palästina emigrierte. In Israel lehrte Naphtali an der Universität von Haifa, war Knesset-Abgeordneter für die Arbeiterpartei, mehrmals Minister sowie Wirtschaftsberater von David Ben Gurion.
F RITZ N APHTALIS W ERK Fritz Naphtali stellte 1928, anläßlich des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, seine Thesen über »Die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie« vor. Nach Inhalt und Methode stark von Rudolf Hilferding beeinflußt, flossen diese wenig später in sein Hauptwerk »Wirtschaftsdemokratie« ein. Die »Wirtschaftsdemokratie« zählt zu den geistigen Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik verwirklicht wurde. Naphtalis Vorstellungen von einer demokratisch verfaßten Wirtschaftswelt greifen allerdings über die Mitbestimmungsrechte,
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wie sie im Betriebsverfassungsgesetz und im Montan-Mitbestimmungsgesetz niedergelegt sind, noch hinaus. Naphtali hatte erkannt, daß mit der politischen Demokratie, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert geschaffen wurde, nicht zugleich auch die wirtschaftliche Befreiung des arbeitenden Menschen, also das gesellschaftliche Ideal des Sozialismus, verbunden ist. Wirtschaftliche Demokratie setzte für ihn die politische allerdings voraus. Denn Naphtali verstand die Durchsetzung der Wirtschaftsdemokratie als einen langsamen Prozeß, der nach und nach den Privatkapitalismus verändern und in eine freiheitliche sozialistische Ordnung umwandeln soll. Ausgangspunkt von Naphtalis Überlegungen zur Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in eine so verstandene Gemeinwirtschaft ist die Entwicklung des Kapitalismus von der freien Konkurrenz der Einzelunternehmer hin zum überwiegenden Großbetrieb und zur Großbank. Erst der hierarchisch aufgebaute Großbetrieb bietet seiner Auffassung nach die richtigen Voraussetzungen für eine direkte Beteiligung der Arbeitnehmer an dessen Leitungsgremien. Durch Arbeitnehmerbeteiligung soll gleichzeitig auch eine neue wirtschaftliche Führungsschicht gebildet werden, die unabhängig von den alten kapitalistischen Besitzverhältnissen sei. Dies schaffe neue Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs für breitere Bevölkerungskreise, zusätzliche produktive Kräfte würden für die Gesamtwirtschaft gewonnen. Neben der unmittelbaren Beteiligung der Arbeitnehmer an der Leitung von Unternehmen soll Wirtschaftsdemokratie nach Naphtalis Vorstellungen auch durch eine stärkere Regulierung der Wirtschaftsabläufe im demokratischen Staat erreicht werden: Durch Einbindung der Unternehmen in Selbstverwaltungskörperschaften, öffentlichrechtliche Verbände oder sogar in staatlich verfügte Kartelle. Schließlich trugen für Napthali auch die Unternehmen, die sich unmittelbar in staatlichem oder kommunalem Eigentum befinden sowie die verschiedenen Genossenschaften zur Verwirklichung der freiheitlichen Gemeinwirtschaft bei.
F RITZ N APHTALIS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Naphtali leitete, durchaus in marxistischer Denkweise, den Übergang von der freien Marktwirtschaft in einen großbetrieblich geprägten »Monopolkapitalismus« als zwangsläufig ab. Zumindest in Deutschland ist dies nicht eingetreten. Der Grundgedanke Naphtalis, daß die
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Wirtschaft in der demokratischen Gesellschaft keine Welt für sich ist, sondern in das Gemeinwesen eingebunden werden muß, gehört auch heute zum Kernbestand sozialdemokratischen Wirtschaftsdenkens.
L ESEHINWEISE Fritz Naphtali: Die Wirtschaftsdemokratie – Ihr Wesen, Weg und Ziel, Frankfurt a.M. 1966. Kurt Nemitz: Die Schatten der Vergangenheit – Beiträge zur Lage der intellektuellen deutschen Juden in den 20er und 30er Jahren, Oldenburg 2000, S. 131-137. Bildquelle: Knesset.
Eduard Heimann (1889-1967) Christliche Gesellschaftsordnung und Sozialpolitik
Eduard Heimann studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Heidelberg, Wien und Berlin. 1919 wurde er Generalsekretär der ersten deutschen Sozialisierungskommission und 1925 Professor für Sozialökonomie in Hamburg. Heimann war seit 1926 Mitglied der SPD. 1933 emigrierte er in die USA und lehrte an der New School for Social Research in New York. 1963 kehrte er als Emeritus nach Hamburg zurück.
E DUARD H EIMANNS W ERK Eduard Heimann vertat einen religiös begründeten Reformsozialismus, dessen Grundgedanke darauf abhebt, daß sich die Freiheit des Einzelnen in eine ethisch am Christentum orientierte soziale Gemeinschaftsordnung einfügen muß. Nach diesem Leitgedanken soll die Marktwirtschaft schrittweise durch sozialpolitische Reformen umgestaltet und ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus beschritten werden. Der Kapitalismus ist nach Heimann eine wirtschaftliche Verfassung von unbestreitbarer Effizienz, die das Wachstum des gesellschaftlichen Wohlstands außerordentlich begünstigt. In frühen Zeiten herrschte der Typus des kleinen Einzelunternehmers vor, der dem liberalen Idealbild von der freien Marktwirtschaft ohne staatliche Überwachung entsprach. Der geschichtlich fortgeschrittene, moderne Kapitalismus zeigt, so Heimann, aber eine Tendenz zum Großbetrieb und zur Verdichtung wirtschaftlicher Macht. Dadurch wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Rolle des einzelnen Arbeiters, des Einzelunternehmers oder des Kleinaktionärs durch die Großor-
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ganisation und ihre Funktionäre gleichsam überlagert. Freiheit und Gleichheit sind für Heimann in der modernen Industriegesellschaft nicht mehr allein auf der Ebene des Einzelmenschen zu verwirklichen, sondern sie erfordern seine Einbindung in gesellschaftliche Großorganisationen, wie zum Beispiel Gewerkschaften. Dadurch soll nämlich die Macht des kapitalistischen Großunternehmens ein angemessenes Gegengewicht erfahren. Im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung nimmt nach Heimann nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern auch die Krisenempfindlichkeit des Kapitalismus zu. In der modernen Industriewirtschaft soll deshalb keine Regierung den Markt sich selbst überlassen, da sie dann riskiert, daß Zusammenbrüche von Großunternehmen die Massen der Arbeiter und Angestellten sowie auch die Lieferanten mit den wirtschaftlichen Abgrund ziehen. Wirtschaftskrisen können so im modernen Kapitalismus die gesellschaftliche Ordnung gefährden. Bis zur Weltwirtschaftskrise war für Heimann der Kapitalismus durch ein Übermaß an wirtschaftlicher Freiheit gekennzeichnet. Als Gegenreaktion entstanden Zwangssysteme wie der Faschismus oder der Bolschewismus. Um solche Extrementwicklungen zu vermeiden und politische Stabilität zu erhalten, hielt Heimann deshalb ein klug gestaltetes Gleichgewicht von Freiheit und Ordnung für unabdingbar. Das Gleichgewicht von Freiheit und Ordnung wird mit dem modernen Sozialstaat und indirekter Formen der Wirtschaftslenkung angestrebt. Sozialpolitik zielt Heimann zufolge darauf ab, kollektive (zum Beispiel Gewerkschaften, Tarifverträge) und zentralistische Elemente (zum Beispiel die progressive Einkommensteuer oder öffentliche Kontrollen von Währung und Kredit) in die ansonsten individualistische Marktwirtschaft einzubauen. Weiterhin meinte Heimann, kann indirekte Rahmenplanung durch den Staat einen ordnenden Rahmen für die Wirtschaft errichten, an den sich die Unternehmen zwar anpassen müssen, innerhalb dessen sie sich aber frei entfalten können. Sozialstaatliche Reformen im marktwirtschaftlichen Kapitalismus wirken für Heimann gesellschaftlich stabilisierend und verstetigen den Strom der Masseneinkommen. Dadurch bewahren sie gleichzeitig Freiheit und liberale Demokratie. Sie verwirklichen schrittweise die soziale Idee innerhalb des Kapitalismus und sichern so seinen geordneten Fortbestand.
E DUARD H EIMANN (1889-1967)
E DUARD H EIMANNS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die wirtschaftspolitische Diskussion nimmt Eduard Heimann heute kaum noch zur Kenntnis. Dennoch findet man bei Heimann eine auch heute noch zeitgemäße, umfassende Konzeption, wie die Marktwirtschaft durch konsequente Sozialpolitik menschenwürdig gestaltbar ist. Wichtig ist sein Hinweis, daß Sozialstaat und Marktwirtschaft in einem gleichsam dialektischen Verhältnis stehen, wonach zwischen beiden eine Spannung besteht, die Sozialpolitik am Ende aber doch dem Überleben einer humanisierten Marktwirtschaft dient.
L ESEHINWEISE Eduard Heimann: Freiheit und Ordnung, Hamburg 1969. Eduard Heimann: Soziale Theorie des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1980.
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Hans Staudinger (1889-1980) Der Staat als Unternehmer
Hans Staudinger studierte Literatur und Germanistik in München sowie Nationalökonomie und Soziologie in Heidelberg. 1918 trat er als Regierungsrat in das Kriegsernährungsamt ein. Von 1920 bis 1927 führte ihn seine Laufbahn durch das Reichswirtschaftsministerium. 1927 wurde er Beamter im preußischen Handelsministerium, in dem er von 1929 bis 1932 als Staatssekretär diente. Von 1932 bis 1933 war Staudinger Reichstagsabgeordneter für die SPD. 1933 emigrierte er über Belgien, Frankreich und Großbritannien in die USA, wo er 1934 Professor an der New School for Social Research wurde und einen Schwerpunkt seines Wirkens auf energiewirtschaftliche Fragen setzte.
H ANS S TAUDINGERS W ERK Hans Staudinger galt als führender deutscher Experte für Fragen der Gemeinwirtschaft. In seinem Hauptwerk »Der Staat als Unternehmer« (1932) setzte er sich eingehend damit auseinander, welche Rolle öffentliche beziehungsweise staatliche Unternehmen in der modernen kapitalistischen Wirtschaft spielen oder spielen sollen. Das Buch beginnt mit einem geschichtlichen Rückblick, der zeigt, daß
H ANS S TAUDINGER (1889-1980)
das staatliche Wirtschaftsunternehmen in der Zeit des Merkantilismus, im 17. und 18. Jahrhundert, die Modernisierung der wichtigen europäischen Volkswirtschaften vorangetrieben hatte. Die damaligen Staatsunternehmen bestanden zwar auch im liberal-kapitalistischen 19. Jahrhundert vielfach weiter. In Deutschland gewann das öffentliche Unternehmen aber erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wieder einen bestimmenden Einfluß auf die allgemeine Entwicklung der Volkswirtschaft, und zwar mit der Zusammenfassung und Verstaatlichung der Eisenbahnen, der zunehmenden Kartellisierung des Rohstoffsektors und dem Aufbau der Elektrizitätswirtschaft sowie im Wohnungswesen. Der Erste Weltkrieg brachte schließlich eine systematische staatliche Bewirtschaftung der Produktionsanlagen und der ökonomischen Abläufe. Nach dem Kriegsende waren die Sozialisierung und die stärkere Einfassung vor allem der Rohstoffindustrien in öffentliche Eigentumsformen und staatlich verfügte Kartelle bestimmende Themen der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung. Zunehmend wurden auch gemischtwirtschaftliche Unternehmen geschaffen, die sich gemeinsam in öffentlichem und privatem Eigentum befanden, zum Beispiel in der Energieversorgung. Liberale Kritiker haben seit je her der Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand vorgeworfen, verglichen mit privaten Unternehmungen ineffizienter zu sein. Staudinger hielt dem entgegen, daß nicht die Leistungsfähigkeit allein die Existenz der öffentlichen Wirtschaft rechtfertigt, sondern die Ausrichtung der Wirtschaftstätigkeit auf die Allgemeinheit. Auch die öffentliche Unternehmung war für ihn dem Grundsatz der Rentabilität verpflichtet, da sie volkswirtschaftliches Kapital verwaltet. Dies allerdings nicht zum Selbstzweck, sondern immer mit Blick auf gesamtwirtschaftliche Interessen – und im Zweifelsfall ordnete Staudinger gesamtwirtschaftliche Erwägungen den Rentabilitätsgesichtspunkten über. Öffentliche Unternehmen sollen nach Staudinger dazu dienen, notwendige Infrastrukturen aufzubauen (insbesondere Verkehrswege) und die Grundlage für eine einheitliche »Produktions-, Kapital- und Konjunkturpolitik« bilden. Um den Staats-, Landes- oder Kommunalbetrieb sinnvoll zur Wirtschaftsgestaltung einsetzen, hielt er ein hohes Maß an Publizität, rationeller Organisation und Kostenkontrolle für unerläßlich.
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H ANS S TAUDINGERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Hans Staudingers Werk regt auch heute noch dazu an, über das tatsächliche sowie das wünschenswerte Verhältnis zwischen öffentlicher Hand und Marktwirtschaft nachzudenken. Vor allem der historische Abriß in »Der Staat als Unternehmer« verdeutlicht, daß beide in der Geschichte nie voneinander zu trennen waren. Seine Vorstellungen über gemischtwirtschaftliche Unternehmungen, mit denen der Staat und die Privatwirtschaft gemeinsam öffentliche Aufgaben erfüllen, sind in der Diskussion über »Public Private Partnerships« – öffentlich-private Partnerschaften – auch heute noch gegenwärtig.
L ESEHINWEISE Hans Staudinger: Der Staat als Unternehmer 1932. Bildquelle: Reichstags-Handbuch, VII. Wahlperiode, 1932.
Erik Nölting (1892-1953) Gegen die Zwangswirtschaft
Erik Nölting studierte Soziologie und Nationalökonomie in Halle, München, Berlin und Frankfurt a.M. 1920 wurde er Pro fessor an der Landeshochschule für Staats- und Wirtschaftswissenschaften in Detmold und 1923 an der Akademie der Arbeit in Frankfurt a.M.. 1928 zog Nölting für die SPD in den Preußischen Landtag. 1933 wurde er aus seinen Ämtern entlassen. Nach dem Krieg, im Jahr 1946, war er Landtagsabgeordneter in NordrheinWest falen und 1949 Bundestagsabgeordneter für die SPD. 1947 bis 1950 hatte Nölting das Amt des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers inne.
E RIK N ÖLTINGS W ERK Erik Nölting, einer der wirtschaftswissenschaftlichen Vordenker der deutschen Sozialdemokratie in der frühen Nachkriegszeit, maß den gesellschaftlichen Wert einer Wirtschaftsordnung daran, ob sie die Menschen zu freiwilliger Leistungsbereitschaft und schaffender Teilnahme am Produktionsprozeß bewegt. Für ihn war dies eine Frage der sozialen Verfaßtheit der Wirtschaft und der Arbeit beziehungsweise der Möglichkeit zur Mitwirkung des einzelnen an ihren Abläufen: »Denn nur aus sozial ausgesöhntem
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Dasein erwächst Arbeitsfreude als natürliche Frucht« (E. Nölting 1950). Freiwillige Leistungsbereitschaft des einzelnen konnte sich für Nöltig nicht in der autoritären Planwirtschaft sowjetischen Typs entfalten, die als natürlicher Widerpart zur freien Marktwirtschaft steht. Denn die Planwirtschaft unterdrückte seiner Auffassung nach die Leistungsbereitschaft des unternehmerischen Menschen und regelte bürokratisch die Wirtschaftsabläufe bis in die Einzelheiten des Konsums hinein. Aber auch die freie, ungebundene Marktwirtschaft kann nach Nölting eine Form der Zwangswirtschaft sein – etwa dann, wenn ererbte Reichtümer und Eigentumstitel bestimmten Menschen eine übermäßig große ökonomische Macht verleihen. Vor allem aber erweckt das Lohnarbeitertum in der Marktwirtschaft soziale Spannungen und bei den Arbeitnehmern ein Gefühl von Verdrossenheit und verletzter Menschenwürde. Arbeitsbereitschaft und wahre, freiwillige Leistungsbereitschaft waren für Nölting in der modernen Industriewirtschaft nur auf der Grundlage von Mitbestimmung und Mitverantwortung des Arbeitnehmers erzielbar. Gleichzeitig war Nölting überzeugt, daß eine gesellschaftlich akzeptable Wirtschaftsordnung auf dem Prinzip einer »Lenkung der leichten Hand« beruhen muß. Dabei schwebte ihm eine staatliche Gesamtmarktplanung vor, die neben den großen Proportionen der Produktion vor allem die Investitionstätigkeit steuern solle. In den Details der Produktion und des Konsums sollen hingegen weiterhin das Marktprinzip, freies Unternehmertum und die Wahlfreiheit des Verbrauchers vorherrschen.
E RIK N ÖLTINGS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Erik Nölting war einer der Wegbereiter moderner sozialdemokratischer Vorstellungen von einer gesellschaftlich gebundenen Marktwirtschaft und der betrieblichen Mitbestimmung. Wichtig ist auch heute noch sein Hinweis, daß nicht abstrakte ordnungstheoretische Systemvorstellungen (Markt oder Plan) allein für den sozialen Wert einer Wirtschaftsverfassung maßgeblich sind. Vielmehr kommt es darauf an, daß die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaft als gerecht und menschenwürdig empfunden wird. Dies gilt auch dann, wenn man Nöltings für heutige Verhältnisse sehr weit gespannte (zu seinen
E RIK N ÖLTING (1892-1953)
Lebzeiten aber mit dem Zeitgeist durchaus vereinbare) Ansprüche an eine staatliche Investitions- und Produktionslenkung nicht teilt.
L ESEHINWEISE Erik Nölting: Leistungsbereitschaft durch Mitbestimmung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 12/1950, S. 577-578. Erik Nölting: Gegen die Zwangswirtschaft, Hannover 1951. Claudia Nölting: Das Portrait: Erik Nölting, in: Geschichte im Westen, 4. Jahrgang 1989, S. 65-88. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Fritz Baade (1893-1974) Wohlstand durch Planung und Fortschritt
Fritz Baade war Mitglied der USPD und wechselte 1922 zur SPD. Er studierte Volkswirtschaftslehre und andere Fächer in Göttingen, Berlin, Heidelberg und Münster. 1929 wurde Baade Leiter der Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen. Von 1935 bis 1948 war er im Exil in der Türkei und den USA. 1948 wurde Baade als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Kiel berufen.
F RITZ B A ADES W ERK In der Weltwirtschaftskrise trat Fritz Baade 1932, neben W. Woytinsky und F. Tarnow, als Mitverfasser des Arbeitsbeschaffungsplans des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) hervor (»WTBPlan«). Kern des Plans war eine staatliche, über Kredite finanzierte Beschäftigungspolitik, um das in der Krise brachliegende Arbeitskräftepotential wieder produktiv zu nutzen. Wohlstand durch bessere Nutzung der volkswirtschaftlichen Ressourcen ist ein Gedanke, der sich auch durch das gesamte spätere Werk Baades zieht. Es umfaßt vor allem Schriften zur Konjunktur- und Wachstumstheorie sowie zur Agrar-, Entwicklungs- und Energiepolitik. Für Baade standen Staat und Sozialpartner gemeinsam in der Verantwortung, ein stetiges, krisenfreies Wachstum der Wirtschaft bei
F RITZ B AADE (1893-1974)
Preisstabilität zu gewährleisten. Er setzte dabei das Prinzip von Freiheit und Bindung voraus: Die wirtschaftliche Freiheit des Marktes ist nicht ohne dessen gesellschaftliche Bindung denkbar. Deshalb muß der Staat die Entwicklungsrichtung der Wirtschaft durch eine umsichtige Rahmenplanung vorgeben. Als Instrumente stehen ihm die Geld- und Kreditpolitik sowie die Finanzpolitik zu Verfügung. Weiterhin kann der Staat, so Baade, unmittelbar in die Preisbildung eingreifen, um zum Beispiel zu verhindern, daß einzelne Produzenten vorübergehende Knappheiten zu übermäßiger Preissteigerung mißbrauchen. Mit der gleichen Begründung soll der Staat auch mäßigend auf die Sozialpartner einwirken, um Lohn- und Preissteigerungen zu verhindern, die die wirtschaftliche Stabilität gefährden. Das zweite große Arbeitsgebiet Baades umfaßte die europäische Agrar- und die weltweite Entwicklungspolitik. In beiden Fällen ging es ihm darum, wie bei zunehmender Bevölkerung eine sichere Ernährung und steigender allgemeiner Wohlstand möglich sind. Baades Empfehlung lautete, den agrartechnischen Fortschritt zu nutzen, um die Produktivität der landwirtschaftlichen Betriebe zu erhöhen. Gleichzeitig muß, ähnlich wie in Europa, auch in den Entwicklungsländern die Zahl der Landwirte abnehmen. Nur dann läßt sich die Nahrungsmittelproduktion pro Betrieb steigern und gleichzeitig zu geringeren Preisen anbieten. Von alleine, nur aus dem Markt heraus, ergab sich für Baade eine solche Entwicklung allerdings nicht. Sie erfordert eine langfristige öffentliche Zukunftsplanung, in der besonders die Raumplanung einen hohen Stellenwert hat. Langfristige Zukunftsplanung ist nach Baade auch in der Energiewirtschaft notwendig. Bei wachsender Weltbevölkerung würde sich nach langfristigen statistischen Prognosen, die Baade bereits in den späten 1950er Jahren entwarf, auf lange Sicht ein schwieriges Spannungsverhältnis zwischen den verfügbaren herkömmlichen Energieträgern (Öl, Gas, Kohle und Wasserkraft) sowie dem Weltenergiebedarf ergeben. Die Lösung des Problems lag für ihn auch hier im technischen Fortschritt, und zwar in der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
F RITZ B A ADES W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Fritz Baades Vertrauen in eine umsichtige öffentliche Planung und die wohlstandssteigernden Wirkungen des technischen Fortschritts
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unterscheidet sich von den Lehrmeinungen, die seit den 1970er Jahren die wirtschaftspolitische Diskussion zu beherrschen begannen: nämlich sowohl von der marktliberal-monetaristische Strömung auf der rechten wie auch von der wachstumskritisch-ökologischen auf der linken Seite des politischen Meinungsspektrums. Sie bewahrt vielmehr den traditionellen Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokratie. Gerade deshalb können die wirtschaftspolitischen Schriften Baades heute noch anregend wirken und eine zukunftsgewandte sozialdemokratische Auffassung von Wirtschaftspolitik vermitteln.
L ESEHINWEISE Fritz Baade: Der weltwirtschaftliche Rang der Atomenergie, in: Außenpolitik 4-5/1957. Fritz Baade: Freiheit durch Planung, in: Die Neue Gesellschaft 11/1964, S. 201-207 Fritz Baade: Weltweiter Wohlstand, Hamburg 1970. Bildquelle: Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode, 1933.
Adolph Lowe (1893-1995) Gemischtwirtschaft und freie Gesellschaft
Adolph Lowe studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in München, Berlin und Tübingen. Er bekleidete in den 1920er Jahren verschiedene Positionen im Reichsarbeits- und -wirtschaftsministerium sowie im Statistischen Reichsamt. Ab 1930 war Lowe Professor in Kiel und Frankfurt. Nach der Emigration aus Deutschland im Jahr 1933 nahm er Lehrämter in Genf, Manchester, London und New York wahr.
A DOLPH L OWES W ERK Von Hause aus war Adolph Lowe Konjunkturtheoretiker. In der Weltwirtschaftskrise wandte er sich als einer von wenigen der akademischen Volkswirte gegen die vorherrschende wissenschaftliche Meinung, eine allgemeine Lohnsenkung (Deflationspolitik) sei geeignet, die Krise zu bekämpfen. Statt dessen hielt er es für vordringlich, Verfälschungen der Marktwirtschaft durch Monopole, Kartelle und Schutzzölle aufzuheben. Dies hätte, so Lowe, die Wirtschaft von Überkapazitäten und zu hohen Produktionskosten befreit und ihre Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigungslage verbessert, ohne gleichzeitig die Nachfrage zu schwächen. Das spätere wirtschaftstheoretische Werk Lowes konzentrierte sich auf die Untersuchung der »Traversen-Problematik«, das heißt auf die Frage, wie eine Volkswirtschaft nach einer Störung des normalen Konjunkturablaufs, zum Beispiel durch veränderte Verfügbarkeit von Ressourcen und Rohstoffen oder technischen Fortschritt, wieder auf einen gleichgewichtigen Pfad des Wachstums zurückfindet.
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Vor allem in den Jahren des Exils begann Lowe darüber hinaus, die reine Wirtschaftstheorie auch mit breiteren gesellschaftswissenschaftlichen Überlegungen zu verknüpfen. Dabei gelangte er zu der Grundannahme, daß es immer einen Widerspruch zwischen der gesamtwirtschaftlichen und der einzelwirtschaftlichen Rationalität gibt. Dieser Widerspruch äußert sich nach Lowes Auffassung in einer wesenhaften Instabilität der freien Marktwirtschaft, die langfristig auch die Grundlagen einer freien und zivilisierten Gesellschaft zerstören kann. Deshalb muß der Staat seiner Meinung nach kontrollierend und stabilisierend in das einzelwirtschaftliche Verhalten der Konsumenten, Produzenten und Investoren eingreifen, so daß ein geordneter und beherrschbarer Gesamt-Wirtschaftsablauf entsteht. Das individuelle Gewinnstreben soll durch die Institutionen der Zivilgesellschaft diszipliniert werden. Lowe ging es dabei nicht um die Aufhebung der wirtschaftlichen Freiheit, sondern um deren Erhaltung im Rahmen eines kontrollierten Marktsystems. Es war sein übergeordnetes Ziel, einen Ausgleich zwischen der Freiheit des Einzelmenschen und den Erfordernissen gesellschaftlicher Stabilität herbeizuführen. Lowe gehörte mit diesem Ansatz zu den führenden Theoretikern der Gemischtwirtschaft oder »mixed economy«. Die Gemischtwirtschaft verlangt, damit sie funktionieren kann, aber nicht nur von der Wirtschaft eine am Gemeinwohl orientierte Selbstdisziplin, sondern von allen Bürgern und gesellschaftlichen Funktionsträgern. Dies war für Lowe letzten Endes eine grundsätzliche Erziehungsfrage sowie eine Frage, in wie weit die Bürger an gesellschaftlichen Entscheidungen teilhaben können. Demokratische Teilhabe bedeutete für Lowe, daß die gesellschaftlichen Entscheidungsbefugnisse möglichst dezentral angesiedelt sind.
A DOLPH L OWES W ERK AUS HEUTIGER S ICHT In der Nachkriegszeit wurden gemischtwirtschaftliche Wirtschaftssysteme als Ausweg aus dem Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus, als menschenwürdigerer »dritter Weg« betrachtet. Auch der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und die Versuche einer konjunkturellen Globalsteuerung spiegeln diesen Geist wider. Aus liberaler Sicht wurde allerdings stets eingewandt, daß die angestrebte Ordnung der Wirtschaft durch den Staat nicht im Marktprozeß selbst, sondern nur durch begrenzende Regeln und Gesetze hergestellt wer-
A DOLPH L OWE (1893-1995)
den soll. Innerhalb dieser Begrenzungen soll sich der Markt ohne staatliche Eingriffe selbst ordnen. Mit den marktwirtschaftlichen Reformen in vielen Ländern gewann diese Sichtweise in den 1980er Jahren die Oberhand. Dennoch hat Lowes Erkenntnis, daß die Marktwirtschaft in einen übergreifenden öffentlichen Rahmen eingefaßt werden muß, damit gesellschaftlicher Zusammenhalt, Freiheit und Gleichheit aller Bürger erhalten werden, auch heute noch Gültigkeit für eine am Menschen orientierte Wirtschaftspolitik.
L ESEHINWEISE Lowe, Adolph: Politische Ökonomik, Frankfurt a.M. 1965. Lowe, Adolph: Hat die Freiheit eine Zukunft? Marburg/Lahn 1990.
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Hans Neisser (1895-1975) Keynesianische Makroökonomie
Hans Neisser studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Freiburg, München und Breslau. 1922 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter der deutschen Sozialisierungskommission und 1927 Dezernent am Kieler Institut für Weltwirtschaft. 1933 verlor Neisser aufgrund seiner jüdischen Abstammung und sozialdemokratischen Überzeugung die Lehrerlaubnis in Deutschland. Er emigrierte in die USA und wurde dort als Professor für Geldtheorie an die Universität Pennsylvania berufen. 1943 bis 1965 war er Professor an der New School for Social Research in New York City.
H ANS N EISSERS W ERK Hans Neisser bildete, gemeinsam mit Gerhard Colm und Adolph Lowe, der »Kieler Gruppe« der Wirtschaftswissenschaften, die in Deutschland in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Erkenntnisse des britischen Ökonomen John M. Keynes auf-, teilweise auch vorwegnahmen. Damit trugen sie wesentlich dazu bei, die moderne, nachfrageorientierte Makroökonomie in Deutschland zu etablieren. Hans Neisser wurde mit seiner Habilitationsschrift »Der Tauschwert des Geldes« international bekannt. »Der Tauschwert des Geldes« war das erste wirtschaftswissenschaftliche Werk, das außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraums die Geldtheorie von Keynes würdigte. In der Weltwirtschaftskrise äußerte sich Neisser auf dieser Grundlage kritisch zur Stabilisierungspolitik der Reichregierung, die auf ausgeglichene öffentliche Haushalte und sinkende Löhne als Mittel der Krisenbekämpfung setzte. So befürwortete er eine Ausweitung öffentlicher Kredite, sofern dafür nicht die Steuern oder Zinsen er-
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höht werden müßten. Im letzten Fall würde der erwartete Beschäftigungszuwachs an anderer Stelle wieder zunichte gemacht, im ersten könne Arbeitslosigkeit aber durchaus entgegengewirkt werden. Auch staatliche Investitionsprogramme hielt Neisser für sinnvoll, sofern die Mittel in volkswirtschaftlich und gesellschaftspolitisch sinnvolle Verwendungen gelenkt würden. Zum Beispiel sah er den öffentlichen Wohnungsbau als sinnvoll an, durch den die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten verbessert werden konnten. Nicht sinnvoll erschien ihm etwa der Bau von Autobahnen, der aus seiner Sicht in jener Zeit nur wenigen Bevölkerungsgruppen Nutzen stiftete. In den USA war Neisser unter den ersten Professoren, die die noch neue keynesianische Makroökonomik systematisch aufbereiteten, lehrten und weiterentwickelten. Darüber hinaus zählt er zu den Pionieren der Ökonometrie, die die Untersuchung der wirtschaftlichen Abläufe mittels mathematischer Modelle umfaßt. In den 1950er Jahren arbeitete Neisser gemeinsam mit seinem Schüler Franco Modigliani, der 1985 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, an der Untersuchung der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen den Konjunkturverläufen in den einzelnen Ländern.
H ANS N EISSERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Hans Neisser, wie auch andere deutsche Exilwissenschaftler in den USA, trug wesentlich dazu bei, die wissenschaftlichen Grundlagen für die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik der 1960er und 1970er Jahre zu entwickeln. Die Bedeutung dieses Ansatzes trat erst mit der angebotsökonomischen, neokonservativen Gegenbewegung in den 1980er Jahren zurück. Er gehört aber auch noch heute zu den wichtigen Bestandteilen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik.
L ESEHINWEISE Hans Neisser: Der Tauschwert des Geldes, Jena 1928. Hans Neisser: Für und wider die Arbeitsbeschaffung, in: Die Arbeit, Band 8, 1931, S. 36-41. Hans Neisser: Kritik der Bankenaufsicht, in: Die Arbeit, Band 8, 1931, S. 744-752.
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Friedrich »Fritz« Sternberg (1895-1963) Die zweite industrielle Revolution
Fritz Sternberg studierte Nationalökonomie in Breslau und Berlin. Von 1919 bis 1923 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt a.M. und von 1924 bis 1933 freier Schriftsteller und linkssozialistischer Politiker. 1933 emigrierte Sternberg zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Schweiz und 1936 in die USA. Dort war er Journalist und nahm Lehraufträge an verschiedenen Universitäten wahr. Ab 1954 lebte Sternberg wieder in Deutschland und Österreich. Er betätigte sich als Referent bei den Gewerkschaften und für die SPD sowie für die SPÖ.
F RITZ S TERNBERGS W ERK Fritz Sternberg gehörte zu den führenden marxistischen Theoretikern im Deutschland der 1920er Jahre und war ein Vertreter des linken Flügels des demokratischen Sozialismus. 1926 trat er mit einer Arbeit über den Imperialismus hervor, mit der er an das Werk Rosa Luxemburgs anknüpfte. In seinen Vorstellungen über die Schaffung einer sozialistischen Ordnung folgte Sternberg in frühen Jahren Lenin. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb Sternberg seine Forschungen in den USA hingegen zunehmend aus einem freiheitlicheren Blickwinkel. Die marxistische Lehre galt ihm dabei nicht als Ideologie, sondern als theoretisches Modell, mittels dessen er die wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit analysierte. Die Gesellschaftsordnung der Sowjetunion untersuchte er eingehend und begriff sie als totalitär. Sternberg widmete nach dem Krieg vor allem den Veränderungen der kapitalistischen Wirtschaftssysteme viel Aufmerksamkeit. Er be-
F RIEDRICH »F RITZ « S TERNBERG (1895-1963)
obachtete, daß sich der Kapitalismus, ganz entgegen der orthodoxen marxistischen Erwartung, nicht an seinen vermeintlichen inneren Widersprüchen selbst aufhob. Vielmehr erneuerte er sich, wobei er sich gleichzeitig ökonomisch und gesellschaftlich veränderte. Sternberg bezeichnete diesen Vorgang als »zweite industrielle Revolution«, die in den USA begann und bald auch Europa sowie in Teilen die sozialistischen Staaten und die Dritte Welt erfaßte. Sternberg sah drei technische Neuerungen, die die »zweite industrielle Revolution« trugen. Erstens die friedliche Nutzung der Kernenergie, zweitens die Automatisierung und drittens den elektronischen Rechner. Die wichtigste Folge der Automatisierung war für Sternberg zunehmende Arbeitslosigkeit von Arbeitern und Angestellten. Arbeitslosigkeit wurde nach seinen Erkenntnisse zudem durch die »Degradierung« oder »Dequalifizierung« der Facharbeit begleitet. Dabei greift die Automatisierung mit all ihren Folgen nicht allein in privatkapitalistischen Betrieben um sich, sondern auch in verstaatlichten Industrien. Die Prozesse der »zweiten industriellen Revolution« dürfen aber, so Sternberg, durch die Politik nicht aufgehalten werden. Statt dessen sollte die Gesellschaft der Technik »neue Befehle« geben, die den arbeitenden Menschen wieder sinnvolle Betätigung geben und die steigende Produktivität in eine bessere Lebenshaltung umsetzen. Dies war für ihn vor allem zu erreichen, indem die Arbeitszeit verkürzt wird, und zwar in dem Maße, in dem die Produktivität der Arbeit steigt. Sternberg hielt eine 4-Tage- oder 30-Stunden-Woche bei gleichzeitiger Erhöhung der Löhne in absehbarer Zeit für möglich. Mehr Freizeit sollte aber gleichzeitig durch mehr Bildung und mehr Qualifikation begleitet werden, um einem Verfall des kulturellen Niveaus entgegenzuwirken. Sternberg sah für den Staat noch weitere Aufgaben, die sich aus der »zweiten industrielle Revolution« ergeben. Im staatlichen Sektor der Wirtschaft habe er zum Beispiel die Aufgabe, als »Modellunternehmer« zu wirken und privaten Unternehmen als gutes Beispiel zu dienen.
F RITZ S TERNBERGS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Aus heutiger Sicht überschätzte die Sternberg die Folgen der »zweiten industriellen Revolution«, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Folgen als auch der Möglichkeiten, Produktivitätsfortschritte in kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich umzusetzen. Bei
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der Arbeitszeitverkürzung berücksichtigte er auch den heutigen internationalen Wettbewerb mit Ländern, die ein anderes ökonomisches Entwicklungsniveau und Lohngefüge haben, noch nicht. Dennoch bleibt von seinem Werk die optimistische und wichtige Perspektive, daß der technische Fortschritt die Lebens- und Kulturverhältnisse der Menschen unmittelbar verbessern kann, wenn er gesellschaftlich eingebunden und gleichsam orchestriert wird.
L ESEHINWEISE Helga Grebing: Zeitgenosse sein. Zum 100. Geburtstag von Fritz Sternberg, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 7/1995, S. 424432.
Viktor Agartz (1897-1964) Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik
Viktor Agartz war nach dem Zweiten Weltkrieg Leiter des Wirtschaftsamtes der Alliierten Bi-Zone und Mitglied des Frankfurter Wirtschaftsrates. Er galt als Vertrauter von Hans Böckler und Kurt Schumacher. Von 1949 bis 1955 war er Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB. Dann zog er sich ins Privatleben zurück, nachdem er an Rückhalt in der SPD verloren hatte. 1961 wurde Agartz der Zusammenarbeit mit der DDR bezichtigt und angeklagt, später aber freigesprochen.
V IK TOR A GARTZ ’ W ERK Viktor Agartz war in der Nachkriegszeit einer der wichtigsten Verfechter sehr weitgehender wirtschaftsdemokratischer Vorstellungen. Durch die gesetzliche Mitbestimmung sollte das demokratische Gesellschaftsprinzip die hergebrachte Hoheit des Unternehmers über seinen Betrieb ablösen, der Arbeitnehmer vom »Wirtschaftsuntertan« zum »Wirtschaftsbürger« werden. Agartz begrenzte Wirtschaftsdemokratie aber nicht auf die bis heute übliche sozialpartnerschaftliche Mitbestimmung. Vielmehr verband er damit den Entwurf einer zukünftigen demokratischen Gesamtordnung für die Wirtschaft. Weite Bereiche der Wirtschaft sollten in vergesellschaftete Selbstverwaltungsunternehmen, öffentliche Betriebe und Genossenschaften
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überführt werden. Agartz hielt vor allem die volkswirtschaftlichen Schlüsselbranchen der Schwer- und Grundstoffindustrien und das Bankenwesen bereits in den 1950er Jahren für »sozialisierungsreif«. In der Leichtindustrie, im Handel und Dienstleistungsgewerbe sollte hingegen das private Unternehmertum weiter seinen Platz behalten, durch die Pflichtmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Kammern aber gesellschaftlich eingebunden werden. Die Rolle des Marktes als gesamtwirtschaftlicher Steuerungsmechanismus tritt in Agartz’ Ordnungsentwurf zurück, und zwar zu Gunsten der Wirtschaftsplanung. Darunter verstand er keine Zentralisierung nach sowjetischem Muster. Vielmehr schwebte ihm eine allgemeine Rahmenplanung vor, die mit staatlicher Investitionslenkung verbunden werden sollte. Planen und Steuern hieß für Agartz auch, Konjunkturkrisen bewußt vorzubeugen und die Arbeitnehmer durch eine umsichtige Wirtschaftspolitik vor den Wechsellagen des Marktes zu schützen. In den 1950er Jahren entwickelte Agartz das Konzept der »expansiven Lohnpolitik«, das darauf abzielte, die Kaufkraft der Arbeitnehmer zu steigern und auf diesem Wege das Wachstum der Wirtschaft zu beschleunigen. Dabei löste er sich von der Vorstellung, daß die Löhne nur im Umfang des Produktivitätsfortschritts steigen dürfen. Die produktivitätsorientierte Lohnpolitik war für ihn ein gleichsam ideologisches Mittel, um die Forderungen der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften im Zaume zu halten: »Jahrelang hatte man in Westdeutschland eine expansive Gewinnpolitik betrieben, ohne daß man in dieser Expansion des Gewinns etwas Fragwürdiges oder eine Gefährdung für die Wirtschaft oder ihre Wirtschaftlichkeit gesehen hätte. Nun kommt aus Kreisen der Gewerkschaften eine Betrachtung, die eine expansive und dynamische Lohnpolitik fordert. Sofort setzt bei Berufenen und Unberufenen […] eine Kritik ein, die nur aus der heutigen Klassenlage verstanden werden kann« (V. Agartz ca. 1954). Für Wachstum und Beschäftigung war es nach Agartz gerade dann förderlich, wenn kämpferische Gewerkschaften einen deutlich höheren Lohnsanteil am Sozialprodukt erstreiten. Denn die größere Güternachfrage soll den Kostennachteil, der daraus entsteht, wieder wettmachen. Die Gewinne der Unternehmer zögen dann auch höhere Investitionen nach sich. Wenn das Wachstum stabil sein soll, müssen, so Agartz, die neuen Fertigungsanlagen, die dadurch entstehen, auch durch eine größere Güternachfrage ausgefüllt werden.
V IK TOR A GARTZ (1897-1964)
V IK TOR A GARTZ ’ W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Agartz’ demokratisch-sozialistische Wirtschaftspolitik wurde spätestens seit der Wendung der SPD von der Klassen- zur Volkspartei in Bad Godesberg (1959) zunehmend als zu linkslastig empfunden. In der Tat ähnelt seine Ordnungsvorstellung dem Prinzip der Arbeiterselbstverwaltung, wie es im sozialistischen Jugoslawien verwirklicht wurde. Aus heutiger Sicht weist Agartz’ Denken aber auch darauf hin, daß die demokratische und gerechte wirtschaftliche Ordnung nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ist.
L ESEHINWEISE Viktor Agartz: Sozialistische Wirtschaftspolitik, Schwenningen 1947. Viktor Agartz: Staat, Wirtschaft und gewerkschaftliche Lohnpolitik, Industriegewerkschaft Chemie – Papier – Keramik, ca. 1954. Susanne Krämer: Viktor Agartz: Vom Cheftheoretiker zur »Persona non grata«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 5/1995, S. 310-316. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Gerhard Colm (1897-1968) Der Staat im volkwirtschaftlichen Kreislauf
Gerhard Colm studierte in Frankfurt a.M. Nationalökonomie. 1919 trat er in die SPD ein. Von 1922 bis 1926 arbeitete Colm als Referent im Statistischen Reichsamt in Berlin. 1927 habilitierte er an der Universität Kiel und wurde dort 1929 außerordentlicher Professor für Finanzwissenschaften. 1933 emigrierte Colm in die USA, wo er die New School for Social Research in New York mitbegründete. Ab 1940 war er für verschiedene amerikanische Regierungsbehörden tätig und als Berater des Präsidenten. Colm war maßgeblich an der Vorbereitung der Währungsreform in Deutschland beteiligt.
G ERHARD C OLMS W ERK Noch in den 1920er Jahren waren die meisten Volkswirte der Auffassung, daß der Staat dem Wirtschaftskreislauf durch die Steuern Kaufkraft entzieht und diese dann konsumiert, ansonsten aber keinen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung leistet. Die Finanzwissenschaftler, die innerhalb der Volkswirtschaftslehre auf die Untersuchung der öffentlichen Haushalte spezialisiert sind, richteten deshalb ihre Aufmerksamkeit überwiegend auf die Einnahmenseite des Staatsbudgets. Gerhard Colm hingegen interessierte sich dafür, welche Wirkung die Ausgaben der öffentlichen Hand für den Wirtschaftskreiskauf haben. Damit stieß Colm wichtige Entwicklungen hin zur modernen Kreislaufbetrachtung der Wirtschaft an, die er mit zeitgemäßen Vorstellungen von einem Staat verband, der im Gegensatz zum liberalen »Nachtwächterstaat« am Wirtschaftsleben teilnimmt und es beeinflußt (»Interventionsstaat«). Der Staat ist bei Colm nicht mehr auf
G ERHARD C OLM (1897-1968)
den Verzehrer von privat produziertem Sozialprodukt beschränkt. Vielmehr ist er neben den Unternehmen und den privaten Haushalten ein weiterer Pol im volkswirtschaftlichen Kreislauf und mit diesen durch Konsum und Produktion verbunden. Mit seiner kreislauforientierten Staatsausgabentheorie legte Colm gleichzeitig die theoretische Grundlage für die Stabilisierung der Konjunktur durch die öffentliche Hand. Die volkswirtschaftliche Entwicklung sollte nicht mehr allein den (weithin als anarchisch begriffenen) Marktkräften überlassen bleiben, sondern von einer zielorientierten politischen Lenkung begleitet werden. Allerdings wies Colm gleichzeitig darauf hin, daß bürokratische Lenkungsapparate einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auch schaden können. Um die unvermeidliche Ausweitung der Macht des Interventionsstaates auszugleichen empfahl er den Ausbau der Wirtschaftsdemokratie. In den USA vertiefte Colm seine finanzwissenschaftlichen Einsichten weiter und entwickelte das wichtige Instrument der »National Goals Analysis«, der nationalen Zielanalyse. Mit der »National Goals Analysis« soll das Handeln des Staates im volkswirtschaftlichen Kreislauf an eine schlüssige Zielvorstellung gebunden werden, die neben rein wirtschaftlichen auch politische und gesellschaftliche Vorstellungen umfaßt. Dabei sollten zunächst die »performance goals« in das allgemeine Bewußtsein vordringen und sodann die »achievement goals«. Die »performance goals« oder Leistungsziele umschreiben das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft, das sich zum Beispiel in Vollbeschäftigung, Stabilität des Preisniveaus, angemessenem Wachstum und ausreichendem Spielraum für private Initiative zeigt. In entwickelten Volkswirtschaften finden die Leistungsziele laut Colm in der Regel breite Zustimmung, allenfalls die Mittel und die Geschwindigkeit, mit der sie zu erfüllen sind, können umstritten sein. Auf dieser Grundlage lassen sich dann die Einzelziele für einzelne Staatsaufgaben (»achievement goals«) fassen, zum Beispiel für Erziehung, Gesundheit oder Landesverteidigung.
G ERHARD C OLMS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Gerhard Colms Werke verdeutlichen gerade heute, wie bedeutsam eine schlüssige Vorstellung von wirtschaftspolitischen Zielen ist, damit die Steuerungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand im Wirtschaftskreislauf sinnvoll eingesetzt werden können. In den USA
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beruhten die staatlichen Anstrengungen der 1960er Jahre, die die Lebensgrundlagen für breite Bevölkerungsschichten besser und gerechter gestalten sollten, wesentlich auf Colms Instrument der nationalen Zielanalyse. Diese Gemeinschaftsanstrengungen wirken dort auch heute wieder inspirierend, wenn es darum geht, in einer grundsätzlich marktlich verfaßten Wirtschaftswelt gesellschaftliche Ziele durchzusetzen. Colm war also einer der Ideengeber für den wirtschafts- und sozialpolitischen Pragmatismus, der heute, nach dem Ende des neokonservativen Dogmatismus der Regierungen Reagan, Bush sen. und Bush jun. wieder die amerikanische Politik zu kennzeichnen scheint.
L ESEHINWEISE Gerhard Colm: Wege aus der Weltwirtschaftskrise, in: Die Arbeit, 11/1931, S. 815-834. Eberhard Wille: Öffentlicher Haushalt IV: Finanz- und Ausgabenplanung, in: Willi Albers u.a. (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart u.a. 1988, S. 607-608.
Ludwig Preller (1897-1974) Sozialökonomische Strukturpolitik
Ludwig Preller studierte in Leipzig Volkswirtschaft, Statistik und Zeitungskunde. Er war seit 1920 Mitglied der SPD. 1926 wurde Preller Regierungsrat im Reichsarbeitsministerium und im Sächsischen Arbeits- und Wohlfahrtsministerium. 1933 folgte seine Entlassung aus dem Staatsdienst wegen »politischer Unzuverlässigkeit«. In den folgenden Jahren arbeitete Preller bis 1943 im Berliner »Büro für Sozialpolitik«. Von 1950 bis 1957 war er Mitglied des Bundestags für die SPD und von 1948 bis 1950 Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein. Daneben wirkte Ludwig Preller über viele Jahre als Mitglied des wirtschaftspolitischen und als Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses beim SPD-Parteivorstand.
L UDWIG P RELLERS W ERK Ludwig Preller formulierte in seinen Werken ein umfassendes, modernes Verständnis von Sozialpolitik. Das »klassische« beziehungsweise »fürsorgerische« Verständnis von Sozialpolitik, das etwa der Sozialgesetzgebung der Bismarckzeit zu Grunde lag, hob darauf ab, einzelne gesellschaftliche Mißstände bei einzelnen Bevölkerungsgruppen zu
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beheben, zum Beispiel Armut von Arbeitern aufgrund von Krankheit oder Invalidität. Das eigentliche Ziel der »fürsorgerischen« Sozialpolitik war, so Preller, die überkommenen Formen von Wirtschaft und Gesellschaft vor »revolutionären Umtrieben« zu schützen. Die sozialen Verwerfungen und Krisen der Zwischenkriegszeit zeigten für Preller aber, daß das überkommene Verständnis von Sozialpolitik den Anforderungen der modernen Gesellschaft nicht mehr genügt. Vor allem in den Vereinigten Staaten und in England sind mit dem »New Deal« Roosevelts und dem »Beveridge-Plan« modernere und breitere Grundlagen der Sozialpolitik geschaffen worden, an denen Ludwig Preller anknüpfte. Für Preller war moderne Sozialpolitik gleichbedeutend mit sozialökonomischer Strukturpolitik beziehungsweise Strukturgestaltung. Deren Ziele bestehen zunächst in der Vermeidung gesellschaftlicher Probleme, also in der sozialen Vorsorge. Darüber hinaus ging es Preller aber um die bewußte, planmäßige Gestaltung und Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse der Menschen. Durch sozialökonomische Strukturpolitik soll das Gemeinwesen so beschaffen werden, daß der einzelne die in ihm liegenden Anlagen immer besser entfalten kann. Damit wird, so Preller, gleichzeitig die soziale und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Gesellschaft verbessert. Deshalb hielt Preller es nicht für gerechtfertigt, Sozialpolitik allein nach den Kosten zu beurteilen, die sie verursacht. Moderne Sozialpolitik hat für ihn alle Eigenschaften einer Investition in gesellschaftliches Vermögen. Zusammenfassend: Eine moderne sozialpolitische Konzeption »kann nur und muß ausgehen vom Investiv-Charakter der Sozialpolitik, kann nur und muß ansetzen bei der Vorsorge, auf die sozialpolitische Maßnahmen zielen sollen, und kann deshalb nur und muß sein: ständig sich erneuernde bewußte sozialökonomische Gestaltung einer für das menschliche Individuum und seine soziologische Bedingtheit optimalen Struktur der Gesellschaft« (L. Preller 1968). Als Beispiele für sozialökonomische Strukturpolitik nannte Preller unter anderem eine Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die auf die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und auf bessere Beschäftigungsmöglichkeiten durch aktive Struktur- und Konjunkturpolitik des Staates setzt, statt auf die Zahlung von Lohnersatz. Auch die Mitbestimmung im Unternehmen oder Vermögensbildung gehören hierher. Oder eine Bildungs- und Ausbildungspolitik, »mit deren Hilfe Menschen nicht mehr für bestimmte Produktionsweisen abgerich-
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tet werden, sondern die ihnen die Kraft zu eigener Leistung bildet und stärkt«.
L UDWIG P RELLERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die Einsichten Ludwig Prellers können auch heute noch eine inspirierende Leitlinie für fortschrittliche Wirtschafts- und Sozialpolitik sein. Und zwar nicht nur, weil die neokonservative Politikwende, die sich in den 1980er und 1990er Jahren vollzog, wieder das »fürsorgerische« Verständnis von Sozialpolitik in den Vordergrund stellte. Prellers Vorstellung von sozialökonomischer Strukturpolitik liegt ebenfalls quer zu sozialpolitisch restaurativen Tendenzen, der es weniger um Gestaltung als vielmehr um die Verteidigung oder Konservierung von öffentlichen Leistungen geht. Auf der anderen Seite spiegeln jüngste Neuerungen der Sozialpolitik, wie zum Beispiel das Elterngeld, ob bewußt oder unbewußt, durchaus den Geist Ludwig Prellers wider.
L ESEHINWEISE Ludwig Preller: Sozialpolitik – Theoretische Ortung, Tübingen und Zürich 1962. Ludwig Preller: Sozialpolitik als sozialökonomische Strukturpolitik, in: Friedrich Lenz (Hg.): Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltung, Berlin 1968, S. 3-14. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Gerhard Weisser (1898-1989) Wirtschaftsstil und Lebenslage
Gerhard Weisser studierte Philosophie in Göttingen und Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Tübingen. 1930 wurde er Bürgermeister von Hagen. Nach 1933 war er für verschiedene Verlage tätig. Von 1948 bis 1950 war Weisser Finanzminister in Nordrhein-Westfalen und von 1950 bis 1965 Professor in Köln. 1954 bis 1970 stand er der Friedrich Ebert Stiftung vor. Weisser gehörte der SPD-Grundwertekommission und der Kammer für Soziale Ordnung der Evangelischen Kirchen an.
G ERHARD W EISSERS W ERK Gerhard Weisser war überzeugt, daß die klassische Volkwirtschaftslehre zu kurz greift, wenn sie Wirtschaftssysteme allein nach den rein ökonomischen Lenkungsmechanismen und den Marktformen unterscheidet. Vielmehr war für ihn jedes Wirtschaftsystem in gesellschaftliche Regeln (Sitten und Gebräuche, formale Gesetze) eingebunden. Diese Regeln spiegeln soziale Werthaltungen wider, die zum Beispiel dem freien Spiel der Marktkräfte bestimmte Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen. Die Wissenschaft kann unterschiedliche Typen von Regelsystemen unterscheiden, in Weissers Worten so genannte »Wirtschaftsstile«. Ein modernes Beispiel ist die Unterscheidung zwischen dem »rheinischen« und dem »angelsächsischen Kapitalismus«.
G ERHARD W EISSER (1898-1989)
Für Weisser war es der Wirtschaftsstil, der innerhalb einer Marktwirtschaft wesentlich mitbestimmt, wie Einkommen und Vermögen verteilt werden – also zum Beispiel allein nach den Kräften des Marktes oder, umverteilt, nach den Gesichtspunkten der Sozialstaatlichkeit. Der Wirtschaftsstil bestimmt die Lebenslage der Menschen in einer Gesellschaft, und zwar über die rein materiellen Bedürfnisse hinaus. Der Begriff der Lebenslage – einer der zentralen in Weissers Werk – umfaßt unter anderem auch Dinge wie Arbeitsfreude, Sicherheit der Lebenshaltung, Schönheitswerte, gesellschaftliche Teilhabe, Selbst- und Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Wichtig und wünschenswert war für Weisser, daß es eine Vielfalt von Wirtschaftsstilen gibt. Nur eine vielgestaltige Ordnung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens bietet den Menschen die Möglichkeit, ihre unterschiedlichen Neigungen, Fähigkeiten und Werthaltungen zur Geltung zu bringen. Eine perfekte und reinartige Wirtschaftsverfassung konnte es aus Weissers Sicht nicht geben. So war der reine Markt für ihn der perfekte Mechanismus, um die rationalen Bedürfnisse des »homo oeconomicus« zu befriedigen. Weisser lehnte dieses Menschenbild aber als »unterkomplex« ab. Er vertrat die Ansicht, daß den uniformierenden Wirkungen des reinen Marktes und der kapitalistischen Unternehmung eine Wirtschaftspolitik widergelagert werden muß, die der freien und selbstverantwortlichen Person ihren sozialen Entfaltungsraum gibt. Das wirtschaftspolitische Leitbild sah Weisser dabei im freiheitlichen Sozialismus verkörpert, der sich als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus durch soziale Sicherung, Eingriffe »der leichten Hand« und eine allgemeine Rahmenplanung der Volkswirtschaft auszeichnen sollte.
G ERHARD W EISSERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Gerhard Weissers Werk spiegelt die Grundlagen moderner sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik wider und beeinflußte das Godesberger Programm (1959). Sein Verständnis von freiheitlichem Sozialismus ist der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Alfred Müller-Armacks verwandt. Der grundlegende Hinweis Weissers, daß die Gestaltung der Wirtschaftsordnung auch kulturelle und sozialpolitische Werthaltungen einbeziehen muß, ist auch heute eine wichtige Leitgröße sozialer Wirtschaftspolitik.
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L ESEHINWEISE Gerhard Weisser: Freiheit durch Sozialismus, Göttingen 1973. Siegfried Katterle: Gerhard Weissers Beitrag zur Theorie der Wirtschaftspolitik, Gerhard Weisser Institut, Bochum, ohne Jahresangabe. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
Heinrich Deist (1902-1964) Freiheitliche Wirtschaftsordnung
Heinrich Deist studierte in Leipzig, Hamburg und Halle Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. 1931 wurde er persönlicher Referent des preußischen Innenministers Severing, 1933 folgte seine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. In der Nachkriegszeit war Deist ein führender Wirtschaftspolitiker der SPD und prägte maßgeblich die wirtschaftspolitischen Aussagen des Godesberger Programms.
H EINRICH D EISTS W ERK Für Heinrich Deist war die freie und selbstverantwortliche Entfaltung der Einzelpersönlichkeit das Hauptziel des demokratischen Sozialismus, das auch seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen von einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung leitete. Die freiheitliche Wirtschaftsordnung ruht nach Deist auf drei Eckpunkten: erstens aktive Wirtschaftspolitik, zweitens gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, drittens unternehmerische Freiheit und öffentliche Kontrolle. Die aktive (keynesianische) Wirtschaftspolitik soll stetiges Wachstum, Vollbeschäftigung und einen immer höheren Lebensstandard sichern. Hier geht es um die allgemeine Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, darum, Konjunkturkrisen zu verhindern.
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Der zweite Eckpunkt des sozialistischen Wirtschaftsprogramms besteht nach Deist darin, die Einkommens- und Vermögensverteilung gerechter zu gestalten. Vermögen entsteht, wenn laufendes Einkommen nicht konsumiert, sondern gespart wird. Zunächst kam es Deist deshalb darauf an, die Sparfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten durch höhere Löhne bei stabilen Preisen zu verbessern. Daneben schwebte ihm ein staatliches Sparprämiensystem vor. Dessen übergeordnetes Ziel war es, die Arbeitnehmer am Kapital der Unternehmen zu beteiligen, und zwar in einer Weise, die das Risiko von Schwankungen der jeweiligen Unternehmenswerte für den einzelnen begrenzt. Hierfür sollte ein staatlicher Investmentfonds geschaffen werden, der Aktien privater Unternehmen aufkauft, diese zu Zertifikaten bündelt und Risiken breit streut. Die Zertifikate sollten dann an breite Bevölkerungsschichten ausgegeben werden. Seine Finanzmittel erhält der Fonds aus der Besteuerung besonders großer Vermögenszuwächse und großer Erbschaften. Deist hielt es für wichtig, das Stimmrecht des Fonds in den Hauptversammlungen der Unternehmen, an denen er beteiligt ist, zu begrenzen, damit die Politik keinen übermäßigen Einfluß auf deren wirtschaftliche Entscheidungen gewinnt. Der dritte Eckpunkt besteht darin, ein sinnvolles Verhältnis zwischen freiem Unternehmertum und öffentlicher Kontrolle der Wirtschaft einzurichten, wobei das Leitmotiv lautete: »Nicht mehr Staat als nötig, so viel Freiheit wie möglich.« Hier schlug Deist eine aktive Mittelstandspolitik vor, mit der private Klein- und Mittelbetriebe gefördert werden. Daneben sollte der Bereich der Gemeinwirtschaft ausgeweitet werden, deren Betriebe er für die Träger einer neuen, nicht am Gewinn, sondern an der Bedarfsdeckung ausgerichteten Wirtschaftsgesinnung hielt. In Einzelfällen hielt Deist darüber hinaus direkte staatliche Kontrollen für angemessen, wenn auf anderem Wege eine Vereinbarkeit von öffentlichem und privatwirtschaftlichem Interesse nicht möglich ist.
H EINRICH D EISTS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Deist hatte erkannt, daß die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen an erster Stelle ein ausreichendes und sicheres Einkommen erfordert. Ob hierfür die keynesianisch inspirierte Globalsteuerung der Wirtschaft oder sogar direkte Kontrollen die richtigen Mittel sind, ist heute nicht unumstritten. Interessant bleibt aber Deists Verbin-
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dung der Vermögensbildung mit einer aktiven Gestaltung der Eigentumsordnung, durch die sich eine wirtschaftlich gefestigte Stellung breiter Bevölkerungsschichten im Wirtschaftsleben erreichen läßt. Deist fügte privates Unternehmertum in eine Vielfalt von Eigentumsformen ein, um so eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zu schaffen, die der Vielgestaltigkeit moderner Volkswirtschaften gerecht wird, die die Wirtschaft dem Gemeinwohl verpflichtet und gleichzeitig Raum für unternehmerische Initiative schafft.
L ESEHINWEISE Heinrich Deist: Freiheitliche Ordnung der Wirtschaft, in: Heinrich Deist/Hermann Veit: Freiheitliche Ordnung der Wirtschaft. Referate zum Parteitag der SPD, 18.-23. Mai 1958 in Stuttgart. Parteivorstand der SPD, Bonn. Heinrich Deist: Der Weg zu einer gerechten Vermögensbildung, in: Die Neue Gesellschaft, 6/1960. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Gert von Eynern (1902-1987) Gemeinwirtschaftliche Bindung von Unternehmen
Gert von Eynern studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten München, Freiburg und Bonn. Nach der Promotion im Jahr 1927 nahm er verschiedene Tätigkeiten als Redakteur, im öffentlichen Dienst und an wissenschaftlichen Instituten wahr. Von 1948 bis 1971 war von Eynern Professor für politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Darüber hinaus wirkte er als Mitglied des wirtschaftspolitischen Ausschusses beim SPD-Parteivorstand.
G ERT VON E YNERNS W ERK Gert von Eynern befaßte sich mit der Frage, wann das wirtschaftliche Handeln von Unternehmen dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden kann und wann Eingriffe der öffentlichen Hand in das Wirtschaftsgeschehen notwendig sind. Letzteres war nach seiner Auffassung immer dann der Fall, wenn die freie Betätigung der Unternehmen gesellschaftlich unerwünschte Ergebnisse zeitigt. Dann sei eine »gemeinwirtschaftliche« oder »öffentliche Bindung« sinnvoll. Von Eynern verstand unter »gemeinwirtschaftlicher Bindung«, daß die öffentliche Hand das Verhalten von Unternehmen eines bestimmten Wirtschaftszweiges beaufsichtigt und durch hoheitliche Sondervorschriften einschränkt, die innerhalb eines grundsätzlich freien Wirtschaftssystems erlassen werden. Die gemeinwirtschaftliche Bindung von Unternehmen eines Wirtschaftszweiges läßt sich nach von Eynern unter konkreten Voraussetzungen rechtfertigen, zum Beispiel wenn die Kunden vor Ausbeutung durch monopolistische Praktiken geschützt werden sollen. Die
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öffentliche Hand ist in diesem Fall seiner Meinung nach gehalten, die Preise und die Lieferbedingungen der Monopolisten zu kontrollieren. Auch wenn Unternehmen keine Monopolstellung einnehmen, können sich ihre Kunden, so von Eynern, in einer abhängigen Marktlage befinden – nämlich dann, wenn die Nachfrage starr ist (das heißt die Nachfrage kann bei steigenden Preisen kaum reduziert werden. Beispiele: Grundnahrungsmittel oder Energie). Gemeinwirtschaftliche Bindung war für von Eynern weiterhin auch dann angezeigt, wenn die Kunden wenig geschäftskundig sind und deshalb die Möglichkeit besteht, daß sie durch eine undurchsichtige Gestaltung der Geschäftsbedingungen geschädigt werden, etwa bei Versicherungsnehmern, Bankeinlegern oder Patienten. Ebenso ist der Schutz des Kunden vor Unsicherheiten ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt der gemeinwirtschaftlichen Bindung und Aufsicht. Bei Verträgen, die sehr langfristig sind (etwa bei vielen Versicherungs- und Sparverträgen) kann der Kunde schweren Schaden nehmen, wenn sein Vertragspartner in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Auch der Staat ist daran interessiert, den Zusammenbruch zum Beispiel von Banken und Versicherungen zu verhüten, da hierdurch viele mittlere und kleine Sparer ihren Lebensrückhalt verlieren können. Erschüttertes Vertrauen in Finanzinstitute kann zudem volkswirtschaftlich schädliche Kettenreaktionen und Konjunkturkrisen hervorrufen. Schließlich soll nach von Eynern die öffentliche Hand das Geschäftsverhalten privater Unternehmen kontrollieren, die Infrastrukturnetze (zum Beispiel Strom- oder Wasserleitungen, Bahnschienen) betreiben. Solche Netze sollten nicht wild wachsen. Vielmehr muß ihr Ausbau planmäßig und ohne Doppelungen vonstatten gehen, um volkswirtschaftliche Ineffizienzen zu vermeiden.
G ERT VON E YNERNS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Wenngleich der Begriff heute kaum noch verwendet wird, ist der Geist der gemeinwirtschaftlichen Bindung von Unternehmen und Wirtschaftszweigen, in denen mangelnde Aufsicht gesellschaftlich schädliche Ergebnisse hervorbringen könnte, auch heute noch lebendig. In Deutschland besteht eine Reihe von staatlichen Ämtern, die in diesem Sinne gemeinwirtschaftliche Aufsichtsfunktionen erfüllen, wie zum Beispiel die Bundesfinanzaufsicht oder die Bundesnetzagentur. Auch die Kartellämter sind hier zu nennen. Die Rolle der
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gemeinwirtschaftlichen Bindung wird meist dann besonders deutlich, wenn sich Lücken der Kontrolle gezeigt haben. Zum Beispiel war die Finanzkrise der Jahre 2008/09 auch deshalb so besonders schwer, weil Banken umfangreiche und hochspekulative Geschäfte in Tochtergesellschaften verlagerten, die der Finanzaufsicht weitgehend entzogen waren.
L ESEHINWEISE Gert von Eynern: Politische Wirtschaftslehre, Köln und Opladen 1968. Gert von Eynern: Gemeinwirtschaftliche Bindung von Unternehmen, Frankfurt a.M. und Köln 1975.
Bruno Gleitze (1903-1980) Analyse der Planwirtschaft
Bruno Gleitze studierte in Berlin Wirtschafts- und Staatswissenschaften und war seit 1919 SPD-Mitglied. Von 1946 bis 1948 war er Hochschullehrer an der Humboldt-Universität in Berlin, 1949 wechselte er zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Von 1954 bis 1968 wirkte Bruno Gleitze als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB. Von 1966 bis 1967 war er Wirtschafts- und Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen.
B RUNO G LEITZES W ERK Bruno Gleitzes wissenschaftliches Hauptwerk umfaßt die eingehende statistische Untersuchung des planwirtschaftlichen Systems, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR aufgebaut worden war. Gleitze legte die systembedingten Schwächen der industriellen Wirtschaftsführung in der DDR offen, das Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die durch ein Streben zur Autarkie verursacht wurden, sowie die Belastungen der Arbeitskräfte unter der Zwangsherrschaft. In der vergleichenden Forschung kam er zu dem Schluß, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR von Anfang an hinter die Bundesrepublik zurückfiel. Auch die Erscheinung wirtschaftlicher Schwankungen war nach seinen Erkenntnissen in der DDR, entgegen den marxistischen
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Verheißungen, keineswegs beseitigt. Gleitze identifizierte eindeutig rhythmisch auftreten Schwankungen der Produktionsleistung und der Produktivität im Plansystem, die er als »Quasi-Konjunkturen« bezeichnete. Über die rein ökonomischen Gesichtspunkte seiner Untersuchungen hinaus betonte Gleitze schließlich, daß die Überlegenheit der Marktwirtschaft nicht nur im Wachstumsvorsprung besteht, sondern vor allem in der Qualität einer freiheitlichen Ordnung.
B RUNO G LEITZES W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Bruno Gleitzes Werk hat heute, gut 20 Jahre nach dem Ende der Planwirtschaft in der DDR, mehr als nur wirtschaftshistorischen Charakter. Es ist durch seine Prägnanz und gute Lesbarkeit geeignet, der Verklärung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems der DDR entgegenzuwirken, die bei manchen Menschen begonnen hat.
L ESEHINWEISE Bruno Gleitze, Peter Christian Lutz, Konrad Merkel: Die DDR nach 25 Jahren, Berlin 1975. Karl C. Thalheim: Bruno Gleitze als Wirtschafts- und Kulturforscher, Berlin 1978. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie
Richard Löwenthal (1908-1991) Jenseits des Kapitalismus
Richard Löwenthal studierte in Berlin und Heidelberg Nationalökonomie und Soziologie. Von 1926 bis 1929 war er Mitglied der KPD und ab 1933 im sozialistischen Widerstand. 1935 emigrierte Löwenthal nach Prag, später nach Paris und London. 1945 trat er in die SPD ein und arbeitete in der Nachkriegszeit als Journalist. 1961 nahm Löwenthal den Ruf auf eine Professur für Politikwissenschaft und Geschichte am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin an. Daneben war er über lange Jahre Vorsitzender der SPDGrundwertekommission.
R ICHARD L ÖWENTHALS W ERK »Jenseits des Kapitalismus« aus dem Jahr 1947 zählt zu den Hauptwerken Richard Löwenthals, mit dem er nach dem Zweiten Weltkrieg großen Einfluß auf das Denken der Linken in Deutschland gewann. In diesem Buch entwickelte er den Entwurf einer demokratisch-sozialistischen Wirtschaftsordnung, der einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und dem Sozialismus sowjetischer Prägung weisen sollte. Sozialismus bedeutete für Löwenthal die Schaffung gleicher kultureller und wirtschaftlicher Entwicklungschancen für alle Mitglieder der Gesellschaft. Ökonomisch gesehen bedingte er für ihn die
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Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit und die Einführung der Planwirtschaft. Bei letzterer schwebte Löwenthal die »Selbstbestimmung der Produzenten, die demokratische Entscheidung über die Planung« vor. Planwirtschaft war für Löwenthal bereits in der Entwicklung des Kapitalismus selbst angelegt. Denn im industriellen Großunternehmen werden alle Entscheidungen zentral getroffen und über die Betriebshierarchie ausgeführt. Deshalb ist der Produktionsprozeß dort seiner Natur nach ein planwirtschaftlicher. Mit der vollen Entfaltung des Kapitalismus, wie Löwenthal in guter marxistischer Tradition ableitete, bestimmt die Großindustrie zunehmend das Bild der Gesamtwirtschaft, die damit in das Stadium des »Planungskapitalismus« übergeht. Der Planungskapitalismus greift, so Löwenthal, notwendig auf die gesamte Wirtschaftspolitik des Staates über und stellt diese in den Dienst seiner Produktions- und Investitionsinteressen. Ziel sei es dabei immer, das Risiko von Wirtschaftskrisen auszuschalten, die die Planung der Großunternehmen stören und ihre Investitionen gefährden. Dies kann in zwei Spielarten geschehen. Die »klassische politische Form« stellt für Löwenthal der Faschismus dar, der den Schwerpunkt der ökonomischen Expansion auf Imperialismus und Rüstung setzt, was zwangsläufig in Krieg und Selbstzerstörung führt. Eine zweite, demokratische Variante erkannte Löwenthal in der »kapitalistischen Wohlfahrtsplanung«, wie sie sich im keynesianisch inspirierten »New Deal« Roosevelts verkörperte und die auf die Stabilisierung und Hebung der Masseneinkommen zielt. Anders als die Rüstungsproduktion im faschistischen Staat »krankt« der demokratische Wohlfahrtsstaat nach Löwenthal aber daran, daß die Höhe der Produktion von den Löhnen abhängt, was wiederum die Gewinne der Unternehmen berührt. Die »kapitalistische Wohlfahrtsplanung« kann seiner Auffassung zufolge daher keine dauerhaft risikolosen Investitionsbedingungen schaffen. Zögerliches Investitionsverhalten der Kapitaleigner würde die Wirtschaft deshalb über kurz oder lang in neue Krisen stürzen. Sollen Kriege und Krisen dauerhaft vermieden werden, gibt es nach Löwenthal zum Übergang in den Sozialismus keine Alternative. Dies durfte für ihn aber nicht nach dem Vorbild des Sozialismus sowjetischer Prägung erfolgen, der eine neue Klassengesellschaft aufgerichtet hatte und dessen Planungssystem despotisch, ineffizient und bürokratisch war. Vielmehr sollte der ökonomische Planungsprozeß auf demokratischen Entscheidungen der Bürger beruhen und deren Kontrolle unterworfen sein.
R ICHARD L ÖWENTHAL (1908-1991)
R ICHARD L ÖWENTHALS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Löwenthals Vorstellungen über eine demokratische Planwirtschaft bleiben vage. Ihre Möglichkeiten und Funktionsprobleme werden nicht in sich geschlossen herausgearbeitet. Zudem hat sich, im Gegensatz zu Löwenthals Erwartung nach dem Zweiten Weltkrieg, die »kapitalistische Wohlfahrtsplanung« innerhalb einer marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsordnung als tragfähiger Weg zu sozialem Frieden und einer gerechteren Verteilung von Wohlstand erwiesen. Seine Ausführungen, wie sich der »Planungskapitalismus« im Laufe der Zeit entfaltet, sind allerdings bis heute lehrreich zu lesen und haben kaum etwas von ihrer geistigen Prägnanz verloren.
L ESEHINWEISE Richard Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus, Berlin und Bonn, Bad Godesberg 1978. Hubertus Buchstein: Paul Sering (alias Richard Löwenthal): Jenseits des Kapitalismus (1947), in: Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, 42/1995, S. 538-542. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Heinz-Dietrich Ortlieb (1910-2001) Konstruktiver Nonkonformismus
Heinz-Dietrich Ortlieb studierte in Hamburg Volkswirtschaftslehre. 1931 trat er in die SPD ein. Nach der Promotion 1938 arbeitete Ortlieb als Assistent am Kolonialwissenschaftlichen Institut in Hamburg. Von 1949 bis 1964 war er Professor an der gewerkschaftsnahen Hochschule für Wirtschaft und Politik und danach bis 1978 Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs.
H EINZ-D IE TRICH O RTLIEBS W ERK Heinz-Dietrich Ortlieb entwickelte sein Verständnis von freiheitlichem Sozialismus in der Nachkriegszeit. Freiheitlicher Sozialismus war für ihn kein gesellschaftspolitisches Konzept, sondern eine persönliche Haltung, die auf vier Pfeilern ruht: Erstens auf dem Bekenntnis zu den Werten der abendländischen Kultur, zweitens zur Demokratie. Drittens ist der freiheitliche Sozialist tätig bemüht, diese Werte im Gesellschafts- und Wirtschaftsleben zur Geltung zu bringen. Viertens ordnet er seine eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der ethischen Verpflichtung zum freiheitlichen Sozialismus unter. Der freiheitliche Sozialist tritt, so Ortlieb, der Entstehung einer materialistischen Massengesellschaft entgegen. Dies ist die Haltung des »konstruktiven Nonkonformismus«. Die Gefahr der materialistischen Massengesellschaft sah Ortlieb in der liberalen Marktwirtschaft als gegeben. Denn dort steht seiner Meinung nach das Streben nach Konsummöglichkeiten im Vordergrund, die ethischen Grundlagen des Gesellschaftslebens verkümmerten hingegen. Den Vorwurf eines ethisch blinden und freiheitsgefährdenden Materialismus richtete Ortlieb aber auch gegen den
H EINZ -D IETRICH O RTLIEB (1910-2001)
Sozialismus marxistischer und planwirtschaftlicher Prägung. Der Marxismus wie der ökonomische Liberalismus führen den Menschen in ein konformistisches Gesellschaftsleben, in dem allein die wirtschaftliche Leistung etwas gilt. Dennoch war die Marktwirtschaft für Ortlieb ein wichtiger Bestandteil einer freien und kulturell hochstehenden Gesellschaft. Sie bedarf aber einer Ausgestaltung nach den Prinzipien des freiheitlichen Sozialismus, was er im Leitbild einer »gelenkten Marktwirtschaft mit politisch gebildeten Menschen« verkörpert sah. »Dementsprechend müssen die Ordnungsmittel so gewählt werden, daß sie dem Menschen zwar als Einzelwesen seine Chance zur Selbstbestätigung lassen, aber ihn gleichzeitig als Gemeinschaftswesen ansprechen, damit beide Seiten seines Wesens zum Zuge kommen können« (H.-D. Ortlieb 1964). Den einzelnen dazu zu bringen, sich nicht allein um sein persönliches (wirtschaftliches) Wohlergehen zu kümmern, war für Ortlieb eine Angelegenheit von Erziehung und Bildung. Daneben sollte die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft einen Mindestlebensstandard garantieren und breite Bildungs- und Aufstiegschancen für die Allgemeinheit bieten. Gleichzeitig hielt Ortlieb eine Wachstums- und Vollbeschäftigungspolitik für notwendig.
H EINZ-D IE TRICH O RTLIEBS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die wirtschaftspolitischen Empfehlungen Ortliebs bleiben eher vage. Wichtig ist aber sein Hinweis an die Politik, daß der Mensch nicht allein in wirtschaftlichen Zusammenhängen lebt, sondern sich auch als gesellschaftliches und kulturelles Wesen entfalten muß.
L ESEHINWEISE Heinz-Dietrich Ortlieb: Freiheitlicher Sozialismus in der industriellen Gesellschaft, in: Neue Gesellschaft, 11/1964, S. 168-174.
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Karl Schiller (1911-1994) Globalsteuerung und Konzertierte Aktion
Karl Schiller studierte Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft in Kiel, Frankfurt a.M., Berlin und Heidelberg. Von 1935 bis 1941 war er an der Universität Kiel tätig. 1947 folgte Schiller einem Ruf an die Universität Hamburg. Von 1966 bis 1972 war er Bundeswirtschafts-, 1971/72 zugleich Bun desfinanzminister. 1972 trat Schiller von seinen Ämtern zurück, da er die ausgabenträchtige Haushalts- und Währungspolitik der seinerzeit nach links gerückten SPD nicht mittragen wollte.
K ARL S CHILLERS W ERK Karl Schiller trug wesentlich zum wirtschaftspolitischen Programm der SPD bei, besonders auch bei der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959. Es gelang es ihm, eine ordnungspolitische Alternative zur damals vorherrschenden liberalen Wirtschaftsauffassung zu entwickeln, wie sie etwa Ludwig Erhard vertrat. Nach Erhard muß der Staat für soziale Sicherung und faire Wettbewerbsregeln sorgen. Er soll ansonsten aber möglichst nicht in das Wirtschaftsleben eingreifen. Karl Schiller setzte dem entgegen, daß der Staat auch die Verantwortung hat, dem Wirtschaftsprozeß eine übergreifende, gesellschaftlich gewünschte Richtung vorzugeben. Die wichtigsten Bestandteile der Ordnungsvorstellungen Karl Schillers waren die
K ARL S CHILLER (1911-1994)
»Globalsteuerung«, die »konzertierte Aktion« und die »mittelfristige Finanzplanung«. Sie bilden auch die Grundlagen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967. Durch »Globalsteuerung« versucht die Wirtschaftspolitik, Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu sichern, indem sie allgemeine, gesamtwirtschaftliche Ziele vorgibt. Dazu gehören die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage und das mögliche gesamtwirtschaftliche Güterangebot. Innerhalb dieses Rahmens soll der Marktmechanismus zur Feinsteuerung der Wirtschaft erhalten bleiben. Droht die Konjunktur nachzulassen, stützt der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage über Ausgabenprogramme. Droht die Konjunktur zu überhitzen, bremst er durch höhere Steuern oder Begrenzung der Lohnund Gehaltszuwächse. Von den Gewerkschaften und Unternehmensverbänden wird erwartet, daß sie ihre Tarifabschlüsse an den gesamtwirtschaftlichen Vorgaben der Globalsteuerung ausrichten, sie sich also »stabilitätskonform« verhalten. Um dies sicherzustellen, lädt der Staat die Tarifpartner im Rahmen der »konzertierten Aktion« an den Verhandlungstisch, um Einigung in Lohn- und Gehaltsfragen zu erzielen. Schließlich hängt eine erfolgreiche Globalsteuerung von der richtigen Konjunkturprognose und einer entsprechenden Planung der öffentlichen Finanzmittel ab. Die im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (§ 9) vorgesehene »mittelfristige« Finanzplanung umfaßt fünf Jahre und wird jährlich überarbeitet. Mit ihr soll das Ausgabenverhalten des Staates auf die voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung abgestimmt werden.
K ARL S CHILLERS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT 1966/67, in der ersten Konjunkturkrise der deutschen Nachkriegszeit, bewährte sich die Globalsteuerung sehr gut. Später zeigte sich aber, daß sie eine Genauigkeit der Konjunkturprognose erfordert, die nicht erreicht werden kann. Darüber hinaus erfordert die Globalsteuerung ein hohes Maß an Haushaltsdisziplin, das die sozialliberale Regierungskoalition in den 1970er Jahren nicht aufbrachte. Auch die »konzertierte Aktion« scheiterte nach guten Anfängen an den unterschiedlichen Interessen der Tarifpartner. Dennoch hat Karl Schiller gezeigt, daß eine Gestaltung des Wirtschaftslebens durch das
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Prinzip von »Planung und Wettbewerb« möglich ist. Voraussetzung sind aber klare Ziele und eine solide Haushaltspolitik.
L ESEHINWEISE Karl Schiller: Betrachtungen zur Geld- und Konjunkturpolitik, Tübingen 1984. Harald Scherf: Enttäuschte Hoffnungen – vergebene Chancen. Die Wirtschaftspolitik der Sozial-Liberalen Koalition 1969-1982, Göttingen 1986. Peter Engelhard/Ulrich Fehl/Heiko Geue: Konzertierte Aktionen, Runde Tische, Aktionsbündnisse, in: Dieter Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1998, S. 741-768. Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv.
Erich Potthoff (1914-2005) Die Organisation des Gemeineigentums
Erich Potthoff studierte an der Universität zu Köln Betriebs- und Wirtschaftswissenschaften. Von 1946 bis 1956 war er Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften sowie von 1949 bis 1952 Mitglied der Stahltreuhandvereinigung in Düsseldorf und von 1957 bis 1962 Vorstandsmitglied des Zentralverbandes Deutscher Konsumgenossenschaften. 1963 wurde Erich Potthof Vorstandsmitglied der Wirtschaftsberatungs-AG, Düsseldorf. Er lehrte als Honorarprofessor in Köln.
E RICH P OT THOFFS W ERK Erich Potthoff befaßte sich mit einem breiten Kreis betriebswirtschaftlicher Fragen, darunter auch mit der besten Organisation von Unternehmen in Gemeineigentum. Wie sollen Unternehmen, die sich in öffentlicher Trägerschaft befinden, rechtlich verfaßt und organisatorisch aufgebaut sein, damit sie das Ziel des Gemeineigentums, nämlich gesellschaftlichen Zwecken zu dienen, am besten erfüllen? Potthoff näherte sich den Organisationsproblemen von Unternehmen in Gemeineigentum an Hand des Beispiels der (seinerzeit) verstaatlichten Wirtschaftszweige in Österreich und Großbritannien. Bei den ganz oder teilweise in Gemeineigentum überführten Wirtschafts-
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zweigen handelte es sich in Regel um mehrere bis dahin selbständige Unternehmen, die nun in der öffentlichen Hand zusammengefaßt waren. Offen blieb zunächst, ob es sinnvoll sei, dabei eine zentrale oder dezentrale Gesamtorganisation anzustreben. Die Leitung öffentlicher Unternehmen kann weiterhin nach dem Direktorial- oder dem Kollegialprinzip erfolgen. Beim Direktorialsystem ist die Hauptverantwortung im Unternehmen auf eine Person konzentriert, bei der kollegialen Leitung wird sie auf alle Mitglieder der Leitung gleichmäßig verteilt. Eine besonders wichtige Frage war für Potthoff jene nach der öffentlichen Kontrolle von Unternehmen in Gemeineigentum. Die Überführung in Gemeineigentum war für ihn in der gesellschaftswissenschaftlichen Tradition des demokratischen Sozialismus immer dort angebracht, wo andere Ordnungs- und Kontrollmittel, wie die einfache Fachaufsicht, das Kartellrecht oder andere staatliche Lenkungsmaßnahmen (zum Beispiel Formen der staatlichen Preispolitik), nicht ausreichen, um das öffentliche Interesse zu wahren. Das bedeutet aber, daß sich Unternehmen in Gemeineigentum grundsätzlich innerhalb einer vorwiegend markt- und privatwirtschaftlich verfaßten Umwelt bewegen. Folglich müssen sie selbständig und flexibel handeln können. Wie ist die notwendige Selbständigkeit des Handelns zu gewährleisten? Vor allem die deutschen Vorstellungen zum Gemeineigentum zielen, so Potthoff, darauf ab, die öffentliche Kontrolle in einer möglichst indirekten Form auszuüben. Öffentliche Unternehmen sollen sich demnach weitgehend selbständig am Markt betätigen können. Die Exekutive oder Legislative des Bundes, der Länder oder der Kommunen sollen lediglich das Recht haben, Mitglieder in die Organe von gemeinwirtschaftlichen Betrieben zu entsenden. Da außerdem weiteren Gruppen aus der Wirtschaft, zum Beispiel den Gewerkschaften und den Industrie- und Handelskammern, ein Vorschlagsrecht für die Besetzung der Leitungsorgane zusteht, ergibt sich eine weitere indirekte Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Schließlich wies Potthoff darauf hin, daß die Probleme von Betrieben in Gemeineigentum vielfach solche sind, die sich auch in der Privatwirtschaft zeigen. Mit wachsender Betriebsgröße wächst seiner Meinung nach in der Wirtschaft, ganz gleich ob im privaten oder öffentlichen Sektor, die Gefahr der Bürokratisierung. Große Gebilde waren für ihn immer auch ein Machtkomplex, dort leitende Personen sind zuweilen Menschen mit übermäßigem Ehrgeiz, Geltungstrieb oder Machtstreben. Um so mehr hielt es Potthoff für erforderlich,
E RICH P OTTHOFF (1914-2005)
durch rechtzeitige organisatorische und Personalmaßnahmen Fehlentwicklungen zu vermeiden.
E RICH P OT THOFFS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Die Frage, wie Unternehmen im Besitz der öffentlichen Hand organisiert und geführt werden sollen, wird heute vielfach nur unter dem Vorzeichen ihrer Privatisierung (oder der Verhinderung von Privatisierung) geführt. Dies greift zu kurz, wie Potthoff zeigte, da Fragen der öffentlichen Wirtschaftsführung auch heute noch aktuell sind. Denn heute treten neben die traditionellen auch neue Varianten der Gemeinwirtschaft, zum Beispiel gemeinsames öffentliches und privates Eigentum an Kapitalgesellschaften oder öffentlich-private Partnerschaften.
L ESEHINWEISE Erich Potthoff: Organisatorische Fragen zum Gemeineigentum, in: Die Neue Gesellschaft, 6/1959, S. 368-377. Bildquelle: Friedrich Ebert Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie.
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Karl Kühne (1917-1992) Marxismus und Gemeinwirtschaft
Karl Kühne war nach 1933 Mitglied des sozialistischen Widerstands in Deutschland. 1936 wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und 1943 in die Strafdivision 999 eingezogen. Nach dem Krieg studierte Kühne Volkswirtschaftslehre. Ab 1949 war er für den Zentralverband der Konsumgenossenschaften tätig, und von 1955 bis 1959 leitete er die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Gewerkschaft ÖTV. Danach wechselte Kühne in die Generaldirektion Verkehr der EG-Kommission.
K ARL K ÜHNES W ERK Karl Kühne war als Wirtschaftswissenschaftler Experte für Verkehrsfragen und befaßte sich mit vielen praktischen Problemen gemeinwirtschaftlicher Unternehmen. In den 1970er Jahren legte er darüber hinaus eine Reihe grundsätzlicher Schriften vor, mit denen er sich für eine Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den Wirtschaftswissenschaften einsetzte. So brachte er die ökonomischen Ansichten Marx‹ mit neueren Ansätzen zur Geld- und Konjunkturtheorie in Verbindung. In diesem Zusammenhang entwickelte Kühne auch Überlegungen zur Rolle der Gemeinwirtschaft im marxistischen Denken. Für Karl Kühne war die von Marx vorgesehene Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht gleichbedeutend mit einer Verstaatlichung. Marx sah, so Kühne, vielmehr die Kernaufgabe der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Überwindung der Entfremdung der Arbeit, das heißt der Trennung der Arbeit von der Vermarktung des Produktes durch den Kapitalisten. Zur Überwindung von Ent-
K ARL K ÜHNE (1917-1992)
fremdung könnten, so Kühne, auch vorkapitalistische Formen des Wirtschaftens beitragen, die sich erhalten haben und unter sozialistischen Vorzeichen weiterzuentwickeln sind. Dazu gehören das Handwerk, darüber hinaus aber auch die Genossenschaft und das öffentliche Unternehmen. In diesen Formen des Wirtschaftens trat für Kühne die Erscheinung der Entfremdung nicht in der Form auf, wie es im kapitalistischen Privatbetrieb nach marxistischer Auffassung zwangsläufig der Fall ist. Karl Kühne wies auf Marx‹ Frühwerk hin, nach dem Genossenschaften und öffentliche Unternehmen in der sozialistischen Wirtschaftsordnung eine wichtige Alternative zur Verstaatlichung und zentralen Lenkung der Produktion sein können, zumal letztere immer mit der Gefahr einer Bürokratisierung verbunden sind. Vor allem in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern wie Italien oder Frankreich, nahmen gemäßigte Marxisten später diesen Gedanken wieder auf. In ihrem Denken spielte dabei das öffentliche kommunale Unternehmen eine zentrale Rolle für den Ausbau des gemeinwirtschaftlichen Bereichs innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft (»Munizipalsozialismus«). Kühne nahm an, daß die Gemeinwirtschaft in vielen modernen Volkswirtschaften den negativen Begleiterscheinungen der kapitalistischen Marktwirtschaft, die der Marxismus für gleichsam natürliche Eigenschaften dieser Wirtschaftsform hält, tatsächlich entgegenwirkt. Hierzu zählen zyklische Wachstumskrisen und, im »Spätkapitalismus«, ein allgemeines Erlahmen der Wachstumskräfte. Statistische Untersuchungen Kühnes sollten zeigen, daß der gemeinwirtschaftliche Bereich in vielen Industrieländern während der 1960er und 1970er Jahre eine überproportionale Bedeutung für die Investitionstätigkeit hatte und insofern wirksame Impulse für das gesamtwirtschaftliche Wachstum auslöste. Darüber hinaus sah Kühne eine führende Rolle der Gemeinwirtschaft im Forschungsund Bildungswesen.
K ARL K ÜHNES W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Das Werk Karl Kühnes wird heute nur noch wenig beachtet. Dennoch muß Kühne zu den umfassenden Kennern der marxistischen Wirtschaftstheorie gezählt werden. Auf dieser Grundlage verfaßte er auch heute noch interessant zu lesende Beiträge zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik im allgemeinen sowie zu Fragen der Ge-
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meinwirtschaft im besonderen – wenngleich man deren Beitrag zu Wachstum und Stabilität heute deutlich differenzierter betrachtet als Kühne dies tat.
L ESEHINWEISE Karl Kühne: Wachstum und Gemeinwirtschaft, Köln und Frankfurt a.M. 1976. Karl Kühne: Marxismus und Gemeinwirtschaft, Köln und Frankfurt a.M. 1978. Karl Kühne: Die Aktualität des Ökonomen Karl Marx, in: Neue Gesellschaft 30/1983, S. 238-246.
Kurt Nemitz (1925) Sozialer Pragmatismus und sozialistische Minimalplanung
Kurt Nemitz studierte an der Berliner Humboldt-Universität und in Harvard Volkswirtschaftslehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat er der SPD bei. Von 1946 bis 1956 arbeitete Kurt Nemitz als Journalist. 1958 wurde er Landespressechef in Nordrhein-Westfalen und später Referent an der Deutschen Botschaft in Bangkok. 1964 ging Nemitz als leitender Regierungsdirektor nach Bremen und wurde Senatsdirektor für Wirtschaft und Außenhandel. Von 1976 bis 1992 hatte er das Amt des Präsidenten der Landeszentralbank Bremen inne und war Mitglied des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank.
K URT N EMITZ ’ W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Kurt Nemitz legte 1960 seine programmatische Hauptschrift »Sozialistische Marktwirtschaft« vor, in der er den ordnungspolitischen Kern der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik herausstellte. In ethischer Sicht liegt dieser Kern im Bild der freien Menschenpersönlichkeit sowie im Bestreben, die wirtschaftliche Abhängigkeit und Ausbeutung des Menschen in der Industriegesellschaft zu beheben, indem die Wirtschaft in sozialem Sinne neu geordnet wird. Vor diesem Hintergrund stellt Nemitz den geschichtlichen Wandel innerhalb der SPD vom marxistischen Dogma früher Zeiten hin zum sozialen Pragmatismus heraus, der spätestens seit dem Godesberger Programm in der Partei vorherrscht. Für Nemitz hat sich der Revisionismus innerhalb der Sozialdemokratie praktisch durchgesetzt. Gleichzeitig beobachtet er, daß das sozialdemokratische Wirtschaftsdenken im Laufe der Zeit immer mehr liberales Gedankengut aufgenommen hat.
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Die sozialistische Bewegung ist für Nemitz immer eine Bewegung des Protests gegen ungerechte und inhumane Zustände der Gesellschaft gewesen. Den klassischen Marxismus sieht er allerdings in »passivem Radikalismus« gefangen, da er das Ende des Kapitalismus und den Übergang in den Sozialismus als geschichtlich zwangsläufig annimmt. Diese Haltung prägte noch das Erfurter Programm der SPD von 1891. Nach 1918 allerdings, als die SPD unversehens politische Macht und Einfluß in Händen hielt und vom Protest zur Mitbestimmung gelangt war, fehlte während der gesamten Zwischenkriegszeit ein aktives sozialistisches Transformationsprogramm. Eine Wendung zum sozialen Pragmatismus läßt sich für Nemitz erst nach 1945 aus den Programmschriften der SPD ablesen, vor allem da nun die bis dahin hochgehaltene Sozialisierung weiter Wirtschaftsbereiche revidiert wurde. Auf dem Parteitag in Hannover im Jahr 1946 lehnten die Delegierten eine schematische Verstaatlichung ab, gleichzeitig sollten »die unverlierbaren Werte des geistigen Liberalismus« übernommen und erhalten werden. In den folgenden Jahren wurden nach Nemitz die alten marxistischen Dogmen weiter durch eine sozial gewendete liberale Grundhaltung ersetzt. Zu Beginn der 1950er Jahre entwickelte die SPD den programmatischen Grundsatz, daß Privateigentum in der Landwirtschaft, dem Handwerk, im Handel sowie an kleinen und mittleren Industriebetrieben durchaus mit dem Prinzip der sozialistischen Planung vereinbar sei. Das Wirtschaftsleben sollte nun durch den »Wettbewerb so weit wie möglich und Planung so weit wie nötig« geprägt sein. Das Godesberger Programm von 1959 erkannte schließlich den gesellschaftlichen Wert der »freien Unternehmerinitiative« an und forderte Gemeineigentum nur noch dort, wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der Marktverhältnisse nicht geschaffen werden kann. Nemitz begrüßt die programmatische Wendung der SPD vom marxistischen Dogma hin zum liberal geprägten sozialen Pragmatismus, da für ihn der Mensch mit seinen sozialen Bedürfnissen vor dem dogmatischen System steht. Für ihn kommt es in erster Linie darauf an, ein Höchstmaß an Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Von diesem Geist ist seine Vorstellung von der sozialistischen Marktwirtschaft getragen, die sich durch das Prinzip der Minimalplanung auszeichnet. Demnach sollen durch einen umfassenden Rahmenplan die gesellschaftlich gewünschten Proportionen der Wirtschaft vorgegeben werden. Der Ausgleich zwischen dem Gesamtplan und den individuellen Plänen der Produzenten, Dienstlei-
K URT N EMITZ (1925)
ster und Verbraucher hingegen durch marktliche Abläufe gesteuert werden. Kurt Nemitz und sein Werk finden heute kaum noch Eingang in die wirtschaftspolitischen Überlegungen der Sozialdemokratie – zu Unrecht. Denn Nemitz gehört zu ihren wenigen modernen Denkern, die noch in der Lage sind, aus der demokratisch-sozialistischen Tradition heraus einen ordnungspolitischen Gesamtansatz zu entwickeln. Und zwar einen Gesamtansatz, der auch in der modernen Wirtschaft dazu beiträgt, die Gesamtziele von Humanität und Gerechtigkeit zu verwirklichen.
L ESEHINWEISE Kurt Nemitz: Sozialistische Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 1960.
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Herbert Ehrenberg (1926) Investitionsorientierte Nachfragepolitik
Herbert Ehrenberg studierte in Wilhelmshaven und Göttingen Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Während der ersten sozial-liberalen Koalition war er Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt und Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium. Von 1976 bis 1982 amtierte Ehrenberg als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
H ERBERT E HRENBERGS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Herbert Ehrenberg gehört zu den Gestaltern des bundesdeutschen Sozialstaats der 1970er Jahre und der keynesianischen Nachfragepolitik jener Zeit. In den 1990er Jahren trat er als Kritiker der marktorientierten Angebotspolitik hervor, die die christlich-liberale Bundesregierung seit 1982 verfolgt hatte. Ein zentraler Bestandteil der wirtschaftspolitischen Vorstellungen Ehrenbergs ist die Stabilisierung der Konjunktur durch öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, also zum Beispiel in den Ausbau der Straßen- und Bahnnetze, aber auch in öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Universitäten. Konjunkturstabilisierung durch
H ERBERT E HRENBERG (1926)
öffentliche Investitionen verhindert demnach kurzfristig, daß Wirtschaftswachstum und Beschäftigung absinken. Sie wirkt aber auch langfristig günstig auf die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft, da sie die Infrastruktur modernisiert. Wichtig ist, daß die öffentliche Hand ihrer stabilisierenden Ausgabenpolitik auch eine stabilitätskonforme und ordentliche Haushaltspolitik gegenüberstellt. Letzteres kann, so Ehrenberg, durch eine gesetzliche Verpflichtung erreicht werden, nach der höhere Steuereinnahmen, die im Konjunkturaufschwung entstehen, eingesetzt werden müssen, um Schulden, die in einem vorangegangenen Konjunkturabschwung gemacht wurden, wieder zu tilgen. Auch die Steuerpolitik kann nach Ehrenberg eingesetzt werden, um die Beschäftigungslage dauerhaft zu verbessern. Es kommt für ihn darauf an, Unternehmensgewinne überwiegend in Sachanlageinvestitionen zu lenken, das heißt in die Erweiterung und Verbesserung des produktiven Kapitalstocks. Zu diesem Zweck soll grundsätzlich jeder erzielte Gewinn dem Einkommensteuertarif unterliegen. Eine Ausnahme bilden Gewinne, die nachweisbar wieder in Sachanlagen investiert wurden. Sie sollen lediglich einem um die Hälfte reduzierten Vorzugssteuersatz unterliegen. Ehrenberg ergänzt die aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik der öffentlichen Hand um die Zusammenarbeit der Tarifpartner: Im Rahmen von »Bündnissen für Arbeit« und konzertierten Aktionen sollen Gewerkschaften und Unternehmensverbände feste Abmachungen treffen, die für einen bestimmten Zeitraum zum Beispiel Beschäftigungsgarantien und gemäßigte Lohnforderungen umfassen. Keynesianische Nachfragepolitik, wie sie Ehrenberg vertritt, geriet in den späten siebziger Jahren in die Kritik, als die Massenarbeitslosigkeit trotz umfangreicher Konjunkturprogramme anstieg sowie gleichzeitig erhöhte Inflation und Staatsverschuldung um sich griffen. Aus heutiger Sicht ist deshalb Ehrenbergs Hinweis auf die Bedeutung einer disziplinierten öffentlichen Haushaltsführung wichtig, die eine der hauptsächlichen Schwächen der sozial-liberalen Koalition jener Zeit war. Für die Wirtschaftspolitik bleibt auch seine Orientierung an langfristigen Wachstumszielen wegweisend, die durch Investitionen in das volkswirtschaftliche Produktivvermögen verfolgt werden. Hingegen haben sich »Bündnisse für Arbeit« und konzertierte Aktionen bis heute als wenig erfolgreiche Instrumente der Wirtschaftspolitik erwiesen. Solche kooperativen Ansätze scheitern meist daran, daß
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die Verhandlungspartner auf lange Sicht eher ihre eigenen Interessen vertreten, was die erfolgreiche Konsensbildung sehr erschwert.
L ESEHINWEISE Herbert Ehrenberg: Zwischen Marx und Markt, Frankfurt a.M. 1974. Herbert Ehrenberg: Die große Standortlüge, Bonn 1997. Herbert Ehrenberg: Raus aus der Krise, Bonn 1999. Peter Engelhard/Ulrich Fehl/Heiko Geue: Konzertierte Aktionen, Runde Tische, Aktionsbündnisse, in: Dieter Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1998, S. 741-768. Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv.
Wilhelm Hankel (1929) Soziale Geldordnung und Globalisierung
Wilhelm Hankel studierte Wirtschaftswissenschaften in Mainz und Amsterdam. 1952 begann er seine Laufbahn bei der Bank Deutsche Länder (heute: Deutsche Bundesbank) und war danach als Volkswirt für verschiedene Bundesministerien und öffentliche Banken tätig. Von 1968 bis 1972 war Hankel im Bundeswirtschaftsministerium Mitarbeiter von Karl Schiller und von 1972 bis 1974 Präsident der Hessischen Landesbank. Heute wirkt er als internationaler Wirtschaftsberater. Hankel lehrte an verschiedenen Hochschulen (u.a. Frankfurt, Harvard, Bologna, Dresden).
W ILHELM H ANKELS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Wilhelm Hankel ist zuletzt als scharfer Kritiker der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion hervorgetreten. Mit der Einführung des Euro 1999/2002 ging die Währungshoheit der EU-Mitgliedsstaaten auf die Europäische Zentralbank über. Damit ging nach Hankel auch eine der wichtigsten Errungenschaften moderner Volkswirtschaften verloren und mit ihr eine Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, nämlich die Einheit von Währungs- und Sozialraum. Hankel hebt hervor, daß es in der Volkswirtschaftslehre kaum umstritten sei, daß die Zentralbank mit ihrer Geld- und Zinspolitik auch das Investitionsklima in einem Währungsraum prägt. Sie ist damit auch für Konjunktur und Beschäftigung mitverantwortlich. Diese wichtige Rolle wurde allerdings in das Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mir aufgenommen. Die EZB ist allein der Stabilisierung des europäischen Preisniveaus verpflichtet. Soziale Verantwortung wahrzunehmen oder gar Konjunktur-, Investitions- und
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Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Mitgliedsstaaten zu unterstützen, die für Hankel durch die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages ohnehin eingeschränkt werden, sieht ihr Pflichtenheft nicht vor. Für Hankel hat dies zur Folge, daß in Europa nur noch die Mittel der Lohnzurückhaltung und des Verzichts auf soziale Leistungen eingesetzt werden können, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der Sozialstaat muß nach Hankel immer durch eine passende Geld- und Zinspolitik unterstützt werden, wenn er handlungsfähig bleiben soll. Auf der anderen Seite ist gerade das Geldwesen der wichtigste Träger der Globalisierung. Es muß daher den Erfordernissen der Weltwirtschaft entsprechen. Deshalb schlägt Hankel einen neuen internationalen Wechselkursverbund vor, ähnlich dem Verbund von Bretton-Woods, der das Weltwährungssystem während der Nachkriegszeit bis 1973 stabilisierte. Das Wechselkurssystem von Bretton-Woods brach auseinander, weil sich die Volkswirtschaft der USA wesentlich anders entwickelt hatte als jene der übrigen Teilnehmerstaaten, so daß feste Wechselkursparitäten nicht mehr eingehalten werden konnten. Um diesen Effekt in seinem Ansatz zu vermeiden, schlägt Hankel vor, die inflationsbereinigten, also realen Wechselkurse der wichtigsten Wirtschaftsnationen innerhalb gewisser Bandbreiten zu fixieren, weil nur diese Kurse glaubwürdig und langfristig haltbar seien. Innerhalb einer neuen Welt-Wechselkursunion ergibt für Hankel auch der Euro als wichtige Teilwährung wieder Sinn. Denn die Welt-Wechselkursunion würde den Druck der Globalisierung auf die einzelnen National- und Sozialstaaten vermindern, da unter ihr in der Geldsphäre einheitliche Regeln für die Standortkonkurrenz herrschen. Wilhelm Hankels Kritik am Euro ist umstritten. Allerdings weist er zu Recht darauf hin, daß entwickelte Sozialstaaten neben hoher Produktivität der Volkswirtschaft auch eine geldpolitische Absicherung benötigen, die durch den Euro innerhalb der EU tatsächlich eingeschränkt wurde. Seine Vorstellungen zu einer neuen WeltWechselkursunion werden in der gegenwärtigen Diskussion über neue Reglen für die internationalen Finanzmärkte kaum beachtet. Sie könnten aber gerade hier wichtige neue Anregungen liefern, die auf solide »realwirtschaftliche« Grundlagen für weltumspannende Geldströme abheben.
W ILHELM H ANKEL (1929)
L ESEHINWEISE Wilhelm Hankel: Geldordnung: Global, europäisch – oder sozial?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 11-12/1996, S. 700-706. Hansjörg Herr/Klaus Voy: Währungskonkurrenz und Deregulierung der Weltwirtschaft, Marburg/Lahn 1989, S. 191-193.
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Reimut Jochimsen (1933-1999) Regionalisierte Strukturplanung
Reimut Jochimsen war von 1964 bis 1970 Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Kiel. 1970 wurde er bis 1973 Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramts, und von 1973 bis 1978 hatte er das Amt eines Staatssekretärs im Bundesforschungsministerium inne. Zwischen 1978 und 1990 war Jochimsen Minister des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1990 bis 1999 Präsident der Landeszentralbank in Nordrhein-Westfalen.
R EIMUT J OCHIMSENS W ERK Reimut Jochimsen beschäftigte sich als Wirtschaftspolitiker intensiv mit Fragen der staatlichen Strukturplanung. Auf ihn geht die erste langfristige politische Strategieplanung der SPD für die Jahre 1973 bis 1985 zurück. In Zeiten der Ölkrise, in den 1970er und 1980er Jahren, setzte er sich für eine aktive Energiepolitik ein, die auf einer verstärkten Nutzung der heimischen Kohle bei gleichzeitiger Verbesserung der Energieeffizienz beruhte. Im Bildungswesen trieb er die Öffnung der Hochschulen für breitere Bevölkerungsschichten und den Ausbau der berufsbegleitenden Bildung voran. Zuletzt konzentrierte sich Jochimsen besonders auf die Frage, wie der Druck zur Anpassung und zum Umbau, unter dem die deutsche Volkswirtschaft durch ihre Einbindung in den europäischen Binnenmarkt und den liberalisierten Welthandel steht, durch staatliche Strukturpolitik aufgefangen werden kann. Vor allem der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion beschränken, so Jochimsen, die klassischen Instrumente der Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Gleichzeitig beschleunigen sie den wirtschaftlichen Strukturwandel
R EIMUT J OCHIMSEN (1933-1999)
– mit all seinen sozialen Folgewirkungen. Gegen den Strukturwandel »anzusubventionieren« war für ihn ein aussichtsloses Vorhaben. Europäische soziale Mindeststandards können helfen, die Folgen des Strukturwandels abzufedern. Sie müssen sich allerdings immer am Niveau der wirtschaftlich am wenigsten fortgeschrittenen Mitgliedsstaaten orientieren, um deren Wachstumsmöglichkeiten nicht einzuschränken. Für Deutschland bleiben sie nach Jochimsens Ansicht deshalb wenig wirkungsvoll. Auch die Angleichung der Löhne zwischen den einzelnen EU-Staaten kann sich erst über einen vergleichsweise langen Zeitraum einstellen. Wirtschaftlicher Strukturwandel ließ sich für Jochimsen sozial verträglich gestalten, wenn es der Politik gelingt, Investitionen vor Ort zu fördern und die Abwanderung von Unternehmen und Arbeitskräften zu verhindern. Dies war für ihn die Aufgabe der Strukturpolitik. Sie befaßt sich zum einen mit »harten Faktoren«, wie zum Beispiel der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur. Daneben darf sie zum anderen aber nicht die Bedeutung »weicher Faktoren« vernachlässigen, wie etwa Bildung und Wissenschaft, Kultur oder die Schaffung angenehmer Wohnumfelder. Jochimsen schwebte vor allem das Konzept einer »regionalisierten Strukturpolitik« vor, die darauf abzielt, die eigenen Entwicklungspotentiale einer Region zu mobilisieren. Diese Mobilisierung soll der Staat anschieben. Er tritt dabei aber weniger als hoheitliche Kraft auf, sondern eher als Moderator und Impulsgeber, der die Zusammenarbeit der örtlichen Wirtschafsakteure, darunter die Gewerkschaften, die Unternehmen, die Kammern und Kommunen, in Gang setzt. Hohen Stellenwert genoß für Jochimsen eine breit angelegte Bildungs- und Qualifikationspolitik, die der Staat gemeinsam mit den Unternehmen und den Gewerkschaften umsetzt. Darüber hinaus hielt er es für die Aufgabe einer regionalisierten Struktur- und Standortpolitik, die Nutzung von Hochschulen und die Verbreitung innovativer Technologie zu fördern. Für letzteres sah er öffentliche Einrichtungen der angewandten Wissenschafts- und Technologieentfaltung sowie Transformationsstellen (Technologiezentren) vor, die die Umsetzung von Neuerungen in den Unternehmen fördern.
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R EIMUT J OCHIMSENS W ERK AUS HEUTIGER S ICHT Das Konzept der »regionalisierten Standortpolitik« ist in NordrheinWestfalen über weite Strecken nach den Vorstellungen Jochimsens umgesetzt worden. Nicht jedes Technologiezentrum, das in diesem Geist eingerichtet wurde, erwies sich als Erfolg. Insgesamt hat dieser Ansatz aber geholfen, den Strukturwandel an Rhein und Ruhr zu bewältigen, die überkommene Schwerindustrie durch moderne Wirtschaftszweige abzulösen. Eine soziale Gesamtstrategie der Wirtschaftspolitik, die auf den Leitideen von Wohlstand und gerechter Verteilung beruht, kann er ergänzen, aber nicht ersetzen.
L ESEHINWEISE Reimut Jochimsen: Tarifpolitik allein kann die Anpassungslast nicht tragen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 10/1992, S. 633-641. Reimut Jochimsen: Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Baden-Baden 1998
Jürgen Kromphardt (1933) Angebots- und Nachfragepolitik
Jürgen Kromphardt studierte Volkswirtschaftslehre in Göttingen und Kiel. Zwischen 1958 und 1968 war er für die Europäische Gemeinschaft tätig. 1968 wurde Kromphardt auf eine Professur für Volkswirtschaftslehre in Gießen berufen. 1980 wurde er schließlich Professor für Wirtschaftstheorie an der TU Berlin. Von 1999 bis 2004 gehörte Kromphardt auf Vorschlag der Gewerkschaften dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an. Kromphardt ist seit 1972 Mitglied der SPD.
J ÜRGEN K ROMPHARDTS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Jürgen Kromphardt gehört zu wichtigen deutschen Wirtschaftstheoretikern der Gegenwart. Er hat sich eingehend mit den grundsätzlichen Fragen von Wachstum und Konjunktur auseinandergesetzt. Darüber hinaus hat Kromphardt mit seinem Buch »Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus« einen Klassiker für den Vergleich der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen vorgelegt. Kromphardt gehört der keynesianischen Schule an. Seine wirtschaftspolitischen Empfehlungen beruhen auf einer ausgewogenen Mischung aus Angebots- und Nachfragemaßnahmen. Das Hauptproblem der deutschen Volkswirtschaft sieht er gegenwärtig allerdings in
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der langfristigen Nachfrageschwäche. Da in Europa das Preisniveau weitgehend stabil ist, lautet seine Empfehlung, über niedrige Zinsen die Möglichkeiten für Konsum und Investitionen zu erweitern. Grundsätzlich weist Kromphardt auf das doppelte Gesicht der Zinspolitik hin. Einerseits muß die Zentralbank dafür Sorge tragen, daß die Inflation in einem verträglichen Rahmen bleibt, und zwar gegebenenfalls mit dem Mittel der Zinserhöhung. Andererseits bedeuten höhere Zinsen, daß die Finanzierung von Investitionen über Kredite teurer wird. Es ergibt sich eine dämpfende Wirkung auf die Nachfrage nach Investitionsgütern. Wenn weniger investiert wird, sinkt die Güternachfrage, und es besteht die Gefahr von Arbeitslosigkeit. Zwischen diesen beiden Punkten, so Kromphardt, muß die Geldpolitik hindurch, Preisstabilität und Beschäftigungsfragen gegeneinander abwägen. Weiterhin regt Kromphardt eine strukturelle Änderung der Fiskalpolitik an. Diejenigen, die eine hohe Nachfrage aus ihrem Einkommen entfalten, ganz gleich ob dies in Form von Konsum oder Investitionen geschieht, sollten steuerlich entlastet, diejenigen, die keine Nachfrage schaffen, eher belastet werden. Letzteres gilt vor allem für Zinseinkommen, insbesondere, wenn es im Ausland erzielt wird. Bei der Lohnpolitik weist Kromphardt darauf hin, daß die Löhne und Gehälter sowohl in ihrer Eigenschaft als Kostenfaktor der Unternehmen als auch in ihrer Eigenschaft als Einkommen der Verbraucher stabilitätsverträglich sein müssen. Nach beiden Seiten sollen Übertreibungen vermieden werden. Stabilität ist für Kromphardt dann gegeben, wenn die inflationsbereinigten Löhne in gleichem Maße steigen wie die Arbeitsproduktivität. Jürgen Kromphardt vertritt mit seinen wirtschaftspolitischen Empfehlungen einen wissenschaftlich ebenso ausgereiften wie ausgewogenen, an Angebot und Nachfrage orientierten Ansatz. Überspitzungen und Polemik vermeidet er. Damit hat sein Werk nicht nur bleibenden akademischen Wert, sondern auch bleibenden Vorbildcharakter für die wissenschaftliche Unterstützung der Politik.
J ÜRGEN K ROMPHARDT (1933)
L ESEHINWEISE Jürgen Kromphardt: Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus, Göttingen 1991. Jürgen Kromphardt: Lohnpolitik bei möglicher Deflation, in: Wirtschaftsdienst, 8/2003, S. 501-508. Bildquelle: Jürgen Kromphardt.
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Hans-Jürgen Krupp (1933) Wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung
Hans-Jürgen Krupp studierte an der TU Darmstadt Wirtschaftsingenieurwesen. 1969 wurde er Professor für Wirtschafts- und Sozialpolitik in Frankfurt und 1979 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. 1987 wechselte Krupp auf eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin. 1988 amtierte er als Senator der Finanzen und von 1991 bis 1993 als Wirtschaftssenator und Zweiter Bürgermeister in Hamburg. Von 1993 bis 2001 war Hans-Jürgen Krupp schließlich Präsident der Landeszentralbank Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
H ANS -J ÜRGEN K RUPPS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Der akademisch gebildete Ökonom muß, so Hans-Jürgen Krupp, nicht nur in der Lage sein, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erzielen. Er muß seine Forschungsergebnisse auch an gesellschaftlichen Problemen orientieren können und der Politik bei deren Lösung mit fachlichem Rat zu Seite stehen. Vor diesem Hintergrund wurde Krupp zu einem führenden Vertreter der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Dem zu Grunde liegt seine Überzeugung, daß der Staat einen wirtschafts- und sozialpolitischen Gestaltungsauftrag habe. Hinsichtlich der Reichweite dieses Auftrages nimmt er eine mittlere Position ein. Krupp kritisiert die Laissez-Faire-Haltung neokonservativer Wissenschaftler und Politiker. Gleichzeitig mißtraut er aber auch einem übertriebenen rationalistischen Machbarkeitsoptimismus, wie er linke Vorstellungen in den 1960er und 1970er Jahren bestimmte. Für Krupp ist weder die Maxime richtig, daß die beste Politik keine Politik sei, noch die Auffassung, daß man gesellschaftli-
H ANS -J ÜRGEN K RUPP (1933)
che Prozesse nur rational analysieren müsse, um sie anschließend zu gestalten. Die wissenschaftliche Politikberatung soll sich zudem stets bewußt sein, daß auch der Wissenschaftler irren kann. Gleichzeitig hat für Krupp die demokratische Entscheidung immer Vorrang vor wissenschaftlichen Kommissionen und Expertengremien. Ein wichtiges Problem der wissenschaftlichen Politikberatung liegt in der Frage, wie sie mit Werturteilen umgeht. Krupp vertritt auch hier einen pragmatischen Standpunkt. Für ihn soll sich die Wissenschaft nicht allein auf die objektive Analyse zurückziehen oder sich in abstrakter Theorie ergehen. Wenn sie konkrete, wirklichkeitsbezogene Vorschläge für die Lösung gesellschaftlicher Probleme finden will, kann sie (eindeutig zu kennzeichnende Werturteile) gar nicht umgehen. Als Wissenschaftler gehört Krupp zu den Vordenkern bei der Nutzung von Mikrodaten als Fundament empirischer Analysen. So hat er die Grundlagen für das Sozio-Ökonomische Panel (SOEP) gelegt, einer Datenbank, die eine Fülle von Einzeldaten zur Lage der privaten Haushalte in Deutschland enthält und die über die Informationen der amtlichen Statistik weit hinausgeht. Für wissenschaftliche Fragen der Sozialpolitik ist das SOEP heute eine der Informationsquellen der Wahl. Ein weiteres Beispiel für angewandte, auf wissenschaftliche Politikberatung abzielende Forschung sind Krupps zahlreiche Beiträge zur Sicherung der Altersversorgung. Ausgehend von seinem Urteil, daß es gesellschaftlich nicht wünschbar sei, wenn der Lebensunterhalt wichtiger Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Selbständige, Hausfrauen) im Alter nicht oder nur unzureichend gesichert ist, hat er sich zuletzt für eine allgemeine Bürgerversicherung eingesetzt. Konkret versteht er darunter eine Pflicht zur Sozialversicherung, die ohne die heute üblichen Ausnahmen für alle Bürger gilt. Hans-JürgenKrupp hat die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung in den 1970er Jahren begründet und wichtige Denkanstöße für die Wirtschafts- und Sozialpolitik bei einer Fülle unterschiedlicher Themen geliefert. Im sozialen Werturteil eindeutig, ist er dabei aber gleichzeitig frei von dogmatischen Einschränkungen. Seine Arbeit hat Vorbildcharakter, insbesondere heute, in einer Zeit, in der die akademische Volkswirtschaftslehre sich wieder auf abstraktes Modelldenken zurückzuziehen beginnt und deshalb immer weniger in der Lage ist, gehaltvolle Aussagen zu gesellschaftlichen Problemen der Wirklichkeit zu treffen.
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L ESEHINWEISE Heinz P. Galler/Gert Wagner (Hg.): Empirische Forschung und wirtschaftspolitische Beratung – Festschrift für Hans-Jürgen Krupp, Frankfurt a.M. 1998. Hans-Jürgen Krupp: Was kann die (National-)Ökonomie zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik beitragen?, in: Wirtschaftsdienst 2/2004, S. 84-90. Hans-Jürgen Krupp: Bürgerversicherung für das Alter, in: Wirtschaftsdienst 1/2007, S. 23-30.
Herbert Schui (1940) Kritik der Sozialen Marktwirtschaft
Herbert Schui studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. 1974 wurde er Assistenzprofessor an der Universität Bremen und gründete 1975 die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit. 1980 wurde Schui Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Er ist seit 2005 emeritiert. Herbert Schui war über lange Jahre Mitglied der SPD. 2004 gehörte er zu den Mitbegründern der Linkspartei und ist für diese seit 2005 Bundestagsabgeordneter.
H ERBERT S CHUIS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Herbert Schui ist ein scharfer Kritiker der Idee der Sozialen Marktwirtschaft und ein scharfer Kritiker einer Sozialdemokratie, die sich wirtschaftspolitisch zu dieser Idee bekennt. Denn seiner Meinung nach unterscheidet sich die Soziale Marktwirtschaft grundlegend von den traditionellen sozialdemokratischen Vorstellungen über den Sozial- oder Wohlfahrtsstaat. Für Schui besteht der Ausgangsgedanke des Wohlfahrtsstaates darin, daß der entwickelte Kapitalismus generell unter zu schwachen Investitionen leidet, was im wesentlichen durch vermehrten Konsum
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ausgeglichen werden muß. Nur so können die gesamtwirtschaftliche effektive Nachfrage, die Produktion und die Beschäftigung auf einem befriedigenden Stand gehalten werden. Um diesen Ausgleich zu erreichen, kann es nach Schui notwendig werden, Produktion und Investitionen staatlich zu planen und zu lenken. Weiterhin ist für ihn eine Steuerpolitik notwendig, die zunehmend Einkommen aus den oberen Einkommensschichten zu den unteren verteilt. Der Anteil des Staates an der Wirtschaftstätigkeit wird damit in der Tendenz immer weiter zunehmen. Die Soziale Marktwirtschaft hingegen – und hier bezieht sich Schui vorwiegend auf Walter Eucken und Alfred Müller-Armack als wichtige Vordenker – zielt auf eine Trennung von Staat und Wirtschaft ab. Es kommt hier nach Schuis Auffassung, allein darauf an, die wirtschaftliche Macht von bestimmten Unternehmen und Personen zu kontrollieren oder zu brechen, damit diese Staat und Politik nicht beeinflussen sowie Markt und Wettbewerb nicht einschränken. Ansonsten gingen die Väter der Sozialen Marktwirtschaft davon aus, daß sich bei freier Entfaltung der Marktkräfte ausreichender Wohlstand für alle entwicklt, und zwar ohne weitere Eingriffe des Staates. Allenfalls ergänzend seien kleinere Korrekturen der Einkommensverteilung und Hilfen für die Schwachen der Gesellschaft zulässig. Schui geht schließlich in seiner Kritik an der Sozialen Marktwirtschaft so weit, Eucken und Müller-Armack mit autoritärem Gedankengut in Verbindung zu bringen. Für Schui ist der »wohlfahrtsstaatliche Linkskeynesianismus« – er bezieht ihn vorwiegend auf die Schriften der großen britischen Ökonomin Joan Robinson – nicht nur gerechter als die Soziale Marktwirtschaft, er kann seiner Meinung nach auch Konjunkturkrisen besser vorbeugen. Dies belegt Schui anhand der Tatsache, daß in den meisten Industrieländern der Anteil der Löhne an der Nettowertschöpfung der Unternehmen seit den 1980er Jahren stark gefallen ist. Dies hat den Konsum geschwächt und das Wachstum gebremst. Gleichzeitig führten aus Schuis Sicht freier Kapitalverkehr und unzureichende Regeln für die Finanzmärkte in die 2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise. Die Maßnahmen, die die Politik nicht zuletzt unter sozialdemokratischer Federführung gegen die Krise ergriffen hat, nämlich Soforthilfe aus dem Staatshaushalt, kritisiert er als »BastardKeynesianismus«, der allein die Verschuldung der öffentlichen Hand erhöht. Schuis aus Sicht des Linkskeynesianismus geführte Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen der ver-
H ERBERT S CHUI (1940)
gangenen Jahrzehnte kann zu einer neuen, produktiven Auseinandersetzung mit Fragen der Verteilungspolitik beitragen, die in den vergangenen Jahren etwas versandet ist. Der strikte Gegensatz zur Sozialen Marktwirtschaft, den Schui konstruiert, erscheint allerdings der Sache wenig angemessen. Müller-Armack bezeichnete die Soziale Marktwirtschaft als »progressive Stilidee«, die nicht nur liberalmarktwirtschaftliches Gedankengut einschließt, sondern auch den freiheitlich-demokratischen Sozialismus. Schließlich verleiht Schuis Versuch, eine geistesgeschichtliche Assoziation zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und autoritärem Gedankengut herzustellen, seiner Beweisführung ein polemisches Moment.
L ESEHINWEISE Herbert Schui: Gerechtere Verteilung wagen!, Hamburg 2009. Herbert Schui: Bastard-Keynesianismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2009, S. 9-12. Bildquelle: Herbert Schui.
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Ursula Engelen-Kefer (1943) Beschäftigungspolitik und qualitatives Wachstum
Ursula Engelen-Kefer studierte an der Universität zu Köln Volkswirtschaftslehre. Von 1970 bis 1984 arbeitet sie für den DGB als Leiterin der Arbeitsmarktanalyse und Arbeitsmarktpolitik beim Wirtschaftsund
Sozialwissenschaftlichen
Institut
(WSI) und als Leiterin der Referate Internationale Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik. Von 1984 bis 1990 war EngelenKefer Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Arbeit und von 1990 bis 2006 deren stellvertretende Vorsitzende des DGB. Ursula Engelen-Kefer war von 1986 bis 2009 Mitglied des SPD-Parteivorstands.
U RSUL A E NGELEN -K EFERS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Ursula Engelen-Kefer machte sich bereits in den 1970er Jahren einen Namen als Expertin für Beschäftigungspolitik. Ihre beschäftigungspolitischen Vorstellungen verknüpfen die Schaffung von Arbeitsplätzen mit der Förderung eines qualitativen Wirtschaftswachstums. Dies bedeutet, daß neue Arbeitsplätze durch (öffentliche) Investitionen in solchen Bereichen geschaffen werden sollen, in denen die Gesellschaft einen Nachholbedarf habe. Für Ursula Engelen-Kefer ist hier vor allem der Bereich der sozialen Infrastruktur angesprochen. Dies
U RSUL A E NGELEN -K EFER (1943)
soll durch ein gezieltes Bildungsprogramm für Arbeitslose ergänzt werden, das auch und gerade jene Bevölkerungsgruppen anspricht, die im Arbeitsmarkt auf besondere Probleme stoßen, so zum Beispiel Frauen, ältere Arbeitnehmer, gering Qualifizierte, gesundheitlich Eingeschränkte und Schwerbehinderte. Schließlich sollen sozial- und beschäftigungspolitische Vorgaben für Rationalisierungsmaßnahmen erlassen werden, die verhindern, daß Arbeitsplätze in Betrieben abgebaut werden, ohne daß ausreichende andere Beschäftigungs- oder Qualifizierungsmöglichkeiten verfügbar sind. Flankierende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Lohnkostenzuschüsse, die an öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen gezahlt werden, können, so Engelen-Kefer, zusätzlich Beschäftigung schaffen. In der privaten Wirtschaft sollen öffentliche Mittel, mit denen Investitionen in Beschäftigung, Technologie und Bildung gefördert werden, verstärkt in strukturschwache Regionen sowie in kleine und mittlere Betriebe geleitet werden. Unternehmenserträge, die für Investitionen und Beschäftigung verwendet werden, könnten darüber hinaus steuerlich entlastet werden. Allgemein soll die Unternehmensbesteuerung umweltschädliche Produkte stärker be- und umweltfreundliche stärker entlasten, um die Betriebe auf kommende ökologische Herausforderungen vorzubereiten und Beschäftigung zu sichern. Ursula Engelen-Kefer ist heute eine der Vordenkerinnen der aktiven Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der öffentlichen Hand, in die die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik vor allem in den 1970er und 1980er Jahren große Hoffnungen setzte. Mittlerweile haben sich die Pole der arbeitsmarktpolitischen Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie verschoben. Auf der einen Seite steht die »Agenda 2010«, die darauf abzielt, die Aufnahme von Arbeit zu fördern, auf der anderen stehen die Verteidiger der klassischen sozialen Sicherung, die Schutz vor den materiellen Folgen von Arbeitslosigkeit bietet. Im Spannungsfeld dieser Pole können Engelen-Kefers Vorstellungen von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch gesellschaftlich gewünschte öffentlichen Dienstleistungen bereitstellt und so die Lebensqualität der Allgemeinheit verbessern kann, zusätzliche Anregungen und Ideen zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit geben.
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L ESEHINWEISE Ursula Engelen-Kefer: Beschäftigungspolitik, Köln 1979. Ursula Engelen-Kefer: Beschäftigungspolitik ohne Alternative, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 2/1982, S. 73-83. Bildquelle: Ursula Engelen-Kefer.
Bert Rürup (1943) Bevölkerungsentwicklung und Sozialpolitik
Bert Rürup studiete in Hamburg und Köln Wirtschaftswissenschaften. 1975 wurde er Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität-Gesamthochschule in Essen. 1976 folgte Rürup einem Ruf an die Technische Universität Darmstadt, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik war. Bert Rürup ist Mitglied der SPD. Von 2000 bis 2009 gehörte er dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an, seit 2005 als Vorsitzender. Ende 2009 wurde Rürup Vorstandsmitglied der MaschmeyerRürup AG.
B ERT R ÜRUPS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Bert Rürup hat sich eingehend damit auseinandergesetzt, wie die Systeme der sozialen Sicherung, vor allem die Renten- und die Krankenversicherung, in Deutschland funktions- und leistungsfähig bleiben können, wenn die Bevölkerung zunehmend altert und schrumpft. Er vertritt die Auffassung, daß dies durch eine Familienpolitik erreicht werden kann, die die Geburtenrate erhöht und gleichzeitig die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert. Aus wirtschafswissenschaftlicher Sicht begründet er diese These wie folgt: Der Rückgang der Bevölkerungszahl und die zunehmende Alte-
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rung der Gesellschaft vermindern die Zahl der verfügbaren Erwerbstätigen und schaden deshalb dem Wirtschaftswachstum. Wenn mehr Frauen erwerbstätig werden, kann dieser Effekt gemildert werden. Zudem wirken mehr Geburten dem Bevölkerungsrückgang und der Alterung längerfristig entgegen. Armut in Familien, die vor allem alleinerziehende Mütter, die nicht erwerbstätig sein können, trifft, vermindert die gesellschaftlichen Chancen von Kindern und wirkt sich deshalb schädlich auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Schließlich wird eine höhere Geburtenrate und eine größere Erwerbstätigkeit die finanzielle Lage der gesetzlichen Renten- und der Krankenversicherung verbessern, was wiederum der Einschränkung von sozialen Leistungen entgegenwirkt. Eine Familienpolitik, die wirksam mehr Geburten und mehr Erwerbstätigkeit ermöglicht, sollte nach Rurüps Erkenntnissen die geldlichen und anderweitigen Kosten ausgleichen, die den Eltern durch die Erziehung von Kindern entstehen. Wenn zum Beispiel das Gehalt während der Erziehungszeit weitergezahlt würde, entstünden Familien geringere Einkommensverluste. Zudem könnten die Sozialversicherungsbeiträge weiter entrichtet werden und die Kreditwürdigkeit von jungen Familien wäre verbessert. Wenn es in ausreichendem Maße Betreuungseinrichtungen gäbe, deren Öffnungszeiten flexibel sind, ließen sich Familie und Beruf besser vereinbaren. Mehr Teilzeitbeschäftigung für Väter und Mütter könnte die Zeitnot, unter der besonders berufstätige Mütter leiden, entschärfen. Bert Rürup weist zur Recht darauf hin, daß es eine der wichtigsten Aufgaben der Politik ist, die materiellen wie im übrigen auch die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft auf Dauer zu erhalten und zu verbessern. Die Lebenslage von Familien ist hier eine entscheidende Größe. Rürups praktischen Erkenntnisse haben dazu beigetragen, wichtige sozialdemokratische Reformenvorhaben wie das Elterngeld oder den Ausbau von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zu verwirklichen.
L ESEHINWEISE Bert Rürup/Sandra Gruescu: Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung, Bonn 2003. Bildquelle: MaschmeyerRürupAG.
Ulrich Steger (1943) Systemkopf Deutschland
Ulrich Steger studierte in Münster, Bonn und Bochum Wirtschaftswissenschaften. Von 1976 bis 1984 war er Bundestagsabgeordneter für die SPD und von 1984 bis 1987 Hessischer Wirtschaftsminister. 1987 folgte Steger dem Ruf auf eine Professur für Ökologie und Unternehmensführung an der European Business School. 1995 wurde er Professor für Environmental Management am International Institute for Management in Lausanne. Zwischen 1991 und 1993 arbeitet Ulrich Steger als Vorstandsmitglied bei Volkswagen.
U LRICH S TEGERS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Für Ulrich Steger bewegt sich die moderne Sozialdemokratie auf unsicherem Grund. Liberalisierter Welthandel, veränderliche Gesellschaftsverhältnisse und wirtschaftlicher Strukturwandel stellen die traditionellen Bezugspunkte und Werte sozialdemokratischer Politik in Frage. Er empfiehlt deshalb, eine gleichermaßen pragmatische wie anpassungsfähige Wirtschaftspolitik zu entwerfen. Pragmatische und anpassungsfähige Wirtschaftspolitik darf sich aber nicht in vielen Einzelmaßnahmen erschöpfen. Sie muß vielmehr von einer offenen, dennoch umfassenden, allgemein geteilten und schlüssigen Zielvorstellung getragen werden – also von einem Leit-
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bild. Stegers Vorstellung vom »Systemkopf Deutschland« soll dies leisten. Das Leitbild »Systemkopf Deutschland« enthält als erste Zielgröße den Wunsch nach Wohlstand. Im weltweiten Wettbewerb läßt sich materieller Wohlstand für Steger nur dann erhalten und vermehren, wenn sich die deutsche Wirtschaft an technisch anspruchsvollen Produkten mit hoher Wertschöpfung und hohem Forschungs- und Wissenseinsatz ausrichtet. Zweitens soll nach Steger die Wirtschaftsentwicklung vom Umwelt- und Ressourcenverbrauch abgekoppelt werden, zum Beispiel durch die Einrichtung von Kreislaufprozessen, die Miniaturisierung von Anlagen und die schnelle Nutzung neuer Technologien, wie etwa der Bio- und Gentechnologie. Auch marktorientierte Instrumente (wie der Emissionshandel oder Umweltsteuern) können zur Ressourceneffizienz beitragen. Drittens soll sich der Systemkopf Deutschland durch Freiraum für Experimente aller Art – in der Arbeitsorganisation, der öffentlichen Verwaltung und überall dort, wo Reglementierungen die Suche nach neuen Lösungen behindern – auszeichnen. Ein Klima der Offenheit soll gesellschaftliche Lernprozesse beschleunigen, die notwendig sind, um Deutschland an der wirtschaftlichen Weltspitze zu halten – und gleichzeitig bewährte soziale Traditionen unter veränderten Bedingungen zu bewahren: »Nicht nur für Firmen, auch für Nationen gilt im globalen Wettbewerb: die Fähigkeit rasch zu lernen, ist der einzige dauerhafte Wettbewerbsvorteil« (U. Steger 1994). Unter anderem auf technologieorientierten Leitbildern wie Ulrich Stegers »Systemkopf Deutschland« beruhte die programmatische Modernisierung, die die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in den späten 1990er Jahren und im frühen 21. Jahrhundert durchlief. Sie spiegelte sich augenfällig im Schlagwort von »Innovation und Gerechtigkeit« wider. Wichtig ist Stegers Hinweis, daß ein tragfähiges Leitbild auch soziale Traditionen mit umfassen muß. Ansonsten läuft die politische Diskussion Gefahr, sich in modischer Wurzellosigkeit zu ergehen. Ein Beispiel für solche Irrwege war die Verkürzung des Gerechtigkeitsbegriffs auf die Chancengerechtigkeit, die innerhalb von Teilen der Sozialdemokratie zeitweise vertreten wurde.
U LRICH S TEGER (1943)
L ESEHINWEISE Ulrich Steger: Für ein neues ökonomisches Leitbild: »Systemkopf Deutschland«, in: Klaus-Jürgen Scherer/Heinrich Tiemann (Hg.): Wahl 94: Das Regierungsprogramm der SPD, Marburg 1994. Bildquelle: Ulrich Steger.
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Heiner Flassbeck (1950) Wachstumsorientierte Geld- und Lohnpolitik
Heiner Flassbeck studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlands. Er war unter anderem im Bundeswirtschaftsministerium und für das Deutschen Institut für Wirtschaftsfor schung tätig. Von 1998 bis 1999 arbeitete Heiner Flassbeck unter Oskar La fon taine als Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Im Jahr 2000 wurde er ChefVolkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD).
H EINER F L ASSBECKS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Heiner Flassbeck ist einer der wichtigen zeitgenössischen Vertretern nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik. Zum Kern seiner wirtschaftspolitischen Vorstellungen gehört eine Geldpolitik, die sich nicht allein an der Stabilität der Preise, sondern auch an den gesellschaftlichen Zielen Wachstum und Beschäftigung orientiert. Die liberale angebotsorientierte Wirtschaftstheorie hält flexible Löhne und flexible Beschäftigungsverhältnisse für das beste Mittel, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Demnach muß Arbeitslosigkeit durch Lohnzurückhaltung und beispielsweise geringeren Kündigungsschutz erkauft werden. Für Flassbeck ist diese Sichtweise überholt, da sie seit den 1980er Jahren allein hohe Arbeitslosigkeit und unzureichende Investitionen bewirkt
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hat, aber keine positiven Beiträge zur Wirtschaftsentwicklung leisten konnte. Seine Hauptthese: Statt der Löhne und der Arbeitsverhältnisse muß vielmehr die Geldversorgung flexibel sein. Arbeit ist für Flassbeck ein volkswirtschaftlicher Produktionsfaktor eigener Art. Denn die Entlohnung dieses Produktionsfaktors entscheidet nicht nur über die Kosten, sondern auch über die Gewinne der Unternehmen. Die Unternehmen können Arbeit auf Dauer nicht real geringer entlohnen, als es der Arbeitsproduktivität entspricht, weil sonst die von ihnen hergestellten Produkte nicht absetzbar sind. »Lohnzurückhaltung«, wie sie von liberalen Ökonomen und Politikern oft gefordert wird, bedeutet hingegen geringere Reallöhne. Geringe Löhne setzen sich für Flassbeck aber nicht in geringere Arbeitskosten, steigende Beschäftigung und höhere Investitionen um. Vielmehr sinkt nun bei schwacher Nachfrage das Wachstum der Gesamtproduktion, womit auch Investitionen und Beschäftigung unbefriedigend ausfallen. Folglich gibt es, so Flassbeck, einen engen positiven Zusammenhang zwischen Investitionen und Beschäftigung: In guten Zeiten steigen Beschäftigung und Investitionen gleichzeitig, in schlechten fallen sie gleichzeitig. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik besteht nun laut Flassbeck, darin, für mehr wirtschaftlich gute als schlechte Zeiten zu sorgen. Hierfür sind aus seiner Sicht die Lohn- und die Geldpolitik wichtige Hebel. Wachstum und Beschäftigung ist am besten gedient, wenn die Löhne mit der Rate der Produktivität ansteigen plus einer volkswirtschaftlich gewünschten und angemessenen Inflationsrate, die die Geldpolitik beziehungsweise die Zentralbank vorgibt. Nach dieser Faustformel ist es für Flassbeck sichergestellt, daß die Produktivitätsgewinne möglichst reibungslos in Einkommen und Nachfrage umgesetzt werden. Auf der anderen Seite fordert er, daß die Geldpolitik sinnvoll mit der Lohnpolitik zusammenspielt. Sie gibt nämlich durch die laufende Versorgung mit Geldmitteln den Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Gesamtnachfrage ausweiten kann und entscheidet so über den Grad der Beschäftigung in einer Volkswirtschaft. Ist die Versorgung zu knapp bemessen, kommt es zu Wachstumskrisen und Arbeitslosigkeit. Ist sie zu umfangreich, steigt die Inflation an. In der jüngeren Vergangenheit war, so Flassbeck, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank allerdings zu einseitig am Ziel der Preisstabilität orientiert und trug durch die unnötige Verknappung der Geldmenge zur schwachen Konjunktur und zur hohen Arbeitslosigkeit in Europa bei.
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Die Diskussion wirtschaftlicher Fragen wird innerhalb der politischen Linken heute vielfach entweder rückwärts auf die 1970er Jahre gewandt oder als Kritik der herrschenden neokonservativen Wirtschaftslehre geführt. Heiner Flassbeck versucht hingegen, einer fortschrittlichen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik einen eigenständigen und zeitgemäßen Weg zu stabilem Wachstum und hoher Beschäftigung zu weisen.
L ESEHINWEISE Heiner Flassbeck: Deutschland ist zu retten! – Nur anders als fast alle denken. argumente – beiträge zur zukunftsdiskussion von links, 1/2005, S. 24-32. Heiner Flassbeck/Friederike Spieker: Löhne und Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich, Berlin 2007. Heiner Flassbeck/Friederike Spieker: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit, Frankfurt a.M. 2007. Bildquelle: Heiner Flassbeck.
Peter Bofinger (1954) Wohlstand für alle
Peter Bofinger studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Saarbrücken. Von 1978 bis 1981 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sachverständigenrats zur Begutachtung
der
gesamtwirtschaftli-
chen Entwicklung und von 1985 bis 1990 bei der Landeszentralbank in BadenWürt temberg beschäftigt. 1992 erhielt Bofinger den Ruf auf eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. 2004 wurde er auf Vorschlag der Gewerkschaften Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
P E TER B OFINGERS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Peter Bofinger gehört, wie zum Beispiel auch Heiner Flassbeck und Gustav Adolf Horn, zur jüngeren Generation nachfrageorientierter, keynesianischer Wirtschaftswissenschaftler. In einem seiner jüngeren Werke »Wir sind besser als wir glauben« (2004) griff er das Leitmotiv der Wachstumspolitik Ludwig Erhards »Wohlstand für alle« wieder auf. Vor diesem Hintergrund kritisiert er die herrschende angebotsökonomische Lehre, die für ihn einseitig auf darauf abzielt, durch Reformen staatliche Leistungen abzubauen und soziale Siche-
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rung dem Markt zu überlassen. Diese Politik führt, so Bofinger, zu Wohlstand allein für wenige. Für Bofinger beruht mehr Wohlstand für alle heute vor allem auf einer Belebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Er verweist darauf, daß diese Einsicht im Prinzip auch von Ludwig Erhard geteilt wurde und das deutsche »Wirtschaftswunder« wesentlich darauf beruhte, daß damals die Löhne und Konsumausgaben anstiegen sowie gleichzeitig die Unternehmen in neue Produktionsanlagen investierten und neue Arbeitsplätze schufen. Bofinger zeigt, daß ein solches Wirtschaftsklima ohne weiteres auch heute wieder entstehen könnte – aber nicht indem man Sozialleistungen abbaut oder Steuern und Löhne senkt. Er vertritt vielmehr die Ansicht, daß der Anteil des Staates an der Wirtschaft oder die Höhe der Steuern in Deutschland keinesfalls übertrieben hoch, im internationalen Vergleich sogar eher gering sind. Um das Wirtschaftswachstum in Deutschland wieder zu stärken, schlägt Bofinger vor, im gesamten Euroraum zu einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik zurückzukehren, den Lohnzuwachs also mit dem Fortschritt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zuzüglich eines Inflationsausgleichs zu verknüpfen. Die Geldpolitik der europäischen Zentralbank kritisiert Bofinger als zu einseitig am Ziel der Preisstabilität orientiert. Die Geldversorgung soll vielmehr stärker an den Zielen von Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet werden. Auch die Haushaltspolitik des Staates soll nach Bofinger stärker an den Erfordernissen des Wachstums und der Konjunkturstabilisierung ausgerichtet werden. Die Grenzwerte des europäischen MaastrichtVertrages (Begrenzung der Neuverschuldung auf 3 Prozent und der Schuldenstandsquote auf 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) hält er für willkürlich und wissenschaftlich nicht haltbar. Zwar spricht sich auch Bofinger für eine längerfristige Begrenzung der Staatsverschuldung aus. In Zeiten der Konjunkturschwäche sind für ihn zeitweilige größere Defizite der öffentlichen Haushalte aber hinnehmbar. Schließlich sind die Sozialsysteme nach Bofingers Auffassung in Deutschland zu stark über die Lohnnebenkosten finanziert, was die Arbeitskraft unnötig verteuert. Sozialleistungen sollten deshalb mehr aus allgemeinen Steuermitteln bestritten werden als bisher. Peter Bofinger fordert ein neues Gleichgewicht zwischen Angebots- und Nachfragepolitik ein, dessen Wichtigkeit führenden Köpfen der sozialen Marktwirtschaft wie zum Beispiel Ludwig Erhard oder Karl Schiller sehr bewußt war. Dieses Gleichgewicht trat aber unter
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dem Eindruck des neokonservativen Denkens, das die Wirtschaftswissenschaften und die Wirtschaftspolitik in den 1980er und 1990er Jahren zu beherrschen begann, in den Hintergrund. Deshalb sind Bofingers Vorschläge für eine Soziale Marktwirtschaft sozialdemokratischer Prägung sicherlich wichtig.
L ESEHINWEISE Peter Bofinger: Wir sind besser als wir glauben – Wohlstand für alle, München 2004. Peter Bofinger: Ist der Markt noch zu retten? Warum wir jetzt einen starken Staat brauchen, Berlin 2009. Bildquelle: Peter Bofinger.
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Gustav Adolf Horn (1954) Soziale Gerechtigkeit in der Globalisierung
Gustav Adolf Horn studierte Volkswirtschaftslehre in Bonn und London und war danach wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz. Von 1986 bis 2004 forschte er am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, zuletzt als Leiter der Konjunkturabteilung. Seit 2005 ist Horn Leiter des Instituts für Makroökonomie der gewerkschaftsnahen HansBöckler-Stiftung.
G USTAV A DOLF H ORNS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Gustav Adolf Horn ist ein weiterer zeitgenössischer Vertreter der keynesianischen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik und Kritiker herrschender angebotsökonomischer Lehrmeinungen. Horn behandelt, unter anderem, die Frage, wie der einzelne Nationalstaat noch eine aktive Nachfragepolitik betreiben kann, wenn er in den Welthandel und das internationale Finanzsystem eingebunden ist (»Globalisierung«). Nach vorherrschender marktliberaler Meinung ist dies kaum möglich, ohne die Wettbewerbsfähigkeit des »Wirtschaftsstandorts« zu gefährden. Statt dessen sind zum Beispiel Lohnzurück-
G USTAV A DOLF H ORN (1954)
haltung und flexible Arbeitsverhältnisse sowie niedrige Steuern und geringe Staatsausgaben angezeigt. Horn nimmt hierzu eine Gegenposition ein, ohne die Globalisierung als grundsätzlich positive Erscheinung in Frage zu stellen. Zu geringe Lohnsteigerungen oder auch ein Sparzwang bei den Staats- und Sozialausgaben verbessern für ihn allerdings nicht die »Standortqualität« Deutschlands. Vielmehr bleiben dadurch die Realeinkommen der Haushalte und der Konsum hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurück, die dann einseitig von den Exporten getragen werden müssen. Die Folge ist für Horn ein geringes Wirtschaftswachstum. Geringes Wirtschaftswachstum begünstigt soziale Verteilungskämpfe, die in einer zunehmenden Umverteilung der Einkommen und Vermögen von »unten« nach »oben« enden, da die Machtverteilung zwischen Kapital und Arbeit ungleich ist. Eine sozial ausgeglichene Wirtschaftspolitik soll deshalb darauf abzielen, die Wachstumsimpulse, die die Globalisierung erzeugt, breiten Bevölkerungsschichten zugängig zu machen. Am Ende sollen die Realeinkommen der privaten Haushalte von der Globalisierung profitieren. Nur so kann für Horn auf Dauer auch die gesellschaftliche Akzeptanz weltweit offener Märkte gewahrt bleiben und protektionistischen Tendenzen vorgebeugt werden. Horn hält es für notwendig, daß die Wirtschaftspolitik das ökonomische Machtgleichgewicht verändert. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Position der Arbeitnehmer und diejenige innovativer Unternehmer soll gestärkt werden. Die Macht von Finanzinvestoren und derjenigen, die aus dem Sozialabbau Renditen ziehen, ist seiner Auffassung nach hingegen zu beschränken. Letzteres erfordert ein abgestimmtes Vorgehen der wichtigsten Wirtschaftsnationen (G8), um transparente Kapitalmarktregeln zu schaffen und Grenzen für spekulative Transaktionen oder Firmenübernahmen zu setzen. Horn schlägt in diesem Zusammenhang eine europäische Steuer auf internationale Transaktionen (»Tobin-Steuer«) und Maßnahmen gegen »Steueroasen« vor, um die Steuerbasis zu erhalten. Ferner setzt sich Horn dafür ein, die wirtschaftliche Position der Arbeitnehmer zu stärken, damit die Löhne dem Zuwachs der Leistungsfähigkeit folgen, sie sich also an der Produktivität ausrichten. Dies kann zum Teil durch gesetzliche Mindestlöhne erreicht werden. Wichtiger ist Horn aber eine expansive Stabilisierungspolitik, die die Arbeitsmarktlage bei steigender Beschäftigung insgesamt wieder zu Gunsten der Arbeitnehmer verbessert. Den Einwand, eine solche Po-
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litik leiste der Inflation und der Verschuldung des Staates Vorschub, hält er für falsch. Nach seiner Ansicht wird dadurch allein die Lohndeflation bekämpft. Wenn die Lohnentwicklung wieder zu mehr Wirtschaftswachstum führt, steigen zudem die Steuereinnahmen, so daß letzten Endes die Möglichkeiten zur (notwendigen) Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eher zu- als abnehmen. Horn versucht, alternativ zum Marktliberalismus, einen schlüssigen Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und sozialem Frieden aufzuzeigen. Eine Reihe seiner Vorschläge, wie zum Beispiel internationale Bemühungen um neue Regeln für die Finanzmärkte und eine kritische Sicht auf Steueroasen, sind Bestandteil des sozialdemokratischen Wirtschaftsprogramms. Pläne zu einer breit angelegten, expansiven Beschäftigungspolitik konnten sich hingegen bislang nicht auf breiter Front durchsetzen.
L ESEHINWEISE Gustav Adolf Horn: Die deutsche Krankheit: Sparwut und Sozialabbau, München 2005. Bildquelle: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung.
Christa Müller (1956) Emanzipatorische Familienpolitik
Christa Müller studierte Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt a.M. Seit 1979 war sie Mitglied der SPD. Nach einer Tätigkeit beim Wirtschafts- und Sozialausschuß der EU wechselte Müller 1985 zum Hessischen Landtag und 1987 in die Hessische Staatskanzlei. 1988 trat sie in die Parteizentrale der SPD ein. 2005 wechselte Christa Müller zur Partei »Arbeit und soziale Gerechtigkeit – die Wahlalternative« (WASG) beziehungsweise später zur Partei »Die Linke«. Dort ist sie familienpolitische Sprecherin des Landesverbands Saar.
C HRISTA M ÜLLERS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Christa Müller trat zuletzt als Sozial- und Familienpolitikerin hervor. Ihr Ziel ist es, Müttern eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Berufstätigkeit und häuslicher Kindererziehung zu geben. Einen einseitigen Vorrang der außerhäuslichen Kinderbetreuung lehnt sie ab, da er aus ihrer Sicht vorwiegend dem Interesse der Wirtschaft an der günstigen Arbeitskraft von Frauen dient. Wenn in einem großen Maßstab staatliche Betreuungsplätze für Kleinkinder geschaffen werden, der über die tatsächlichen Bedürfnisse der Mütter weit hinausgeht, erhöht dies ihrer Auffassung nach die Zahl der Frauen, die auf den Arbeitsmarkt drängen und hält deshalb die Löhne niedrig. Als Alternative zum Ausbau der vorschulischen Kinderbetreuung schlägt Müller die Einführung eines sozialversicherungspflichtigen Erziehungsgehalts für alle Eltern in Höhe von 1.600 Euro in den ersten drei Lebensjahren und von 1.000 Euro bis zum sechsten Lebensjahr eines Kindes vor. Die Thesen Christa Müllers sind in Kreisen linker Politiker, die die Berufstätigkeit von Müttern als Ausdruck von Emanzipation sehen, stark kritisiert worden. Gerade deshalb dürften sie aber als wichtiger
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Beitrag zu einem ethisch erweiterten Verständnis von linker Familienpolitik gelten, mit dem überkommene Dogmen in Frage gestellt werden. Christa Müller ist neben ihrer Rolle als Familienpolitikerin auch mit Veröffentlichungen zu allgemeinen wirtschaftspolitischen Fragen hervorgetreten. So vertrat sie im Vorfeld der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die Auffassung, die gemeinsame EuroWährung dürfe erst eingeführt werden, wenn sich die Wirtschafts- und Lebensbedingungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten weitgehend aneinander angeglichen haben. Dies war aus ihrer Sicht notwendig, um Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten zu vermeiden, die mit einer übereilten Währungsunion unvermeidbar sind. Gemeinsam mit Oskar Lafontaine setzte sich Müller darüber hinaus für eine stärkere Kontrolle der internationalen Finanzmärkte und eine Rückkehr zur keynesianisch orientierten Nachfragepolitik ein.
L ESEHINWEISE Christa Müller: Chancen und Gefahren der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion, Bonn 1992. Oskar Lafontaine/Christa Müller: Keine Angst vor der Globalisierung. Wohlstand und Arbeit für alle, Bonn 1998. Christa Müller: Dein Kind will ich. Echte Wahlfreiheit durch Erziehungsgehalt, Augsburg 2007.
Karl W. Lauterbach (1963) Die soziale Bürgerversicherung
Karl W. Lauerbach studierte Medizin in Aachen, Düsseldorf und San Antonio (USA) sowie Gesundheitsökonomie und Epidemologie in Boston (USA). 1998 wurde er Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Epidemologie der Uni versität zu Köln. Zwischen 1999 und 2005 war Karl W. Lauterbach Mitglied des Sachverständigenrats zur Entwicklung im Gesundheitswesen. Seit 2005 gehört er der SPD-Fraktion des Bundestages an.
K ARL W. L AUTERBACHS W ERK UND SEINE B EDEUTUNG Karl W. Lauterbach kritisiert die gegenwärtige Verfassung der deutschen Krankenversicherung und schlägt die soziale Bürgerversicherung als wichtiges Projekt moderner sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik vor. Die heutige Begrenzung der gesetzlichen Krankenversicherung auf Arbeitnehmer, deren Arbeitseinkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreitet, hält Lauterbach für sozial ungerecht. Statt dessen sollten alle Bürger einschließlich der Beamten, Selbständigen und »Gutverdiener« in eine gesetzliche Bürgerversicherung einbezogen werden. Deren Beiträge sollen nach dem Gesamteinkommen eines Bürgers einschließlich Miet-, Zins- und Kapitaleinkünften berechnet werden.
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In Lauterbachs Vorstellung ist die soziale Bürgerversicherung keine Einheitskasse. Vielmehr könnten sich an ihre alle bestehenden Krankenkassen, die öffentlichen wie die privaten, gleichermaßen beteiligen und um Mitglieder werben. Im Bereich der privaten Krankenversicherungen dürften die Beiträge allerdings nur noch auf der Grundlage des Einkommens eines Versicherten berechnet werden und nicht mehr, wie heute üblich, nach seinem Alter und Gesundheitszustand. Die Einführung der Bürgerversicherung soll stufenweise erfolgen und nur die Bürger erfassen, die neu in das System hineintreten. Wer bislang privat versichert oder zur Beihilfe berechtigt war, könnte dies, so Lauterbach, auch bleiben. Karl W. Lauterbach gehört zu einer neuen Generation sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitiker, denen es weniger um die ökonomische Gesamtordnung geht, die sich vielmehr auf eine oder wenige Einzelfragen konzentrieren. Er hat mit der Bürgerversicherung einen interessanten sozialpolitischen Reformplan vorgelegt, der geeignet ist, bestehende Schwächen des gegenwärtigen deutschen Krankenversicherungswesens auszugleichen, ohne es grundsätzlich in Frage zu stellen. Zu diesen Schwächen gehört besonders die Tendenz, gesetzlich Versicherte in der Versorgung zu benachteiligen (»Zwei-Klassen-Medizin«).
L ESEHINWEISE Karl W. Lauterbach: Der Zweiklassenstaat, Berlin 2007. Bildquelle: Karl W. Lauterbach.
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