Die Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume der Henriette Herz (1764–1847) [1 ed.] 9783737006248, 9783847106241


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Die Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume der Henriette Herz (1764–1847) [1 ed.]
 9783737006248, 9783847106241

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Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam Herausgegeben von Iwan-Michelangelo D’Aprile, Cornelia Klettke, Andreas Köstler, Ralf Pröve, Stefanie Stockhorst und Dirk Wiemann

Band 5

Hannah Lotte Lund / Ulrike Schneider / Ulrike Wels (Hg.)

Die Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume der Henriette Herz (1764–1847)

Mit 10 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5251 ISBN 978-3-7370-0624-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Einstein Stiftung/ Einstein Foundation Berlin, des Lehrstuhls Frþhe Neuzeit (UniversitÐt Potsdam) und der Potsdam Graduate School (PoGS).  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Henriette Herz. Photographie der Photographischen Gesellschaft Berlin (um 1900) nach dem GemÐlde (1792) von Anton Graff. Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabt. Sign.: Portr. Slg / Frauen (hist.) gr / Herz, Henriette, Nr. 1.

Inhalt

Hannah Lotte Lund / Ulrike Schneider / Ulrike Wels Einleitung: Zehn Thesen – Für Henriette Herz – gegen den ,Salon‘ . . . .

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Netzwerke und Vergesellschaftungsformen Hannah Lotte Lund „ich habe so viele sonderbare Menschen hier“ – Vergesellschaftungsformen im Hause Herz der 1790er Jahre

. . . . . . .

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Anne Baillot Das Netzwerk als Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die geistesgeschichtlichen Wurzeln – Die Haskala und ihre Vertreter als ,Väter‘ und Gäste der ,Salons‘ Christoph Schulte Die Töchter der Haskala – Die jüdischen SaloniHren aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uta Lohmann „edle Frauen, zärtliche Gattinnen, verständige Mütter und kluge Hauswirtinnen“ – zum Weiblichkeitsideal der Berliner Haskala . . . . . .

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Carsten Schapkow Henriette Herz’ sephardisches Judentum und die deutsch-jüdische Kultur zwischen Aufklärung und Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Eberhard Wolff Am Rande der jüdischen ,Selbstverleugnung‘? – Marcus Herz als jüdischer Arzt zwischen religiöser Befreiung und kulturellem Verlust

. . 101

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Inhalt

Deutsch-jüdische und christlich-jüdische Kommunikationsräume in Berlin und deren Ausstrahlung nach Europa Deborah Hertz Henriette Herz as Jew, Henriette Herz as Christian – Relationships, Conversion, Antisemitism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Liliane Weissberg Lehrjahre des Gefühls – Wilhelm von Humboldt befreundet sich mit Henriette Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ute Tintemann Henriette Herz, Caroline und Wilhelm von Humboldt (1809–1819) . . . . 159 Selma Jahnke „Wie können Sie nur so grausam sein, selbst sprechend schweigsam zu bleiben?“ – Sprechen und Schweigen in der Korrespondenz von Henriette Herz und Immanuel Bekker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Ulrike Wels Überschreitungen in nuce – Überlegungen zum religiösen Selbstverständnis der Henriette Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Hans-Jürgen Rehfeld „Wie in ein unbekanntes Land, das fern im Nebel liegt, sah ich auf mein Sein in Rügen“ – Henriette Herz auf Rügen . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Schreib- und Rezeptionsweisen – das Bild der „Schönen Jüdin“ Michael Heinemann Alltägliche Empfindsamkeit – Zum Hochzeitslied für Marcus und Henriette Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Marjanne E. Gooz8 Die Erinnerungen der Henriette Herz – Bekenntnisse und Memoire . . . 237 Anna-Dorothea Ludewig Die ,schöne Jüdin‘ Henriette – Selbststilisierung und Rezeption einer Berliner SaloniHre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Inhalt

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Paola Ferruta Göttinnendämmerung – Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ulrike Schneider „Ein Freund ist ein köstliches Kleinod das man zu schäzen, zu hegen u zu pflegen wißen muß u auch weiß sobald man es wirklich besizt.“ – Der Briefwechsel von Henriette Herz und Ludwig Börne unter der Herausgeberschaft Ludwig Geigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Katrin Schreinemachers Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Hannah Lotte Lund / Ulrike Schneider / Ulrike Wels

Einleitung: Zehn Thesen – Für Henriette Herz – gegen den ,Salon‘

1. Henriette Herz und ihr Werk müssen im Forschungsdiskurs neu positioniert werden – Ein Plädoyer Die bisherigen Arbeiten zu Henriette Herz können nicht über die erstaunliche Tatsache hinwegtäuschen, dass zu einer Symbolfigur der jüdischen Aufklärung und der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, wie Henriette Herz sie darstellt, bisher wenig wissenschaftliche Zugänge bestehen. Mit diesem Band möchten wir daher neue Forschungsfelder zu Henriette Herz aufzeigen. Gegen die in wissenschaftlichen Abhandlungen und populären Darstellungen weit verbreitete Meinung, es gebe zu ihr nichts mehr zu entdecken, setzen wir neue Impulse, indem wir die Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume von Herz in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Mit der Schwerpunktverlagerung von der bloßen Symbolfigur hin zur Akteurin der Berliner Kultur- und Geistesgeschichte lässt sich das Bild von Henriette Herz um wesentliche Aspekte erweitern, und es werden weitere wichtige Zugänge zur sonst gut erforschten Literaturgeschichte um 1800 und zu deren Rezeption aufgeschlossen. Allerdings bleibt besonders die Zeit nach 1803 bzw. 1806, als sich Herz’ Lebenssituation nach dem Tod ihres Mannes und dem Verlust ihrer Witwenpension grundsätzlich änderte, immer noch intensiver zu betrachten. Viele Felder der zweiten Hälfte ihres Lebens, über 40 Jahre einer selbständigen, gut vernetzten und zeitlebens gesellschaftlich aktiven Intellektuellen, sind noch offen. Dazu zählen unter anderem ihre Berufstätigkeit als Übersetzerin und Erzieherin, ihr soziales Engagement und ihre religiöse Entwicklung, aber auch (Brief-)Freundschaften mit Mitgliedern der europäischen respublica litteraria, die in den Beiträgen dieses Bandes zum Teil erstmalig erörtert und vorgestellt werden. 2. Die problematische Quellenlage erfordert eine kritische Ausgabe der Schriften, Zeugnisse und Briefe von Henriette Herz Aus der Tatsache, dass Henriette Herz die überwiegende Zahl ihrer Autographe vernichtet hat, resultiert die Annahme, dass man von ihr kaum eigene Aussagen hören und lesen könne, dass ihre eigene Stimme nicht rekonstruierbar sei.

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Tatsächlich sind jedoch etliche Zeugnisse von ihr überliefert. Das beginnt mit der autobiographischen Darstellung ihrer Jugend und der ersten Jahre ihrer Ehe und setzt sich in vielen Briefen fort. Bei allen erhaltenen Quellen zeigte sich, dass sie einer neuen oder erweiterten Lesart bedürfen, bzw. teilweise noch zu erschließen sind. Beispiele dafür bilden in diesem Band die kritische Relektüre des Ehebriefwechsels der Humboldts und der Briefe an Immanuel Bekker oder das Hochzeitslied für Marcus und Henriette Herz. Schon ein Blick in die Handschriftendatenbank Kalliope verrät noch unedierte Einzelstücke von Marcus und Henriette Herz, und auch in Privatarchiven ist weiteres Material zu finden, so im Nachlass des Diplomaten und langjährigen Freundes Gustav von Brinckmann1 oder in den Familienpapieren der Nachfahren von Henriette Herz’ Jugendfreundin Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel.2 Auch in der Sammlung Varnhagen, die in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau aufbewahrt wird, könnten noch Dokumente zu finden sein. Bezüglich der vorliegenden Ausgaben ist Vorsicht geboten. Der Handschrift der Jugenderinnerungen3 und der eng daran orientierten Edition der Jugenderinnerungen von Henriette Herz4 ist zu trauen – J. Fürsts Kompilation Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen5 hingegen zu misstrauen. Das Problem des Manuskriptes von Henriette Herz ist, dass es sich auf ihre Jugend bis zum ersten Jahr nach der Eheschließung beschränkt und über den für die Nachwelt so reizvollen Zeitraum ihrer gesellschaftlichen Aktivität im sogenannten ,Salon‘ nicht berichtet. Nach ihrem Tod publizierte als vorgeblicher Herausgeber J. Fürst6 – zunächst in Form von Zeitungsessays, dann als Buch – die Erinnerungen, die er sich von ihr in die Feder diktiert haben lassen will. Sie liefern genau das, was mancher wünschte – vermeintliche Augenzeugenschaft zu wichtigen Zeitgenossen. Die Darstellung Fürsts war bereits kurz nach deren Erscheinen sehr umstritten,7 und die zweifelhafte Authentizität der von ihm herausgegebenen Memoiren ist von der Forschung immer wieder angemerkt worden.8 Dass es 1 Vgl. Brinkmanska Arkivet, im Privatbesitz, Trolle-Ljungby, Schweden. 2 Vgl. Sammlung Dopfer, im Privatbesitz. Informationen über: Mendelssohn-Gesellschaft, Berlin. 3 Die Handschrift befindet sich im Nachlass von Henriette Herz, der in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. 4 Jugenderinnerungen von Henriette Herz. In: Mittheilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin 5 (1896), S. 141–184. Online verfügbar unter: http://sophie.byu.edu/sections/jugend erinnerungen-von-henriette-herz [20.12.17]. 5 Fürst, J. (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 1850. Online verfügbar unter : http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10063788_ 00007.html. [26. 01. 2017]; 2., durchges. und verm. Aufl. Berlin 1858. 6 Die Identität dieses ersten selbsternannten Herausgebers ist noch nicht eindeutig geklärt. 7 Vgl. hierzu die Einleitung der Jugenderinnerungen (Anm. 4), S. 141–142. 8 Eine fundierte und konzise Darstellung der problematischen Editionsgeschichte der Jugenderinnerungen und der Fürstschen Erinnerungen unternahm Peter Seibert: Henriette

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immer noch wichtig ist, darauf aufmerksam zu machen, dass Fürsts Buch als Basis kritischer Untersuchungen nicht tragfähig ist, zeigt sich daran, dass sich bis heute die Neueditionen und auch wissenschaftliche Artikel auf diesen Text beziehen. Einzig Hans Landsberg9 hatte sich in seiner Ausgabe von 1913 an der kritischen Edition der Jugenderinnerungen von 1896 orientiert, allerdings die so wichtigen editorischen Zusätze leider nicht übernommen. Auch die jüngste, aufwendig gestaltete Ausgabe10 von Christian Döring und Rainer Schmitz, deren unzweifelhaft großes Verdienst es ist, zur Beschäftigung mit Henriette Herz anzuregen, zeigt in ihrer unkritischen Anlage den Konstruktionscharakter, dem das Bild von Henriette Herz bis heute unterliegt. Es ist wiederum eine Montage von Versatzstücken aus beiden Erinnerungs-Texten und den Briefen, wobei die Quellen oft unvollständig wiedergegeben und unzureichend nachgewiesen sind. Dem Projekt einer umfassenden kritischen Edition müssen neben der kritischen Neuedition des Manuskriptes der Jugenderinnerungen die verstreut publizierten Briefe von Henriette Herz beigegeben werden, auf deren mühevolle Recherche man aufgrund der problematischen Quellenlage zurückgeworfen ist. Aus einer kombinierten Werk- und Briefedition würde die Stimme von Henriette Herz viel detaillierter und klarer herauszuhören sein, als gemeinhin angenommen wird – und als es die bisherigen unkritischen Überlieferungen der Erinnerungen leisten. 3. Eine wissenschaftliche biographische Monographie zu Henriette Herz ist ein Desiderat der Forschung Bis heute existiert keine wissenschaftlich fundierte, modernen Forschungsansprüchen genügende Biographie zu Henriette Herz’ Leben und Werk. Dies steht in eklatantem Gegensatz zu ihrem Bekanntheitsgrad in vielen Bereichen der Berliner Kulturgeschichte um 1800. Der 2005 erschienene Roman von Klaas Huizing11 zehrt ohne nennenswerte inhaltliche Ergebnisse von Prominenz und Zeitgeist. Die Biographie von Udo Quak12 ist verlässlicher, aber rein deskriptiv

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Herz. Erinnerungen. Zur Rekonstruktion einer frühen Frauenautobiographie. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 41 (1989), H. 2, S. 37–50. Hans Landsberg (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Weimar 1913. Die Ausgabe enthält weiterhin Briefe aus ihrem Familien- und Freundeskreis. Reprint: Unveränd. Nachdruck der Ausg. Weimar 1913, Eschborn bei Frankfurt a. M. 2000. Christian Döring (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Neu ediert von Rainer Schmitz. Berlin 2013 (Die Andere Bibliothek Bd. 347). Klaas Huizing: Frau Jette Herz. Roman. München 2005. Udo Quak: Henriette Herz. „Glücklich schöne Stunden hatte ich“. Eine Biographie. Berlin 2014.

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und benutzt die problematische Kompilation von Schmitz aus dem Jahr 198413 als Quellengrundlage. Eine Grundlage für die bibliographische Arbeit zu Henriette Herz wurde mit dem umfassenden Artikel im Lexikon deutsch-jüdischer Schriftsteller bereits geleistet, der die Publikationen von 1824–2001 erfasst.14 Darüber hinaus gilt es jedoch, die geforderte kritische Ausgabe der Schriften von Henriette Herz zur Grundlage einer biographischen Darstellung zu machen. Nicht Romantisierung, gleich welcher Couleur, sondern der Rückgriff auf belastbare Quellen muss hierfür das Fundament liefern. 4. Für eine Neubetrachtung des Lebens und Werkes von Henriette Herz ist eine Lösung vom Begriff ,Salon‘ notwendig Paradoxerweise liegt ein wesentlicher Grund dafür, warum Henriette Herz so wenig erforscht wurde und der Legendenbildung anheimfiel, in ihrer Berühmtheit als ,SaloniHre‘ und den damit verknüpften Wertungen. Dem ist ein weiteres, nur scheinbares Paradox entgegenzusetzen: ,Berliner jüdische Salons‘ hat es um 1800 nie gegeben. Wie die kritische Forschung ausgiebig dargelegt hat,15 haben nicht nur die heute ,berühmten Berliner SaloniHren‘ sich selbst nie so genannt oder so gruppiert. ,Salon‘ selbst ist ein Forschungsbegriff, den die Berliner und ihre Gäste um 1800 zwar kannten, aber keineswegs auf ihre gesellschaftlichen Initiativen und Tätigkeiten anwandten. Die Gastgeberinnen hatten keine festen Begriffe für ihr Tun, sie sprachen von „ihrem Kreis“, einer „Soiree“ oder luden an ihren Teetisch, Rahel Levin Varnhagen bat auch zum „Nachtthee“, Henriette Herz zu Suppe und Kartenspiel. Von den Beteiligten wurden ihre Zusammentreffen bewusst offen gehalten und eher experimentell denn institutionell verstanden. Auch der Begriff ,jüdischer Salon‘ wird häufig mit dem Hinweis darauf, dass der Großteil der Berliner SaloniHren um 1800 jüdischer Herkunft war, weitergenutzt und ist so in doppeltem Sinne irreführend. Nach bisherigem Forschungstand weist er erstens einer zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe von neun

13 Rainer Schmitz (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Zeugnissen und Briefen. Leipzig 1984. (Erstauflage der in Anm. 10 nachgewiesenen Ausgabe). 14 Henriette Herz [geb. de Lemos] Hofräthin. In: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 11. Red. Leitung: Renate Heuer. München 2002 (Archiv Bibliographia Judaica). Der Artikel verzeichnet u. a. Quellenstandorte ihrer nachgelassenen Briefe (bis auf den Nachlass Brinckmanns), zählt und beschreibt 83 selbständige und teilselbständige Publikationen, die sich u. a. mit Herz beschäftigen. 15 Vgl. Barbara Hahn: „Der Mythos vom Salon. ,Rahels Dachstube‘ als historische Fiktion“. In: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Hrsg. von Hartwig Schultz. Berlin u. New York 1997, S. 213–234; Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische“ Salon um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin [u. a.] 2012 (Europäisch-jüdische Studien – Beiträge Bd. 1).

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bis zwölf Frauen16 den Status einer Institution zu, den sie zu Lebzeiten so nicht besaßen. Zweitens sagt er, nicht nur angesichts der Konversionen und Identitätsüberschneidungen, nichts über das Selbstverständnis der beteiligten Frauen und Männer aus. Wir plädieren daher dafür, den Begriff des ,Salons‘ in der Forschung längerfristig abzulösen und z. B. durch ,gesellige Formationen‘, Kommunikations-, Wissens- oder Handlungsräume zu ersetzen, weil diese Bezeichnungen die unterschiedlichen Formen, in denen solche Geselligkeit gelebt wurde, offener abbilden. 5. Gespräche haben einen fluiden Charakter und sind nicht rekonstruierbar Der Widerspruch vom schillernden Imago der ,SaloniHre‘ Henriette Herz einerseits und ihrer angeblichen Sprachlosigkeit andererseits illustriert ein grundlegendes Problem der sogenannten Salonforschung: Ein wesentliches Element der ,Salons‘, die Mündlichkeit, ist für immer verloren. Wenngleich Themen und Beteiligte eines Gesprächs aus Briefen vielleicht rekonstruierbar sind, die Sprachmelodie und der ,Originalton‘ – wie etwas gemeint war, oder aus welchen Zusammenhängen heraus etwas thematisiert wurde – sind es nicht. Aufgrund der extremen Heterogenität der Quellen und der Tatsache, dass deren Erfassung und Analyse bis auf den heutigen Tag dem Zeitgeschmack unterworfen geblieben ist, lassen sich, anders als die vielen kursierenden Legenden vermuten lassen, keine absoluten Aussagen zum ,Berliner Salon‘ treffen. Bei allen zeitgenössisch wie heute geläufigen Gleichsetzungen von Brief und Gespräch bleiben im Falle der ,Salonkommunikation‘ – vor allem mangels anderer Quellen – Briefe und Billets als Zeugen nur entfernte Verwandte der verlorenen Mündlichkeit. Es muss daher deutlich als Option formuliert werden: Briefe sind Medien, in denen persönliche Gespräche fortgesetzt werden können, in denen sich auch Diskurse niederschlagen können. Die hinterlassenen Briefe und Billets aus dem Netzwerk der Henriette Herz sollten nicht als „freye Nachahmung des guten Gesprächs“17 oder gar als reale Abbildung der Salonkommunikation gelesen werden, sondern als ein möglicher Zugang zu einem Kommunikationsraum.

16 Neun SaloniHren zählt Deborah Hertz in Berlin um 1800. Vgl. dies.: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt a. M. 1991, besonders Abbildung 11, S. 329f.; Neuere Forschungen verweisen auf mindestens drei weitere Gastgeberinnen jüdischer Herkunft. Vgl. Lund: Berliner Salon (Anm. 15). 17 Mit ganz verschiedenen Interpretationen dieser berühmten Formulierung Gellerts wird in der Forschung das Verhältnis von Brief und Gespräch um 1800 nach wie vor kontrovers diskutiert. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751, S. 2f.

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6. Sprache im ,Salon‘ ist nicht nur Verständigungsmittel, sondern ein vielschichtiges, mehrperspektivisches Kommunikationsmedium Die Sprache im Kommunikationsraum von Henriette Herz ist vielgestaltig. Sie schreibt, zitiert und paraphrasiert englisch und italienisch, sie spricht dänisch und liest spanisch, sie spielt mit dem hebräischen Idiom, macht es zur ,Geheimsprache‘ und benutzt es zum Scherz, spielt mit selbst übersetzten Zitaten und kommuniziert auf diese Weise mit ihren – zum Teil ähnlich mehrsprachig und mehrperspektivisch schreibenden – Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Obwohl man diesem Kommunikationsraum aufgrund seiner Mündlichkeit keine Dauer verleihen kann, wie einem Briefwechsel, einem Tagebuch, einem Gedicht, Drama oder Roman, verweisen viele Texte auf ihn als Inspirationsort, als Aushandlungsort von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Sprache wird so in ihren unterschiedlichen Bedeutungen zum Medium der Inszenierung. Im ,Salon‘ wie im Brief lassen sich Brücken bauen, über Humor, Klatsch oder gemeinsam erschriebene Themenwelten. Umgekehrt konnte auch das Nichtgespräch, das Schweigen ein kommunikatives Element enthalten, so wie Immanuel Bekker durch sein „Schweigen in sieben Sprachen“18 Henriette Herz Meisterstücke der freundschaftlichen Korrespondenz abnötigte. Diese Multiperspektivität der Kommunikation gilt es, in allen Forschungen zu Kommunikations-, Wissensund Handlungsräumen um 1800 mitzudenken – was einer Ablösung des eindimensionalen Begriffes des ,Salons‘ gleichkommt. 7. Die Handlungsräume der Akteurinnen müssen akzentuiert werden, um Unterschiede zu anderen Formen der Geselligkeit zu verdeutlichen Ein nationaler und internationaler Vergleich verschiedener ,Salonformationen‘ mag auf kulturgeschichtlicher Ebene darüber Aufschlüsse geben, welche historischen und biographischen Umstände – etwa Aufklärungsideen verpflichtete Eltern, Ehepartner oder Geschwister, die umfassende Bildung förderten, – zu dieser spezifischen Geselligkeitskultur beitragen konnten. Für die konkrete historische Situation der Berliner Frauen jüdischer Herkunft um 1800 ist der Begriff ,Salon‘ jedoch insofern irreführend, als er eine Ähnlichkeit der Lebenslage und des Handlungsspielraums suggeriert, die es zwischen einer französischen Hochadligen, einer außergewöhnlich reichen Frau der upper middle class Londons und einer nahezu rechtlosen jüdischen Tochter Berlins nicht gegeben hat. Die Frage nach Handlungs(spiel)räumen, Kommunikations- und Wissensräumen muss daher aus der Zeit heraus für jede Akteurin neu gestellt werden und sowohl externe Faktoren wie individuelle biographische Situationen mit einschließen. Hinweise können die zahlreichen Aussagen der beteiligten 18 Vgl. hierzu den Aufsatz von Selma Jahnke in diesem Band.

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jüdischen Frauen geben, die Kategorien der Anerkennung oder Diskriminierung thematisieren, gewichten und in Beziehung setzen. 8. Idealisierungen verzerren das Bild der Epoche An Henriette Herz’ Beispiel lässt sich zeigen, wie durch Quellenmangel bzw. kontroverse oder gesellschaftspolitisch motivierte Rezeptionsvorgänge ein Salonbild entstand, das bis in unsere Gegenwart hinein changiert und unser Bild einer Epoche der Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland prägt. Es existiert eine eigenwillige Wechselbeziehung zwischen Quellenlage und Literatur zum Thema ,Salon‘ insofern, als unbestätigte oder nicht vorhandene Informationen eine Legendenbildung nicht etwa verhindert, sondern ihr eher Vorschub geleistet haben. Schon bei einer oberflächlichen Bibliographie zum Thema wird offensichtlich, dass zwar die kritische Salonforschung solche Legenden hinterfragt, dass sie aber in anderen Arbeiten ungehindert fortgeschrieben werden. Nicht zuletzt solche verkürzenden Idealisierungen sind es, die bis heute Neugründungen von ,Salons‘ inspirieren, die sich auf Henriette Herz oder Rahel Levin Varnhagen berufen. In der Historiographie der deutsch-jüdischen Geschichte wurde der ,Berliner Salon‘ oft an prominenter Stelle für eine gelungene oder vergebliche Annäherung diskutiert. Eine wesentliche Rolle spielten bei dieser Beurteilung eine oft fälschlich angenommene Prominenz und eine Bedeutung der Salonteilnehmer, die in dieser überhöhten Form nicht bestanden hat. So wurde noch zu Lebzeiten von Henriette Herz – und seitdem kontinuierlich – der ,jüdische Salon‘ als Ort der Emanzipation diskutiert und von verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen als Symbol in Anspruch genommen, in positiver wie negativer Deutung. Nach dem Holocaust konnte die Geschichte der Juden in Deutschland nicht mehr ungebrochen erzählt werden. Bis in die 1960er Jahre überwog vor dem Hintergrund ihres Endes die Suche nach den Glücksmomenten deutsch-jüdischer Geschichte, ablesbar an der verwendeten Begrifflichkeit der „deutschjüdischen Symbiose“19. Ebenso wie Arbeiten der kritischen Salonforschung seit Ende der 1980er Jahre zunehmend den ,Mythos vom Salon‘ und seine Funktionen in der Historiographie zur Diskussion stellen, soll dieser Band dazu anregen, die Konstruktion der ,gebildeten schönen Jüdin im Salon‘ weiter zu hinterfragen.

19 Vgl. zum Begriff der Symbiose Adolf Leschnitzer : Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft. Heidelberg 1954, S. 104.

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9. Grenzüberschreitende Kommunikation ist nach 1806 nicht tot, sondern verändert ihr Format Neben der wiederholten Feststellung, dass es sich um ein in vielfacher Hinsicht grenzüberschreitendes Phänomen handelt, dessen inhaltliche und formale Offenheit sich Definitionsversuchen entzieht, stehen dennoch regelmäßig Definitionsversuche und Setzungen, was ein (echter) Salon gewesen sei und wie lange es ,echte Salons‘ gegeben habe. Ebenso wie dem „immer wieder erträumte[n] Idyll“20 Salon eine Vorurteilsfreiheit und Humanität eingeschrieben wurde, galt diese heterogene freie Geselligkeit mit dem (Wieder-)Einzug von Vorurteilen, mit dem beginnenden Nationalismus der Befreiungskriege als beendet. Die traditionelle Methode von Überblickswerken, zunächst Definitionskriterien eines ,echten‘ Salons zu entwerfen und anhand dieser das Phänomen durch die Geschichte zu verfolgen und zu werten, ist aus heutiger Sicht und angesichts des vorhandenen Quellenmaterials nachdrücklich zu hinterfragen. Es gilt, nicht ein Absterben zu konstatieren, sondern eine Veränderung der Formate innerhalb der Kommunikations-, Wissens- und Handlungsräume zu untersuchen. Statt nach einer spezifischen Geselligkeitsform zu suchen, wäre es so möglich, an den unterschiedlichen Formaten zwischen 1770 und 1850, die auch – aber nicht nur – in die Lebenszeit von Henriette Herz fallen, mit zum Teil denselben Beteiligten verschiedene Entwicklungstendenzen einer Gesellschaft abzulesen. 10. Forschung entsteht durch Austausch Die Aufsätze dieses Bandes versammeln die Beiträge und Diskussionen der Tagung anlässlich des 250. Geburtstages von Henriette Herz, die im Juni 2015 in Potsdam und Berlin stattfand. Wir freuen uns, dass die Diskussionen für die Beiträgerinnen und Beiträger anregend und fruchtbar waren – denn die vorliegenden Ausführungen gehen in vieler Hinsicht über das hinaus, was dort vorgetragen und diskutiert wurde. Im Sinne der Neueröffnung des Forschungsfeldes zu Henriette Herz sollen die Ergebnisse nicht wie in Stein gemeißelt verstanden werden, sondern Wegbereiter für Neues sein. Wir als Herausgeberinnen sehen uns als Anregerinnen weiterer Forschungen zu Henriette Herz. Wir wollen einer möglichst großen Vielfalt an Thesen Raum geben – auch und gerade wenn sie kontrovers sind –, damit sich daraus weitere fruchtbare Diskussionsansätze entwickeln können. Mit den hier versammelten Beiträgen ist dafür ein Anfang gemacht. Inwiefern neue Perspektiven auf die Kommunikationsräume um 1800 eröffnet werden können, die den diskutierten problematischen Begriffen reflektiert begegnen, 20 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 2001, S. 71.

Einleitung: Zehn Thesen – Für Henriette Herz – gegen den ,Salon‘

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verdeutlichen Hannah Lotte Lund und Anne Baillot, die den Band eröffnen. Ausgehend von bisher nur marginal erschlossenem Quellenmaterial zeigt Lund verschiedene, nebeneinander existierende, sich überschneidende Vergesellschaftungsformen im Haus Herz auf. Anne Baillot untersucht, wie Frauen im intellektuellen Umfeld Berlins agierten und macht dafür den Begriff des Netzwerkes fruchtbar. Durch dessen Abbildung ermittelt sie die spezifische Position von Henriette Herz im kulturellen und literarischen Feld um 1800 und darüber hinaus. Deborah Hertz entwirft eine neue Lebensskizze von Henriette Herz unter der Leitfrage, welche möglichen Erfahrungen zur Taufe führten. Sie diskutiert am Beispiel Ernst Moritz Arndts, wie es zur Freundschaft einer ,jüdischen Saloniere‘ mit einem antisemitischen Schriftsteller kommen konnte. Ausgehend von den geistesgeschichtlichen Wurzeln der Haskala vermitteln die Beiträge von Christoph Schulte, Eberhard Wolff, Uta Lohmann und Carsten Schapkow Einblicke in das jüdische Umfeld von Henriette Herz. Während Christoph Schulte die Frage nach der Bedeutung der Saloni8ren für die jüdische Haskala-Forschung stellt, und damit ein Desiderat aufdeckt, gibt Uta Lohmann einen Überblick über Schriften der Maskilim zur modernen jüdischen Mädchenerziehung zur Lebenszeit von Henriette Herz. Beide beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Erziehungspraxis in den jüdischen Familien Berlins, die erweiterte Rückschlüsse auf die Erziehung von Henriette Herz erlauben. Der von Henriette Herz in ihren Jugenderinnerungen wiederholt betonten sephardisch-jüdischen Herkunft ihres Vaters geht Carsten Schapkow in seinem Beitrag nach. Die Rekonstruktion des sephardischen Gemeindelebens in Hamburg nach der Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien und Portugal wird ergänzt durch wichtige Einsichten in die Rezeptionsgeschichte des sephardischen Judentums in der aschkenasischen bzw. deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung. Eberhard Wolff befragt in seinem Beitrag das Selbstverständnis von Marcus Herz als Jude sowie die Bedeutung des Judentums für seine Berufspraxis als Arzt. Den Schwerpunkt dieser Untersuchung bilden von Herz veröffentlichte Schriften als Mediziner, die einer Relektüre unterzogen werden. Mehrere Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit den deutsch-jüdischen und christlich-jüdischen Kommunikationsräumen in Berlin und mit deren Ausstrahlung nach Europa. Liliane Weissberg und Ute Tintemann eröffnen neue Perspektiven auf die Beziehung zwischen Henriette Herz und dem Ehepaar Wilhelm und Caroline von Humboldt. Während Liliane Weissberg die frühen Begegnungen von Henriette Herz und Wilhelm von Humboldt im Rahmen des von ihnen gegründeten ,Tugendbundes‘ nachzeichnet und kritisch reflektiert, legt Ute Tintemann den Aspekt auf die spätere Einordnung dieser Beziehung durch Wilhelm von Humboldt anhand des Ehebriefwechsels, sowie auf die freundschaftliche Beziehung zwischen Herz und Caroline von Humboldt während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Rom. Eine erstmalige genaue Bestim-

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mung des Verhältnisses zwischen Henriette Herz und Immanuel Bekker unternimmt Selma Jahnke. Dabei arbeitet sie nicht nur heraus, dass Herz eine charmante und sehr scharfsinnige Briefschreiberin war, sondern sie verdeutlicht mit ihrer umfassenden und genauen Lektüre des Briefwechsels, wie Herz ihr Konzept von Geselligkeit lebte, das auf dem Ideal von egalitärer Gemeinschaft gründete. Ulrike Wels zeichnet in ihrem Beitrag detailliert die religiöse Biographie von Henriette Herz nach. Ausgehend von der nach Herz’ eigenen Worten wenig prägenden religiösen Erziehung im Elternhaus verfolgt sie den Bekenntnisweg der kleinen Schritte, den Henriette Herz seit der Begegnung mit Friedrich Schleiermacher im Jahr 1797 gegangen ist und legt dar, dass dessen Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, nicht der einzige wichtige Orientierungspunkt für Herz’ weitere religiöse Entwicklung war. Über den Briefwechsel mit dem Rügener Freundeskreis und anderen Freunden, die Konversion im Jahr 1817, bis hin zur Niederschrift der Jugenderinnerungen in den zwanziger Jahren wird dieser Weg, der trotz des neuen Bekenntnisses ein Weg der Toleranz blieb, nachgezeichnet. Die Auseinandersetzung mit Schreib- und Rezeptionsweisen von und zu Henriette Herz bildet den Schwerpunkt der vierten Rubrik des Bandes, in der insbesondere Untersuchungen zum Bild der ,Schönen Jüdin‘, welches im 19. Jahrhundert zunehmend mit dem Namen von Herz assoziert wurde, problematisiert werden. Marjanne Gooz8 widmet sich in ihrem Beitrag einer Relektüre der Jugenderinnerungen von Henriette Herz, die sie mit einem Vergleich der von J. Fürst herausgegebenen Erinnerungen verbindet. Sie erörtert die von Herz und Fürst gewählten Darstellungsformen und befragt sie vor allem hinsichtlich der Gattungseinordnung als „Bekenntnisse und Memoire“. Die Tatsache, dass zu Henriette Herz mehrere Portraits aus verschiedenen Phasen ihres Lebens überliefert sind, lädt zu Fragen nach Repräsentationsformen des Jüdischen oder des Weiblichen ein. Diesem Ansatz folgt Anna-Dorothea Ludewig in ihrem Beitrag, indem sie das „Gesamtkunstwerk Henriette Herz“ unter dem Aspekt der Mythologisierung zur ,schönen Jüdin‘ betrachtet und dessen Etappen nachzeichnet. Paola Ferruta erweitert den Rezeptionsrahmen, indem sie Henriette Herz’ Anteil an der ,Mythologisierung‘ von Rahel Levin Varnhagen erörtert. Zugleich diskutiert sie die wenig bekannte, radikale ,Erhöhung‘ der Salonfrauen in der Philosophie der Saint-Simonisten und hinterfragt Motive der ,Selbsterhöhung‘. Der Briefwechsel zwischen Henriette Herz und Ludwig Börne unter der Herausgeberschaft von Ludwig Geiger steht im Zentrum des Beitrages von Ulrike Schneider. Die editorische Absicht Geigers, die Entwicklung Börnes zum Schriftsteller anhand dieser Briefe nachzuzeichnen, wird vor dem Hintergrund der Zuschreibungen untersucht, die Geiger in Bezug auf Henriette Herz unternimmt. Schneider problematisiert und hinterfragt Geigers Bild von Hen-

Einleitung: Zehn Thesen – Für Henriette Herz – gegen den ,Salon‘

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riette Herz, der ihr eine eigene Rede innerhalb der Briefzeugnisse nur bedingt zugestehen will. Zwei Beiträge konnten für diesen Band extra eingeworben werden. HansJürgen Rehfeld gibt einen Einblick in die für Herz so wichtigen Aufenthalte auf Rügen, welchen sie das enge Freundschaftsbündnis zum sogenannten Rügener Freundeskreis um Ehrenfried von Willich und seiner Frau Henriette verdankt. Michael Heinemann kehrt hingegen in die Jugendjahre von Henriette Herz zurück und widmet sich einer musikalischen Analyse des Hochzeitsliedes für Henriette und Marcus Herz unter dem Aspekt der Gelegenheitsmusik in Analogie zur Gelegenheitsdichtung. Desiderate bleiben die Untersuchung der Karikaturen zu Henriette Herz und die Untersuchung der Übersetzungen von Mungo-Parks Reisen im Innern von Afrika und Isaac Welds Reise durch die nordamerikanischen Freistaaten. Obwohl geplant, konnten wir hierzu leider keine Beiträger gewinnen. Zur weiteren Forschung anzuregen, ist unser Anliegen.

Danksagung Im Sinne der in diesem Band so weiträumig besprochenen Kommunikationsund Diskussionskultur möchten wir uns bei allen Institutionen, Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung bedanken, die die Tagung ermöglicht haben. Uns ist bewusst, dass Gesprächskultur nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs funktionieren kann, sondern finanzieller, räumlicher und personeller Unterstützung bedarf. Aus diesem Grunde danken wir ganz herzlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Einstein Stiftung/ Einstein Foundation Berlin und der Moses Mendelssohn Stiftung für die großzügige finanzielle Förderung, dem Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam, der Mendelssohn Gesellschaft Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Kooperation sowie der Universität Potsdam und dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg als den Veranstaltern der Tagung. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Dr. Günter Stock und Prof. Dr. Christina von Braun für ihre Unterstützung des Antrages, sowie ihnen, Prof. Dr. Sina Rauschenbach und Prof. Dr. Stefanie Stockhorst, für ihre Gast- und Eröffnungsreden. Wir danken den Moderatorinnen und Moderatoren der Tagung, Prof. Dr. Irmela von der Lühe, Prof. Dr. Joachim Rees, Dr. Elke-Vera Kotowski, Dr. Irene Dieckmann, Dr. Yael Kupferberg, Dr. Elke Lösel und natürlich vor allem den Rednerinnen und Rednern der Tagung, den diskussionsfreudigen Zuhörerinnen und Zuhörern und den beiden Beiträgern, die sich bereit erklärt haben, zusätzliche Artikel für den Band zu schreiben. Für Druckkostenzuschüsse danken wir der Einstein Stiftung/ Einstein Foundation Berlin, dem Lehrstuhl Frühe Neuzeit der Uni-

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versität Potsdam und der Potsdam Graduate School (PoGS). Großer Dank gebührt den studentischen Hilfskräften Anne Fennert, Felix Knode und Katrin Schreinemachers, wobei letzterer unser ganz besonderer Dank für die unermüdliche und verantwortungsvolle Einrichtung der Manuskripte und die Recherche der Bibliographie gilt. Für die Bereitstellung von Abbildungen danken wir der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, dem Kupferstichkabinett Berlin, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut Essen. Für die Aufnahme in die Reihe Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam danken wir dem FrühneuzeitZentrum Potsdam, für die Begleitung der Drucklegung den Mitarbeiter/Innen vom Verlag V& R unipress. Potsdam, Berlin, Frankfurt/ Oder im Januar 2017

Netzwerke und Vergesellschaftungsformen

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„ich habe so viele sonderbare Menschen hier“ – Vergesellschaftungsformen im Hause Herz der 1790er Jahre Wenn es Ihnen[!] einfällt, kommen sie noch Nachts um 11 u. 12 zum Thee zusammen, holen die Fehlenden aus den Betten u. treiben mancherlei Unfug. (Ein Zeitgenosse über die ,Berliner Salons‘ 17971) Das Personenverzeichnis der Erinnerungen liest sich wie ein Who’s who der geistigen und politischen Eliten. (Aus der Ankündigung der Henriette Herz Ausgabe 20132)

Wer sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem geselligen und kommunikativen Geschehen in jüdischen Häusern Berlins um 1800 ernsthaft beschäftigt, steht vor der ebenso nötigen wie undankbaren Aufgabe, an liebgewordenen Legenden zu kratzen. Dabei schmälert eine quellenbasierte Hinterfragung des Topos ,Jüdischer Salon‘ keineswegs die Strahlkraft dieses Phänomens, geschweige denn die Leistungen der sogenannten Salonfrauen – im Gegenteil. Ein Anliegen der Konferenz, dieses Bandes wie dieses Beitrages ist es, mittels einer Neubetrachtung aus der Perspektive der Beteiligten die tatsächlichen Handlungs-, Wissens-, und Kommunikationsräume von Henriette Herz auszumessen, statt durch eine Definition und Brille nachlebender Forschung zwischen ,Salon‘ und ,Nichtsalon‘, ,berühmter SaloniHre‘ oder Autorin zu unterscheiden. Die Frage, der dieser Beitrag exemplarisch nachgeht, ist, in welcher personellen Konstellation sich Henriette Herz in einem historischen Moment bewegte, und welche Aussagen sich aus den Quellen über ihren Umgang ableiten lassen. Angesichts des nahezu pawlowschen Reflexes – Wer ,Henriette Herz‘ sagt, muss ,Salon‘ und ,berühmt‘ sagen und umgekehrt –, steht dieser Untersuchung eine kurze kritische Evaluation dieses Doppelbilds voran.

1 Brief von Johann Daniel Sander an Carl August Böttiger vom 14. Januar 1797. In: Johann Daniel Sander : Die Briefe Johann Daniel Sanders an Carl August Böttiger. 4 Bde. Hrsg. von Bernd Maurach. Bern [u. a.] 1990–93, hier Bd. 2, S. 86f. Sander betonte mehrfach, dass er sich eine Einladung wohl verschaffen könne, aber nicht wolle „weil die ganze Clique in so üblem Rufe steht, daß keine rechtlichen Menschen unter sie kommen dürfen.“ Ebd. 2 http://www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Henriette-Herz-in-ErinnerungenBriefen-und-Zeugnissen::630.html [15. 11. 2016].

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Wider das Gerede vom ,Salon‘ – Eine Bemerkung zur Forschungskritik Der Teetisch verschwand, es kamen die Bücher. Die erinnernde Rekonstruktion des Berliner Salons setzte ,noch zu seinen Lebzeiten‘ ein. Eine Bibliographie zum Topos ,Berliner (jüdischer) Salon um 1800‘, ebenso wie zu einzelnen Gastgeberinnen und Gästen, auch die hier entstandenen Werke diskutierend, wäre ein eigenes Forschungsprojekt. Allein die Sekundärliteratur zu Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) füllt einen Bücherschrank. Reich an Extremen und leidenschaftlichen Inanspruchnahmen durch verschiedene gesellschaftliche Bewegungen in den letzten 200 Jahren, birgt die Rezeptionsgeschichte der Berliner Salons explosive Widersprüche. Rahel Levin Varnhagen wurde wechselweise als Leitfigur der Frauenbewegung, der jüdischen Emanzipation und der vom ,männlichen Kanon‘ vernachlässigten Schriftstellerin betrachtet, Henriette Herz als Initiatorin des Goethe-Kults ebenso wie als Romantikerin gerühmt. An beiden wird eine paradoxe Wechselbeziehung zwischen Quellenlage und Literatur zum Thema Salon insofern deutlich, als die höchst heterogene Überlieferung – im Falle Herz das scheinbare Missverhältnis von bildlichen und textlichen Zeugnissen – eine Legendenbildung auch in der Forschung nicht verhindert, sondern ihr eher Vorschub geleistet haben: Rezipienten wurden scheinbar weniger irritiert, sondern angefeuert durch die Tatsache, dass die Protagonistinnen der Salons selbst keine zusammenhängenden Erinnerungen oder Interpretationen, nicht einmal Bezeichnungen ihres Tuns hinterlassen haben. Die Rezeptions- und Forschungsgeschichte zum ,Berliner Salon‘ ist in den letzten Jahrzehnten von so widersprüchlichen Tendenzen geprägt, dass man zumindest für Berlin formulieren könnte, dass der ,Jüdische Salon‘ gleichzeitig de- und rekonstruiert wird. In jüngerer Zeit kommt es zur Rückbindung des Themas in andere Forschungszusammenhänge, zum Beispiel in die historische Geselligkeits- oder regionale Sozietätsforschung, wodurch der Salon zu einem geselligen Experiment unter vielen um 1800 werden könnte. Die Vergleichbarkeit ist aber begrenzt durch den – nicht immer eingestandenen – Unterschied zwischen der retrospektiven Setzung dessen, was ein Salon sei, im Unterschied zu historisch gewachsenen, selbstbenannten Gesellschaften und Vereinen.3 Auch der Forschungsstand zu den heute als Berliner SaloniHren gleich berühmten und oft gereihten Frauen ist denkbar heterogen. Im Falle Rahel Levin 3 Die Forderung eines genaueren Vergleichs der Geselligkeitsformationen um 1800 stellte Ulrike Weckel bereits 1990. Vgl. dies.: A Lost Paradise of a Female Culture? Some Critical Questions Regarding the Scholarship on Late Eighteenth- and Early Nineteenth-century German Salons. In: German History 18 (2000), H. 3, S. 310–336.

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Varnhagens sehen sich Forschende mit verschiedenen Werkeditionen und darauf aufbauenden Interpretationen und Dissertationen konfrontiert,4 während zu Marianne Meyer Eybenberg (1770–1812) bis heute keine Biographie existiert, auch kein Bild, dafür aber zwei konkurrierende Todesdaten. Für die Zeit um 1800 müssen die beiden Frauen, zeitgenössischen Quellen nach, jedoch als vergleichbar anziehende Gastgeberinnen und gleichermaßen bekannt gelten, ebenso wie Henriette Herz. Für diese gilt, trotz fortdauernder Prominenz und trotz der jüngsten sehr umfänglichen Ausgabe zu Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen, dass ihre eigene Stimme bis heute keine Priorität hat. Dabei lassen sich die Publikationen von und zu ihr bis zum Jahr 2000 hervorragend aus dem umfassenden bibliographischen Artikel im Lexikon deutsch-jüdischer Autoren erfassen.5 Der Autorinnenstatus, der ihr hier zugesprochen wird, beruht faktisch wesentlich auf ihrem Memoirenfragment und ihren Übersetzungen. Dass diese Arbeiten von Henriette Herz, die zeittypisch anonym erschienen, deren Autorschaft aber im 19. Jahrhundert durchaus bekannt war,6 heute wieder weniger bekannt sind, kann der Langlebigkeit des Klischees ,weiblicher Zurückhaltung‘ geschuldet sein, aber durchaus auch als ein Ergebnis der Salon-Forschung gelten, in der ihr ganzes Leben nach dem Tod ihres Mannes fast komplett unbeachtet geblieben ist. Attraktiver als wirkliche und noch vorhandene Quellen scheinen bis heute Wiederauflagen und Zusammenschnitte ihrer sogenannten Erinnerungen, die nicht von ihr geschrieben sind, aber viele prominente Namen enthalten. Henriette Herz hatte spät im Leben Jugenderinnerungen zu schreiben begonnen, die sie jedoch abbrach bevor die Schilderung ihres geselligen Lebens einsetzt. Darauf und auf angeblichen Gesprächen mit ihr aufbauend hatte kurz nach ihrem Tod ein Autor J. Fürst eine Ausgabe ihrer Erinnerungen zusammengestellt. Schon Zeitgenossen kritisierten den Text als in vielen Aspekten „verschoben, zurechtgemacht oder gräßlich verstümmelt“. Hans Landsberg, ein vorsichtiger Herausgeber, der 1913 diese Erinnerungen noch erhaltenen Origi4 Grundlegend für die aktuelle Forschung ist die kritische Edition der Briefwechsel Rahel Levin Varnhagens durch ein Forscherinnenteam, geleitet von Barbara Hahn. Vgl. Edition Rahel Levin Varnhagen. Hrsg. von Barbara Hahn u. Ursula Isselstein. München 1997ff. Bisher sind 3 Bände erschienen. 5 Anonym: ,Henriette Herz [geb. de Lemos] Hofräthin‘. In: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 11: Hein–Hirs. Red. Leitung Renate Heuer. München [u. a.] 2002 (Archiv Bibliographia Judaica), S. 158–167. Der Artikel verzeichnet auch Quellenstandorte ihrer nachgelassenen Briefe, außer Brinckmanns Nachlass, zählt und beschreibt 83 selbständige und teilselbständige Publikationen, die sich zumindest partiell mit Herz beschäftigen, von 1824 bis 2001. 6 Vgl. dazu z. B. den handschriftlichen Eintrag in der Staatsbibliothek zu Berlin auf der Karteikarte: Mungo Park, Reisen im Inneren von Afrika auf Veranlassung der afrikanischen Gesellschaft in den Jahren 1795 bis 1797 unternommen, aus dem Englischen, durch Henriette Herz, geb. de Lemos, mit sechs Kupfern, Berlin 1799.

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nalen gegenüberstellte, nannte es „eine freie und oft recht willkürliche Bearbeitung des […] heute zum größten Theil verschwundenen Materials“,7 die nichtsdestotrotz bis heute in zahlreichen schön gestalteten Ausgaben als ,Original‘-Ton Herz’ verkauft und gelesen wird. Henriette Herz ist ein Beispiel dafür, wie die (oft nur angenommene) Prominenz einer Figur in der Historiographie der so genannten deutsch-jüdischen Geschichte die Deutung von Strukturen im Nachhinein beeinflusst hat. AutorInnen, deren Fokus auf dem Verlust jüdischer Identität im ,langen 19. Jahrhundert‘ lag, sahen im Salon ein illustres Beispiel verfehlter Anbiederung. Eine wesentliche Rolle spielten bei dieser Beurteilung ein oft fälschlich angenommener Einfluss des Salons, etwa wenn Leon Poliakov „Henriette Herz [als] die Madame du Deffand des ganzen philosophischen und literarischen Berlin“8 darstellte. Ebenso streitbar ist die Interpretation der Konversionsrate im Umfeld der Salons.9 Jahrhundertelang wurde den Salonfrauen ein Einfluss auf die Konversionswilligkeit ihrer Umgebung klagend oder rühmend zugesprochen, der ihrer gesellschaftlichen Stellung keineswegs entsprach. Außerdem fiel die Taufnahme nicht mit der sogenannten ,Hochphase‘ der Salons zusammen, da die prominentesten der Salonfrauen spät im Leben die Taufe nahmen, Henriettes Jugendfreundin Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel (1764–1839) die Taufe sogar unter Gefährdung ihres Rufes viele Jahre ablehnte, Henriette Herz selbst bis nach dem Tod ihrer Mutter und bis ins 53. Lebensjahr wartete. Die Frage nach dem Motiv der Taufnahmen ist dabei relativ jung in die Debatte gekommen, so dass, während ältere Interpreten oft noch einen wenn auch entschuldigenden Aspekt der Verführung der Salonfrauen durch männliche Denker einbringen,10 neuere Arbeiten eher dazu tendieren, den Frauen eine eigenständige religiöse Entwicklung zuzugestehen.11 Eine wissenschaftliche Monographie zu der religiös-spirituellen Entwicklung Henriette Herz’ steht noch aus.12 7 Vgl. Hans Landsberg: Vorwort. In: Henriette Herz: Henriette Herz, Ihr Leben und ihre Zeit. Hrsg. von Hans Landsberg. Reprint der Ausgabe von 1913, Eschborn 2000, S. V–VII., hier S. V–VI. Landsberg zitiert als Zeitgenossen Karl August Varnhagen ohne Quellenangabe. 8 Leon Poliakov : Geschichte des Antisemitismus. Bd. V: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz. Worms 1983, S. 224. 9 Dieselben Faktoren wurden auch in antisemitischer Darstellung als Argumente für die Gefährlichkeit der „Drahtzieher“ im Salon als Ort einer „großen Verschwörung“ angeführt. Fervers, Kurt: Berliner Salons. Die Geschichte einer großen Verschwörung. Struckum 1989, S. 19. 10 Die Annahme einer „inneren Leere“ ist angesichts des recht umfänglichen Briefbestandes für die Zeit nach der Taufe Herz’, der auf intensive Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben deutet, vor allem der Lesefaulheit einiger Forschender geschuldet. 11 Katz beispielsweise meinte, dass die SaloniHren romantisches Gefühl mit Christentum gleichsetzten bzw. sich davon zu Christen hingezogen fühlten. Jakob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. Aus dem Englischen von Wolfgang Lotz. Frankfurt a. M. 1986, S. 136. Noch Michael A. Meyer schätzt die Bedeutung

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Die kritischere Herz-Forschung, namentlich mehrere Arbeiten Liliane Weissbergs und Marjanne E. Gooz8s, konzentierte sich markanterweise auf die Körpersprache und Repräsentation von Henriette Herz.13 Die Tatsache, dass mehrere Portraits aus verschiedenen Phasen ihres Lebens überliefert sind,14 lädt tatsächlich zu Fragen nach Repräsentationsformen des Jüdischen oder des Weiblichen ein, die auf der Konferenz 2015 auch ausführlich diskutiert wurden.15 Ihrem Bekanntheitsgrad zum Trotz gibt es wenig relevante neuere biographische Arbeiten, der 2005 erschienene Roman von Klaas Huizing16 zehrt nur von Prominenz und Zeitgeist. Muss man annehmen, dass die zweite Hälfte des Lebens der Henriette Herz, vier vom Kampf um Selbständigkeit und eine eigene religiöse Identität geprägte Jahrzehnte, für Forschung und Biographik anscheinend unattraktiv war, so dass sie bis heute nicht in allen Details bekannt ist? Wesentlich für die Interpretation ist natürlich die vergleichbar geringe Quellenzahl angesichts des langen Lebens. Ausgehend von der von Anne Baillot in diesem Band skizzierten Problematik, von heterogenen Quellen und immer subjektiven Ego-Dokumenten auf Netzwerkstrukturen zu schließen, wäre ein Annäherungsversuch in Form von Momentaufnahmen denkbar. Dieser könnte darin bestehen, die geselligen Strukturen eines relativ dicht überlieferten his-

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Schleiermachers für die Taufe Henriette Herz’, und Fichtes für die Christianisierung Rahel Levin Varnhagens als hoch ein. Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. München 1994, S. 127f. Deborah Hertz betont hingegen die komplexen Strategien und Kämpfe der Frauen, persönliche Entscheidungen und Familieninteressen bewusst zu verbinden. Deborah Hertz: How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin. New Haven [u. a.] 2007, bes. S. 146–148. Als neuen überzeugenden Weg der Motivforschung siehe v. a. den Beitrag von Ulrike Wels in diesem Band. Liliane Weissberg: Weibliche Körpersprachen. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jutta Dick u. Barbara Hahn. Wien 1993, S. 71–92; Marjanne E. Gooz8: The doubled self-representation of Henriette Herz. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz 18 (2006), S. 13–33. Vgl. die Beiträge beider in diesem Band. Am bekanntesten ist Anna Maria Therbuschs Portrait „Henriette Herz als Hebe“ von 1778 (Nationalgalerie zu Berlin). Daneben existieren unter anderem ein Gemälde von Anton Graf von 1792, Zeichnungen von Wilhelm Hensel und Gottfried Schadow. Vgl. den Beitrag von Anna-Dorothea Ludewig in diesem Band. Hier ist auch an einen wenig bekannten Aufsatz von Martin Davies zu erinnern, der die Bilddokumente besonders vielschichtig mit den textlichen Zeitzeugen konfrontiert. Martin L. Davies: Portraits of a Lady. Variations on Henriette Herz. In: Women Writers of the Age of Goethe 5 (1993), S. 45–65. Klaas Huizing: Frau Jette Herz. Berlin 2005.

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torischen Moments anzusehen und auf die Faktoren zu befragen, die den Handlungsspielraum zu diesem Zeitpunkt bestimmten. Das wäre auch entsezlich wenig mir mit Christlicher Liebe die Hand zu küssen wenn ich Sie G. sehen lasse. Im Ernst lieber B. ich weiß noch kein Wort von G. es wäre mir fatal wenn er diesen Abend zu mir käme, ich habe so viele sonderbare Menschen hier. (Henriette Herz an Gustav von Brinckmann, 1793, ungedruckt, Brinkmanska Arkivet, Trolle-Ljungby17) Die bestimmten Gesellschafts- und Theatertage, die mehrere der Freunde haben, welche ich gerne mögte Theil nehmen laßen, machen den Montag in der nächsten Woche wenigstens, als den einzigen freien Tag. Den 26 t 9br 28. Ich werde alle gegen 6 Uhr bestellen (Henriette Herz an Moritz Veit, 1828, ungedruckt, Goethe-und-Schiller Archiv, Weimar18)

Wie die zitierten ungedruckten Billets andeuten, ist diese Annäherung eine, die sich für verschiedene Momente des Lebens der Henriette Herz vornehmen ließe und durchaus lohnte, um endlich der salonimmanenten VIP-Falle zu entgehen, 60 Jahre geselliges, gesellschaftliches, intellektuelles und soziales Engagement gleichsam in der vielbesungenen Teemaschine auf zwei Reihen heute prominenter Namen einzudampfen. Keineswegs, soviel lässt sich jetzt schon sagen, war Henriette Herz’ geselliges Engagement, ihre Rolle als Gastgeberin und Netzwerkerin mit dem Tode ihres Mannes beendet und möglicherweise offenbart ein Blick in die Quellen, dass zur dahinterliegenden Arbeit am Kommunikationsraum Salon mehr gehörte als gebildete Schönheit. Das Plädoyer dieses Beitrags geht dahin, statt Definitionen wie ,echte Salons‘ und ,Doppelsalon‘ posthum an die Berliner Geselligkeitsgeschichte heranzutragen, in die Zeit selbst hinein zu schauen und anhand des überaus reichlichen, noch ungedruckten Materials von Henriette Herz und ihren Gästen, Freunden und Kritikern (und aus so entlegenen oder weniger entlegenen Gebieten wie der Sammlung Varnhagen in der Biblioteka Jagiellonska in Krakjw, der Sammlung Brinkmann im schwedischen Ljungby oder dem Nachlass der Henriette Herz im Archiv der BBAW) zu urteilen. Es entsteht ein weitaus bunteres, ambivalenteres, spannenderes Bild eines Nebeneinanders der Geselligkeitsformationen und der Generationen. 17 Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 3. Mai 1793, ungedruckt. In: Brinkmanska Arkivet [Nachlass Gustav von Brinckmanns]. Trolle Ljungby Schweden. Konvolut H, im Folgenden abgekürzt als: BA [Konvolut Kennbuchstabe]. 18 Brief von Henriette Herz an Moritz Veit, ungedruckt. In: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Nachlass Veit Elkan, GSA 151/312: Egg Briefe An Moritz Veit.

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,Offenes Haus‘ – Gesellige Formationen in Bewegung Hr. Marcus Herz, Doktor der Arzneygelahrtheit, Hofrath und Leibarzt des Fürsten von Waldeck. Er ist durch philosophische und medicinische Schriften berühmt. Er wohnt in der Spandauerstraße. (Friedrich Nicolai: Jetztlebende durch Schriften bekannte Gelehrte. 178619)

In der Forschungsliteratur werden dem Salon Herz zwei Besonderheiten attestiert: Er gilt als der ,erste echte‘ Salon Berlins und wird gelegentlich als ,Doppelsalon‘ bezeichnet, bei dem Ehemann und Ehefrau zwei verschiedene Zirkel nebeneinander in verschiedenen Zimmern geleitet haben sollen. Statt der Verwendung von retrospektiven Schlagworten ist es historisch allerdings korrekter, auf den Umstand hinzuweisen, dass Marcus Herz (1747–1803), Arzt und Philosoph, bereits als Junggeselle seit etwa 1777 vor Personen verschiedenen Standes, Juden und Nichtjuden, in seiner Privatwohnung Vorträge und Vorlesungen gehalten hat und diese Tätigkeit auch als verheirateter Mann fortsetzte.20 Während der Salon von Henriette Herz erst in der nachfolgenden Forschung als ,Institution‘ galt, wurde ihr Mann bereits in der zeitgenössischen Stadtbeschreibung zu den „jetztlebenden Gelehrten“ gezählt und seine Vorlesungen wurden in der Berliner Tagespresse angekündigt.21 Die Idee des Doppelsalons ist in der Forschung mit einem Nebeneinander des Geschmacks und der Umgangsformen verbunden, oft stilisiert zu einer räumlichen und ideellen Trennung zwischen den Vertretern der Aufklärung, die sich um den Hausherrn versammelten, und eher gefühlsbetonten Dichtern, je nach Salonbericht Goe19 Nicolai, Friedrich: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten. Nebst einem Anhange, enthaltend die Leben aller Künstler, die seit Churfürst Friedrich Wilhelms des Großen Zeiten in Berlin gelebet haben, oder deren Kunstwerke daselbst befindlich sind. Dritte völlig umgearbeitete Auflage, 3 Bde. Berlin 1786, hier Bd. 3: Anhang, S. 9. Ein Druckfehler ist im Original überliefert: „Er ist durch pholosophische[!] und medicinische Schriften berühmt. Er wohnt in der Spandauerstraße“. 20 Jahresangabe nach Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 49. Zur Biographie von Marcus Herz Martin L. Davies: Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit 1995 sowie, vor allem zu Herz’ Tätigkeit als Arzt: Christoph Maria Leder : Die Grenzgänge des Marcus Herz. Beruf, Haltung und Identität eines jüdischen Artes gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Münster [u. a.] 2007 (Münchner Beiträge zur Volkskunde Bd. 35). Vgl. auch den Aufsatz von Eberhard Wolff in diesem Band. 21 Zum Beispiel 1784: „Herr Dr. Herz wird heute mit seinen Vorlesungen über die Experimentalphysik den Anfang machen und sie den Winter über zweymal wöchentlich fortsetzen, Montags und Donnerstags von 5 bis 7 Uhr Abends“. Königlich privilegirte Berlinische Staats- und Gelehrte Zeitung, 142stes Stück, Donnerstag, den 25. November 1784. Die Anzeige erschien im selben Wortlaut auch in den „Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen“ und im „Neuen Berliner Intelligenzblatt“. Vgl. auch das Eingangszitat von Nicolai.

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theverehrer oder Romantiker, im Salon der Hausherrin. Diese Vorstellung wird an den Erinnerungen des Bildhauers Johann Gottfried Schadow (1764–1850) festgemacht, der in den 1780er Jahren im Hause Herz verkehrte und von dem zitiert wird, dass Marcus Herz an Gesellschaftsabenden junge Ärzte, Gelehrte und Staatsmänner um sich versammelt habe, hingegen „im Salon der Hausfrau daneben […] zugleich mehrere jüngere Männer, der deutschen Dichtkunst ergeben [waren].“22 Diese Formulierung stammt allerdings aus dem Jahr 1849 und nachweislich von einem begabten Anekdotenerzähler.23 Liest man das Zitat komplett, erfährt man, dass der Hausherr „leidenschaftlich Raucher“ war und deshalb in seinem Zimmer geblieben sei. Eine vielbenutzte Zwischentür ist dann durchaus denkbar. Fragen Sie die Prächtig-Äugige, ob ihr der Mittwoch Mittag recht ist. H wird schon auch wollen, obschon er sich vorgenommen hat in 14 Tagen nicht einmal zur Stadt zu kommen. er ist aber so gut und ist so gerne gefällig dass er gewiß seinen Vorsaz ändert. Sagen Sie es auch Burgsdorf und sich dass ich Sie zu kommen bitte. H. (Henriette Herz in Berlin an Gustav von Brinckmann in Berlin, über Wilhelm vom Humboldt in Tegel, 21. August 1795) B.[urgsdorf] küsst Ihnen die Hände und freut sich wie ein Kind auf Ihre Bekanntschaft. Nüchtern wird er wohl bis dahin noch nicht sein, denn jetzt ist er so berauscht wie möglich. (Gustav von Brinckmann in Berlin an Rahel Levin Varnhagen in Karlsbad, über Wilhelm von Burgsdorf, 21. August 1795) Auch werden unsere jungen Freunde vor Gewalt dümmer, und da sich jetzt keiner mit ihrer Erziehung abgiebt, so wachsen sie auf, wie die gemeinsten Menschen.–.Komm recht gesund zurück! Dein treuer Bruder. M. Lewin. (Markus Levin in Berlin, an Rahel Levin Varnhagen in Karlsbad, über Gustav von Brinckmann, Nachschrift in dessen obigem Brief, 21. August 1795) Nur bin ich in einer sehr gestörten Lage gewesen. […] Ich wünschte herzlich, ich wäre wieder bei Ihnen. (Wilhelm von Humboldt in Tegel an Friedrich Schiller in Jena, 21. August 1795) 22 Johann Gottfried Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten. Ein Quellenwerk zur Berliner Kunst- und Kulturgeschichte zwischen 1780 und 1845. Hrsg. von Götz Eckardt. 3 Bde. Berlin 1987, hier Bd. 1, S. 15f. 23 Dabei wird der Quellenwert dieser Erinnerungen keineswegs in Abrede gestellt. Wie der Herausgeber aber bemerkt, wurden die Erinnerungen inklusive der hier zitierten Vorrede im Abstand von 60 Jahren zum Ereignis formuliert. Für die Jahre vor 1800 standen dem Künstler als Erinnerungsstütze nur Ausgabenbücher, keine Tagebücher zur Verfügung. Insofern ist Schadows Vorrede der Tendenz nach sicherlich, im Detail nur bedingt historisch zuverlässig. Vgl. Götz Eckardt: Zur Entstehungsgeschichte der „Kunstwerke und Kunstansichten“ und des Tafelbandes. In: Johann Gottfried Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten (Anm. 21), hier Bd. 3, S. 837–848.

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Bemerkenswerterweise gibt es aus der sogenannten Hoch-Zeit der Berliner Salons, speziell zwischen 1792 und 1798, keine überlieferten Autographen und keine gedruckten Briefwechsel der ,berühmten SaloniHre‘ Henriette Herz – mit Ausnahme ihrer ungedruckten Billets in der Sammlung Brinckmann und eines einzigen gedruckten Briefes von Alexander von Humboldt (1769–1859).24 Nimmt man aber eines dieser wenigen Billets und erweitert das Bild durch Einbeziehung von Texten der darin genannten Personen, erschließt sich ein lebendiges kommunikatives Netz: An ein und demselben Tag, dem zitierten 21. August 1795, bat Henriette Herz per Billet Gustav von Brinckmann (1764–1847) zu sich zum Tee, der gerade im Haus der Levins weilte. Dort nutzte dieser eben den Schreibtisch des Hauses, um der abwesenden ,SaloniHre‘, Rahel Levin Varnhagen, brieflich Wilhelm von Burgsdorf (1772–1822) als einen neuen Gast anzutragen. Sie las dann in Karlsbad nicht nur von dem Befinden Burgsdorfs, sondern – im selben Brief – von ihrer Familie. Ihr Bruder teilte das Papier mit seinem Gast, um von den Kindern zu berichten. Währenddessen erörterte Humboldt Schiller brieflich seine Pläne, nannte seinen Aufenthalt in Preußen „sehr gestört“,25 unter anderem nämlich durch die Einladungen in die Stadt, denn auch er war von der Herz zum Tee gebeten und konnte, wie diese ahnte, nicht widerstehen. Um Brinckmann zu locken, bot Henriette Herz ihm Gelegenheit, eine von ihm verehrte Frau anzusprechen, die „prächtig-äugige“ Friederike Unzelmann (1769–1859). Er sollte die Einladung mündlich weitergeben und sie gleich mitbringen. Die Unzelmann war wiederum eine enge Freundin von Rahel Levin Varnhagen. Eine solche Billetdichte zu einem Tag ist eingestandermaßen nicht selbstverständlich in der Überlieferung des ,Salon Herz‘. Aber der Befund als solcher lässt sich für die 1790er Jahre und für beide Eheleute verallgemeinern: Aus der Sicht der Teilnehmenden waren Marcus und Henriette Herz aktive Agenten gemischter Geselligkeit innerhalb und außerhalb ihres Hauses. Henriette Herz selbst sprach für die ersten Jahre ihrer Ehe eher allgemein von einer wöchentlich sich zusammenfindenden ,Lesegesellschaft‘ beim Kastellan Bauer, sowie von viel Besuch aufgrund der Vorlesungen ihres Mannes26 : „H. ward mehr u. mehr als guter Arzt bekandt u. las philosophische Collegia, dadurch kamen viele u. be24 Vgl. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 11 (Anm. 4), S. 158–167. Vgl. auch Brief von Alexander von Humboldt an Henriette Herz vom 4. August 1796. In: Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 203ff. 25 Wilhelm von Humboldt an Friedrich von Schiller, 21. August 1795. In: Friedrich Schiller u. Wilhelm von Humboldt: Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt. Hrsg. von Albert Leitzmann. 3., vermehrte Ausgabe mit Anmerkungen von Albert Leitzmann. Nebst einem Portrait Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1900, S. 89. 26 „die eingerichtet ward u. die aus den damals gescheidesten[!], ausgezeichnetesten Leuten bestand. Dohm, Engel, Klein, H. Zöllner u. wir dazu gehörigen Frauen. K. u. die H-s waren auch dabei.“ Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 154.

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deutende Leute in unser Haus, die auch zuweilen zu Abendmahlzeiten eingeladen worden – doch meistens nur Männer, u. so jung u. unwissend ich auch war unterhielten sie sich doch viel mit mir.“27 Und auch andere zeitgenössische Quellen verwenden ebenso oft Pluralformen wie „bei Herzens“ oder „die Herzschen Freitage“, wie sie Marcus und Henriette Herz allein und gemeinsam als Teilhaber verschiedener geselliger Formate nannten. Tatsächlich gab es einen großen Alters-, und zumindest anfänglich, sicherlich auch Interessensunterschied zwischen den Eheleuten. Marcus Herz, 17 Jahre älter als seine Gattin, war Schüler und Freund Moses Mendelssohns (1724–1804), hatte bei Immanuel Kant (1724–1804) studiert, mit dem er in Briefkontakt stand und dessen Ideen er in Berlin verbreitete. Daneben bot er physikalische und medizinische Vorlesungen an. So brachte das Interesse am Blitzableiter auch den Hofmeister Gottlob J. C. Kunth (1757–1829) in die Herzsche Wohnung, der mit seinen Schülern, den Brüdern Humboldt, kam, die in der Folge allerdings mehr mit Henriette Herz umgingen. Ebenso bemerkenswert wie die Unterschiede ist aber das Zusammenwirken von Marcus und Henriette Herz. Zeitgenössische Quellen sprechen von einem respektvollen Miteinander der Eheleute, das sicherlich auch auf einer Wertschätzung der gegenseitigen umfänglichen Bildung und des dadurch fundierten Werturteils beruhte. Nicht zu vergessen ist, dass Marcus Herz als gebildeter Maskil, für die weitere Ausbildung seiner Frau durch Lektüreempfehlungen und Hauslehrerauswahl wesentlich mit verantwortlich war. Dafür, dass sie mehr als ein gebildetes Schaustück wurde, sorgte allerdings ihr eigener Bildungshunger. Beide Persönlichkeiten verband ein großer Antrieb zur Selbstbildung, ein Glaube an bildende Geselligkeit und an den Wert geistigen Austausches. Von Marcus Herz hieß es: „gleich den Weisen Athens liebte er die freundschaftlichen Zirkel“,28 und durch die überlieferten Briefe Henriettes zieht sich als roter Faden der Wunsch, Menschen zu verbinden, um sich auszutauschen. Aus Briefen ihrer Gäste untereinander wird zunächst deutlich, dass es in den 1790er Jahren im Hause Herz, im Unterschied etwa zu dem der Familie Levin, einen etablierten Freitag als Empfangstag gab. Enge Freunde des Hauses Herz, wie Gustav von Brinckmann, beide Brüder Humboldt oder Wilhelm von Burgsdorf wurden auch an anderen Tagen zum Mittag- oder Abendessen oder zum Tee – und Kartenspiel [!] – gebeten.29 Der Freitag bei Herzens scheint aber 27 Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 166. 28 Leopold Friedrich von Goeckingk: Marcus Herz, gestorben den 20ten Januar 1803. In: ders.: Gedichte. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1821, hier 3. Bd., S. 188–190. 29 Für die Existenz von Kartenspielen, bisher im Zusammenhang mit den Berliner Salons nicht thematisiert, gibt es mehrere kleine Andeutungen in Billets. Beispielsweise als Mahnung, „aber absagen hätten Sie mir eigentlich müssen weil Burgsdorf spielen sollte.“ Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 18. August 1795, ungedruckt, BA H. Mari-

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sprichwörtlich gewesen zu sein, da er in vielen Korrespondenzen ebenso bekannt wie bei der jüngeren Generation gefürchtet war.30 ,Jüngere Generation‘ ist hierbei ebenso in Hinsicht auf das Lebensalter als auch in literarisch-philosophischer Hinsicht gemeint. Sowohl Brinckmann als auch Levin Varnhagen beschrieben 1794 Abende bei Herzens, an denen sie sich, trotz oder wegen zahlreicher anwesender Professoren, sehr gelangweilt hätten. So gestand Brinckmann 1793, „in allem Ernst, daß ich mich ein wenig vor dem steifen ennui fürchte, der bei Herzens ausgegessen sein möchte“, und Rahel Levin Varnhagen berichtete: „Gestern war ich, seit ich wieder in Berlin bin, das erstemal bei Herzens. Professor Meyer saß neben mir, und der Buchhändler Michaelis gegen mir über.“ Nach ihrer Bekanntschaft mit Veit gefragt, habe sie – davon ausgehend, dass ihre Tischherren ihre Art der Freundschaft nicht verstünden – beschlossen, den engeren Kontakt zu leugnen: „Ich hätts auch gesagt, aber Hr. Michaelis sah zu schafig aus. […] so viel, grobes, dummes Zeug hab ich gestern hören müssen und bin ihm nun so abgewöhnt.“31 Dass ,Gelehrsamkeit‘ als Epitheton ,Schafigkeit‘ mitbekommt, ebenso wie ,Aufklärung‘ nahezu stereotyp als ,platt‘ bezeichnet wird, ist natürlich auch eine Annäherung qua lästernder Distanzierung der Schreibenden. Nichtsdestoweniger wurden von den Gästen regelmäßig Besuche bei Herzens verzeichnet und Formulierungen wie „Die Herz, bei der ich gestern soupiert habe, hat mir sehr viel freundschaftliche Empfehlungen an Sie aufgetragen“ sind mehrfach überliefert.32 Die berühmte Anekdote, nach der Marcus Herz einen Gast zur Klärung eines Goethezitates rüde an seine Frau verwiesen haben soll, ist keineswegs gesichert.33 Aber die literarische Positionierung des Herrn des Hauses bzw. die

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anne Meyer Eybenberg an denselben: „Wie richtig Sie gestern wieder Calculirt dass ich am Spieltisch gefesselt gewesen, bestärkt mich immer mehr in meinem Urtheil über Ihr Combinierungs Vermögen […]“ vom 16. Januar 1794, ungedruckt, BA E. Für einen Generationsunterschied bzw. eine unterschiedliche Wahrnehmung als Gastgeber spricht auch die unterschiedliche Bezeichnung in Grüßen. Alexander von Humboldt beschloss seine Briefe nach Berlin „empfehlen Sie mich […] an den lieben Hofrath und seine vortreffliche Frau […]“ aber im selben Brief: „Grüßen Sie doch die Veit, die Levi und das ganze pp. meiner Bekannte[!]“. Brief von Alexander von Humboldt an Ephraim Beer vom November 1787. In: Alexander von Humboldt: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts, 1787–1799. Hrsg. von Ilse Jahn u. Fritz G. Lange. Berlin 1973 (Beiträge zur AlexanderHumboldt-Forschung Bd. 2), S. 5. Brief von Rahel Levin Varnhagen an David Veit vom 1. November 1794. In: Rahel-Bibliothek, Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. 10 Bde. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München 1983, hier Bd. VII/I, S. 265f. [Im Folgenden: GW]. Brief von Gustav von Brinckmann an Rahel Levin Varnhagen vom 17. Mai 1794, ungedruckt, SV 38. Selbst Hans Landsberg formuliert vage: „es klingt so unwahrscheinlich nicht, wenn er [Marcus Herz] zu David Friedländer, der ihn um die Erklärung einer dunklen Stelle bei Goethe angeht, gesagt haben soll: ,Gehen Sie zu meiner Frau; die versteht die Kunst, Unsinn zu erklären.‘“ Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 53.

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oppositionelle Positionierung jüngerer Gäste wird vielfach bestätigt, auch durch die ironischen Worte, mit denen Rahel Levin Varnhagen ein neuer Gast für ihren Zirkel empfohlen wurde: „Ein gewisser Schede, der jetzt Freitags bei Herz ist, verdient Ihre Aufmerksamkeit, ist gescheidt und äußerst brav, lacht Herz aus, und betet Goethe an.“34 Eine Frage, die bisher leider noch nicht verfolgt wurde, wäre, inwieweit die Aufteilung unterschiedlicher Gästegruppen in einem Haus auf die Ehepartner nicht auch ein mehr oder minder bewusst eingeschlagener Weg gewesen sein kann, sich als Ehepaar in ein neues Lebensumfeld hinein zu bewegen, ohne die Bindungen an das alte zu verlieren. Eine Beschreibung, die auf diese Strategie hindeutet, findet sich aus einem noch wenig untersuchten Salon in Wien, dessen SaloniHre die aus Berlin gebürtige Cäcilie Wulff Eskeles (1760–1836) war : Während in den Zimmer der Frau von Eskeles alles, durch Pracht und Geschmack der Ausstattung wie durch Vornehmheit der Gesellschaft und Gesprächstons, mit den höchsten Kreisen Wiens wetteiferte […] so pflegte Eskeles selbst, nachdem er eine Weile nach Gebühr und Würden in dieser vornehmen Welt erschienen, alsbald in eine Hinterstube zu entschlüpfen, wo er die Besuche seiner Glaubensgenossen empfing, […] und bei Taback und Bier rücksichtslos und behaglich den Rest des Abends hinbrachte.35

Generationen im Salon Dem Umstand, dass der berufliche Vielschreiber Gustav von Brinckmann an einem Posttag vor lauter Arbeit nicht aus dem Haus kam und die Ereignisse des vorigen Abends, die er seiner Freundin Rahel Levin Varnhagen sonst mündlich mitzuteilen pflegte, schriftlich niederlegen musste, verdankt sich eine der wenigen Schilderungen, wenn nicht die einzige, einer Salondebatte an einem Herzschen Freitag: Am 27. Juni 1794 wurde unter anderem der Zusammenhang 34 Brief von David Veit an Rahel Levin Varnhagen vom 22. Dezember 1795. In: GW VII/II, S. 217. Die Identität Schedes konnte nicht eindeutig geklärt werden. Das Register der RahelBibliothek (GW) führt ihn als Karl Schede (1753–1839) , mit dem sie auch 1808f. noch verkehrte und der ebenfalls Gast bei Verleger Sander und bei Burgsdorf war. 35 Kommentar Karl August Varnhagens zu einer Briefstelle seiner Frau über Bernhard Eskeles, „den ich sehr liebe, weil ihn seine Klugheit aus den Poren dringt […] weil er ganz altväterlich geblieben ist, mit geistigen Gaben, und ein reiches Leben über ihn weggegangen ist, welches er ganz nach seiner Art bearbeitet hat“. Brief von Rahel Levin Varnhagen an Karl August Varnhagen, ohne Datum, beides zitiert von Karl August Varnhagen: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt a. M. 1987–1994. Bd. 1–3, hier Bd. 1, S. 686. Auch wenn man Varnhagens bekannten Hang zur Stilisierung in Betracht zieht, scheint es glaubhaft, dass im repräsentativeren Wien Herr Eskeles traditionell lebende Freunde nicht mit der gemischten Gesellschaft zusammenbringen wollte.

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von der charakterlichen Moral und dem Talent eines Autors diskutiert. Auffällig ist dabei die Selbststilisierung Brinckmanns, der die moralischen Bedenken der jüdischen Aufklärer, der Maskilim, ironisch abtat. Wegen der Seltenheit der Überlieferung und der Charakterisierung der deutlichen literarischen „Partheiung“ wird das ungedruckte Billet hier komplett wiedergegeben. Den Randbemerkungen des Überlieferers Karl August Varnhagen [V] (1785–1858) folgend soll kurz aufgeschlüsselt werden, inwieweit es Parteiungen, die aus Freude an der Diskussion oder aus Überzeugung entstanden, aufscheinen lässt. Da es an Posttagen so ungewiß ist ob ich Sie sehe, fühle ich immer umso mehr das Bedürfniß Ihnen zu schreiben, Ich hoffe Sie haben sich gestern Abend gut amusirt; ich ziemlich; Jeanette und Adel [V: Jeanette und Adele Ephraim] wollten zur Herz zum Thee kommen, allein wir warteten bis acht Uhr vergebens auf sie, ich mußte mich unterdeß mit [V: David] Friedländer und Herz herumstreiten, denen Genz Imoralität so erschrecklich anstößig ist, weil dadurch seine – politischen Schriften nothwendig viel verlieren müssen!!! – Erklären Sie mir, wie sonst gute Köpfe so verflucht windisch sein können. Friedländer sprach auch mit Einem Wort über Stollbergs Reisen ab, die er nicht sehen mochte, denn er liest kein Buch von einem Grafen! Herz lese wohl von einem Grafen, aber nicht von einem der so albern viel Religion hat, wie Stolberg! Kurz ich schwöre Ihnen prächtige Sachen kamen da zum Vorschein. Ich der nun Bücher von Grafen und Kaufleuten gleich gern lese, und mich immer nicht überzeugen kann, dass die Religion auf den Reisewagen und individuelle Imoralität auf Grundsätze des Staatsrecht Einfluß zu haben braucht, warf mich denn dabei zum Vertheidiger des Teufels und Jesu Christi wechselweise auf. Unsre Damen kamen, und Jeanette hat uns und aller Welt – denn es waren viel Leute da – so oft und so absichtlich versichert, wie unbeschreiblich glücklich sie sei, weil sie recht eigentlich ein plattes gemeines Weib geworden, dass ich beinah Lust bekommen hätte, das erste zu bezweifeln und das letztere in vollem Ernst zu glauben. Doch dies unter uns, denn ich erkläre mich noch darüber ; denken Sie sich hernach bey Tische der Professor Meyer [V: Bramstedter Meyer] so aimable und unterhaltsam dass ich noch zweimal die Linden mit ihm auf und ab gegangen bin. Adieu. Br.36

Die Freundschaft von Marcus Herz zu David Friedländer (1750–1834), einem der bekanntesten Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation und Reform, ist zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahrzehnte alt.37 Der diskutierte Graf ist Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750–1819), der gemeinsam mit seinem Bruder Christian in den Briefen der Salongesellschaft wegen seines Lebens36 Brief von Gustav von Brinckmann an Rahel Levin Varnhagen vom 28. Juni 1794, ungedruckt. In: Sammlung Varnhagen [im Folgenden: SV], Nr. 38. Hervorhebungen im Original. 37 Als Kaufmann und Autor, Schwiegersohn Daniel Itzigs und Freund Moses Mendelssohns sowie Herzens war Friedländer gesellschaftlich ebenso engagiert wie gut vernetzt. Martin L. Davies sieht in Herz und Friedländer die personifizierte Verbindung zwischen den Zentren der jüdischen Aufklärung in Berlin und Königsberg. Davies: Identity or History (Anm. 19), S. 23.

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wandels und seiner Werke immer wieder zum Diskussionsgegenstand wurde.38 Da Varnhagen bei „Meyer“ „Bramstedter Meyer“ an den Rand schrieb, war der Gast bei Herzens höchstwahrscheinlich der Jurist und Schriftsteller Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer (1758–1840) aus Holstein, dessen vielfältige publizistische Tätigkeit heute vergessen ist.39 Als Übersetzer tagespolitischer Werke hätte Meyer Auslöser politischer Debatten im Salon sein können.40 Stattdessen aber erscheint Moral als heiß diskutiertes Thema dieser Abendgesellschaft, und zwar in mehrfachem Sinne. Friedrich von Gentz (1764–1832), hier als „Teufel“ erwähnt, war zu dieser Zeit gleichermaßen bekannt wegen seiner politischen, zunehmend konservativen Publikationen und berüchtigt wegen seiner mangelnden Scheu vor Schulden und Ehebruch. Während sich Herz und Friedländer anscheinend über diese Diskrepanz zwischen Politik und Lebenswandel mokiert hatten, erhob sich Brinckmann amüsiert über deren Moralvorstellungen. Was er ablehnte, und, wie er annahm, Rahel Levin Varnhagen gleich ihm, war übertrieben zur Schau gestellte Moralität, bei Marcus Herz ebenso wie bei Jeannette Ephraim Stieglitz (1764–1843). Die erwähnten Frauen, Adele und Jeannette, waren die als sehr gebildet bekannten Enkelinnen des berühmten sogenannten ,Münzjuden‘ Veitel Heine Ephraim (1703–1775).41 Bei allem hier zum Ausdruck kommenden Spott wurde der Haushalt Herz in den 1790er Jahren zugleich als ein sehr gebildeter Haushalt auf der Höhe der Zeit betrachtet. Der Hausherr Professor Herz trat in der Korrespondenz der Salonteilnehmer wenig in Erscheinung, aber diesen wenigen Quellen nach wurde er durchweg als respektabler Vertreter der Aufklärung wahrgenommen. Als sie einmal unklar formulierte, musste Rahel Levin Varnhagen an ihn denken: „Ausgedrückle, würde Professor Herz sagen.“42 An anderer Stelle nennt sie ihn

38 Bei dem Buch handelt es sich vermutlich um seinen aktuellen Reisebericht aus Deutschland und Italien, der 1794 erschienen war, und der an anderen Teetischen der Zeit nachweislich gelesen wurde. 39 Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer (1759–1840), viel reisender Publizist, Philosophieprofessor in Göttingen und seit 1796 Besitzer des Guts Bramstedt. Bramstedt war auch Geburtsort des Grafen von Stolberg, möglicherweise war das Thema so entstanden. Meyer arbeitete in den 1790er Jahren journalistisch in Berlin, u. a. am „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmackes“. 40 1794 gerade übersetzte Meyer das Tagebuch eines englischen Revolutionsbeobachters. Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer : Dr. Johann Moore’s Tagebuch während eines Aufenthalts in Frankreich, vom Anfange des August bis Mitte Decembers 1792. Berlin 1794. 41 Sie waren Töchter von Benjamin Veitel Ephraim, Kaufmann, Dichter und Politiker, u. a. in preußischen Staatsdiensten in Paris tätig. Die biographische Information zu den Frauen der bedeutenden Berliner Familie Ephraim ist noch immer spärlich. Sie werden als gebildet und mehrsprachig geschildert, Adele besonders galt als künstlerisch begabt. 42 Brief von Rahel Levin Varnhagen an David Veit vom 8. Oktober 1793. In: GW VII/II, S. 22.

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achtungsvoll „der große H.“.43 Und der einzige Brief, den der reisende Alexander von Humboldt in dieser Zeit überhaupt an Bekannte aus Salonkreisen schrieb, ging als Zeichen „der Dankbarkeit, der Freundschaft, des wissenschaftlichen Interesses“ an Marcus Herz.44 Herz wurde von Alexander von Humboldt, der sich zu dieser Zeit stark zu naturwissenschaftlichen Experimenten hinwandte, zu den „guten Köpfen“ gezählt, für die man Freunden Empfehlungen mitgab; eine zunehmende Distanzierung zum Hause Herz, wie sie den Briefen Wilhelm von Humboldts (1767–1835) zu entnehmen ist, zeichnete sich in den Briefen des Bruders nicht ab.45 Mehrfach verwies auch David Veit (1771–1814) seine Freundin Rahel für Lektürehinweise an Herzens. Bei „Mad. Herz“ war Veit allerdings, wie mehrere ihrer Gäste, vor etwas Klatsch nicht gefeit: Um die Rezension des Romans Woldemar zu bekommen, möge Rahel Levin Varnhagen der Herz nur sagen, dass sie von Humboldt sei und dass viel über Frauen darin stehe.46 Damit spielte er auf die frühere Leidenschaft des jungen Wilhelm von Humboldt zu Henriette Herz an. Nach dessen Verheiratung mit Caroline von Dacheröden (1766–1829) hatten sie allerdings keinen engen Kontakt mehr. Erst Mitte des Jahres 1795 wurde das Haus Herz wieder zu einem wesentlichen Anlaufpunkt für Wilhelm von Humboldt, da er es für repräsentativ hielt, um für seinen neuen Freund Schiller Berliner Meinungen über dessen Werke zu sammeln. Die im Tagebuch Humboldts erwähnten gelegentlichen Briefe „an die Herz“ aus dem Jahr 1794/95 sind leider nicht überliefert.47 Unter anderem muss er ihr einen kurzen Brief, der ihr die Geburt seines Sohnes mitteilte, geschickt haben. Die Reaktion der Herz war wiederum ihrem Stammgast Brinckmann umgehend eine Lästerei wert: 43 Brief von Rahel Levin Varnhagen an Gustav von Brinckmann vom 11. Oktober 1794, ungedruckt, SV 38. 44 Brief von Alexander von Humboldt an Markus Herz vom 15. Juni 1795. In: Jahn u. Lange (Hrsg.): Jugendbriefe Alexander von Humboldts (Anm. 29), S. 433. Humboldt gab hier auch die Gründe für sein sonstiges Schweigen an: „Ich mußte alle Correspondenz mit Freunden aufgeben, um die wenige Muße, welche mir blieb, den Wissenschaften, die ich nun einmal als Beruf ansehe, zu widmen“. (Ebd.) Das mag natürlich auch eine Captatio Benevolentiae an den Wissenschaftler Herz gewesen sein. 45 Zumindest nicht in den Jugendbriefen Alexander von Humboldts bis 1799, in denen Herz durchweg als Autorität erscheint. Brief von Alexander von Humboldt an Christoph Girtanner vom 12. Februar 1793. In: Jahn u. Lange (Hrsg.): Jugendbriefe Alexander von Humboldts (Anm. 29), S. 236. 46 Brief von David Veit an Rahel Levin Varnhagen vom 10. November 1794. In: GWVII/I, S. 272. 47 Von einem engen Briefkontakt kann bis etwa 1791 gesprochen werden. Überliefert sind Briefe Wilhelm von Humboldts bis 1792. Vgl. „27 Briefe von Wilhelm von Humboldt an Henriette Herz (1786–1792)“. In: Aus dem Nachlaß Varnhagen’s von Ense. Briefe von Chamisso, Gneisenau, Haugwitz, W. v. Humboldt, Prinz Louis Ferdinand, Rahel, Rückert, L. Tieck u. a. nebst Briefen, Anmerkungen und Notizen von Varnhagen von Ense. Hrsg. von Ludmilla von Assing. Bd. 1. Leipzig 1867, S. 21–132.

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Humboldt hat einen Jungen! Und seine Frau befindet sich dabei ziemlich gut. Er hat dies selbst in drei Zeilen an die Herz berichtet und die ist dabei in Extase gerathen, weil dies sie doch überzeugt wie gut er eigentlich ist. Sie war wirklich hierüber gerührt, und ich segnete dabei den süßen Genuß einer so leichten Überzeugung. Sie selbst ist doch wirklich sehr gut.48

Andererseits ist, diesem Bild der gebildeten Naiven zum Trotz, aus dem Jahr 1795 ein launiges Billet überliefert, mit dem Rahel Levin Varnhagen und Henriette Herz gemeinsam um den Besuch Brinckmanns baten: Wenn Sie zu Hause sind, sagt die Herz, möchten Sie ein bischen herkommen, ich glaub’ es nicht, aber im Fall, so bitt ich. Sie haben gar kluge Dictionaire. Aber alles was man hat kann man sich doch nicht zu lieben entschließen, dass ist auch das Einzige was einem dieses irdische Paradies verbittert, u dann noch das nicht zu haben was man braucht. Wie ich den jetzt verzweiffle kein Siglak u Papier zu haben: weil ich weiß wie Sie das haßen[!]. Ihr geliebtes Datum soll doch etwas ersetzen. Berlin den 3ten Jan: 179549

Andere Billets von Henriette Herz’ Hand an den Diplomaten lassen ebenfalls aufhorchen. Aus dem Jahr 1795 findet sich eine quasi formelle Einladung zum Souper: ~~Ich ersuche die Herrn v. Brinckmann und v. Burksdorf um das Vergnügen, künftigen Donnerstag in Gesellschaft unsers Humbolds bey mir eine Suppe zu essen. 11ten Aug. 95 ~~ M Herz50

Dieses Billet ist in der Handschrift Henriettes, aber im Namen des Hausherrn verfasst. Für sich selbst formulierte Henriette Herz auffällig lockerer. Nur zehn Tage nach obigem Text lud sie dieselben drei Herren zum Mittagessen mit dem eingangs zitierten Billet, nachdem „H.“ bestimmt seinen Vorsatz, nicht zu kommen, ändere, wenn die „Prächtig-Äugige“ käme.51 Henriette Herz nannte sich Brinckmanns „Freundin“ und warnte schon mal scherzhaft vor ihres Mannes Launen bzw. warb loyal um Verständnis für dessen „verdrüßlich“-Sein.52 48 Brief von Gustav von Brinckmann an Rahel Levin Varnhagen vom 13. Mai 1794, ungedruckt, SV 38. 49 Brief von Rahel Levin Varnhagen (und Henriette Herz) an Gustav von Brinckmann vom 3. Januar 1795, BAV. Hervorhebung im Original, eine Anspielung Levin Varnhagens auf die bekannte Ordnungsliebe des Diplomaten. 50 Die Schleifen stehen für handschriftliche Verzierungen auf dem Billet. Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 11. August 1795, ungedruckt, BA H. 51 Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 21. August 1795, ungedruckt, BA H. Schreibung im Original. 52 „Herz ist sehr verdrüßlich und eben sehr beschäftigt. Ich bin diesen Mittag in Schöneberg was ich unmöglich ausschlagen konnte so gern ich auch zu Hause gewesen wäre. Es dünkt mich also für Sie besser wenn Sie diesen Mittag nicht bei uns wären und dafür Morgen Abend zu uns kämen.“ Und: „Es thäte mir sehr weh, wenn Herz dadurch bei Ihnen verlöre, dass er in einer üblen Laune etwas gesagt was er bei heitererer Seele gewiß nicht denkt, wie oft sagt man nicht etwas in einer verdrüßlichen Gemüthsstimmung, was man im Moment drauf nicht

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Ein Billet, in dem sie Brinckmann zum Mitverschwörer machte, der sie vor einer komplizierten Gästemischung bewahren möge, lautet komplett: Das wäre auch entsezlich wenig mir mit Christlicher Liebe die Hand zu küssen wenn ich Sie G. sehen lasse. Im Ernst lieber B. ich weiß noch kein Wort von G. es wäre mir fatal wenn er diesen Abend zu mir käme, ich habe so viele sonderbare Menschen hier. Ich werde ihn in einem Billet bitten mir zu bestimmen wann er morgen kommen will. Er logirt in der Stadt Rom gehen Sie doch zu ihm, u sagen ihm so viel gutes von mir als Sie wissen, u wenn Sie mir gut sind, als Sie wünschen dass ich hätte. H.53

Über die Bedeutung des christlichen Handkusses wäre andernorts zu reden. Festzuhalten ist bei der Frage nach dem Instrumentarium, das Henriette Herz bei der Gestaltung ihres Handlungs- und Kommunikationsraumes zur Verfügung stand, dass sie durchaus Sinn für (Selbst)Ironie besaß und diese einsetzte, um ihre Gästegruppen zu sortieren. Die schwierigste „Partheiung“ in ihrem Hause sollte mit der Scheidung ihrer Jugendfreundin Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel auf sie zukommen. Das Verhältnis war so vertrauensvoll, dass man sich gegenseitig Briefe zeigte und für einander antwortete: „Ihren vorletzten Brief habe ich Ihnen nicht selbst beantwortet, weil ich glaubte, dass die Herz Ihnen vorlesen würde, was ich an sie darüber schrieb“.54 Diesen Kontakt hielt Henriette Herz trotz der sich 1794 anbahnenden und später skandalisierten Ehekrise der Veit und trotz der Tatsache, dass Marcus Herz darin die Position des Ehemanns unterstützte, aufrecht. Zusammenfassend lässt sich sagen: insofern im Hause Herz Grabenkämpfe zwischen aufgeklärten, klassischen und romantischen Dichtungs- und Lebensidealen stattgefunden haben, hat die Hausherrin eine Mittlerinnenposition eingenommen.

,Collegium‘, ,Salon‘, ,Zirkel‘, ,Kränzchen‘ – Das Nebeneinander der Formate Wie das oben zitierte Billet Brinckmanns, so deuten mehrere Quellen darauf hin, dass es im Hause Herz in den frühen 1790er Jahren vier bis fünf ineinander übergehende Geselligkeitsformen gegeben haben könnte. Neben den in den mehr denkt.“ Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 28. Juni 1790 und 29. Juli 1790, ungedruckt, BA H. 53 Brief von Henriette Herz an Gustav von Brinckmann vom 3. Mai 1793, ungedruckt, BA H. „G.“ bezieht sich auf Friedrich von Gentz. 54 Auch kann Humboldt einen: „Brief an die Veit durch die Herz“ schicken. Brief von Dorothea Veit an Gustav von Brinckmann vom 20. Juli 1794, ungedruckt, BA S und Wilhelm von Humboldt, Tagebucheintrag 25. August 1794. In: Wilhelm von Humboldt: Wilhelm von Humboldts Tagebücher. Erster Band 1788–1798. Hrsg. von Albert Leitzmann. Berlin 1916 (Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften Bd. XIV), S. 250.

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Erinnerungen erwähnten „Collegia“ gab es nachmittäglichen Tee und Abendessen, wobei der Tee das weniger formelle, bei den jüngeren Gästen beliebtere Element gewesen zu sein scheint.55 Während Henriette Herz in ihrem Memoirenfragment (s. u.) als gemeinsame Gäste ihrer selbst und ihres Mannes vor allem Aufklärer und Wissenschaftler nannte, deutete beispielsweise das Billet vom 21. August 1795 darauf hin, dass sie selbst einen Schillerfreund wie Humboldt, einen späteren Förderer des Romantikers Ludwig Tieck (1773–1853) wie Burgsdorf und die Schauspielerin Unzelmann zum Tee bitten konnte. Als Beispiel für den fließenden Übergang zwischen verschiedenen Geselligkeitsformen in diesen Häusern muss viertens ein „Damentee“ erwähnt werden, auch „Kränzchen“ genannt, das sich Anfang der 1790er Jahre regelmäßig und unter anderem bei Henriette Herz traf.56 Friedrich von Gentz beschrieb, wie sich eine festgelegte Gruppe jeden Dienstag zusammenfand: Sie versammelt sich einmal bei der Demoiselle Hainchelin, einmal bei Madame Herz, einmal bei der Kriegsrätin Eichmann und einmal bei Mademoiselle Dietrich. Zu diesem Tee sind folgende junge Mannspersonen ein für allemal geladen: Spalding, Humboldt, ein sehr artiger und wohlunterrichteter Graf Dohna, der seit einiger Zeit hier ist, Ancillon und ich.57

Diese Beschreibung einer Teegesellschaft ist aus zwei Gründen bemerkenswert, einerseits deswegen, weil hier jüdische und nichtjüdische Gastgeberinnen wechselten, und dieselben Gäste einluden, die heute alle auch als Gäste der Salons bekannt sind. Gentz fuhr fort: „Außer diesen bittet aber jede Dame, bei welcher der Tee ist, noch wen sie will.“58 Damit handelte es sich, wenn man es formalisiert betrachten will, um eine teilweise offene Veranstaltung in der Regie 55 Friedrich Schlegel sollte wenig später deutlich formulieren: „Könnten Sie nicht einmahl heute Abend etwa vor halb sieben bey der Herz zubringen, wo sie auch die kleine Rahel treffen und die blonde Vließ. Versteht sich nur bis acht Uhr. Denn was drüber, ist vom[!] Übel.“ Brief von Friedrich Schlegel an Gustav von Brinckmann vom Oktober 1797. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJaques Anstett u. Hans Eichner, Bd. 24, S. 26. 56 Aus Briefen Humboldts ist die Existenz des Kränzchens 1790 und 1791 unter diesem Namen belegt, allerdings hatte es sich nach Humboldts Meinung bereits 1790 „verplattisirt“. Brief von Wilhelm von Humboldt an Gustav von Brinckmann vom 9. November 1790. In: Leitzmann, Albert (Hg.): Wilhelm von Humboldts Briefe an Gustav von Brinkmann (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart Sitz Tübingen, Publikation 288), Leipzig 1939, S. 12. 57 Brief von Friedrich von Gentz an Christian Garve vom 5. Dezember 1790. In: Friedrich von Gentz: Briefe von und an Friedrich von Gentz. Bd. 1: Briefe an Elisabeth Graun, Christian Garve, Karl August Böttiger und andere. Hrsg. von Friedrich Carl Wittichen. München [u. a.] 1909, S. 183f. Gemeint sind Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten (1771–1831), späterer preußischer Staatsminister, und der Berliner Philologe Georg Ludwig Spalding (1762–1811), Sohn des Propstes. 58 Brief von Friedrich von Gentz an Christian Garve vom 5. Dezember 1790. In: Gentz, Briefe, S. 183f.

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einer Frau. Henriette Herz bestätigte dies durch die Formulierung, dass „jenes Theekränzchen durch hinzukommende Fremde vergrössert wurde.“59 Die Organisation entspricht außerdem genau dem Vorgehen des berühmtesten englischen Salons, des Bluestocking Circle, dessen Beteiligte sich wechselnd in den Häusern der einzelnen Gastgeberinnen trafen. Initiiert hatte dieses Berliner „Institut“ des dienstäglichen Tees aber andererseits, wie Gentz weiter verrät, Gustav von Brinckmann.60 Es stellt sich die Frage, ob von einem Salon zu sprechen ist, wenn Frauen einer Gesellschaft präsidieren oder nur wenn sie sie initiieren, wie es in den meisten Salondefinitionen gefordert wird. Die Ähnlichkeiten zwischen dieser Teegesellschaft und dem bekannt gewordenen ,Salon‘ von Henriette Herz sind in der Form und bezüglich ihrer Beteiligten auffallend, und es ist zu fragen, welchen Sinn es hat, an einer Definition eines ,echten Salons‘ festzuhalten, bzw. ob Salon nicht nur ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Geselligkeit sein kann.61 Auch der von der Forschung ,Tugendbund‘ genannte Freundschaftszirkel im Stil der Empfindsamkeit gehört als fünftes Format in die Reihe der unterschiedlichen Geselligkeitsformen mit zum Teil denselben Gästen im selben Hause Herz.62 Daneben ist wesentlich, dass Zeitgenossen die Eheleute Herz als Teilnehmer ganz verschiedener Formate außerhalb ihres Hauses nennen. Nach 1796 ist hier vor allem die Fesslersche Mittwochsgesellschaft zu nennen, die durch das zwanglose Miteinander und die Mischung ihrer Teilnehmer auffiel, unsere Mittwochs=Gesellschaft […], wo man (Männer u. Frauen) zusammen kommt, um zu lesen, dann zu plaudern, Musik zu machen u. am Ende frugal zu essen. […] Sie werden ja die Geselligkeit selber kennen lernen, die wirklich durch Humanität einige Aufmerksamkeit verdient. Wie Sie gesehen haben, genügt es den Mitgliedern, Menschen zu seyn; u. es ist Ihnen [sic!] gleichgültig, ob dies Menschen Juden oder Christen sind.63

59 Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 153. 60 „Dieses Institut hat der jetzt nach Schweden zurückgekehrte Brinckmann kurz vor seiner Abreise zustande gebracht“, damit also vermutlich 1789. Friedrich Gentz [u. a.]: Briefe von und an Friedrich Gentz. Auf Veranlassung und mit Unterstützung der Wedekind-Stiftung zu Göttingen. Hrsg. von Friedrich Carl Wittichen. 2 Bde, hier Bd. 2: Briefe von und an Carl Gustav von Brinckmann und Adam Müller. München [u. a.] 1910, S. 184. 61 Petra Wilhelmy weist darauf hin, dass es um das Ehepaar Herz verschiedene Formen von Geselligkeiten gegeben habe, die auf den Salon, den Henriette führte, zurückwirkten. Ihre Definition von Salon stellt Wilhemy jedoch nie in Frage. Petra Wilhemy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin u. New York 2000, S. 62ff. 62 Zum sog. Tugendbund siehe die Beiträge von Weissberg und besonders Tintemann in diesem Band. 63 Brief von Johann Daniel Sander an Carl August Böttiger vom 26. November1796, in: Maurach, Briefe, Bd. 1, S. 54f.

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Obzwar die Mischung von Juden und Nichtjuden als bemerkenswert verzeichnet wird, wird deutlich, dass diese Zusammentreffen keineswegs nur in jüdischen Häusern stattfanden und verschiedene Formen annehmen konnten. Genau gelesen, beschreibt Henriette Herz selbst das Ineinandergreifen der Formate in der nur ganz knappen Zusammenfassung ihres gesellschaftlichen Lebens, das sie als PS an ihre Jugenderinnerungen anfügte:64 D. 27 t. August 1829. – – Ich beschlisse diese Zeilen hiermit die ich weiter ausführen wollte – wozu das Leben mich durch den Umgang mit ausgezeichneten Menschen gemacht hat dafür danke ich allein Gott. Eine lange Reihe von Jahren lebte ich mit allen den vorzüglichen Menschen Berlins in geselligem Verkehr – einige nur will ich nennen: – früher mit Gentz, Brinkmann, Leuchsenring, Graf Bernstorf, Ancillon waren von einem kleinen Theekränzchen. Die beiden Humboldts, Dohm, Klein, Engel, Zöllner in jener obenbenannten Lesegesellschaft, die, wie jenes Theekränzchen durch hinzukommende Fremde vergrössert wurden, wie das durch La Roche u. C. Dohm geschah. Später entstand die Fesslersche Lesegesellschaft woran Künstler u. Staatsmänner, Gelehrte u. Frauen Theil nahmen, mehrere von diesen kamen in unser Haus, so wie jeder an Geist bedeutende Fremde fast es besuchte. […] Zu den früheren großen Gesellschaften gehört auch ein Kränzchen, das wir mit Nicolai, Klein, Görke und einigen andern hatten, wozu jeder im Hause eingeführte Fremde eingeladen wurde.65

Abgesehen von der etwas stereotyp wiederkehrenden Formulierung „jeder an Geist bedeutende Fremde“ bietet diese Darstellung kaum Detailinformation darüber, wer wann wozu eingeladen wurde. Die oben erwähnten Personen, überwiegend männlichen Geschlechts, die sich in verschiedenen Zusammensetzungen trafen, könnten als ,prominente preußische Staatsbedienstete und Aufklärer‘ zusammengefasst werden, scheinen sich in den verschiedenen Zirkeln aber nach Generationen zusammengefunden zu haben.66 Die eine erwähnte 64 Die Schilderungen ihrer ,berühmten‘ Gäste in den späteren sogenannten Memoiren sind ebenfalls von J. Fürst verfasst. Selbst wenn die Namen der Gäste stimmen, sind die Wertungen und die Betrachtungen zu ihrem Salon nicht als die originären Herzschen zu betrachten. 65 Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 153. 66 Mit Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) gehörte der Verfasser des Plädoyers Über die bürgerliche Verbesserung der Juden und der Prototyp des gelehrten Beamten, „dessen politisiertes Denken und Handeln gesellschaftlichem Wandel verpflichtet“ war, zu Herzens Bekannten. Heinrich, Gerda: „Juden müssen sich also gar nicht einmischen…“. Mendelssohn als Initiator und Mentor der Debatte um die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ 1781 bis 1786. In: Schoeps, Julius H./Grözinger, Karl E./Mattenklott, Gert: Haskala und Öffentlichkeit (Menorah 12), Berlin 2001, S. 39–65, hier S. 44. Ernst Ferdinand Klein (1743–1810) war Jurist und unter anderem Mitarbeiter am Allgemeinen Preußischen Landrecht, Johann Jakob Engel (1741–1802) war Professor und Theaterdirektor, und Johann Friedrich Zöllner (1763–1804) Prediger an der Charit8 sowie Publizist der Aufklärung. All diese Genannten waren auch Mitglieder der so genannten Geheimen Mittwochsgesellschaft, die hier auch gemeint sein könnte. Mit dem Verleger Friedrich Nicolai (1733–1811) war der prominenteste und langjährigste Verfechter der Berliner Aufklärung regelmäßiger Umgang beider Herzens.

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Gesellschaft mit Dohm, Klein und Engel, die möglicherweise die Mittwochsgesellschaft meint, versammelte eher etablierte Beamte. Henriette Herz’ Teekränzchen hingegen vereinte zwar heute bekannte Namen, aber, wie von Gentz bestätigt, zu diesem Zeitpunkt die eher jüngere Generation von noch nicht festgelegten Karrieren: Bei Friedrich von Gentz, Franz Michael Leuchsenring und Johann Peter Ancillon kann man Anfang der 1790er Jahre durchaus von einer Karriere im Umbruch sprechen.67 Einen unterschiedlichen Geschmack zwischen den Ehepartnern erwähnte Henriette Herz nicht, sie unterschied die Gastgeber nach ihren Attraktivitätsfaktoren: „Herz zog durch seinen Geist u. als berühmter Arzt die Leute an sich, ich durch meine Schönheit u. durch den Sinn den ich für alles Wissenschaftliche hatte, denn es gab kaum eine, in der ich mich nicht einigermassen umgesehen hatte u. einige trieb ich ernstlich – so Physic u. später mehrere Sprachen.“68 In der Gesamtschau sprechen die überlieferten Quellen aus der Mitte der 1790er Jahre für ein vielfältiges geselliges Leben im Haus Herz, dessen Gäste sich in wechselnden, verschiedenen Gruppierungen immer neu zusammenfanden, und das sich mit anderen Gesellschaften und Kränzchen an anderen Orten überschnitt. Um eine Formulierung des langjährigen Freundes Friedrich Schleiermacher (1768–1834) aufzunehmen: „Freie Geselligkeit“69 war in den 1790er Jahren kein elitäres Unterfangen im Rahmen eines eleganten Salons. Freie Klein, Engel und Dohm waren zeitweilig auch Lehrer Wilhelm von Humboldts, was den Eindruck verstärkt, dass es sich bei dessen zunehmender Distanz zum Hause Herz um einen ,Generationskonflikt‘ handelte. 67 Friedrich von Gentz wechselte als politischer Publizist Anfang der 1790er Jahre gerade die Fronten vom Revolutionsanhänger zum -gegner. Franz Michael Leuchsenring (1746–1827) war ein Literat von schillerndem Charakter und ebensolchen Zuschreibungen: bekannt als empfindsamer Dichter, später als Illuminat aus Preußen verbannt und Jakobiner in Paris, hatte er schon früh in Berliner Salonkreisen einiges Aufsehen erregt, weil er Adele Ephraim heiraten, aber nicht zulassen wollte, dass sie sich taufen ließ, so dass der Plan aufgegeben wurde. Vgl. Karl August Varnhagen: „Leuchsenring“. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt a. M. 1987–1994, hier Bd. 4, S. 152–183. Varnhagen ergänzt, „solche Verbindungen waren damals noch höchst selten und für beiderlei Religionsparteien höchst anstößig. […] In diesem Falle aber würde das Ärgernis um so größer gewesen sein, als Leuchsenring durchaus darauf bestand, dass seine Frau keine Christin werden, sondern Jüdin bleiben sollte“. Ebd., S. 164f. Auch Graf Christian von Bernstorff (1769–1835), Sohn des dänischen Außenministers, später selbst Diplomat in dänischen und dann preußischen Diensten, kämpfte Anfang der 1790er Jahre um seine Heiratspläne mit Marianne Meyer Eybenberg, die sein Vater verbot. Der spätere Prinzenerzieher Jean Pierre Frederic, bzw. je nach Lesart Johann Peter Friedrich Ancillon (1767–1837), preußischer Staatsmann hugenottischen Ursprungs, unterrichtete um 1790 noch an der Militärakademie. 68 Landsberg: Henriette Herz (Anm. 6), S. 153. 69 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher : Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 5 (1799), S. 48–66 u. S. 113–123. Abdruck in: Schleiermacher : Kritische Gesamtausgabe Bd. I/2. Schriften aus der Berliner Zeit. 1796–1799. Hrsg. von Günter Meckenstock. Berlin 1984, S. 163–184.

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Geselligkeit war eine Geisteshaltung, ein immer wieder austariertes Experiment, das Henriette Herz allein und gemeinsam mit ihrem Mann mit Bildung und Witz, Respekt, Ironie und Humor mitgestaltete.

Das berühmteste Bild: Henriette Herz als Göttin Hebe, gemalt von Anna-Dorothea Therbusch (1778). Quelle: wikimedia commons.

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Das Netzwerk als Kunstwerk

Literaturgeschichte und Kulturgeschichte Die Literaturgeschichte beschäftigt sich mit der Geschichte der Literatur. Diese auf den ersten Blick harmlose Aussage schließt mehr Türen, als es auf den ersten Blick scheint. Das hat mindestens zwei Gründe. Zum einen ist die Trennlinie zwischen Literatur und anderen Textgenres nicht immer leicht zu ziehen. Eine strenge Handhabung dieser Trennlinie aber reduziert Literatur auf bestimmte textuelle Gattungen und schließt andere aus, etwa solche aus der Grauzone zwischen schöner Literatur und populäreren Genres. Darüber hinaus ist das Verständnis der Gattung Literatur je nach Epoche ein anderes; damit zusammen hängt eine ästhetisch-ethisch begründete Trennung oder Nicht-Trennung der Literatur von anderen Textgattungen. In der Aufklärungszeit sind die Übergänge zwischen Literatur und Philosophie fließend wie zu kaum einem anderen Zeitpunkt. Es lässt sich, ausgehend von heutigen gattungstechnischen Trennungskriterien nicht eindeutig festlegen, was ein literarisches und was ein philosophisches Werk gewesen ist, denn oft sind Texte dieser Epoche beides. Zum anderen werden in der Perspektive der Literaturgeschichte als Geschichte der Literatur vorrangig die Produktionen in Betracht gezogen, die in schriftlicher Form den einen oder anderen Aspekt von Literaturproduktion, -rezeption oder -interpretation zu flankieren imstande sind. Dies schließt eine Reihe von Quellen – in erster Linie Egodokumente, denen ein vorrangig sozialund kulturhistorischer Wert beigemessen werden kann – aus und macht es schwierig, ihre Relevanz für die Geschichte der Literatur zu bestimmen. Gehören Briefwechsel und Tagebücher zur Geschichte der Literatur, wenn sie nicht aus der Feder eines namhaften Schriftstellers stammen? So gibt es Konstellationen, in denen weder ein literarisches Werk im eigentlichen Sinne noch ein leicht zu handhabender Beitrag zur Geschichte der Literatur vorliegen, und die dementsprechend von der traditionellen Literaturgeschichte lange Zeit ignoriert wurden, obwohl sie zur Genese von neuen Literaturformen beigetragen haben, nicht zuletzt indem sie neue Modi der

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Literaturrezeption ermöglicht haben. Eine solche Konstellation machen die Salons zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus: Literatur wurde dort vorgelesen, diskutiert, kritisiert, überarbeitet – und dennoch sind Salons selbst keine Literatur.1 Es ist eine methodische Herausforderung, das für die Geschichte der Literatur Wichtige aus Zusammenkünften herauszuarbeiten, deren Abläufe mündlich stattfanden und die in nachträglichen textuellen Schilderungen stilisiert wurden (nicht die Gesamtheit der Gespräche wurde verschriftlicht, die Perspektive der jeweiligen Verschriftlichung ist darüber hinaus zwangsläufig eine persönliche: Eine wie auch immer geartete historische Objektivität lässt sich nicht herstellen). Der Kern des in diesem Zusammenhang für die Literaturgeschichte Relevanten ist zwar nicht textueller Natur, doch es ist für die Literaturgeschichte Relevantes dabei. Dieser methodische Stolperstein stellt im weitesten Sinne die Frage nach dem Beitrag der Kulturgeschichte zur Literaturgeschichte und lässt sich am Beispiel der Henriette Herz anschaulich illustrieren. Es ließe sich sicherlich argumentieren, dass Henriette Herz doch eine literarische Leistung erbracht und deswegen ihren Platz in der Literaturgeschichte verdient hat. Doch schaut man nüchtern auf ihre spärliche literarische Hinterlassenschaft und deren geringe Rezeption, muss man zugeben, dass es nicht wirklich die Erinnerungen sind, die die Bedeutung des ihr gebührenden Platzes ausmachen und sie erst recht eines solchen Platzes in der Sonne der Literaturgeschichte würdig machen. Vielmehr ist es ihr Beitrag zur intellektuellen Geselligkeit in Berlin um 1800 (in der Salonzeit und danach in den sich daran anschließenden Briefwechseln), der dies begründet: wie sie Menschen inspirierte, zusammenbrachte, miteinander verknüpfte. Ihr Kunstwerk ist ihr Netzwerk.

Berliner Intellektuelle – auch im Femininum Ausgerechnet diese Leistung als eine intellektuelle zu betrachten, bedarf einiger Erläuterung. Im Kontext der preußischen Hauptstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielt das Öffentlichkeitsbewusstsein, zu den Intellektuellenkreisen zu gehören, eine zentrale Rolle im Selbstverständnis der Akteure. Die Möglichkeit eines derart ausgeprägten Öffentlichkeitsbewusstseins hängt mit mehreren historischen Faktoren zusammen. Die von der Aufklärung vererbten sozial-gelehrten Aus1 Die Vielfalt der hier in der Kürze erwähnten Aspekte wird im Referenzwerk von Hannah Lotte Lund ausführlich besprochen und in ihrer Komplexität dargestellt; vgl. Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin 2012. Davor auch schon Petra Wilhelmy-Dollinger mit Berücksichtigung des gesamten langen 19. Jahrhunderts in: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin 1989.

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tauschstrukturen lieferten eine Grundlage, die im Kontext der napoleonischen Kriege eine patriotische Steigerung erlebte: Politische Positionierung gehörte nun auch dazu. Die Gründung der Berliner Universität potenzierte dann die Solidarisierung des Intellektuellenmilieus ab den 1810er Jahren nicht zuletzt durch die geschaffene geographische Nähe der unterschiedlichen Akteure und Institutionen.2 Auch in den privaten Räumen der Berliner Salons und Jour Fixes – die zugegebenermaßen ihre Blüte vor den napoleonischen Kriegen noch erlebten, etwa bei Henriette Herz und Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) – wurden soziale Hierarchien zwar nicht durchgängig aufgehoben, aber durchlässiger gemacht. Fest steht, dass neue Kommunikationsformen möglich wurden, insbesondere unter Personen, bei denen das vorher so nicht denkbar war. Ich möchte hier besonders Frauen in den Blick nehmen, denen sich neuartige, mediale Wege eröffneten, die sie erobern konnten. Es geht mir hier nicht um gelehrte Frauen, die eine literarische oder wissenschaftliche Ausbildung vergleichsweise offensiv in literarische Produktionen ummünzten.3 Auch wenn die Literaturgeschichte sich vorrangig an diese zu erinnern vermag, waren wesentlich mehr Frauen als etwa nur die SchlegelFrauen im literarischen Betrieb aktiv. Schriftstellerinnen, die anonym, pseudonym oder unter dem eigenen Namen veröffentlichten, Verlegerinnen, Übersetzerinnen: Es finden sich Frauen in der gesamten Kette des Literaturbetriebs. Ihre Unsichtbarkeit liegt nicht zuletzt an ihrem juristischen Status der Unmündigkeit, der sie von Männern (Vätern, Brüdern, Söhnen) abhängig machte.4 Diese Abhängigkeit hielt sie nicht davon ab, aktiv zu sein, auch wenn sie für die zeitgenössische Öffentlichkeit Strategien einsetzten, die denen ihrer männlichen Austauschpartner oft diametral entgegengesetzt waren. Es würde in diesem Sinne den damaligen Verhältnissen entsprechen, die Beiträge der Frauen zum Literaturbetrieb nur am Rande zu berühren und sich 2 Detaillierter dazu, vgl. mit Schwerpunkt auf der sozialhistorischen Bedeutung, Einleitung zu Anne Baillot: Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800. Berlin 2011; mit Schwerpunkt auf der ideengeschichtlichen Dimension mein Artikel: Berliner „Intellektuelle“ um 1800. Eine kontroverse Kategorie und ihre Anwendbarkeit im digitalen Zeitalter. In: Virtuosen der Öffentlichkeit. Hrsg. von Michael Rohrschneider [u. a.] http://www.historicumestudies.net/epublished/virtuosen-der-oeffentlichkeit/digital-intellectuals/berliner-intel lektuelle-um-1800-eine-kontroverse-kategorie-und-ihre-anwendbarkeit-im-digitalen-zeit alter/einleitung/ [letzter Zugriff 10.10.16]. 3 Zu Lebzeiten wurden sie distanziert bis ablehnend von ihren männlichen Pendants wahrgenommen. 4 Hierzu und zu den gängigen, moralisch begründeten Vorstellungen der Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts und ihrer Auswirkung auf die literarische Tätigkeit von Frauen, vgl. Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000 und Katrin Tebben: Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen 1998.

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dann abzuwenden. Denn genau dies hatten die eingesetzten Veröffentlichungsstrategien zum Ziel oder zumindest zur Folge. Doch kulturhistorisch gesehen geht in einem solchen Forschungsmuster vieles von dem verloren, was wir Neues über die Schaffensprozesse in der Sattelzeit finden und sagen könnten. Dieses Neue finden wir nur, indem wir uns dem widmen, was einen anderen Ort hat als die Literatur, wie sie in der Literaturgeschichte abgehandelt wird. Dabei gilt es auch, sich zu fragen, ob das, was Intellektuellenmilieu und intellektuelle Existenz ausmacht, nur die tatsächliche Öffentlichkeitswirksamkeit in den großen Organen und unter dem eigenen Namen ist, oder ob nicht auch deren Unterbau expliziter berücksichtigt werden sollte: familiäre Schreibunternehmen, die sich unter einem Namen zusammentun; Freundeskreise, die den gesamten literarischen Zyklus von der Entstehung bis hin zur Rezension von Texten gestalten; vollständige Anonymität zur Eroberung eines sonst nicht zu beanspruchenden Diskursraumes etc. Nimmt man an, dass das Potential an intellektueller Positionierung wesentlich vielfältiger ist, als es die Literaturgeschichte erzählt und dass die sozialpolitischen Bedingungen der preußischen Hauptstadt um 1800 neue Möglichkeiten boten sich zu positionieren, dann stellt sich die Frage nach der Einschätzung der Rolle einer Figur wie Henriette Herz ganz anders. Denn nun gilt es, die Wirkung einer solchen Figur nicht infrage zu stellen, sondern dezidiert einzubeziehen. Wie das genau zu leisten wäre, ist eine zentrale Frage, deren Beantwortung ich am Schluss meines Beitrages mit einigen Vorschlägen anstoßen möchte.

Netzwerkstrukturen Zunächst jedoch einige Überlegungen zum Netzwerkbegriff. Frauen werden nur zu leicht als ,Netzwerkerinnen‘ abgetan, ohne dass der sich dahinter verbergende Netzwerkbegriff näher hinterfragt würde. Dabei genießt der Netzwerkbegriff eine verstärkte Beliebtheit in der Geschichtswissenschaft insbesondere wenn Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, bei denen man die verbindende Funktion herausstellen möchte. Allerdings ist dies ein sekundäres Verständnis vom Netzwerk, denn primär handelt es sich um ein Werkzeug der Soziologie, und originärer noch, der Mathematik. Soziologisch betrachtet ist das Netzwerk ein System, das Beziehungen abbildet und hilft, Beziehungsstrukturen in einer übergeordneten Größenordnung zu erfassen. Mathematisch gesehen ist das Bild eines Netzwerks nur eine Repräsentationsform eines Graphen, der wiederum mathematische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Objekten vereinfacht und abbildet, auch hier mit dem Ziel, eine Erkenntnis auf einer übergeordneten Ebene aus der Reduzierung

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auf diese Elemente und ihr Verhältnis unter einander abzuleiten.5 Beide Verfahren (soziologisch und mathematisch) gehen von einer als neutral und objektiv betrachteten Datengrundlage aus, bei der die Unsicherheitsfaktoren in das Gesamtkalkül eingerechnet und benannt werden. Dieses Verständnis vom Netzwerk kann positivistisch seine Anwendung finden, da selbst das Unsichere (die Verzerrungen, die mit der Datensammlung zusammenhängen) in das Gesamtbild einfließt. Was hat die Arbeit mit historischen Quellen davon? Das größte Hindernis bei der Anwendung solcher Repräsentationsverfahren auf historische Korpora ist, dass diese so gut wie nie die Homogenität aufweisen, die nötig wäre, um positivistisch damit zu verfahren. Es ist bei historischen Quellen schwierig bis unmöglich, die Verzerrungen zu berechnen, die mit der Heterogenität des Korpus zusammenhängen: Es fehlen zu viele Textteile, Egodokumente sind grundsätzlich zu subjektiv, oft würde es eines weiteren Vergleichskorpus’ bedürfen, um solide Ergebnisse zu erreichen. Stellt man eine Netzwerkvisualisierung auf der Grundlage eines Briefkorpus her, sagt uns diese Visualisierung wesentlich mehr über die Überlieferungsgeschichte des Briefkorpus als über die Beziehungen zwischen den Korrespondenzpartner_innen. Der für die historische Forschung aus meiner Sicht wichtigste heuristische Mehrwert der Arbeit mit dem Netzwerkbegriff und seinen Anwendungen liegt darin, dass er zu einer methodischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ,Beziehung‘ zwingt. Beziehungen sind eine bewegliche Kategorie: Eine Beziehung ändert sich im Laufe der Zeit, lässt sich womöglich nicht leicht in Worte fassen. Soll man zwischen zwei Akteuren von einer Beziehung sprechen, oder sind nicht immer mehrere Beziehungsniveaus bzw. -arten im Spiel? Aus Verwandtschaften lässt sich nicht immer auf gute Beziehungen schließen, aus geographischer Entfernung nicht auf emotionale Entfernung. Beziehungen müssen, um wissenschaftlich auswertbar zu sein, modelliert werden. Es gilt, sich zu fragen, welche Beziehungen in den Blick genommen werden sollen, warum und wie. Es gilt, ein Netzwerk nicht als eine Gesamtvision einer anders nicht erfassbaren Realität zu sehen (im Sinne eines Distant Reading von Quellen, die vom Umfang her vom Menschen nicht zu bewältigen wären),6 sondern als die Formulierung einer Frage an ein Textkorpus: Was bedeutet es, dass sich so viele Männer (und nicht gerade die uninteressantesten) in Henriette Herz verliebt haben? Welche Folgen hat ihre Rolle 5 Ausführlicher dazu, vgl. Anne Baillot: Die Krux mit dem Netz. Verknüpfung und Visualisierung bei digitalen Briefeditionen. Erscheint im Sammelband zur Tagung „Scientia Quantitatis“. Hrsg. von Toni Bernhard [u. a.] (Autorenversion: https://halshs.archives-ouvertes.fr/ halshs-01278211 [15. 09. 2016]). 6 Vgl. allgemein Franco Moretti: Distant Reading. London 2013 und zu Fragen der Netzwerkdarstellung ders.: Graphs – Maps – Trees. Abstract Models for a Literary History. London 2005.

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als diejenige, die höflich zurückweist, was ist der Subtext davon und wie wirkt sich auch dieser Subtext in der Gesamtentwicklung des Freundesnetzes aus? Egodokumente eignen sich von Natur aus als Grundlage für Netzwerkvisualisierungen besonders gut, weil Beziehungen dort eine zentrale Rolle spielen – und das gilt in besonderem Maße für Egodokumente mit einer ausgeprägt ideengeschichtlichen Dimension. Die Interaktionen zwischen Personen, Orten, Zeiten und Werken können in einer Netzwerkvisualisierung erfasst und anschaulich gemacht werden. Doch diese Möglichkeit, die wegen ihrer Unschärfe verpönten ,Einflüsse‘ genauer zu erfassen, setzt voraus, dass der Forscher/die Forscherin das Zusammenspiel der relevanten Kategorien klar definiert. Denn eine basale Netzwerkvisualisierung in zwei Dimensionen kann höchstens drei Informationen miteinander verbinden: zwei Punkte und eine Kante. Sicherlich lassen sich noch hier eine Zeitleiste und da eine Landkarte als Hintergrund einbauen. Doch wenn man dem Netzwerk zu viele Informationen aufbürdet, die integriert werden sollten, setzt man sich dem Risiko aus, dass letztlich dem Netzwerk kein Erkenntnismehrwert mehr zukommt. So ist es im Grunde genommen notwendig, für eine bestimmte Fragestellung komplementäre Netzwerke zu konzipieren und miteinander zu vergleichen. Ein Egonetzwerk erschließt sowohl die Nähe des Hauptakteurs zu den anderen, damit verbundenen Personen (Freunde, Verwandte, Studenten etc.), als auch die Verbindungen dieser untereinander : Selbst nur auf der Ebene der ,Bekanntschaft‘ als darzustellendem Beziehungsmodus lassen sich am Zusammenspiel zwischen starken und schwachen Beziehungen Erkenntnisse herausarbeiten.7 Ergänzend zu einem solchen Egonetzwerk kann ein auf einem anderen Teildatensatz basierendes soziales Netzwerk ein Gesamtbild des Kontextes liefern. Eine auf der Zirkulation von Publikationen fokussierte Netzwerkvisualisierung aus demselben Korpus hilft dann, gezielt Kollaborationsmechanismen zu veranschaulichen. Die Möglichkeiten sind zahlreich, sie brauchen aber dreierlei: die passenden Daten zur Grundlage, eine klare Fragestellung und die entsprechende Modellierung.

7 Vgl. den für die Social Network Analysis bahnbrechenden Artikel des Soziologen Mark Granovetter : The Strength of Weak Ties. In: Ancient Journal of Sociology 78 (1973), H. 6, S. 1360–1380 (online zugänglich unter : https://sociology.stanford.edu/sites/default/files/pub lications/the_strength_of_weak_ties_and_exch_w-gans.pdf [15. 09. 2016]).

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Wege für die Henriette-Herz-Forschung Die Historische Netzwerkforschung ist seit mehreren Jahren (oder gar Jahrzehnten) mit diesen Fragen beschäftigt.8 In einigen Bereichen sind mit Blick auf bestimmte Fragestellungen spezifische, potente Methoden entwickelt worden: die Rekonstruktion der Szenerie eines Platon-Dialogs, die Bewegungen der Schiffe auf der Seidenroute und der damit verbundene Gewerbebetrieb anhand der Logbücher, Widerstandsnetzwerke im Dritten Reich usw.9 Es gibt aber weder generische Ansätze, die für jede Konstellation identisch einsetzbar wären, noch epistemologisch befriedigende Methoden für die Arbeit mit Egodokumenten als literarischen Texten oder zumindest als Schriften, die zusätzlich zu den üblichen Mängeln historischer Quellen (Fehlerhaftigkeit, Korpusunvollständigkeit etc.) noch den – mit Blick auf die Objektivierung der Daten – Nachteil einer gewissen Literarisierung aufweisen. Es bleibt also eine Frage der wissenschaftlichen Kreativität, welches Verständnis von Netzwerk man umsetzen möchte. Auch für die Henriette-HerzForschung stellt sich die Frage, unter welcher Art von Netzwerk man die große Netzwerkerin subsumieren möchte. Hier sollen noch zum Schluss Ansätze umrissen werden, die eher inspirierend als einschränkend gedacht sind und nur drei von vielen Optionen aufzeigen, die denkbar wären. Ein vergleichsweise leicht objektivierbares Beziehungsmodell ist das der intellektuellen Genealogien, das zur Erfassung zumindest eines Teils des Beziehungsgefüges um Henriette Herz herum angewendet werden könnte.10 Intellektuelle Genealogien umfassen sowohl Lehrer-Schüler-Verbindungen als auch Mentorenbeziehungen und Verwandtschaften. Sie verbildlichen hierarchische und unidirektionale Beziehungen, deren Inhalt nicht weiter spezifiziert zu werden braucht, da der Informationswert im Tradierungsgestus liegt. SchülerLehrer-Beziehungen sind im Fall von Henriette Herz kein praktiziertes Modell, aber ein näherer Blick auf Mentorenbeziehungen, womöglich kombiniert mit 8 Ganz frisch erschienen ist das lange angekündigte Handbuch Historische Netzwerkforschung. Hrsg. von Marten Düring, Ulrich Eumann, Martin Stark u. Linda von Keyserlingk. Münster 2016. 9 Bei diesen Beispielen handelt es sich um Studien, die entweder im Kontext der Forschungsarbeit der in Anm. 8 genannten Wissenschaftlergruppe entstanden sind oder im Rahmen der von diesen mitveranstalteten Konferenzen „Historical Network Research“ dargestellt wurden. 10 Methodische Grundlage und Umrisse der damit verbundenen Potentiale habe ich in folgendem Aufsatz anhand des Tieck- (und beispielhaft anhand des Boeckh-)Korpus skizziert: Tieck und Solger. Zwei Namen und ihre intellektuellen Genealogien. Erscheint im Tagungsband der ersten und zweiten Konferenz der Tieck-Gesellschaft, hrsg. von Achim Hölter u. Walter Schmitz (Vortragsversion: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01277669 [15. 09. 2016]).

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Verwandtschaft, wäre lohnenswert. Zunächst einmal wäre es dadurch möglich, die eigentliche Verzahnung des Doppelsalons von Henriette Herz mit dem ihres Mannes Marcus Herz (1747–1803) zu überblicken. Wo überschneiden sich beide Netzwerke? Laufen sie in entgegengesetzte Richtungen oder konvergieren sie? Lässt sich eine Spezifität des Salons von Henriette Herz mit Blick auf Tradierungsstrategien erkennen? Über diese erste mögliche Lektüre hinaus ließen sich die Briefe und die Erinnerungen andererseits im Sinne von Henriette Herz’ Agentinnenrolle genauer unter die Lupe nehmen. Diese Funktion der SaloniHre in der Kompetenzkette des Literaturbetriebs ist nicht so leicht zu erfassen, da sie sich (im Gegensatz zu anderen Funktionen wie Verlegerin, Kopistin, Übersetzerin, etc.) nicht unter die Ägide einer eindeutigen Berufs- und Tätigkeitsbezeichnung stellen lässt. Die Agentin vermittelt einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin an einen Verleger/eine Verlegerin bzw. an einen Zeitschriftenredakteur/eine Zeitschriftenredakteurin, so das in diesem Falle plausibelste Szenario (Varianten und komplexere Konstellationen sind durchaus denkbar). Henriette Herz hat zu unterschiedlichen Zeiten ihres langen Lebens diese Rolle eingenommen. Damit steht sie als Knotenpunkt in unterschiedlichen Publikationsszenarien, die differenziert analysiert werden könnten: Inwiefern ändert sich ihre Aktion als Literaturagentin im Laufe der Zeit, inwiefern ändert sich ihr Selbstverständnis in dieser Rolle? Ist diese Funktion ausschlaggebend für die Einschätzung ihrer Rolle in der Kultur-, Literatur und Ideengeschichte? Eine letzter, wohl schwieriger zu umreißender Beitrag der Netzwerkanalyse zur Neueinschätzung der Bedeutung von Henriette Herz für die Literatur- und Ideengeschichte wäre die Spezifizierung ihrer Verbindungsstrategie zwischen zentralen Akteuren und zweitrangigen Figuren. Eine solche Analyse wäre im Sinne von Granovetters These der unterschätzten Bedeutung von schwächeren Knoten durchzuführen, die durch die Vielfalt der sie mit anderen verbindenden Kanten doch eine größere Verbindungskraft haben als es auf den ersten Blick scheinen mag.11 Lässt sich eine Strategie von Henriette Herz in der Handhabung ihrer Verknüpfungen unter ihren Bekannten erkennen? Genauer : Ist eine Verknüpfungsstrategie zu erkennen, wodurch sie ihre Position stärken würde? Die Modellierung wäre für dieses spezifische Fragenstellung komplexer, da es sowohl nötig wäre, den Wichtigkeitsgrad der jeweiligen Akteure im Vorfeld festzulegen als auch die Natur der Verbindungen im Voraus zu werten (geringe Unterstützung / mittlere Unterstützung / größere Unterstützung etwa). Dennoch wäre dies vielleicht ein Weg, die Neuschreibung des literarischen Kanons nicht nur zu beschwören, sondern auch in Ansätzen herbeizuführen. Andere Modelle könnten zeigen, wie Henriette Herz zur Genese bestimmter 11 Vgl. Granovetter : The Strength of Weak Ties (Anm. 7).

Das Netzwerk als Kunstwerk

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Werke der Gäste ihres Salons oder ihrer Korrespondenzpartner_innen beigetragen hat und damit ihre Rolle in der Literaturgeschichte handfester machen. Die hier umrissenen Beispiele zeigen aber vor allem eins: Dass es die Vielfalt der Beleuchtungen des Netzwerks ist, die das Netzwerk eine neue Geschichte erzählen lassen – auch dies ist eine Geschichte der Literatur.

Die geistesgeschichtlichen Wurzeln – Die Haskala und ihre Vertreter als ,Väter‘ und Gäste der ,Salons‘

Christoph Schulte

Die Töchter der Haskala – Die jüdischen Salonièren aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung

Die jüdischen SaloniHren von Berlin um 1800, gerade die prominentesten unter ihnen wie Rahel Levin Varnhagen (1771–1833), Dorothea Mendelssohn (1764–1839) oder Sarah Itzig (1761–1854), waren mehrheitlich Töchter, Schwestern oder Ehefrauen1 von Maskilim, wie sich nachweislich ab 1783 die aufgeklärten Juden in Preußen selbst bezeichneten.2 Oder sie waren sowohl Tochter als auch Ehefrau eines aufgeklärten Juden, wie Henriette Herz, geborene de Lemos, deren Vater Benjamin de Lemos (1711–1789) ein studierter Arzt und Maskil gewesen ist, der Henriette mit einem anderen studierten Arzt und Maskil, mit Marcus Herz (1747–1803), verheiratet hat. Henriette Herz und viele der anderen jüdischen SaloniHren entstammten und lebten im Milieu der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, die sich nach 1770 in Berlin bildete und organisierte, und von Berlin aus die jüdische Moderne mitprägte. Dennoch spielen diese SaloniHren in der Haskala-Forschung bis in die jüngste Zeit so gut wie keine Rolle. Sie wurden nicht als Maskila, bzw. im Plural: als Maskilot, betrachtet, nicht als aufgeklärte Jüdinnen, nicht als Zeitgenossinnen und Beteiligte der jüdischen Aufklärung. Und ihre Salons wurden nicht als Orte der Haskala untersucht. Stattdessen wurden die SaloniHren vor allem von der Romantik-Forschung, insbesondere in der Germanistik, in Beschlag genommen und untersucht. Forschungsgeschichtlich nimmt das seinen Ausgang bei Heinrich Heine (1797–1856), der als junger Student in Berlin einige dieser jüdischen SaloniHren noch persönlich kennengelernt hat. In seinem Überblickswerk Die Romantische Schule (1836) findet sich die Zuordnung der SaloniHren zur Romantik bereits im Titel. Sie kehrt dann später wieder bei Heinrich Graetz (1817–1891),3 Georg Brandes (1842–1927)4 und Ludwig Geiger (1848–1919),5 im 1 Eine Liste von jüdischen SaloniHren und ihren jüdischen Ehemännern hat Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin 1780–1806. München 1995, S. 289f. 2 Vgl. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie Religion Geschichte. München 2002, S. 17f. 3 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Bd. 11 [1870]. 2. Aufl. Leipzig 1900, bes. S. 145–175. 4 Georg Brandes: Die romantische Schule in Deutschland. Berlin 1915.

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20. Jahrhundert prominent bei Margarethe Susman (1872–1966) in Frauen der Romantik (1929) und bei Hannah Arendt (1906–1975) in Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1932/1959). Verursacht wurde diese Zuordnung durch die christlichen Teilnehmer der Salons, die, ebenfalls seit Heine, zur deutschen Romantik gezählt wurden: die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829), Friedrich Schleiermacher (1768–1834), Friedrich von Gentz (1764–1832), die Brüder Alexander (1769–1859) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Jean Paul (1763–1825), Achim von Arnim (1781–1831), Clemens Brentano (1778–1842), Ludwig Tieck (1773–1853), auch Karl Philipp Moritz (1756–1793) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Darüber hinaus sind die Selbstbekundungen der SaloniHren in ihren Briefen und Schriften fast ausschließlich in deutscher Sprache geschrieben, fokussiert auf Goethe, Schiller und die genannten Autoren. Dabei wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass die jüdischen SaloniHren auch die weltanschaulichen Invektiven schon der Frühromantik, etwa der Brüder Schlegel, gegen die Aufklärung teilten. Und es wurde vergessen, dass, mindestens in der so genannten Glanzepoche der jüdischen Salons zwischen 1780 und 1806, neben den genannten christlichen Romantikern auch etliche Maskilim in den Salons anwesend waren, als Gäste und oft sogar als Hausherren: Moses Mendelssohn (1729–1786) war Gast im Salon seiner Tochter Brendel/Dorothea, Salomon Maimon (1753–1800) war Gast bei Sarah Itzig, verehelichte Levy, und Marcus Herz mag die Gäste im Salon seiner Frau und ihre literarischen Gesprächsthemen nicht gemocht haben, aber dafür muss er wenigstens ab und zu präsent gewesen sein und ihnen zugehört haben. Kurz und im Klischee: Die jüdischen SaloniHren, ihre Aktivitäten und ihr Werk wurden der deutschen Romantik zugeschlagen, zumal einige SaloniHren sich später taufen ließen. Wie ja auch einige der Frühromantiker aus dem Salon der Henriette Herz später sehr fromm wurden und gar als Karrierekonvertiten und nationalistische Antisemiten prächtig vorankamen: Schleiermacher geriet zum Kirchenvater der preußisch-protestantischen Unierung,6 Friedrich Schlegel wandelte sich, wie Hegel bissig kommentierte, vom tabulosen ästhetischen Ironiker zum katholisch-kaiserlich geadelten „Herrn von Schlegel“ und Hofphilosophen in Metternichs Wien.7 Fichte, Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und Friedrich Rühs (1781–1820) attestierte der Maskil Saul Ascher (1767–1822) eine

5 Ludwig Geiger : Die deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910, S. 1–24. 6 Vgl. Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Zürich 1947, S. 379–424. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg 1967. Anm. zu §140, S. 137f.; vgl. Christoph Schulte: Hegel’s Contempt or the Importance of Being Earnest in Moral Philosophy. In: Commitment in Reflection. Essays in Literature and Moral Philosophy. Hrsg. von Leona Toker. New York 1994, S. 25–44.

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ausgeprägte „Germanomanie“8, weil nur Christen und die Nachfahren der Germanen zur deutschen Nation gehören sollten, Juden dagegen nicht. Trotz der Taufe allerdings wurden die SaloniHren seit der frühen RomantikForschung stets als jüdische Autorinnen und Akteurinnen gewürdigt; das ist so schon bei Heine, bei Graetz und bei Ludwig Geiger, bei Susman und bei Arendt, und das bleibt so bei Barbara Hahn und Liliane Weissberg.9 Die Taufe ist individuell und biographisch stets ein wichtiger Punkt, aber sie tilgt bei den SaloniHren schon in den Augen der Zeitgenossen das Jüdische nicht. Dies wird auch in den neueren sozialhistorischen Studien von Deborah Hertz und Natalie Naimark-Goldberg betont.10 Taufen ließen sich viele der SaloniHren ohnehin erst nach dem Ende der großen Zeit der Berliner jüdischen Salons im Jahr 1806, als Napoleon in Berlin einmarschierte. Und schon unter den Zeitgenossen, zumal den Antisemiten und Antisemitinnen, wurden sie trotz ihrer Taufe stets als Jüdinnen apostrophiert. Aus der Deutschen Tischgesellschaft von 1811 etwa blieben sie als Frauen und als getaufte Jüdinnen prinzipiell ausgeschlossen. Gewichtig und folgenreich wird die Taufe einiger SaloniHren jedoch in der Geschichtswissenschaft und insbesondere in der Haskala-Forschung. Insoweit jüdische Geschichte seit Heinrich Graetz’ epochemachendem, elfbändigen Opus Magnum als Geschichte der Juden verstanden wird, rücken christlich getaufte Jüdinnen und Juden an den Rand dieser Geschichte, und oft ganz aus ihr hinaus. Gerade in der protozionistischen und zionistischen Geschichtsschreibung, angefangen bei Perez Smolenskins (1842–1885) wüster Attacke gegen Mendelssohn als Vater seiner getauften Söhne, Töchter und Enkel in der hebräischen Zeitschrift HaSchachar („Die Morgenröte“) von 1883, über Joachim Prinz’ (1902–1988) Wir Juden (Berlin 1934) bis zu Jacob Katz’ (1904–1988) Klassiker Out of the Ghetto (1973) gilt die Taufe als Resultat und Schlusspunkt völliger Assimilation an die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft. Die Getauften sind für das jüdische Volk, das historiographische Subjekt jeder Geschichte der Juden, ein Verlustgeschäft. Sie treten aus dieser Geschichte aus und sie werden marginal oder gar nicht mehr als Teil der jüdischen Geschichte berücksichtigt. In dieser Perspektive geraten z. B. bei Jacob Katz die Salons der später getauften Jüdinnen zur Wartehalle der völligen Assimilation,11 ungeachtet der 8 Saul Ascher : Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Leipzig 1815. Gegen den Antisemitismus schon des frühen Fichte schrieb Ascher : Eisenmenger der Zweite. Berlin 1794. 9 Vgl. Eva Lezzi: Gender Constructions in the Debates on German-Jewish Literature. In: Journal of Jewish Identities 1 (2008), S. 17–50. 10 Deborah Hertz; Die jüdischen Salons im alten Berlin. München 1995 (engl. 1988); dies.: Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. New York 2010; Natalie Naimark-Goldberg: Jewish Women in Enlightenment Berlin. Oxford 2013. 11 Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation. New York 1973, S. 120–123.

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Tatsache, dass sie in ihren Salons zunächst als Jüdinnen präsent und attraktiv waren, und zwar inmitten von jüdischen Vätern, Brüdern, Ehemännern und sogar jüdischen Kindern. Die Salons sind für die zionistische Geschichtsschreibung der Beginn jener Assimilation, die Gershom Scholem (1897–1982) in seinen berühmten Polemiken Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964) und Juden und Deutsche (1966) als Selbsttäuschung, als in die Katastrophe der Shoah führenden Irrtum und als bedauerlichen Substanzverlust für das als ,lebendiger Organismus‘ verstandene jüdische Volk kennzeichnet. Für Scholem sind die Salons das Anfangsstadium jenes deutsch-jüdischen Gesprächs, das von vornherein, wie er seiner beinahe verstummten Antipodin Margarethe Susman 1962 vorhält, ein ,Mythos‘, ein Schrei ins Leere und eine Einbahnstraße mit tödlichem Ende gewesen sei.12 An der zionistischen Mendelssohn-Forschung kann man ablesen, wohin solche auf die Taufe fixierte jüdische Historiographie führt: Die getauften Kinder und Enkel diskreditieren Moses Mendelssohn als historische Figur der Haskala und der jüdischen Geschichte. Für die Orthodoxie und die Ultraorthodoxie ist der Aufklärer Mendelssohn der geistige Vater der Apostasie, für den Zionismus ist er der Vater der modernen Assimilation im Exil. Bis heute ist in Israel nicht einmal eine Sackgasse nach ihm benannt.13 Aber nicht alle Haskala-Forschung ist zionistisch. Es stellt sich also die Frage, warum die jüdischen Salons zwischen 1780 und 1806 nicht einmal völlig unteleologisch, also ohne Projektion auf spätere Taufen und vermeintliche Assimilation, welche ja 1782 oder 1799 noch nicht vorherzusehen waren und nur mit dem nachträglichen Wissen der Historiker in die Historiographie jener Jahre eingetragen wurden, untersucht werden. Warum also sind die jüdischen Salons auch von der Haskala-Forschung nicht als ein Resultat, ein Symptom, eine Instanz oder eine Begleiterscheinung der Haskala, mitten in und mitten aus dem maskilischen Milieu, betrachtet und analysiert worden? Als Grund dafür kann nicht nur die Gender-Blindheit der vorwiegend männlichen Forscher herhalten. Sicher ist diese in der Haskala-Forschung, wie in der ähnlich männerdominierten Aufklärungsforschung insgesamt, vorhanden.14 Aber es gibt darüber hinaus unterschiedliche und teilweise nicht reflektierte Forschungsvorannahmen, -voraussetzungen und Interessenschwerpunkte der Forscher, die nicht einfach mit Gender-Blindheit wegzuwischen sind. Und es gibt in der Haskala-Bewegung selbst, wie generell in der europäischen Aufklärung, eine auffällige Dominanz von männlichen Diskursen, Männerbünden, 12 Beide Texte in: Gershom Scholem: Judaica 2. Frankfurt a. M. 1970, S. 7–19 u. S. 20–46. 13 Vgl. Christoph Schulte: Herr Moses war kein Zionist. In: Mendelssohn Studien 14 (2005), S. 19–29. 14 Da schließe ich meine eigene philosophiehistorische Forschung nicht aus.

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exklusiv männlichen Gesellschaften, Vereinen, Freimaurer-Logen und Universitäten, die von der Forschung, wenig kritisch, einfach gespiegelt wird. Damit verbunden ist häufig eine faktische Vernachlässigung, Benachteiligung und Abwertung von Frauen und Frauen-Rollen in der Haskala, die von der Forschung oft nicht bedacht wurde und die es sich anzusehen lohnt.15 Es lässt sich nämlich zeigen, so die These, dass die Haskala-Männer den jüdischen Frauen Eigenschaften, Felder und Tätigkeitsbereiche zuschreiben, die sie zur Rolle der SaloniHre prädisponieren. Ein biographisch-hermeneutisches Prae aller Haskala-Forschung, zumindest was Preußen betrifft, ist Moses Mendelssohn. Man kann keine Geschichte der jüdischen Aufklärung finden, die nicht die Figur des Moses Mendelssohn berücksichtigt. Das beginnt schon mit der hebräischen Mendelssohn-Biographie Toldot Rabbenu HeChacham Mosche ben Menachem aus der Feder Isaac Euchels (1756–1804)16 von 1788 und mit der ersten deutschsprachigen Zielbestimmung der Haskala durch Lazarus Bendavid (1762–1832) in Etwas zur Charackteristick der Juden von 1793: „Aufklärung des Juden“ heißt es dort gleich zweimal,17 sei das Ziel jener Gruppe gewesen, die sich – und hier wird er namentlich genannt – um Moses Mendelssohn in Berlin geschart hatte. Gemeint ist: die Aufklärung aller Juden. Lazarus Bendavid dachte da mit Sicherheit auch schon an die Frauen, aber er wählt sprachlich das männliche Singulare tantum, und Frauen nennt er ansonsten in seinem ganzen Text nicht. Von da an, seit Euchel und Bendavid, dominiert das Bild von Moses Mendelssohn als Gründungs- und Zentralfigur der Haskala, die andere jüdische Männer um sich sammelt und für die Aufklärung gewinnt, die Historiographie. Das gilt von Isaac Marcus Jost und Heinrich Graetz18 bis zu den großen Mendelssohn-Biographien von Meyer Kayserling (1883), Alexander Altmann (1973) und Dominique Bourel (2004).19 Da Mendelssohn vor allem als Philosoph wirkte, und die Haskala – ebenso wie die Aufklärungsforschung im Allgemeinen – Aufklärung als Vernunftgeschäft betrachtete, fokussierte man die Forschung 15 Vgl. den Forschungsüberblick in Natalie Naimark-Goldberg: Jewish Women in Enlightenment Berlin (Anm. 10), S. 4–17. 16 Zu diesem Buch vgl. Christoph Schulte: Euchel und Mendelssohn, anhand einer hebräischen Biographie. In: Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung. Hrsg. von Marion Aptroot, Andreas Kennecke u. Christoph Schulte. Hannover 2010, S. 239–260. 17 Lazarus Bendavid: Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793, S. 34 u. S. 40. 18 Isaak Markus Jost: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Tage. Bd. 9. Berlin 1828, S. 19, S. 33ff. u. S. 58ff. Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Bd. 11 (Anm. 3), S. 1–94. 19 Meyer Kayserling: Moses Mendelssohn. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1862; Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A biographical study. Alabama, London 1973; Dominique Bourel: Moses Mendelssohn. La naissance du juda"sme moderne. Paris 2004 (dt. Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums. Eine Biographie. Zürich 2007).

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zunächst auf gedruckte Texte mit öffentlicher Wirkung, die sich mit den Zielen, der Philosophie, der Ideologie und den Forderungen von Haskala beschäftigten. Darüber hinaus richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf andere philosophische, literarische, religiöse und religionskritische, wissenschaftliche und feuilletonistische Druckwerke Mendelssohns und seines Kreises, seiner Schüler, aber auch seiner Gegner. Schaut man sich das mehrere hundert Texte umfassende Konvolut gedruckter, d. h. publizierter Texte der Maskilim bis 1800 an, findet sich unter den Autoren, abgesehen von Esther Gad (1767–1833),20 keine Frau. Eine Haskala-Forschung, die sich nur auf seinerzeit gedruckte Texte stützt, hätte Mühe, Frauen als Akteurinnen der Haskala auszumachen. An diesem negativen Resultat ändert sich auch dann nichts, wenn man das Blickfeld erweitert, nachdem durch Dohms Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781; 2. Bd. 1783) die Haskala mit der Forderung nach juristischer, politischer und sozio-ökonomischer Gleichstellung der Juden in Preußen auch eine politische Agenda erhält: In den politischen ebenso wie in den wissenschaftlichen, philosophischen und allemal in den religiösen Druckwerken der Haskala sucht man Autorinnen vergebens. Jüdische Frauen waren an den gedruckten Debatten und Diskursen der Maskilim nicht beteiligt. Diese Feststellung wurde auch durch den im Kern kulturzionistisch inspirierten Schwenk der Haskala-Forschung zu den hebräischen Drucken der Haskala nicht korrigiert: Aufbauend auf der Grundlagenforschung von Joseph Klausner und Shmuel Verses hat Moshe Pelli in The Age of Haskalah (1979) Studien zur Literatur der von ihm so genannten „Hebrew Haskalah“ vorgelegt und mit vollem Recht die Aufmerksamkeit der Haskala-Forschung weg von den deutschen Drucken und hin zu so großartigen modernen hebräischen Autoren wie Isaac Satanow (1732–1804) und Isaac Euchel gelenkt. Isaac Euchel (1756–1804) wollte das Hebräische in einer gereinigten, am biblischen Hebräisch orientierten Fassung zur modernen Wissenschafts-, Literatur- und Nationalsprache der Juden und der jüdischen Aufklärung machen.21 Er wird darum von Shmuel Feiner in dessen großer Haskala-Darstellung Mahapechat HaNeorut (2002) bei gleichzeitiger Entthronung von Mendelssohn zum eigentlichen Motor und Kulturrevolutionär der preußischen Haskala gemacht.22 Die Gruppe der 20 Esther Gads Gedicht Auf die errichtete Wilhelms-Schule in Breslau (1791) erweist sie als aufgeklärte Jüdin, Maskila und Unterstützerin dieser Breslauer Haskala-Schule. Erwähnenswert ist auch ihre Polemik Einige Aeusserungen über Hrn. Kampens Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend in der Zeitschrift Der Kosmopolit (Halle 1798, S. 577–590), die für weibliche Bildung und Bildungsfähigkeit streitet. Gad lebte ab 1799 in Berlin und frequentierte dort die Salons, u. a. den ihrer (Brief-)Freundin Rahel Varnhagen. 21 Vgl. Andreas Kennecke: Isaac Euchel. Architekt der Haskala. Göttingen 2007. 22 Shmuel Feiner : Mahapechat HaNeorut. Tenuat HaHaskala HaJehudit BeMea ha-18. Jerusalem 2002; dt. Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Hildesheim 2007. Noch deutlicher macht diese Implikationen Shmuel Feiners Beitrag: Isaac

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hebräisch schreibenden Maskilim um die hebräische Aufklärungszeitschrift HaMe’assef (dt. „Der Sammler“, 1783–1812), die Me’assfim, wird von Feiner der Gruppe der deutsch publizierenden jüdischen Aufklärer historiographisch gegenübergestellt, wobei im Kern die Ereignisgeschichte der preußischen Haskala entlang der Chronologie der hebräischen Maskilim, ihrer Vereine und ihrer Auseinandersetzungen mit dem Rabbinat erzählt wird.23 Nun hatte jedoch Isaac Euchel schon in einem offenen Brief an Joel Löwe (1762–1802) in HaMe’assef aus dem Jahr 1797 das Scheitern der hebräischen Haskala eingestanden, weil es in den wenigen Jahren seit Gründung der Zeitschrift 1783 in Berlin und Preußen nicht mehr genügend des Hebräischen mächtige junge Männer gebe, die eine hebräische Zeitschrift wie HaMe’assef lesen könnten und deshalb kaufen würden. Euchel hat die Redaktion der Zeitschrift daraufhin niedergelegt und seine schriftstellerischen Versuche in hebräischer Sprache eingestellt. Ausdrücklich spricht er in seinem offenen Brief von „jungen Männern“24 und das völlig zu Recht: Die hebräische Haskala hatte weder weibliche Leser noch auch nur eine einzige weibliche Autorin.25 Und dieser Befund gilt nicht nur für die gesamten Jahrgänge der Zeitschrift HaMe’assef bis 1812, sondern auch für die Versuche einer Fortsetzung der hebräischen Haskala durch Zeitschriften und hebräischen Buchdruck in der Donaumonarchie und im Zarenreich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Es gab keine Maskilot, die Hebräisch schrieben und publizierten. Jüdische Frauen in Mittel- und Osteuropa des 18. Jahrhunderts lernten im Regelfall kaum genug Hebräisch, um auch nur passiv den religiösen Texten im synagogalen Gottesdienst folgen zu können. Die Lektüre rabbinischer, wissenschaftlicher oder literarischer Texte in Hebräisch durch Frauen war weder erlaubt noch Teil ihrer Bildung. An aktives Schreiben und Publizieren in Hebräisch war gar nicht zu denken. Da machte die hebräische Haskala keine Ausnahme. Sie unternahm auch keine Anstrengungen, Frauen partizipieren zu lassen. Im Kampf um die Erneuerung des Hebräischen, den aufgeklärte oder der Aufklärung geneigte Juden im 18. Jahrhundert führten, spielten Frauen und deren Beteiligung keine Rolle.26 Damit fehlten die Voraussetzungen für eine aktive

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Euchel und die jüdische Kulturrevolution im 18. Jahrhundert. In: Aptroot, Kennecke u. Schulte (Hrsg.): Isaac Euchel (Anm. 16), S. 13–27. Shmuel Feiner : Haskala – Jüdische Aufklärung (Anm. 22), bes. S. 272ff. Der vollständige Text dieses hochdeutsch verfaßten, aber in hebräischen Lettern gedruckten Schreibens ist in lateinischen Buchstaben abgedruckt in: Isaak Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung. Schriften zur Haskala. Hrsg., übers. und komment. von Andreas Kennecke. Düsseldorf 2001, S. 119–122. Vgl. die umfangreichen Autoren-Register und Inhaltsregister des HaMe’assef in: Moshe Pelli: Scha’ar LaHaskala (dt. „Tor zur Haskala“). Jerusalem 2000. Vgl. Andrea Schatz: Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert. Göttingen 2009.

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Teilnahme von Frauen an der hebräischen Haskala und ihren Publikationen, sie blieben von deren Kultur und Aktivitäten faktisch ausgeschlossen. Maskilot, aufgeklärte Jüdinnen oder SaloniHren tauchen folgerichtig in den Darstellungen der hebräischen Haskala, angefangen von Klausners Geschichte der hebräischen Literatur über Pellis und Feiners Haskala-Darstellungen nicht auf. Bei Feiner erscheinen die SaloniHren wieder, wie schon bei Katz und anderen, allerdings nur wegen ihrer Konversion.27 Wie bei den meisten Maskilim führte auch bei ihren Ehefrauen und Töchtern der Weg zur Aufklärung und zu deren Kultur über die deutsche Sprache. Beispielhaft ist, wie schon Mendelssohn in seinen Brautbriefen an Fromet Gugenheim (1737–1812) das Deutsche auch als innerfamiliäre Sprache der Bildung und Kultur einfordert. Ihren Töchtern ließ schon die erste Generation der wohlhabenden Maskilim durch Hauslehrer Französisch- und Englisch-Unterricht erteilen; Hebräisch lernten nur die Söhne mit dem schon sprichwörtlichen, autoritär-frommen, aber ungebildeten ,polnischen Rabbiner‘, der den Söhnen auch Religionsunterricht gab.28 Der Sprachunterricht wurde bei den Töchtern der wohlhabenden Maskilim ergänzt durch Instrumental- und Musikunterricht. Die SaloniHre Sarah Levy, Tochter des Hofbankiers Isaac Daniel Itzig (1723–1799), war Cembalo-Schülerin von Wilhelm Friedemann Bach (1710–1784), eine der besten Pianistinnen Berlins, Mitbegründerin der Singakademie und ein Eliteprodukt dieser Erziehung.29 Von den wissenschaftlichen und politischen Debatten der Maskilim blieben deren Frauen und Töchter trotz ihrer literarischen und musikalischen Bildung ausgeschlossen: Die Aufklärungs-Gesellschaften wie die Chevrat Dorschej Laschon Ever (dt. „Gesellschaft der Erforscher der hebräischen Sprache“, gegründet 1782), die Gesellschaft der Beförderer des Edlen und Guten (1787) oder die Gesellschaft der Freunde (1792) sahen die Mitgliedschaft und Anwesenheit von Frauen von vornherein nicht vor;30 gleiches galt von den halb wissenschaftlichen, halb politischen, z. T. jüdisch-christlichen Debattier-Clubs in Wirtshäusern wie dem sogenannten Montags-Club. Auch die wissenschaftlichen Vereinigungen, wo z. B. die Ärzte und Naturforscher ihre neuesten Entdeckungen und Publikationen austauschten, blieben bis weit ins 19. Jahrhundert exklusiv männlich und Frauen verschlossen. Das war in der Haskala nicht anders 27 Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung (Anm. 22), S. 390f. 28 Diesen Unterricht, und sein Scheitern, schildert beispielhaft Lazarus Bendavid in seiner Jugend-Autobiographie in: Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographieen. Hrsg. von S. M. Lowe. Berlin 1806. Zweite Sammlung, S. 1–72. 29 Vgl. Peter Wollny : „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emmanuel Bach-Kultus“. Sarah Levy und ihr musikalisches Wirken. Wiesbaden 2010. 30 Vgl. Sebastian Panwitz: Die Gesellschaft der Freunde 1792–1935. Berliner Juden zwischen Aufklärung und Hochfinanz. Hildesheim 2007, S. 60f.

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als in der deutschen Aufklärung: Wissenschaft, Geschäfte und Politik waren Männersache, gleich ob sie in Logen, Vereinen, Gesellschaften, Raucherkabinetten oder Debattierclubs verhandelt wurden. Die einzigen Bereiche, wo die Präsenz und die Bildung von Frauen erwünscht und üblich war, waren die Geselligkeit, das Theater, die schöne Literatur und die Künste. Warum die musikalische und literarisch-ästhetische Bildung der Frauen bei den Maskilim so in den Vordergrund rückte, ob und inwieweit die jüdische Elite hier Verhaltensmuster und Bildungsideale des Adels übernahm und transformierte, wie dies etwa bei den Festen, Kunst- und Gemäldesammlungen, Büchern, der Architektur und dem Garten im Palais des Hofbankiers Itzig der Fall war, die Nicolai beschreibt,31 bedürfte einer Analyse im Einzelfall. Signifikant ist aber, dass führende Maskilim Ästhetiken verfasst haben: Moses Mendelssohn begann seine Karriere als philosophischer Schriftsteller mit kleinen, wohlformulierten Schriften zur Ästhetik.32 Marcus Herz hat eine Ästhetik in zwei Fassungen geschrieben,33 Lazarus Bendavid mehrere,34 Salomon Maimon formulierte Streifereien im Gebiete der Philosophie mit einer Abhandlung über die Ästhetik,35 Saul Ascher schließlich hat mit den Skolien (1792) ebenfalls eine ästhetische Schrift vorgelegt – nicht zu reden von unzähligen Literatur-Rezensionen und Kunstkritiken im publizistischen Werk der genannten Autoren. Bedeutsam ist dabei zweierlei: Erstens war Ästhetik seit Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750–1758) ein ganz neues Feld der Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sie war sozusagen eine Avantgarde-Philosophie.36 Die aufgeklärten jüdischen Philosophen und Maskilim konnten sich im Feld der Ästhetik gegenüber Juden wie Nichtjuden als Philosophen-Avantgarde profilieren und Anerkennung gewinnen. Zugleich war die Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung und des Schönen in 31 Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend. Bd. 2. Berlin 1786, S. 839ff. u. S. 852 u. ö. 32 Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. Berlin 1755; Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. Berlin 1757; Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften. Berlin 1758; Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. Berlin 1761, revid. Fassung Berlin 1771. 33 Marcus Herz: Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Leipzig 1776; Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1790. 34 Lazarus Bendavid: Versuch über das Vergnügen. 1.–2. Theil. Wien 1794; Beiträge zur Kritik des Geschmacks. Wien 1797; Versuch einer Geschmackslehre. Berlin 1799. 35 Salomon Maimon: Salomon Maimon’s Streifereien im Gebiete der Philosophie. Berlin 1793, S. 59–176. 36 Vgl. Michael Albrecht: Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Holzhey u. Vilem Murdoch. Basel 2014, S. 192–196; Christoph Menke (Hrsg.): Zur Aktualität der Ästhetik von Alexander G. Baumgarten. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 229–298.

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Wissenschaften und Künsten eine philosophische Disziplin, in der die jüdischen Philosophen als Juden ihre überragende Kenntnis der gesamten europäischen Künste und schönen Wissenschaften wie Rhetorik und Poetik, der Architektur, der Malerei, der Skulptur, der Literatur und der Dichtung von der griechischen Antike bis in die Gegenwart der Aufklärung manifestieren konnten, indem sie in ihren ästhetischen Schriften Beispiele aus dem europäischen Kunstkanon von Architektur bis Lyrik zitierten und so ihre intellektuelle Gleichwertigkeit, ihre sprachliche und künstlerische Gelehrtheit, ihre ästhetische Bildung sowie die vollkommene Kenntnis und Beherrschung des europäischen Literatur- und Kunstkanons unter Beweis stellen konnten. In der Ästhetik manifestierte sich die aufgeklärte europäische Bildung der Juden: Eine, die mit der Bildung der Christen mithalten konnte. Die Annahme liegt tatsächlich nahe, dass die Maskilim diesen Aufweis von ästhetischer Bildung bei ihren Frauen und Töchtern, und damit in ihren Häusern, ebenfalls wünschten und deswegen diese Bildung förderten. Während also die wissenschaftlichen, politischen und religiösen Diskurse den Frauen und Töchtern der Haskala verschlossen blieben, wurde der Bereich der Künste und der Geselligkeit für sie geöffnet und gefördert: Es wurden Porträts und Gemälde in Auftrag gegeben, Kunstwerke gekauft und exponiert, Hausmusik gespielt, Theater und Oper besucht, teure Bücher und Zeitschriften beschafft, sowohl männlich-weiblich als auch jüdisch-christlich als auch sozial gemischte Lesegesellschaften gegründet und ihre Abende dort verbracht.37 Kurz: In der Sphäre der Literatur und der Künste, dem Gegenstandsbereich der Ästhetik, und in der Sphäre der Geselligkeit waren Frauen ausdrücklich erwünscht. Das sagen die Maskilim in ihren Texten selbst und ganz direkt: Einschlägig ist Isaac Euchels Lob auf die jüdischen Frauen von Livorno und ihre völlig unverzichtbare Rolle auf Festen, in der Gesellschaft und Geselligkeit dort, die er als beispielhaft für die Haskala im sozial zurückgebliebenen Aschkenas präsentiert.38 Und auch Wolf Davidson (1772–1800) präsentiert jüdische Frauen und ihre musikalischen Errungenschaften in seinem Plädoyer für die bürgerliche Verbesserung der Juden.39 Henriette Herz schildert den diesen Idealen entsprechenden Beginn ihrer eigenen ästhetischen und musikalischen Bildung von Kindheit an in ihren Lebenserinnerungen. Dass eine Rolle von Frauen in den Bereichen von Kunst, Literatur und Geselligkeit in der Haskala erwünscht war, bezeugt indessen auch eine Haskala-Forschung, die sich stärker sozialhistorisch orientiert, statt ideologische 37 Vgl. Uta Lohmann: David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Hannover 2013, S. 93–110. 38 Isaac Euchel: Iggerot Meschulam ben Uriah Haeschtemoi (dt. „Briefe des Meschulam ben Uriah Haeschtemoi“. 1790), 5. Brief. In: Euchel: Vom Nutzen (Anm. 21), S. 111–114. 39 Wolf Davidson: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin 1798, S. 109.

Die jüdischen Salonièren aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung

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Debatten, Leittexte und intellektuelle Leistungen zu präsentieren. Steven M. Lowenstein hat in The Berlin Jewish Community. Enlightenment and Crisis 1770–1830 (1994) die Bedeutung der jüdischen Bankiers und Großkaufleute für die Haskala neu beleuchtet, und Thekla Keuck hat mit Hofjuden und Kulturbürger (2011) eine fulminante Familiengeschichte der Itzigs vorgelegt, welche zeigt, dass die Töchter des Hofjuden Daniel Itzig allesamt durch Privatunterricht in Musik und Sprachen sorgfältig und mit großem Aufwand auf ihre Ehefrauen-Rolle als Trägerinnen aufgeklärter bürgerlicher Geselligkeit und Repräsentantinnen von Bildung und schönen Künsten vorbereitet wurden. Die Töchter von Itzig wurden mit aufgeklärten Juden verheiratet und waren nicht durch Zufall unter den führenden jüdischen SaloniHren Wiens und Berlins: Fanny von Arnstein (1758–1818), Cäcilie von Eskeles (1760–1836), Rebecca Ephraim (1763–1846), Zippora Wulff (1760–1831) und Sarah Levy. Die Salons der Fanny von Arnstein in Wien und von Sarah Levy in Berlin mit ihren Hauskonzerten waren Zentren des städtischen Musiklebens, sie wurden allerdings, zumal von der germanistisch ausgerichteten Salon-Forschung, bisher eher wenig beachtet, vermutlich weil diese SaloniHren nichts publizierten, sondern sich im Zeitalter vor der Schallplattenaufnahme als hervorragende Musikerinnen und Musik-Mäzeninnen hervortaten. Es scheint hier die ältere Salon-Forschung einen ähnlich blinden Fleck zu haben wie die Haskala-Forschung für die Männer, nämlich die Orientierung an solchen Frauen, die unter eigenem oder fremdem Namen oder anonym publizierten, Briefwechsel pflegten und Tagebücher schrieben, welche dann zumindest postum gedruckt wurden und deren Opus bis heute deshalb noch zugänglich ist. Als Kontrastprogramm sei empfohlen, was Wolf Davidson in seiner lesenswerten Bestandsaufnahme der Leistungen aller aufgeklärten Berliner Juden, dem Büchlein Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1798) auflistet: Eben nicht nur Autoren, sondern Ärzte, Bildhauer, Maler, Kupferstecher, Komponisten, Lehrer, Schauspieler und Musiker, darunter namentlich mehrere jüdische Musikerinnen.40 Das ist die Haskala, wenn man sie nicht auf ihre Autoren eingeengt, sondern auf alle Akteure erweitert. Auch Thekla Keuck behandelt die Itzig-Töchter konsequent als Maskilot, und es gelingt ihr zu zeigen, dass z. B. in Sarah Levys Salon der Aufklärungsdiskurs, völlig altmodisch und aus der Zeit gefallen, noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weitergeführt wurde. Ganz selbstverständlich hat die Maskila Sarah Levy den bitterarmen Maskil und schnorrenden Philosophen Salomon Maimon viele Jahre lang finanziell unterstützt und ihn immer wieder zu ihren Salons und Gesellschaften eingeladen, obwohl Maimon sich dort häufig laut stritt, sich

40 Ebd., S. 89–110.

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betrank und seinen struppigen Hund Belline mitbrachte.41 Ähnlich konsequent wie Keuck betrachtet Natalie Naimark-Goldberg die jüdischen SaloniHren aus der Perspektive der Haskala, nämlich als Töchter, Schwestern und Ehefrauen von aufgeklärten Juden, von denen sich einige, wie Isaac Daniel Itzig, David Friedländer und Marcus Herz, heftig für die Haskala engagierten, andere dagegen zurückhaltend und auf Repräsentation bedacht agierten.42 Wichtig erscheint ihr Hinweis darauf, dass sich die Alltagsexistenz dieser Maskilot nicht in ihrer Rolle als SaloniHren erschöpfte. Sie organisierten den Haushalt, teilweise die Umzüge, Geschäfte und Reisen ihrer Männer, und führten oft auch nach dem Tod ihrer Ehemänner eine ökonomisch wie intellektuell unabhängige Existenz. Manche aber trennten sich auch von ihren jüdischen Ehemännern, emanzipierten sich von deren familiärer und juristischer Autorität und ließen sich taufen, um als Frau eine unabhängige Existenz führen, den Wohnort wechseln, arbeiten und reisen zu können.43 Die Taufe ist hier nicht nur und nicht immer ein Schritt, der ihnen die spätere Heirat mit einem Christen, gar einem Adligen erlaubt, und so den sozialen Aufstieg ermöglicht. Sie ist vielmehr, solange den Juden und Jüdinnen allgemein die Bürgerrechte vorenthalten blieben, das Entr8ebillett in eine emanzipiertere, rechtlich gesicherte und unabhängigere Frauen-Existenz mit einer bei Christinnen größeren Berufs-, Reise- und Ansiedlungsfreiheit, während geschiedene und verwitwete jüdische Frauen ungetauft häufig wieder in die ökonomische Abhängigkeit von ihren Vätern und Brüdern und in deren diskriminierten Rechtsstatus zurückfielen. Ihre Haskalainduzierte Bildung ermöglicht es einigen Maskilot und SaloniHren, als Schriftstellerinnen zu publizieren. Das geschieht oft noch unter falschem oder fremdem Namen.44 Doch sind sie die ersten jüdischen Frauen der Geschichte, die publizieren, ihre eigene, öffentliche Stimme gewinnen und sich gedruckt sehen. Vielleicht gibt es in Berlin ab 1780 kein besseres Bild für das Miteinander, das Nebeneinander und die Arbeitsteilung zwischen Männer- und Frauenrollen in der Haskala als den Haushalt von Henriette und Marcus Herz, erst in der Spandauer Straße, dann in der Neuen Friedrichstraße. Er hält dort seine berühmten Vorlesungen zu philosophischer Anthropologie und zur Physik, die ersten Vorlesungen eines Juden in Berlin. Sie fanden zwar nicht an einer Universität statt, die es in Berlin vor 1810 ja nicht gab, sondern in seinem Privathaus. Dort waren jüdische und christliche Gelehrte anwesend, bisweilen sogar der Minister Zedlitz höchstselbst. Aber abgesehen von der Hausherrin und deren 41 Sabattia Joseph Wolff: Maimoniana oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimons. ND hrsg. von Martin L. Davies u. Christoph Schulte. Berlin 2003, S. 43f. u. S. 67–69. 42 Natalie Naimark-Goldberg: Jewish Women in Enlightenment Berlin. (Anm. 10). 43 Ebd., S. 216–256. 44 Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt a. M. 1991 führt einige dieser Autorinnen-Schicksale auf.

Die jüdischen Salonièren aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung

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engsten Freundinnen saßen in den Vorlesungen fast ausschließlich aufgeklärte Männer. Nicht zuletzt diese häuslichen Vorlesungen trugen Marcus Herz den Titel des Professors der Philosophie ehrenhalber ein.45 Und in demselben Haus veranstaltet Henriette Herz ihre Salons, mit gemischtem Publikum aus Männern und Frauen, Adligen, Bürgerlichen und Juden, Inländern und Ausländern, mit Literatur, Klatsch, Tratsch, Erotik, Flirts, Musik. Entsprechend landläufiger Epocheneinteilung könnte man nun sagen: Marcus Herz und seine Vorlesungen für aufgeklärte Männer repräsentieren die rationalistische Aufklärung, Henriette Herz und ihre Salons repräsentieren die heteroerotischen gesellschaftlichen Umgangsformen, die Poesie und Kultur der Berliner Frühromantik. Alles unter einem Dach. Betrachten wir hingegen das Herz’sche Haus ohne die Notwendigkeit epochaler Zuordnung nicht mehr als das Nebeneinander von Aufklärung und Romantik, sondern nur hinsichtlich der sozialen Funktion und Aktivität unter einem Dach, so fällt sinnbildlich auf, dass in den Vorlesungen von Marcus Herz Wissenschaft das Thema ist, die monologisch vorgetragen wurde, und wo fast ausschließlich aufgeklärte und gelehrte Männer zuhörten, während in den Salons der Henriette Herz Kunst, Literatur, Theater und Poesie die Themen waren, und Männer wie Frauen an den diversen Dialogen und Gesprächen teilnahmen. Dann wäre der Gegensatz von Vorlesung und Salon nicht der von Aufklärung und Romantik, sondern der von Wissenschaftsdiskursen – von denen Frauen, gleich ob jüdisch oder christlich, bis weit ins 19. Jahrhundert weitgehend ausgeschlossen blieben, weil sie keine Universitäten besucht, nicht geforscht und entsprechend publiziert hatten – und einem künstlerisch-ästhetischen und gesellschaftlichen Diskurs, in den aufgeklärte und gebildete Frauen schon involviert waren und in dem sie gleichberechtigt mitreden konnten. Für beide Sphären und Diskursorte, den wissenschaftlichen und den ästhetisch-künstlerischen gilt: Jüdisch oder christlich spielt hier zunächst keine Rolle mehr, Gender sehr wohl. Gemeinsam war beiden Sphären, dass hier die jüdische Aufklärung und das intellektuelle, kulturelle und soziale Gleichheitsstreben von Jüdinnen und Juden am Ziel war, denn sie fanden Anerkennung bei Christen. Zugleich blieben, jüdisch wie christlich, die Geschlechterrollen ungleich und ungerecht verteilt, bis Jüdinnen wie Regina Frohberg (1783–1850) unter Pseudonym und Fanny Lewald (1811–1889) unter eigenem Namen als Autorinnen ökonomisch erfolgreich hervortraten. Nur hat diese ungleiche Gender-Verteilung mit dem Unterschied von Aufklärung vs. Romantik gar nichts zu tun. Und die Forschung wäre gut beraten, das Fortleben und die Verwandlung von Ideologie, Politik, Bildungserrungenschaften und Rollenmodellen der Haskala, von Maskilim und Maskilot 45 Vgl. Martin L. Davies: Identity or History? Marcus Herz and the End of Enlightenment. Detroit 1995, bes. S. 32–71.

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in Romantik und Biedermeier en d8tail zu untersuchen, statt sich nur auf die unterschiedliche Textproduktion der Geschlechter zu kaprizieren. Denn sonst verfährt die Forschung nach dem alten Motto: Nur wer schreibt, bleibt. Natalie Naimark-Goldberg spricht von einem „overlap“ von Aufklärung und Romantik in den Salons und bei ihren Teilnehmern.46 Das mag zutreffen, ändert aber m. E. nichts an der Tatsache, dass die jüdischen Salons in Berlin ursprünglich eine Einrichtung der Haskala waren, angestoßen hauptsächlich von aufgeklärten jüdischen Männern. Sie wurden für einen kurzen Zeitraum der Ort, wo sich aufgeklärte und gebildete jüdische Frauen einen eigenen Aktions- und Diskursraum eroberten und sich nicht nur von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern, sondern auch von den männlich dominierten Diskursen der Haskala emanzipierten.

46 Naimark-Goldberg: Jewish Women in Enlightenment Berlin (Anm. 10), S. 23.

Uta Lohmann

„edle Frauen, zärtliche Gattinnen, verständige Mütter und kluge Hauswirtinnen“1 – zum Weiblichkeitsideal der Berliner Haskala

Ausgearbeitete Konzepte Berliner Maskilim zur jüdischen Mädchenerziehung in Form von eigenständigen Abhandlungen oder Schulprogrammschriften gab es im 18. Jahrhundert nicht. Erst im frühen 19. Jahrhundert erschienen im Zuge der beginnenden Institutionalisierung jüdischer Mädchenschulen die ersten konzeptionellen Beiträge, allerdings vor allem außerhalb Berlins, v. a. ab 1806 in der in Dessau herausgegebenen Zeitschrift Sulamith.2 Dennoch lässt sich aus den Schriften der Berliner Haskala ein weibliches Bildungsideal ablesen. David Friedländer (1750–1834) war einer der ersten unter den Maskilim, der sich ausdrücklich über die stark vernachlässigte Mädchenerziehung beklagte. 1788 wies er auf den veränderten Status der jüdischen Frau in der bürgerlichen Gesellschaft hin, in der sie „fast alle Verbindlichkeiten, Pflichten und Rechte“ mit den Männern teile, „und nicht minder, als diese, für die Erziehung der Jugend, ihre Ernährung und ihr Fortkommen sorgen, so wie überhaupt alle häusliche und bürgerliche Obliegenheiten erfüllen“3 müsse. Friedländer forderte die Einführung eines allgemeinen Schulbuchs für die jüdische Jugend beiderlei Geschlechts, durch das „beyder Kopf und Herz“ gebildet würde.4 „Gesunde Vernunft, Erfahrung“ und das Vorbild der sephardischen Juden hätten gelehrt,

1 Seder hagada ‘al pesach ‘im targum ashkenasi oder Vortrag auf die beiden ersten Abende Pesach aufs Neue ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joel Bril. Berlin 1785, Vorwort, S. 4. 2 Vgl. Michaela Will: „Die Philosophie im Weiberrocke wird kein Vernünftiger achten…“. Zur Ambivalenz in den Mädchenbildungskonzepten der Zeitschrift Sulamith (1806–1848). In: Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Hrsg. von Britta L. Behm, Uta Lohmann u. Ingrid Lohmann. Münster 2003, S. 369–387. 3 David Friedländer : Über den besten Gebrauch der h. Schrift in pädagogischer Rücksicht. In: Der Prediger (Berlin 1788). Neu ediert in: „Lerne Vernunft!“ Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung. Quellentexte aus der Zeit der Haskala, 1760–1811. Hrsg. von Uta Lohmann u. Ingrid Lohmann. Münster 2005, S. 61–81, hier S. 73. 4 Ebd.

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daß der erste Schritt zur Verbesserung der Erziehung, durch Einführung einer richtigen und deutlichen Sprache geschehen muß. Dies sey die erste nothwendige Bedingung, ohne welche alle andere Verbesserung vergebens sein, und nicht statt haben dürfte. […] Unsre Frauenzimmer […], die […] gar keinen religiösen und sittlichen Unterricht erhalten, würden bey der Einführung der reinen deutschen Sprache und einer deutlichen und verständlichen Lehrart noch mehr gewinnen, da sie Gelegenheit bekämen, Kopf und Herz zu bilden, und die Pflichten kennen zu lernen, die ihnen, als die nicht minder wichtige Hälfte des menschlichen Geschlechts obliegen.5

Einen ersten Schritt, „Kopf und Herz“, Denken und Empfinden der jüdischen Frauen zu bilden, stellen die Gebete-Übersetzungen von Isaak Euchel (1756–1804) und David Friedländer dar, die beide 1786 erschienen und jeweils Frauen gewidmet waren: Während Friedländer seine Übersetzung der Mutter und der Schwiegermutter Miriam Itzig (1727–1788) zueignete, war dessen Nichte Rebekka Friedländer Empfängerin der Widmung Euchels, der als Hauslehrer der Familie Friedländer in Königsberg angestellt war. In der Widmung erinnert sich Euchel an die gemeinsame, „angenehme und lehrreiche Zeit“ und verweist darauf, dass Rebekka Friedländer an der Entstehung der Übersetzung einen großen Anteil habe, weil sie sich „über den wohlthätigen Trost und das lindernde Heil, die ein andachtsvolles Gebet einem bedrängten Herzen“6 verschaffen könne, unterhalten hatten. Rebekka habe beklagt, dass „fast das ganze weibliche und der größte Theil des männlichen Geschlechts […] dieser Wonne nicht genießen“7 könne, solange man sich an die vorgeschriebenen Formeln halte, die in einer unverständlichen Sprache hergebetet würden. Diese Problematik thematisierte auch Henriette Herz: Das Mädchen mußte in hebräischer Sprache beten, ohne daß es verstand, was es betete, und ich erinnere mich wohl, mit Andacht und Inbrunst zuweilen so gebetet zu haben, besonders aber, wenn es gewitterte, was mich immer sehr ängstigte, dann sagte ich geschwind viele, irgendwelche Gebete hintereinander her.8

Die Methode, anhand von Übersetzungen traditioneller Schriften eine moderne, zeitgemäße Erziehung einzuführen, ging auf Moses Mendelssohn (1729–1786) 5 David Friedländer : Schreiben an meine Mit-Brüder in Deutschland, eine in hebräischer Sprache gedruckte moralische Rede betreffend (Berlin 1788); zit. nach: Chevrat Chinuch Nearim: Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Hrsg. von Ingrid Lohmann. Münster 2001, S. 278f. 6 Isaak A. Euchel: An Demoiselle Rebecka Meyer Friedländer. In: Gebete der hochdeutschen und polnischen Juden. Königsberg 1786; zit. nach Uta Lohmann: David Friedländer, Isaak Abraham Euchel und die Gebeteübersetzungen in ihrem bildungshistorischen Kontext. In: Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung. Hrsg. von Marion Aptroot, Andreas Kennecke u. Christoph Schulte. Hannover 2010, S. 105–133, hier S. 114. 7 Ebd. 8 Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Frankfurt a. M. 1984, S. 11.

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zurück, der die Tora zunächst zur Erziehung seiner eigenen Kinder übersetzte. Die jüdische Freischule in Berlin wurde dann der Ort, an dem Mendelssohns Tora erstmals öffentlich zur Unterweisung einer größeren Anzahl jüdischer Kinder verwendet wurde. Die Freischule war allerdings eine reine Knabenschule, so dass zunächst offen blieb, ob ein weibliches Publikum überhaupt intendiert war. Dass dem aber durchaus so war, lässt sich aus dem Vorwort der 1785 erschienenen Übersetzung der Pessach-Haggada entnehmen. Es richtete sich an „geneigte Leserinnen“ und setzte voraus, dass diese die dem Pessach-Fest zugrunde liegende Geschichte des Auszugs aus Ägypten „gewiß aus der trefflichen Mendelssohnschen Übersetzung der Tora schon kennen werden“.9 Verfasser des Vorworts war Joel Bril Löwe (1762–1802), der im Hause Friedländer als Privatlehrer tätig war. Seine Ausgabe der Pessach-Haggada widmete er seiner „Gönnerin“ Blümchen Friedländer (1752–1814), Mutter seiner Zöglinge und Frau David Friedländers, mit folgenden Worten: Sie erlauben, daß ich den Namen einer der würdigsten Ihres Geschlechts einer Übersetzung vorsetzen darf, welche aus Achtung für dieses Geschlecht ihr Dasein erhält. Denn die besondere Hochschätzung, die ich Ihnen, geehrteste Frau! schuldig bin, ungerechnet, werde ich auch im Ganzen immer ein Geschlecht zu schätzen wissen, das edle Frauen, zärtliche Gattinnen, verständige Mütter und kluge Hauswirtinnen vorzuzeigen hat; so wie wir das Beyspiel hiervon in Ihnen sehen.10

Diese Widmung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie offenbart zum einen die Suche der Maskilim nach einem Vorbild für ihr weibliches Bildungsideal, gewissermaßen als Pendant zum moralisch-frommen Mann, dem männlichen Bildungsideal der Haskala, der das traditionelle Ideal des in der rabbinischen Literatur versierten Tora-Gelehrten ablöste. In Moses Mendelssohn hatten die Maskilim bereits das Vorbild dieses neuen Typus des gebildeten Frommen gefunden. Fünf Jahre nach dessen Tod schrieb Friedländer : „Er ist uns noch, was er uns in seinem Leben war, was er noch spät unsern Enkeln seyn wird: Muster und Vorbild […] als Mensch und als Bürger, als Hausvater und als Ehemann, als Lehrer und als Freund“, überall werde man in ihm ein „musterhaftes Bild menschlicher Vollkommenheiten“ finden.11 Einen Versuch, auf Seiten der Frauen ein entsprechendes Vorbild frommer Tugendhaftigkeit zu etablieren, mag das Portrait Blümchen Friedländers dargestellt haben, das zur Zeit der 9 Seder hagada ‘al pesach ‘im targum ashkenasi oder Vortrag auf die beiden ersten Abende Pesach aufs Neue ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joel Bril. Berlin 1785, Vorwort, S. 5. 10 Ebd., Widmung, S. 4. 11 David Friedländer : Vorlesung bey der erneuerten Todesfeyer Mendelssohns (1791). Neu ediert in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (JubA). Bd. 23. Bearbeitet von Michael Albrecht, Stuttgart 1998, S. 296–305, hier S. 297f.

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Abbildung 1: Titelblatt der von Joel Bril Löwe hrsg. Pessach-Haggada: Seder haggada al pessach. Berlin 1785. Haskala-Bibliothek des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts, Essen, Inv. STI 055.

Widmung Joel Brils entstand und als Kupferstich vervielfältigt weit verbreitet werden konnte. Brils Widmung verrät zum anderen, dass er für dieses weibliche Ideal eine vierfache Bestimmung vorsah, nämlich sowohl zärtliche Gattin, verständige Mutter und kluge Hauswirtin als auch edle Frau zu sein. Ein näherer Blick auf Blümchen Friedländer mag dieses Ideal erhellen. Blümchen war eine von zehn Töchtern der Miriam Itzig und des königlichen Hoffaktors, Berliner Judenältesten und Oberlandesältesten der preußischen Juden Daniel Itzig (1723–1799). In ihrem Elternhaus wurde bei der Erziehung der Töchter besonderes Augenmerk auf die „feineren Formen des geselligen Lebens“ gelegt, wozu die deutsche Sprache, das Französische „als Konversationssprache der Gebildeten und die

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Abbildung 2: Blümchen Itzig Friedländer. Kupferstich von Daniel Berger, um 1786. Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inv. 844–40.

Beherrschung mindestens eines Musikinstruments“ zählte.12 Am Sprachunterricht der Schwestern nahm wohl auch Henriette Herz teil. Wie diese war Blümchen Itzig gemeinsam mit ihren Schwestern schon vor ihrer Heirat häufig zu Besuch im Haus von Moses Mendelssohn und dessen Frau Fromet (1737–1812), mit deren Töchtern sie befreundet war. Später besuchte sie gemeinsam mit ihrem Mann verschiedene Berliner Geselligkeiten, darunter die der Henriette Herz, die Lesegesellschaft der Mendelssohn-Tochter Dorothea Veit (1764–1839), den musikalischen Salon ihrer Schwester Sara Levy (1761–1854) und die Feßlersche Mittwochsgesellschaft.13 Blümchen Friedländers Name erschien außerdem „auf der Pränumerationsliste von Johann Heinrich Rolles (1718–1785) alttestamentarischen Oratorien ,Mehala‘ (1784) und ,Melida‘ (1785)“.14 Auf ihrem Grabstein wurden ihr Gottesfurcht und feine Sitten zugeschrieben.15 12 Thekla Keuck: Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin. Göttingen 2011, S. 275. 13 Vgl. Uta Lohmann: David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Hannover 2013, S. 97–108. 14 Peter Wollny : „Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“. Sara Levy und ihr musikalisches Wirken. Wiesbaden 2010, S. 114. 15 Vgl. Nathanja Hüttenmeister : Blümchen Friedländer – „Eine der Würdigsten ihres Ge-

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Auch Friedländers Nichte, die bereits erwähnte Rebekka Friedländer aus Königsberg, der Isaak Euchel 1786 seine Gebetbuch-Übersetzung widmete, avancierte zu einem weiblichen Bildungsideal der Maskilim. In einem hebräischen Gedicht anlässlich ihrer Hochzeit wurde besonders ihre Bildung hervorgehoben: Gleich dreimal wird sie „teure und gebildete Jungfrau“, „gebildetes Mädchen“ (ne’ara maskelet) und „gebildete Tochter“ genannt,16 und mit der biblischen Abigail verglichen, die für ihre vorausschauende Klugheit gepriesen wurde.17 Weitere tugendhafte Eigenschaften Rebekka Friedländers nannte Gottlieb Euchel, ein Bruder Isaaks, in seiner „Epistel an Madame Rebecca F[riedlände]r“. Er spricht hier von inneren Werten wie wahrer Freundschaft und zurückhaltender Bescheidenheit: „Nur solchem Weibe, / das so wie du! / Vom Wahne fern, / in stiller Ruh / die Freude findet; / Das in Geräuschen / und dem Gepränge, / der Thoren Menge / sich nicht ergözt, / dem bring ich gern / des Lobes Gold.“18 Auch Friedländers Schwiegertochter, eine weitere Rebekka Friedländer (geb. von Halle, 1775–1857), entsprach dem weiblichen Bildungsideal. Bevor sie Benoni Friedländer (1773–1858) 1796 heiratete, veröffentlichte David Friedländer ihr zu Ehren ein Gedicht unter dem Titel „An mein Bildniß, als ich es der Verlobten meines Sohnes, an meinem Geburtstage überschickte“.19 Hierin wird Rebekka als liebevoll, sanft, bescheiden und voll „unverstellter Güte“ beschrieben, aber auch als „kunstvertrautes Mädchen“, das die Qualität eines Kunstwerks wohl zu beurteilen verstehe. Das Gedicht endet mit einem Lob der häuslichen Geselligkeit: des „Abends warten neue Freuden, / Wie sie kein Maler faßt, kein Dichter träumt“. Entsprechende Werte vermittelte Friedländer später auch in einem Brief an eine Nichte, der er rät: Fahre nur fort liebe Caroline, die Lebenskunst auf praktische Weise zu üben, denn darin nur allein besteht der wahre Genuß des irdischen Treibens. Die Familie, Freunde, die Unterhaltung mit lieben Verwandten, und die Pflichterfüllung in dem ganzen

16 17 18 19

schlechts“. Das Schicksal ihres Grabmals auf dem Friedhof Große Hamburger Straße in Berlin, in: Kalonymos 10/4 (2007), S. 6–8.; Keuck: Hofjuden und Kulturbürger (Anm. 12), S. 420f. Auch Wilhelm von Humboldt, ein Freund des Hauses Friedländer, sah in Blümchen eine Frau mit „trefflichen“ Charaktereigenschaften, vgl. Wilhelm von Humboldt an Moses Friedländer, Juni 1814. In: Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Hrsg. von Gotthold Lessing. Berlin 1915, S. 420. Vgl. Chevrat Schocharej haTov wehaTuschija: Schir kelulot. Berlin 1788. Vgl. 1 Sam 25; 3, 33. Gottlieb Euchel: Epistel an Madame Rebecca F – - r. In: Preußische Blumenlese für das Jahr 1793. Ein Neujahrsgeschenk für unsere Mitbürger. Hrsg. von Johann Daniel Funk und August Samuel Gerber. Königsberg 1793, S. 104–114, hier S. 107f. David Friedländer : An mein Bildniß, als ich es, der Verlobten meines Sohnes, an meinem Geburtstage überschickte. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 2 (1796), S. 186–188.

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Umfange des Wortes, ist die eigentliche Würze, welche unserem Daseyn Werth und Würde giebt.20

Über seine Enkeltöchter sagt er im Brief auch, sie lebten „ganz ihrer Bestimmung: häuslich, zufrieden und glücklich.“

Abbildung 3: Rebekka Friedländer (links) und ihre Schwester Fanny Bendemann. Undatierte Bleistiftzeichnung von unbekannter Hand. Gidal-Bildarchiv, Nr. 1155, Salomon Ludwig Steinheim-Institut, Essen.

Das weibliche Bildungsideal der Haskala lässt sich mit den Schlagworten Bescheidenheit, Zurückhaltung, Klugheit und Wertschätzung wahrer Freundschaft zusammenfassen. Das Leben der idealen maskilischen Frau ist somit immer in Beziehung zu anderen gesetzt: Sie ist zärtliche Gattin, verständige Mutter und kluge Hauswirtin, um mit Joel Brils Worten zu sprechen. Aber sie ist auch „edle“ Frau und als solche besitzt sie eigenständige Handlungsmöglichkeiten und ein hohes Maß an Bildung. Die „edle Frau“ zeichnet sich durch ihre geselligen Tugenden und ihre Kenntnis der bildenden Künste aus, sie ist vor allem vertraut mit Musik, schöner Literatur und Poesie. Kurz: Ihr Herz und ihr Geist sind gebildet, aber sie tritt nicht in den Vordergrund, ihr hauptsächliches Wirkungsfeld ist das Haus, in dem sie ihre Familie und Gäste bewirtet und geistreich 20 David Friedländer an Karoline Friedländer in Braunschweig, 2. Oktober 1824; Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Sammlung Vieweg, Nr. 474.

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zu unterhalten weiß. Im Weiblichkeitskonzept der Haskala erfüllt sich die ,natürliche Bestimmung der Frau‘ nicht nur darin Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein, sondern die „edle Frau“ besitzt auch die „natürliche Liebe zum Guten“ in besonders hohem Maße, was Mendelssohn als die „edelste Gabe des Menschen“ bezeichnet.21 Geht man der Frage auf den Grund, welches weibliche Ideal die Maskilim zum Vorbild nahmen, so tritt neben all den genannten Tugenden eine weitere Eigenschaft der aufgeklärten jüdischen Frau in den Vordergrund, nämlich ihre ausgeprägte Frömmigkeit. Brils Formulierung erinnert zunächst an Joachim Heinrich Campe (1746–1818), der – allerdings erst vier Jahre nach Brils Veröffentlichung der Pessach-Haggada – in seinem Väterlichen Rath für meine Tochter (1789) die Bestimmung der Frauen des bürgerlichen Mittelstandes darin sah, „beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des inneren Hauswesens“22 zu sein, wobei er Spracherwerb und Gelehrsamkeit für Frauen ablehnte. Mit der dreifachen Bestimmung der Frau griff Campe ein traditionelles Konzept auf, das den Wirkungsbereich der Frau stark auf das Haus beschränkte, gleichzeitig aber auch ihre Funktion als „erste Erzieherin“ des künftigen Bürgers erweiterte und damit ihre gesellschaftliche Rolle erhöhte.23 Campes Konzept erhielt allgemeine Anerkennung. Es bestimmte die Mädchenerziehung des gesamten 19. Jahrhunderts und prägte auch das Frauenbild der meisten Autoren der Zeitschrift Sulamith. Dennoch gab es einige Gegenstimmen, die kritisierten, dass Campe die Existenz von unverheirateten und kinderlosen Frauen völlig ausklammerte. Harsche Kritik übte auch eine jüdische Frau aus wohlhabender Familie. Esther Bernard (geb. Gad, 1767–1833) stammte aus Breslau, unterstützte hier die Gründung der Königlichen Wilhelmsschule,24 an der Joel Bril tätig wurde, und siedelte 1799 nach Berlin über, wo sie Gast in Henriette Herz’ Salon wurde. Kurz zuvor hatte sie Einige Äußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend (1798) publiziert, eine Streitschrift, mit der Esther Gad Bernard „eine scharfe, argumentative Auseinandersetzung mit Campes Stellung zur weiblichen Gelehrsamkeit und Schriftstellerei“25 führte. Sie schrieb: „Von meiner frühesten Jugend kollidirten so viele 21 Moses Mendelssohn: Briefwechsel I; Jubiläumsausgabe, Bd. 11. Bearbeitet von Bruno Strauss, Stuttgart 1974, Nr. 3, S. 12. 22 Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Braunschweig 1789; zit. nach Christine Mayer : Erziehung und Schulbildung für Mädchen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: 18. Jahrhundert. München 2005, S. 188–211, hier S. 196. 23 Ich danke Christine Mayer für ihre diesbezüglichen Auskünfte. 24 Vgl. Zuruf an meine Breslauer Glaubensgenossen, bey der Einweihung der Wilhelms-Schule, den 15ten März 1791 von Esther Bernard, geb. Gad. 25 Ingrid Lohmann: Esther Gad. In: Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Eine kommentierte Quellensammlung zur Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte von Mädchen

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widrige Verhältnisse mit meinem Durste nach Kenntnissen und ächter Gelehrsamkeit, daß ich meiner Lage unterliegen, und größtentheils darauf resigniren mußte. Ich spreche also wahrlich nicht für mich, sondern für mein Geschlecht“.26 Sie folgerte schließlich: Wenn es in der gelehrten Welt für entschieden angenommen wird, daß die Erweiterung der Kenntnisse auch die Ausbreitung der Wahrheit, und dadurch allgemeines Glük befördern, so sehe ich nicht ein, warum dies nicht eine weibliche Feder auch soll – wenn sie’s kann. Daß dies aber durchaus keine weibliche Feder vermag, dürfte Herr Campe, so sehr er es auch zu wollen scheint, nicht behaupten, ohne in eine unverzeihliche Inkonsequenz zu verfallen.27

Esther Gad Bernard forderte – mutig und außergewöhnlich für ihre Zeit – den Zutritt von Frauen zu höherer Gelehrsamkeit, bisher eine Domäne des Mannes, sowohl im Judentum als auch in der akademischen Welt.28 Während die „edle Frau“ bei Campe kein Thema ist, tauchen in einigen Veröffentlichungen der Haskala alle vier Bestimmungen der Frau nach Bril auf. So veröffentlichten Mendelssohn und Friedländer mehrere Erzählungen aus Talmud und Midrasch unter dem Titel Proben rabbinischer Weisheit. In einer davon, Die Schöpfung des Weibes (Bereshit Rabba – zur Schöpfungsgeschichte), erscheint die „edle Frau“, eine andere trägt den Titel Der weise Richter und die zärtliche Gattinn (Mechilta de-Rabbi Shimon bar Jochai – zu Exodus).29 Die für das Weiblichkeitsideal der Haskala bedeutendste Erzählung aber ist aus Midrasch Rabba – zu Sprüche, 31, 10: „Wer ein tugendhaft Weib gefunden, hat einen größern Schatz, denn köstliche Perlen“.30 Sie wurde erstmals 1777 von Mendelssohn veröffentlicht und zwei Jahre später erschien sie in Friedländers Lesebuch für jüdische Kinder (1779). Erzählt wird eine Begebenheit im Hause Rabbi Meirs und seiner Frau Brurja, in der Erzählung schlicht „Hausfrau“ ge-

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und Frauen. Bd. 1. Hrsg. von Elke Kleinau u. Christine Mayer. Weinheim 1996, S. 53–55, hier S. 55. Esther Gad: Einige Äußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend. Der Kosmopolit (Halle 1789). Neu ediert in: ebd., S. 56–63, hier S. 57. Ebd., S. 62. Vermutlich war sie durch Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Women (London 1792) inspiriert, zumindest gelangte sie in den Ruf einer ,deutschen Wollstonecraft‘. Vielleicht war es Esther Gad Bernard, die Henriette Herz später den Anlass gab, Wollstonecrafts Verteidigung der Frauenrechte aus dem Englischen zu übersetzen. Diese Übersetzung soll Henriette Herz 1832 angefertigt haben; vgl. Ulrich Janetzki (Hrsg.): Henriette Herz. Berliner Salon. Erinnerungen und Portraits. Frankfurt a. M. 1984, S. 209. Vgl. David Friedländer : Der weise Richter, und die zärtliche Gattinn. Eine Rabbinische Erzählung. In: Berlinische Monatsschrift 25 (1795), S. 385–387 und ders.: Proben rabbinischer Weisheit. In: Der Philosoph für die Welt. Neue, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Hrsg. von Johann Jakob Engel. Berlin 1801, S. 315–334. Vgl. Moses Mendelssohn: Proben rabbinischer Weisheit. In: Der Philosoph für die Welt. 2. Teil. Hrsg. von Johann Jakob Engel. Berlin 1777, S. 49–64, hier S. 54–57.

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nannt. Brurja zeichnet sich vor allem durch ihre kluge und gottesfürchtige Handlungsweise aus und ist damit Beispiel für ein „tugendhaftes Weib“, das nicht nur mit Verstand handelt, sondern auch religiöses Wissen weitergibt: „Sie thut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre“ (Sprüche, 31, 26).

Abbildung 4: Titelblatt mit Vignette zu Spr 31, 26 von Isaak Euchel: Mischle. Berlin 1790. Haskala-Bibliothek des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts, Essen, Inv. STI 133.

Welche Bedeutung die Maskilim gerade diesem Kapitel der Sprüche Salomos beimaßen, zeigt Euchels Übersetzung von Mischle, die 1790 in Berlin erschien und mit einem Titelkupfer zu Kap. 31 verziert ist. Vers 26 übersetzt Euchel 1790: „Mit weiser Rede öffnet sie den Mund, auf ihrer Zunge ist nur sanfter Unter-

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richt“.31 Bereits in seiner Übersetzung der jüdischen Gebete hatte Euchel auf die „kluge Bruria R. Meiers Frau“ und auf Mischle verwiesen, „wo eine würdige Frau sehr trefflich beschrieben“ sei.32 Tatsächlich dürfte Sprüche 31 für Joel Brils vierfache weibliche Bestimmung die Vorlage geliefert haben, denn die namenlose Frau dieses Kapitels vereinigt alle weiblichen Tugenden: Sie ist edle Frau, zärtliche Gattin, verständige Mutter und kluge Hauswirtin. Hier wird besonders deutlich, dass die Maskilim ihren Weiblichkeitsentwurf am Tanach orientierten, zeitgenössische Konzepte schienen eher zweitrangig gewesen zu sein. Sich kritisch von der philanthropischen Pädagogik distanzierend, die die Erziehung zu bürgerlicher Nützlichkeit propagierte, entwickelten die Maskilim ein Konzept allgemeiner Menschenbildung, das inhaltlich auf die individuelle Entfaltung moralischer und intellektueller Fähigkeiten ausgerichtet war, mit dem Ziel, diese Fähigkeiten in den unterschiedlichsten Lebenslagen selbsttätig anwenden zu können. Der Mensch müsse seine vielfältigen Kräfte und Anlagen beständig verbessern und stärken, wodurch er das Ziel größtmöglicher individueller Vervollkommnung und damit einen Zustand der Glückseligkeit erreichen könne.33 Dieses Konzept schloss das weibliche Geschlecht nicht aus. Tatsächlich sah es auch für Frauen einen hohen Bildungsstandard vor, der allerdings nicht zur Gelehrsamkeit führen sollte, was allgemeine Menschenbildung auch nicht bezweckte. Es ging vielmehr um die Ausbildung von Moral und Tugenden. In diesem Sinn sah Friedländer in den BibelÜbersetzungen der Haskala ein Bedürfnis der Zeit: „wir sollen daraus Lehren, Gesinnungen, Meynungen berichtigen; sollen daraus die Vorschriften und Regeln unserer Handlungen, wie wir sie gegenwärtig in unserer politischen Lage bedürfen, abstrahiren lernen“.34 Exemplarisch für das Bildungsideal der Haskala steht die Erziehungspraxis in den wohlhabenden Berliner jüdischen Familien des 18. Jahrhunderts, die sich an den höheren Ständen orientierten. Beispielgebend war auch hier vor allem Moses Mendelssohn, der Frauen als gebildete Gesprächspartnerinnen sehr schätzte. Während seiner Verlobungszeit nahm er die Rolle eines ,Bildners‘ seiner künftigen Frau Fromet ein.35 Er sorgte dafür, dass sie das Französische 31 In der 2. Auflage von 1799 heißt es „freundliche Belehrung“. 32 Zit. nach Lohmann: David Friedländer, Isaak Abraham Euchel und die Gebeteübersetzungen (Anm. 6), S. 115, dort Anm. 35. Das Zitat bezieht sich auf Spr 12,4: „Ein biederes Weib ist des Mannes Krone / Die Unverschämte ist ihm wie Beinfraß“. 33 Vgl. zum Bildungskonzept der Berliner Haskala demnächst die Ergebnisse meines DFGProjekts „David Friedländer und Wilhelm von Humboldt im Gespräch. Zur Wechselwirkung zwischen Haskala und neuhumanistischer Bildungstheorie“, die 2017 in der Schriftenreihe Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland erscheinen werden. 34 Friedländer : Über den besten Gebrauch der h. Schrift in pädagogischer Rücksicht (Anm. 3), S. 74. 35 Vgl. Britta L. Behm: Moses Mendelssohns Erziehungspraxis und Bildungstheorie in ge-

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erlernte, das für den geselligen Umgang und im Geschäftsleben notwendig war. Außerdem empfahl er ihr ausgewählte Lektüre und trug zu Fromets ,Geschmacksbildung‘ bei, indem er sie ermunterte, ihr Urteilsvermögen zu schärfen. Die Verstandesbildung sollte jedoch ihre Grenzen haben: „Eine mäßige Lectüre kleidet dem Frauenzimmer, aber keine Gelehrsamkeit“, warnte Mendelssohn seine Braut nachdrücklich.36 Nicht die Gelehrsamkeit, sondern die Führung der Hauswirtschaft sollte ihre Domäne sein, in der sie selbständig waltete. Dazu gehörte auch die geistreiche Konversation mit den zahlreichen Gästen des offenen Hauses Mendelssohns, und hier konnte sich Fromet Mendelssohn dank ihrer geselligen, literarischen und philosophischen Bildung bestens bewähren. Dank der Erinnerungen von Henriette Herz und Joseph Mendelssohn (1770–1848) lässt sich auch die Erziehung der Kinder Fromet und Moses Mendelssohns rekonstruieren.37 Der private Unterricht durch Hauslehrer entsprach insgesamt dem des gehobenen Bürgertums. Joseph Mendelssohn unterschied „in der Schilderung der Erziehung im elterlichen Haus nicht zwischen einer Mädchen- und Jungenerziehung“, sondern vermittelt den „Eindruck einer umfassenden Bildung aller Kinder“,38 wozu Mathematik, Geometrie, Astronomie, Geographie, Geschichte, Latein, Französisch, Englisch, sowie Musik, Tanzen und Zeichnen zählten. Henriette Herz erinnerte sich jedoch, dass sich „die jüdischen Männer mit philosophischen Studien, die jüdischen Frauen hingegen schwerpunktmäßig mit ,der schönen Literatur‘ und mit Sprachen“ befassten.39 Trotz dieser Dichotomie, die sich auch im Doppelsalon Herz widerspiegelt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass zumindest die älteste Tochter Brendel (Dorothea Veit, später Schlegel) auch an Mendelssohns religionsphilosophischen Unterhaltungen teilnahm, die später unter dem Titel Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785) veröffentlicht wurden. Aus Sicht von Henriette Herz, die mit Brendel Mendelssohn eng befreundet war, hatte Mendelssohn seine Tochter selbst gebildet und die Morgenstunden nicht nur für den Sohn Joseph, sondern auch für sie geschrieben.40 Auch wenn Mendelssohns Töchter von der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit, die ihre Brüder erhielten (Hebräisch, Talmud-Tora und MaimonidesLektüre), ausgeschlossen waren, so sorgte Mendelssohn doch für einen zeitge-

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schlechtsspezifischer Perspektive. Ansätze einer jüdisch-bürgerlichen Erziehung im 18. Jahrhundert. In: Das Geschlecht der Bildung – Die Bildung der Geschlechter. Hrsg. von Britta L. Behm, Gesa Heinrichs u. Holger Tiedemann. Opladen 1999, S. 47–69, hier S. 50–54. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 56–61. Ebd., S. 59; vgl. auch Herz: Erinnerungen (Anm. 8), S. 61ff. Ebd., S. 59; vgl. auch Herz: Erinnerungen (Anm. 8), S. 61ff. Vgl. Herz: Erinnerungen (Anm. 8), S. 20 u. S. 54.

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mäßen Religionsunterricht seiner Töchter. Denn er und alle anderen Maskilim sahen in dem mangelnden Religionsunterricht der jüdischen Mädchen ein massives Problem. Mit der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft hatten sich die traditionellen, rein religiös bestimmten Strukturen der jüdischen Lebenswelten radikal verändert. In der traditionellen jüdischen Gesellschaft sorgten die Frauen gewöhnlich für das Familieneinkommen, waren geschätzt als „jene edlen Frauen, die des Geschäftes kundig sind“.41 Währenddessen waren sie „sowohl vom religiösen Studium als auch von allen anderen gesellschaftspolitisch relevanten, öffentlichen Funktionen im religiösen Bereich ausgeschlossen“.42 Erst nach ihrer Heirat besuchten sie die Synagoge, verstanden aber die hebräischen Gebete zumeist nicht. Nur drei Mitzwot waren für sie verpflichtend: Challa, Nidda und Hadlakat ha-ner.43 Dagegen war das ganze Leben des Mannes von der Religion bestimmt. Er betrieb täglich religiöse Studien und wurde als rabbinischer Gelehrter geschätzt. Diese traditionelle Lebensweise hatte sich am Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend verändert. Die meisten Männer gingen bürgerlichen Gewerben nach, sorgten für den Unterhalt ihrer Familien, und die Frauen waren zunehmend ins Haus verbannt. Wegen ihrer Distanz zur Religion vermochten sie es kaum, ihren Kindern religiöse Werte vorzuleben und zu vermitteln. Damit ging ein von den Maskilim beklagter allgemeiner Verfall von Sittlichkeit und Moral einher. In dieser Situation begannen sie die Rolle der jüdischen Frau zu überdenken. Sie sollte nun Vermittlerin und Bewahrerin der religiösen Lehre sein. Allerdings nicht in Form rabbinischer Gelehrsamkeit, sondern auf eine spezifisch weibliche und jüdische Form der Mündlichkeit: Wissenstransfer durch „mündliche Lehre“ (Tora), Kenntnisvermittlung durch Gespräche und gebildete Konversation. Dass gerade Mendelssohn diese komplementäre Seite der „schriftlichen Lehre“ (Talmud) durch Büchergelehrsamkeit sehr schätzte, machte er sehr deutlich, indem er über den „Buchstabenmenschen“ seiner Zeit klagt: Wir lehren und unterrichten einander nur in Schriften; lernen die Natur und die Menschen kennen, nur aus Schriften; […] der Prediger unterhält sich nicht mit seiner Gemeine, er liest oder deklamirt ihr eine aufgeschriebene Abhandlung vor. Der Lehrer 41 Zitat des Mordechai ben Hillel (spätes 13. Jhd.), Michael Toch: Die jüdische Frau im Erwerbsleben des Spätmittelalters. In: Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland. Hrsg. von Julius Carlebach. Berlin 1993, S. 37–48, hier S. 37. 42 Louise Hecht u. Dieter Hecht: Jüdische Frauen zwischen Haskalah und Emanzipation. In: Juden in Mitteleuropa (2009). Themenheft: Salondamen und Dienstboten. Jüdisches Bürgertum um 1800 aus weiblicher Sicht. Hrsg. vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs, S. 29. 43 Verbrennen eines Zehntels des Teigs für Sabbat- und Festtagsbrote, Gebote zu Menstruation und Geburt, Anzünden der Sabbat- und Festtagskerzen.

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auf dem Catheder liest seine geschriebenen Hefte ab. Alles ist todter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unterhaltung. […] Mit einem Worte, wir sind litterati, Buchstabenmenschen. Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab […]. So war es nicht in den grauen Tagen der Vorwelt. […] Der Mensch war dem Menschen nothwendiger ; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrachtung inniger mit Handlung verbunden.44

Durch Mendelssohn erhielten mündliche Unterweisung, Gespräch und Geselligkeit eine enorme Aufwertung. Der Mensch gewinne „durch Gesellschaft und Geselligkeit“, er erweitere den „Spielraum seiner Fähigkeiten“ und verstärke „die Gabe sich zu vervollkommnen“, sagt auch Friedländer.45 In einigen der von jüdischen Frauen geführten Gesellschaften wurde der „Geist der lebendigen Unterhaltung“ wieder zum Leben erweckt, der Mensch gewann hier als Gesprächspartner an großem Wert, geistige Reflexion ging in tugendhaftes Handeln über. Dies entsprach zumindest dem Anspruch der Gastgeberinnen, deren Geselligkeiten das Ziel hatten, „sich durch den Umgang mit bedeutenden Menschen zu bilden“, wie sich Henriette Herz erinnerte.46 Die Frauen der Haskala waren, wie traditionell üblich, von höherer Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Buchproduktion ausgeschlossen. Das Bildungskonzept der Haskala zielte jedoch auf „Gesinnungen und Handlungen“, um Glückseligkeit zu bewirken. Damit offenbart sich eine komplementäre Seite der Haskala, die nicht schriftlich fixiert ist, auf der die Frau aber einen hohen Stellenwert besaß. Sie beschritt einen anderen Weg zur Glückseligkeit, wandelte nicht auf dem Weg des schriftlichen, gedruckten und publizierten Wortes der Gelehrsamkeit, sondern auf dem im Judentum ursprünglich bevorzugten Weg tugendhafter Praxis, der im geselligen Umgang mündlich vermittelten Lehre, von Mensch zu Mensch, dem „lieblichen Sagen des Wissens“, wie es Rahel Levin (1771–1833) ausdrückte.47 Das hier skizzierte weibliche Bildungsideal spiegelt sich im ersten von einer Frau verfassten Plan einer Jüdischen Erziehungsschule für Mädchen in Frankfurt am Mayn wider, der 1804 in Leipzig veröffentlicht wurde.48 Neben dem großen

44 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 8. Hrsg. von Alexander Altmann [u. a.], Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 170–171. 45 David Friedländer : Reden der Erbauung gebildeter Israeliten gewidmet. Berlin 1817, S. 20–21. 46 Janetzki (Hrsg.): Henriette Herz. Berliner Salon (Anm. 28), S. 110. 47 Vgl. Roman Gleissner : Das liebliche Sagen des Wissens. Rahel Levin über die weibliche Seite des Sprechens. In: Jüdinnen zwischen Tradition und Emanzipation. Hrsg. von Norbert Altenhofer u. Renate Heuer. Frankfurt a. M. 1990, S. 114–126. 48 Vgl. Henriette Herz: Plan einer Jüdischen Erziehungsschule für Mädchen in Frankfurt am Mayn. Bibliothek der Pädagogischen Literatur 1 (Leipzig 1804). Hrsg. von Johann Christoph

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Anteil an Handarbeitsunterricht „fällt der ausgedehnte Sprachunterricht ins Auge – Hebräisch, Deutsch, Französisch; zusammengenommen mit dem besonderen Wert, der auf ,richtigen und guten Vortrag im Sprechen und Erzählen‘ gelegt wird“.49 Die Verfasserin wollte die Schülerinnen zu „gebildete[n] Mädchen“ erziehen, als solche sollten sie „liebenswerthe Töchter und zärtliche Mütter“, „schätzenswerthe Hausfrauen und würdige Gattinnen“, aber auch „angenehme Gesellschafterinnen“ werden.50 Der Schulplan wandte sich an ein gebildetes jüdisches Publikum des mittleren und gehobenen städtischen Bürgertums, für dessen kulturelles Leben die Geselligkeit und die damit verbundene Wohlredenheit von zentraler Bedeutung war,51 ebenso wie die „Bildung des Verstandes ohne Künsteley“, die „Bildung des moralischen und ästhetischen Gefühls ohne Überspannung“, wie es im Plan heißt.52 Die Autorin zeichnete mit „Henriette Herz“, und man geht davon aus, dass es sich dabei um eine aus Fürth stammende Jüdin handelte, die eine Mädchenschule von kurzer Dauer einrichtete.53 Die große Nähe zum Bildungsideal der Haskala und der Berliner SaloniHren deutet jedoch darauf hin, dass es sich durchaus auch um die Berliner Henriette Herz gehandelt haben könnte, die zu dieser Zeit über Ludwig Börne (1786–1837) und dessen Eltern enge Verbindungen nach Frankfurt unterhielt.54 „Aufgefordert durch mein eignes Gefühl, eigener Trieb, das Wohl unserer Nation nach allen Kräften zu befördern, und der mir so schmeichelhafte Beyfall mancher schätzenswerthen Aeltern, denen ich mein Vorhaben eröffnete, veranlassten mich, den gegenwärtigen Plan einer Schule zur Bildung unsrer weiblichen Jugend bekannt zu machen“,55 schrieb Henriette Herz über ihre Motivation. Zum Verzeichnis der in drei Klassenstufen erteilten Unterrichtsfächer merkte sie an, dass im Lektionsverzeichnis auch „Sittensprüche, mündliche Unterhaltungen, Uebersetzung der jüdischen Gebete nebst Naturgeschichte und Technologie“ [Kursiv. i.O.] als Unterrichtsobjekte aufgestellt seien.56 Unter den genannten Schulbüchern erschienen „Moses Mendelssohns Uebersetzung der 5 Bücher Moses“ und ein nicht weiter bezeichnetes „Jüdisches Gebetbuch“, beide in der vermutlich neuesten, in Karlsruhe herausgegebenen Auflage.57

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Friedrich GutsMuths. Neu ediert in: Kleinau u. Mayer: Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts (Anm. 25), S. 67–69. Ingrid Lohmann, Einführung, in: Ebd., S. 64–67, hier S. 66. Herz: Plan einer Jüdischen Erziehungsschule (Anm. 48), S. 69. Vgl. I. Lohmann: Einführung (Anm. 49), S. 66. Herz: Plan einer Jüdischen Erziehungsschule (Anm. 48), S. 67. Vgl. I. Lohmann: Einführung (Anm. 49), S. 64. Vgl. Janetzki (Hrsg.): Henriette Herz. Berliner Salon (Anm. 28), S. 109–115. Herz: Plan einer Jüdischen Erziehungsschule (Anm. 48), S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 69. Ob es sich bei dem genannten jüdischen Gebetbuch um eine Neuauflage von

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Nachtrag Der reale Bildungsstand sah bei den unteren bis mittleren Schichten der preußischen Juden allerdings ganz anders aus. Als das preußische Oberschulkollegium 1806 eine systematische Erhebung des „jüdischen Schul- und Unterweisungswesens in der Kurmark“ veranlasste, ermittelte der zuständige Beamte unter den öffentlichen gar keine und unter den privaten jüdischen Schulen Berlins nur eine für Mädchen, während den Jungen zwölf Schulen offen standen. In der einzigen privaten Töchterschule unterrichtete „Demoiselle Aaron“ 40 Schülerinnen „armer Eltern“ in „weiblichen Arbeiten, Nähen, Stricken“. Auch wenn der Schule eine „musterhafte Ordnung“ bescheinigt wurde, so kam man doch zu dem Schluss, dass es in Berlin „weibliche Anstalten zum Unterricht und zur Erziehung […] in der jüdischen Colonie eigentlich gar nicht“ gebe.58 Bis zur Einrichtung der Berliner jüdischen Gemeindemädchenschule, die alle Töchter der Gemeinde, gleich ob arm oder bemittelt, aufnehmen sollte, vergingen noch genau dreißig Jahre (1836). Als Leopold Zunz (1794–1886) 1825 im Vorfeld der Schulgründung David Friedländer befragte, antwortete dieser : „Ein Mädchencheder hat es, meines Wissens, weder in Berlin noch irgend anderswo gegeben; besonders da des weiblichen Geschlechts Religion in den drey positiven Gesetzen von nidda, challa, hadlaqat ha-ner besteht, welche von der Jugend dieses Geschlechts nicht füglich in Ausübung gebracht werden können. Aber auch zu weiblichen Handarbeiten ist nie eine allgemeine Schule errichtet worden, wenigstens hab’ ich nie von einer gehört“.59 Friedländers Antwort veranschaulicht, wie wenig auf Bestehendes zurückgegriffen werden konnte, aber auch, dass es die jüdische Tradition war, an die man anknüpfen wollte.

Euchels oder Friedländers Gebetbuch-Übersetzung handelt, kann leider auch mit Blick in Yeshajahu Vinograds Ozar ha-Sefer ha-ivri nicht verifiziert werden. 58 Zustand des jüdischen Schulwesens in der Kurmark, 1806. CCN, Dok. 173, S. 460–487, hier S. 464f. Private Mädchenschulen für ein gebildetes Publikum richteten Moses Hirsch Bock 1809 und Jeremias Heinemann 1818 in Berlin ein. 59 David Friedländer an Leopold Zunz, 2. Februar 1825; zit. n. CCN, Dok. 593, S. 1059.

Carsten Schapkow

Henriette Herz’ sephardisches Judentum und die deutsch-jüdische Kultur zwischen Aufklärung und Romantik

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Bedeutung des sephardischen Judentums auf der Iberischen Halbinsel und nach der Vertreibung der Juden Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien und Portugal im Exil in Hamburg. Darüber hinaus wird der Rezeption des sephardischen Judentums in der deutsch-jüdischen Kultur nachgegangen, wobei diese bei Henriette Herz (1764–1847) am Beispiel ihrer Lebensbeschreibung ebenfalls diskutiert wird. Die Auseinandersetzung mit dem sephardischen Judentum im deutsch-jüdischen Kulturkreis begann bereits in der Haskala und setzte sich bei Vertretern der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert fort.1

Sephardisches Judentum auf der iberischen Halbinsel In der historischen Forschung wird davon ausgegangen, dass Juden bereits nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 durch die Römer auf die Iberische Halbinsel gelangten. Der Ortsname Sarepta, von dem sich Sepharad ableitet, wird hingegen erstmals im zwischen 875 und 852 v. u. Z. entstandenen prophetischen Buch der Hebräischen Bibel Obadja 1,20 verwendet. Überdies existieren historische Einordnungen, die erste jüdische Ansiedlungen in Spanien während der Herrschaft König Salomos 1000 v. u. Z. ansetzen.2 Bis zur Vertreibung im Jahre 1492 unter den katholischen Herrschern Königin Isabella von Kastilien (1451–1504) und König Ferdinand von Aragon (1452–1516) waren Juden in Spanien über die Jahrhunderte weitgehend in den unterschiedlichen muslimischen Gesellschaften integriert. Diese Integration vollzog sich auf eine Weise, die die Rezipienten in der Haskala und innerhalb der Wissenschaft des 1 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Carsten Schapkow: Vorbild und Gegenbild. Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur 1779–1939. Köln 2011; Ders.: Role Model and Countermodel. The Golden Age of Iberian Jewry and German Jewish Culture during the Era of Emancipation. Lanham 2016. 2 Eli Davis: Sephardim. In: Encyclopedia Judaica. Jerusalem 14 (1971), S. 1166–1176.

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Judentums von einem ,Goldenen Zeitalter‘ der Juden im islamischen Herrschaftsbereich sprechen ließ, das faktisch aber nur von 900 bis 1150 u. Z. währen sollte. Juden waren auf der Iberischen Halbinsel als Vermittler in unterschiedlicher kultureller aber auch politischer Funktion tätig. Diese wiederum hatte ihre Grundlage in der interkulturellen Kompetenz der sephardischen Juden, basierend auf deren vielseitigen Sprachkenntnissen im Arabischen, Hebräischen, Judäo-Arabischen und später unter christlicher Herrschaft auch in den romanischen Sprachen sowie Latein. Die Juden wie auch die Christen waren als Dhimmi seit dem Pakt von Umar aus dem Jahre 637 rechtlich geschützt. Deren Akzeptanz in der muslimischen Gesellschaft bedingte auf Seiten der Juden eine Offenheit gegenüber Einflüssen aus der arabischen Kultur.3 Daraus entstand eine Notwendigkeit, religiöse und säkulare Aspekte miteinander in Einklang zu bringen. Dies traf ebenso auf die sich daran anschließende christliche Herrschaft zu, wenngleich sich hier die Situation der Juden ab dem Ende des 14. Jahrhunderts verschlechtern sollte.4

Sephardische Juden in Hamburg Nach der Vertreibung der sephardischen Juden 1492 aus Spanien bzw. 1497 aus Portugal im Rahmen der Reconquista, der christlichen ,Rückeroberung‘ der iberischen Halbinsel von der muslimischen Herrschaft siedelte sich die Mehrheit der Juden, die nicht zum Christentum konvertiert waren, im Osmanischen Reich oder in Nordafrika an. Erst seit den 1570er Jahren bestand in Amsterdam, seit 1575 in Hamburg eine sephardische Gemeinde, die bis zur Shoah Bestand haben sollte.5 Die Hamburger Gemeinde setzte sich zu Beginn noch aus3 Vgl. Mark R. Cohen: Under Crescent and Cross. The Jews in the Middle Ages. Princeton 1994. 4 Vgl. Jane S. Gerber : The Jews of Spain. A History of the Sephardic Experience. New York 1994. 5 Zum sich verzweigenden Ortsbezug Sepharad vgl. Desanka Schwara: Hybridität als politisches und soziokulturelles Prinzip. Sefardische Wege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Transversal 2 (2003), S. 51–78; Hiltrud Wallenborn: Bekehrungseifer, Judeneifer und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sephardischer Migration im 17. Jahrhundert. Hildesheim 2003. Besonders Yosef Kaplan hat umfangreiche Untersuchungen zur Bedeutung der sephardischen Juden in Westeuropa und deren wechselseitiger Auseinandersetzung mit der nicht-jüdischen Welt angestellt. Vgl. Yosef Kaplan: The Portuguese Community in the 17th Century Amsterdam and the Ashkenazy World. In: Dutch Jewish History. Bd. II: Proceedings on the History of the Jews in the Netherlands. Hrsg. von Josef Michman. December 1986. Jerusalem 1989, S. 23–45; Ders.: The Sephardim in north-western Europe and in the New World. In: Moreshet Sepharad. The Sephardi Legacy. Bd. I–II. Hrsg. von Haim Beinart. Jerusalem 1992, S. 240–287; Ders.: The Jewish Profile of the SpanishPortuguese Community of London During the Seventeenth Century. In: Judaism 41 (1992), S. 229–240. Für Hamburg vgl. Michael Studemund-Halevy : Die Juden in Hamburg. Geschichte einer Minderheit. Erster Teil. Hamburg 1994.

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schließlich aus Krypto-Juden zusammen, da zu diesem Zeitpunkt in Hamburg noch keine aschkenasische Gemeinde existierte. Ab 1601 gestattete das seit 1580 in Personalunion mit Portugal vereinte Königreich Spanien die Ausreise von zwangskonvertierten Juden, was die Einwanderung in diese nordwesteuropäischen Regionen beflügelte. Die nach Nordwesteuropa eingewanderten Neuchristen oder Marranen bezeichneten sich stolz als Angehörige der naÅao, d. h. sie verstanden sich als Mitglieder der portugiesischen Nation. Aufgrund ihrer florierenden Handelsbeziehungen wurden die sogenannten Portugiesen scheinbar schnell zu gleichberechtigten Mitbürgern, die vielfach auch politisch tätig waren.6 Nur gegen hohe finanzielle Leistungen wurde ein Niederlassungsrecht, allerdings ohne das Zugeständnis, sich offiziell zum Judentum bekennen zu dürfen, zuerkannt.7 Die Marranen lebten in Hamburg ihr Judentum zunächst im heimlichen Rahmen aus, erst später konnten sie sich offen zum Judentum bekennen. Judenfeindliche Ausschreitungen gingen in dieser Zeit in erster Linie von der Bürgerschaft aus, wohingegen der Senat den Einwanderern freundlicher gesonnen war.8 1609 hielten sich 98 sephardische Juden in Hamburg auf, 1663 waren es bereits 600 Personen in 120 Familien. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts gingen diese Zahlen zurück und die aschkenasischen Juden begannen, die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in der Stadt zu stellen. Die Sepharden Hamburgs blieben allerdings im Wirtschaftsleben der Stadt als Kaufleute, Tabakhändler, Reeder sowie im Bank- und Schiffswesen gut integriert.

Das iberisch-sephardische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur Wie lässt sich nun die Relevanz der iberisch-sephardischen Kultur für die jüdische Aufklärung, vor allem hinsichtlich des Diskurses einer ,bürgerliche[n] Verbesserung der Juden‘ in Deutschland und Preußen veranschlagen? Die Auseinandersetzung geht auf die europäische Aufklärung und die Haskala zurück, die eine tiefgehende Transformation der deutschen und der jüdischen 6 So wirkten Diego Teixeira als Resident der abgedankten Königin Christine von Schweden und Jakob Rosales als Vermittler bei den Friedensverhandlungen zwischen Schweden und der kaiserlichen Partei am Ende des dreißigjährigen Krieges. Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hrsg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 113. 7 Günther Böhm: Antijüdische Ressentiments gegenüber den Hamburger Sefardim im 17. Jahrhundert. In: Die Sefarden in Hamburg. Die Geschichte einer Minderheit. Hrsg. von Michael Studemund-Hal8vy. Bd. 1. Hamburg 1994, S. 89–101, bes. S. 92. 8 Böhm: Antijüdische Ressentiments (Anm. 7), S. 92f.

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Gesellschaft in Deutschland, beginnend mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, einleiteten. Kennzeichnend für diese beiden von einer Elite getragenen intellektuellen Bewegungen war ein ihnen gemeinsamer Glaube an aufklärerisches Gedankengut. Die christlichen Aufklärer waren sich dabei ihres christlichen Erbes sehr wohl bewusst. Auch wenn ihre Argumentation auf deistischen Erklärungsmodellen beruhte, waren sie dennoch von der Höherwertigkeit des Christentums gegenüber dem Judentum überzeugt und vertraten häufig die Auffassung, es sei nur mehr eine Frage der Zeit, bis sich das Judentum in der christlichen Mehrheitsgesellschaft auflösen werde. Verbesserung im Sinne einer jüdischen Aufklärung meinte hingegen, die bis dato von der europäischen Kultur abgeschlossenen Juden an diese allgemeine Kultur heranzuführen. Diese Bestrebungen wurden von einer Elite getragen, die vornehmlich in den preußischen Städten lebte. In der Konsequenz führte dies, wie Christoph Schulte schreibt, zur Ausbildung des „Sozialtypus des deutschen Juden“, der nur noch deutsch sprach und schrieb, Religion zur Privatsache machte und in Salons und Zeitschriften im engen Austausch mit den christlichen Deutschen stand.9 Dabei kam der Devise „Emanzipation durch Bildung“10 zentrale Bedeutung zu. Die 1781 verfasste Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Juden des preußischen Verwaltungsbeamten Christian Wilhelm von Dohm11 richtete sich nicht an allein an eine gebildete Schicht, sondern wandte sich ausdrücklich an die politischen Entscheidungsträger und die Vertreter der Verwaltung in Preußen. Dohms Bestreben war es, den Juden die gleichen bürgerlichen Rechte wie den übrigen Untertanen zuteilwerden zu lassen, die sie in die Lage versetzen würden, sich in „glücklichere und bessere Glieder der menschlichen Gesellschaft“12 zu verwandeln. Zum Zeitpunkt der Niederschrift waren die preußischen Juden auf Grundlage des ,Generalprivilegiums‘ von 1750 in Gruppen eingeteilt, die nach Einkommen bemessen wurden und in der Regel nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht mit sich brachten.13 Dohm vertrat in der Schrift die Auffassung, sobald die äußeren Lebensbedingungen der Juden und deren als ungenügend verstandener sittlicher Zustand verändert seien, würde sich auch die innere Verfassung der Juden verbessern. Er ging davon aus, dass der trostlose Zustand der Juden in Deutschland ihren

9 Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. S. 44. 10 Schulte: Jüdische Aufklärung (Anm. 9), S. 27–28. 11 Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781. 12 Dohm: Bürgerliche Verbesserung (Anm. 11), Band 1, S. 110. 13 Vgl zu Dohm allgemein Jonathan M. Hess: Germans, Jews, and the Claims of Modernity. New Haven 2002.

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schlechten Lebensbedingungen geschuldet sei.14 Aus diesem Grunde sei der Staat in der Pflicht, die Juden in der Verbesserung ihrer inneren Konstitution ständig zu fördern. Teil dieses Verbesserungsprogramms war die Öffnung aller Gewerbezweige und damit verbunden ein Wegfall des Zunftzwanges, der die Juden von vielen Berufen ausschloss. Die Zulassung von Juden zu Staatsämtern war für Dohm hingegen nicht wünschenswert, da ihr innerer Zustand diesen Aufgaben noch nicht gewachsen sei.15 Diese theoretischen Erwägungen eines hohen Beamten der preußischen Verwaltung fielen etwas später mit der Französischen Revolution und der Herrschaft durch Napoleon zusammen, die eine veränderte Politik gegenüber den Juden, auch bezogen auf die deutschen Territorien, mit sich brachten. Bedingt durch diese Ereignisse wurden in den nicht französisch beherrschten deutschen Gebieten umfangreiche Diskussionen über die Rechtsstellung der Juden geführt. Wie verhielten sich nun die jüdischen Aufklärer, die Maskilim, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu diesen Diskussionen? Sie verbanden diese an sie erhobenen Forderungen nach einer Reform des Judentums mit den Prinzipien von Aufklärung und Nützlichkeit, indem sie sich Beispiele aus der jüdischen Geschichte und hier insbesondere der iberisch-jüdischen Geschichte zu Eigen machten.16 Diesem Verständnis folgend waren auch die Redakteure und Autoren der jüdischen Zeitschriften, der hebräischen Ha-Me’assef und der deutschsprachigen Sulamith, ganz dem Verbesserungsgedanken der Aufklärung verpflichtet. Sie versuchten jedoch, ein eigenes Profil auszubilden, das der spezifischen Situation der jüdischen Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne gerecht werden könnte. In den beiden Zeitschriften nahmen Darstellungen zur iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur breiten Raum ein. Die Artikel orientierten sich in der Ha-Me’assef vornehmlich an Marranen, die sich in eine christliche Mehrheitsgesellschaft zu integrieren versuchten, ohne zum Christentum überzutreten.17 Diese Lebensbeschreibungen herausragender iberisch-sephardischer 14 Dohm: Bürgerliche Verbesserung (Anm. 11), Band I, S. 187. 15 Ebd. S. 110. 16 Die jüdischen Aufklärer gingen hierbei teilweise über Dohm hinaus. So forderte Dohm in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden auch eine vollständige innerjüdische Gerichtsbarkeit unter Beibehaltung des Bannrechts. Diese Einschätzung einer unabhängigen jüdischen Gerichtsbarkeit wurde hingegen von den Maskilim als nicht kompatibel mit den Idealen der Aufklärung angesehen. Vgl. Schulte: Jüdische Aufklärung (Anm. 9), S. 38. 17 Für das Verständnis jüdischer Geschichte in der Frühen Neuzeit ist das umfangreiche Beziehungsgeflecht der Marranen von zentraler Bedeutung, auch wenn es darum geht, die Schnittmenge zwischen Christentum und Judentum zu definieren. Zu diesem Untersuchungsgegenstand ist noch immer grundlegend die Untersuchung von Yosef Haim Yerushalmi: From Spanish Court to Italian Ghetto. Isaac Cardoso, a Study in Seventeenth Century

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Persönlichkeiten stellten den vermittelnden Charakter solcher Akteure in den Mittelpunkt. Diese frühe Rezeption unterschied sich von der Interpretation der iberisch-sephardischen Kultur als einer alle Bereiche umschließenden Gegenkultur zum deutschsprachigen Judentum, wie sie insbesondere von Vertretern der Wissenschaft des Judentums und der sich ausbildenden jüdischen Historiographie vertreten wurde.18 Die Maskilim näherten sich den Konzepten nach Verbesserung an, ohne jedoch einen radikalen Bruch mit der jüdischen Tradition zu formulieren. Die Zeitschrift Sulamith war ein zentrales publizistisches Organ, das eine wichtige Funktion bei der Verbreitung maskilischen Gedankengutes innehatte und besonderen Einfluss auf die Ausbildung eines jüdischen Erziehungssystems ausübte, das sich von traditionellen Schulkonzepten abhob. Im Untertitel hieß sie Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation. Das Programm der Zeitschrift erweiterte ein traditionell religiöses Verständnis vom Judentum, veröffentlichte Artikel zur jüdischen Geschichte, Philosophie sowie Philologie und druckte zahlreiche Rezensionen zu Themen der jüdischen Geschichte und insbesondere der Verbesserung und Emanzipation der Juden. Die in der Sulamith diskutierten Konzepte nahmen auf die gesamte jüdische Öffentlichkeit Einfluss und sollten die Wissenschaft des Judentums nachhaltig beeinflussen. So bemerkte der Mitbegründer Joseph Wolf (1762–1826) im ersten Heft der Sulamith 1806, ganz dem Geiste der Aufklärung verpflichtet, dass „jedes Volk […] einer Bildung, einer Sittenverbesserung nicht unfähig“19 sei. Für Wolf war jedoch unbestritten, dass diese „Sittenverbesserung“ nicht ohne herausragende Persönlichkeiten als Vorbilder zu erreichen sei, die er als „heilbringende Schutzengel der Menschheit“20 apostrophierte. Sie erzielten eine große Wirkung auf die Juden, waren jedoch nicht von den allgemeinen Entwicklungen der Zeit abgekoppelt: Auch der jüdischen Nation ließ es die Vorsicht nicht an solchen verdienstvollen Männern fehlen, die mit einer Wahrheitsliebe, welche jede Menschenfurcht besiegt, und oft mit nicht geringer Aufopferung für eine verbesserte Denkungsart ihrer Glaubensgenossen sorgten, und so weit es ihr beschränkter Wirkungskreis erlaubte, Gutes beförderten. […] Die Namen Maimonides, Aben Esra, Manasse ben Israel, u. a. m. bleiben dem jüdischen Volke in unvergesslichem Andenken. Ihre Schriften sind voll

Marranism and Jewish Apologetics. New York 1997. Vgl. zu Cardosa außerdem Yosef Kaplan: From Christianity to Judaism. The Story of Isaac Orobio de Castro. Oxford 1989, S. 308–362. 18 Vgl. Schapkow: Vorbild und Gegenbild (Anm. 1), S. 136–273. 19 Joseph Wolf: Inhalt Zweck und Titel dieser Zeitschrift. In: Sulamith, I. Jahrgang I. Bandes 1. Heft (Juli 1806), S. 1. 20 Ebd., S. 4.

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belehrender Wahrheiten und nützlicher Kenntnisse. Der Geist der Wahrheitsliebe und der gründlichen Forschung wehet in allen ihren Werken. Friede sei mit ihrer Asche.21

Die Erinnerung an diese herausragenden Persönlichkeiten des sephardischen Judentums gestaltete sich universal im „Andenken dieser heilbringenden Schutzengel der Menschheit“.22 Wolfs Intention dabei war es, darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kenntnisse besessen hatten, die ihnen die Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft möglich gemacht haben. Die sephardischen Helden aus der Vergangenheit wurden von Wolf damit als Beispiele für die gegenwärtigen Diskussionen um eine ,Verbesserung der Juden‘ herangezogen. Joseph Wolf trat mit der Überzeugung auf, jedes Volk, auch das jüdische, könne eine solche Verbesserung erfahren. Dabei diente das literarische Genre der Lebensbeschreibungen vor allem dazu, auf eine Veränderung bestehender Erziehungskonzepte hinzuwirken. Am Beispiel der Lebensbeschreibungen konnten diese jüdischen Helden-Figuren als Leitfiguren für die christliche Mehrheitsgesellschaft vorgestellt werden. Dadurch war es möglich, kulturelle und pädagogische Konzepte von führenden Persönlichkeiten zu adaptieren, die immer Juden blieben und somit nicht den ,aufgeklärteren‘ Ideen des Christentums folgen mussten. Es handelte sich hierbei um eine biographische Imagination, in der die Helden der Vergangenheit als Garanten für die sich nun vollziehende jüdische Aufklärung mit den Prinzipien einer modernen Erziehung eingesetzt wurden.23 Die Programmatik der Aufklärung mit ihrem impliziten Aufruf zur ,bürgerlichen Verbesserung‘ der Juden war in der jüdischen Publizistik nachhaltig diskutiert worden. Im literarischen Genre der Lebensbeschreibungen wurde die Geschichte der iberisch-sephardischen Juden dem aufgeklärten jüdischen Publikum in Deutschland zuerst in hebräischer Sprache, später dann ausschließlich auf Deutsch näher gebracht. Bereits in der ersten Ausgabe des Ha-Me’assef wurde eine Rubrik mit dem Titel „Biographien berühmter Rabbinen und angesehener Männer der Nation“ angekündigt,24 in welcher bedeutende Vertreter des iberischen Judentums den Lesern vorgestellt wurden. Die Maskilim orientierten sich an diesen ausgesuchten Protagonisten des sephardischen Judentums, wie z. B. Jehuda ha-Levi (um 1075–1141) und Moses Maimonides (um 1135–1204), um zu verdeutlichen, dass diese der jüdischen Tradition verbunden geblieben waren 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. zu diesem Ansatz insbesondere James Lehmann: Mendelssohn and the Me’asfim. Philosophy and the Biographical Imagination. In: Leo Baeck Institute Yearbook 20 (1975), S. 87–108. 24 Nachricht an das Publikum – Erste Zugabe zu der hebräischen Monatsschrift der Sammler. In: Ha-Me’assef 1 (1783/84), S. 20.

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und trotzdem großen Anteil an der allgemeinen Entwicklung der Kultur und der Wissenschaft auf der iberischen Halbinsel unter arabischer Herrschaft nehmen konnten. Dabei wurden sie der Leserschaft seitens der Autoren im Ha-Me’assef häufig als Ideengeber für diese allgemeine Kultur wie auch als Gesprächspartner für prominente Nicht-Juden präsentiert. Die Maskilim zeigten dabei das sephardische Judentum in einer Überhöhung, um deutlich zu machen, dass es jenseits des eigenen aschkenasischen Judentums, das man besonders als ein rabbinisches Judentum wahrnahm, hier eine Form von Judentum gegeben hätte, das als Vorbild für den Versuch herangezogen werden könnte, ein aufgeklärtes Judentum zu schaffen. Insbesondere die kontinuierliche Reihung einer Vorstellung von Tradition im sephardischen Judentum war konstruiert und beruhte auf einer bewussten Imagination, an deren Ende die Aufklärer selbst zu stehen glaubten. Diese Helden-Figuren wurden durch ihre Integration in die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft, die sich durch eine Aufgeschlossenheit gegenüber den säkularen Wissenschaften – ohne dabei die jüdische Tradition abzulegen – mitteilte, zu Vorbildern. Der iberisch-sephardischen Kultur wurde damit eine Sonderstellung zugeschrieben, die „als ein heller Lichtpunkt, glänzend am düsteren Horizonte der damaligen europäischen Kultur“25 gestrahlt habe. Der Kontinuität einer Verfolgungsgeschichte im mitteleuropäischen Kontext stand die Erfahrungswelt der sephardischen Juden gegenüber, die sich produktiv mit der allgemeinen Kultur vermischt hatte. Dieses Verständnis ermöglichte es den jüdischen Autoren, nachdem die universalistischen Prinzipien der Aufklärung durch romantische Theorien zur Nation ersetzt wurden, diesen ein Potential entgegenzusetzen, das der monolithischen Vorstellung eines christlichen Europa, wie es Novalis (1772–1801) am prägnantesten formuliert hatte, genauso widersprach wie Theorien eines exklusiven Partikularismus.26 Neben Novalis sind stellvertretend für einen deutlich formulierten Judenhass im Zeitalter der Romantik die beiden Begründer der „Deutschen Tischgesellschaft“, Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831), zu nennen. Der Umstand, dass Juden integrativer Bestandteil von al-Andalus gewesen waren, ist von erheblicher Bedeutung, um die Tragweite dieses integrativen Ansatzes auch hinsichtlich des Verhältnisses von jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaft vollständig einordnen zu können und um zu verstehen, wie die Diskussion um die Emanzipation der Juden unter Bezugnahme auf das se-

25 Salomo Löwisohn: Abenezra und dessen Schriften. In: Sulamith IV (1812), S. 217–222, hier S. 218. 26 Deborah Hertz: How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin. New Haven 2007, S. 184f.

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phardische Beispiel ausgestaltet wurde und gleichzeitig die Bedeutung eines Kommentars im Prozess der Emanzipation erhielt. Dies war von zentraler Bedeutung vor dem Hintergrund einer eben nicht gesicherten rechtlichen Situation nach dem Wiener Kongress. Durch den ,Nachweis‘ eines Bürgerstatus auf der Iberischen Halbinsel und in den Niederlanden konnten sich Juden auch gegen den exklusiven Universalismus beispielsweise von romantischen Theoretikern wie Novalis wehren. Dieser hatte in seinem 1799 entstandenen Aufsatz Die Christenheit oder Europa von „schönen, glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte [und] ein großes gemeinschaftliches Interesse […] die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches“27 verband, gesprochen – und mit dieser Vorstellung den Kreis derer, die an seinem enthusiastisch gemalten Vergangenheits-Bild partizipieren durften, strikt eingeschränkt. In diesem Verständnis erschien das Mittelalter als einheitlicher Block, der die Vielseitigkeit mittelalterlichen Lebens und insbesondere auch die Anwesenheit nichtchristlicher Bevölkerungsschichten scheinbar übersah. Um diesem ausschließlichen Anspruch ein Potential entgegenzusetzen, nahmen die Niederlande für die Maskilim aus zwei Gründen die Funktion eines Gegenbildes ein.28 Hier wurde eine spezifisch sephardische Kultur als fruchtbare Vermischung von jüdischer Tradition und den positiven, die Integration fördernden Merkmalen einer so verstandenen allgemeinen Kultur aufgefasst.29

Henriette Herz’ sephardische Identität Henriette Herz, geborene de Lemos, wuchs in einem Elternhaus auf, in dem die jüdische Tradition bewahrt wurde. In welchem Maße Henriette Herz Kenntnis von den maskilischen Schriften, auch hinsichtlich des sephardischen Judentums hatte, ist nicht bekannt. Daher muss diese Einordnung sich hier auf ihre Erinnerungen konzentrieren und gleichzeitig beschränken. Offenbar nahm Henriette Herz im Verlaufe ihres Erwachsenenlebens ihr Judentum als Makel wahr, so 27 Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg): Die Christenheit oder Europa. In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. München und Wien 1978, S. 723f. 28 Vgl. H. J. Koenen: Geschiedenis der Joden in Nederland. Utrecht 1843, S. 487–488. In: Jewish Emancipation. A Selection of Documents. Hrsg. von Raphael Mahler. New York 1941, S. 10–11. 29 Isaak Markus Jost: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Tage, nach den Quellen bearbeitet. Berlin 1820f., hier Bd. 6, S. 75–76. Zur Situation in den Niederlanden Koenen: Geschiedenis der Joden in Nederland (Anm. 28), S. 487–488.

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dass sie sich 1817, nach dem Tod der Mutter Esther de Charleville (1742–1817), nach protestantischem Ritus taufen ließ. Es liegt die Vermutung nahe, dass gerade ihre Kritik am zeitgenössischen Judentum Henriette Herz die eigene sephardische Herkunft im Gegensatz zur Realität des jüdischen Lebens stilisieren und idealisieren ließ. Henriette Herz hatte maßgeblichen Anteil an der Ausbildung einer Salonkultur in Preußen, die zumindest bis 1808 auf einer gemischten Geselligkeit zwischen Juden und Christen basierte. Diese Salonkultur entstand, als sich die Maskilim in Preußen an iberisch-sephardischen Juden als „Kulturträger für Europa“30 zu orientieren begannen. In den Erinnerungen der Henriette Herz kommt der sephardischen Herkunft eine zentrale Funktion zu. Aber auch prominente Vertreter der Wissenschaft des Judentums, wie Heinrich Graetz (1817–1891), manifestierten die Bedeutung von Henriette Herz’ sephardischer – und im Fall Graetz’ deutscher – Herkunft. Durch ihre Eltern, den Vater Benjamin de Lemos (1711–1789), einen portugiesisch-jüdischen beliebten Arzt, der aus Hamburg stammte, und die Mutter, aus dem aschkenasischen Judentum, vereinigten sich – so Graetz – in der Tochter harmonisch die Eigenart südländischen Feuers und spanischer Würde und deutsche Weichheit und Biegsamkeit.31 Benjamin de Lemos, wurde 1711 in Hamburg als Sohn des Maklers Abraham de Lemos geboren. Die Familie soll, so Deborah Hertz, „vor einem Jahrhundert“32, also etwa um 1679, nach Berlin gekommen sein. Benjamin de Lemos studierte Arzneiwissenschaften in Halle und promovierte dort als einer der ersten Juden an einer deutschen medizinischen Fakultät. Er war im Anschluss zuerst als Arzt in Dessau, seit 1744 in Berlin als Gemeindearzt und seit 1747 als Arzt und Leiter am Jüdischen Krankenhaus tätig.33 Selbst kein Vertreter der Haskala, erhielt er im Jahre 1769 aufgrund seiner bestehenden großen Observanz, die Sondergenehmigung minyanim in seinem Haus abzuhalten.34 Henriette Herz Mutter Esther war die Nichte der ersten Frau Benjamins, Channa, die 1762 (vermutlich) kinderlos starb. Deren Vater hatte selbst als Arzt praktiziert. 30 Margarete Schlüter : Heinrich Graetzens „Konstruktion der jüdischen Geschichte“. Ein Gegenentwurf zum Begriff einer „Wissenschaft des Judentums“. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 24 (1997), S. 107–127. 31 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [u. a.] 1853–1875, hier : Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 142; Julius Fürst: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 1850; Ludwig Geiger : Henriette Herz. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 12. Leipzig 1880, S. 258–260. 32 Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt a. M. 1991, S. 134. 33 Eberhard Wolff: Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität. Göttingen 2014, S. 61–62. 34 Vgl. Protokollbuch der jüdischen Gemeinde Berlin (1723–1854). Hrsg. von Josef Meisl. Jerusalem 1962, S. 256.

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Die Ehe ihrer Eltern brachte zwei Söhne und fünf Töchter hervor. Die Verbindung zwischen einem sephardischen Juden und einer aschkenasischen Jüdin war auch zu dieser Zeit nicht die Regel; Heinrich Graetz sprach in Bezug auf die Ehe der Eltern von Henriette Herz von „dieser halben Mischehe.“35 Während ihrer Ehe mit dem Arzt Marcus Herz (1747–1803), einem Schüler Immanuel Kants, leitete Henriette Herz einen später als ,Salon‘ bekannt gewordenen Kreis in ihrem Haus. Anders als ihr noch ganz dem Einfluss der Aufklärung verhafteter Mann errichtete die SaloniHre Henriette Herz auch eine Brücke zur damals fortschrittlichen Literatur des Sturm und Drang und der Klassik mit deren Hauptvertreter Goethe im Mittelpunkt. Standes- und Glaubensunterschiede schienen im Rahmen des Salons verwischt zu sein. In ihren Erinnerungen grenzte Henriette Herz hingegen ihre eigene sephardische Herkunft sowohl vom traditionellen als auch aufgeklärten Judentum der zeitgenössischen aschkenasischen Juden ab. Hier ergänzte sich der Stolz über die Herkunft auch mit den Erfahrungen einer Verfolgungsgeschichte ihrer sephardischen Vorfahren: „Mein Vater war ein portugiesischer Jude, dessen Großvater mit vielen seiner Glaubensgenossen aus Portugal fliehen musste, um nicht in die Hände der Inquisition zu geraten.“36 Die erfolgreiche Integration des Vaters in die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft basierte insbesondere auf dessen guter Erziehung und Ausbildung: Mein Vater war, wie ich schon oben gesagt, ein portugiesischer Jude und hatte in Hamburg gelebt, bis er die hohe Schule bezog; er hatte in Halle die Arzneiwissenschaft studiert und war der erste Arzt jüdischer Nation, in Berlin bekam er schon bald ein Praxis bei seinen Glaubensgenossen, so wurde er doch zu Anfang so schlecht bezahlt, dass er manchen Mittag sich mit Kartoffeln oder Kaffee begnügen musste, da er alles, was er verdiente, auf seine Kleidung, auf die er sehr viel hielt, verwenden musste.37

Der Vater erreichte durch das Studium der Medizin gesellschaftliche Anerkennung, wenn auch keinen Reichtum. Bereits auf der Iberischen Halbinsel hatten Juden durch ihre medizinischen Fertigkeiten als Leibärzte an den Höfen und zwar sowohl im christlichen als auch im islamischen Herrschaftsbereich gewirkt. Jenseits der Iberischen Halbinsel boten die Universitäten Italiens zudem seit der Frühen Neuzeit Juden die Möglichkeit eines Studiums der Medizin.38 Neben dessen beruflichen Qualifikationen wies die Tochter in den Erinnerungen auf die Schönheit des Vaters hin: „Ich habe meinen Vater nicht jung gekannt, er soll aber sehr schön gewesen sein, was sowohl an seinem Jugendbilde, das ich 35 Graetz: Geschichte, Bd. 11 (Anm. 31), S. 146. 36 Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Frankfurt a. M. 1984, S. 7. 37 Herz: Erinnerungen (Anm. 36), S. 14. 38 Richard Landau: Geschichte der jüdischen Ärzte. Berlin 1895, S. 55f.

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von ihm besitze, zu sehen ist, als man auch noch bis zu seinem Tode Schönheitsspuren in seinem Gesichte sah.“39 Darüber hinaus war der Vater seiner Tochter zufolge auch mit einer besonders robusten Gesundheit ausgestattet: Er genoss aber eine sehr gute Gesundheit, und ging er schon nie mit Überrock oder Mantel, so war es höchstens ein Schnupfen, der er sich zugezogen hatte. Seine Kleidung war, nach damaliger Zeit, elegant, feine tuchene und seidene und samtene Kleider, seidene Westen und dergleichen, die feinste Wäsche, eine Knotenperücke und feinen dreieckigen Hut.40

Ihre Darstellung eines starken, schönen und gesunden Vaters, der höchstens einmal an einem Schnupfen erkrankte, könnte somit als bewusste Stärkung ihres eigenen sephardischen Selbstwertgefühls verstanden werden. Dem gegenüber stand die launische und kränkliche aschkenasische Mutter. Möglicherweise hat die Betonung der gelungenen Integration des Vaters und die idealisierte Form der Erinnerung eine Ursache in der Tatsache, dass viele jüdische Zeitgenossen von Henriette Herz nach dem Generalprivilegium von 1750 in einer höchst unsicheren Existenz in Preußen lebten. Diese Art von Armut ist jedoch nicht die des Vaters, vielmehr unterschied er sich auch durch Habitus und Sprache von den aschkenasischen Juden: Seine Sprache war rein, wie denn die portugiesischen Israeliten überhaupt den jüdischen Jargon und Ton nicht haben. Mein Vater lebte streng im Gesetz seines Glaubens, hatte aber die Milde und Liebe des Christentums im Herzen und war daher duldsam gegen alle die, welche dagegen handelten.41

Dass vom Vater praktizierte gesetzestreue Judentum stand seiner Tochter zufolge innerlich bereits dem Christentum nahe. In der Schilderung von jüdischen Verwandten wurde dessen orthodoxe Lebensführung bestätigt, die innerliche Hinwendung zum Christentum entstammte wohl eher dem Wunschdenken der Tochter. Dem Aspekt der Sprache kam im Rahmen der Integration bestimmter Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft eine besondere Funktion zu. Der namhafteste Vertreter der jüdischen Aufklärung, Moses Mendelssohn, verstand die Anwendung der deutschen Sprache als Voraussetzung für die Integration der Juden. Dem sollte das Juden-Deutsche weichen, das Mendelssohn als einen Jargon ansah, der zudem mit dem Makel einer jüdischen Geheimsprache behaftet war.42 Und auch Henriette Herz stellte die Behauptung auf, ihr sephardischer Vater spräche ein reineres Deutsch als die deutschen Juden, indem er den jüdischen 39 40 41 42

Herz: Erinnerungen (Anm. 36), S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Vgl. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt a. M. 1993.

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Jargon nicht benutzte.43 Zudem findet sich auch hier ein impliziter Bezug zur Präferenz der sephardischen Aussprache des Hebräischen bei den Maskilim gegenüber der aschkenasischen Aussprache, wie sie insbesondere von den aus Polen stammenden Lehrern unterrichtet wurde. Es lässt sich jedoch nicht nachweisen, ob und in welcher Form Henriette Herz von diesen Debatten Kenntnis hatte.

Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Wahrnehmung des iberischsephardischen Judentums zu Henriette Herz’ Zeiten von der Vorstellung der Teilhabe sephardischer Juden an der Mehrheitsgesellschaft und darüber hinaus eines Miteinanders von Juden und Nicht-Juden, basierend auf einer gesicherten Rechtsstellung der jüdischen Minderheit, getragen war. Von zentraler Bedeutung für die jüdischen Rezipienten war dabei nicht die Wahrnehmung eines Vorgangs der Assimilation, sondern das Verständnis einer Integration jüdischer Lebenswelten in eine muslimische und christliche Mehrheitsgesellschaft. Diese Geschichte ereignete sich zudem nicht an der Peripherie Europas, sondern spielte sich unter römischer, westgotischer, arabischer und schließlich christlicher Herrschaft im Zentrum Europas ab. Bereits während der Haskala begann sich eine Vorstellung von iberisch-sephardischer Geschichte auszubilden, die sich ausdrücklich als Bestandteil der allgemeinen oder genauer europäischen Geschichte verstand. Besonders in Preußen und ausgehend von den Diskussionen innerhalb publizistischer Foren der Haskala nahm die Signifikanz dieser jüdischen Geschichte auf der Iberischen Halbinsel eine Bedeutung ein, die mit einer Vorbildfunktion für die Vertreter der deutsch-jüdischen Kultur versehen wurde. Diese Wirksamkeit konnte sie auch deshalb ausüben, weil diese Kultur auch nach der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal als eine westliche sephardische Diaspora in Westeuropa, z. B. in Hamburg, wahrgenommen wurde, die wiederum Bestandteil der zeitgenössischen politischen Emanzipationsgeschichte und damit für die Wahrnehmung der eigenen Rolle als Jude in Deutschland maßgeblich war. Darüber hinaus fanden sich in einer Vielzahl von autobiographischen Dokumenten Hinweise, häufig in stilisierter Form, auf die eigene sephardische Herkunft der AutorInnen, so auch im Oeuvre der Henriette Herz. 43 Es sei darauf hingewiesen, dass den sephardischen Juden nachgesagt wurde, ein ursprünglicheres und auch klareres Hebräisch als die Aschkenasim zu sprechen. Diese Diskussion spielte auch für die Haskala eine bedeutende Rolle. Inwieweit Henriette Herz von diesen Diskussionen Kenntnis hatte und diese auch auf ihren Vater bezog lässt sich nicht sagen. Vgl. hierzu grundsätzlich John Efron: German Jewry and the Allure of the Sephardic. Princeton 2016.

Eberhard Wolff

Am Rande der jüdischen ,Selbstverleugnung‘? – Marcus Herz als jüdischer Arzt zwischen religiöser Befreiung und kulturellem Verlust

Das Thema dieses Beitrags ist Marcus, der Ehemann von Henriette Herz, der bekannteste jüdische Arzt im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Es geht dabei um seine Rolle als Jude und sein Verständnis von Judentum mehrheitlich im Umfeld seines Berufes.1 Ich behandle im Folgenden nicht den Philosophen und nur teilweise den Akademiker Marcus Herz (1747–1803). Herz’ jüngere Biographen Martin L. Davies und Christoph Maria Leder haben eher solche breiteren Ansätze gewählt.2 Es geht mir auch nicht um den Arzt Marcus Herz etwa aus medizinhistorischem Blickwinkel.3 Eine erste Annäherung an ihn soll aus der Perspektive dieses Sammelbandes, derjenigen auf seine Frau Henriette geschehen. Die Darstellung der Biographie von Henriette Herz in der Geschichtswissenschaft folgt – häufig eher implizit – zum Teil einer Art mehrschichtigem ,Befreiungsnarrativ‘: der Befreiung aus der traditionellen Frauenrolle hin zur SaloniHre und Kulturgestalt; der Befreiung aus dem kulturellen Ghetto eines traditionellen Judentums hin zu einem christlichjüdischen Bildungsbürgertum, zu interreligiösem und interkulturellem Kontakt; der Befreiung aus dem religiösen Ghetto eines traditionellen Judentums sowie der Loslösung (ich sage hier bewusst nicht Befreiung) vom jüdischen Glauben durch die Konversion zum Christentum. Es dürfte gerade dieses implizite Befreiungsnarrativ sein, das zur Attraktivität von Henriette Herz in der populären und akademischen Geschichtsschreibung geführt hat – besitzt dieses Befreiungsnarrativ doch gerade heute einen hohen Identifikationswert. 1 Im Folgenden siehe allgemein: Eberhard Wolff: Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität. Göttingen 2014. Dort auch weiterführende Literatur. 2 Vgl. Martin L. Davies: Identity or History? Marcus Herz and the End of Enlightenment. Detroit 1995; Christoph Maria Leder : Die Grenzgänge des Marcus Herz. Beruf, Haltung und Identität eines jüdischen Arztes gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Münster [u. a.] 2007. 3 Vgl. Brigitte Ibing: Marcus Herz. Arzt und Weltweiser im Berlin der Aufklärung. Lebens- und Werkbeschreibung. Diss. Münster 1984.

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Henriettes Ehemann Marcus Herz kann vor dem Hintergrund dieses ,Befreiungsnarrativs‘ – vereinfacht – auf zwei ebenso entgegengesetzte wie im Grunde plausible Arten interpretiert werden. Die eine ist die synergetische. In dieser Sichtweise war Marcus Herz bis zu seinem relativ frühen Tod 1803 derjenige, mit dem sie gemeinsam diesen Weg der Befreiung gegangen ist, vor allem mit den gemeinsamen Salon-Aktivitäten. Hier steht Marcus Herz, um im Bild zu bleiben, auf der Seite der Befreiung. In der anderen Interpretationsart wird Marcus Herz als Repräsentant – oder zumindest als Außenposten – dessen gesehen, aus dem seine Frau sich befreit hat: aus einer traditionellen Frauenrolle bzw. einem kulturell oder religiös einengenden Judentum. Ein Beispiel: Eva Lezzi hat Marcus und Henriette Herz 2013 in ihrer Untersuchung über Eros und Ehe zwischen Juden und Christen (in der Literatur des 19. Jahrhunderts) eher kontrastiv als Gegensätze dargestellt: Marcus Herz als Repräsentant des herkömmlichen Judentums, nicht zuletzt durch die traditionell arrangierte Ehe und die Verlobung des Dreißigjährigen mit dem gerade dreizehnjährigen Mädchen; Henriette Herz als diejenige, die sich aus diesem Judentum löste; Marcus Herz als weit älterer und etablierter Gelehrter, der den dominanten Part in der Ehe spielte; Henriette Herz als Person, die sich dennoch aus der passiven Frauenrolle löste und eine eigene öffentliche Identität in der Gesellschaft aufbaute. Marcus Herz ist hier Teil des ,Anderen‘, des traditionell Jüdischen.4

Eckdaten aus dem Leben von Marcus Herz in Relation zu seiner Gattin Stellen wir die Biographien von Henriette und Marcus Herz zeitlich nebeneinander. Als die Arzttochter Henriette de Lemos 1764 zur Welt kommt, ist ihr künftiger Mann, ein gebürtiger Berliner Jude aus einem ärmlichen Thoraschreiber-Haushalt, gerade zu einer kaufmännischen Ausbildung in Königsberg und daran, ein Leben als weltlicher Gelehrter auf die Beine zu stellen. Er beginnt 1766 das Studium der Medizin und Philosophie und entwickelt ein enges Verhältnis zum dortigen Privatdozenten Immanuel Kant (1724–1804) sowie sein bleibendes Interesse an der Philosophie und fast mehr noch an philosophischen Aspekten der Medizin. Henriette ist sechs Jahre alt, als Marcus – zurück in Berlin – 1770 das Studium der Medizin aufnimmt, sieben, als Marcus 1771 seine erste philosophische Monographie veröffentlicht, und sie ist gerade zehn Jahre alt, als er 1774 zum Dr. med. promoviert wird, und zwar in Halle, wo dies für ihn 4 Vgl. Eva Lezzi: „Liebe ist meine Religion!“ Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2013.

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als Juden möglich war. Henriette de Lemos ist gerade dreizehn Jahre alt, als der dreißigjährige Marcus Herz, ca. 1776/77, seine ärztliche Praxis in Berlin aufbaut und mit den öffentlichen philosophischen und physikalischen Vorlesungen und Experimenten in seinem Hause beginnt. Im gleichen Alter von dreizehn Jahren wird Henriette dann mit ihm verlobt und 1779, gerade fünfzehnjährig, mit ihm verheiratet. Die junge Ehefrau Henriette Herz ist achtzehn Jahre, als ihr Mann 1782 von ihrem Vater die ärztliche Leitung des Berliner Jüdischen Krankenhauses übernimmt, sich in der Debatte um die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden engagiert, seine vierte Monographie veröffentlicht, aber auch eine lebensbedrohliche Erkrankung durchmacht. Sie ist einundzwanzig, als er im Jahre 1785 dann im Zuge einer Erholungskur in Bad Pyrmont zum Waldeckschen Hofrat und Leibarzt ernannt wird und Moses Mendelssohn (1729–1786) 1786 kurz vor dessen Tod noch behandelt. Dreiundzwanzig ist sie, als Marcus 1787 als erster deutscher Jude zum Professor für Philosophie ernannt wird, allerdings nicht von einer medizinischen Lehreinrichtung, sondern vom Preußischen König, und sie ist ebenso alt, als er sein Pamphlet gegen die frühe Beerdigung der Juden das erste Mal veröffentlicht. Sie ist achtundzwanzig, als seine Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften 1792 an seinem Judesein scheitert. Mit 38 Jahren wird sie Witwe, als Marcus Herz 1803 56jährig stirbt. Der größte Teil der in unserem Zusammenhang wichtigen Wegmarken im Leben von Marcus Herz geschahen somit zu einer Zeit, in der Henriette Herz mehr oder weniger ein Kind, eine Heranwachsende oder allenfalls eine recht junge Frau war.

Im Übergang vom Gelehrten zum Reformer Marcus Herz repräsentiert den ärztlichen Teil der Berliner Haskala auf eine zentrale Weise. Es muss an dieser Stelle nicht betont werden, dass das Haus des Ehepaars Herz bis heute als eines der Zentren der Berliner Aufklärung überhaupt gilt. Unter den aufgeklärten jüdischen Ärzten Berlins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – und sie waren praktisch alle irgendwie der Haskala verpflichtet – nimmt Marcus Herz eine interessante Übergangsstellung zwischen dem Rollenmodell des ,Gelehrten‘ und dem des ,Reformers‘ ein.5 Er entspricht gleichzeitig dem älteren Rollenmodell des weltlichen, nicht mehr religiös geprägten Gelehrten – ähnlich etwa dem Arzt und Fischforscher Marcus Elieser Bloch (1723–1799). Bei ihnen stand seit den 1740er Jahren die außerjüdische medizinische oder naturwissenschaftliche Bildung im Zentrum. Für das Gelehrtentum von Marcus Herz war die intensive Selbstbildung eine Grundvor5 Detaillierter in Wolff: Medizin (Anm. 1).

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aussetzung. Sein wissenschaftliches Studium ging weit über den Rahmen der Universität hinaus. Herzens Gattin schrieb in ihrer Autobiographie etwa, dass dessen spätere Jugend, also die in Königsberg verbrachten 1760er Jahre, „in bloß wissenschaftlichem Umgang“ verflossen seien.6 Auch mit seinen akademischen Veröffentlichungen, meist in den späten 1770er und den 1780er Jahren (etwa mit dem Versuch über den Geschmack, dem Grundriss aller medicinischen Wissenschaften oder dem Versuch über den Schwindel7), entsprach Marcus Herz dem Image des Gelehrten. Das Rollenmodell des weltlichen Gelehrten unter den ärztlichen Maskilim wurde ab den 1770er Jahren Schritt für Schritt von dem des engagiert und öffentlich auftretenden Reformers des Judentums abgelöst. Die Jüngeren in der Gelehrten-Generation, etwa der späte Leon Elias Hirschel (1741–1771) und der frühe Marcus Herz, begannen um 1770, ihr gewandeltes Verständnis von Judentum auch in Schriften, die an ein breites Publikum gerichtet waren, vorsichtig zu erwähnen und von der Möglichkeit eines besseren rechtlichen Status der Juden in der Gesellschaft zu sprechen. 1770 dankte Marcus Herz seinem damaligen geistigen Idol Kant noch privatim, dieser habe ihn aus dem „viehischen Leben“ am „Wagen der Vorurtheile“ befreit, an den so viele seiner Mitbrüder gefesselt seien.8 Im Folgejahr veröffentlichte er eine erste Schrift gegen antijüdische Vorurteile.9 Herz war damals in seinen frühen 20ern und stand am Anfang seiner Laufbahn. Zehn Jahre später, 1781, erschien dann der erste Teil von Christian Wilhelm Dohms (1751–1820) Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Marcus Herz war hier am Rande bereits an der Debatte beteiligt. Er übersetzte die apologetische Schrift Rettung der Juden des Amsterdamer Rabbiners Manasseh Ben Israel (1604–1657) ins Deutsche. Moses Mendelssohn versah sie mit einem eigenen Vorwort und veröffentlichte beides.10 Dies war eine direkte Antwort auf Dohm, aber auch die erste Veröffentlichung, in der Mendelssohn einem deutschsprachigen Publikum seine neuen Auffassungen des Judentums darlegte. Gegen Ende der 1780er Jahre flammte das schwelende Thema der ,Reform‘ 6 Davies: Identity (Anm. 2), S. 161. 7 Marcus Herz: Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Leipzig 1776. Marcus Herz: Grundriss aller medicinischen Wissenschaften. Berlin 1782. Marcus Herz: Versuch über den Schwindel. Berlin 1786. 8 Marcus Herz an Immanuel Kant am 19. März 1770. Immanuel Kant: Kants Briefwechsel. Bd. 1 (1747–1788). Berlin u. Leipzig 1922 (= Kants gesammelte Schriften Bd. 10), S. 99f. 9 Marcus Herz: Freymüthiges Kaffeegespräch zwoer jüdischer Zuschauerinnen über den Juden Pinkus, oder über den Geschmack eines gewissen Parterrs. Berlin 1771. 10 Zu Herz’ Übersetzung siehe Ibing: Herz (Anm. 3), S. 66. Wolfram Kaiser u. Arina Völker : Judaica medica des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts in den Beständen des Halleschen Universitätsarchivs. Halle (Saale) 1979, S. 36.

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unter den Berliner jüdischen Ärzten dann richtig auf. Den Wendepunkt stellt Marcus Herz’ radikale publizistische Kritik an der religiösen Tradition der frühen Beerdigung unter den Juden von 1787 bzw. 1788 dar, die weniger öffentlich andernorts bereits am Schwelen war.

Vernunft vor Tradition – Herz’ radikale Umkehr der legitimatorischen Hierarchie in der Beerdigungs-Debatte Es würde zu weit gehen, die von Herz zwar nicht begonnene, aber als Lawine losgetretene Debatte um die frühe Beerdigung unter den Juden hier auch nur skizzenhaft darzustellen. Dazu wurde bereits ausführlich publiziert.11 Dem jüdischen Religionsgesetz – genauer : seiner zeitgenössischen Auslegung – gemäß mussten verstorbene Juden in der Regel noch an ihrem Sterbetag beerdigt werden. Bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts galt die frühe Beerdigung nicht allein als unhinterfragtes halachisches Gesetz, sie war auch ein wie selbstverständlich tradierter jüdischer Brauch. Diese Praktik kollidierte im späten 18. Jahrhundert dann mit der in weiten Teilen des Bürgertums verbreiteten und aufklärerisch begründeten Scheintod-Panik (bzw. Paranoia): der Angst, bereits vor dem wirklichen Ableben und damit lebendig begraben zu werden. 1788 gab Marcus Herz eine deutsche und erweiterte Auflage seiner Schrift Über die frühe Beerdigung der Juden. An die Herausgeber des hebräischen Sammlers heraus.12 Im Jahr zuvor hatte er den Text in der Haskala-Zeitschrift Ha Meassef (Der Sammler)13 veröffentlicht. Dies löste eine heiße öffentliche Debatte und mittelfristig weitere erbitterte Reformstreitigkeiten in jüdischen Gemeinden um die angemessene Bestattungszeit aus. Trotz aller Streitereien zeigt eine genaue Analyse dieser Debatte, dass die beteiligten jüdischen Ärzte im Kern nach einer harmonischen Lösung suchten. Die Autoren entwickelten vielfältige Ideen einer religionsverträglichen Verweltlichung des Begräbniswesens und Ansätze eines kulturellen Verständnisses des Judentums, die andernorts genauer ausgeführt werden.14 Vor diesem Hintergrund der innerjüdischen Lösungsvorschläge wird aber die Kompromisslosigkeit dieser Argumentation von Marcus Herz deutlich. Herz’ Abhandlung war nämlich keine Auseinandersetzung, sondern ein Pamphlet. Neu im Rahmen der medizinischen Reformdebatte war in der Schrift von 11 Siehe den Literaturüberblick in Wolff: Medizin (Anm. 1), S. 167. 12 Marcus Herz: Über die frühe Beerdigung der Juden. An die Herausgeber des hebräischen Sammlers. 2. Aufl. Berlin 1788. 13 Ha-Meassef (Der Sammler). Erschienen in Königsberg und Berlin 1783–1811. 14 Wolff: Medizin (Anm. 1).

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Herz zunächst die absolute Reformforderung an die Juden und der polemische Ton, mit dem Herz offen gegen das etablierte jüdische Beisetzungsritual anschrieb. Radikal ist Herz in seinem aggressiv-emotionalen Stil. Mit Rückgriff auf die aufklärerischen Scheintod-Schriften malt er das befürchtete Wiedererwachen im Grabe dramatisierend aus: Den Tod des Verbrechers öffentlich auf dem Richtplatz leiden ist Kleinigkeit, ist Labsal gegen das Erwachen und Ersticken im Grabe! […] Die tödtliche Beängstigung, die erstickende Zusammenschnürung der Brust; das Strömen des Blutes nach dem Kopfe; das convulsivische Zittern des ganzen Körpers, die vergebliche Anstrengung der Muskeln, um die drückende Last abzuwälzen; der Geruch der benachbarten Leichen! Lässt sich etwas Schauderhafteres denken?15

Eine seiner Schauererzählungen von lebendig Begrabenen zieht sich weiter hinten im Text gleich über mehrere Seiten hin. Ein Auszug: „[…] seine Brust hebt sich röchelnd, sein Gesicht glüht; das Blut entstürzt ihm durch alle Öffnungen; die Angst überwältigt ihn; er reißt sich die Haare aus, zerfetzt seinen Leib; er wälzt sich in Blut und Unrath.“16 Aggressiv argumentiert Herz auch durch die Art, wie er gegen das traditionelle, talmudisch orientierte Judentum polemisiert. Jüdische Religionslehrer würden die frühe Beerdigung mit „Starrsinn und Eigendünkel […] durch die spitzfündigsten Sophistereyen“ unterstützen, und sich dabei „aus Liebe zu einem verjährten Vorurtheil, auf missverstandene Stellen im Talmud und deren erdrechselte Erklärungen“ berufen.17 Dies wurde durchaus als gezielte Kriegserklärung wahrgenommen. Der Hamburger jüdische Arztkollege Hirsch Wolf (1738–1814) – seinerseits ein aufklärerisch engagierter jüdischer Arzt – wundert sich bereits auf der ersten Seite seiner Replik auf Herzens Pamphlet, dass der „große Gelehrte“ Marcus Herz „so sehr unsere Nation herunter setze, wie er die ganze Nation für Dummköpfe und Unwissende erklärt […].“18 Und er schließt seine Replik: O Du unsterblicher Mendels-Sohn! Was würdest Du sagen, wenn Du sähest, dass Deine Nation, für welche Du Dich fast aufgeopfert hast, so sehr heruntergesetzt würde! Was würdest Du sagen, wenn Du sähest, wie Männer, die du mit der größten Achtung begegnet hast, so sehr besudelt würden.19

Speziell sieht Wolf es als eine Beleidigung der Rabbiner an, wenn Herz die frühe Beerdigung eine „armselige Vätersitte“ nennt.20 15 16 17 18 19 20

Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 28–30. Ebd., S. 30–33, hier S. 33. Ebd., S. 41 u. S. 15. H. Wolff (sic!): Zweytes Schreiben über die Zeichen des Todes. Altona 1788, S. 3. Ebd., S. 16. Ebd.

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Radikal ist Herzens Argumentation aber auch im Inhaltlichen: Er proklamierte mit seiner Schrift ein nicht graduell, sondern grundsätzlich neues Verständnis des Judentums, genauer : In einem Dreischritt fordert er ein bedingungslos verändertes Verständnis der jüdischen Religiosität. Herz löst erstens die Diskussion um die frühe Beerdigung viel weiter als andere ihrer Kritiker aus dem halachischen Kontext heraus.21 Die ersten beiden Kapitel seiner 60-seitigen Schrift greifen medizinische Themen auf, nämlich die Todesfeststellung und die medizinische Kompetenz der hiermit betrauten Juden. Erst im dritten Kapitel sucht Herz nach möglichen „religiösen, moralischen oder politischen Gründen“, die frühe Beerdigung zu praktizieren, die er allerdings nicht finden kann.22 Für Herz dürfte die allgemeine Einschätzung von Daniel Krochmalnik besonders zutreffen, dass sich Maskilim des halachischen Diskurses teils nur noch bedienten, um ihre orthodoxen Gegner zu bekämpfen.23 Im letzten Teil plädiert Herz abschließend für eine Beerdigung drei Tage nach der Todesfeststellung.24 Zuvor sei der Scheintod möglich und die Gefahr des Lebendig-Begraben-Werdens gegeben.25 Zum zweiten kehrt Herz die Hierarchie zwischen Weltlichem und Religiösem um. Medizinische Argumente legitimieren sich für Herz aus sich selbst. Sie müssen für ihn nicht mehr, wie bei anderen Autoren, darunter auch Moses Mendelssohn, durch religiöse Argumente, sprich: halachisch, abgesichert werden. Zum anderen haben medizinische Argumente eine höhere Bedeutung als religiöse Überlegungen. In dem offensichtlichen Konfliktfall zwischen zeitgenössischen medizinischen Anschauungen und religiöser Praxis, wie er sich im Beerdigungsfristenstreit spiegelt, gibt es für Herz keine andere mögliche Wahl als die des Ersteren. So ist für ihn auch die überlieferte jüdische und biblischtalmudisch legitimierte Todesfeststellung mittels der Atemprobe (etwa einer vor die Nase gehaltenen Flaumfeder oder Kerze) völlig unzureichend, da es ja auch Menschen mit verstopften Nasenlöchern oder zu wenig Kraft zum Atmen gebe.26 Für Herz muss die Religion vor den weltlichen Erfordernissen zurückwei21 Andreas Gotzmann: Jüdisches Recht im kulturellen Prozess. Die Wahrnehmung der Halacha im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1997, S. 115. 22 Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 22ff. 23 Vgl. Daniel Krochmalnik: Scheintod und Emanzipation. Der Beerdigungsstreit in seinem historischen Kontext. In: Trumah. Zeitschrift der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg 6 (1997), S. 107–149, hier S. 142. Zum strategischen Einsatz religiöser Argumente siehe weitergehend Wolff: Medizin (Anm. 1), S. 181f. 24 Herz geht dabei von den üblichen Prämissen der Medizin seiner Zeit aus. Der Übergang vom Leben in den Tod verlaufe graduell. Trotz Abwesenheit der Bewegungs- und Empfindungszeichen könne die innere Lebenskraft eines Menschen noch unverletzt sein. Erst die Verwesung sei ein eindeutiger Beweis für den Tod eines Menschen. Vgl. Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 17. 25 Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 7–12. 26 Ebd., S. 19, S. 21 u. S. 37.

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chen. Wenn die Halacha mit ihnen nicht in Einklang gebracht werden konnte, stellte er sie in Frage. Was dem gesunden Menschenverstand und der Medizin widerspreche, könne einfach nicht als „Grundpfeiler der ganzen Religion“ angesehen werden.27 Wo ein solcher Widerspruch auftritt, musste Herz entweder den Zuständigkeitsbereich der Religion eingrenzen oder die Religion jeweils so verstehen, dass sie nicht mehr im Widerspruch zu weltlichen Erfordernissen stand. Das Erstere stellt Herz mit der für ihn zentralen Passage fest: „Die Frage ist nicht, ob wir einen Todten früh begraben sollen; sondern ob der jenige, den wir früh begraben, auch wirklich todt ist.“28 Die Todesdefinition ist demnach eine Angelegenheit, die einzig und allein in medizinische Hände gehöre. Bis zur unbezweifelbaren Todesfeststellung habe die Religion keinen Anspruch auf ihre Totengebräuche, denn: Der „zweifelhaft Todte“ könne nicht als halachisch Toter angesehen werden und sei deshalb weder eine rituelle Verunreinigung noch eine Geringschätzung Gottes. Er „ist unser Bruder, der vielleicht wieder auflebt, und den wir durch zu zeitiges Begraben vielleicht vorsätzlich ermorden!“29 Für Herz muss die jüdische Religion drittens schließlich mit den zeitgenössischen weltlichen Anforderungen kompatibel sein – bzw. gemacht werden: Man wird mich nie bereden zu glauben, dass jene göttlichen Lehrer der Religion, welche die Liebe des Nächsten als das heiligste und wichtigste Gesetz einschärfen, welche überall auf die Erhaltung eines Menschenlebens so großen Werth setzen, den erwähnten Zweifel so entscheiden werden: dass wir uns lieber der Gefahr aussetzen sollen, einen vorsätzlichen Mord zu begehen, als der Gefahr, einen wirklich Todten über Nacht unbegraben zu lassen.30

Herz verlegt damit sozusagen das Gravitationszentrum der jüdischen Religiosität von der traditionellen Interpretation der Halacha auf aufklärerisch proklamierte Werte. Explizit distanziert er sich von der Tradition als überkommenem religiösen Wert: „Wozu denn immer die übergroße Anhänglichkeit an alte Sitte, die mit unserer Glückseligkeit nicht in der mindesten Verbindung stehet.“31 Alle drei Argumentationsformen sind für die Medizinische Haskala durchaus typisch. Das Besondere an Herz ist, dass seine Argumentation einem reinen Konfrontationskurs entspricht und keine der vermittelnden Elemente besitzt, die seine Kollegen in der Debatte verwenden. Zumindest seine argumentative Strategie verfolgt den radikalen Bruch nicht nur mit dem talmudischen Judentum, sondern grundsätzlich mit jedem Judentum, das sich unmittelbar aus der eigenen Tradition legitimiert. 27 28 29 30 31

Ebd., S. 41, ähnlich S. 15. Ebd., S. 39, auch Krochmalnik: Scheintod (Anm. 23), S. 141. Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 26. Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 26. Ebd., S. 53.

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Marcus Herz und das Judentum Wo lässt sich Herz angesichts dessen in der Jüdischen (medizinischen) Aufklärung verorten? War Marcus Herz ein ,Aussteiger‘ aus dem Judentum? Ersetzten die freitäglichen32 Abendgesellschaften ,chez Herz‘ den Schabbat in einem grundsätzlichen Sinn? War er mit seiner unversöhnlichen Kritik der Tradition auf dem Weg seiner Frau, den sie vierzehn Jahre nach seinem Tod und nach dem Tod ihrer jüdischen Mutter zu Ende führte, auf dem Weg aus dem Judentum heraus, hin zu Konversion und Taufe? Obwohl wenig über Herzens persönliche religiöse Bindungen bekannt ist, bezweifele ich dies – im Einklang mit anderen Herz-Biographen. Es gibt hierfür einige Indizien. Herz folgte bei seiner Heirat einem sehr traditionellen jüdischen Weg. Das Jüdische Krankenhaus führte er anscheinend streng nach jüdischen Gesetzen.33 Auf dem Höhepunkt seiner lebensbedrohlichen Krankheit Anfang der 1780er Jahre wurde er in Erwartung seines Todes „mit allen Sterbe-Ceremonien seiner Glaubensgenossen“ versehen.34 Und schließlich nahm er auch die offensichtlichen akademischen Karrierenachteile des Judeseins in Kauf. Herz dürfte sich also bewusst gegen eine Konversion entschieden haben. War Marcus Herz also ein ,Grenzgänger‘? Herz’ Biograph Christoph Maria Leder interpretiert das Selbstverständnis von Herz als „Grenzgänge“ zwischen „fließenden“ Identitäten, etwa religiösen, medizinischen, politischen bzw. akademischen.35 Der Biograph Martin Davies versteht Herz als einen Mittler, einen vermittelnden Reformer zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Gesellschaft.36 Die eingehendere Beschäftigung mit den Quellen lässt mich zunehmend an dieser Interpretation zweifeln. Ein Vermittler im Sinne eines Mediators hat die zentrale Aufgabe, auf beiden Seiten eines Konfliktes Verständnis zu schaffen und eine für alle Beteiligten tragbare Lösung zu finden. Vermittler waren eher andere Maskilim, die versuchten, die Halacha vorsichtig und schrittweise so weit umzuinterpretieren, dass möglichst viele observante Juden diesem Weg noch folgen

32 Vgl. Hannah Lotte Lund: Der Berliner „Jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin 2012, S. 174 u. S. 176. 33 Vgl. Ibing: Herz (Anm. 3), S. 16. 34 Biographie des Herrn Marcus Herz. In: Sulamith 3. Bd. II, 2. Heft (1811), S. 77–97, hier S. 86. 35 Leder : Grenzgänge (Anm. 2), S. 294f. Allerdings macht Leder das analytische Modell des Grenzgangs nicht weiter nutzbar, so dass hier das Ergebnis etwas unbefriedigend bleibt. Die hier zitierte Zusammenfassung beschränkt sich deshalb auch auf gut eine Druckseite. Die Arbeit findet in diesem Sinne ihren Wert vor allem als detailreiche „mikrohistorische Berufsalltagsstudie“, als die sie der Autor an einer Stelle auch selbst bezeichnet. Ebd., S. 42. 36 Wörtlich, sagt Davies, er hätte eine „mediating position between the Jewish community and the German society“ eingenommen. Vgl. Davies: Identity (Anm. 2), S. 151.

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konnten.37 Herz stattdessen hatte eine feste Position, von der man sich entweder überzeugen lassen sollte, oder man gehörte weiter zu seinen Gegnern. Er war somit allenfalls ein Vermittler im Sinne eines Mediums, das Ideen verbreitet. Bezeichnend hierfür ist die zeitgenössische Beschreibung seines Berliner jüdischen Arztkollegen Wolf Davidson (1772–1800): Die physikalischen Versuche, die er […] anstellte, waren vielen neu und auffallend, und gaben ihnen Anlass, über die Naturerscheinungen nachzudenken; ich kenne manchen orthodoxen Juden, der, als er aus Herz Physik kam, die Lehre von den Wundern zu bezweifeln anfing.38

John Efron schließlich fasst diese Spannung zwischen radikaler Reform und offenbar bewusstem Judebleiben in die Worte: Herz became a worldly, cultivated man, increasingly detached from his observant Jewish roots […]. Yet Herz’s abandonment of ritual was accompanied by neither a departure from the Jewish community nor a neglect of pressing issues of Jewish concern.39

Wenn Efron diese Spannung damit erklärt, Herz sei eben „the quintessential modern, secular Jew“, dann ist dies plausibel, aber noch nicht spezifisch genug, weil sie für viele Maskilim zutrifft, die einen anderen, weniger radikalen Weg wählten. Herz, so meine Schlussfolgerung, versuchte dieses moderne Judentum nicht durch einen Umbau, eine schrittweise und vorsichtige Uminterpretation zu erreichen. Es ging Herz offensichtlich um einen Neubau des Jüdischseins, eine grundsätzliche Neuinterpretation des Jüdischen nach einem grundsätzlichen Bruch mit einem Religionsverständnis, das sich aus der Tradition speist. Auf der konzeptuellen Ebene vertrat er die klassische moderne Vorstellung einer Religion, deren Aufgabe es ist, den zeitgenössischen Werten im Umfeld der Aufklärung zuzuarbeiten, namentlich der Vernunft, dem gesunden Menschenverstand, der Philanthropie (über eine generalisierte Aufgabe des Lebenserhalts40), Nächstenliebe und Bruderliebe41 sowie der Sittlichkeit42. Die genannten Stichworte sind aus verschiedensten beiläufigen Bemerkungen zusammenge37 Beispiele zum Beerdigungsthema und anderen Reformfragen siehe Wolff: Medizin (Anm. 1), passim. 38 Zitiert nach Davies: Identity (Anm. 2), S. 294. Zur Mittlerfunktion des jüdischen Krankenhauses, das er leitete, siehe ebd., S. 90–92. 39 John M. Efron: Medicine and the German Jews. A History. New Haven 2001, S. 94. 40 An anderer Stelle bezieht er sich auf das „Pikkuach Nefesch“. Bezeichnend auch das Zitat: „O der (sic!) Seligkeitswächter, die in der Erhaltung eines Menschenlebens so wenig Seligkeit finden.“ Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 27. 41 Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 22, nennt das Judentum „die Religion, die auf Bruderliebe und Leben das größte Gewicht legt“. 42 Die frühe Beerdigung ist für ihn ein „unsittliches“ Verfahren. Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 23.

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tragen, denn Herz hat dieses Religionsverständnis eher gelebt als abstrakt ausformuliert. Auf der praktischen Ebene vertrat er eine radikal konfessionalisierte, d. h. auf bestimmte Lebensbereiche eingeschränkte Religion. Religion wurde dabei aus vielen Lebensbereichen ausgegrenzt. Das plastischste Beispiel: In der Medizin hat Religiöses für ihn nichts zu suchen. Dies machte Herz nicht nur im Fall der frühen Beerdigung deutlich, sondern auch 1801, als er, zwei Jahre vor seinem frühen Tod, gegen die damals frisch eingeführte Pockenschutzimpfung mit Kuhpockenmaterie agitierte.43 In seiner einschlägigen Schrift nahm Herz keinerlei Bezug auf jüdisch-religiöse Argumente. Nach Ruderman kritisierte Herz die Kuhpockenimpfung stattdessen als philosophisch und sittlich unangemessen. Ruderman führt – in Anlehnung an Davies – Herzens Impfablehnung auf sein metaphysisches, der bloßen Empirie widersprechendes idealistisches Wissenschaftsverständnis zurück, das die Einimpfung tierischer Materie in den menschlichen Körper verbiete: „Herz’ opposition to vaccination had nothing to do with his feelings about the Jewish community and rabbinic authority.“44 Münch und Lammel verweisen dagegen auf die andere, allerdings ebenso wenig religiöse Kritik der Pockenschutzimpfung durch Herz als empirisch nicht ausreichend nachgewiesenen Versuch.45 Ansichten wie die nicht weiter belegte Behauptung von Wolfram Kaiser und Irina Völker, Herzens Impfkritik sei auf dessen „jüdische Grundhaltung“ zurückführen, darin einen Eingriff in das göttliche Walten zu sehen,46 können so nur als Fehlannahme oder Spekulation bezeichnet werden. Alle Quellen deuten auf Herzens dezidierte Vorstellung einer größtmöglichen Trennung von Medizin und Religion und im Konfliktfall eine Unterordnung religiöser Praxis unter weltlich-medizinische Erfordernisse hin. Der Hauptort einer konfessionalisierten Religion ist auch für Herz das Private bzw. ein begrenzter Bereich des Privatlebens. Und selbst hier geht es nicht mehr 43 Marcus Herz: D. Marcus Herz an den D. Dohmeyer, Leibarzt des Prinzen August von England, über die Brutalimpfung und deren Vergleichung mit der humanen. Zweiter, verbesserter Abdruck. Berlin 1801. Ursprünglich: Marcus Herz: D. Marcus Herz an den D. Dohmeyer, Leibarzt des Prinzen August von England, über die Brutalimpfung und deren Vergleichung mit der humanen. In: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 12 (1801), S. 1–109. 44 David B. Ruderman: Some Responses to Smallpox Prevention in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries. A New Perspective on the Modernization of European Jewry. In: Aleph. Historical Studies in Science and Judaism 2 (2002), S. 111–144, Zitat S. 143. Ähnlich neuerdings auch: David B. Ruderman: A Best-Selling Hebrew Book of the Modern Era. The Book of the Covenant of Pinhas Hurwitz and its Remarkable Legacy. Seattle 2014, S. 54–56. 45 Ragnhild Münch u. Hans-Uwe Lammel: Versuch und Experiment bei Marcus Herz. In: Medizingeschichte und Gesellschaftskritik. Festschrift für Gerhard Baader. Hrsg. von Michael Hubenstorf. Husum 1997, S. 101–122. 46 Kaiser u. Völker : Judaica (Anm. 10), S. 36.

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um praktische Verhaltensregeln, sondern um die jeweilige geistige Haltung (,Sittlichkeit‘). Marcus Herz hat dies bereits zeitgenössisch ganz explizit und öffentlich festgehalten, und zwar in der Beschreibung47 seiner eigenen, lebensbedrohlichen Krankheit im Spätjahr 1782. Als Herz damals den „baldigen Todt fühlte“, bestellte er eigenaktiv die „Aeltesten der Gesellschaft der Krankenbesucher“ an sein Krankenbett, um ihn (jüdisch-rituell) auf den Tod vorzubereiten.48 Dies ist insofern von großer Bedeutung, als Herz hier deutlich zeigt, wie er im Angesicht des Todes (aber auch erst dann) grundsätzlich einen traditionellen, jüdisch-rituellen Umgang wünscht. Gleichzeitig aber muss er sich von den selbst gerufenen Krankenbesuchern wieder distanzieren, und zwar mit der ironischen Klammerbemerkung, dass diese Gesellschaft „ihre Einrichtung und Gesetze vom Throne der Menschheit unmittelbar empfangen zu haben scheint“49. Schließlich sorgt er dafür, beziehungsweise rechtfertigt sich, dass deren Vorgehen nicht im Widerspruch, sondern im Einklang mit seinen aufklärerischen Vorstellungen stand. Er betont, dass die Gesellschaft ihre Aufgaben innerhalb von fünf Minuten und „auf die sanfteste und menschenfreundlichste Weise“ erfüllt habe. Zudem bat er sie, dass sie „in meinem letzten Augenblicke nicht so viel Weinens und Schreyens an meinem Bette, wie dies gewo¨ hnlich beim Sterbenden geschieht, machen lassen mo¨ chten“.50 Die Schädlichkeit des lauten Klagens war eine gängige aufklärerischmedizinische Einwendung gegen jüdische Sterbepraktiken. Das Jüdisch-Rituelle, und damit der Grund, warum Herz offenbar in voller Überzeugung im Judentum verblieb, hat demnach einen festen Ort im Leben und in der Vorstellungswelt von Marcus Herz. Dieser Ort ist jedoch sehr eng begrenzt. Es ist reduziert auf eine sehr genau definierte Situation, auf einen biografischen Kern, eine Extremsituation. Jenseits dieses Kerns wird das traditionell Rituelle aus allen möglichen Konfliktbereichen vertrieben, vor allem durch weltlich-medizinisches Denken. 47 Marcus Herz: Psychologische Beschreibung seiner eigenen Krankheit von Herrn D. Markus Herz an Herrn D. J[oe¨ l] in Königsberg. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 1 (1783), 2. St., S. 44–73. Auch in: Karl Philipp Moritz: Die Schriften in dreißig Ba¨ nden. Bd. 1. Hrsg. von Petra Nettelback u. Uwe Nettelback. No¨ rdlingen 1986. Vielen Dank an Prof. Stefan Goldmann, Potsdam, für den Hinweis hierauf. Siehe von ihm: Stefan Goldmann: Erfahrungsseelenkunde und Haskala. Jüdische Autoren in dem psychologischen Magazin von Karl Philipp Moritz. In: Karl Philipp Moritz in Berlin 1789–1793. Hrsg. von Ute Tintemann u. Christof Wingertszahn. Hannover 2005, S. 293–315. Stefan Goldmann: Kasus – Krankengeschichte – Novelle. In: „Fakta, und kein moralisches Geschwätz.“ Die Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793). Hrsg. von Sheila Dickson, Stefan Goldmann u. Christof Wingertszahn. Göttingen 2011, S. 33–64. 48 Die Krankenbesucher „diktirten“ ihm danach „einige der gewöhnlichsten Beichtformeln“. Herz: Beschreibung (Anm. 47), S. 68. 49 Ebd. 50 Ebd.

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Der Beitrag von Marcus Herz zur (medizinischen) Haskala lag, so mein abschließender Eindruck, mehr darin, am Abriss des alten jüdischen Hauses zu arbeiten als an der Konzeption des neuen Hauses. Er war – die populärkulturelle Anleihe sei hier gestattet – eine Art ,Ghost Buster‘ der Haskala, seien diese Geister für ihn nun antijüdischer oder talmudischer Natur. Dabei hat er auch jüdische ,Geister‘ zu ,vertreiben‘ versucht, mit denen sich andere Maskilim bewusst auseinandergesetzt haben, um mit ihnen gemeinsam im Jüdischen Haus leben zu können. In seiner Beerdigungsschrift bezeichnet er die Juden indirekt, aber pauschal als ungesittet, unaufgeklärt und ungebildet im Vergleich zur christlichen Mehrheitsgesellschaft, die er genau so pauschal als gesittet und aufgeklärt darstellt. So solle die späte Beerdigung bei den Juden „nach dem Beispiel unserer gesitteten und aufgeklärten Nebenvölker“ eingeführt werden.51 Über ein reformfeindliches Gutachten des Rabbiners Ezechiel in Prag ereifert sich Herz: „Welch ein Licht musste die Darstellung eines solchen Vernunftgebrauchs in Gegenwart einer so erleuchteten Gesellschaft auf die Nation [der Juden, E.W.] werfen? […] Wie ungeheuer musste dadurch dem großen Kaiser die Schwierigkeit erscheinen, sein großes göttliches Werk, seine jüdischen Unterthanen zu vollkommen gebildeten Bürgern umzuschaffen, zu Stande zu bringen?“52 Wenn sein Kollege Hirsch Wolf meinte, dass Herz „unsere Nation herunter setze, wie er die ganze Nation für Dummköpfe und Unwissende erklärt“53, dann könnten wir dies heute als eine Form ,partieller jüdischer Selbstverleugnung‘ bezeichnen. Auch hier steht Marcus Herz nicht alleine. Er repräsentiert damit aber den radikalen Teil der Haskala, die ihr Judentum zwar nicht ganz abwarfen, aber zur relativ beliebigen Disposition stellten. In dieser Hinsicht einer partiellen jüdischen Selbstverleugnung kommt die Biographie von Marcus Herz der Biographie seiner Gattin mit dem ,Befreiungsnarrativ‘ näher, als es bislang in der Forschung wahrgenommen wurde. Marcus Herz löste sich weiter und grundsätzlicher vom Judentum ab, als seine nicht stattgefundene Konversion zunächst glauben macht. Und aus dieser Sicht könnte neben das Befreiungsnarrativ auch ein gewisses ,Verlustnarrativ‘ gesetzt werden; nicht im Sinne eines Verlustes an religiöser Verankerung, sondern im Sinne eines Verlustes eines bewussten Stehens zur eigenen kulturellen Herkunft, um den missverständlichen Begriff der Tradition zu umgehen. Damit würde Marcus Herz als Identifikationsfigur für ein gelungenes modernes Judentum in Berlin, Preußen oder Deutschland aber auch einige Risse bekommen. Wie weit dies auch für seine Frau gelten könnte, wäre eine Frage an die Forschung über Henriette Herz. 51 Herz: Beerdigung (Anm. 12), S. 7. 52 Ebd., S. 40. 53 Ebd., S. 3.

Deutsch-jüdische und christlich-jüdische Kommunikationsräume in Berlin und deren Ausstrahlung nach Europa

Deborah Hertz

Henriette Herz as Jew, Henriette Herz as Christian – Relationships, Conversion, Antisemitism

Uni Ohne Arndt? For the last several years, students at the Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald have campaigned, so far without success, to remove the name of Arndt from the title of their institution, calling their cause Uni ohne Arndt. Ernst Moritz Arndt (1769–1860) was a leading nationalist from the early nineteenth century, and in 1933 Hermann Göring (1893–1946) named the university for one of its most renowned graduates. Arndt was born into modest circumstances on the island of Rügen, which had long belonged to Sweden, but became a Prussian state after 1815. He received his PhD from the nearby University of Greifswald, where he later taught History. In the years leading up to the War of Liberation of 1813, Arndt worked as a high-level policy official, all the while publishing influential books, pamphlets, poetry and songs. After the Vienna Congress in 1815, he was hounded by Prince Metternich’s police, who considered him a dangerous radical. Decades later, he was still playing an active role in politics, as a leading figure in the Revolution of 1848. As the student campaign to remove his name suggests, Arndt’s legacy is disputed. While he can well be celebrated for his service to the nationalist cause, contemporary students are critical of his harsh exclusion of Jews from the imagined German body politic.1 In this dramatic era, Jewish emancipation became controversial, and we see both progress toward and also opposition to Jewish equality. Arndt’s vision was that a future German nation state would unify the scattered ‘Volk’. He was emphatic that Jews did not and could never belong to the German people. At times he softened his stance, allowing that Jews already living in the German lands could remain, but only if they converted. But he was adamant that no 1 For background information on the student struggle, see Benedikt Erenz: Die Uni und der Hassprediger. In: Die Zeit 32 (2009), and Christian Staas: Einheit durch Reinheit. In: Zeit: Geschichte, Epochen, Menschen, Ideen 3 (2010), p. 38–42. The web site of the campaign is http://uniohnearndt.de [10. 09. 2016].

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eastern Jews be allowed to move to the Germanic territories. His harsh views were a severe blow to the Jews of that time, and to posterity as well. Explaining why Arndt and several other prominent nationalists expressed such hostility to Jewish emancipation is more difficult than it might seem at first. Alas, our standard narrative of the era is too scattered and vague to apply at close range. After over a century of research, we still cannot elegantly explain just why it was that hatred of Jews became so pervasive across the political spectrum in this setting. In this essay I look away from interpretive history on the grand scale. Instead, I focus on how Arndt was seen in his own time, especially by one of his friends, the celebrated salonniHre Henriette Herz. Here we explore how he, an outspoken antisemite, and she, born to a leading Jewish family, could have ever have become acquaintances, let alone personal friends. As I have written this essay, I have imagined Herz gazing out of a classroom window in one of the buildings on the University of Greifswald campus, looking down at a student demonstration demanding a new name for their institution. How would she understand their fury at Arndt, when she was apparently proud to visit him and count him as a friend? To whom does his legacy belong, to his once-Jewish friend, or to those seeking to liberate their university from an antisemitic nationalist? Arndt and Herz shared several friends in common, who drew them together. They were both close with the influential theology professor and pastor Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Friedrich’s half-sister Nanna (1786–1869) was a friend of Henriette’s, and in 1817 Nanna became Ernst-Moritz’s second wife. Another way that Herz and Arndt were linked was through Charlotte von Kathen (1777–1850), Arndt’s longtime friend from Rügen. In 1808, when Herz was an impoverished widow, von Kathen was the rare Christian noblewoman willing to employ Herz as a governess, although she was still Jewish. And in the summer of 1819, Ernst Moritz and Nanna invited Henriette to be their houseguest at their new home in Bonn, where he had just been appointed to a professorship.2 Indeed, Henriette Herz was altogether shocked when the police showed up for a house search during her visit, on the lookout for books and pamphlets hostile to the Metternich regime. In the pages which follow I use the obscure hints we find in the published historical record to reconstruct the mindset of both Henriette Herz and Ernst Moritz Arndt that fall of 1819, and what topics they might have discussed. I 2 Herz later commented on this visit to Arndt: “Arndt is a man for whom I have the greatest respect….I never succeeded in becoming so intimate with him…even after a long stay in his house.” This cite is from J. Fürst (ed.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin: Hertz, 1858, at p. 246, as cited in The Life and Adventures of Ernst Moritz Arndt, Singer of the German Fatherland (Boston 1879), p. 360. The Fürst edition of the memoir is marred by the lack of Herz’s own text for her adult years.

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question the notion that she was “blind” to the antisemitism of contemporary nationalists.3 She might have been aware of Arndt’s views, yet have been careful not to discuss those topics with him in mixed social settings. Indeed, perhaps both were careful to avoid conversation about several notable antisemitic incidents possibly inspired by his writings and those of his nationalist friends. Exploring their relationship deepens our understanding of cross-religious friendships in this remarkable setting. We need to know whether there was more self-hatred in her behavior than has been previously seen, or rather more tolerance on his side than we could assume from reading his nationalist writings. To understand how each of them was willing to befriend the other, we need to understand both Herz’s religious identity and Arndt’s hostility to Jews. Henriette Herz, as an authentic “daughter of the Jewish Enlightenment” knew in her bones all the antinomies which we see from afar across the centuries. The enlightenment versus romanticism, universalism versus nationalism, and Judaism versus Christianity were all conflicts which she experienced from the inside. Precisely because she was so well-informed about the debates raging in Berlin at the time, her life choices help us understand just what was at stake for her and her fellow Jews at this landmark moment in the German past. The key dimension of Herz’s religious identity in 1819 was that by then she was no longer formally Jewish. Two years before, in June of 1817, in the small town of Zossen, she had been baptized as a Lutheran. Her action that day was both highly personal and illustrative of a trend. The high conversion rates and the wider family crisis among Berlin’s Jewish society provoked intense conversation about the proper border between the two religions.4 In their dramatic lives, she and her Jewish and once-Jewish friends anticipated the overall trajectory of German Jewry. Because of their celebrity, they legitimized conversion as a way out of the burden of being Jewish. It was a sign of the times, an ominous signal for the Jewish future, that Henriette Herz, with her extraordinary heritage, was not attracted to the project of modernizing Judaism. That she would be proud of her association with a known antisemite might be seen by some as a disturbing metaphor for JewishGerman relations across the modern centuries. But let us now turn to an exploration of Herz’s relationships, both with her husband Marcus and two of her 3 Martin Davies: Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit 1995, p. 157. A more recent volume is Christoph Maria Leder : Die Grenzgänge des Marcus Herz. Münster 2007. 4 For wonderfully rich background and historical context, see Todd Endelman: Leaving the Jewish Fold. Conversion and Radical Assimilation in Modern Jewish History. Princeton 2015, especially Chapter Two: Conversion in the Age of Enlightenment and Emancipation. Two of my books are also relevant: Jewish High Society in Old Regime Berlin. New Haven 1988, and: How Jews Became Germans. Conversion and Assimilation in Berlin. New Haven 2007 and 2009.

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closest friends, Dorothea Mendelssohn Veit Schlegel and the charismatic minister Schleiermacher.

Relationships As enthusiasts for the romantic approach to life and literature, Herz and her friends believed ardently in feelings, relationships, and emotional authenticity. When they tried as best they could to live out their ideals, the process was often stormy, and the consequences tangled and messy. Henriette’s relationships, with her husband Marcus Herz and with her peers of both faiths, mattered in her conversion narrative. To learn more about the religious ambience in Berlin during her lifetime, it is helpful to briefly attend to her life circumstances back in 1779, when Henriette, then 15, married the physician Marcus Herz, then 32. On the surface, to an uninformed observer at the time or later, the Jewish community of Berlin, approximately 3200 souls in these years, was still maintaining traditional rituals and habits. But! When we move in for a closer look, we see critiques and alternatives and disrespect for the ancient ways.5 Women’s bodies have so often been the site for struggles over religion, and in Herz’s generation, just how a Jewish woman should wear her hair was controversial indeed. The hair issue illuminates the contradictory values and practices of her subculture at that historic moment. On the eve of her wedding, her parents commissioned a painting of her by the prominent court painter Anna Dorothea Therbusch (1721–1782), and the picture was hung on the wall in the home of the young couple. We can see here a very sensual image, with her shoulder bare, her hair flowing down her back, flowers in her hair, and considerable cleavage.6 To those familiar with images of Jewish women from the previous generation, Therbusch’s image of Herz suggests rapidly shifting norms regarding how a woman raised in a traditional home could be represented. Her parents and her new husband were ready to display Henriette’s sexuality, just at the moment when they were all insuring that she was out of reach of danger by her early marriage. But once she was safely married, the flowing locks displayed in the painting were meant to vanish from public view. At that time in Berlin, it was normative for well-to-do Jewish wives to cover their hair with a fancy decorated cap. Henriette detested the cap, and later, when she wrote her memoir, she com5 See Azriel Schochat: Beginnings of the Haskalah among German Jewry in the First Half of the Eighteenth Century. (Hebrew). Jerusalem 1960 for a detailed description of this process. 6 See Liliane Weissberg: Life as a Goddess. Henriette Herz Writes her Autobiography. In: Braun Lectures in the History of the Jews of Prussia 6 (2001), p. 4–9.

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plained at length about this practice.7 Later, an agreement was reached with local rabbis that she and her peers could go about in public with their hair uncovered. Whatever she thought and felt about the cap, from afar we note that covered hair would make it difficult indeed to mix easily with Christians in relaxed social settings. It was altogether ironic that throughout the months of her struggle to dispense with the hated cap, she and Marcus could both look at the wall inside their own home Therbusch’s painting of Henriette just before marriage, in such a highly sensuous pose, locks flowing.8 We might well wonder why the portrait was allowed, but it took a protracted negotiation to allow real hair to be visible. Although we know that Henriette was given little choice in her mate, and found herself a wife while still a teen, she and Marcus seem to have lived harmoniously enough during their 24 years of marriage. They enjoyed hosting a diverse and sophisticated circle of friends and acquaintances. Historians often call such circles salons, and we use that term here, although their letters reveal how rarely they themselves used this word.9 The guests who gathered around her on their open house evenings, both Tuesday and Friday evenings, discussed novels and poetry and theatre, whereas in Marcus’ corner guests were more interested in science, philosophy, and medicine. Their social life during the 1780s and 1790s, until Marcus died in 1803, illustrates that in that time and place “conversion was not a necessary precondition for interaction between Jews and Christians.”10 We shall return to this problematic as we ponder just why she became a Lutheran in 1817. During these years Henriette enjoyed considerable leisure time, as a childless well-to-do woman married to a prominent physician. Her days seem to have been filled with disciplined learning, and she accumulated the skills, the knowledge, and the deep personal friendships which secured her prominent public role. She had fumed when her parents pulled her out of a beloved girls’ school when she was 14, because they worried about the male attention she 7 As cited by Hans Landsberg (ed.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Weimar 1913, p. 129 and p. 140. 8 See the article by Marjanne E. Gooz8: Posing for Posterity. The Representations and Portrayals of Henriette Herz as “Beautiful Jewess”. In: Body Dialectics in the Age of Goethe. Ed. by Marianne Henn and Holger A. Pausch. Amsterdam and New York 2003, p. 67–96. See also Pauline Paucker: Bildnisse jüdischer Frauen 1789–1991. Klischee und Wandel. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Ed. by Jutta Dick and Barbara Hahn. Vienna 1993. 9 I rely here on the useful article by Ulrike Weckel: A Lost Paradise of a Female Culture? Some Critical Questions Regarding the Scholarship on Late Eighteenth- and Early NineteenthCentury German Salons. In: German History 18 (2000), Nr. 3, p. 310–336. An innovative perspective on salon culture in the same era in France is offered by Antoine Lilti: The World of the Salons. Sociability and Worldliness in Eighteenth-Century Paris. Oxford 2015. 10 See Natalie Naimark-Goldberg: Jewish Women in Enlightenment Berlin. Portland, Oregon: The Littman Library of Jewish Civilization, 2013, p. 271.

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attracted en route to school. But she seems to have made up for lost educational time as a young wife. She mastered five languages, acquired some competency in five more tongues, and was well-read in contemporary theology and current affairs. She published two translations of travel books in the late 1790s. Alas, she apparently chose to burn the draft manuscript of one of the two novels she completed, when her friend Dorothea Mendelsohn Veit criticized the work.11 As their own biographies illustrate, Jewish norms regarding women and high culture were shifting very dramatically and rapidly in this setting. It was altogether remarkable that she and Dorothea Mendelssohn, Rahel Levin and a handful of other Jewish women were so up to date in their mastery of Enlightenment and Romantic texts, at this dynamic moment in German literary history, that they enjoyed public roles as interpreters of high culture at this early juncture in the assimilation process was certainly disorienting to unsympathetic observers.12 Another sign of the significant social integration achieved by Henriette in these years was her involvement in a secret club, begun in 1787, later called the Tugendbund. Ultimately the club included six young men and women in their twenties, who exchanged frank, unconventional letters with each other over a two-year period. Representing Jewish society was Henriette and her sister Brenna and Dorothea Mendelssohn. Among the Christians were Wilhelm von Humboldt, Karl von Laroche, and Wilhelm’s future wife Karoline von Dacheröden.13 Wilhelm was then a university student at Göttingen, and he and Henriette together founded the club. When he was younger, living on his family estate outside Berlin, she had taught Wilhelm the Hebrew alphabet. We possess several letters he wrote her, in German, using Hebrew letters.14 In the years after this intimacy, Wilhelm saw less of Henriette and other Jewish salon friends from his youth. He did, to be sure, play a positive role in formulating emancipation legislation in Prussia and at the Congress of Vienna, and they would meet up again in Rome in 1817, after her baptism. But Wilhelm was very insightful about his own priorities. In 1810, he wrote to [K]aroline that he preferred to advocate

11 On this point see Dagmar Lorenz: Keepers of the Motherland. German Texts by Jewish Women Writers. Lincoln, Nebraska 1997, p. 19–23. 12 This point is made eloquently in this volume by Liliane Weissberg: Lehrjahre des Gefühls. Wilhelm von Humboldt befreundet sich mit Henriette Herz. 13 For some older research in English on the milieu of this club, see W. H. Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. Cambridge 1975, Chapter One on: Wilhelm von Humboldt in his Letters, p. 1–28. 14 We are lucky to have a new article on this theme, see Liliane Weissberg: Das Projekt der Aufklärung und der Tugendbund. In: Das Projekt der Aufklärung und der „Tugendbund“. In: Literatur und praktische Vernunft. Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Frieder von Ammon, Gideon Stiening u. Cornelia R8mi. Berlin 2016, p. 465–484.

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for Jewish rights rather than pursue friendships with actual Jews.15 Whether or not we should consider his behavior as part of the “social boycott” of the Jewish salons is an important question we cannot pursue here. Henriette’s most enduring friendship with a Christian intellectual began in 1794, when the young preacher Friedrich Schleiermacher, then 26, arrived in Berlin to take up a post teaching at a local gymnasium. They were introduced by Alexander von Dohna-Schlobitten, one of her salon guests, whose family had previously employed Friedrich as a tutor.16 Friedrich’s career then took him away from Berlin for a time, but returned to the city in 1796 to take up an appointment as a Chaplain at the Charit8 Hospital. For the next three decades, until his death in 1834, the two would remain close. From their letters, memoirs, and many biographies, we know a great deal about the friends they shared in common and the topics they discussed over the years. Schleiermacher was attuned to Herz’s personal dilemma about religion, as he was well-informed about the challenges facing enlightened Jews struggling to channel tradition and renew Judaism. Over the years to come, Friedrich occupied a complex position in contemporary religious life. On the one hand, traditional Calvinists and Lutherans were convinced that he held dangerous atheist views. On the other hand, one of his most enduring books written in the late 1790s Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, was a defense of the importance of God and the spiritual to his intellectual friends who mocked religion.17 Gossips at the time passed on the legend that whenever he lived in Berlin, he and Henriette would spend one day a week together in conversation. Some historians argue that he was erotically attracted to her in the first years of their friendship, but no historian argues that they were lovers.18 The Jewish sociability he enjoyed in Berlin became one of his important themes. In various publications from that time, he celebrated the conviviality and mutuality he experienced in contemporary Jewish homes.19 15 The letter is from 1810, as published in Anna von Sydow: Wilhelm und [C]aroline [von] Humboldt in ihren Briefen. 7 volumes. Berlin 1907–1914, Vol. 4, p. 458. 16 See Bruford: German Tradition (Anm. 13), p. 165. 17 Friedrich Schleiermacher : Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihre Verächtern [1799], Stuttgart, Reclam, 1997. 18 See the useful volume by Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass. Munich 2000 and 2002, p. 166–168. For the (unsubstantiated) claim that they were lovers, and comments about other imaginary love affairs in these circles, see Avner Falk: A Psychoanalytic History of the Jews. Madison 1996. Falk claims (with no evidence whatsoever) that “after her husband’s death the guilt-stricken Henriette Herz broke off her lifelong affair with Friedrich Schleiermacher”, also at p. 615. 19 For a summary in English of Schleiermacher’s perspective on sociability, see Graham Ward: The Making of the Modern Metropolis. In: The Oxford Handbook of Theology and Modern European Thought. Ed. by Nicholas Adams, George Pattison and Graham Ward. Oxford 2013, p. 67–74.

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The right to be happy in love was a beloved cause of the romantics. Several of Henriette’s Jewish women friends took bold action to achieve this goal. In 1785, her friend Marianne Devidels ran away from her family in Berlin, moved to Rome, converted to become a Catholic, and married her Berlin suitor, the artist Johann Gottfried Schadow.20 The most celebrated episode of a rebel Jewish woman involved Dorothea Mendelssohn, Henriette’s friend from childhood, with whom she remained intimate for her entire life. Dorothea, originally called Brendel, lived for 16 years in an arranged, quite unhappy marriage to Simon Veit. Her father Moses Mendelssohn, so avant-garde on religious issues, was oldfashioned regarding arranged marriages. He and his wife Fromet had arranged the match for Brendel in 1783. At that moment she was 33 and had changed her first name to Dorothea. She met her suitor Friedrich Schlegel at Henriette’s salon. He was 25, an up- and-coming literary historian and theorist who moved to Berlin from Jena, then the hotbed of literary romanticism. Many of Herz’s friends became engaged in the highly public love affair of Dorothea and Friedrich. The two Friedrichs, Schlegel and Schleiermacher, shared lodgings and edited a journal together. The public sensation caused by the romance between Dorothea and Friedrich was only made more intense when Schlegel published a novel in 1799 called Lucinde, which was interpreted as a defense of free love.21 Schleiermacher was in the thick of private and public debates about emancipated love and marriage. He and Henriette were Dorothea’s only visitors after she left Simon Veit, and he was seen by some contemporaries as a supporter of the scandalous message contained in Lucinde.22 In 1798 Schleiermacher’s church supervisor and longtime patron, the Oberkonsistorialrat Friedrich Samuel Sack, was concerned about Friedrich’s unconventional behavior.23 In addition to his friendships with Henriette and Dorothea, he was also involved in an intense, presumably platonic relationship with a married woman in Berlin, Eleonore Grunow. All in all, his standing was in jeopardy, and in 1802 he left the cosmopolitan, emancipated circles he enjoyed in Berlin to take up a ministerial post in Stolpe, a small town in Pomerania. Two years later, he moved on to teaching theology at the University of Halle. There too, he was the subject of gossip and critique, accused of harboring secret atheistic views. After five years away, Friedrich returned to Berlin in 1807 in triumph, appointed as the preacher at the Trinity Church. 20 On Schadow, see Götz Eckhardt: Johann Georg Schadow (1764–1850). Der Bildhauer. Leipzig 1990. 21 See Peter Firchow (ed.): Friedrich Schlegel’s Lucinde and the Fragments. Minneapolis 1971. 22 See Friedrich Schleiermacher: Friedrich Schleiermacher’s Vertraute Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde. Ed. by Karl Gutzkow. Hamburg 1835. 23 See Albert Blackwell: Antagonistic Correspondence in 1801 between Chaplain Sack and his Proteg8 Schleiermacher. In: Harvard Theological Review 74.

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These were the years when Friedrich Schleiermacher was a star player in the constellation of intellects working to renew German culture, which would inspire contemporaries to struggle against the French. We see two overlapping approaches in this movement. Some, who fought a War of Liberation, had as their major goal to oust France from German territory. To be sure, identifying the proper borders of Germany was messy then, as later. These liberation nationalists were attuned only to the German-French conflict, not to social inequalities. Other nationalists had a broader agenda, engaged in a War of Liberty against autocracy and injustice, all the while also fighting the French occupation.24 Schleiermacher’s particular contribution was to bring Protestant values, symbols and practices into both wings of the new movement. A spectacular achievement of the cultural nationalists was the new University of Berlin, which opened in 1810, after years of preparation. Friedrich worked alongside his old friend Wilhelm von Humboldt in planning the pedagogy of the new university. They envisioned a socially diverse student body and faculty, and an institution which would reward contributions to research across the natural sciences and the humanities. All in all, despite attacks on him by traditionalists, Schleiermacher would reign as the leading theologian in the Germanic lands for years to come. Soon after his return to Berlin from Halle, Friedrich married Henriette von Willich, the 21-year old widow of another minister, from Rügen. In time Henriette and Friedrich Schleiermacher would be parents to a large family of seven children.25 The other Henriette, our protagonist, soon enough became a regular visitor at the Schleiermacher home.26 Friedrich’s new wife was a sister of Charlotte von Kathen of Rügen, who had employed Herz as a governess the year before Friedrich’s marriage to her sister Henriette. Our Henriette celebrated Christmas with the Schleiermacher family every year, and called them her “second family.”27 We note that she was still Jewish when she enjoyed these

24 I have relied here on the distinction made by Karen Hagemann in her magisterial two books on this neglected era in German history. See Karen Hagemann: Mannlicher Mut und Teutsche Ehre. Nation, Militär zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens. Paderborn 2002, and for a shorter, English-language survey, see Karen Hagemann: Revisiting Prussia’s Wars Against Napoleon. History, Culture and Memory. Cambridge 2015. 25 See Rainer Schmitz (ed.): Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich. Berlin 1984. 26 Ehrenfried von Willich, the deceased first husband of Henriette Schleiermacher, was a friend of Henriette Herz’s sister Chana Johanna [geb. Benveniste de Lemos]. Johanna was married to a physician named Simon Herz. He was apparently not a relation of Marcus Herz. The couple lived in Prenzlau, where Simon Herz was the leading Jewish physician. There is no indication that either Johanna or Simon converted. 27 See Natalie Naimark-Goldberg: Jewish Women (Anm. 10), p. 26.

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celebrations, and known to be so by everyone present. Think of the prestige of such a standing invitation in the Christian elite world of Berlin in 1809! It was during the same juncture when Schleiermacher had finally married, and Herz had returned from her governess post, that Ernst Moritz Arndt finally walks onto our stage. He arrived in Berlin at the beginning of the year 1809, and stayed for over a year. For the next six years, until the end of the Vienna Congress in the spring of 1815, Arndt visited Berlin three more times, staying for only a few months each time. On this first visit in 1809 he was 30, and had led already experienced a mix of callings and occupations, as a Lutheran preacher, a hiker across Europe, an unpaid lecturer, author of an influential history of serfdom, and ultimately professor of History at the University of Greifswald. He arrived in Berlin on the heels of the police, accused of propaganda against the French.28 The French administration of the university had recently dismissed him from his teaching position, and the vehemence and poetic talent he brought to the nationalist cause targeted him for arrest. Arndt’s first hideaway in Berlin was in the home of his friend Georg Andreas Reimer. Reimer was an esteemed bookseller and publisher, born in Rügen, and Arndt was one of Reimer’s most popular authors. Schleiermacher was in the Reimer circle too, as a member of a club known as the Lesende Gesellschaft, which met in Reimer’s home.29 As for when Henriette and Ernst Moritz first met, we can with some confidence set that juncture either in the spring of 1808 when she was the governess in Rügen, or at Reimer’s home in the winter of 1809.30 It was remarkable that by 1809 Henriette Herz possessed the intellectual and social pedigree so as to feel comfortable at the Schleiermacher Christmas celebrations or at Georg Andreas Reimer’s distinguished table, while she was still Jewish. But however deeply she integrated into elite Christian society, there must still have been a gap between her religion of birth and her inner sense of self. We now turn to exploring Herz’s religious identity before and after her baptism, and

28 For more background, see Roger Töpelman: Romantische Freundschaft und Frömmigkeit. Brief des Berliner Verlegers Georg Andreas Reimer an Friedrich Daniel Schleiermacher. Hildesheim 1999 and Doris Reimer : Passion und Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer. Berlin 1999. 29 This detail is noted in Jerry Dawson: Friedrich Schleiermacher. The Evolution of a Nationalist. Austin 1966, p. 115. Additional detail regarding the social life of Berlin in these years can be found in Petra Wilhelmy-Dollinger : Die Berliner Salons. New York 2000, p. 119–121. 30 These two settings in which the two might have met is suggested by Landsberg: Henriette Herz (Anm. 7), p. 77. For background on his early years, see Herbert Scurla: Ernst Moritz Arndt. Der Vorkämpfer für Einheit und Demokratie. Berlin 1952, and, more recently, at a higher scholarly level, see Walter Erhart and Arne Koch (eds.): Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven. Tübingen 2007.

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in the course of our inquiries we shall meet Friedrich Schleiermacher and Dorothea Mendelssohn again.

Why Conversion? To begin to understand why she chose conversion, and why she timed her baptism for June of 1817, we must now turn to how she felt about Judaism before 1817. For the 24 years of her marriage, even if she was prepared to forsake Judaism, we would not imagine that she would have convinced Marcus to do so. He was committed to the reform of Judaism, and indeed had enjoyed a close relationship with Dorothea’s father Moses Mendelssohn himself, the leading figure in the Berlin Haskala. Marriage was not the only family tie binding her to Judaism. She never became alienated and hostile to either of her parents, although she wrote openly about preferring her father to her mother in the memoir fragment she wrote in 1823.31 Loyalty to Judaism and loyalty to family were tightly linked, as we shall soon learn. To give a flavor for the radical ideas about religion circulating in Herz’s social circles, we must revisit a notorious proposal which was much discussed in 1799. The plan was that enlightened Jews should convert, but not to the traditional Lutheran Church, but into a thoroughly transformed theistic faith. Contemporaries joked that this was an attempt at a “dry baptism.” It was an open secret that the author of the pamphlet was David Friedländer. Marcus Herz knew Friedländer well. Back when Herz was in medical school at the University of Königsberg, he had boarded for a time in the Friedländer home and relied on his family to help financing his training.32 When he wrote his public proposal, Friedländer was in his late forties, a wealthy silk manufacturer, widely acknowledged as the leading follower of Mendelssohn. Ultimately, the dry baptism request was rejected by the Protestant officials, who adamantly rejected replacing the central doctrine of the Trinity with abstract deism.33 David Friedländer himself never converted, and remained a leader in the 31 In English, one can read about Herz’s conflicted feelings toward her mother in Jeannine Blackwell and Susanne Zantop (eds.): Bitter Healing. German Women Writers from 1700 to 1830. Lincoln, Nebraska 1990, p. 310–311. The editors have translated this passage from Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin. Volume One. Die Litteraturarchiv-Gesellschaft Berlin 1896. 32 The detail regarding financing Herz’s education is noted in Weissberg: Projekt der Aufklärung (Anm. 14), p. 1. 33 In English, the best edition of the relevant primary sources on the dry baptism debate is Richard Crouter and Julie Klassen (eds.): David Friedländer, Friedrich Schleiermacher, and Wilhelm Teller. A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin. Indianapolis 2004.

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community until his death in 1834, although all of his children ultimately chose a traditional “wet baptism”. At the time and also later, his dry baptism proposal attracted huge attention, from across the religious spectrum. Some, including Schleiermacher, were concerned that dry baptism would encourage conversion as a shortcut to improved civic status. As a man of the cloth, he could not endorse pragmatic conversions, which diluted the meaning of baptism. Schleiermacher was consistent in trying to maintain the division between the civil and the religious. At the time of the “dry baptism” controversy, he was arguing for unconditional citizenship for Jews. Schleiermacher’s aim from that period was realized, at least in a pale form, in the 1812 Edict of Emancipation in Prussia, which did not in fact stem the tide of baptisms in Berlin during the eighteenteens. Thus after 1812, Jews seemed to be choosing conversion even though they could become at least partial citizens as Jews. Just how Schleiermacher may have shifted his thinking about the nexus between religion and civil rights as we move forward in time cannot be explored here. From inside the Jewish world, had it succeeded, dry baptism would also have trumped the fragile baby steps of the early Haskala just then emerging in Berlin and other European capitals. It was serious indeed if the most avant-garde Jews chose dry baptism instead of expanding the ways to be Jewish. As for traditionalist rabbis, who opposed the reform of Judaism, they were outraged that Friedländer was proposing any kind of baptism, even a dry version. Actually, recent research has revised the picture of Friedländer, seeing him as a proud maskil rather than as a deserter of Judaism.34 As for our protagonist, the historical record would justify us in imagining a conversation where Henriette defended the dry baptism proposal and Marcus opposed the notion. Herz was definitely living in interesting times, and her closest friends and their peers were debating complex religious quandaries, quandaries with no simple solutions. Henriette was 39, when Marcus, then 56, died unexpectedly. After Marcus’ death, Henriette entered what has been called “the phase of melancholy,” an era in her life in which it would have been convenient indeed to be a Christian.35 She was rarely free of financial worries for the 44 years of her widowhood. For reasons that are not clear, the Herz couple, who had been rather well-to-do from his salary as a physician, had not planned well for her support after his death. Herz’s interior religious life while she was still a wife is just about impossible for us now to intuit. We must remember, when searching for clues, that she burned almost all of the letters she received, did not keep copies of the letters she sent, and seems to have asked her correspondents to destroy letters she sent them. But 34 My analysis in these paragraphs is indebted to the innovative analysis provided by Jonathan Hess: Jews and the Claims of Modernity. New Haven 2002. 35 This phrase is suggested by Weissberg: Life as a Goddess (Anm. 6).

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three months after Marcus died in January of 1803, we do have a surviving letter from that April, to a close friend from these years, Ludwig Börne (1786–1837). This letter shows that just months after her husband died, Henriette was openly discussing the advantages of conversion with an intimate Jewish friend. While he attended medical school in Berlin, his name had still been Louis Baruch, and he had been a boarder at the Herz home. He fell in love with Henriette, who sent him away when his adoration became too uncomfortable.36 In April of 1803, Louis, now studying at the University of Halle, wrote to Henriette: “Sie wollen mich … taufen lassen … und ich wundre mich recht sehr, dab Sie zur Anwendung dieses Mittel night früher geschritten sind… ”.37 Louis’ implied query about why she herself does not convert suggests that she must have portrayed herself as leaning toward baptism very soon after Marcus died. As for Louis Baruch, after he became Ludwig Börne he too eventually converted, 15 years later, in 1818, a year after Herz did. Three years later, Henriette’s financial plight deteriorated even more, after Prussia’s dramatic defeat in October of 1806. Because of the disruption of the war and occupation, the Prussian state cancelled payment on her widow’s pension. Friends left town, French soldiers were often housed with Berlin families, and wealthy Jewish homes were less and less often the centers of sociability. A famous quote by Herz’s friend Rahel Levin suggests that the social circles now called the Jewish salons dispersed quite suddenly after 1806. She later wrote: “our ship went under in 1806, the ship containing the loveliest pleasures, the loveliest goods of life.”38 War and occupation go a long way to explaining the rapid shift away from Jewish homes. But we must consider that there was also a social boycott of Jewish salons. Without a doubt, there emerged a growing hostility to Jews among nationalists, liberals, and even radicals in these years. Pamphlets, books, articles, and plays expressing hostility not just to traditional Jews but also to modernist Jews were wildly popular in this setting. Indeed, the Prussian government banned one of the popular plays, Unser Verkehr, and tried to halt the publication of Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer’s sensationally popular pamphlet, Wider die Juden.39 We gaze with sympathy on her plight, demoted overnight from prominent 36 See Ludwig Geiger : Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Dearbooks 2012, as well as my article: Die Sexualpolitik der jüdischen Politik im Leben Ludwig Börnes. In: Ludwig Börne. Deutscher Schrifsteller, Jude, Demokrat. Ed. by Frank Stern. Berlin 2003. 37 “You want me to convert, and I wonder that you have not taken this step yourself….” D.H. Source of citation: Landsberg: Henriette Herz (Anm. 7), p. 237. 38 This citation is noted in Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewish Woman. London 1957, p. 121. 39 Karl Wilhlem Friedrich Grattenauer : Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christliche Mitbürger, Berlin 1803. On Grattenauer, see my “How Jews Became Germans”, p. 59–60, and in the same book, discussion of “Unser Verkehr”, p. 141–143.

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intellectual hostess star to loneliness and comparative poverty. Any woman forced to live without the protection of marriage in her day would find life challenging, especially after enjoying a quarter of a century of the high society life. In her memoir fragment penned in 1823, she expressed pride in her independence as a widow, noting that women sometimes fall into the situation of needing to support themselves, some “happily” and others “unhappily.”40 Over long 44 years of her widowhood, Herz earned income in various ways, including teaching German to domestic servants in training, providing a “lunch table” for local students, and operating a lacemaking workshop. Marriage to a prominent Christian man might have solved her money problems and given her a huge social uplift, but this was not a path she chose, although she could have. In 1803, shortly after Marcus died, she turned down a marriage proposal from the very well-born Count Alexander von Dohna-Schlobitten (1771–1831), then 32, a prominent Prussian official with militant nationalist politics. They had known each other for years. Indeed, it was Alexander who had first introduced her to Friedrich Schleiermacher back in 1794.41 An elegant solution to Herz’s financial crisis in her widowhood would have been to become a governess. Sympathetic friends hoped that her reputation as a learned woman with social graces would lead to a paid position. Yet with that celebrity came the widespread knowledge that she was Jewish. Thus her fame was a double-edged sword, which simultaneously helped her and also harmed her. It was one thing to spend an hour or two of an evening at Jewish home, and another thing altogether for a prominent noble family to hire a Jewish woman to live with them and instruct their children.42 There was no doubt in her mind that her Jewish status was central to her problem finding proper employment. Finally, five years into her widowhood, in 1808, she was offered a governess post in Rügen with Charlotte von Kathen. Charlotte hoped to learn from Henriette how she could be an intellectual hostess in her own circle. Indeed, the Prussian Queen Luise, living in exile in these years in Königsberg, is said to have aspired to be a salonniHre.43 These episodes suggest that the social institutions later called sal-

40 See Naimark-Goldberg: Jewish Women (Anm. 10), p. 243. 41 Carol Diethe: Towards Emancipation. German Women Writers of the Nineteenth Century. London 1998, p. 23, suggests that her “prudery” was involved in rejecting von Dohna’s proposal. Others conclude that it was Herz’s desire not to upset her mother that led her to reject the proposal, which would obviously have required baptism. 42 It is fascinating to compare Herz’s odyssey as a would-be Jewish governess with the biography of Henriette Mendelssohn, Dorothea’s sister. Mendelssohn’s first governess position was with a Jewish family in Paris, and then years later, she was hired by a Catholic Italian family to be the governess for their daughter, even though she was still Jewish. In later years she returned to Berlin and converted to become a Protestant. 43 For discussion of the Queen’s salon, see Constance Wright: Louise, Queen of Prussia. A

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ons were still needed during the war era, but that Jewish women were losing their monopoly on the role. Throughout the years of her marriage and her widowhood, Henriette remained intimate with her mother and her two sisters. This should not surprise those who have followed the new research into Rahel Levin’s family life.44 For a long time, observers from our century have assumed that many Jewish salon women were rebels, fighting for the right to marry or remarry for love, and ready to leave Judaism to suit their romantic desires. Recent scholarship has revised this picture. We now know that some of their parents and siblings also participated in salon gatherings and also made friends with Christians. In Herz’s case too, we see that her closest Christian friend was on good terms with her own mother. Friedrich Schleiermacher reported in 1798, in a letter to his sister, that Henriette’s mother Esther was very fond of him, although he simultaneously confessed that he found her “verdrieblich”.45 Moreover, Schleiermacher was also one of Marcus Herz’s patients, so he was entrusting care of his body to Henriette’s husband.46 Henriette’s sister Brenna was in the secret club later called the Tugendbund, from back in 1787, and she also corresponded with Friedrich. Another sister, Johanna, who lived in Prenzlau, was friendly with pastor Philipp Wilhelm Wolf (1766–1822), who baptized Henriette in the summer of 1817.47 All in all, before her baptism Henriette balanced a close relationship with her mother, who opposed baptism, and still enjoyed many deep connections to prominent Christians, some of whom were also integrated into her family life. This deepens the mystery of why she chose baptism in 1817. Because of our paucity of authentic primary sources, we cannot know the inner experiences during her years as a wife or a widow that led her to the baptismal font. As for the timing of her actual baptism, it was only a year after her mother Esther died in April of 1816 that she actually stepped across the religious divide. Henriette moved to the small town of Zossen, at that time 20 miles from Berlin, sometime in the spring of 1817. She lived for six weeks before the ceremony in the home of pastor Philipp Wolf, who was a friend of Schleiermacher’s and also a friend of her sister Johanna.48 Whatever Schleiermacher’s influence had been on her decision over the years, at the juncture of the

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Biography. London 1969, p. 155–156. For a recent biography in German, see Günter de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende. Berlin 2001. See Barbara Hahn: The Jewess Pallas Athena. This Too a Theory of Modernity. Princeton 2005, p. 42–55. The letter is from May 23, 1798, Number 473 in Friedrich Schleiermacher : Kritische Gesamtausgabe. Ed. by Hans-Joachim Birkner [et. al.]. Fünfte Abteilung. Vol. 2. Berlin 1998, p. 321. This detail is noted in Leder : Marcus Herz (Anm. 3), p. 121. See Naimark-Goldberg: Jewish Women (Anm. 10), p. 208, note 93. Pastor Philipp Wilhelm Wolf (1766–1822) was the preacher who baptized Herz in 1817.

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summer of 1817, he was definitely not orchestrating the baptism from afar. On the contrary, his letters reveal his irritation about her independent decisions. He had apparently argued that he should perform her baptism ceremony at the Trinity Church back in Berlin.49 Apparently, without informing him, she chose Zossen as the better location, explaining to him that converting there would be more considerate to her Jewish friends. One observer at the time noted that this decision showed that she possessed a “fine delicacy of feeling” regarding the significance of her conversion for the Berlin Jewish community. One view is that she wanted to pass from the “old faith to the new with as little ostentatious parade as possible,” because “her prominence meant that converting would ”inflict a severe blow on Judaism.”50 Schleiermacher was following her decisions closely. Back in Berlin, he was apparently hurt that he had not been asked to conduct the ceremony. The terms of what she thought of as secrecy are fascinating. From afar, we must wonder how would the “blow to Judaism” would be worse if she had converted in Berlin. The idea that she could keep her baptism a secret is itself intriguing. Perhaps she hoped that doing the deed in a small town would at least slow down the flow of gossip. But we must wonder as to the feelings of shame or guilt that may also have played a role in the chosen location for the baptism. In the middle of July, a month after the baptism, Henriette travelled to Italy, accompanied by a friend, the painter Auguste Klein, and she would remain in Rome for almost two years. A voyage to Italy had been a lifelong dream, and apparently she was also eager to stay away from Berlin immediately after the baptism. Perhaps she was avoiding the anger her still-Jewish friends might express about her decision to leave Judaism.51 Rome was not just a magical Italian city, some of her oldest friends were living there in 1817. Dorothea Mendelssohn Veit, now Schlegel, and her husband Friedrich Schlegel had both converted to Catholicism, and enjoyed many friendships in the German expatriate community in Rome. Karoline and Wilhelm von Humboldt were living in Rome at the time, and they too were attractive relationships for Herz, although she may have been blissfully unaware of their own ambivalence toward her. The religious integration achieved by Dorothea was dramatically illustrated by the artistic careers of her two sons, Philipp and Johannes Veit. Both were wellregarded painters in the Nazarene school of religious painting. How fascinating it was that Moses Mendelssohn’s grandson Philipp Veit (1793–1877) should be the artist who painted the iconic image of Germania. We can imagine that social 49 See Heinrich Hahn: Aus dem Nachlab von Henriette Herz. In: Nord und Süd. Ein deutsches Monatsheft 62 (1892), p. 62–63. 50 See J. F. Dickie: In the Kaiser’s Capital. New York 1910, p. 228. 51 Note of her reluctance to return to Berlin because of the baptism can be found in Landsberg: Henriette Herz (Anm. 7), p. 87.

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ease in Rome might have been a reason to convert. Even though her conversion was to Lutheranism, a faith that Dorothea and her husband Friedrich had discarded in 1808, perhaps Henriette Herz felt more comfortable in Dorothea’s circles in Rome as a Christian, if not a Catholic. Let us now turn from biography to analysis, to sum up our thinking about just why Herz chose conversion, including practical, spiritual, national, and social motives. There is, of course, no need to choose only one motive. For each individual who chooses to leave Judaism, or for that matter any faith, a complex mix of feelings, beliefs, and ambitions would typically be involved.52 To begin with, we can rule out her choosing baptism because she was seeking pragmatic gain. Several of her friends’ conversions took place just before they married Christian men, but she never married a Christian. She had at least two chances to do so, for in addition to Count Alexander von Dohna’s proposal of 1803, she also turned down a marriage overture in 1819 from Immanuel Bekker (1785–1871), a younger philologist. Nor can we interpret the 1817 conversion as a strategy to support herself as a governess, since after her 1808 stint working in Rügen for Charlotte von Kathen, she never took on such a position again. This brings us to a second possible motive, authentic religious conviction. On this account, she had inwardly been ready to leave Judaism for years, but she waited until her mother had passed before she actually became a Protestant.53 On this crucial issue, evidence is fragmentary, and we are left with sketchy observations. Some observers from today claim that her “friends doubted her religious motives”, but note that Henriette “claimed she was sincere.”54 In sum, this important cluster of motives remains obscure. A third approach is to vastly expand what we think of by the term religion, so that it includes an affiliation with a national German identity.55 Like many of her contemporaries, she seems to have viewed Judaism as a harsh religion of ritual and laws, in contrast to the Protestant faith, seen seemed a religion of emotion. Here we can certainly see how romantic attitudes to life and love would have enhanced the allure of Christianity. As we have seen, Protestant songs and rituals were part of nationalist celebrations in these years, in part thanks to the work of her friend Friedrich. We might call this an existential stance toward the two 52 See Endelman: Jewish Fold (Anm. 4), Introduction, p. 1–16. 53 See Davies: Identity or History (Anm. 3), p. 276, note 46, where he quotes Herz as saying: “I knew that I was not a Jew.” Davies is citing a letter Henriette wrote to F. C. Sibbern on September 5, 1822. 54 These are the words of Heidi Thomann Tewarson: “Jüdinsein um 1800.” In: Hahn and Dick; Jüdinnen (Anm. 8), p. 47–70, here p. 63. [Translation D. H.] 55 I am grateful to Todd Presner for stimulating my thinking on this issue at a roundtable he organized, Affairs of the Mind. The Salon and Jewish Women Writers, University of California at Los Angeles, April 19, 2016.

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faiths, rather than an elaborate theology. Because of her friendship circle, Herz would not have needed lectures, pamphlets, or books to believe that being a good German required one to be a Protestant. Her existential preference for the Protestant identity may well have included a desire to shed the “symbolic ghetto” of Jewish names, habits, languages and relationships.56 A fourth cluster of motives we might call social, converting so as to ease various friendships, either with those of Christian ancestry or even with former Jews. Using this approach, we could describe her baptism as an act of covering, a gesture which would smooth social interactions in the wider society. This fascinating interpretation, first used by analysts of homosexual oppression, allows us to consider conversion functionally, as a mode of assimilation.57 The social motive seems especially apt when we think about the timing of her journey to Rome immediately after her baptism. That she might have felt better as a Christian than as a Jew in Dorothea’s circles is ironic, since Dorothea and Henriette had forged their friendship as the Jewish daughters of prominent Berlin maskilim. This essay is not the place to decide which of the four motives, or combinations of motives, seems to best explain why Herz took the fateful step of baptism step in the summer of 1817. Rather, we turn now to explaining why Arndt would invite her to his home, and what each of them was thinking during that visit. We need to understand his hostility to Jews and guess at why he would have made an exception for Henriette Herz.

Antisemitism The figure of Nanna Arndt has been largely missing from our exploration of this lost social world. Perhaps she simply pressured Ernst Moritz to invite Henriette, and it was a favor he did for her and possibly for Schleiermacher. But Nanna’s mix of ideology and tolerance, and the intensity of her bond with Henriette, are mysteries to us now, from afar. Her husband, in contrast, has left behind poems, pamphlets, and books which give us a good picture of his views about Jews. Herz’s well-known Jewish identity was not the only problem which may have crossed Arndt’s mind when her name came up as a possible houseguest. After all, she was well-known as an intellectual and socialite, the sort of woman not valued 56 This is from Dietz Bering: Stigma of Names. Antisemitism in German Daily Life, 1812–1933. Cambridge 1992. 57 See my article: Masquerades and Open Secrets, Or New Ways to Understand Jewish Assimilation. In: Concealed Faith or Double Identity. Ed. by Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund and Paola Ferruta. Hildesheim 2011, p. 57–80, as well as Kenji Yoshino: Covering. The Hidden Assault on our Civil Rights. New York 2006.

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by the nationalists in his camp. He opposed women speaking French, wearing French fashions, or reading French literature. Moreover, they should not hire wet-nurses and enjoy the high society social life, but rather be dedicated mothers and loyal wives. Obviously, Henriette Herz, who was not a mother, represented precisely the values and practices he reviled, as a public intellectual in the inner circle of romantic writers. But surely her Jewish identity would have been the primary contradiction with his nationalist populism, so let us turn to his politics. Arndt entered the history of antisemitism at a very particular turning point. For those living in the Germanic lands, the Napoleonic wars made the debate around Jewish emancipation very immediate. Before this era, hatred of Jews was mainly religious, and not connected to the ongoing problematic of uniting the German people into a political nation. Not only had the revolutionaries in France granted Jews civil rights, but as their army moved eastwards into German territories, emancipation became an unwanted gift bestowed upon local populations. Then, too, as we see so often in national movements, activists created feelings of inner solidarity by excluding others. This tendency to define the ingroup by attacking the out-groups was all the more powerful, because no one at the time was sure where the geographic boundaries of Germany should be. For Arndt as for many of his followers, the French and the Jews became a fused enemy. The new political hatred of Jews could channel centuries of myths, stereotypes, theological disputes and sheer public hatred. Whether or not this hatred had long been greater in the Germanic lands than elsewhere in Europe is obviously not a topic to be addressed in the short space remaining to us. Arndt’s hostility to Jews was mainly rooted in a racial critique, although we also see religious values integrated into his politics.58 Like so many then and later, he was inconsistent on this point, allowing that local Jews already in the Germanic lands could assimilate by converting, but that eastern Jews should be kept out, presumably on racial grounds.59 The larger historical point is that the religious motive for disliking Jews was quickly becoming problematic. The moment that a Jew became a Christian, they were answering, supposedly silencing the critique of those whose hatred was based on theological anti-Judaism. The high conversion rates, especially of those already celebrities, frustrated hostile critics in the Berlin of their day. Jews became harder to identify as they assimilated not just in their formal religious affiliation, but also in language, dress, friendships and even mixed marriages. In Henriette Herz’s circles, cross-religious love affairs and marriages became prime targets for a backlash. But just 58 For useful analysis, see Arno Herzig: Ernst Moritz Arndt und der Diskurs um die Emanzipation der Juden. In: Ernst Moritz Arndt weiterhin im Widerstreit der Meinungen. Ed. by Karl-Ewald Tietz. Greifswald 2003. 59 See Brian Vick: Arndt and German Ideas of Race. Between Kant and Social Darwinism. In: Erhart and Koch: Arndt (Anm. 30), p. 65–76.

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when a post-religious fury even at assimilated Jews actually became racial is difficult to track.60 A useful approach is to conclude that antisemitism has often been a “scavenger ideology” which has attached to both left and right politics in different eras.61 Three public occasions from these years definitely revealed these dynamics. It is difficult for us to imagine that each of our protagonists was not aware of the three episodes, and avoiding such conversations would have required some discretion on both sides. The first of the three events took place in January of 1811, when Achim von Arnim and Clemens Brentano founded an exclusive luncheon club called the Deutsche Tischgesellschaft in Berlin. The Tischgesellschaft was an invitation-only club for men, which explicitly excluded not only those formally Jewish, but also converts. Members and invited visitors met for long lunch meetings in various elegant local restaurants. About 80 participated over time, many from Berlin’s social and administrative elites.62 Although club sessions were only open to those who were invited, the goings-on at their closed gatherings did not remain private, not at all. We know from letters exchanged at the time among various gossips, especially Karl August Varnhagen, Rahel Levin’s eventual husband, that well-placed contemporaries were aware of precisely what was said at the prestigious gatherings.63 Their explicit guidelines on who could become a member caused a scandal in the Berlin of 1811. The Tischgesellschaft was seen at the time, and certainly later as well, as a very pointed attack on the Jewish salons. Their antisemitism was altogether personal, since many of the members had been, even continued to be guests at Jewish homes. Joining the Tischgesellschaft did not always did not mean that one’s Jewish friends would end a relationship. Friedrich Schleiermacher was a member from the beginning, and remained Henriette’s close friend. And for years to come after 1811, Rahel Levin kept up her stormy friendship with one of the Tischgesellschaft founders, Clemens Brentano (1778–1842).64 Ernst Moritz himself does not seem to have become an official member of the Tischgesellschaft, although 60 Jonathan Hess discusses this point in useful detail in his Claims of Modernity, Chapter [Two]. See also Pierre James: The Murderous Paradise. German Nationalism and the Holocaust. Westport, Connecticut 2001, Chapter Nine, who notes that racial and religious antisemitism were often combined in this era. 61 This very wise approach has been suggested by George Fredrickson in his classic book Racism. A Short History. Princeton 2002. 62 I am indebted to Stefan Nienhaus for his magnificent research and to Marjanne E. Gooz8 for recommending this title. See Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen 2003. 63 On this point, see Nienhaus: Geschichte (Anm. 62), p. 47. 64 Walter Grab found it “incomprehensible” that Rahel Levin was on “friendly footing” with Clemens Brentano. He made the comment in the collection of essays he edited with Julius H. Schoeps: Juden im Vormärz und in die Revolution von 1848. Burg Verlag, Stuttgart, 1983.

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for several months in 1812 and again in 1813, he was definitely residing in Berlin. Moreover Arndt certainly knew Achim von Arnim (1781–1831), as they were both active in a club called the Gesetzlose Gesellschaft, many of whose members later joined the Tischgesellschaft.65 Arndt shared von Arnim’s and Brentano’s passion for ancient Germanic legends and folk songs, and they all followed closely the work of Jacob and Wilhelm Grimm. As for the telling issue of social class, Arndt would not have been excluded from the Tischgesellschaft because of his humble background. His important nationalist friend Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) was also born into modest circumstances, and he was a member. Considering the notoriety of the Tischgesellschaft, Henriette was surely aware of its harsh guidelines. And it is likely that she knew of the saga of Moritz Itzig (1787–1813), whose angry challenge to Achim von Arnim caused a stir in their circles. Itzig was a Jewish nationalist university student in Berlin, present at his aunt Sara Levy’s salon one evening in 1811, several months after the founding of the club. At the close of the evening, he concluded that Achim von Arnim was neither invited nor polite, and publicly challenged him to a duel. But Itzig was not able to achieve satisfactory revenge in that manner, because the class-proud von Arnim refused to defend his accused honor in a duel with a Jew. Later Moritz Itzig fell in the War of Liberation. Even if she admired Itzig in private, his courage in displaying public anger at an antisemite was certainly not a path chosen by our protagonist, and Arndt would not have enjoyed a conversation about the ironies of Itzig’s fate. Another episode up for discussion might have been the Wartburg Festival, which took place atop the Wartburg mountain in October 1817. Student radical nationalists chose the date to celebrate the 400th anniversary of Martin Luther’s rebellion against the Catholic Church, as well as the fourth anniversary of a significant military victory against the French, at Lützow. One of their acts had been to burn the book Germanomanie written by the Berlin bookseller Saul Ascher (1767–1822), who was fully aware of the politics of the antisemitic nationalists, notably Arndt himself.66 It would certainly seem plausible that Herz knew of Ascher’s book, perhaps even knew Ascher himself. Again, Saul Ascher’s book was not a good topic to mention over sherry in the Arndt home in Bonn.67 The most recent of the three episodes they would each be likely to have known about when they met in the summer of 1819 were the hepp hepp riots, which had

65 See Walther Boeckh: Ernst Moritz Arndt und sein Berliner Freundeskreis aus der Gesetzlosen und Griechischen Gesellschaft. In: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins 54 (1937). 66 Saul Ascher : Die Germanomanie, Berlin 1815. 67 See my discussion of the Itzig episode and the Ascher controversy in my : How Jews Became Germans. Chapter Four.

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erupted in at least 30 German towns just a few months before.68 Historians have disagreed about the causes of these riots. Earlier accounts emphasized the violence against Jews as a displacement of economic and social unrest. But more recent work seems accurate in emphasizing opposition to local emancipation efforts as the likely motive for the rioters.69 And contemporary scholarship definitely blames Arndt’s writings as an impetus for the riots. Indeed Henriette’s friend Rahel Levin lamented the hepp hepp pogroms. In a famous letter to her brother Ludwig Robert (1778–1832), she actually named Arndt as one of the causes of the pogrom.70 Our best way to account for why Arndt invited Herz to his home in 1819 is that her conversion two years before satisfied his conditions of benevolence toward Jews who were passing out of Judaism. We leave Arndt and his complex politics for now, with much that is unknown about how his hatred of Jews in general and his thoughts and feelings about her in particular influenced the decision to invite her as a houseguest in 1819. Further comparisons of the complex friendships uniting Bettina Brentano, her brother Clemens, Johann Gottlieb Fichte, the ubiquitous Schleiermacher, as well as Rahel Levin will teach us more about how prejudice effected individual friendships in these circles.

In Conclusion The dilemma faced by the University of Greifswald regarding the proper place of Arndt recalls the wider project of searching the German past for the shadow of hatred of the Jews. What does this journey through her life teach us about the quandary facing the students and faculty and administration of the University of Greifswald? Should they fight to rid their institution of the association with Ernst Moritz Arndt? Their problem requires an evaluation of how important he was as a nationalist leader, as contrasted to the damage that he did as an antisemite. They provoke us to ask whether his own combination of ideologies was truly representative of early German nationalism. But we should beware of an easy conclusion that the German nationalism of the Napoleonic era was in68 The classic work is Jacob Katz: Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819. Berlin 1994. 69 The argument about social displacement was articulated by Eleonore Sterling: Anti-Jewish Riots in Germany in 1819. A Displacement of Social Protest. In: Historia Judaica 12 (1950), p. 105–142. See the critique of Sterling in Stefan Rohrbacher : Nachwort. In: Katz: Hep-Hep Verfolgungen (Anm. 67), p. 122–136. 70 The letter to Ludwig Robert about the causes of the pogrom is cited in full in Heidi Thomann Tewarson: Rahel Levin Varnhagen. The Life and Work of a German Jewish Intellectual. Lincoln 1998, p. 160–161. The letter can be found in Konrad Feilchenfeldt [et al.] (eds.): Rahel-Bibliothek. Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. 10 Vol. Munich 1983, here Vol. 9, p. 582–585.

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trinsically hostile to Jews. After all, Herz herself was a passionate nationalist, and indeed that shared enthusiasm was undoubtedly involved in her continued loyalty to Arndt. Perhaps they would consider re-naming the university the Henriette Herz University, in celebration of a talented and prominent Jewish woman who was also a Prussian patriot. We leave with a look at the grave of Henriette and the missing grave of her husband Marcus. When he died in 1803, he was buried in the Grosse Hamburger Straße cemetery, whose graves were dug up in 1943. Today the symbolic tombstone for Moses Mendelssohn is the only marker of an individual who was actually buried in the cemetery. Henriette, in contrast, is buried in a splendid grave in the Jerusalems-und Neuen Kirchengemeinde cemetery in Kreuzberg. That she should prosper in so many ways in posterity is painful to gaze upon today. Perhaps if she had known the future she might have decided not to inflict the “blow to Judaism” that she saw her conversion to be. On the other hand, the freedom to change religious and other identities continues to define what we mean by modernity, and in that lens Henriette Herz was a bold pioneer.

Liliane Weissberg

Lehrjahre des Gefühls – Wilhelm von Humboldt befreundet sich mit Henriette Herz

I.

Die Begegnung

Der erste Brief Wilhelm von Humboldts an Henriette Herz (1764–1847), der erhalten ist, datiert vom frühen Herbst des Jahres 1786. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) war zu dieser Zeit 19 Jahre alt, Henriette Herz drei Jahre älter. Es ist die erste schriftliche Spur ihrer Freundschaft. War dieser Brief aber tatsächlich der erste, den Wilhelm an Henriette schrieb? Die Geschichte, welche anhand der Korrespondenz des jungen preußischen Adligen und der verheirateten jüdischen Frau erzählt werden kann, und die sich in diesem und den folgenden Briefen entfaltet, muss mit großer Vorsicht geschildert werden.1 Denn Wilhelm von Humboldt, der bereits zu dieser Zeit ein eifriger Briefschreiber war, sollte nicht alle Briefe seiner Korrespondenten und Korrespondentinnen aufbewahren; die Briefe von Henriette Herz an ihn sind nicht mehr erhalten. Henriette Herz aber hob die an sie gerichteten Briefe auf, welche schließlich in den Besitz Karl August Varnhagens (1785–1858) gelangten, jenes eifrigen Autographenjägers und Gatten ihrer Freundin, der etwas jüngeren Rahel Levin Varnhagen (1771–1833). Heute lagern diese Schriftstücke weitab von den Lebensorten der beiden Briefschreiber als Teil der Varnhagen-Sammlung in Krakau.2 Sollte das Verhalten Wilhelms oder Henriettes zu den empfangenen Briefen bereits etwas über die Bedeutung ihrer Beziehung aussagen oder zumindest über ihr späteres Verhältnis zueinander? Henriette jedenfalls hatte die meisten Briefe anderer Korrespondenten dem Feuer übergeben. Neben 1 Zur Freundschaft von Henriette Herz und Wilhelm von Humboldt, siehe auch meinen Aufsatz: Das Projekt der Aufklärung und der „Tugendbund“. In: Literatur und praktische Vernunft. Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Frieder von Ammon, Gideon Stiening u. Cornelia R8mi. Berlin 2016, S. 465–484. Die Diskussion dort steht im weiteren Rahmen einer Untersuchung des Konzepts des „Tugendbunds“. 2 Die Varnhagensche Briefsammlung wurde während des Krieges mit anderen Teilen der Berliner Staatsbibliothek in ein schlesisches Kloster ausgelagert und befindet sich heute in der Bibliothek der Jagellonischen Universität Krakau.

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Wilhelms Briefen sollte aus der Zeit ihrer Ehe mit Marcus Herz (1747–1803) nur noch die Korrespondenz mit einem anderen jüngeren Verehrer überdauern, ihrem zeitweiligen Hausgast Ludwig Börne (1786–1837, 1786 war gerade das Jahr seiner Geburt).3 Die Freundschaft zwischen Wilhelm und Henriette ist also eine Geschichte, die einseitig und nur unvollständig erzählt werden kann, selbst wenn es sich die Protagonisten zum Ziel machen sollten, einander alles, wirklich alles zu berichten und dabei insbesondere ihr Gefühlsleben zu offenbaren. Es ist nicht nur eine heimliche Freundschaft. Es geht auch um etwas anderes, das nicht ans öffentliche Licht gebracht werden soll, nämlich das Innenleben des oder der Schreibenden. Die Briefschreibenden möchten einander zeigen, was niemand anderer als der oder die Schreibende wissen kann, und niemand anderer als der Empfänger oder die Empfängerin der Briefe erfahren soll. Damit bedeutet eine Wiedergabe der Briefinhalte hier eigentlich auch nichts anderes als einen Vertrauensbruch und Verrat. Indem die Briefe auf einem privaten Bereich bestehen, der öffentlich bekannten Verhaltensweisen oder Rollen entgegensteht, bestätigen sie auch ein relativ neues Konzept der Innerlichkeit und konstatieren ein Doppelleben des Individuums, das zwischen Gefühl und öffentlichem Handeln zu unterscheiden weiß. In dieser besonderen Insistenz auf dem Privaten und dem Öffentlichen sind die Briefe der Jüdin Henriette Herz, die wir nur indirekt durch Wilhelm von Humboldts Antworten kennen, und die Briefe des Adeligen Wilhelm von Humboldt etwas Neues, Drittes: Sie sind als solche private Briefe bürgerlich. Um das Geheime des Inhalts zu bewahren, versandten beide ihre Briefe heimlich. Aber nicht nur das Objekt (die Briefe), auch die Texte selbst sollten sich bedeckt geben. Sie wurden verschlüsselt. Wilhelm schrieb zwar in deutscher Sprache, aber seine ersten Briefe an Henriette sind in hebräischen Buchstaben verfasst. Er benutzte damit eine Schrift, die er zuvor von der Empfängerin der Briefe gelernt hatte und damit erbrachte er zugleich einen Beweis für den Erfolg ihrer Lektionen.4 Für die junge Frau war das Hebräische Teil einer jüdischen Überlieferung, und obwohl die Kenntnis dieser Sprache vor allem den Männern vorbehalten war, war die Schrift auch vom Jiddischen her Herz im Kontext ihrer eigenen Familie sowie der kleinen jüdischen Gemeinde zu Berlin vertraut. Für den Sohn eines preußischen Kammerherrn geriet sie zur Geheimschrift. Es war 3 Zu der Korrespondenz zwischen Henriette Herz und Ludwig Börne, siehe Liliane Weissberg: Weibliche Körpersprachen. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jutta Dick u. Barbara Hahn. Wien 1993, S. 71–92. 4 Siehe dazu Anmerkungen zu Wilhelm von Humboldt an Henriette Herz, Herbst 1786. In: Wilhelm von Humboldt: Briefe I: 1781–1791. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. u. komment. von Philip Mattson. Berlin 2014, S. 427.

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für ihn etwas Fremdes, Entferntes, das gleichzeitig mit der Annäherung an diese Frau verbunden war. Vielleicht könnte man sogar von einer Erotik der hebräischen Lettern sprechen, denn im Fortgang wird Wilhelm Henriette immer wieder von seiner Zuneigung, ja Liebe zu ihr berichten. Doch für wen waren sie wirklich eine Geheimschrift? Das Hebräische war natürlich dem Ehemann Henriettes, ihren Verwandten und auch Freundinnen bekannt; selbst Wilhelms jüngerer Bruder Alexander (1769–1859) wollte die hebräische Schrift studieren.5 Das Geheimnis sollte damit im Besonderen vor seinem Hauslehrer und Hofmeister Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829) bestehen. Änderte sich Wilhelms Einstellung zu seinen Briefen, als Henriette ihn nach einiger Zeit des Austausches anwies, zu den deutschen Lettern zurückzukehren?6 Während die hebräischen Buchstaben fremde Leser ausschließen, stellt sich die Frage, wen sie miteinschließen sollten; mit wem oder was Wilhelm nun in einen vertraulichen Bund trat. Wilhelm näherte sich Henriettes religiösem und kulturellem Bereich, indem er gleichzeitig sein sich artikulierendes Interesse für Fremdsprachen betonte. Zu dieser Zeit war es aber vor allem das Interesse für das Altgriechische, das ihn zu einer frühen Schrift zu Sokrates und Platon inspirierte, die er auf Anraten Kunths 1787 in Zöllners Lesebuch für alle Stände zur Beförderung edler Grundsätze, echten Geschmacks und nützlicher Kenntnisse veröffentlichen sollte.7 Mit seinen Briefen defamiliarisierte er umgekehrt die hebräische Sprache von ihrem tradierten Kontext für Henriette, da er sie nicht zuletzt in eine säkulare verwandelte. Beide Korrespondenten erkannten vielleicht die Ironie, mit der sich dieser Austausch von Briefen in eine Reihe deutscher Texte fügte, die in hebräischen Buchstaben geschrieben wurden. Diese Tradition begann nicht mit Freundschafts- oder Liebesbriefen, sondern mit Moses Mendelssohns Bibelübersetzung. Mittels der Lektüre der fünf Bücher Mose wollte Mendelssohn (1729–1786) die deutsche Sprache den Berliner Juden näherbringen. Seine Übersetzung gilt heute nicht nur als bedeutendes Werk, das eine Akkulturation der Juden ermöglichen sollte, sondern auch als ein Beginn der jüdischen Aufklärung oder Haskala. Der Ort der ersten Begegnung von Wilhelm und Henriette war öffentlich und respektabel; es war auch die Adresse seiner Briefsendungen. „Wie oft werde ich mich noch mit innigstem Vergnügen an die letztvergangne Woche erinnern!“, beginnt der erste erhaltene Brief Wilhelms: 5 Siehe Humboldt, Brief an Herz, 25. Mai 1788. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 97. 6 Siehe Humboldt, Brief an Herz, 9. [?] Dezember 1787. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 75–76. 7 Siehe Humboldt: Platon und Sokrates über die Gottheit, über die Vorsehung und Unsterblichkeit (1785/87). In: Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Werke I: 1785–1795. Hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1903, S. 1–44 und Peter Bruno Stadler : Wilhelm von Humboldts Bild der Antike. Zürich 1959, S. 14–15.

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Seit langen, langen Jahren ist mir keine so angenehm verstrichen. Erst sah ich Sie Dienstag, dann empfing ich ihren lieben freundschaftlichen Brief, Freitag konnte ich beinah den ganzen Nachmittag mit Ihnen, und Ihrer vortrefflichen Freundin – o grüßen Sie sie doch tausendmal von mir – allein sein, und dann noch ihr gütiges Geschenk. Ich kann Ihnen nie genug für alles danken, theuerste Freundin, ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon so oft sagte, und was gewiß so ganz wahr ist, daß ich jede recht glückliche Stunde nur Ihnen danke.8

Seit „langen, langen Jahren“ – was heißt dies für einen 19-jährigen Mann? Wilhelm beginnt sein Schreiben in medias res; er will ein Gespräch fortsetzen, das er bereits mündlich begonnen hatte und somit vom häuslichen Innenraum zum schriftlichen Raum der Briefseite wechseln. Dabei wissen wir nicht, um welches Geschenk es sich handelt, das Henriette ihm neben einer glücklichen Stunde der Konversation offeriert hatte. Die Begegnungen, auf die Wilhelm sich bezieht, waren wahrscheinlich nur bedingt privat, schließlich war bei ihrem Treffen noch eine Freundin Henriettes anwesend. Diese Dritte ist Brendel Veit (1764–1839), die älteste Tochter Mendelssohns, die mit dem Bankier – und Schüler ihres Vaters – Simon Veit (1754–1819) verheiratet war. Auch sie war zu dieser Zeit, wie Henriette, 22 Jahre alt. Interessanterweise wirkte ihre Präsenz auf Wilhelm aber gar nicht störend, sondern eher angenehm; der junge Mann fühlte sich in der Gesellschaft der beiden jungen Ehefrauen wohl. Dabei waren die drei wahrscheinlich nicht einmal die einzigen Menschen im Raum. Das Ehepaar Herz lud oft Gäste ein; jeden Dienstag stand ihr Haus Freunden und Bekannten offen und auch am Freitagnachmittag, vor dem anbrechenden Schabbat, empfingen sie Besucher. Somit sind es erst die Briefe, welche andere Gäste ausblenden und die Begegnung der Korrespondenten in den Bereich der Intimität rücken konnten.

II.

Das Bildungsprogramm

Die Briefe Wilhelms an Henriette zeigen nicht nur eine sich anbahnende Freundschaft, sondern auch den Fehlschlag eines Besuchs- und Bildungsplans. Kunth, der als Hofmeister für beide Söhne der Familie Humboldt diente, hatte um 1785 beschlossen, das Unterrichtsprogramm der beiden Brüder zu erweitern.9 Im Kontext der Aufklärung bestand er darauf, dass seine Zöglinge sich mit den Naturwissenschaften vertraut machen sollten. Zum Abschluss der Jahre des Privatunterrichts und zur Vorbereitung der Universitätszeit, die für beide an der 8 Humboldt, Brief an Herz, nach September 1786. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 31–32. 9 Briefe der Brüder Humboldt, die von den Besuchen im Haus Herz schreiben, sind ab 1785 erhalten.

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preußischen Universität Frankfurt an der Oder geplant war, hatte Kunth seine Schützlinge daher in das Haus des Arztes und Philosophen Marcus Herz eingeführt. Zwei Lehrer im Humboldt’schen Hause, der Philosoph Johann Jakob Engel (1741–1802) und der Staatsrechtler Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820), gingen bereits im Herz’schen Hause ein und aus, bevor auch Kunth die Verbindung zu Herz knüpfte. Vorlesungen von Engel, Dohm und anderen sollten die Brüder zu dieser Zeit ebenfalls besuchen. Herz hatte in Königsberg Medizin studiert und wurde dort auch mit Immanuel Kant bekannt. In Berlin war er praktizierender Arzt, jedoch verfasste er auch philosophische Schriften.10 1776 hatte Herz damit begonnen, in seinem Hause Vorträge über die Kant’sche Philosophie und physikalische Phänomene zu halten und auch nach seiner Heirat 1779 mit der 17 Jahre jüngeren Henriette führte er wöchentliche Vorlesungen in seiner Wohnung in der Spandauer Straße 53 weiter. 1782 übernahm er die Leitung des Jüdischen Krankenhauses von seinem Schwiegervater, Benjamin de Lemos (1711–1789), und wurde als einer der führenden Ärzte Berlins anerkannt. Da diese Stadt keine Universität besaß, gehörten seine Veranstaltungen zu einem willkommenen und sehr geschätzten intellektuellen Angebot. Das Herz’sche Haus war als ein Zentrum der Gedanken der Aufklärung bekannt, unbenommen der Tatsache, dass Herz selbst die nach seiner Abreise aus Königsberg verfassten großen Kritiken seines Lehrers Kant kaum noch verstand und sich beide auch intellektuell voneinander entfernt hatten.11 Was Herz den Brüdern Humboldt bieten konnte, war somit keineswegs eine philosophische Avantgarde, und diese hätte Kunth wahrscheinlich weder gesucht noch erwartet. Als Person verkörperte Herz jedoch eine wichtige politische Lektion. So konnten die Brüder Humboldt, die es in dieser Zeit von ihrem Wohnsitz Tegel, jenem „Schloss Langeweile“,12 wie sie es nannten, in ihre Berliner Stadtwohnung verschlug, nicht nur einen jüdischen Gelehrten kennenlernen, sondern auch einen frischgebackenen jüdischen Hofrat. Der Fürst von 10 Vgl. Christoph Maria Leder : Die Grenzgänge des Marcus Herz. München 2007, S. 14. Friedrich Wilhelm IV. genehmigte später auch eine Witwenrente für Henriette Herz; siehe Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 2013, S. 618. Hinsichtlich einer intellektuellen Biographie von Marcus Herz, siehe Martin Davis: Identity or History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit 1995. Johann Gottfried Schadow übersandte 1845 dann Friedrich Wilhelm IV. ein Jugendbildnis von Henriette Herz, gemalt von Elise Fraenkel. Siehe Angelika Wesenberg: Zwischen Aufklärung und Frühromantik. Jugendjahre in Berlin. In: Johann Gottfried Schadow und die Kunst seiner Zeit. Hrsg. von Bernhard Maaz. Köln 1994, S. 41–47, hier S. 47. 11 Aber auch Moses Mendelssohn, der Kant sehr schätzte, war eher der frühen Aufklärung und besonders dem Hallenser Philosophen Christian Wolff als dem Kant der Kritiken verbunden. 12 Alexander von Humboldt datierte seine frühen Briefe an Henriette Herz aus „Schloss Langweile“. Siehe dazu auch Manfred Geier : Die Brüder Humboldt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 56.

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Waldeck, den Herz auf einer Badekur in Pyrmont traf und behandeln sollte, hatte ihm diesen Titel 1785 verliehen. Daheim in Preußen hätte es Herz kaum zu einer vergleichbaren Ehrung bringen können. Obwohl die Brüder Humboldt an diesen Dienstags- und Freitagstreffen teilnahmen, sind keine Notizen oder Briefe der beiden erhalten, die Herzens’ Ausführungen kommentieren, nur andere Vorlesungen, etwa jene von Ernst Ferdinand Klein (1744–1810).13 Es existieren aber jene Briefe Wilhelms an Henriette. Die Beziehung Wilhelms zu Marcus Herz’ Ehefrau war sicherlich nicht von Kunth geplant. Dabei zeigte auch Henriette Herz Eigeninitiative im gesellschaftlichen Bereich. Während die Vorlesungen von Marcus Herz an eine wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit gerichtet waren, lud sie – neben ihrer Aufgabe, ein gastliches Haus für ihren Ehemann zu führen – Freundinnen und Bekannte ein. Henriettes Teetisch, der, dem Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764–1850) zu Folge, zur gleichen Zeit und – zumindest metaphorisch – im Nebenzimmer ausgerichtet wurde,14 beruhte auf einer offenen Gastfreundschaft anderer Art. Sie richtete sich vor allem an jüngere Gäste, die weniger an den Naturwissenschaften als an der neuen empfindsamen Literatur Interesse zeigten. Hier waren auch Frauen vertreten. Henriette lud ihre jüdischen Freundinnen ein, die in der Regel ebenfalls bereits verheiratet waren, zum Teetisch jedoch ohne ihre Ehemänner erschienen, sowie junge Aristokraten, Schriftsteller und Besucher Berlins. Wahrscheinlich begann dieser Teetisch als Lesegesellschaft – Wilhelm schien die Vorlesekünste Henriettes wie auch ihrer engen Freundin Brendel Veit zu schätzen.15 Aber der Teetisch bot auch die Gelegenheit, Gespräche zu führen und gesellschaftliche Ereignisse zu kommentieren. In Berlin, wo sich um 1780 die Amüsements auf Opern- und Theateraufführungen, Militärparaden und Bordellbesuche beschränken mussten, war Henriettes Teetisch eine gute, wichtige und intellektuell anregende Alternative. In den Schriften späterer KulturwissenschaftlerInnen wurde dieser Kreis um Henriette dann zum ersten Berliner Salon deklariert.16 Henriettes stadtbekannte Schönheit half dabei, Gäste anzuwerben. Für ihre nicht-jüdischen Gäste schien die Gastgeberin besonders originell. Ein jüdischer Hofrat mochte bereits selten sein, aber wo fand man eine Frau, die begeistert Fremdsprachen studierte und damit auf ihre Weise einem linguistisch interessierten jungen Mann wie Wilhelm kontra bieten konnte? Bei ihr fanden sich auch 13 Siehe dazu Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt. Berlin 2011, S. 26. 14 Johann Gottfried Schadow: Kunst-Werke und Kunst-Ansichten. Berlin 1849, S. XIX–XX. 15 Siehe Humboldt, Tagebucheintragung vom 8. Oktober 1788. In: Wilhelm von Humboldt: Wilhelm von Humboldts Tagebücher. Hrsg. von Albert Leitzmann. 2 Bde. Berlin 1916, hier Bd. I, S. 49. 16 Siehe Liliane Weissberg: Kein Ort, nirgends. Gedanken zum jüdischen Salon. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 9 (2003), S. 119–144.

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andere jüdische Frauen ein, die neben der sogenannten schönen Literatur auch philosophische Schriften lasen – etwa Brendel Veit. Aber an Henriette Herz’ Teetisch wird auch evident, wie sehr sich die Lebensräume der jüdischen Frauen in den letzten Jahren verändert hatten. Moses Mendelssohn verbot den jungen Frauen noch das Lesen von Romanen, die er für sie als zu gefährlich empfand. Marcus Herz betrachtete die Lektüre von Romanen lediglich als unverständlichen Zeitvertreib. Dass Frauen wie Henriette durch die Lektüre von Jean-Jacques Rousseaus Nouvelle Helo"se oder Goethes Werken auch eine andere Welt kennenlernen würden, war eine wohl nicht gewollte Konsequenz. Besonders mit Rousseau eröffnete sich ihnen der Gedanke einer Bildung, bei der ein Mensch vom Keime her wachsen und sich entfalten konnte. Der Kreis um Henriette erweiterte sich, um wie bei den Vorlesungen ihres Mannes auch nicht-jüdische Gäste aufzunehmen. Diese suchten mitunter mehr als Konversation, oder sahen diese nur als einen Schritt zu einer Modifikation ihrer Lebensentwürfe, die als persönliches Wachstum verstanden werden konnte. Einige früh verehelichte jüdische Frauen beschlossen nach Besuchen in ihrem Haus, sich von ihren ungeliebten Partnern zu trennen und befreundeten sich mit nicht-jüdischen Verehrern.17 Henriettes Freundin Brendel Veit etwa lernte dort 1797 Friedrich Schlegel (1772–1829) kennen und trennte sich von Veit, um mit Schlegel zu leben und diesen schließlich auch zu heiraten.18 Henriette blieb die Ehefrau des Marcus Herz, es sind Briefe, die neue soziale Perspektiven und alternative Bindungsmöglichkeiten zeigen. Das Beachtliche der Briefe Wilhelms an Henriette ist, dass sie selbst so klingen, als würden sie aus einem Roman stammen; sie sind an der Lektüre Rousseaus geschult und ähneln den Briefen Werthers. Goethes Die Leiden des jungen Werther hatte bei seiner Publikation 1774 eine literarische Sensation ausgelöst. Wie die Briefe Werthers an seinen Freund in Goethes Briefroman – auch dieses Werk zeigt nur eine einseitige Korrespondenz ohne Gegenbriefe – enthalten die Briefe Wilhelms, die nun realiter an Henriette versandt wurden, Erläuterungen von Empfindungen, Reflektionen über Gefühle, die auf ihre Weise Aufklärung vermitteln wollten. Interessanterweise sollte Wilhelm das Goethe’sche Buch wahrscheinlich erst 1789 während seiner Studienzeit in Göttingen, die seinem Aufenthalt in Frankfurt an der Oder folgte, lesen.19 17 Hierzu besonders Deborah Herz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Übersetzt von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt a. M. 1991. 18 Brendel Mendelssohn (1764–1839) hatte zwei Söhne mit dem Kaufmann und Bankier Simon Veit, nämlich die späteren Maler Philipp (Feibisch) und Johannes (Jonas) Veit. Brendel nahm später den Namen Dorothea Friederike an. 19 Walter Horace Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation. ,Bildung‘ from Humboldt to Thomas Mann. Cambridge 1975, S. 4.

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In Wilhelms Briefen steht Henriette dabei nicht im Mittelpunkt und sie sind von seltsam didaktischer Art. Er belehrt seine Freundin darin weder über die Medizin oder Physik noch über die Kant’schen Schriften. Er belehrt sie über sich selbst: Henriette sollte Wilhelm erfahren und kennenlernen, und diese briefliche Selbstdarstellung half ihm wiederum, sich selbst zu verstehen. Was er in seinen Briefen wiedergab, zeigte sich als Bildungsroman im Kleinen. Er beschrieb seine Schulung weniger hinsichtlich des akademischen Studiums der Geschichte und Wissenschaften, für das er sich erst nach seinem zwölften Lebensjahr engagieren sollte – war das wirklich so spät, wie er meinte? Wilhelm sollte seine frühe Jugend später auch einfach als von „Leidenschaftslosigkeit“ geprägt beschreiben.20 In dem Brief an Henriette steht dieses Studium auch nicht im Mittelpunkt, sondern die gefühlte Leidenschaft. Es war eine andere Bildung, von der er der jungen Frau erzählen mochte: Es war die Bildung seines Herzens. Im Vorjahr, also 1785, hatte sich Wilhelm von Humboldt zum ersten Mal verliebt. Es war eine schwärmerische Sommerliebe, von der ihm ein Schriftstück als Beweis blieb, nämlich sein eigener Abschiedsbrief an die Geliebte, den er ihr dann doch nicht geschickt hatte. Dies konnte nun nicht die einst Angebetete, sondern den schreibenden Liebhaber erneut zum Leser seiner Zeilen machen; die Liebe spiegelte sich in seinen eigenen Worten und in seinem eigenen Gefühl. Nach der Trennung von dem Mädchen stellte sich bei ihm zunächst eine trübe und melancholische Stimmung ein, die aber durch ein ruhiges Nachdenken abgelöst wurde: „Ich sahe nun die Geschichte des Sommers mit andren Augen an, als vorher. Ich wurde wieder heitrer, ich fing an, weniger an meine vorige Liebe zu denken […]“.21 Doch diese Ruhe sollte nicht lange währen: [N]ur wenige Wochen, so wurde ich, der ich mich vorher hatte durch eine verstellte Empfindsamkeit hintergehen lassen, und der ich jetzt dieß als eine thörichte Leichtgläubigkeit verlachte, durch einen ganz entgegengesetzten Charakter betrogen. Eine Kokette, die viel in der Welt erlebt hatte, und sich meisterhaft darauf verstand, jedermanns Schwachheiten zu entdecke[n], und zu benutzen, sonst ein kluges kenntnißreiches Mädchen, die aber fern von aller wahren und falschen Empfindsamkeit, nur der kältesten Galanterie fähig war, diese wußte mich jetzt so an sich zu fesseln, daß sie meinem Herzen schon unentbehrlich war, ehe ich noch gewahr wurde, daß ich sie liebte.22

Die Schule der Gefühle war für Wilhelm von Humboldt noch nicht abgeschlossen. Während die erste Sommerliebe nach einem ersten Glück in nachträglichem Liebeskummer endete, so war es hinsichtlich der neuen Liebe anders. „Man bildet sich immer nach dem, was man liebt“, fasst der inzwischen klüger 20 Stadler : Wilhelm von Humboldts Bild der Antike (Anm. 7), S. 13. 21 Humboldt, Brief an Herz, nach September 1786. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 33. 22 Ebd.

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gewordene Wilhelm zusammen, „dieß ist eine Wahrheit, die ich damals bestätigen mußte“.23 Seine Liebe zu der koketten und bereits welterfahrenen Frau resultierte aus einer Lust nach feiner Kleidung und einem Drang, sich in das Gesellschaftsleben zu stürzen. Dies waren sicherlich Oberflächlichkeiten, wie er bald erkennen musste, allerdings auch eine Entwicklung, die von seiner Mutter begrüßt und unterstützt wurde. Er erschien als Mann von Welt. Jahre später sollte Henriette Herz ihrem Biographen und Herausgeber ihrer Erinnerungen J. Fürst gegenüber bemerken, dass sie es war, die den jungen Wilhelm von Humboldt „gewissermaßen“ in die Welt eingeführt hatte.24 An welche Welt mochte Wilhelm in seinem Brief, an welche Welt Henriette in ihren Erinnerungen denken? Und welche Reaktion erwartete Wilhelm auf diese Zeilen, in denen Henriette sowohl eine andere weibliche Ansprechpartnerin war wie auch die Zeugin anderer Beziehungen? Er wollte Henriette belehren, aber sie sollte auch als sein Spiegel wirken. Und er verließ sich darauf, dass Henriette seine Briefe wirklich las. So wies er auch Ephraim Beer, einen Medizinstudenten, der bei Marcus Herz arbeitete und bei ihm Hausgast war, an, seinen Brief an ihn ebenso Beers „vortrefliche[r] Freundin“ Henriette zu zeigen.25 Wilhelm kokettierte mit Warnungen an diese: „Sie will sich ja einmal durch alle meine Warnungen nicht abschrekken lassen, diese Zeilen zu lesen, und in der That, wenn sie eben so streng richtet, als sie gut richten kann; so zittre ich. Bitten sie ja für mich.“26 Beer muss von der Korrespondenz zwischen den beiden gewusst haben, denn wenig später heißt es: „Ich schreibe Ihnen durch die Hofräthin“.27 Erwartete er überhaupt eine Antwort? Man konnte Henriette Herz zwar zuhören, wenn sie sprach oder las, aber sie war vor allem eine geduldige Zuhörerin anderer, eine passive Qualität, die oft gelobt wurde. Radikale Entscheidungen traf sie nicht. Ihre Präsenz war vielleicht wichtiger als ihre Worte. Folgt man den Briefen Wilhelms, so kann man eine Art psychoanalytischer Situation avant la lettre erkennen, bei der Henriette die Herzensergießungen des jungen Mannes empfing; dies wird sehr deutlich, obwohl wir die Briefe, die sie schrieb, nicht kennen. Henriettes Rolle als Ansprechpartnerin im Haus oder durch den Brief half Wilhelms Selbstfindungsprozess. Von ihrem eigenen Selbstfindungsprozess, der möglicherweise parallel stattgefunden hat, wissen wir wegen der Ver23 Ebd. 24 In Henriette Herz’ Erinnerungen heißt es: „Ich führte ihn gewissermaßen in die Welt ein.“ Herz: Erinnerungen (Anm. 10), S. 76. 25 Humboldt, Brief an Ephraim Beer, vor 1. Oktober 1787. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 63. 26 Humboldt, Brief an Ephraim Beer, vor 1. Oktober 1787. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 63. 27 Humboldt, Brief an Beer, 30. (?) November 1787. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 67.

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nichtung der Briefe aus ihrer Feder nur wenig. Dabei war doch gerade diese Frau durch ihre Sichtbarkeit berühmt; ein Stadtführer für das Berlin der damaligen Jahrhundertwende sollte die schöne Henriette als eine Sehenswürdigkeit bezeichnen, die man nicht missen sollte.28 Kunths geplante Ausflüge gerieten für Wilhelm nun weniger zu Lehrstunden bei Marcus Herz, als zu Lehrstunden des Herzens bei dessen Frau; statt Thesen zur Aufklärung verfolgte er seine 8ducation sentimentale. Die unerwartete, ungeplante Freundschaft zwischen dem aristokratischen Zögling und der jungen jüdischen Frau produzierte eine Form der Geselligkeit, die wenig mit Herzens philosophischen Gesprächen oder Henriettes Teetisch gemein hatte und bislang wenig Beachtung erlangte. Dieses dritte Modell war nicht durch gesellschaftliche Inklusion, sondern durch Exklusion geprägt, durch eine vorsichtige Wahl der Gesprächspartner und Korrespondenten, mit denen man sich nicht eigentlich austauschen, sondern denen man sich offenbaren wollte. Denn die Beziehung zwischen Wilhelm und Henriette wurde bald auch brieflich erweitert. Wilhelm schrieb bald an sie und Brendel Veit und sah sie beide als seine Verbündeten. Der schöne junge Adlige Carl von La Roche (1766–1839), Sohn der Schriftstellerin Sophie von La Roche (1730–1807), die den ersten deutschen Briefroman verfasste, kam hinzu; Henriettes Bewunderung für ihn wurde von Humboldt kommentiert.29 Diese hatte Carl von La Roche auf einer Reise zur Leipziger Messe getroffen, die sie mit der Levin’schen Familie unternahm; er fand sich dann 1786, ebenfalls aus pädagogischen Gründen, im Herz’schen Hause ein. Mit und um Henriette und Wilhelm bildete sich somit ein geheimes Bündnis, das geheim sein konnte, weil es sich im kleinsten Zeichen verbarg. Ein Wort, einen Namen gar, gab es für dieses Bündnis nicht. Wilhelm sollte das Zeichen, das sich nun jenseits des Artikulierbaren befand, erfinden: Es war ein Kreis mit einem gesetzten Mittelpunkt: þ Es ist schwer, in diesem Kreis und diesem einen Punkt mehr als eine einzige, sich selbst reflektierende Person zu sehen. War Henriettes Teetisch dem Dialog verbunden, so bezeichnete dieses Zeichen das Umgekehrte; das geheime Bündnis bestand aus fortgesetzten Monologen. Karl August Varnhagen, der einige Briefe erwarb, fand seine eigene Deutung für das Geheimzeichen des Bündnisses und ergänzte mit ihr den Text. Für ihn bedeutete es etwas, was ihm bereits von den Freimaurern her bekannt war :

28 Siehe Karl August Böttiger; zitiert bei Petra Wilhelmy : Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 73), Berlin 1989, S. 59. 29 Siehe Humboldt, Brief an Caroline von Beulwitz, 26. Oktober 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 226–227 und besonders Humboldt, Brief an Caroline von Dacheröden, 14. November 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 352.

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„Loge.“30 Aber keiner der Verbündeten sah sich als Logenmitglied im Sinne etwa der Freimaurer, weder Wilhelm noch Carl, die Frauen ohnehin nicht. Nicht von Weltveränderung war hierbei die Rede, nur von Selbsterkenntnis. Dass dieser Bund später, und gerade in der von Fürst redigierten Fassung der autobiographischen Notizen Henriettes, als „Tugendbund“ bezeichnet wurde, entsprach nicht der damaligen Realität, noch waren die Mitglieder so zahlreich, wie sie später in Fürsts Darstellung erscheinen, in der Henriette Herz angeblich schreibt: In dem Kreise der Bekannten wurde bald darauf ein Bund gestiftet, in welchen wir nach und nach auch uns persönlich Unbekannte, deren ernstes Streben und deren Bedeutung uns durch gemeinschaftliche Freunde kundgeworden war, hineinzogen. Der Zweck des Bundes, eine Art Tugendbund, war gegenseitige sittliche und geistige Heranbildung sowie Übung werktätiger Liebe. Er war ein Bund in aller Form, denn wir hatten auch ein Statut und sogar eigene Chiffern, und ich besaß noch in späteren Jahren manches von der Hand Wilhelms von Humboldt in diesen Chiffren Geschriebene. Zu den Mitgliedern gehörten unter anderen Karl von la Roche […], Dorothea Veit und ihre Schwester Henriette Mendelssohn, aber auch die uns persönlich unbekannten: Caroline von Wolzogen, Therese Heyne […], und Caroline von Dacheröden, mit welchen ein brieflicher Austausch von Gedanken und Gefühlen stattfand.31

Carl verehrte Caroline von Dacheröden (1766–1829), die auf Burgörner und in Erfurt lebte, und stellte sie Wilhelm vor ; Caroline wurde in den Bund aufgenommen, obwohl die beiden anderen Frauen sie persönlich gar nicht kannten. Schließlich kam noch ein sechstes Mitglied und damit eine vierte Frau hinzu. Caroline schlug eine Freundin vor, die unglücklich verheiratete Caroline von Beulwitz (1763–1847) aus Rudolstadt. Nun statteten Carl und Wilhelm als Emissäre des Bündnisses Besuche bei jener anderen Caroline ab, die ebenfalls

30 Siehe die Abbildung der Notiz Karl August Varnhagens in Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 123. 31 Herz: Erinnerungen (Anm. 10), S. 76–77.

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den Test bestand und ein korrespondierendes Mitglied der kleinen Gruppe wurde.32 Wilhelms Aufmerksamkeit aber richtete sich bald nur noch auf Caroline von Dacheröden. Es war jedoch Caroline von Beulwitz, die eine besondere Aufgabe von ihm erhielt. Wilhelm leitete sie im März 1789 dazu an, offizielle Statuten für den geheimen Bund zu formulieren, welche er bereits zuvor in seinen Briefen an sie vorgab. „[U]nverbrüchliche Verschwiegenheit“ war die erste Regel des Bundes, die er formulieren sollte, dagegen sollte jedes Mitglied „völlig frei“ gegenüber den Personen im Bund wie auch gegenüber anderen außerhalb des Bundes bleiben. Das „gegenseitige Vertrauen“ sollte im Zentrum stehen, denn nur durch dieses konnte der Zweck des Bundes erfüllt werden, nämlich die „moralische Ausbildung“.33 Dies ist der Anfang vom Ende. Wilhelm von Humboldt und Caroline von Dacheröden gingen eine Beziehung ein, die in kurzer Zeit zur Verlobung und alsbald auch zur Hochzeit führen sollte. Für andere gab es keinen rechten Platz mehr in diesem neuen Bund und sicherlich nicht mehr für Henriette Herz. Sie hörte daher auf, die Leserin von Wilhelms Briefen zu sein, und wurde stattdessen zum Thema seiner Briefe an Caroline. Ganz so wie er einst seine Jugendfreundin Henriette schildern sollte, werden die Schilderungen Henriettes nun Teil der Brautwerbung Carolines. Henriette Herz gerät dabei zu einem Objekt, das er im Zuge seiner Herzenserziehung hinter sich lassen musste. Sie war ihm unverständlich geworden. Hatte es einst eine Vertrautheit mit ihr gegeben, welche seine Geständnisse zuließ, so wurde sie nun zu einer Wegmarke, die er zurücklassen musste. Er forderte Distanz. Im September 1788 schrieb er noch an Caroline: „Den grösten Theil der Bildung meines Herzens dank ich unserer J[ette]. Wie geändert bin ich, seit ich sie kenne. Aber schon lange bin ich von ihr entfernt. Schon ein ganzes Jahr“.34 Nun folgte eine Rechnung. Ein Jahr des Abstands zu Henriette ließ sich nicht mit den 14 Tagen vergleichen, die Wilhelm nun von Caroline getrennt sein musste: Denn was sind 14 kurze, schnell verrinnende Tage! Und wenn wir Männer so allein sind, so ohne Umgang für die Empfindung, und so vorzüglich in gewissen Lagen, wie in 32 Diskussionen um die Aufnahme Caroline von Beulwitz’ ins Bündnis und Besuche bei ihr erfolgten kurz nach der Aufnahme ihrer Freundin Dacheröden; siehe die Korrespondenz Wilhelm von Humboldts mit Dacheröden aus dem Jahr 1788; z. B. Wilhelm von Humboldt, Brief an die Verbündeten in Berlin (Henriette Herz und Brendel Veit), 11. November 1788. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 121. Caroline von Lengefeld (1763–1826) war unglücklich mit dem älteren, doch wohlhabenden Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz verheiratet, sie ließ sich später scheiden und heiratete ihren Vetter Wilhelm von Wolzogen. 33 Humboldt, Brief an Beulwitz, 20. März 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 173–174. 34 Humboldt, Brief an Dacheröden, 1. September 1788. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 109.

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der, in der ich jezt bin, da werden wir gar nicht gut. Da werden wir eitel, rauh, stumpf gegen die höheren Gefühle.35

Erschien Henriette zunächst positiv im Kontext der ganzen Gruppe gesehen,36 so war ihr Urteil nun nicht mehr gefragt. Caroline musste sie als Richterin ersetzen und Wilhelms Gefühlsleben kommentieren: Du mußt mir noch einen Gefallen tun, meine Liebe. Du weißt, K.[arl] und die Weiber nannten mich oft schwärmerisch; ich sprach mit Dir in Erfurt davon, und auch Du sprachst mich in gewissen Augenblicken nicht frei davon. Erkläre mir das jetzt näher. Sehr leicht ist es möglich, daß Ihr recht habt, und ich glaub es, weil Ihr so einstimmig darin seid; allein ich möchte doch genau wissen, worin nun gerade meine Art der Schwärmerei besteht, worin sie sich äußert. Ich weiß sonst nicht recht, wie ich ihr entgegenarbeiten soll. Sonderbar ist es, daß man mir ehemals immer den Vorwurf der Kälte und Fühllosigkeit machte, und mit Recht. Ich denke gern darüber nach, wie unerwartete Wendungen der Charakter oft nimmt. Aber zugleich macht es mich traurig. Denn so wie er ehemals unvorgesehen eine andere Richtung erhielt, so kann er sie auch jetzt noch erhalten. Und bedenkt man nun, wie das alles weit mehr aus Lagen und äußern Umständen fließt, als aus dem, was in uns ist, so ist das eine sehr niederschlagende Betrachtung. Das einzige, was mich beruhigt, ist, daß es doch eine gewisse Festigkeit des Charakters gibt, die, wenn man sie einmal erlangt hat, jenen zufälligen Umständen nicht mehr stark zu wirken erlaubt. Oft glaub ich nun diese Festigkeit erlangt zu haben, aber vom Glauben bis zur Gewißheit, welche ungeheure und für Menschen wahrlich unüberspringbare Kluft!37

Zwar glaubte Wilhelm zunächst noch nicht, dass sich ihr Urteil von dem der anderen Mitglieder des Bundes unterscheiden würde: „Nicht alle, meine Lina, urteilen von mir wie Du, wie Karoline [von Beulwitz], wie die Weiber [Henriette und Brendel] und Karl. Es gibt Menschen, die mich fühllos, mürrisch, menschenfeindlich nennen […].“38 Seine negative Erscheinung mochte Resultat der freudlosen, schattenreichen Kindheit und Jugend unter dem Hausmeister Kunth sein.39 Aber ab Januar 1790 häufen sich in seinen Briefen an die Braut bereits negative Äußerungen zu den „Weibern“ und Carolines Urteil wird nun höher als das der anderen geschätzt: Aber freilich hat Brendel nicht genug sanfte Liebenswürdigkeit im Charakter, haben beide [Henriette und Brendel] zu wenig inneren Gehalt der Empfindung und des Geistes und – vorzüglich Brendel – zu wenig Schönheitssinn, zu wenig Grazie im Inneren und Äußeren. Gegen zehnmal „Das ist recht, das ist gut“ hört man kaum 35 Ebd. 36 Siehe etwa Humboldt, Brief an Dacheröden, 7. [?] Januar 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 149. 37 Humboldt, Brief an Dacheröden, 20. März 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 177–178. 38 Humboldt, Brief an Dacheröden, 22. u. 30. Mai 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 189. 39 Ebd.

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einmal von ihnen „Das ist schön“. Ach! und wen nicht das Schöne als Schönes hinreißt, wer es nicht schön empfängt und schön darstellt – der vermag nicht wahrhaft zu genießen und wahrhaft zu geben! Bei allen wahrhaft großen Weibern ist das so stark.40

Die schöne Henriette scheiterte paradoxerweise am ästhetischen Sinn. Dabei hörte sie für Wilhelm von Humboldt auf, Frau zu sein. Sie wird zum Kind: Die Jette ist ein so närrisches Geschöpf. Sie ist, ich möchte nicht sagen, so kindlich – das drückt sich anders aus – auch nicht kindisch – aber so kindähnlich. Ich habe nie etwas so Verlangenreiches gesehen. Nach allem streckt sie die Hände aus. Alles will sie haben, sein. Beständig macht sie Pläne, Projekte, und „morgen tue ich das“, „was tust Du morgen?“ u.s.f., immer im zukünftigen Augenblick. Was sie denkt und empfindet, ist so voll und ganz und schnell, daß sie gar nicht begreifen kann, wie nicht jeder das auch denken und empfinden müßte. Daher ihre Intoleranz. Selbstständigkeit hat sie gar nicht, dafür hängt sie auch mit so treuer, inniger Zärtlichkeit an einem, daß sie rühren müßte, wenn man sie auch nicht liebte, und so ohne Stolz, daß sie zufrieden sein könnte, nur aus Mitleid geliebt zu werden. Wenn ich mehr Muße habe, schreibe ich Dir mehr von ihr.41

Gerade in dem Augenblick, in dem es keine Vertraulichkeit mehr zwischen Wilhelm und Henriette geben konnte, als sich auch der Unterricht von dem der Gefühle zu dem der italienischen Sprache – einer Sprache der Kunst – wandeln sollte, die nun Wilhelm Henriette lehren wollte, kann Wilhelm nicht mehr nur über sich selbst an sie schreiben, sondern nur über Henriette an eine Dritte, Caroline.42 Und Henriette erscheint in diesen Briefen in keinem positiven Licht mehr, sondern als „ein sonderbares Weib, wirklich so kleinlich, von wenig innerem Gehalte.“43 Selbst ihre eigenen Zeilen scheinen ihm nun lächerlich44 : Mit Jetten bin ich sehr auseinander gekommen. Ich kann mir nicht helfen, sie erscheint mir so ganz anders, als ich sie sonst in den Träumen meiner Phantasie sah. So wenig wahres und tiefes Gefühl, selbst mit Karl nicht, so viel Selbstsüchtiges, Kleines, Eitles, und so viel Laune, dann selbst wenig Güte. Des Mangels an Delikatesse, noch mehr an Grazie, will ich nicht einmal gedenken.45

Wilhelms Bund mit Caroline wird daher deutlich gegen Henriette und die einstige Beziehung zu ihr begründet: Ich würde glauben, ich irrte mich, wenn nicht Brendel und ihre übrigen Vertrauten im Grunde ebenso von ihr dächten. In jedem Verhältnis, in dem sie ist, muß sich der andere immer mit ihr beschäftigen. Sie beschäftigt sich nie mit ihm. Und dann die Humboldt, Brief an Dacheröden, 23. Januar 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 242. Humboldt, Brief an Dacheröden, 26. Februar 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 252. Humboldt, Brief an Dacheröden, 23. März 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 257. Humboldt, Brief an Dacheröden, September 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 320. Siehe Humboldts Tagebucheintragung vom 9. Dezember 1788, zitiert bei Bruford: The German Tradition of Self-Cultivation (Anm. 19), S. 8. 45 Humboldt, Brief an Dacheröden, 26. Juni 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 296.

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Sucht, alles wissen zu wollen, nach dem Erzählen alle Vertraulichkeit zu messen. Einmal hat sie mir sehr weh getan. Sie war einen Abend so launisch, und Brendel selbst litt dadurch so viel. Wir waren darauf einen Augenblick allein. Ich bat sie, anders zu sein, wenigstens gegen uns, die sie liebten, lag vor ihr, wie sonst so oft, bat sie so freundlich und gut, daß Brendel mich kaum begriff, und sie blieb wie erst, gab mir einen kalten Kuß und fing, wie ich kaum schwieg, einen neuen Zank mit Brendel an. Es empörte uns beide, und wir ließen sie reden und gaben ihr recht. Jede andere, Du, wenn Du nicht mich, wenn Du einen anderen, nun so wie ich es tat, so vor Dir gesehen hättest, hättest es nicht einen Augenblick erduldet. Ich begreife wohl, wie das in ihr ist, begreife, wie es neben manchem Guten bestehen kann, und darum bin ich ihr noch recht gut, aber wie sonst kann ich nicht sein, selbst nicht scheinen, und scheinen kann ich ihr noch weniger, da sie die Liebe nach so ganz anderen Dingen mißt. Meinen Blick hat sie nie verstanden, überhaupt hatte ich dies Gefühl auch sonst nie mit ihr ; sie sagte mir auch oft sonst, daß sich, was ich fühlte, nicht in mir ausdrückte, und da kriegt ich den Namen sans expression. Und ich glaubte das so, daß es mir manchmal weh tat, wenn ich anfangs neben Dir saß und nun so gewiß dachte, daß Du nichts in mir sähest, mein Blick mein Händedruck nichts Dir sagten, bis ich so beglückend das Gegenteil in Dir las. Da fühl ich’s denn wohl, daß die arme Jette sich mir fremder denkt noch, als sie mir ist, dann, daß es sie wechselweis kümmert und verdrießt.46

Rückblickend war es also Henriette Herz, die in ihrer Korrespondenz mit Wilhelm im Mittelpunkt stand und fortwährend nur über sich selbst zu schreiben schien, auch wenn es in den erhaltenen Briefen Wilhelms anders zu sein scheint. Dass sie ihm fremd wurde, mag einerseits in ihrer Person begründet sein, denn sie war für ihn keine echte Frau, andererseits aber auch in einer allgemeinen Schwäche, die manchen sozial niedriger gestellten Frauen anhaftete, so dass sie immer einen anderen brauchten, um sich selbst zu formen. Aber ging es denn Wilhelm anders? Er schreibt an Carl: Es giebt geschöpfe, vorzüglich weibliche, die so gar keine stärke im charakter haben, dass immer etwas fremdes da sein muss, was ihnen stüze ist, woran sie sich halten müssen, die nur für empfindungen sinn haben, und gerade nur für die, die zwar auf der einen seite die schönsten sind, auf der andren aber auch am leichtesten zur schwärmerei führen, freundschaft, liebe, u.s.w. Dass diese stimmung fehlerhaft, gefährlich ist, wird niemand läugnen.47

Jedenfalls hätte es aus Humboldts Perspektive keinen Sinn, Henriette von ihren Fehlern zu heilen, denn paradoxerweise bestand ihre Attraktivität gerade aus dem, was ihre Fehler ermöglichten: dem mangelnden Misstrauen, der liebenswürdigen Offenheit, bezaubernden Naivität, hinreißenden Güte.48 Sie nahm als Weib ab, erhielt aber zusätzliche Eigenschaften als Jüdin, die nicht zuletzt mit 46 Ebd. 47 Humboldt, Brief an Carl von LaRoche, 4. April 1789. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 182. 48 Ebd.

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den Vorurteilen Carolines übereinstimmten, sie wurde schwach und fremd. „Abgeschüttelt hab ich sie also; und ungebeten“, schreibt Wilhelm an den schwedischen Diplomaten Karl Gustav von Brinkmann (1764–1847), der ebenfalls im Herz’schen Haus verkehrte: Daß sie nicht auf die Idee kommt, daß ich nie so fest an sie gebunden war, daß ihr mein Alter, Lage, Stimmung damals nicht einfällt. Sie haben sehr recht, lieber B.[rinkman]. Sie ist ein äußerst schwaches, dadurch wirklich uninteressantes Geschöpf.49

Wilhelm sollte weiterhin Hebräisch lernen, nun allerdings nicht mehr bei einer Jüdin, sondern bei Georg Ludwig Spalding (1762–1811), einem GymnasialProfessor für alte Sprachen am Grauen Kloster in Berlin.50 Und obwohl Henriette Herz bisweilen noch daran zu glauben schien, kamen die „alten Zeiten“ nicht mehr zurück.51 Nach seiner Heirat und der Geburt des ersten Kindes, der Tochter Caroline, schrieb Wilhelm noch einmal einen an Henriette Herz und Brendel Veit gemeinsam adressierten Brief, um ihnen von seinem „impertinente[n] Glük“ im Kreise seiner Familie zu berichten.52 Zu dieser Zeit hatte er den Staatsdienst als Jurist quittiert, um sich, ermöglicht durch sein Privatvermögen, ganz der eigenen Selbstbildung zu widmen. 1792 sollte er in seinen Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu verbinden gerade eine Begründung für sein Ausscheiden aus dem Staatsdienst geben: Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen.53

Später, zwischen 1809 und 1819, sollte Wilhelm wieder im Staatsdienst stehen und sich der Politik widmen. Er begann seine Karriere 1809 mit der Stellung als Sektionschef für Kultus und Unterricht und wandte sich dem Bildungswesen zu. In dieser Position wirkte er nicht nur für eine allgemeine Schulreform, sondern 49 Humboldt, Brief an Gustav von Brinkman, 16. August 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 313. 50 Siehe Humboldt, Brief an Dacheröden, 8. u. 9. November 1790. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 343. 51 Humboldt, Brief an Brinkman, 1. Februar 1791. In: Humboldt: Briefe I (Anm. 4), S. 381. 52 Humboldt, Brief an Herz und Brendel Veit, 26. Mai 1792. In: Briefe II: Juli 1791–Juni 1795. Hrsg. u. komment. von Philip Mattson. Berlin 2015, S. 55. 53 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), zitiert und erläutert bei Wilhelm Richter : Der Wandel des Bildungsgedankens. Die Brüder Humboldt, das Zeitalter der Bildung und die Gegenwart. Berlin 1971, S. 14.

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setzte sich auch für die Gründung einer Berliner Universität ein, die 1810 ins Leben gerufen wurde. Wilhelm von Humboldt war inzwischen mehrfacher Vater und keineswegs ein monogamer Ehemann. Weitere belehrende Briefwechsel mit Frauen folgten, etwa mit Charlotte Diede (1769–1846).54 Er teilte inzwischen auch die Skepsis seiner Frau Juden gegenüber, obwohl er sich für eine Emanzipation der Juden einsetzen sollte. „Ich liebe eigentlich auch nur die Juden en masse, en d8tail gehe ich ihnen sehr aus dem Wege“ schrieb er 1816 an Caroline; die Judenemanzipation war vier Jahre zuvor, nicht zuletzt durch seinen Vorschlag, Gesetz geworden.55 Als 1883 im inzwischen neuen Deutschen Kaiserreich zwei Skulpturen vor den Eingang der Berliner Universität gesetzt wurden, welche die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt darstellten, fand auch ein Festakt im Rathaus statt. Der Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal (1823–1899), auch Herausgeber der Schriften Wilhelm von Humboldts, hielt am 28. Mai 1883 eine Rede auf Wilhelm von Humboldt, der Astronom Wilhelm Foerster (1832–1921) eine Rede auf seinen Bruder Alexander. Foersters Karriere als Universitätsprofessor war gradliniger verlaufen als die Steinthals, der als Jude auf seinem akademischen Weg Hürden zu überwinden hatte. Dafür lehrte Steinthal nicht nur an der Universität, sondern auch an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und wurde im Jahr der Denkmalsetzung ein Direktor des Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds. In seiner Festrede betonte Steinthal Wilhelm von Humboldts Engagement für das nationale Denken, seine Leistungen in der Sprachwissenschaft, seine Bildungspolitik. „Genau genommen und in Wahrheit hat er sich zu allen Zeiten nur mit einem und demselben beschäftigt“ fasste er die differenten Interessen des zu Ehrenden zusammen, „er hat in allem immer nur ein Ziel verfolgt; objectiv ausgedrückt, die allumfassende Idee, subjectiv, die Selbstbildung“.56 Diese sollte sich nicht nur vom Einzelnen und von innen heraus entwickeln, sondern auch durch die Gesellschaft; nicht nur durch wissenschaftliche Bücher sollte ein Mensch wachsen, sondern auch im sozialen Bereich sowie im Gespräch. Wie seine Briefe zeigen, entwickelte sich Wilhelm von Humboldts eigene Selbstbildung nicht zuletzt in der Sozietät von Frauen, und sollte im Hause Herz einen Anfang nehmen.

54 Siehe Wilhelm von Humboldt: Briefe an eine Freundin. 4. Aufl. Leipzig 1850. 55 Humboldt, Brief an Caroline Humboldt, 30. April 1816. In: Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten. Hrsg. von Franz Kobler. Königstein 1984, S. 208. 56 H[eymann] Steinthal: Über Wilhelm von Humboldt bei Gelegenheit der Enthüllung der Humboldt-Denkmäler. Montag, den 28. Mai 1883 im Festsaal des Rathauses. Berlin 1883, S. 5.

Ute Tintemann

Henriette Herz, Caroline und Wilhelm von Humboldt (1809–1819)

In diesem Beitrag zum Thema Henriette Herz und die Humboldts soll es nicht darum gehen, den Beziehungen des jugendlichen Humboldt zu Henriette Herz und den Begebenheiten um den sogenannten Tugendbund erneut nachzugehen, denn die Beschreibung dieser Lebensphase beider Protagonisten fehlt in keiner Biographie. Folgende Henriette Herz zugeschriebene Aussage hat zudem zu einer geradezu topisch gewordenen Charakterisierung ihres Verhältnisses zu dem „siebzehnjährigen Jüngling“1 beigetragen: „Ich führte ihn gewissermaßen in die Welt ein, und bald war er der Freund meiner Freundinnen geworden.“2 Darüber hinaus wurde diese Beziehung im Rahmen der Salonforschung analysiert,3 und sie ist auch Bestandteil der Forschungen, die Wilhelm von Humboldts Beziehungen zu Henriette Herz unter dem Aspekt der deutsch-jüdischen Beziehungen in den Blick nehmen.4 Bekannt ist zudem, dass sich Wilhelm von Humboldt (1767–1835) nach seiner Verlobung mit Caroline von Dacheröden (1766–1829) im Dezember 1789 nach und nach von Henriette Herz und ebenso von den übrigen Mitgliedern des Tugendbundes distanzierte. Dass die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Bundes in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten in unterschiedlicher Intensität fortgeführt wurden, kommt in der Forschung ge1 Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Hrsg. von J. Fürst. 2., durchgesehene und vermehrte Aufl. Berlin 1858, S. 158. 2 Ebd. Zur Problematik der von Fürst herausgegebenen Erinnerungen von Henriette Herz vgl. Ortrun Niethammer : Eine annotierte Quellenbibliographie zu Autobiographien von Frauen zu dem Zeitraum 1700–1800. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Teil 2. Amsterdam 1997, S. 771–786, hier S. 785. 3 Vgl. z. B. Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin 2012. Die Autorin hat auch die bisherige Forschung zu den Salons ausführlich aufgearbeitet. 4 So u. a. Julius H. Schoeps: Im Kreise der Aufgeklärten. Der Einfluss Moses Mendelssohns und David Friedländers auf die Reformkonzepte Wilhelm von Humboldts. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62 (2010), H. 3, S. 209–226, insb. S. 212–216. Vgl. auch den Beitrag von Liliane Weissberg in diesem Band.

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legentlich zur Sprache.5 Hannah Lotte Lund beispielsweise hat die Rolle Wilhelm von Humboldts als Besucher der jüdischen Salons für deren Blütezeit in den Jahren 1794/95 analysiert.6 Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, der weiteren Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Henriette Herz und Caroline und Wilhelm von Humboldt in ihren späteren Lebensjahren nachzugehen. Dabei wird keine Vollständigkeit angestrebt; vielmehr konzentriert sich die Darstellung auf die Jahre 1809 bis 1819. Es scheint so zu sein, dass vor allem ab 1797, als die Humboldts nach Paris abreisten, 1801 für einige Monate nach Berlin zurückkehrten, um dann 1802 nach Rom zu ziehen, es wenig Kontakt zwischen den Humboldts und Henriette Herz gab.7 Eine Wiederbegegnung Wilhelm von Humboldts mit seiner Jugendfreundin ist in den Briefen an seine Frau für 1809 und 1810 dokumentiert. Während dieser Jahre hielt sich Humboldt in seiner Funktion als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium in Königsberg und Berlin auf. Caroline von Humboldt hingegen blieb ohne ihren Mann mit den Töchtern und dem am 23. April 1809 geborenen Sohn Hermann bis zum Herbst 1810 in Rom. 1802 war die Humboldt-Familie dorthin gezogen, nachdem Wilhelm von Humboldt zum preußischen Residenten am päpstlichen Hof ernannt worden war.8 Die Freundschaft zwischen Caroline von Humboldt und Henriette Herz wurde nach einem Wiedersehen 1810 in Wien9 vor allem in den Jahren 1817 bis 1819 wieder aufgefrischt, als beide Frauen zur selben Zeit in Rom weilten. Der Kontakt blieb, soweit es Carolines Gesundheit zuließ, auch nach der Rückkehr nach Berlin bis zu ihrem Tod 1829 erhalten. 5 So Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt. Frankfurt a. M. 2009, S. 57. Vgl. auch Dagmar von Gersdorff: Caroline von Humboldt. Eine Biographie. Berlin 2011, S. 51 u. S. 147, die ebenfalls die Freundschaft zwischen den beiden Frauen betont. 6 Vgl. u. a. Lund: Salon (Anm. 3), S. 149f., S. 180–182 u. S. 254–256 und Hannah Lotte Lund: „Sie schenkte mir drei Tassen Spruch …“. Wilhelm von Humboldt und die Anfänge der deutsch-jüdischen Geselligkeit in den Briefen der Berliner Salongesellschaft. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62 (2010), H. 3, S. 227–247. 7 Vgl. Schoeps: Im Kreise der Aufgeklärten (Anm. 4), S. 215f. zu Henriette Herz’ Distanzierung von den Humboldts im Jahre 1802. 8 Zum Rom-Aufenthalt der Humboldts vgl. Clemens Menze: Wilhelm und Caroline von Humboldt in Rom. Anreger, Auftraggeber, Berichterstatter. In: Schwäbischer Klassizismus zwischen Ideal und Wirklichkeit 1770–1830. Bd. 2: Aufsätze. Hrsg. von Christian von Holst. Stuttgart 1993, S. 71–87; Ute Tintemann: Mäzenatentum und Freundschaft. Caroline von Humboldt und die Künstler. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N. F. 21 (2011), H. 2, S. 191–207. 9 Vgl. Gersdorff: Caroline von Humboldt (Anm. 5), S. 153.

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Als Quelle für die Analyse ziehe ich für die Perspektive der Humboldts den Ehebriefwechsel heran.10 In den Briefen kommt „die Herz“ – wie die Humboldts sie nennen – immer dann vor, wenn das Ehepaar getrennt ist und entweder Humboldt oder seine Frau Henriette Herz begegnen oder – modern gesprochen – Klatsch und Tratsch weitergeben. Für die Sichtweise der Henriette Herz greife ich vor allem auf ihre Briefe an verschiedene Briefpartner zurück. Der Rekurs auf ausgewählte autobiographische Zeugnisse und Briefe ist zwar immer fragmentarisch, subjektiv gefärbt und sowohl im Hinblick auf die Überlieferungsgeschichte des Humboldtschen Ehebriefwechsels als auch auf die Erinnerungen der Henriette Herz zudem nicht unproblematisch.11 Dennoch gewinnt man aus den Briefen wichtige Erkenntnisse über die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Henriette Herz und den Humboldts, die zu einem differenzierteren Bild dieser lebenslangen Freundschaft beitragen können.

Wiederbegegnung in Berlin – Wilhelm von Humboldt und Henriette Herz (1809–1810) Wilhelm von Humboldts Verhältnis zu den Frauen schwankte zwischen einer Idealisierung der Frauen im Allgemeinen und seiner Ehefrau Caroline im Besonderen sowie sadomasochistischen sexuellen Neigungen und einem Hang zu Prostituierten. Untersucht wurden die unterschiedlichen Facetten seines Verhältnisses zu den Frauen insbesondere von Hazel Rosenstrauch in ihrem Buch Wahlverwandt und ebenbürtig, die auch die außerehelichen Beziehungen beider Ehepartner analysiert hat.12 An das Glück, das mit Carline von Dacheröden in sein Leben getreten sei, erinnerte sich Humboldt, als er am 16. Dezember 1809 in einem seiner Briefe an seine Frau sein erstes Wiedersehen mit Henriette Herz in Berlin erwähnte: „Sehr heiter und froh“ in Caroline von Humboldts altem Jugendzimmer in ihrem Elternhaus in Erfurt sitzend stellte er fest, dass „Burgörner immer der Ort 10 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. 7 Bde. Hrsg. von Anna von Sydow. Berlin 1907–1916. Zwischen 1809 und 1819 war das Ehepaar „mehr getrennt als zusammen“ (Rosenstrauch: Wahlverwandt (Anm. 5), S. 225), so dass der Ehebriefwechsel dieser Jahre vier Bände umfasst. 11 Wilhelm von Humboldt hat Briefe schon zu Lebzeiten daraufhin durchgesehen, ob sie sich für eine Veröffentlichung eignen und entsprechend aussortiert. Vgl. Philip Mattson: Einleitung. In: Wilhelm von Humboldt: Briefe an Friedrich August Wolf. Berlin 1990, S. 1–18, hier S. 10–12. Zur Editionslage von Henriette Herz’ Texten vgl. Lund: Salon (Anm. 3), S. 42f. 12 Vgl. Rosenstrauch: Wahlverwandt (Anm. 5).

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[bleibt], wo mir mein Glück zuerst erschienen ist.“13 Er dankte ihr „so recht in tiefer, schweigender Seele für allen Glanz und alles Glück […], was Du über mein Leben verbreitet hast.“14 Dies ist der Rahmen, vor dem Humboldt dann im Folgenden von seiner Ankunft in Berlin, seinen Begegnungen mit dem Sohn Theodor, der Familie Kunth und Henriette Herz berichtete. Seine Bemerkungen über Frau von Kunth, die „mir manchmal leid tut, ob sie recht sehr glücklich scheint“, führten ihn zu allgemeinen Ausführungen über das Wesen der Frauen, in das er nach seiner Rückkehr nach Preußen noch tiefer eingedrungen sein will. Hier spricht der Anthropologe Humboldt, der jedoch trotz seiner Neugier auf das Wesen der Frauen ein recht festgefügtes Bild von diesen hatte. Er schrieb, dass sein „Mitleid mit ihnen sehr gewachsen [ist]. Es ist nicht so, dass sie so unglücklich wären, aber das Rührende ist ihr Glück, das was sie oft mehr zu haben wähnen als wirklich genießen.“15 Und weiter : Die Herz, die genau genommen, nie interessant in dieser Art war, ist es auch jetzt nicht. Ich ging gleich den Morgen mit Theodor zu ihr. Sie fand das sehr treu, ich war galant, und sagte, daß sei gar nicht der Effekt alter Treue, und so waren wir sehr gut und artig zueinander.16

Wenn Henriette Herz vermutlich als emanzipierte, allein lebende Frau nun nicht Humboldts Idealbild der Frau an sich entsprach, so stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht sie ihn dann noch interessierte. Es sind drei Briefe aus dem Jahr 1810 überliefert, in denen Humboldt seiner Frau in fast stereotyper Weise von seinen Treffen mit Henriette Herz berichtete. So schrieb er am 6. Februar 1810 an seine Frau: Bei der Herzen […], brachte ich neulich einen Abend ganz allein zu. Sie ist sehr zärtlich, und man muß offenherzig gestehen, doch noch sehr hübsch. Die Schönheit hat große Rechte, das sieht man an ihr. Übrigens treibt sie das Lernen noch immer wie ehemals. Sie übersetzte aus dem Voltaire ins Spanische, als ich hinkam.17

Hier, wie auch in den anderen Briefen thematisierte er neben Henriette Herz’ anhaltender und (als exotisch empfundener) Schönheit und ihrem fortdauernden Streben nach Bildung vor allem seinen Umgang mit ihr und seine Gefühle für sie. Einen Monat später gestand er seiner Frau, dass er sich „der großen 13 Wilhelm von Humboldt an seine Frau, Burgörner 16. Dezember 1809. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. III, S. 297. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 298. 16 Ebd., S. 299. 17 Wilhelm von Humboldt an seine Frau, Berlin 6. Februar 1810. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. III, S. 332.

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Schwester des Tugendbundes“ noch in „kindischer Verliebtheit“18 verbunden fühlt. Wenn wir allein sind, sind wir auf Du und Du und dem Bruderkuß. Die gleichen Ehren genießen Dohna und Schleiermacher. Mich soll nur sehr wundern, ob, wenn sie mit Dir und mir allein ist, sie diese Vertraulichkeit in einen bescheidenen Schleier hüllen wird. […] Larochens gehn auch wieder mit ihr um, aber Carl hält sich strenger wie ich. Er sieht sie nicht allein und nicht auf dem alten Fuß. Ich denke, Du wirst darum nicht eifersüchtig werden.19

Diese Stelle sagt in erster Linie etwas über Wilhelm von Humboldt aus. Es scheint vor allem darum zu gehen, sich vor seiner Frau für seine Art des Umgangs mit seine Jugendliebe zu rechtfertigen. Diese wird zumindest mit Blick auf das beibehaltene Du und den „Bruderkuß“ des Tugendbundes als ein Verhalten außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Normen dargestellt, und zwar dadurch, dass Humboldt seine Umgangsweise mit Henriette der Karl von Laroche’s (1766–1839) gegenüberstellt. Nachdem Humboldt Caroline von Humboldt kennengelernt hatte, hat er sich zunächst von Henriette Herz distanziert, was sich in den 1790ern auch im Übergang vom „Du“ der Tugendbündler zum formelleren „Sie“ manifestierte. Diese Form der Distanznahme ist auch in den Erinnerungen von Henriette Herz dokumentiert: „Als Wilhelm von Humboldt mit seiner jungen Frau nach Berlin kam, wo ich sie dann zum ersten Mal sah, nannte sie mich ,Sie‘, und als fast nothwendige Folge hörte später auch das ,Du‘ zwischen ihrem Gatten und mir auf.“20 Nun also – ca. 20 Jahre nach dem Ende des Tugendbundes – wird wieder an die Umgangsformen der Jugendzeit angeknüpft. Dies verrät ein gewisses Sentiment Humboldts gegenüber der für seine Entwicklung so bedeutenden Jugendfreundin. Ob und inwieweit dieses mit erotischem Begehren einhergeht, muss offen bleiben, aber noch im Mai 1817, als er Henriette Herz ein letztes Mal vor ihrer Abreise nach Italien traf, findet sich in seinem Brief an seine Frau zumindest eine solche Anspielung: Ich war heute abend ganz allein bei der Herz und sie neulich am Morgen bei mir. Sie geht nach Zossen und von da nach Italien, eigentlich auf unbestimmte Zeit. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen? Auch sind wir beide sehr zärtlich gewesen, doch ohne alle Konsequenz. Wir haben ausgerechnet, daß wir uns 1786 zuerst gesehen, 31 Jahre.21

18 Wilhelm von Humboldt an seine Frau, Frankfurt an der Oder 4. März 1810. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. III, S. 351. 19 Ebd., S. 351f. 20 Herz: Ihr Leben und ihre Erinnerungen (Anm. 1), S. 160. 21 Wilhelm von Humboldt an seine Frau, Berlin 23. Mai 1817. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. IV, S. 314f.

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Nostalgie und Sentiment gepaart mit einer gewissen erotischen Anziehungskraft scheinen also diese Begegnungen Humboldts mit Henriette Herz mehr als 30 Jahre nach ihrem ersten Kennenlernen zu prägen. Seine Äußerungen verraten mehr über ihn als Briefschreibenden und Analytiker seiner selbst als über den Status der Freundschaft. Dass Humboldt das Medium Brief nutzte, um sich seiner selbst und seiner Gefühle gegenüber seiner Frau zu vergewissern, hat Ernst Osterkamp anhand des Ehebriefwechsels der Jahre 1802 bis 1808 herausgearbeitet.22 Auch in seinen Berichten über die Begegnungen mit Henriette Herz ging es Humboldt offensichtlich stärker um die Ordnung seiner Gefühle als um die Freundschaft selbst. Zur gleichen Zeit, als Wilhelm von Humboldt seine Gefühlswelt gegenüber seiner Ehefrau und seiner Jugendfreundin gegenüber neu bestimmte, war er im Übrigen in die Ehefrau eines Arztes, Johanna Motherby (1783–1842), verliebt, die er in Königsberg kennengelernt hatte und die – so ist seinen Briefen zu entnehmen – für abgestorben gehaltene Gefühle in ihm erregt haben soll.23 In Reaktion auf seine Ausführungen über Henriette Herz schrieb Caroline von Humboldt ihrem Mann am 11. April 1810 aus Neapel, dass sie nicht eifersüchtig sei: „Der Herz bin ich überdem gut, obgleich sie mir oft in meine Ansprüche eingegriffen hat. Die Schönheit hat eigene Rechte.“24

Henriette Herz und Caroline von Humboldt in Rom – 1817 bis 1819 Dass Caroline von Humboldt „der Herz überdem gut“ war, zeigte sich vor allem in den Jahren 1817 bis 1819, als sich beide in Rom aufhielten. Mehrfach beschrieben und analysiert wurde in der Forschung, dass Caroline von Humboldt in den 1810er Jahren einerseits antijüdische Ressentiments im Zusammenhang mit den Bemühungen ihres Mannes um eine rechtliche Gleichstellung der Juden hegte und andererseits gleichzeitig unterschiedlich intensive freundschaftliche Beziehungen zu Jüdinnen wie Dorothea Veit Schlegel (1764–1839), Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) und Henriette Herz pflegte.25 Dieser Widerspruch soll an dieser Stelle nicht erneut diskutiert werden; vielmehr soll festgehalten wer22 Ernst Osterkamp: Unendlichkeit. Über die Bedeutung eines Begriffs im Briefwechsel Caroline und Wilhelm von Humboldts. In: Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildkunst in Klassizismus und Romantik. Hrsg. von Jutta Müller-Tamm u. Cornelia Ortlieb. Freiburg im Breisgau 2004, S. 183–197. 23 Vgl. Rosenstrauch: Wahlverwandt (Anm. 5), S. 194f. 24 Caroline von Humboldt an ihren Mann, Neapel 11. April 1810. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. III, S. 370. 25 Vgl. z. B. Schoeps: Im Kreise der Aufgeklärten (Anm. 4), S. 220f.; Rosenstrauch: Wahlverwandt (Anm. 5), S. 235–239.

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den, dass beide Frauen in Rom sehr engen Kontakt hatten und sich in Freundschaft nahestanden. Dass diese Zuneigung beiderseitig gewesen zu sein scheint, kann man Äußerungen beider Frauen entnehmen: So schrieb Henriette Herz im Februar 1818 an die Malerin Louise Seidler (1786–1866): „In Frau von Humboldt […] umarmte ich eine längst bewährte Freundin.“26 Und in einem Brief an Friederike Brun (1765–1835) vom 24. Dezember 1817, in dem Caroline von Humboldt über eine mögliche Verlängerung ihres Aufenthalts in Rom reflektierte, äußerte sie sich positiv über ihre Freundin: „Die Herz aus Berlin ist seit 3. Monaten hier. Also hätte man auch einen lieben weiblichen Umgang – aber man muß scheiden. Im August 18. denke ich auf der Nebelinsel zu sein.“27 Aus diesem Zitat geht auch hervor, dass Caroline von Humboldt ursprünglich geplant hatte, ihrem Mann nach London zu folgen und nicht erneut für fast zwei Jahre in Rom zu bleiben. Äußerer Anlass für diese zweite Reise nach Italien war eine Gesichtslähmung ihrer Tochter Caroline, der eine Kur auf Ischia verordnet wurde. Henriette Herz kam 1817 zum ersten Mal nach Rom. Sie erfüllte sich mit dieser Reise einen Lebenstraum.28 Schon auf der Reise nach Rom und vor allem in der Stadt selbst wurden ihre Erwartungen übertroffen: Sie sei – so am 8. November 1817 in einem Brief an ihren Berliner Latein- und Griechischlehrer August Twesten (1789–1876) – „wie den ersten Tag erfreut, berauscht, entzückt“29, und im Folgenden schwärmte sie: Der Reichthum an Kunstwerken des Altertums, der besten griechischen und römischen Zeit, im Capitol, dem ungeheuren Vatican, in einzelnen Villen, ist unglaublich und unfaßlich. Der dunkelblaue Himmel, die immergrünen Zypressen, Pinien […] der im November frühlingsgrüne Rasen und die lieblichsten Wiesenblumen darin […] – alles das übersteigt bei weitem, was ich mir von der hiesigen Vegetation gedacht habe.30

Dass Henriette Herz den Aufenthalt in Rom sehr genoss, wurde auch von Caroline von Humboldt in den Briefen an ihren Mann kommentiert, so beispielsweise am 15. November 1817: „Die Herz genießt ihren hiesigen Aufenthalt

26 Henriette Herz an Louise Seidler, Rom 12. Februar 1818. In: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Hrsg. von Hans Landsberg. Weimar 1913, S. 456. 27 Caroline von Humboldt an Friederike Brun. In: Frauen zur Goethezeit. Ein Briefwechsel. Caroline von Humboldt und Friedrike Brun. Hrsg. von Ilse Foerst-Crato. Düsseldorf 1975, S. 159. 28 Vgl. Henriette Herz an Frederik Christian Sibbern, Zossen 6. Juli 1817. In: Herz: Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 26), S. 450. 29 Henriette Herz: Briefe an August Twesten (1814–1827). Hrsg. von Georg Henrici. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 5 (1914), H. 2, S. 301–316 u. S. 333–347, hier S. 338. 30 Ebd., S. 339.

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sehr vernünftig, langsam, ohne Wagen als zu den großen Touren, sieht aber sehr ordentlich alles.“31 Im Gegensatz zu Henriette Herz war Caroline von Humboldt bei ihrem zweiten Aufenthalt in Rom zeitweilig gesundheitlich sehr eingeschränkt und konnte, wie sie Friederike Brun mitteilte, oft wochenlang das Haus nicht verlassen.32 Bei Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868) beklagte sie sich im Sommer 1818 ebenfalls, dass sie das „alte römische Leben“ nur mit Einschränkungen wieder aufnehmen konnte: „Rom habe ich in seinen unendlichen Kunstsachen wenig oder nicht genossen. Aber gesund oder krank – immer ist’s ein tröstendes Gefühl in Rom zu sein.“33 Höchst erfreulich hingegen war für Caroline von Humboldt, dass sie während ihres zweiten Romaufenthalts erneut in der Wohnung aus den Jahren 1802 bis 1810 im Palazzo Tomati wohnen konnte; auch für Henriette Herz hatte sie eine in unmittelbarer Nähe besorgt. Beide Frauen lebten dicht an dicht mit den deutschen Künstlern in Rom, denen Caroline von Humboldt teilweise bereits bei ihrem ersten römischen Aufenthalt begegnet war. „Hier lebe ich entfernt von allen langweiligen Gesellschaftsverhältnissen“, schrieb sie an Rahel Levin Varnhagen. „Am Abend kommen die Künstler zu mir, mit Thorwaldsen, Rauch, den beiden Schadow, Wach und mehreren andern wohne ich in einem Hause.“34 Henriette Herz, die häufig ihre Abende bei Caroline von Humboldt verbrachte, war ebenso wie diese darüber erfreut, dass Rom ihr neben den Besichtigungen der Stadt mit ihren Kunstwerken auch ein geselliges Leben bot: „Die Menge der Deutschen, fast von allen Ständen, die hier sind, die Leichtigkeit in italienische Gesellschaft zu kommen […], kann auch keinen Mangel an Geselligkeit zulassen, wenn man sie nicht vorsätzlich entfernt“, schrieb sie August Twesten.35

31 Caroline von Humboldt an ihren Mann, Rom 15. November 1817. In: Caroline und Wilhelm von Humboldt (Anm. 10), Bd. VI, S. 51. 32 Vgl. Caroline von Humboldt an Friederike Brun, Rom 25. Mai 1818. In: Foerst-Crato: Frauen (Anm. 27), S. 166. Vgl. auch Carolines Brief vom 12. Oktober 1818. Ebd., S. 172. 33 Caroline von Humboldt an Friedrich Gottlieb Welcker, Rom 5. Juli 1818. In: Karoline von Humboldt und Friedrich Gottlieb Welcker. Briefwechsel 1807–1826. Hrsg. von Erna SanderRindtorff. Bonn 1936, S. 232. 34 Caroline von Humboldt an Rachel Varnhagen, Rom 5. Juni 1818. In: Briefwechsel zwischen Karoline von Humboldt und Rachel Varnhagen. Hrsg. von Albert Leitzmann. Berlin 1896, S. 181f. 35 Henriette Herz an August Twesten, Rom 8. November 1817. In: Herz: Briefe an Twesten (Anm. 29), S. 339.

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Übereinstimmungen – Zur Wertschätzung der religiösen Kunst der Nazarener Caroline von Humboldt, die bereits während ihres ersten Aufenthalts als Mäzenatin und Förderin der deutschen Künstler in Erscheinung getreten war,36 nahm diese Rolle erneut ein. Während ihres zweiten Aufenthaltes lernte sie vor allem die stark religiös geprägte Kunst der jungen deutschen Nazarener kennen und schätzen. „Overbeck und Cornelius muß man mit großem Respekt nennen“, schrieb sie an Friedrich Gottlob Welcker. „Die Frescos von diesen drei37 eben genannten zeigen, was sich unter den Deutschen regt. […].“38 Die heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin zu sehenden Fresken der Casa Bartholdy mit den Darstellungen der Josephsgeschichte waren vermutlich gerade fertig geworden, als Caroline von Humboldt in Rom ankam. Der preußische Generalkonsul Ludwig Jakob Salomon Bartholdy (1779–1825) hatte den Künstlern, die die Freskomalerei der Frührenaissance für sich neu entdeckt hatten, seine Wohnung im Palazzo Zuccari für ihren ersten großen Auftrag zur Verfügung gestellt. Henriette Herz war gleichermaßen wie Caroline von Humboldt von diesen Fresken begeistert: „Hätte Goethe die Arbeiten dieser jungen Männer gesehen, er würde vieles nicht über sie haben sagen lassen; sähe er sie noch, er nähme manches zurück.“39 Während Goethe und auch Wilhelm von Humboldt die Hinwendung der deutschen Künstler in Rom zu religiösen Motiven missbilligten oder dieser zumindest verständnislos gegenüber standen, erklärte Caroline von Humboldt deren Hinwendung zum Katholizismus mit einem Mangel an religiöser Erziehung, wie aus einem Brief an Friederike Brun hervorgeht. Sie beschreibt dort den Übertritt der Nazarener zum Katholizismus als eine ausschließlich auf die Kunst ausgerichtete Religiosität: Diese erklärte sie damit, wie die Kinder vor 20. Jahren aufwuchsen, beinah ohne Religionsunterricht, ohne Mahnung an das Höhere, als eine gewiße kränkliche Sentimentalität. Nun, die jungen Leute die vor 20. Jahren, 10. 12. bis 14. Jahre alt waren, von diesen sind einige hier 36 Vgl. Tintemann: Mäzenatentum (Anm. 8), S. 182–205. 37 Neben Friedrich Overbeck und Peter Cornelius wirkten noch Wilhelm Schadow und Philipp Veit, d. h. der jüngere Sohn von Dorothea Veit-Schlegel, an der Gestaltung der Fresken in der Casa Bartholdy mit, so dass nicht ganz klar ist, wen Caroline von Humboldt hier meint, wenn sie einen Dritten erwähnt. Vgl. Nationalgalerie Berlin. Das XIX. Jahrhundert. Katalog der ausgestellten Werke. 2., überarbeitete Aufl. Hrsg. von Angelika Wesenberg u. Eve Förschl. Berlin u. Leipzig 2002, S. 95–97. 38 Caroline von Humboldt an Friedrich Gottlieb Welcker, Rom 20. August 1817. In: Karoline von Humboldt und Friedrich Gottlieb Welcker (Anm. 33), S. 224. 39 Henriette Herz an Louise Seidler, Rom 12. Februar 1818. In: Herz. Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 26), S. 458.

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katholisch geworden, weil sie als sie hier ankamen, garnichts waren. Dahin gehören Overbeck, Wilhelm Schadow u.a.m. – Sie haben nichts Irdisches damit bezwekt, sie leben einzig ihrer Kunst.40

Auch Henriette Herz näherte sich in ihrem Urteil an das Caroline von Humboldts an und sah die Ursachen für die Religiosität der Nazarener ebenfalls in einem Mangel an religiöser Erziehung.41 Bevor die jungen Künstler nach Rom kamen, waren sie – so Henriette Herz – „nichts, sie waren ohne alle Religion, denn wären sie Protestanten im wahren Sinne des Wortes gewesen, so könnten sie ja wohl alles gewesen sein, und geworden sein, was sie jetzt als Katholiken sind.“42 Ohne näher auf das religiöse Selbstverständnis von Caroline von Humboldt und Henriette Herz eingehen zu wollen,43 zeigen diese Stellen, wie sehr sich Caroline von Humboldt und Henriette Herz während ihres Romaufenthalts in der Beurteilung der aktuellsten Kunstentwicklungen ihrer Zeit und der Hinwendung der jungen deutschen Künstler zum Katholizismus ähnelten.

Gelebte Freundschaft und freundschaftliche Unterstützung Die übereinstimmende Auffassung im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in der Malerei, die Rombegeisterung beider und das Genießen des geselligen Umgangs mit den deutschen Künstlern und Romreisenden der Zeit können jedoch nicht über die Standesunterschiede und unterschiedlichen Einkommensverhältnisse der beiden Frauen hinwegtäuschen, wie aus manchen Äußerungen Carolines gegenüber ihrem Mann deutlich wird. Überwiegend war es Caroline von Humboldt, die in Rom die deutschen Künstler und auch Henriette Herz, Dorothea Veit Schlegel und viele andere in ihrem Haus bewirtete. Sie war es auch, die als Mäzenatin auftrat und sowohl Kunstwerke kaufte als auch in Auftrag gab. Als Caroline von Humboldt und ihre Töchter im August 1818 nach Genzano fuhren, um dort Henriette Herz und Dorothea Veit Schlegel zu besuchen, war sie froh, dass Henriette Herz „die Wirtschaft für alle [führt] und mich auch für diese Tage in die Kost genommen […] hat“44, d. h. Caroline und ihre Töchter also für 40 Caroline von Humboldt an Friederike Brun, Rom 29. Oktober 1817. In: Foerst-Crato: Frauen (Anm. 27), S. 160. 41 Vgl. den Beitrag von Ulrike Wels in diesem Band zum Einfluss Schleiermachers, der ebenfalls den Atheismus seiner Zeit hervorhob, auf Henriette Herz. 42 Henriette Herz an Louise Seidler, Rom 12. Februar 1818. In: Herz. Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 26), S. 459. 43 Vgl. hierzu den Beitrag von Ulrike Wels in diesem Band. 44 Caroline von Humboldt an ihren Mann, Genzano 19. August 1818. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. VI, S. 277.

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das Essen hat zahlen lassen. Denn so weiter Caroline an ihren Mann: „Auf eine andere Weise hätte es mich geniert, sechs Tage hier zu sein, da sie alle nicht reich sind und es nicht übrig haben.“45 Nicht nur die Freundschaft der beiden Frauen wurde in Rom erneuert, sondern Caroline von Humboldt schilderte ihrem Mann auch ihre Dankbarkeit darüber, dass sich Henriette Herz sehr um sie kümmerte, als sie während der Rückreise aus Rom nach Deutschland im Frühjahr 1819 erneut sehr krank war : „Die Herz hat die rührendste Sorgfalt für mich, wenn ich nur mit den Augen winke, so ist es schon geschehen“,46 schrieb sie ihm am 14. Mai 1819 aus Florenz.

Résumé Wenn Wilhelm von Humboldt teilweise mit leicht bissigen Kommentaren auf die Berichte seiner Frau aus Rom über Henriette Herz reagierte,47 kann das als Indiz dafür interpretiert werden, dass sich in den späten Jahren in Bezug auf die Freundschaft zwischen den Humboldts und Henriette Herz die Verhältnisse eher umgekehrt haben. Noch in den Jahren 1809 und 1810 besuchte er sie in Berlin häufig, doch die Briefe an seine Frau dokumentieren, dass ihn die realen Besuche bei Henriette Herz zunehmend langweilten; sie regten ihn aber gleichzeitig dazu an, seine Gefühle aus der Jugendzeit zu reflektieren und neu zu ordnen. War es während der Jugendzeit zunächst also Humboldt, der lange mit Henriette Herz befreundet war, so scheint dies im Alter eher Caroline von Humboldt gewesen zu sein. Auch nach ihrer Rückkehr nach Berlin im Herbst 1819 umgab sich Caroline am liebsten mit ihren römischen Freunden, d. h. in erster Linie mit den aus Rom zurück gekehrten Künstlern wie „Wach, Veit, Schadow, Rauch und Tieck“.48 Zu diesem Kreis der Freunde zählte ebenfalls Henriette Herz, die sie noch 1826 zum „Diner“ einlud.49

45 Ebd. 46 Caroline von Humboldt an ihren Mann, Florenz 14. Mai 1819. In: Caroline und Wilhelm von Humboldt (Anm. 10), Bd. VI, S. 539. 47 Vgl. Wilhelm von Humboldts an seine Frau. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt (Anm. 10), Bd. VI, S. 16 u. S. 70. Als Caroline von Humboldt überlegte, ihre Tochter Caroline in Rom bei Henriette Herz zu lassen und nach London zu reisen, riet Wilhelm von Humboldt ihr davon ab, weil beide, seine Frau und Tochter, zu sehr unter der Trennung leiden würden und weil Henriette Herz „leicht Euch beiden das Leben so verbittern [könnte], dass ihr selbst körperlich dabei littet.“ (Ebd., S. 109f.). 48 Caroline von Humboldt an Alexander von Rennenkampff, Berlin 17. November 1819. In: Karoline von Humboldt in ihren Briefen an Alexander von Rennenkampf. Hrsg. von Albrecht Stauffer. Berlin 1904, S. 118. 49 Caroline von Humboldt an ihren Mann, Berlin 14. April 1826. In: Caroline und Wilhelm von Humboldt (Anm. 10), Bd. VII, S. 248.

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„Wie können Sie nur so grausam sein, selbst sprechend schweigsam zu bleiben?“1 – Sprechen und Schweigen in der Korrespondenz von Henriette Herz und Immanuel Bekker

„Ich kann nicht aufhören – Ihre Jette“, beendet Henriette Herz einen langen Brief, in dem sie mit heiteren Worten ihre momentane Einsamkeit angedeutet hat, dem Empfänger mit viel Anteilnahme und Feinfühligkeit Rat in beruflichen, finanziellen und privaten Angelegenheiten erteilt hat, um dann „histoire de mon tems [sic!]“ zu erzählen: Sie hat als Gast eine Razzia im Hause des Schriftstellers Ernst Moritz Arndt miterlebt, über die sie jedoch nur andeutungsweise schreibt, während sie das Glück der Eheleute Arndt, die in deren „stillem“ Haus jedoch „nicht sehr herrschende Geselligkeit“ und Arndts herablassende Haltung Frauen gegenüber plastisch, aber ohne persönlichen Vorwurf skizziert. Herz hat die aktuellen Geschehnisse – die antisemitischen Hep-Hep-Unruhen sowie Schändungen protestantischer Gräber durch Katholiken – mit Besorgnis kommentiert, hat Neuigkeiten berichtet von diversen Bekannten in Godesberg, Köln, Koblenz, Bad Ems (die ganze Familie Humboldt) und Berlin. Sie hat Dombau, Kunstsammlungen und Rheinfahrten erwähnt und sich eingehend nach Freunden in Italien erkundigt. Es folgen herzliche Grüße an verschiedene Bekannte und das allerletzte Gerücht einer Schwangerschaft – es fällt ihr immer noch etwas ein, das sie mit leichter Feder ergänzt. Der Nachsatz hinter dem Gruß lässt vermuten, dass sich das bei ihrem Korrespondenzpartner Immanuel Bekker anders verhält: „Befleissigen Sie sich ein wenig der schwarzen Tinte carissimo mio.“2 Der Brief vom 18. August 1819 zeigt uns Henriette Herz in ihrer ganzen kommunikativen Eleganz: persönlich, aber nie larmoyant, einfühlsam und zugewandt, aber niemals aufdringlich oder übergriffig, eine intelligente, aber nie eifernde Beobachterin ihrer Zeit und ihrer Mitmenschen, über deren Schwächen 1 Die Briefe von Henriette Herz an Immanuel Bekker werden zitiert aus der Edition Henriette Herz [u. a.]: Letters to Immanuel Bekker from Henriette Herz, S. Pobeheim and Anna Horkel. Hrsg. von Max J. Putzel. Bern 1972, S. 59. Hingewiesen sei aber darauf, dass die University of Chicago Library die Scans aller Manuskripte im Internet zur Verfügung stellt unter http:// www.lib.uchicago.edu/ead/pdf/bekker-0001-003.pdf [12. 1. 2016]. 2 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 32–35. Eindrucksvoll auch die Originalhandschrift des Briefes, bei der die optische Dichte mit der Informationsfülle korrespondiert, siehe Link (Anm. 1).

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sie jedoch nicht urteilt, fokussiert sie stets die herzliche Verbindung von Menschen. Die über diesen Brief hinaus weiteren 40 erhaltenen Briefe von Henriette Herz an den Philologen Immanuel Bekker aus der Zeit von 1817 bis 1825 stellen ein besonderes Dokument dar, einerseits weil es nur wenige Schriftproben und überhaupt kein weiteres so umfangreiches zusammenhängendes Briefkorpus von Herz gibt, die die Briefe, derer sie habhaft werden konnte, verbrannt hat,3 andererseits weil über späte Lebensmitte und Alter von Herz weit weniger bekannt ist als über die Zeit des Salons.4 Die Antwortbriefe von Bekker sind leider nicht überliefert. Das ist in diesem Fall nicht nur bedauerlich, sondern auch kurios, denn über Bekker kursierte das Bonmot, er schweige in sieben Sprachen (Schleiermacher hat es geprägt5 und es weckte so viel Begeisterung, dass es binnen kurzem bis ins Ausland6 und in Goethes Korrespondenz kolportiert wurde7). Und tatsächlich ist Bekkers Schweigsamkeit ein Thema, das die Briefe von Henriette Herz an ihn durchzieht – als Klage über ausbleibende oder zu knapp gehaltene Briefe, als ständige Aufforderung und Ermunterung, zu schreiben, als Anlass, über die eigene Mitteilsamkeit zu reflektieren, als Auslöser ernster Konflikte. Schweigen „als Diskursives Anderes der Rede, als nonverbale Kommunikation und rhetorische Kontrafaktur“8 hat ein großes Spektrum an potenziellen Funktionen. Vom rituellen Schweigen mit spiritueller Bedeutung über die verschiedenen Arten von Schweigen in Machtgefügen (in Bezug etwa auf Geheim3 J. Fürst: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. 2. Aufl. Berlin 1858, S. 36. 4 Das einzige vom Umfang her vergleichbare erhaltene Briefkorpus an Ehrenfried von Willich stammt aus der Zeit von 1801 bis 1807. Es liegt publiziert vor in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher u. Henriette Herz: Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich. 1801 bis 1807. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 1984. 5 Es stammt aus dem Zusammenhang der Griechischen Gesellschaft Graeca, in der Bekker trotz Wortkargheit für seine überragenden Sprachkenntnisse als Autorität hoch angesehen war, wie berichtet bei Ferdinand Ranke: August Meineke. Ein Lebensbild. Leipzig 1871, S. 99. 6 Schröder zitiert George Eliot, die es innerhalb eines englischen Briefes auf Französisch anbringt, und Charles Wordsworth. Wilt Aden Schröder: Immanuel Bekker. Der unermüdliche Herausgeber vornehmlich griechischer Texte. In: Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an der Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Anette M. Baertschi u. Colin G. King. Berlin [u. a.] 2009, S. 329–368, hier S. 358. 7 Goethe an Zelter im Brief vom 15. bis 23. März: „[…] so muß ich schweigen (wie unser Philologe Becker, den sie den Stummen in sieben Sprachen nennen) […]“. Johann Wolfgang Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1828 bis 1832. In: ders.: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 20. Teil 2. Hrsg. von Edith Zehm u. Sabine Schäfer. München 2006, S. 1332. 8 Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, S. 20.

Sprechen und Schweigen in der Korrespondenz von Herz und Bekker

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wissen, Schweigerechte und Schweigepflichten) bis zum Verstummen in ästhetischen Konzepten aus Überwältigung oder profanem Schweigen aus Langeweile – die Kulturgeschichte des Schweigens ist reich. Dabei hat das paradoxe Kommunikationselement in vielen Aspekten ein diametrales Aussagepotential, das nicht zuletzt durch die Reaktion der Kommunikationspartner erst eine Bedeutung erhält: Das Schweigen der Zuhörer kann Langeweile implizieren oder konzentrierte Aufmerksamkeit, es kann Zustimmung ausdrücken oder Ablehnung, Hochachtung sowie Verachtung, Empathie oder Kälte. Schweigen wirft den sprechenden Part auf sich selbst zurück und ist damit ein prädestinierter Auslöser für Selbstreflexionen. Es scheint also eine reizvolle Konstellation, die sich in den vorliegenden Briefen niederschlägt, dass nämlich die Kommunikationskünstlerin Herz in Bekker mit einem bis zur Stummheit wortkargen Gegenüber konfrontiert war. Möglicherweise lassen sich hier neue Facetten über gesellschaftliche und kommunikative Positionierungen, über Selbstbild und Rolle von Henriette Herz erkennen, die sonst schwer zu gewinnen sind, da Herz schon zu Lebzeiten zu einem Mythos stilisiert und ihr Agieren vor allem in Berichten anderer über sie überliefert wird.9 Die Untersuchung des Schweigens in dieser Korrespondenz, seiner möglichen Interpretationen, der Reaktionen, die es hervorruft und wiederum deren Interpretation soll der Leitfaden sein, anhand dessen die Briefe im Folgenden präsentiert werden.

1.

Sprachen

Beginnen wir mit dem Kontrapost des Schweigens: den Sprachen. Was Herz und Bekker verbindet, sind ihre außerordentlichen Sprachenkenntnisse: Für die sieben Sprachen, in denen Bekker schweigt, muss man Deutsch, Latein und Griechisch sogar abziehen. Es bleiben immer noch Dänisch, Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, Französisch, Englisch und Niederländisch (inklusive der historischen Vorläufer dieser Sprachen wie AltprovenÅalisch und -französisch, sowie Altitalienisch).10 Henriette Herz konnte in mindestens sieben Sprachen sprechen: Laut ihres ersten Biographen J. Fürst „wußte sie von den alten Sprachen hebräisch, griechisch und latein, von den neueren französisch, englisch, italienisch, spanisch und schwedisch, und die Letzteren, namentlich das Französische, Englische und 9 Den Aspekt, dass Herz insbesondere über ihre körperliche Schönheit und bildliche Darstellungen definiert wurde, beleuchtet Liliane Weissberg: Weibliche Körpersprachen. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jutta Dick u. Barbara Hahn. Wien 1993, S. 71–92. 10 Schröder : Bekker (Anm. 6), S. 358 u. 360.

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Italienische sprach sie mit Geläufigkeit.“11 Rainer Schmitz fügt noch Sanskrit, Türkisch und Malayisch hinzu.12 Wie weit ihre Kenntnisse in den exotischen Sprachen reichten, wird in den erhaltenen Zeugnissen nicht berichtet, dass ihr jedoch von einem englischen Gesandtschaftsoffizier auf Englisch der Hof gemacht wurde, der Sprache, aus der sie auch zwei Bücher übersetzte, und sie ihn auf Französisch in die Schranken wies,13 wissen wir aus ihrem erweiterten Erinnerungsfragment genauso wie, dass ihre Begegnung mit Goethe auf Französisch begann, das er – nach ihrem Urteil – „gut und mit Geläufigkeit“ sprach.14 So streut Henriette Herz mit leichter Hand in die Briefe französische, englische und italienische Wendungen: „que voulez vous que je fasse?“; „God knows where“; „ah che roba sind die Menschen!“15 Besonders das Italienische wird nach der gemeinsam verbrachten Zeit dort zum epistularen Instrument, freundschaftliche Intimität zu vergegenwärtigen. Auch auf Italienisch bleibt es lebenslang, selbst nach dem Heiratsantrag Bekkers, beim „Sie“, – „capisce?“, „venga pure e veda“, „che ne dice?“16 – aber die Anreden „caro mio“17, „caro amico mio“18 und vor allem das oft gebrauchte „carissimo“19 stiften eine individualisierte Vertraulichkeit. Über die kleinen Einsprengsel hinaus gibt es jedoch keine längeren Passagen in anderen Sprachen als Deutsch. Sprachwechsel werden nicht wie in anderen Korrespondenzen der Zeit subtil mit Bedeutung aufgeladen, um etwa Ehrlichkeit oder Eleganz performativ auszudrücken.20 Wenn über Sprachen geschrieben wird, hat das eine gemeinschaftsstiftende Funktion, es geht nie um philologische oder sprachphilosophische Inhalte. So schreibt Herz in einer Zeit, in der Bekker sich für Monate mit ihr überworfen hat, ihr grollt, entweder gar nicht schreibt oder in verletzender Weise, als Abschluss eines ernsten Briefes: „Nun will ich Ihren philologischen [sic!] einmal versuchen – was ist es wol für eine Sprache in der Gebüsch ballert – Erde Schunk –

11 Fürst: Henriette Herz (Anm. 3), S. 38. 12 Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Frankfurt a. M. 1984, S. 440. 13 Herz: Erinnerungen (Anm. 12), S. 36–39. 14 Ebd., S. 127. 15 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 20, 50 u. 60. 16 Ebd., S. 35, 36 u. 62. 17 Ebd., S. 40 u. 56. 18 Ebd., S. 37. 19 Ebd., S. 35, 36, 45, 51, 61 u. 76. 20 Als prägnantes Gegenbeispiel siehe z. B. die Korrespondenz von Hermann und Lucie von Pückler-Muskau, sowie den Aufsatz darüber von Andrea Hübener: „Mondschein“ – „Wolken“ – „Erde“. Zur Inszenierung von Briefereignissen und deren Materialität in der Korrespondenz zwischen Lucie und Hermann von Pückler-Muskau. In: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau. Hrsg. von Jana Kittelmann. Dresden 2015, S. 61-80, hier bes. S. 70ff.

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heißt – Bös – Kappisch –.“21 Bei den eigenartigen Vokabeln handelt es sich um eine Gaunersprache. Ein heiterer Anknüpfungspunkt für die weitere Kommunikation. Bekker geht jedoch nicht darauf ein, der folgende Brief von ihm scheint das Versöhnungsangebot grob auszuschlagen, „mit der bittersten Ironie“ tut er „Gefühl“ und „Herz“ der Briefpartnerin so „weh“,22 dass das Fortbestehen der Freundschaft in Frage steht wie nie zuvor. Und dennoch quetscht Herz unten auf das auf beiden Seiten komplett beschriebene Briefpapier ihres gekränkten Antwortbriefes die Bemerkung: „Kennen Sie die Tochter der Luft von Calderon? Ich habe sie hier gelesen und ich wage zu sagen dass es wohl eines der herrlichsten Stüke ist die es giebt – das erste was wir miteinander lesen muss dies sein – “ und noch kleiner am Rand: „ich habe es hier deutsch von Gries gelesen.“23 In Anbetracht der Tatsache, dass Bekker und Herz 1815 zu Beginn ihrer Freundschaft einen Abend pro Woche miteinander Spanisch gelesen haben, ist das als Angebot und Bitte um einen Neustart der Freundschaft zu verstehen. Auch in weniger problematischen Phasen der Korrespondenz gereicht der Rekurs auf Fremdsprachen nie zum Selbstzweck, sondern dient immer als Anknüpfungspunkt für den Dialog. So beginnt ein Brief mit der neugierigen Aufforderung nach einer Spiegelung im Zeichen der Sprachen durch den Freund: Nur um nicht wieder zu vergessen was ich schon zweimal fragen wollte fange ich diesen – nächsten Brief heute schon an – Welche ist denn meine Lieblingssprache in der Sie mir Ihre Reise durch die Schweiz durch Schl[eiermacher] verkünden ließen? Ich liebe in allen fast die ich mehr oder weniger kenne, einiges – welche ausschließend, wüßte ich wahrlich nicht zu sagen – nicht selten aber sieht ein uns Nahstehender mehr in uns als wir selbst und so dürfte ich von Ihnen, liebster Freund, auch über mich und von mir mehr erfahren als ich selbst weiss.24

Und als sich Bekker einmal in Berlin einsam und allseits zurückgewiesen fühlt, schreibt Herz, in der Gewissheit, dass Sprachstudium Kommunikation und Gemeinschaft bedeutet, besonders wenn es in der geschlechterübergreifenden geselligen Form, die Herz so gut kennt, fern der Universitäten betrieben wird: „und sagen Sie mir dass Sie wieder italienischen Unterricht geben, dann weiss ich Sie froher.“25

21 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 67. Hervorhebungen im Original. 22 Ebd. 23 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 69. Hervorhebung im Original. Die Dringlichkeit, durch die Hinzufügungen eine Versöhnlichkeit zu stiften, übermittelt sich auch mit Blick auf das Manuskript, wo man die Zusätze auf eine Seite gedrängt sieht, auf der eigentlich kein Platz mehr ist. Siehe dazu die Scans aus Chicago (Anm. 1). 24 Ebd., S. 49. 25 Ebd., S. 64.

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2.

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Gelehrtes Schweigen

Oft genug jedoch verweigert Bekker sich dem Sprechen und das offensichtlich in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichem Echo. Bekkers Sohn berichtet rückblickend über den Vater : „Die Schweigsamkeit war durchgängig: im wissenschaftlichen geschäftlichen geselligen Verkehr, überall beschränkte er sich auf das Notwendigste.“26 Wissenschaftshistoriker bestätigen etwa zu Bekkers Meisterwerk, der ersten nach modernen Prinzipien edierten AristotelesGesamtausgabe: Leider hat Bekker selbst dazu beigetragen, dass seiner Leistung nicht immer die ihr gebührende Anerkennung zuteilgeworden ist. Die Praefatio bietet nämlich […] nur drei Sätze zur Entstehungsgeschichte der Ausgabe. Nirgends aber hat Bekker die Grundsätze seiner Textgestaltung dargelegt, nirgends über eine (stillschweigend vorgenommene) Klassifizierung der Handschriften gesprochen.27

So produktiv Bekker ediert – er besorgt etwa 140 Bände und ediert damit, wie ein weiteres Bonmot bemerkt, mehr als andere lesen28 – so wenig verschriftlicht er seine Editionsprinzipien oder produziert daneben Sekundärliteratur. Vorlesungen hält er außerordentlich ungern und versucht, das Publikum durch eingeschränkte Themen, einen trockenen Stil und Aussetzen der Veranstaltungen zu vergraulen, was ihm oft genug gelingt. Das hält sogar die Allgemeine Deutsche Biographie fest: bei seiner Unlust sich im Reden zu ergehen, konnte er eine wirksame Thätigkeit als akademischer Lehrer nicht entfalten. Er beschränkte sich auf einen regelmäßigen Cursus von exegetischen Colloquien über einige Reden des Aeschines und Isokrates und über Reden bei Thukydides. Schon diese Beschränkung zeigt, daß es ihm nicht darum zu thun war, Zuhörer zu gewinnen; eben so wenig einladend war die Art seines Vortrags.29

Das Schweigen des Immanuel Bekker fügt sich damit zum Teil in das Bild des entbehrungsreichen Gelehrtenlebens, wie es sich bereits seit Erasmus von Rotterdam ikonographisch an Hieronymus-Abbildungen von einsam Studierenden orientiert: am Holztisch mit einer Feder über Bücher gebeugt, die Lippen 26 Ernst Immanuel Bekker: Zur Erinnerung an meinen Vater. In: Preußische Jahrbücher 29 (Mai 1872), H. 5, S. 553–668, hier S. 658. 27 Schröder : Bekker (Anm. 6), S. 352. 28 Ebd., S. 360. 29 [Karl Felix] Halm: Bekker. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Zweiter Band: Balde–Bode. Leipzig 1875, S. 300–303. Über Bekkers Unlust zu lehren zitiert Schröder einige amüsante Zeugnisse seiner verzweifelten Hörer, Schröder : Bekker (Anm. 6), S. 341f. Der Sohn Bekkers zitiert aus dem Tagebuch des Vaters die Kürze der Veranstaltungen, die auch mal „aus Faulheit“ ausgesetzt werden. Bekker : Zur Erinnerung (Anm. 26), S. 573.

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mit einer Geste des Fingers verschließend.30 In der sich neu formierenden Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird es in Übernahme eines mönchisch-asketischen Ethos wieder modern: Etwa die Brüder Grimm leben und inszenieren sich in kargen Schreibstuben, das Leben nur den Büchern gewidmet.31 Auch Henriette Herz zeichnet ein solches Bild des Freundes im Brief an ihn: „wo ich Sie mir denken sollte, wusste ich nicht recht, und ich werde erst etwas ruhiger darüber sein, wo ich Sie mir in der Arbeit, wenn auch in der dunklen, melancholischen Bibliothek am langen Tische sitzend, denken kann.“32

3.

Schweigen aus Blödigkeit

Henriette Herz und Immanuel Bekker sind ein sehr ungleiches Freundespaar. Herz ist einundzwanzig Jahre älter, also beim Kennenlernen schon Mitte vierzig, Bekker hingegen erst Mitte zwanzig. Bekker ist der Sohn eines Schlossermeisters, der die philologische Begabung seines Sohnes nicht fördert: Schon als Gymnasiast am Grauen Kloster muss Bekker für seinen Unterhalt selbst aufkommen durch niedrige Dienste, wie das Schuheputzen im Hause Gedike, der ihm als Schuldirektor zwar ermöglicht, sich finanziell über Wasser zu halten, ihn jedoch vor seiner Klasse demütigt.33 Bekker arbeitet hart, schlägt sich durch und findet an der Universität Halle in seinem Lehrer August Wolff schließlich einen zuverlässigen Förderer seiner akademischen Ambitionen. Er bleibt aber von seinem schwierigen Start gezeichnet. Er ist misstrauisch, unbeholfen und schweigsam und erwirbt sich Anerkennung eher mit eisernem Fleiß und immensem, jedoch spärlich vorgebrachtem Wissen als durch Charme. Niebuhr berichtet 1817 in einem Brief: „Bekker ist von Kindheit an hart, ja sogar grausam gedrückt worden: dies hat ihn menschenfeindlich und verschlossen gemacht.“34 Bekkers Sohn formuliert: „Die eigene Blödigkeit und Unbehülflichkeit im Verkehr mit Menschen pflegte er stets auf den damals gebrochenen Jugendmut zurückzuführen.“35 Mit Blödigkeit wird hier ein Begriff verwendet, der dem Arsenal der politischen Klugheitslehre des 17. Jahrhunderts entstammt. Der 30 Siehe z. B. das Emblem Nr. 11 „Silentium“ in Andrea Alciato: Emblemata. Padua 1661 (1531), S. 16. Dazu auch Benthien: Barockes Schweigen (Anm. 8), S. 40ff. 31 Siehe Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2013, zu einer spezifischen Arbeitsethik S. 167, zu den „Programmbegriffen“ „Fleiß und Bedächtigkeit, Treue und Strenge“ S. 290 und passim. Dass das tatsächliche Leben nicht „ganz so mönchisch und klausnerisch“ war, wie proklamiert, zeigt umso mehr, dass es sich bei diesem Ideal um eine zeitgenössische Konstruktion handelt, ebd. S. 177. 32 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 24. 33 Bekker : Zur Erinnerung (Anm. 26), S. 557. 34 Zit. nach Schröder : Bekker (Anm. 6), S. 330, FN 4. 35 Bekker : Zur Erinnerung (Anm. 26), S. 557.

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Blöde ist dort „verecundus“, „timidus“, „meticulosus“, und „pudibundus“, also scheu, schüchtern, bange und voll Scham, geprägt von „diffidentia“ und „formido“ – Misstrauen und Furcht.36 Stanitzek definiert Blödigkeit als „unsichere Überreflexion des mit den ungewissen Chancen und unwägbaren Risiken einer Herkunft und Zukunft entzweienden Moderne konfrontierten einzelnen“.37 Sieht man den Aufsteiger Bekker innerhalb des noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts längst nicht abgeschlossenen Prozesses von Individualisierung und gesellschaftlicher Differenzierung, als Schwellenfigur der Moderne, passt die Blödigkeit des 17. Jahrhunderts als Begriff durchaus auf ihn. Wie anders tritt die auf gesellschaftlichem Parkett erfahrene, zugewandte Henriette Herz aus vornehmem, bildungsfreudigem, jüdischen Haus auf. Zur Zeit der Ehe mit dem angesehenen Mediziner Markus Herz ist ihre gesellschaftliche Rolle sicher. Zumindest zu Beginn der Bekanntschaft ist Bekkers Einsilbigkeit sicherlich zum Teil seiner Unbeholfenheit gegenüber der eloquenten Freundin geschuldet. Der Sohn Bekkers berichtet als unvergessliche und bedeutsam erzählte Erinnerung des Vaters dessen erste Begegnung als Gymnasiast mit der berühmten Frau Herz: Von Gediken einmal mit einer Bestellung zu dem damals viel berühmten […] Markus Herz gesandt, wird ihm die Tür geöffnet von dessen Frau, der späteren Freundin meines Vaters: derzeit aber hatte er sie noch nie gesehen, und steht nun vor der imposanten jugendlich schönen Erscheinung gänzlich benommen, und sucht vergebens nach Worten den Auftrag zu besorgen. Das war ihm nach mehr als funfzig Jahren, wo er mir davon erzählte, so klar erinnerlich wie ein Vorgang von gestern.38

Herz erkennt, dass Bekkers gesellschaftliche Zurückgezogenheit aus einem auf Unsicherheit beruhenden Misstrauen gegen andere erwächst und versucht, ihn durch steten Zuspruch zu kurieren. In einem Brief formuliert sie es direkt: Sie werden von vielen Menschen geliebt, von mehr noch geachtet und glaubten Sie beides, besonders das erste so recht, so könnte Ihnen nur wohl sein, Ihr Gemüth würde offen und frei sich auch öfter durch Worte mittheilen, hingeben, niederlegen in die anerkandt befreundete Brust […].39

In einem anderen Brief erklärt sie diese Überzeugung, dass man einen verschlossenen Menschen durch Liebenswürdigkeit öffnen kann, am Beispiel einer anderen Person: „man wird liebenswürdig wenn man sich geliebt glaubt und 36 Diese Kennzeichen werden herausgearbeitet bei Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974, S. 107ff. 37 Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibung des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 1. 38 Bekker : Zur Erinnerung (Anm. 26), S. 659. 39 Putzel: Letters (Anm. 1), S. 39.

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wird durch gute Behandlung oft wirklich gut“.40 Nach diesem Rezept umsorgt Henriette Herz ihren schweigsamen Freund. Ein wichtiges Element ihrer Briefe bilden die Grüße gemeinsamer Bekannter an Bekker und positive Dinge, die sie über ihn gehört hat: „Jacobi, Niethammer, Tiersch, Coppe, alles grüßt Sie sehr herzlich und lobt und rühmt Sie – auch der alte Rodolphi der eben hier war rühmt sogar ihre Gesprächigkeit – solche Wirkung haben die lauen italienischen Lüfte auf Sie.“41 Sie spiegelt ihn fortwährend in den freundlichen Bemerkungen anderer, die sie ihm zuträgt. Selbst die ungeliebten Vorlesungen versucht Herz Bekker schön zu loben: lieber B. ich kann nicht ruhen bis ich Ihnen gesagt habe was ich von zweien Ihrer Zuhörer gehört habe, […] – nehmlich dass man entzückt über Ihre erste Vorlesung war, über die Sachen und über die rednerische Art sie vor zu tragen […] – Sehn Sie wie Sie sich Unrecht thun und glauben Sie nur immer was ich sage – ich höre, und sehe richtig und sage die Wahrheit.42

Neben den direkten Grüßen und Lobpreisungen versucht Herz zudem, Bekker zu positiven gesellschaftlichen Erlebnissen zu verhelfen, indem sie ihn brieflich in befreundete Haushalte schickt, und lobt, wenn er ihren Empfehlungen nachkommt. Gerade im Vergleich zu den Programmen der politischen Klugheitslehren aus vorigen Jahrhunderten, wie Blödheit zu überwinden sei (etwa auf dem Kampffeld der Rhetorik), erkennt man Henriette Herz’ gänzlich andersgeartetes Vorgehen, das eher auf der psychologischen Introspektion und Kausalität der Erfahrungsseelenkunde, vor allem aber auf einem ganz praktischen Konzept von Geselligkeit beruht. Es geht ihr um Integration und Wechselwirkung innerhalb einer Gemeinschaft einander wertschätzender und bereichernder, grundsätzlich gleichwertiger Individuen.

4.

Die Himmelskrone

Herz’ Kur hat Erfolg: Als Bekker und Brandis die Damen Henriette Herz, Caroline von Humboldt und deren Töchter mit einigen Aufenthalten und Stationen am Ende des Italienaufenthalts von Rom bis an den Comer See begleiten, zeigt sich Bekker von liebenswürdiger und gesprächiger Seite43 – Herz schreibt: 40 41 42 43

Ebd., S. 25. Ebd., S. 16. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 73. Das lobt nicht nur Henriette Herz ausführlich, sondern bestätigen auch Briefe Caroline von Humboldts an ihren Mann: „Bekker, der stumme Bekker ist sogar liebenswürdig, zuvorkommend und gesprächig geworden.“ Und: „[…] der stumme Bekker hat, obgleich er selbst kein Fait davon macht, seine ganze Natur umgeändert. Er hebt mich in den Wagen aus und

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„Unser Zusammensein in den letzten Wochen wird mir eine Erinnerung fürs ganze Leben sein –“.44 Die Entwicklung Bekkers gipfelt am letzten Abend in dem berüchtigten Heiratsantrag an die 20 Jahre ältere Freundin, den sie jedoch ausschlägt.45 In Bekkers Tagebuch, zumindest wie es sein Sohn wiedergibt, wird die Begebenheit verschwiegen, aber in der Knappheit doch deutlich, dass die Trennung von der Herz ihn in einer fundamentalen Einsamkeit zurück lässt: „Sonnabend und Montag auf dem Comer See. Mondschein in Cadenabbia. Oper. Wir wollen uns nicht vergessen. Sonnabend früh weg: ich stehe am Mast alleine, und weine.“46 Aus einem Brief von ihr an ihn lässt sich rekonstruieren, dass der Antrag mit einer außerordentlichen Öffnung Bekkers einherging: Was oft Jahre nicht thun, thut ein Moment und keine treuere Brust als die meine können Sie, lieber B. finden, Schmerz und Freude darin niederzulegen und lange – recht lange schon hoffte ich dass die Ihre sich mir öffnen würde – Eine unglükliche frühe Jugend gab ihr den Schein der eisernsten Verschlossenheit, ich wusste, dass sie es nicht sei und sagte es oft allen, die es glaubten – Ich hatte Recht und meiner schönen Reife ist eine Himmelskrone aufgesetzt.47

Signifikant für Henriette Herz’ Virtuosität in Fragen des Taktes, aber auch für ihr essentielles Verständnis von Kommunikation ist hier die Wendung, mit der es ihr gelingt, die Ablehnung der ehelichen Verbindung in eine Zustimmung zu einer kommunikativen Vereinigung zu transformieren: Entsagt sie auch dem Brautkranz, erhält sie doch die Himmelskrone – die Freundschaft wird in der gegenseitigen kommunikativen Öffnung verklärt.

5.

Schweigen ist Macht

Die Offenheit Bekkers ist jedoch nicht von Dauer. Auch wenn Herz unbeirrt fortfährt, ihm Unsicherheit und Schweigsamkeit durch Lob, Grüße, Einbezug in Freundeskreise abzuerziehen, sieht sie doch, dass hinter der Unwilligkeit zur

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ein und trägt mich beinah die Stufen herauf.“ Anna von Sydow (Hrsg.): Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. 7 Bde. Berlin 1906–1916, hier Bd. VI, S. 538 u. 542f., ähnliche Aussagen auf S. 532 u. S. 539. Putzel: Letters (Anm. 1), S. 24. Ein Beispiel für die genüssliche Besprechung des Vorfalls ist der Brief von Wilhelm von Humboldt an seine Frau vom 6. Juli 1819: „Die Herz war bei mir diesen morgen. […] Sie war wirklich viel hübscher. Bekker hat nun Heiratsvorschläge getan, Ich habe abgeraten. Ohne den Altersunterscheid täte sie’s, das glaube mir. Sie hat mir gestanden, dass es ihr doch viel Vergnügen mache, noch solchen Eindruck hervorzubringen. Das finde ich wirklich natürlich. Ich hätte es selbst gern, wenn man mich noch hübsch fände.“ Sydow: Wilhelm und Caroline in Briefen (Anm. 43), Bd. VI, S. 572. Bekker : Erinnerung (Anm. 26), S. 583. Putzel: Letters (Anm. 1), S. 29. Hervorhebung im Original.

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Mitteilung nicht nur Schüchternheit steckt: „wie unrecht Sie sich thun wenn Sie so demüthig – oder soll ich sagen – stolz, zurücktreten vor den Menschen“.48 Auch Bekkers Sohn bestätigt diese selbstzufriedene Komponente der Schweigsamkeit des Vaters, die er als Marotte und Markenzeichen pflegt: „Wenn irgendwo, so möchte ich hier den Vater zeihen, der Eitelkeit nicht ganz widerstanden zu haben: es gefällt ihm, daß von seiner Kürze und Schweigsamkeit geredet und geschrieben wird, und er wird darum immer schweigsamer und kürzer.“49 Henriette Herz kann nicht anders, als es persönlich zu nehmen: Ich bin die letzte an die Sie schreiben – wäre ich so gut wie ich es nicht bin so könnte ich diesem Schweigen eine bessere Deutung geben, könnte mir einbilden, dass Sie erst recht zur Ruhe kommen wollen ehe Sie mir schreiben u. dgl. aber – ich will nun einmal ärgerlich sein, will nun einmal böse bleiben und werde erst wieder durch einen recht ausführlichen und recht freundlichen Brief gründlich versöhnt.50

Nicht nur Bekkers Schweigen erhält seine Interpretation durch Herz, auch ihr Nicht-Schweigen muss sie an seinem Schweigen spiegeln und selbst bewerten. Oft nimmt Herz es mit Humor und spottet über sich selbst, wenn Sie nach dem Gruß noch die Ränder der Briefe beschreibt, weil Ihr noch etwas eingefallen ist: „kann ich wohl aufhören?“51 Auf Dauer jedoch verunsichert es die Schreiberin: „oft schon habe ich mir gedacht wie lästig Ihnen, dem Schweigsamen, mein vieles Sprechen und ewiges Klagen sein muß“,52 „ungern möchte ich langweilig werden“.53 Dabei beginnt sie an Ihren eigenen Beiträgen zu zweifeln und sie schreibend zurückzunehmen: „Verzeihen Sie ich werde ganz breit aus lauter Freundschaft für Sie und das können Sie so wenig leiden, daß ich lieber ungesagt lassen mögte, was ich gesagt habe“.54 In solchen Momenten kippt das Machtgleichgewicht der Kommunikation. Eine Binsenweisheit der Kommunikationstheorie lautet: „Schweigen kann […] ein machtvolles Instrument der […] Verweigerung sein“.55 Henriette Herz formuliert ihre Hilflosigkeit: „meine – ja, wie soll ich es nennen, was mich treibt Ihnen zu schreiben […] – Gutmüthigkeit? nein, ich bin böse und will und kann es nur Schwäche oder gar Erbärm-

48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 25. Bekker : Erinnerung (Anm. 26), S. 664. Putzel: Letters (Anm. 1), S. 36. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 35 u. 41. Ebd., S. 18. Ebd., S. 33. Ebd., S. 24. Maj Popken: Warum sagst Du nichts? Über das Schweigen in der Rede. München 2011, S. 129.

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lichkeit nennen – Diese also lässt es mich nicht aushalten auch zu schweigen wie Sie Allerschweigsamster.“56

Hier ist das Kräfteverhältnis andersherum als beim jungen, schüchternen Bekker gegenüber der verheirateten, schönen, älteren, kurz ihm in so vielem überlegenen, gesellschaftlich fest verwurzelten Herz. Das Schweigen wird zu einer offensichtlichen Unhöflichkeit des mittlerweile in der akademischen Laufbahn leidlich installierten Gelehrten gegenüber der selbst finanziell nicht mehr ausreichend abgesicherten Witwe. Aus dieser Position der Schwäche werden für Henriette Herz Briefe zu Lohn, ausbleibende Informationen zu Strafe, die sie nach Bekkers Gutdünken empfängt: Statt des Lohnes, den Sie mir geben müssten, für meinen […] Brief bestrafen Sie mich und statt mir nun recht ausführlich über ihre […] neue Reise zu schreiben, schweigen Sie lieber ganz davon – perdoni – es ist aber recht Sie, eine Gelegenheit von Zaune zu brechen um nur schweigen zu können.57

Auch das Titelzitat, wenngleich scherzhaft, zeigt diese Konstellation, die die Korrespondenz durchzieht: Die renommierte Gesellschaftsdame sieht sich hilflos der Willkür eines verstockten Philologen ausgesetzt. „Wie können Sie nur so grausam sein selbst sprechend schweigsam zu bleiben“.58

6.

Wirken

Warum Bekkers Maul- bzw. Federfaulheit Henriette Herz ins Mark trifft, wird klar, wenn man den Inhalt der Briefe auswertet. Wie schon beschrieben, werden die jeweiligen und gemeinsamen Sprachkenntnisse nicht inhaltlich thematisiert. Auch Kunstwerke und Sehenswürdigkeiten werden mit größter Beiläufigkeit erwähnt; zum Beispiel: „Ich war in Neapel und jeder Mensch […] soll dieses Zauberland sehen – es ist mir aber schlecht bekommen, ich war dort immer unwohl, zwei Tage krank, und bin noch nicht wohl – Habe aber alles gesehn.“59 Hin und wieder wird eine Lektüre oder eine Ausstellung erwähnt,60 über anderthalb Sätze gehen die Passagen aber nicht hinaus. Direkt als Herz nach Italien kommt, formuliert sie ihre Prioritäten: Wenn Sie mich fragen wie es mir in Italien gefällt, so kann ich Ihnen nur antworten dass mich vieles darin entzückt […] – Das aber fühle ich jetzt lebendiger als je, dass ich 56 57 58 59 60

Putzel: Letters (Anm. 1), S. 35. Ebd., S. 38. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 59. Ebd., S. 22. Z. B. ebd., S. 26: Lektüre der Neuen Heloise; S. 29: die Boissereesche Sammlung; S. 34: Werk von Hans Memling, Kunstsammlungen in Köln.

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Natur und Menschen haben muss damit mir wohl sei – die Kunst, die ich nicht verstehe, sondern nur fühle, ersetzt mir jene nicht. So war mir in München sehr wohl – freilich nicht durch die dürre, öde Kiesnatur […] – aber wohl durch die Menschen die mich mit vieler Freundlichkeit und Liebe aufnahmen.61

Natur und Menschen seien ihr wichtig, schreibt sie, dass die Natur dabei jedoch zweitrangig ist, belegt das Zitat schon selbst. Was für Henriette Herz wirklich von Bedeutung ist, sind Bekannte, Freundschaften, Freundeskreise. In den 41 Briefen an Bekker werden über 160 Zeitgenossen erwähnt: Hochzeiten, Geburten, Taufen, Krankheiten, Todesfälle, aber auch Reisen, berufliche Entwicklungen, religiöse Einstellungen. Das ist Henriette Herz’ Anliegen: persönliche Informationen einzuziehen, weiterzugeben und dadurch Menschen zu verbinden. Sie ist eine Vernetzungskünstlerin. Es gibt Vertraulichkeiten, Klatsch und auch mal Lästereien in den Briefen, aber grundsätzlich ist der Tenor dieses gesellschaftlichen Wirkens immer konstruktiv. Es ist auffällig, dass sie bei kontroversen Themen stets die Stimme der Vermittlung und Beschwichtigung übernimmt. Zu den Themen, die aus heutiger Perspektive besonders interessieren, bleibt Herz seltsam vage. Man denke an den eingangs zitierten Brief, in dem kein einziges scharfes Wort gegen Ernst Moritz Arndt fällt, dessen Nationalismus zu dieser Zeit bereits deutlich antisemitische Züge trägt und der – wie Herz, ohne es jedoch zu verurteilen, durchblicken lässt, – zudem frauenverachtend eingestellt ist. Immerhin verdanken wir den Briefen an Bekker einige Aussagen über Religion und Konfession, Themen, zu denen Herz sonst nicht schriftlich Stellung genommen hat, die sie wie auch ihre Konversion ansonsten unkommentiert lässt. Rom als Zentrum des Katholizismus fordert von jedem Besucher eine Positionierung in diesen Fragen ein. In Deutschland kursiert das Gerücht, Herz sei auf Drängen des deutsch-katholischen Umfelds zum Katholizismus übergetreten. Sie stellt das Bekker gegenüber richtig und verteidigt dabei Dorothea Schlegel gegen jeden Verdacht einer „Proselytenmacherei“ vehement: Schlegels Herz halte „gläubig fest an dem was ihr als das einzig wahre gezeigt und von ihr angenommen worden“, ihr Geist dagegen sehe, „wie nicht alles gleich sein kann“ – „Sie spricht laut gegen alle Unduldung […] und ich schwöre es Ihnen bei allem was uns heilig ist, dass ich nie ein Wort von ihr zu mir gehört habe dass nur den Wunsch verriethe dass ich catholisch werden mögte“.62 Diese Haltung gegen alle Unduldung, die Herz hier Schlegel bescheinigt, ist die eigentliche Grundierung ihrer eigenen Briefe und aller Passagen zu Religion und Konfession.63 61 Ebd., S. 16. 62 Ebd., S. 19. 63 Zu einer Unstimmigkeit kommt es zwischen Bekker und Herz aufgrund einer doppelten Duldsamkeit gegenüber anderen Ansichten. Sie vermutet, dass ihm eine Streitschrift von

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In Gesellschaft ist Henriette Herz in ihrem Element, ist sie allein, fühlt sie sich „wie eine verwünschte Prinzessin, keinen Menschen kennend noch gekand“ – sofort nutzt sie ihre „viele Zeit um einige Briefe zu schreiben“, um wenigstens schriftlich Geselligkeit zu befördern.64 Schon 1798 erklärt Schleiermacher der Freundin, die mit sich und ihrem Leben unzufrieden ist: „Sind wir etwa nicht mit in der großen Thätigkeit? Eigentlich gibt es doch keinen größeren Gegenstand des Wirkens als das Gemüt, ja überhaupt keinen andern; wirken Sie da etwa nicht? O Sie Fruchtbare, Sie Vielwirkende […]“ und fordert, am Altar von Liebe und Freundschaft zu bekennen, „daß Sie an der rechten Stelle stehen“.65 Fast 30 Jahre später klagt Herz, die einsam auf dem Land bei ihrer Schwester wohnt, im Brief an Bekker : „Ich führe hier ein trübes Leben, mein Freund, ohne etwas wirken zu können“.66 Ihr Wirken, ihr Handlungsraum ist das soziale Wechselspiel um seiner selbst willen. Wenn dies nicht möglich ist, werden ihre Äußerungen unglücklich bis depressiv. Über Geburtstage schreibt sie: „Als man sich noch gern um mich versammelte und ich um mich versammeln konnte, da freute ich mich wol zu dem Tage – jetzt – mögte ich ihn lieber unter Menschen hinbringen die gar nicht um mich wissen“.67 Am Vorabend zu ihrem 57. Geburtstag schreibt sie aus dem einsamen Lanke: „Ich sehne mich diesmal besonders nach Brl […] Es ist heute der 4. September. So lange meine Mutter noch lebte wusste ich warum ich geboren war, es ist Sünde zu fragen warum ich jetzt noch lebe“.68 Oder : „Neujahr Abend war ich allein zuhause und dachte wol recht herzlich an Sie und den Abend vor 3 Jahren – ich war trübe wie ich jetzt fast immer bin, mein Herz ist oft wie ausgestorben, und ich schaudere davor zurück“.69 Aber auch in solchen Briefen versäumt sie es nicht, den Freund zu unterrichten von allen gemeinsamen Bekannten, zu grüßen und zu loben.

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Heinrich Voss gegen Friedrich Stolberg weniger missfällt als ihr – sie kann die Bitterkeit und Härte darin nicht ertragen: „Nein […] so soll kein rechtlicher Mann auch selbst gegen den unrechtlichen nicht schreiben […]. [Er] schachtelt Adel und Catholizismus und diesen und jenen in einander“ (ebd., S. 40). Sie kennt jedoch Bekkers „Unwillen und […] Härte gegen die Neucatholiken“ und glaubt deshalb, dass ihm das Buch besser gefallen werde als ihr (ebd., S. 43). Sie ist also sogar bereit, Toleranz gegenüber seiner Intoleranz zu zeigen, Bekker dagegen zürnt ihr, weil sie sein Urteil falsch eingeschätzt hat (ihm gefällt das Pamphlet auch nicht) und zeigt damit ein Herz entgegengesetztes Verhalten. Einen ähnlichen Unwillen gegen religiöse Intoleranz äußert Herz auch im eingangs zitierten Brief über die Hep-HepAufstände und die interkonfessionellen Grabschändungen (ebd., S. 34), sowie gegenüber der religiösen Inbrunst der Herrnhuter, die Jesus über Gott stellen (ebd., S. 47). Jedoch auch in diesen Fällen geht ihre Toleranz so weit, dass sie selbst die intoleranten Haltungen letztlich stehen lässt. Ebd., S. 32. Zitiert nach Schmitz: Herz (Anm. 12), S. 273. Hervorhebung im Original. Putzel: Letters (Anm. 1), S. 78. Ebd., S. 55. Ebd., S. 64. Ebd., S. 43.

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Dass Henriette Herz Bekker als Freund nicht aufgibt, obwohl er ihren inständigen Bitten um Antworten und Neuigkeiten über sich und gemeinsame Bekannte nicht genügend nachkommt, obwohl er den grundlegenden Deal der Briefkommunikation oftmals bricht, der für das Gesellschaftstalent Herz in besonderer Weise existentiell ist, liegt auch daran, dass sie grundsätzlich an der Idee der Geselligkeit festhält. Sie schreibt: wenn man älter wird und ernst, wie ich es denn doch seit den letzten Jahren gar sehr geworden bin, da weiss man erst so recht was man an einem Freunde hat, besonders eine Frau fühlt es gar tief, welche den gelehrten, wissenschaftlichen Freund nur mit dem Gemüth im Gemüth halten und pflegen kann.70

Der veränderten Stimmung etwa durch Gründungen neuer Gesellschaften und der Universität, die Frauen und Juden ausschließen, tritt Herz entgegen, indem sie in dem Rahmen, in dem es noch möglich ist, ihre Freundschaften aufrecht erhält, auch mit Menschen, die sich aufgrund ihres Geschlechtes oder ihrer gesellschaftlichen Rolle von ihr entfernen.

7.

Die in sich vollendete Geselligkeit

An Henriette Herz’ Reaktionen auf Bekkers Schweigen zeigt sich in signifikanter Weise nicht nur der Charakter der Freundschaft, sondern auch Henriette Herz’ Verständnis von Geselligkeit, das in seiner Absolutheit frappiert. Ihre Reaktion auf seine kommunikative Unterlegenheit, nämlich ein unablässiges Einbeziehen, Spiegeln, Integrieren, zeigt ihr konstruktives geselligkeitsbildendes Wirken. Ihre Reaktion auf einen möglichen Gelehrtenhabitus ist nicht anders als tolerant zu nennen: Sie spiegelt ihn freundlich auch in dieser Identität, ohne sie als trennende Grenze zu akzeptieren. Besonders eindrucksvoll zeigt sich ihr Bestreben, Kommunikation und Freundschaft als gelebtes Ideal zu stilisieren in ihrer Verklärung des Heiratsantrags und seiner Ablehnung als Übergang zu einer transzendenten Verbindung. Als Bekkers Schweigen von Unbeholfenheit zu Gleichgültigkeit und zum Teil Lieblosigkeit kippt, zeigt ihre Hilflosigkeit und ihr Leiden, aber auch ihr geduldiges Festhalten an der Freundschaft, dass gesellige Kommunikation ihr Lebenselixier ist und dass diese auf Reziprozität basiert. Die Thematisierung der eigenen Kommunikationsfreudigkeit, die das Schweigen hervorruft, so wie das scheinbare Fehlen tieferer inhaltlicher Passagen zugunsten des unablässigen konstruktiven Weitergebens von in der Regel freundlichen Informationen über eine unübersehbare Anzahl an Bekannten und Freunden in den Briefen, lassen sich schließlich daraufhin pointieren, dass 70 Ebd., S. 45.

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Henriette Herz auch im mittleren Alter Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens lebt und in ihrem Agieren tatsächlich verkörpert, die in Wechselwirkung mit ihr und ihrer Form, Geselligkeit zu konstruieren, entstanden ist: „freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit“71 – eine in sich selbst vollendete und sich selbst genügende Interaktion. Die Zeitgenossen haben einige scharfe Bemerkungen über die Gestrigkeit der alternden Henriette Herz gemacht, dass sie „sich wie ein junges Mädchen kleide[]“ – „weiß Atlas Kleid, und einen weißen türkischen Bund auf dem Kopfe“72 – und ihr „keine Erfahrung etwas genutzt ha[be]“, „neben unreifer Grüne“ sei „die Welkheit des Überreifen zu sehen“.73 Die Toleranz und Freundlichkeit, die Bekker gegenüber Schleiermacher als Herz’ „unentschiedene[s] Wesen und ihr[] System des Ignorierens und Ertragens“74 bereits 1818 mit Befremden beschrieben hat, wirken auf den jungen Ludwig Börne in Bezug auf ein Gespräch über Kunst 1828 als absolut veraltet und unverständlich: „unterthänigste Huldigung jeder legitimen Fratze, ohne eigenes Urtheil ob dem Bilde auch Huldigung gebühre.“75 Die veränderte historische Situation und Stimmung lassen Henriette Herz’ Liebenswürdigkeit und ihre Verweigerung einer markanten Positionierung altmodisch und naiv erscheinen. Aus heutiger Perspektive muss man ihre aktive Toleranz gegenüber Konfessions-, Geschlechter- und Standesunterschieden und ihr andauerndes Bemühen um Integration möglichst vieler Menschen in ihre Vorstellung von Geselligkeit anerkennen, die sich in den Briefen an den schweigsamen Bekker zeigen. Die Utopie einer gleichberechtigten Interaktion von Individuen, mit der die Berliner Salons im Nachhinein konnotiert worden sind, mag zum Teil überhöht sein – die Briefe von Herz an Immanuel Bekker zeigen jedoch, dass die dahinter vermutete Haltung zumindest im Fall von Henriette Herz kein Mythos ist.

71 [Friedrich Daniel Schleiermacher]: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. Bd. 1 (Januar 1799), S. 48–66 und (Februar 1799), S. 111–123, hier S. 48. 72 So berichtet Ludwig Börne in seinem Tagebuch. Ludwig Geiger (Hrsg.): Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Leipzig 1905, S. 24 u. 25. Auch Caroline von Humboldt mokiert sich über Herz’ unmodischen und unpassenden jugendlichen Kleidungsstil, Sydow: Wilhelm und Caroline in Briefen (Anm. 43), Bd. VI, S. 550ff. 73 So Karl August Varnhagen von Ense (der an anderer Stelle viele freundliche und anerkennende Worte über Herz findet) an Caroline von Humboldt; Albert Leitzmann (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Karoline von Humboldt, Rahel und Varnhagen. Weimar 1896, S. 86. 74 [Heinrich Meisner (Hrsg.)]: Briefwechsel Schleiermachers mit Boeckh und Bekker. 1806–1820. Berlin 1916, S. 89. 75 Geiger : Briefwechsel Börne und Herz (Anm. 71), S. 24.

Ulrike Wels

Überschreitungen in nuce – Überlegungen zum religiösen Selbstverständnis der Henriette Herz

Es sind Überschreitungen1 in nuce – sukzessiv und klein, dabei aber letztendlich sehr klar, die Henriette Herz auf ihrem aus dem Rückblick fast teleologisch anmutenden Weg zum protestantischen Christentum gegangen ist.2 Klein deswegen, weil diese Überschreitungen wenig Devianzpotenzial hatten. Sie sind kein Bruch mit den Konventionen – wie z. B. bei Dorothea Veit Schlegel (1764–1839) – und entstehen offenbar nicht aus primär äußeren Zwängen heraus – wie z. B. bei Ludwig Börne (1786–1837) oder Heinrich Heine (1797–1856). Klare Überschreitungen sind es, weil sie sich psychologisch durchaus nachvollziehbar unter konstantem Assimilationsdruck aus einem Stand der relativen Religionslosigkeit hin zu einem christlichen Bekenntnis entwickeln. Da Atheismus und Deismus für Henriette Herz keine Alternativen zur Religion boten, ergab sich, wie sie später schrieb, aus der mangelnden Vermittlung jüdischer religiöser Traditionen im Elternhaus und der aufklärerischen und aufgeklärten Bildung durch den Ehemann Marcus Herz (1747–1803) – einem der wichtigsten Maskil innerhalb der Haskala – eine Leerstelle. Initiiert durch ihre enge Freundschaft mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) führte die Auseinandersetzung mit seinem romantischen Religionsbegriff dazu, dass religiöses Gefühl und Freundschaft zusammengeschmolzen wurden und diese Leerstelle füllten. Der innerliche Übergang zum Christentum fand spätestens nach dem Tod von Marcus Herz statt, wobei die Freundschaft noch lange eine Platzhalterstelle für die Religion bildete, bzw. gleichwertig gewesen zu sein scheint. Erst nach dem Tod der Mutter im Jahr 1817, im Alter von 53 Jahren, erfolgte auch der äußere Übergang, die Taufe. Um diesen Weg nachzuzeichnen möchte ich im Folgenden fünf Teilaspekte der Biographie von Henriette Herz beleuchten. Der erste ist die Erziehung im 1 Die Denkfigur der ,Überschreitung‘ für Henriette Herz’ Ikonographie hat Joachim Rees vorgeschlagen. Joachim Rees: Jette statt Juno. Abschied von einer allegorischen Person. Henriette Herz. In: Preußens Eros, Preußens Musen. Ausst.-Katalog. Berlin 2010, S. 96–99. 2 Mit anderem Akzent hat Eberhard Wolff in diesem Band die Denkfigur des ,Befreiungsnarrativs‘ für Marcus und Henriette Herz vorgeschlagen.

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Elternhaus und durch ihren Mann, der zweite die geistige Partnerschaft mit Schleiermacher, der dritte die Rolle der Freundschaft, die den Rang von Religion einnimmt, der vierte eine protestantische Profilbildung in den Jahren vor und nach der Taufe und der fünfte ihre Selbstbetrachtung im Rahmen der Jugenderinnerungen.3 Letztere werfen, obwohl sie bereits vor dem Beginn des sogenannten ,Salons‘ abbrechen und leider nicht weiter fortgesetzt wurden, ein überaus interessantes Licht auf das späte Religionsverständnis von Henriette Herz. Als das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung lässt sich der Befund von Hannah Lotte Lund bestätigen, dass man Henriette Herz – ebenso wie anderen Zeitgenossinnen4 – eine „eigenständige religiöse Entwicklung“5 zugestehen sollte. Dabei mussten die jüdischen Frauen der Jahrhundertwende um 1800 – darauf hat Deborah Hertz hingewiesen – komplexe Strategien aufwenden, um ihre persönlichen Entscheidungen und die Familieninteressen miteinander zu verbinden.6 Bei Henriette Herz kommt dazu ein religiöses Toleranzdenken, das aus sorgsamer Überlegung resultiert. Die Vernunft aufklärerischer Prägung, an der sie doch über die Ehejahre geschult ist, und der sie einen hohen Stellenwert beimisst, kann ihr nicht das Bedürfnis nach religiöser Empfindung ersetzen. So entwickelt sie im Laufe der Jahre ein eigenes religiöses Profil – orientiert an Schleiermacher – in dem ihr das protestantische Christentum zur Matrix wird. Fasst man die Säkularisierung als den sozialen Bedeutungsverlust von Religion, wird bei ihr gerade umgekehrt die Religion sozial aufgewertet. Sie folgt nicht der ,Vernunftreligion‘ der Aufklärer, sondern der ,Herzensreligion‘ Schleiermachers. Den Weg der „Überschreitungen in nuce“ in Henriette Herz’ religiösem Selbst- und letztlich auch Fremdverständnis darzustellen, ist schwierig, weil sie viele Dokumente, aus denen eine diesbezügliche Entwicklung vielleicht abzulesen gewesen wäre, vernichtet hat. Ihre eigenen biographischen Aufzeichnungen, die Jugenderinnerungen,7 die in den Jahren nach der Konversion ab 1818 3 Henriette Herz: Jugenderinnerungen von Henriette Herz. In: Mittheilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin 5 (1896), S. 141–184. Diese Ausgabe liegt den folgenden Ausführungen zu Grunde. Sie ist online verfügbar unter : http://sophie.byu.edu/sections/jugenderinnerun gen-von-henriette-herz [20.12.17]. 4 Vgl. z. B. zu Dorothea Veit-Schlegel: Andreas Kubik: Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe der Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu. In: Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle im März 2009. Hrsg. von Roderich Barth, Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthövener. Berlin 2012, S. 405–416. 5 Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin u. Boston 2012, S. 71. 6 Deborah Hertz: How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin. New Haven [u. a.] 2007, S. 146–148. 7 Vgl. Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3). Die Handschrift befindet sich im Nachlass von

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entstanden, brechen bereits um 1780/81 ab. Die als autobiographisch deklarierten Mitschriften von J. Fürst Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen,8 sind für die Forschung immer problematisch, denn „[w]enn er [Fürst] sich dabei stellenweise als allwissender Erzähler geriert, werden seine und nicht mehr die als autobiographisch gefaßten Texte zum Garanten historischer oder lebensgeschichtlicher Verläßlichkeit.“9 Was Peter Seibert, der die Editionsgeschichte der Jugenderinnerungen dezidiert aufgearbeitet hat, hier bezüglich der Erinnerungen von Henriette Herz moniert, zeigt die Überlieferungslage zu ihr generell. Eine kritische Ausgabe ihrer Texte – neben den in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrten Handschriften ihrer Erinnerungen gibt es von ihr noch einige Briefe und weitere Handschriften – fehlt.10 Ihre Texte sind „mit Frauenprojektionen einer durchweg männlichen Herausgebergruppe […] ,angereichert‘.“11 Nicht ganz so prekär, aber dennoch

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Henriette Herz, der in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. J. Fürst (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 1850. Online verfügbar unter : http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10063788 _00007.html (auch als print on demand). Peter Seibert: Henriette Herz: Erinnerungen. Zur Rekonstruktion einer frühen Frauenautobiographie. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 41 (1989), H. 2, S. 37–50, hier S. 44. In Kalliope sind nachgewiesen: 72 Handschriften von Henriette Herz, 6 Handschriften an Henriette Herz, der Nachlass, 7 sonstige Nennungen. Vgl.: http://kalliope.staatsbibliothekberlin.de/de/eac?eac.id=118550152 [20.12.17]. Seibert: Henriette Herz (Anm. 9), S. 38. Das beginnt bei J. Fürsts Buch, das bereits von den Zeitgenossen als sehr problematisch diskutiert wurde (Vgl. hierzu die Einleitung zu den Jugenderinnerungen von Henriette Herz. Dies.: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 141f.), das Fürst aber 1858 in der zweiten, erweiterten Auflage erschienen ließ. Die Edition der o. g. Handschrift der BBAW mit dem Titel Jugenderinnerungen von Henriette Herz (Anm. 3) wurde 1896 kritisch herausgegeben. Es ist bisher die einzige Ausgabe ihrer Jugenderinnerungen, die auf die Textur der Handschrift eingeht und damit einen verlässlichen Text liefert. Ihn hat Hans Landsberg – der einzige jüdische Herausgeber ihrer Texte – seiner 1913 erschienenen Ausgabe zugrunde gelegt: Hans Landsberg (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Weimar 1913. Die Ausgabe enthält weiterhin Briefe aus ihrem Familien- und Freundeskreis. Reprint: Unveränd. Nachdruck der Ausg. Weimar 1913, Eschborn bei Frankfurt a. M. 2000. Landsberg hat allerdings die so wichtigen editorischen Zusätze des Druckes von 1896 leider nicht übernommen. Seitdem erschienen nur Nachdrucke und Kompilationen: Ein Reprint der Fürstschen Ausgabe von 1850 wurde 1977 gedruckt. 1984 hat Rainer Schmitz die verschiedenen Texte zu einer Ausgabe kompiliert: Rainer Schmitz (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Leipzig 1984. Welche Texte dabei aus der Handschrift stammen und welche von Fürst, ist nicht kenntlich gemacht. Ebenfalls von 1984 stammt eine unkritische Leseausgabe von Ulrich Janetzki (Hrsg.): Henriette Herz. Berliner Salon. Erinnerungen und Porträts. Frankfurt a. M., Berlin u. Wien 1984 (Ullstein Buch 30165. Die Frau in der Literatur). Die jüngste, aufwendig gestaltete Ausgabe von Christian Döring (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Neu ediert von Rainer Schmitz. Berlin 2013 (Die Andere Bibliothek Bd. 347),

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schwierig und unübersichtlich ist die Überlieferungslage bei den Briefen.12 Inwieweit die aufgeführten Ausgaben kritisch sind, bleibt – von Ausnahmen abgesehen – unkenntlich. Um der Crux dieser „männlichen Herausgebergruppe“13 zu entgehen, die zudem überwiegend protestantisch war, wird sich die vorliegende Untersuchung des religiösen Selbstverständnisses von Henriette Herz auf die einigermaßen belastbaren Quellen beschränken, das heißt, auf die Edition der Jugenderinnerungen aus dem Litteraturarchiv, und die in den unterschiedlichen Ausgaben vorliegenden Briefe. Dabei soll so oft wie möglich Henriette Herz selbst zu Wort kommen, damit sie, die, wie Hannah Lotte Lund konstatierte, „in dem Konzert der Stimmen bis heute keine eigene Sprache“14 hat, nicht stimm- und sprachlos bleibt. Eine kritische Edition bleibt aber nach wie vor ein Desiderat.15

1.

„Mangelhafte Grundsätze der Religion“ im Elternhaus – Vernunftdiskurse in der Ehe

Obwohl ihr Vater die jüdischen Riten streng beachtete, herrschte im Elternhaus von Henriette Herz, wie sie schrieb, keine stark religiöse Atmosphäre. Während der Großvater noch seines Glaubens wegen aus Portugal geflüchtet war,16 setzte der Vater die jüdischen Gebote offenbar nur noch formal durch. Eine grundsätzliche Bereitschaft, die jüdische Religion abzulegen, gründet sicherlich schon

12

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kompiliert wiederum unkritisch die verschiedenen Texte und verschenkt damit erneut die Chance, Henriette Herz authentischer zu hören und zu lesen. Die Briefe von und an Henriette Herz liegen in folgenden Ausgaben vor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner [u. a.]. Berlin 1980ff. (Im Folgenden wird mit der Sigle KGA zitiert); Henriette Herz [u. a.]: Letters to Immanuel Bekker from Henriette Herz, S. Pobeheim and Anna Horkel. Hrsg. von Max J. Putzel. (German Studies in America Bd. 6), Bern 1972. Die Briefe an Immanuel Bekker sind mittlerweile online zugänglich: http://www.lib.uchicago.edu/ead/pdf/bekker-0001-003.pdf.; Ludwig Geiger (Hrsg.): Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Oldenburg u. Leipzig 1905. (auch als print on demand); O. F. von Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben. Nach Originalbriefen der Henriette Herz. Magdeburg 1910; Rainer Schmitz (Hrsg.): Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801–1807. Berlin 1984; Wilhelm von Humboldt: Briefe I: 1781–1791. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. u. komment. von Philip Mattson. Berlin 2014.; Christian Ludwig Nicolai Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Frederik Christian Sibbern. 2 Bde. Kopenhagen 1866; als PDF verfügbar über die Königliche Bibliothek Dänemark: http://www.kb.dk/e-mat/dod/11520807761B.pdf [03.12.16]. Seibert: Henriette Herz (Anm. 9), S. 38. Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ (Anm. 5), S. 42. Vgl. zur Überlieferung, Forschungslage und weiteren Forschungsperspektiven die Einleitung und die Bibliographie in diesem Band. Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 142.

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in dieser wenig intensiven religiösen Prägung im Elternhaus – die dann unter dem hohen Assimilationsdruck, der um 1800 herrschte, zur Konversion führte: Was in jener frühen Zeit schon mich hätte sollen ertragen machen, was mich drükte, war mir nicht gegeben worden – die Grundsäze der Religion, wie denn die Erziehung, in dieser Hinsicht, bei den damaligen Juden noch viel mangelhafter war, als sie jezt ist. Das Kind, besonders aber die Mädgen, wurden gar nicht eigentlich im G l au b e n ihrer Eltern unterrichtet, wurden aber angehalten, die F o r m e n desselben zu beobachten, d. h. sie mussten alle die unzähligen Gebräuche beobachten welche er, oder vielmehr die Rabienen vorschrieben. Das Mädgen musste in hebräischer Sprache beten, ohne dass es verstand was es betete u. ich erinnere mich wol mit Andacht u. Inbrunst zuweilen so gebetet zu haben, besonders aber wenn es gewitterte, was mich immer sehr ängstigte, dann sagte ich geschwind viele, irgend welche Gebete hinter einander her. Jezt thun die Judenkinder dies freilich nicht mehr, denn die Gebete sind ins Deutsche übersezt worden, aber – frömmer sind sie deshalb nicht: ihre Eltern, die noch auf jene Weise erzogen worden, warfen die ihnen lästige Beobachtungen der jüdischen Gebräuche, worin allein ihre Religion bestand, bei Seite, sobald sie ihre eigne Herrn wurden, es trat nichts in die Stelle, u. so lebten sie fort ohne Gedanken an Gott, als höchstens in Zeiten der Noth. Die Kinder wurden nun auf dieselbe Weise erzogen, man wollte sie nicht lehren, was man selbst nicht glaubte u. so wurden und werden sie in keinem Glauben erzogen – keine Andacht erfüllt ihr Gemüth u. sie können nicht beten zu Gott wenn ihr Herz gedrükt ist u. geängstigt von unendlicher Qual. – Die Vernunft, welche die Gebildeteren sich zur Stüze und Hülfe nehmen, reicht nicht hin sie zu tragen in schweren Leiden. Glüklich der dem später im Leben wenigstens noch das schöne Licht des Glaubens im Innern aufgeht u. er nicht stirbt ohne von jenem erhebenden, beglükenden Gefühl der Andacht durchdrungen gewesen zu sein. – Gottes Gnade sei es Dank dass auch mir dieses Glük ward.17

„Grundsätze der Religion“ fehlten, „unzählige Gebräuche“ der Alten wurden nicht mit Sinn gefüllt, ebensowenig die hebräischen Gebete. Eine Verinnerlichung des Glaubens – ja selbst eine nur vernunftmäßige Erfassung seiner Grundlagen war – so suggeriert es Henriette Herz im Rückblick – nicht möglich. Gleichzeitig benennt sie einen Anker, der an die Stelle der Religion hätte rücken können, sich aber für sie als unzureichend herausstellte: Die Vernunft. Es liegt nahe, diesen Anker mit dem Ehemann von Henriette Herz, dem Kant-Schüler Marcus Herz zu identifizieren und mit den Diskursen, die im Hause Herz in dessen Vorlesungen und Gesprächen geführt wurden. Mit gerade 15 Jahren (1779), einer Zeit der intellektuellen und persönlichen Selbstvergewisserung, war sie mit Marcus Herz verheiratet worden. Innerhalb der nächsten Jahre wurde sie zum bildschönen und klugen Gravitationszentrum eines geselligen intellektuellen Kreises, der sich regelmäßig im Haus der Eheleute traf und aus Juden und Christen, aus Politikern, Theologen, Philosophen, Ärzten, Verlegern, 17 Ebd., S. 147–148.

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aus Aufklärern, Vertretern der Klassik und Romantik, aus Frauen und Männern bestand. Mehr als zwei Jahrzehnte bewegte sie sich – kinderlos und damit immer auf ihre intellektuellen und gesellschaftlichen Interessen konzentriert – in diesem Schwellenraum von Juden, Christen und Atheisten. Die fundierte Bildung, die sie in diesen Jahren genossen hat, haben sowohl sie selbst als auch Zeitgenossen immer wieder thematisiert. Sie selbst bescheinigte sich dabei „Sinn […] für alles Wissenschaftliche“18, aber keine intellektuelle Schöpferkraft. Unter diesem Selbstbild litt sie lebenslang. 1820 geriet ihr das Zitat von Prinzessin Eleonore aus Goethes Torquato Tasso (1. Aufz., 1. Auftritt) zur bitteren Ironie: „Ich freue mich wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehe wie sie’s meinen: so hoch habe ich es höchstens auch gebracht mit all meinem Leben und lernen, selbst sagen und machen kann ich gar nichts.“19 In einem Brief an Ludwig Börne aus dem Jahr 1807 hatte sie das Zitat noch leicht und feinsinnig für sich in Anspruch nehmen können, als sie schrieb, „[…] dort höre ich denn was kluge Männer sprechen u freue mich wenn ich verstehe wie sie es meinen. Sch[leiermacher] ist die Wünschelrute von allem was in mir ist, er weiß es hervorzuziehen mit Einem Streiche u unvermerkt.“20 Zwischen dem ,[H]ervorziehen‘ und ,gar nichts machen können‘ hat sie selbst die Enden ihrer intellektuellen Parabel gespannt. Derjenige, der es schaffte, den von ihr selbst schon früh als unzureichend empfundenen Vernunfthorizont zu weiten, war Friedrich Schleiermacher. Er ersetzte ihn durch einen fast mystischen Religionsdiskurs und gab damit dem religiösen Gefühl von Henriette Herz eine neue Richtung.

2.

Die Freundschaft mit Schleiermacher und die Schrift Über die Religion

Friedrich Schleiermacher war zwischen 1797 und 1802 regelmäßiger Besucher im Hause Herz und blieb bis zu seinem Tode ein enger Vertrauter. Er hat mit seinem pietistisch-herrnhutisch gegründeten, dann romantisch weiterentwickelten Freundschafts-21 Geselligkeits- und Religionsbegriff bei Henriette Herz die oben beschriebene Leerstelle gefüllt. Wesentlich für diese frühe Epoche sind einige Schriften, die im Kontext der Frühromantiker ihren genuinen Ort haben und für die Freundschaft von Henriette Herz und Friedrich Schleiermacher von 18 Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 183. 19 Landsberg: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 11), S. 420. 20 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 15. Juni 1807. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel Börne Herz (Anm. 12), S. 184. 21 Vgl. hierzu: Bernhard Oberdorfer : Von der Freundschaft zur Geselligkeit. Leitkonfigurationen der Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher bis zu den „Reden“. In: Evangelische Theologie 56 (1996), H. 5, S. 415–434.

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kaum zu überschätzender Bedeutung sind: Das Fragment Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen, das als Athenäum-Fragment 364 erschien,22 der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, der 1799 als Fragment veröffentlicht wurde,23 die Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern24 und ihr Pendant, die Monologen,25 die 1800 erschienen. Hier soll Schleiermachers Schrift Über die Religion im Zentrum stehen, weil sie für das religiöse Selbstverständnis von Henriette Herz so unabdingbar ist. Als Schleiermacher Henriette Herz auf Initiative Alexander von Dohnas (1771–1831)26 näher kennenlernte, war er im September 1796 gerade als reformierter Prediger an die Charit8 in Berlin gerufen worden, sie stellte als junge, schöne und sehr gebildete Frau eines gelehrten Juden einen großen Anziehungspunkt im geselligen Leben Berlins dar. Der Diskurs fand also durchaus auf Augenhöhe statt, wobei Henriette Herz – mindestens im gesellschaftlichen Bereich – zunächst die überlegene Position innehatte und Schleiermacher in die gesellige Welt Berlins einführen konnte. Bei Herzens traf Schleiermacher sowohl Religionskritiker wie Friedrich Gedike (1754–1803), Johann Erich Biester (1749–1816), Johann Jakob Engel (1741–1802) und nicht zuletzt Friedrich Nicolai (1733–1811), als auch -befürworter wie Friedrich Schlegel (1772–1829), Ludwig Tieck (1773–1853) und Novalis (1772–1801). Verschiedene Fäden der geistig-religiösen Befindlichkeiten um 1800 liefen in diesem Kreis zusammen: Die Kritik am Dogmenglauben überlieferter Religionssysteme ist aufklärerischer Provenienz, die Kritik an der Kirche als Institution mag pietistischherrnhutische Ursprünge haben, und die Verortung des religiösen Individuums im Angesicht und in Abhängigkeit vom Universum weist auf die Romantiker. Kurt Nowak hat festgestellt, dass in diesem Spannungsraum zwischen Aufklärern und Frühromantikern der genuine Denkort der Reden zu suchen ist,27 Klaus 22 Schleiermacher : Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen. Abdruck in: Schleiermacher : KGA, I/2 (Anm. 12), S. 153f. – Vgl. dazu: Juliane Jacobi: Friedrich Schleiermachers „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen“. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte als Geschlechtergeschichte. In: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000), H. 2, S. 159–174. 23 Schleiermacher : Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 5 (1799), S. 48–66 u. S. 113–123. Abdruck in: Schleiermacher : KGA I/2 (Anm. 12), S. 163–184. 24 Anonymus [d.i. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher]: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799. Abdruck in: Schleiermacher : KGA I/2 (Anm. 12), S. 185–326. 25 Schleiermacher : Monologen. Eine Neujahrsgabe. Berlin 1800. Abdruck in: Schleiermacher : KGA I/3 (Anm. 12), S. 1–61. 26 Vgl. das Billet Dohnas vom 30. Dezember 1796. In: Schleiermacher : KGA V/2 (Anm. 12), S. 67. 27 Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum

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Ebert hat sie in die Tradition der protestantischen Mystik28 eingeordnet. Auf Schleiermacher übten diese Einflüsse, die für ihn viele Anschlussstellen boten, eine sehr befruchtende Wirkung aus. Er entstammte väterlicherseits und mütterlicherseits reformierten Pastorenhäusern und war bei den Herrnhutern erzogen worden. 1787, im Alter von 18 Jahren, brach Schleiermacher zwar mit dieser Erziehung, aber die herrnhutische Frömmigkeit wirkte lebenslang in ihm fort und in späteren Jahren hat er sich als Herrnhuter höherer Ordnung29 bezeichnet: Der herrnhutische Drang zur Missionierung ist bei ihm modifiziert zur Bekehrung in den eigenen Reihen, der Gedanke zur Verinnerlichung des Glaubens und der des allgemeinen Priestertums begleiteten ihn lebenslang. In diesem zeitlichen und geistigen Kontext ist die Genese von Schleiermachers Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern zu verorten. Einen kaum zu überschätzenden Beitrag bei der Entstehung des Textes hatte Henriette Herz.30 Johanna Hopfner bezeichnet ihr Wirken als „geistige ,Undercover-Tätigkeit‘“, die Frauen häufig praktizierten: Fragt man nun aber konkret nach dem Einfluß, den Henriette Herz auf Schleiermachers wissenschaftliches Denken und speziell auf seine Pädagogik hatte, so stößt man auf ein Phänomen, das man als geistige „Undercover-Tätigkeit“ von Frauen in der bzw. für die Wissenschaft bezeichnen könnte. Denn oft wirken Frauen im Verborgenen, regen Gedanken an und bringen ihre Ideen in Gespräche ein, motivieren explizit oder implizit zu wissenschaftlichen Werken, beurteilen die produzierten Texte kritisch oder lesen – in Anführungszeichen – „nur“ Korrektur. […] Die Beziehung zwischen Henriette Herz und Friedrich Schleiermacher ist geradezu exemplarisch für das theoriegeschichtliche Phänomen solcher Frauen, die im Schatten männlicher Gelehrter oder großer Pädagogen stehen oder – auch das gilt es zu bedenken – sich ganz bewußt in deren Schatten stellten.31

Bei dieser treffenden Analyse ist aber auch mitzudenken, dass dieser Prozess bei Henriette Herz eine religiöse Selbstbesinnung und Neudefinition in Gang bzw. fortsetzte. Hierfür bildeten wesentliche Gedanken aus den Reden die Anregung. Die Charakterisierung der Reden ist, wie Nowak konstatiert, nicht leicht: „Nahezu alle Begriffe greifen zu kurz. Sie treffen lediglich Teilaspekte. Nur mit eingeschränktem Recht kann man die Reden als eine Apologie des Christentums,

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romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Göttingen 1986, S. 140f. Klaus Ebert: Protestantische Mystik. Von Martin Luther bis Friedrich D. Schleiermacher. Eine Textsammlung. Weinheim 1996, S. 96–99. Brief von Friedrich Schleiermacher an G. Reimer vom 30. April 1802. In: Schleiermacher : KGA 5/III (Anm. 12), S. 392–393, hier S. 393. Johanna Hopfner : Zwischen Kanzel und Salon. Friedrich Schleiermacher und Henriette Herz. Ein Beispiel für den weiblichen Einfluss auf die Pädagogik. In: Vierteljahresschrift für die wissenschaftliche Pädagogik 76 (2000), H. 4, S. 532–544. Ebd., S. 533.

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als eine Grundlagenschrift der Religionstheorie oder als den Entwurf eines neuen Typus von Glaubenslehre bezeichnen.“32 Dennoch sind sie all das – und boten gleichzeitig offenbar wesentliche Anknüpfungs- und Identifikationsmöglichkeiten im Religionsdiskurs der Zeitgenossen – und so auch für Henriette Herz. Bereits in der ersten Rede, der Apologie, wird deutlich, dass Schleiermacher mit der Autonomiebestimmung der Religion gegenüber der Moral und der Metaphysik eine Verinnerlichung von Religion betreibt. Die Idee, dass ein „himmlischer Funken“33 in der Seele eines jeden Menschen liege – und Schleiermacher differenziert hier nicht zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Religionen – dürfte der erste Grund für die Attraktivität dieses Konzeptes für Henriette Herz und viele andere Juden gewesen sein. Die Vorstellung, dass der „Buchstabentheolog[ie]“34 eine Religion des Herzens entgegengesetzt werden müsse, vereint sich bei Schleiermacher zu einem – zumindest auf den ersten Blick – allumfassenden und nach allen Seiten hin offenen romantischen Religionsbegriff. Religion solle, so lässt sich der Gedankengang der ersten Rede zusammenfassen, weder auf der Ebene von Handlungen, noch auf der des Wissens angesiedelt sein, sondern ihr solle „eine eigne Provinz im Gemühte angehör[en]“.35 Diese Formulierung bildet den Übergang zur zweiten Rede, in der Schleiermacher Über das Wesen der Religion schreibt und sie als „Anschauung und Gefühl“36 – und als „Anschauen des Universums“37 definiert. Das ist gänzlich neu und nicht dogmatisch fundiert. Wo religiöse Begriffe sich aus der Dogmatik lösen, der Religionsbegriff vom Gottesbegriff abgelöst wird und die Gläubigen zunächst nicht mehr klar sagen müssen, ob sie dem alt- oder neutestamentlichen Gott angehören, öffnet sich die Religion plötzlich für Juden und Christen. Hier wird eine Überschreitung der Religionsgrenzen in Aussicht gestellt, die dann allerdings nicht eingelöst wird, wie die fünfte Rede zeigen wird. Darüber hinaus ist mit diesem Religionsbegriff ein hohes Maß an Individualisierung möglich – das eigene Anschauen solle die „allgemeinste und höchste Formel der Religion“ sein.38 Auch dieser Gedanke, dass jeder, der überhaupt zur Religion fähig ist, seine eigene religiöse Welt in sich trägt, ist auf breiter Basis anschlussfähig. In der dritten Rede Über die Bildung zur Religion kritisiert Schleiermacher die zeitgenössische protestantisch-aufklärerische Erziehungspraxis, die die Gemeinschaft des Menschen mit dem Universum eher verschütte als befördere. Dass sich in das Bild von der bloß schattenhaften Gestalt der 32 33 34 35 36 37 38

Nowak: Schleiermacher (Anm. 27), S. 101. Schleiermacher : Reden. In: Schleiermacher : KGA I/2 (Anm. 12), S. 201. Ebd. Ebd., S. 204. Ebd., S. 211. Ebd., S. 213. Ebd.

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Religion, das sich aus den Konventionen ergebe, auch das der jüdischen Religion fügen konnte, die als formelhaft, wesenlos und am Gesetz orientiert wahrgenommen wurde, und gerade erst durch die Haskala in einen neuen Sinnhorizont überführt wurde, liegt auf der Hand. Henriette Herz jedenfalls mag das so empfunden haben, wie ihren Jugenderinnerungen zu entnehmen ist. In der vierten Rede Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priesterthum stellt Schleiermacher seine romantische Kirchentheorie, basierend auf seinen pietistisch-herrnhutischen Erfahrungen, vor. Sie ergibt sich sinnfällig aus der Wesensdefinition von Religion und der Notwendigkeit ihrer Pflege und Kultivierung in jedem Einzelnen. Die „wahre Kirche“ sei keine institutionelle Kirche, sondern eine religiöse Gemeinschaft, die eher in der Privatsphäre angesiedelt werden müsse. Äußerst wichtig war ihm die Vorstellung des allgemeinen Priestertums, in dem jeder Mensch Priester und Laie zugleich sei. Zentraler Gedanke ist, dass die religiöse Gemeinschaft sich dem Kommunikationstrieb und -bedürfnis des religiös affizierten Menschen verdanke, und dass wechselseitiger freier Austausch den religiösen Sinn vervollkommne und vertiefe. Wie sehr dieses Konzept sich in den Freundschaften um Friedrich Schleiermacher und Henriette Herz wiederfand, soll unten anhand einiger Briefe gezeigt werden. In der mit Recht berüchtigten fünften Rede Über die Religionen wird der zuvor geöffnete Horizont allerdings wieder stark eingeengt. Das Wesen der Religion, das Schleiermacher als „Anschauung des Unendlichen im Endlichen“39 bestimmt hatte, das ein Gefühl freisetze und vom Gottesbegriff letztlich abgelöst erscheinen konnte, wird hier nun doch wiederum an den Einzelreligionen, in denen sie sich ja immer manifestiere, abgeprüft. Und hier nun spricht Schleiermacher – anders als jeder übrigen Religion – der des „Judaismus“40 die zuvor definierte Qualität der Ewigkeit jeder religiösen Grundanschauung ab, die in „Verderben“ und „Erlösung“ bestehe. „Erlösung“ gebe es im Judentum nicht, vielmehr dominiere dort die Vorstellung von einer „allgemeinen unmittelbaren Vergeltung“ – durch eine stets „belohnend[e], strafend[e], züchtigend[e] […] Gottheit […]“41. Ob das aus jüdischer Perspektive religionswissenschaftlich tragfähig ist, soll hier nicht erörtert werden – es gehört in jedem Fall zu den christlichen Topoi über den jüdischen Glauben.42 Ich möchte den Blick mehr auf die emotionale Seite lenken. Hatte Schleiermacher bisher in den Reden eins bis vier immer auf die Möglichkeit der Überschreitung religiöser Grenzen hingewiesen und ein allgemeines Zugrundeliegendes zu definieren versucht, was außerhalb der positiven Religionen sein sollte, und was aus diesem Grund ein 39 40 41 42

Ebd. S. 313. Ebd. S. 314. Ebd. S. 315. Die gegenteilige Meinung vertritt Michael Wolffsohn: Christentum und Judentum. In: Barth, Barth u. Osthövener (Hrsg.): Christentum und Judentum (Anm. 4), S. 7–25.

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hohes Maß an Identifikation mit seiner Religionsvorstellung auch für die Juden erlaubte, nimmt er all das in der fünften Rede zurück. Das berühmt-berüchtigte Zitat lautet: „Der Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jetzt noch seine Farbe tragen, sitzen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlassenschaft.“43 Dass diese sarkastische Bemerkung Henriette Herz nicht gefallen würde, ahnte Schleiermacher wohl als er ihr am 14. April 1799 schrieb: „Das historische im Christenthum werden sie wol eben nicht goutieren, aber sie werden doch sehen, daß es gut ist in seiner Art.“44 Leider ist ihre Antwort darauf nicht erhalten. Dass viele dieser Punkte für Henriette Herz’ Religionsverständnis wichtig wurden, ist evident. Explizite Äußerungen dazu gibt es von ihr aber leider nicht. Der Gedanke der Verinnerlichung des Glaubens, der eine Loslösung des Gottesbegriffes vom Religionsbegriff erlaubte, dann der der Kritik der religiösen Erziehungspraktiken, die die religiöse Anlage in jedem Menschen eher verkümmern ließen als sie zu befördern, und schließlich die Vorstellung einer religiösen Gemeinschaft, die sich aus dem Kommunikationstrieb des religiösen Menschen entwickelte, mussten für sie, die dem aufgeklärten und vernünftigen Religionsdiskurs mit Distanz gegenüberstand, sehr attraktiv sein. Besonders der letzte Punkt – eine religiöse Gemeinschaft – sollte sich mit dem Rügener Freundeskreis herausbilden, der – pathetisch gesprochen – die Erfüllung der Verheißung der Reden wurde.

3.

,Geheiligte‘ Freundschaft und ,Herzreligion‘ als Platzhalter der Religion

Wolfdietrich Rasch hat die Freundschaft im 18. Jahrhundert als „Kristallisationspunkt der Säkularisierung“45 beschrieben, in dem das Schöne, Natur, Tugend, Vaterland etc. an die Stelle der religiösen Substanz treten und Inhalte der Freundschaft werden. Rasch schreibt, dass besonders „[d]ie Freundschaft, die aus dem Pietismus entstand, […] immer etwas Spiritualistisches [behält] […].“46 Die Nuancierungen von Freundschaft im Kontext der frühen Kontakte von Henriette Herz mit Wilhelm von Humboldt, Caroline von Dacheröden und Brendel/Dorothea Veit-Schlegel sollen hier außen vor bleiben – sie sind dem 43 Schleiermacher : Reden. In: Schleiermacher : KGA I/2 (Anm. 12), S. 314. 44 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette Herz vom 14. April 1799. In: Schleiermacher : KGA, V/3 (Anm. 12), S. 89. 45 Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle 1936, S. 50. 46 Rasch: Freundschaftskult (Anm. 45), S. 50.

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romantischen Freundschaftskonzept verpflichtet, allerdings tritt das Moment von Liebe und Eros in ihnen stärker hervor.47 Ich möchte mich hier auf das Freundschaftsverständnis konzentrieren, das sich zunächst mit Friedrich Schleiermacher und Alexander von Dohna entwickelte und sich dann auf den sogenannten Rügener Freundeskreis48 mit und um Ehrenfried (1777–1807) und Henriette von Willich (1788–1840) ausweitete. Beide tragen ein Moment ,geheiligter‘ Freundschaft, wie ich es bezeichnen möchte, in sich. In der Freundschaft von Henriette Herz und Friedrich Schleiermacher ist das Modell geradezu idealtypisch vorgebildet und besteht in ähnlicher Form auch zu Alexander von Dohna. Die Freundschaft des Pietisten mit Jesu, die in der Erbauungsliteratur, in den pietistischen Autobiographien oder auch in der Lyrik ihren empfindsamen Ausdruck fanden, sollten, so Rasch „im empfindsamen Freundschaftserlebnis bedeutsam werden und […] mit dem gleichen zärtlichen Seelenton dichterisch zum Ausdruck gelangen.“49 Der „zärtliche Seelenton“, der dort immer wieder angeschlagen wird, gründet in der Empfindsamkeit auf der „Freundschaftsbeziehung zu Gott, die die Pietisten ausbildeten [und die] gleichsam zum Modell der Beziehung zum Freunde [wurde],“50 lässt sich an den Briefen, die im Rügener Freundeskreis gewechselt wurden, gut nachvollziehen. Sie haben überdies den Vorteil, dass Henriette Herz hier eine eigene Stimme hat, denn die Briefe, die sie an Ehrenfried von Willich geschrieben hat, sind erhalten. Freundschaft wird in diesen Briefen nicht im Freund und in der Freundin sublimiert, sondern gemeinsam mit ihnen zu einer höheren Idee von Freundschaft transzendiert. Die Freundschaften erlangen auf diese Weise eine religiöse Dimension, was sich vor allem darin zeigt, dass sie mit Begriffen aus dem Wortfeld der Religion beschrieben werden. Dass alle Beteiligten die dichterischen Konzepte, die die Vorbilder für die romantische Freundschaftssprache bildeten, kannten, steht außer Frage. Die Zinzendorfschen Lieder,51 in denen eine innige Freundschaft, ja sogar Liebe zu Jesu besungen wird, muss Schleiermacher aus seiner Zeit in Gnadenfrei gekannt haben, wenn er sie vielleicht auch mit Vorbehalten betrachtete. Dass er mit Henriette Herz Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele

47 Vgl. hierzu Liliane Weissberg: Das Projekt der Aufklärung und der ,Tugendbund‘. In: Literatur und/als praktische Vernunft. Festschrift für Friedrich Vollhardt zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Frieder von Ammon, Gideon Stiening u. Cornelia R8mi. Berlin, erscheint 2017. 48 Vgl. hierzu: Walter F. Schirmer : Die große Jette. Henriette Herz und ihr Freundeskreis. In: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 24 (1975), S. 92–115. 49 Rasch: Freundschaftskult (Anm. 45), S. 51. 50 Ebd. 51 Vgl. zu Zinzendorf: Hans-Georg Kemper : Religion als „Herz=Sache“ (Zinzendorf). In: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 6: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 19–57. – Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch. Bad Homburg, Berlin u. Zürich 1969.

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aus Wilhelm Meisters Lehrjahren gelesen hat, schrieb er am 16. Juni 179852 an seine Schwester und – dass er unzufrieden damit war. Dass ihm das Gemachte, Konstruierte daran missfiel, zeigt ein sehr sensibles Gefühl für die Ausdrucksformen, die innerhalb solcher persönlichen Bekenntnisse gefordert waren. Und das war offenbar etwas, was er in der Freundschaft und Seelenverwandtschaft mit Henriette Herz fand. Zu Beginn des gleichen Briefes hatte er seiner Schwester ausführlich über den Charakter dieser Freundschaft berichtet: „Am meisten lebe ich jezt mit der Herz […] und [wir] reden recht aus dem innersten des Gemüthes mit einander über die wichtigsten Dinge.“53 Den Verdacht, den Friedrich Schlegel und Dorothea Veit hegten, es könne mehr hinter dieser Freundschaft stecken, wies er explizit zurück.54 Am 26. Oktober 1798 versicherte er „[…] auch nicht eine Spur von Leidenschaft“ zu empfinden, betont hingegen das „ähnlich organisirte[] Gemüth.“55 An Henriette Herz selber schrieb er, nachdem er nach Potsdam versetzt worden war,56 am 15. Februar 1799: „Ach liebe Jette, thun sie Gutes an mir und schreiben Sie mir fleißig, das muß mein Leben erhalten, welches schlechterdings in der Einsamkeit nicht gedeihen kann.“57 Etwas weiter heißt es dann: „Mein letzter Gedanke, als sie mir Lebewol sagten und mir mit wenig Worten ein so inniges Gefühl ihrer Freundschaft gaben war ,daß das Wegreisen doch auch etwas Schönes sey‘; es war sehr frevelhaft, aber doch auch sehr religiös [!] – ja, wenn man nur nicht fortbliebe!“58 Und einige Tage später : „Ja Sie sind doch meine eigentliche nächstverwandte Substanz, ich weiß so weiter keine, und keine kann mich von Ihnen trennen.“59 Wie spirituell diese Freundschaft geprägt war, zeigt eine Stelle aus dem Brief von Schleiermacher an Henriette Herz vom 3. März 1799. Es war die Zeit, in der er die zweite Rede über die Religion verfasste, in der er Religion als „Anschauen des Universums“60 definiert hatte. In seinem Brief heißt es nun: „[…] wenn die folgenden Reden nicht gar erbärmlich werden sollen, so muß ich schon aus Religion um der Religion willen nach Berlin kommen – aus Religion denn warlich, ich will das Universum in ihnen schauen.“ Trotz des ironischen Untertones zeigt sich hier, 52 Brief von Friedrich Schleiermacher an Charlotte Schleiermacher vom 23. Mai bis 17. Juni 1798. In: Schleiermacher : KGA V/2 (Anm. 12), S. 331. 53 Brief von Friedrich Schleiermacher an Charlotte Schleiermacher vom 23. Mai bis 17. Juni 1798. In: Schleiermacher : KGA V/2 (Anm. 12), S. 320/321. 54 Ebd., S. 322. 55 Brief von Friedrich Schleiermacher an Charlotte Schleiermacher vom 17. Oktober bis 26. Oktober 1798. In: Schleiermacher: KGA V/2 (Anm. 12), S. 419. 56 Schleiermacher war vom 14. Februar bis 14. Mai 1799 in Potsdam. 57 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette Herz vom 15. Januar bis 19. Februar 1799. In: Schleiermacher : KGA V/3 (Anm. 12), S. 10. 58 Ebd., S. 10–11. 59 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette Herz vom 22. Februar 1799. In: Schleiermacher : KGA V/3 (Anm. 12), S. 15f. 60 Schleiermacher : Reden. In: Schleiermacher : KGA I/2 (Anm. 12), S. 213.

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dass es offenbar möglich war, in der Freundin die beschriebene religiöse Dimension des Universums zu finden, die er immerhin als das Wesen der Religion beschrieben hatte. Er beendete den Brief mit dem Satz: „Meine Religion ist so durch und durch Herzreligion [!] daß ich für keine andere Raum habe.“61 Sicher nicht von ungefähr liest sich diese Stelle doppeldeutig: zum einen, als ,Religion des Herzens‘, zum anderen als ,Religion mit Henriette Herz‘. Die ,Herzreligion‘ wird damit nicht nur zu einem zentralen Begriff innerhalb des Schleiermacherschen Religionsverständnisses, sondern auch innerhalb seines Freundschaftsverständnisses. Es erscheint logisch, dass sie sich am besten in einer von erotischen Ablenkungen freien Freundschaft manifestieren kann, die auf Seelenverwandtschaft beruht, die aber gleichzeitig vielleicht eine Dimension von Sehnsucht behält. Die Freundschaft mit Alexander von Dohna wird in der Forschung häufig anders gesehen als die zu Schleiermacher. Während man letzterem abnimmt, in Henriette Herz nur die Freundin gesehen zu haben, meint man, zu Alexander von Dohna habe ein innigeres Verhältnis bestanden. Leider sind die Briefe nicht erhalten, die eventuell Aufschluss hätten geben können. Henriette Herz selbst bewertet ihr Verhältnis zu beiden Männern jedoch ähnlich. Ob der seit langer Zeit in der Forschung kolportierte Heiratsantrag Dohnas, den Henriette Herz angeblich ablehnte, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht konvertieren wollte, tatsächlich gestellt wurde, ist zu hinterfragen. Wilhelm Dilthey, von dem die Aussage zu stammen scheint, schreibt: Alexander aber war an Henriette Herz durch eine so ernste und tiefe Neigung gefesselt, daß er sich zeitlebens zu keiner Ehe entschließen konnte und nach dem Tode ihres Mannes, alle Vorurtheile der vornehmen Familie nichtachtend, ihr seine Hand anbot, die sie jedoch aus den uneigennützigsten, zartesten Motiven ausschlug.62

In der 1833 erschienenen Biographie Alexander von Dohnas schreibt der Autor, offenbar bewusst undeutlich bleibend, über Dohnas Verhältnis zu den Frauen: Je höher er sich aber das Ideal eines wahrhaften Freundes stellte, um so mehr stand ihm fast unerreichbar das Ideal der weiblichen Vollkommenheit vor der Seele; nur mit 61 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette Herz vom 3. März 1799. In: Schleiermacher : KGA V/3 (Anm. 12), S. 30. 62 Wilhelm Dilthey : Leben Schleiermachers. Bd. 1. Berlin 1917, S. 199–200. Dilthey gibt keine Quelle für diese Aussage an. Sie wird – ebenfalls ohne Quellenangabe – innerhalb der Henriette Herz Forschung tradiert: Petra Wilhelmy : Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert. 1780–1914. Berlin 1989, S. 568; Petra Wilhelmy-Dollinger : Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin 2000, S. 74; Janetzki: Berliner Salon (Anm. 11), S. 207; Albert A. Bruer : Geschichte der Juden in Preußen 1750–1820. Frankfurt a. M. 1991, S. 220; Hans Otto Horch: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Berlin 2016, S. 64. Nur Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ (Anm. 5), S. 107 schreibt differenzierter, dass Dohna Henriette Herz „Heiratsanträge gemacht haben soll.“

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einem Wesen von solcher Vollkommenheit glaubte er eine glückliche Verbindung schließen zu können; allein die Welt bot es ihm nicht oder wo sie ihm in einem einzelnen Wesen ein solches Ideal zeigte, da machten äußere Verhältnisse eine Verbindung unmöglich. Das Bild aber schien in seiner Seele zu bleiben und hielt ihn ab, ein anderes in sich aufzunehmen.63

Die Möglichkeit, dass mit diesem „Ideal der weiblichen Vollkommenheit“, mit dem er sich aufgrund „äußere[r] Verhältnisse“ nicht verbinden konnte, Henriette Herz gemeint ist, mag zwar nahe liegen – belegbar ist sie mit den vorliegenden Quellen nicht. Fest steht hingegen, dass sie mit beiden Männern eine Freundschaft verband, der sie selber einen kaum zu überschätzenden Stellenwert beimaß. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man annimmt, sie habe die Freunde geradezu ,vergöttert‘. Und selbst wenn das Interesse beider über das freundschaftliche hinausgegangen sein sollte, bleibt doch zu konstatieren, dass es letztendlich stets in diesem Rahmen blieb – und dadurch womöglich noch stärker zur Transzendierung drängte. Durch die Bekanntschaft mit Ehrenfried von Willich, die seit dem Besuch von Henriette Herz im Mai 1801 auf Rügen einen festen Platz in ihrem Leben einnahm, bekam dieses religiöse Freundschaftskonzept neue Nahrung. Willich gegenüber sprach sie sich über den Wert der Freundschaften zu Schleiermacher und Alexander von Dohna aus:64 Mein Schicksal nahet sich seiner Vollendung, nur noch zwei Schläge und es ist vollendet, ich bin dann todt, ohne gestorben zu sein. Sie werden mich nicht verstehen, mein Freund, und schlecht nur werde ich mich deutlich machen. […] Glauben Sie denn aber, daß ich gar nicht gefühlt habe von dem, was Schreckliches für mich in der Bestimmung lag, daß Schleier Berlin verlassen muß? Die Thränen, die ich an jenem heiligen Morgen vergoß, waren nicht reine Freudenthränen, nicht aus reiner Theilnahme waren sie vergossen an das Glück unseres Freundes, das auf dem Wege sich ihm näherte. Ich habe wohl auch still an mich dabei gedacht und fühlte tief, was ich verlor an den prächtigen Freund; denn zum Theil verloren ist man für einander, wenn ein weiter Raum uns trennt, und bleibt man lange getrennt, so schleicht sich doch auch manch Fremdes ein, woran man sich erst gewöhnen muß, wenn das Glück uns auch wird, einander wiederzusehen. Ich sah die Erfüllung von Schleiers höchstem Wunsch und schwieg, machte mir selbst nicht klar, was ich verlor durch ihn und äußerte auch das leiseste Wort nicht über meinen Verlust gegen Schleier. So ertrug und ertrage ich den Gedanken an die Trennung von ihm besser. Ich hatte diesen Schlag des Schicksals erwartet, mußte ihn sogar Schleiers halber wünschen und war dagegen gewaffnet mit Festigkeit und Muth; beide, mein Freund, werden jetzt auf eine noch härtere Probe gesetzt, und dennoch muß ich aushalten und gut aushalten. Alexander [Graf Dohna] ist nach Marienwerder versetzt und geht in der Mitte Aprils dahin ab. Nur einen Tag 63 Johannes Voigt: Das Leben des königlich-preußischen Staatsministers Friedrich Ferdinand Alexander Reichs-Burggrafen und Grafen zu Dohna-Schlobitten […]. Leipzig 1833, S. 11. 64 Anlass des Briefes war der Bericht über den Weggang Schleiermachers und Dohnas.

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konnte ich mich nicht fassen, obschon ich auch diesen Schlag vorhersah und zwar als nahe, jetzt aber bin ich gefaßt, obschon kein Tag mir ohne Thränen vergeht. Es ist eine sehr harte Prüfung für mich, Ehrenfried, denn was Alexander seit 10 Jahren ungetheilt mir war, wird kein Mensch mir wieder und ich keinem. Er bleibt mir aber wie Schleier mir bleibt und ungetheilter noch. […] Ich werde aufrecht bleiben bei dem, was ich jetzt leide, weil ich Kraft genug habe, mir zu sagen, daß mir ein seltnes Glück ward und daß ich nicht klagen darf, wenn es, wie alles, was den Menschen nur angehört und nicht er selbst ist, dem Wechsel unterworfen ist. […] Böse Zeiten habe ich erwartet, sie kommen an und ich will nicht erliegen.65 [Kursivierungen U.W.]

Der Morgen, an dem Schleiermacher abreist, ist ein „heiliger“, es ist „ein Schlag des Schicksals“, eine existenzielle Bedrohung, die Freunde zu verlieren. Hier und in den folgenden Zitaten äußert Henriette Herz sich, wenn sie über diese für ihre Existenz so wichtigen Freundschaften und die höheren Gewalten berichtet, die im Leben wirken, mit einem Vokabular aus dem weiteren Wortfeld der Religion. Es ist nicht explizit christlich konnotiert und sie ruft die Genien, die Götter und das Schicksal an. So schreibt sie im September 1803, acht Monate nach dem Tod ihres Mannes an Henriette von Willich: Ich sehe es jetzt erst, wie das Schicksal mich verwöhnt hat. Sonst lebte ich, kurze Zeiten ausgenommen, in sehr freundlicher Gegenwart, konnte mit Freuden in meine Vergangenheit, mit Hoffnung auf meine Zukunft sehen. Jezt ist es anders. Meine Gegenwart stört mir die Gedanken an die Vergangenheit, und meine Zukunft, meine nächste wenigstens, liegt sehr trübe vor mir. Ein guter Genius muß sie erhellen – oder die Zeit, welche die trübenden Begebenheiten vorüberführt – das thut sie immer, nur reißt sie uns mit fort zuweilen in die Unendlichkeit, und das ist das Schicksal, dem wir dann unterliegen und das Tragische in unserem Leben.66 [Kursivierungen U.W.]

In dieser Zeit nach dem Tod ihres Mannes muss der allmähliche innere Übergang zum Protestantismus spätestens begonnen haben. Aus den vorliegenden Quellen ist er nicht genau zu datieren – er ist wohl auch eher ein Prozess als ein Umschlag. Rückblickend erfährt der erste Rügen-Aufenthalt vom Mai 1801 im Zusammenhang mit diesem Freundschaftskonzept eine Art Weihe. Die Erinnerung an den Besuch wird geradezu sakralisiert. An Ehrenfried und Henriette von Willich schreibt sie am 4. November 1804: Die Gegenwart ist nichts weniger als erfreulich; in der Rückerinnerung also lebe ich und meine lezte und liebst ist mir jezt mein rügensches Leben. Nein, ihr könnt es nicht denken, wie ich an dieser Rückerinnerung hänge, ich lebe es bald ganz, bald theilweise durch, bald Tage und bald einzelne Stunden, und alles ist mir lieb und theuer und heilig. 65 Brief von Henriette Herz an Ehrenfried von Willich vom 4. März 1802. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 27–29. Ebenfalls abgedruckt in: Schleiermacher : KGA V/5 (Anm. 12), S. 336. 66 Brief von Henriette Herz an Henriette von Willich vom 3. Oktober 1804. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 83.

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– Ob ich es noch einmal in der Wirklichkeit leben werde? Wie gerne sagt ich ja […]. Aber, wie gesagt, es hat das Schicksal sich zwischen mir und der Zukunft gedrängt; undurchdringlich liegt es vor mir, und ich will es ruhig erwarten, wie es sich aufklären wird.67 [Kursivierungen U.W.]

Und am 24. August 1805 schreibt sie an die Freunde auf Rügen, dass sie hoffe, sie im nächsten Jahr „auf dem mir ewig heiligen Rügen“68 zu sehen. In diesem Brief zeigt sich dann – und das erhellt wiederum eine neue Qualität ihrer religiösen Einstellung –, dass Henriette Herz sich innerhalb des christlichen Freundeskreises offenbar bereits auch mit ihrem religiösen Bekenntnis positioniert hatte. Sie berichtet über den Fortgang und die erhoffte Verbindung von Schleiermacher mit Eleonore Grunow69 : Ja, lieben Freunde, der entscheidende Schritt [die Trennung E.G.s von ihrem Ehemann, Anm. U.W.] wäre schon gethan […] wenn nicht ein kaltes Fieber sie an dem Tage […] befallen, welcher bestimmt war, sie zu befreien […] der Himmel gebe seinen Segen, daß nicht wieder, wie schon dreimal geschehen, etwas von oben herab komme, das es verhindere; geht alles gut, so haben wir künftigen Sommer auf Rügen ein heiliges Fest. Mein Herz hebt sich hoch, wenn ich es mir durchdenke.70 [Kursivierungen U.W.]

Zwar kann man den „Himmel“, den sie hier anruft, vielleicht noch durchaus als jüdisch und christlich lesen, das „heilige Fest“ aber, das die erhoffte Eheschließung von Schleiermacher mit Eleonore Grunow meint, und bei dem sich Henriette Herz offenbar schon als Teilnehmerin der religiösen Zeremonie begreift, zeigt, wie sehr sie zu diesem Zeitpunkt bereits in christlichen Kategorien denkt und spricht. Mit großer Feinfühligkeit und Dezenz gelingt es ihr dabei immer wieder, den christlichen Kontext als Matrix zu zitieren und sich selbst ansatzweise einzubeziehen, ohne sich jedoch explizit als Christin zu bezeichnen. Als sie mit dem jungen Ehepaar über ihren für den Sommer 1806 geplanten Aufenthalt auf Rügen korrespondiert,71 will sie Bedingungen stellen, die den religiösen Charakter der Freundschaft illustrieren: Ach Gott, gebt mir die Versicherung, daß Ihr fortwährend glücklich seid, und daß Ihr mich gern bei Euch haben wollt auf eine kurze Zeit. […] Nicht stören möchte ich Euren stillen, ruhigen Hausstand und keine Änderung in Eurer Lebensweise hervorbringen, 67 Brief von Henriette Herz an Henriette und Ehrenfried von Willich vom 4. November 1804. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 84–85. 68 Brief von Henriette Herz an Henriette und Ehrenfried von Willich vom 24. August 1805. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 94. [Kursivierung U.W.] 69 Vgl. zu Schleiermacher und Eleonore Grunow die kurze Einführung in: Schleiermacher : KGA V/3 (Anm. 12), S. LXXIV–LXXXII. 70 Brief von Henriette Herz an Henriette und Ehrenfried von Willich vom 24. August 1805. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 93. 71 Tatsächlich reiste sie erst 1808 wieder nach Rügen. Vgl. den Aufsatz von Jürgen Rehfeld in diesem Band.

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und wahrlich müßt ihr mir versprechen, recht heilig versprechen, so fort zu leben als ob ich nicht da wäre, wenn ich mit ruhigem Herzen kommen soll.72 [Kursivierungen U.W.]

In dem gleichen Brief schreibt sie über die gerade geborene Tochter des jungen Paares, dass „das Kind, mein Nichtchen, blühen und fromm sein möge.“73 Wenngleich sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit über ihr Bekenntnis spricht, wird doch immer stärker deutlich, dass Religiosität – und sehr wahrscheinlich schon christliche – genuiner Teil ihrer Existenz geworden ist. In dem Brief an Henriette von Willich kurz nach dem Tod Ehrenfrieds von Willich schreibt sie: Jette liebe Jette er ist für uns nicht gestorben, nur getrennt ist er von uns, und ferner wollen wir mit ihm leben, in seiner Liebe, seinem Glauben, seiner Treue […] Verzweiflung dürfte meine Jette nicht ergreifen, dazu ist sie zu fromm, dazu hat sie den frommen Ehrenfried zu sehr geliebt, der das Wort Gottes, das er verkündete, zu tief im Herzen hatte, als daß er nicht selbst jeden menschlichen Schmerz ruhig ertragen hätte und auch so es gelehrt. […] Sie sind in Sagard ein heiliger Ort für Ehrenfrieds Freunde […].74 [Kursivierungen U.W.]

Das Gefühl der Vergemeinschaftung – sogar über den Tod hinaus – ist in dieser ,heiligen Freundschaft‘ mit Händen zu greifen. Einige Tage später thematisiert sie dann eine fast barocke Spannung zwischen Diesseits und Jenseits und der Unzuverlässigkeit des Glückes auf Erden: „Kein Erdenglück sollte in dieser trüben unglückseligen Zeit gedeihen – den innern Himmel kann aber kein Böses uns rauben, und den haben wir in der Liebe und im Glauben.“75 Auch hier spricht sie noch nicht von ihrem christlichen Glauben, aber die Kontextualisierung erlaubt eine Einbettung in dieser Richtung. Ab 1807 werden die Äußerungen zum religiösen Profil – zumindest teilweise bedingt durch die äußeren Umstände – deutlicher. Nachdem sie durch ausstehende Pensionszahlungen finanziell in Bedrängnis geriet und sich gezwungen sah, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, wurde ihr Jüdin-Sein zum Problem bei der Stellungssuche als Erzieherin: Meine mir nur mit mancher Aufopferung, mit vieler Entsagung erhaltene Freiheit muß ich nun auf einige Jahre aufgeben und mir ein anständiges Unterkommen suchen. Meine sehr unverdiente Celebrität und die Jüdin sind mir in Deutschland im Wege; durch die erste fürchtet man sich vor meinen Forderungen, durch die andere wird alles 72 Brief von Henriette Herz an Henriette und Ehrenfried von Willich vom 25./26. Oktober 1805. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 102. 73 Brief von Henriette Herz an Henriette und Ehrenfried von Willich vom 25./26. Oktober 1805. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 103. 74 Brief von Henriette Herz an Henriette von Willich vom 31. März 1807. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 114–115. 75 Brief von Henriette Herz an Henriette von Willich vom 4. April 1807. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 116.

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gescheut [scheu gemacht, Anm. UW] mir bleibt also das Ausland allein. […] Die Kathen suchte eine Erzieherin für ihre Kinder und bat mich, ihr eine zu suchen; jezt wollte ich mich selbst vorschlagen, […] [d]ann fiel es mir aber ein, daß die Jüdin der alten Kathen vielleicht nicht recht sei, und daß Kathen selbst es vielleicht sonderbar finden würde, – da wagte ichs nicht.76

Wesentlich scheint mir hier zu sein, dass sie beide Attribuierungen, sowohl den der ,Berühmtheit‘, als auch den der „Jüdin“ gern von sich abspalten würde – da sie aber mit beiden im öffentlichen Raum verankert ist, wird sie immer wieder darauf zurückgeworfen. Im privaten Raum der Freundschaft hingegen spricht sie ab 1808 gegenüber Henriette von Willich ganz explizit über ihre persönliche Frömmigkeitspraxis. Sie schreibt am 3. Mai 1808: „Auch ich werde wie Du die Kirche vermissen, und da ich nicht hinzugehen brauche, so werde es wohl auch nicht tun, und wir wollen immer des Sonntags eine Predigt von Schleier auf meiner Stube lesen, die ich mir sehr ruhig und still erhalten werde […].“77 Schleiermacher hatte gehofft, dass Henriette Herz während ihres zweiten Rügen-Aufenthaltes – sie lebte dort von März 1808 bis Ende 1809 –, den Schritt der Konversion tun würde. Ein Brief an Henriette von Willich vom November 1808 zeigt, wie lebhaft Schleiermacher und Henriette von Willich diese Sache beschäftigte: Was Du mir sagst bei dieser Gelegenheit über unsere Freundin liegt mir immerfort auf dem Herzen; aber wir können nichts dabei thun als sie selbst gewähren lassen. Sie fehlt ihr wirklich selbst diese schöne Gemeinschaft [d.i. die christliche Kirche, Anm. U.W.], sie vermißt sie oft und von schmerzlicher Rührung darüber habe ich sie schon durchdrungen gesehen. Ich weiß nicht warum ich habe aber oft die Ahndung gehabt sie würde grade auf Rügen den Entschluß [zur Konversion, Anm. U.W.] fassen. Meine Fantasie legte eben ahndend gern alles schönste schon immer nach Rügen; aber so viel ist wohl wahr daran daß ihr hier die äußeren Umgebungen die Sache erschweren. Laß es uns aber geruhig abwarten. Ist sie erst in unser Leben ganz verflochten so glaube ich doch nicht daß sie es lange aushält uns nicht auch so anzugehören.78

Allerdings sollten noch fast zehn Jahre vergehen, bis sich Henriette Herz zu diesem Schritt entschloss. Dass sie aus Rücksicht auf ihre Mutter mit der Konversion wartete, bestätigt ein Brief vom 5. und 6. März 1809 von Henriette von Willich an Schleiermacher : Es ist mir innig wohl mit ihr gewesen, wir haben viel über die schöne Zukunft gesprochen, über Alexander [von Dohna] – auch sagte sie mir ihre Gründe die sie ab76 Brief von Henriette Herz an Henriette und Louise von Willich vom 18. Oktober 1807. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 121. 77 Brief von Henriette Herz an Henriette von Willich vom 3. Mai 1808. In: Boenigk (Hrsg.): Schleiermacher und seine Lieben (Anm. 12), S. 116. 78 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette von Willich vom 9./10. November 1808. In: Schleiermacher : KGA V/10 (Anm. 12), S. 368.

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halten schon jezt öffentlich unserer Religion beizutreten, sie hat ja auch an Dich darüber geschrieben. Findest Du es nicht auch natürlich daß sie ihrer alten Mutter nicht diesen harten Stoß geben will? Einst wird sie sich gewiß zu uns bekennen, wie sie es lange innerlich gethan hat.79

Hier zeigt sich, dass zu dem Widerspruch von privatem Bekenntnis innerhalb des Freundeskreises und öffentlichem Bekenntnis ein bereits oben benannter Problemkomplex hinzukommt – der der Herkunft bzw. der familiären Rücksichten, die Deborah Hertz als zentral benannt hat.80 Zwar ist Henriette Herz 1809 schon „lange innerlich“ Christin, und betrachtet die Konversion zu diesem Zeitpunkt bereits als feststehenden Schritt, kann oder will ihn aber aus familiären Gründen noch nicht realisieren. Bezeichnend für die religiöse Freundschaft mit Schleiermacher und seiner Frau Henriette ist die Tatsache, dass sie es gern gesehen hätten, wenn Henriette Herz Patin für ihre am 12. Juli 1817 geborene Tochter Hildegard81 geworden wäre. Schleiermacher schreibt an Henriette Herz: Jette [Henriette Schleiermacher] fährt fort sich ganz trefflich zu befinden, und die Kleine auch welche zwischen Hildegard und Mathilde schwankt. Wolltest Du nicht noch das Geheimnis bewahren so bäte ich Dich zu Gevatter um darin Deine Erstlinge zu haben. Indeß Deiner guten Wünsche und daß Dir das Kind doch ans Herz gelegt ist bin ich auch ohne das gewiß. Uebrigens ist die ganze Stadt voll davon, daß Du Dich in Zossen habest taufen lassen; woher das weiß ich nicht. So geht es aber gewöhnlich mit solchen Dingen. Woher es kommt dem habe ich nicht nachspüren können; von uns geht es nicht aus, es müßte denn sein daß die alte (?) sich in aller Unschuld verschnappt hätte, doch kann ich das auch nicht recht glauben. Ich habe es noch niemandem zugestanden, Arndt hat mich gut eingeübt auf das Lügen.82

Als Vorbereitung auf ihre Taufe war Henriette Herz nach Zossen gefahren, um sich dort von dem Superintendenten Philipp Wilhelm Wolf (1766–1822), der ihr „Lehrer im Christentum“83 war, in aller Stille taufen zu lassen.84 Warum sie sich

79 Brief von Henriette von Willich an Friedrich Schleiermacher vom 5./6. März 1809. In: Schleiermacher : KGA V/11 (Anm. 12), S. 129. 80 Vgl. oben, Anm. 6. 81 Hildegard Maria Schleiermacher, verh. Gräfin von Schwerin. Die Taufe fand am 15. September 1817 durch Schleiermacher selbst statt. Vgl. Katja Kretschmar u. Michael Pietsch: Historische Einführung. In: Schleiermacher : KGA III/5, Predigten 1816–1819 (Anm. 12), S. XXI. 82 Brief von Friedrich Schleiermacher an Henriette Herz vom Juli 1817. In: Landsberg (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 15), S. 416–417. 83 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 5. September 1822. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern (Anm. 12), S. 117. 84 Das genaue Datum lässt sich bisher nicht eruieren. Das Taufbuch der Gemeinde Zossen verzeichnet nur Kindertaufen. Wolf tritt dort häufig als Pfarrer bei verschiedenen Taufen auf. Das Taufbuch ist als Microfiche zugänglich über das Evangelische Landeskirchliche Archiv

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von Wolf und nicht von Schleiermacher hat taufen lassen, mag zum einen an der Abgelegenheit Zossens gelegen haben. Wichtiger war aber möglicherweise die Tatsache, dass sie mit Schleiermacher die oben beschriebene ,Herzreligion‘ verband, für die Taufe hingegen ein klassischer Konfirmandenunterricht inclusive der Einführung in die Glaubensartikel und Bekenntnisschriften nötig war. Betrachtet man die religiöse Entwicklung dieser Zeit, wird deutlich, dass schon in den Jahren kurz vor dem Tod ihres Mannes die Freundschaften, die Henriette Herz in ihrem eigenen geselligen Kreis geschlossen hatte, immer wichtiger geworden waren. Die Akteure hatten sich auf diese freundschaftlichen Beziehungen mit dem klaren Bewusstsein eingelassen, im Gegenüber jemanden gefunden zu haben, mit dem man nicht nur gesellschaftlich, sondern innerlich – im ,Gemüth‘ – wie Schleiermacher es ausdrückte, harmonieren könne. Dadurch, dass diese Freundschaften durchweg mit Protestanten, und bei Schleiermacher sogar mit einem der Gründungsväter des modernen Protestantismus geschlossen wurden, war eine Orientierung am christlichen Freundschaftsideal, das Schleiermacher auch noch theoretisch fundiert hatte, fast zwangsläufig. Dass es die Kraft hatte, das nur noch als ererbt empfundene jüdische Bekenntnis zu verdrängen, verwundert nicht. Hätten an den Stellen von Schleiermacher, Dohna und den anderen erwähnten Freunden einige Maskil gestanden, die die jüdische Tradition der Schriftkultur, der Konzentration auf das Wort und der messianischen Perspektivierung in Henriette Herz zum Tragen gebracht hätten, sähe ihre Entwicklung wahrscheinlich anders aus. So aber erlaubten das religiös-romantische Freundschafts- und Geselligkeitskonzept und die allmähliche Entfernung von den intellektuellen Werten des aufgeklärten Judentums nach dem Tod ihres Mannes es ihr, die als ,geheiligt‘ empfundene Freundschaft an die Stelle der Religion zu rücken und sich dann schließlich, als keinerlei familiäre Rücksichten mehr notwendig waren, ganz dem protestantischen Christentum zuzuwenden.

4.

Protestantische Profilbildung und religiöse Toleranz

Für die Zeit bis zu Henriette Herz’ Konversion ist der Briefwechsel mit Frederik Christian Sibbern (1795–1872) interessant. Er lässt sich bis ins Jahr 1840 verfolgen. Anders als in den Briefen mit den Rügenern, in denen eine romantische, verinnerlichte Religion vorherrschte, zeigen ihre Briefe an Sibbern, dass sie sich zunehmend auch zu künstlerischen, intellektuellen und politischen Reflexionen in Berlin unter der Signatur : 26866. Ob in den Akten des Königlichen Konsistoriums zu Berlin noch Unterlagen zu finden sind, konnte nicht geklärt werden.

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über das Christentum in der Lage sieht. So äußert sie sich am 4. August 1812 kritisch über religiöse Malerei und goutiert allein die des Italieners Giovanni Bellini (1437–1516): „Auch mir hat kein Christuskopf genügt, außer dem von Johannes Bellini; doch ist da ein Moment genommen, wie Christus ihn wohl selten hatte, denn er hat eine nicht göttliche Strenge in der Miene […].“85 Auch bezüglich der Literatur – speziell zu Goethe und seiner religiösen Haltung –, vertritt sie eine sehr differenzierte Meinung. Er sei „eigentlich etwas Heide“,86 schreibt sie 1814 und ein Jahr später : „Ich wußte es schon lange, daß das Heiligste ihm nicht das Heiligste ist – und hat er dies auch nicht mit deutlichen Wo r t e n [Sperrung im Original] ausgesprochen, so hat er es durch Thaten. – Hinter dem Worte ,Dichtung‘ glaubt er sich sicher.“87 Auch zur europäischen Politik äußert sie sich. In einem Brief an Sibbern vom 11. Juli 1814 spielt sie offenbar auf die Auseinandersetzung Dänemark-Norwegens mit Schweden im Schwedisch-Norwegischen Krieg von 1814 an: „Das Ungeheuerste ist geschehen, seitdem wir getrennt sind, und ich freue mich mit Ihnen des Wiederstandes jenes tapferen, Ihnen benachbarten Volkes gegen die Unterjochung; möge Gott ihm beistehn!“88 Und natürlich schreibt sie auch zu Napoleon Bonapartes Niederlage bei Waterloo: „Von mancherlei habe ich Ihnen nun geschrieben, und noch kein Wort von den großen Wundern, die Gott wieder thut – jetzt erst scheint die Schlange auf dem Haupte getreten zu sein, und wird sich nicht wieder erheben können. – Aber welche Opfer sind gefallen, welche Herzen zerrissen?“89 Dass Gott der Lenker all dieser Ereignisse ist, bezweifelt sie keinen Augenblick. Gegenüber Immanuel Bekker äußert sie sich zu den seit Anfang August 1819 aufflammenden Hep-Hep-Unruhen und vertritt auch hier eine Position der religiösen Toleranz und der Anerkennung der rechtlichen Privilegien der Juden: In welcher Zeit leben wir jetzt! Die Kathol. zerstören die Gräber der Protest., die Christen steinigen die Juden – Nein B., es ist zu toll, daß diejenigen, welche lebend eine Art von Ruhe genießen, im Tode nicht Ruhe haben! – Ach und die armen Juden! Soll es mir nicht zu verzeihen sein, wenn ihr Weh mir weh tut? – ihr übergroßes Wohl tut mir deshalb doch nicht wohl – das nenne ich, sich empören, wenn man diejenigen mit

85 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 4. August 1812. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 52. 86 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 23. September 1814. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 58. 87 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 4. Juli 1815. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 63. 88 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 11. Juli 1814. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 57. 89 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 4. Juli 1815. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 64.

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Steinen wirft und sie zur Stadt hinaustreibt, die von der Regierung aufgenommen sind.90

In den Briefen an Sibbern verhandelt sie zwar auch Fragen ihrer persönlichen Religiosität, aber anders als mit dem Rügener Freundeskreis spricht sie hier nicht aus der Innenposition einer Seelenverwandten, sondern eher aus einem Abseits, von dem aus sie auf ihr Leben blickt und darüber berichtet. Dass auch er – und wohl auch andere enge Freunde – über ihren innerlichen Konfessionswechsel bereits vor der Taufe informiert waren, zeigt eine Briefstelle aus dem Jahr 1814: Von mir und meinem Leben kann ich Ihnen nichts sagen, was Sie nicht wüßten; ich erkenne das Gute und Herrliche, was mir vor vielen geworden, danke Gott täglich für das Glück, Freunde zu haben, die teils mit, oder zu gleicher Zeit mit mir durchs Leben gegangen, und die teils mir später geworden sind, wie Sie, lieber Sibbern, und Twesten.91

Am 6. Juli 1817 reflektiert sie kurz nach ihrer Taufe in Zossen über die bevorstehende Reise nach Italien und macht dabei deutlich, dass damit zwar einerseits ein Jugendtraum in Erfüllung gehe, Rom aber nicht die Endstation ihres Lebens sein könne, wie es einige ihrer Freunde offenbar annahmen. Die Rückkehr nach Berlin sei sicher, denn […] Deutschland nicht nur, sondern Berlin bleibt meine Heimath – nicht etwa weil ich dort geboren bin, sondern weil mein besseres Leben mir darin aufgegangen ist, weil mein innerer Sinn darin geweckt worden ist durch Dinge, Menschen, Leben. 2 Jahre könnten wohl darüber gehen, ehe ich völlig in Ruhe bin; dann bleibe ich aber auch ganz stille sitzen, gehe nur noch zuweilen zu meiner geliebten Schwester nach Prenzlau, und warte übrigens, bis das Leben hier zu Ende geht, hoffe auf ein anderes, und werde stets daran arbeiten, daß durch Tugend und Religion es ein seeliges werde.92

Doch Sibbern ist nicht nur der Freund, sondern auch der Theologe. Im letzten Absatz dieses Briefes zeigt Henriette Herz ein fachliches Interesse, das deutlich macht, dass sie über die Auseinandersetzungen in gelehrten Theologenkreisen informiert ist. So bittet sie Sibbern um seine „Schrift über das Christenthum“ und schreibt dann über Schleiermachers theologische Aktivitäten: Der König hat dem Bischof Sack den Auftrag gegeben, ein Gutachten über die Vereinigung der beiden protestantischen Kirchen zu verfassen; Schleiermacher hat längst 90 Brief von Henriette Herz an Immanuel Bekker vom 18. August 1819. In: Putzel (Hrsg.): Letters (Anm. 12), S. 34. 91 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 9. März 1814. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern (Anm. 12), S. 55/56. 92 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 6. Juli 1817. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 68.

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dafür geschrieben. Seine Ethik und sein Plato ruhen jetzt, er hat ein bedeutendes Werk über den Lukas93 geschrieben.94

Fünf Jahre später berichtet sie an ihrem Geburtstag in einer sehr ausführlichen Passage, die große Ähnlichkeit mit dem Text der Jugenderinnerungen hat, über ihre eigene Entwicklung. Sie bedauert, ihre Zeit nicht besser genutzt zu haben, ebenso ihre Kinderlosigkeit, wägt ihre jetzige ruhige Heiterkeit gegen die Ausgelassenheit der Jugendzeit ab, und wertet sie als ein Ergebnis der Zeit, seit „das Bessere in mir aufgegangen, seit ich einen festeren Halt in mir bekommen habe.“ In dem gleichen Brief schreibt sie eine ausführliche Passage über ihre Ansichten zu den im „Gesetz lebenden Juden“ und den „Neuisraeliten“: Die im Gesetz lebenden Juden sind mir so ehrwürdig, wie es mir die Urväter sind; der Weg, auf welchem sie zu Gott gelangen, ist ihnen vorgeschrieben, und daß sie ihn nicht aus Bequemlichkeit und Leichtsinn verlassen, ist lobenswert – und Gott wird nicht von seinem Throne weisen, wer sich ihm wahrhaft nähert, auf welchem Wege es auch sei. Aber, lieber Sibbern! wer sich höher stellt als alles bis jetzt Bekannte und Offenbarte, der ist, glaube ich, im allerschädlichsten Irrtum, und in diesem sind alle die Neuisraeliten befangen – Der Deismus ist ihr höchstes und alleiniges Ziel; sie glauben sich stark genug, ohne alle Offenbarung zu dem zu gelangen, was das Höchste ist – sind dabei eingebildet auf das Judentum, das sie verlassen haben, indem sie die mosaischen und rabbinischen Gesetze nicht befolgen. Wir sind und bleiben Juden, sagen sie; was macht sie denn dazu? Die Geburt doch wohl nicht? eben so wenig als wir Christen wären, wenn wir nicht getauft wären, nicht unterrichtet in der Lehre Christi, nicht Teil am Abendmahl nähmen, und nicht glaubten, daß das Christentum allein der rechte Weg zum Heil der Seele sei. Christen können wir doch wohl diejenigen nicht nennen, die anderes Sinnes, anderer Meinung sind, wenn sie schon von christlichen Eltern geboren sind – und so sind auch jene nicht Juden zu nennen, die außer jenen Gesetzen leben. – Sie wissen, mein Freund, daß ich nicht immer war, was ich, Gottlob! jetzt bin. Ich bildete mir aber auch nicht ein, etwas zu sein – ich wußte, daß ich nicht Jüdin war, wußte, daß mir noch vieles fehlte, was mich zur Christin machen konnte; und ich weiß in diesem Augenblick, daß, obschon es durch Gottes Gnade heller in mir geworden, mir manches, ja vielleicht vieles noch fehlt – ich habe aber den guten Willen, bin ohne Eigendünkel, und hoffe auf dem Weg, auf welchen Taufe und Abendmahl mich gebracht, fest und ernst fortzuschreiten.95

Die in der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Schleiermacher gewonnene Einsicht – wenn sie auch gegen dessen Schlussargumentation zum Judentum in den Reden sprechen mag –, dass es verschiedene Wege zu Gott gebe, und nicht 93 Schleiermacher : Ueber die Schriften des Lukas ein kritischer Versuch. In: Schleiermacher : KGA I/8 (Anm. 12), S. 1–193. 94 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 6. Juli 1817. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 70. 95 Brief von Henriette Herz an Friedrich Sibbern vom 5. September 1822. In: Mynster (Hrsg.): Breve til og fra Sibbern. (Anm. 12), S. 115–117.

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allein die Geburt jemanden zum Juden oder Christen mache, kommt hier explizit zum Ausdruck. Interessanterweise reflektiert sie hier noch einmal explizit ihre lange ,Inkubationszeit‘ vor der Taufe, konstatiert, dass sie „nicht Jüdin war“ und ihr „noch vieles fehlte, was [sie] zur Christin machen konnte“. Genau diesen Analysemaßstab legt sie an Ludwig Börne an, dessen politisch-religiöses Dilemma sie scharfsinnig benennt: Er gehört zu den Bestgesinnten, und wäre er wirklicher Christ, wie er getaufter Jude ist, so bliebe mir nichts in ihm zu wünschen übrig – er hat viel Geist und eigentlich ein tiefes Gemüt, das läßt mich auch hoffen, daß er noch werden kann, was er nicht ist – Er ist so gewaltig in der Vernunft befangen, daß nur von Gott ihm Rettung kommen kann.96

Immer sicherer formuliert sie im Laufe der Jahre ihre Ansichten zu religiösen Fragen. Die erst über einen langen Zeitraum gewonnene Matrix des Christentums wird und bleibt ihre Leitlinie, wobei sie keineswegs dazu übergeht, ihre früheren Glaubensgenossen pauschal abzuurteilen. Das gilt ebenso für diejenigen, die zum Katholizismus konvertierten. In diesem Zusammenhang sind die Briefe, die Henriette Herz aus Rom über die dortigen deutschen Katholiken schrieb, aufschlussreich. So berichtet sie im Februar 1818 aus Rom an Louise Seidler : Lassen Sie uns den Geist, der über Jene gekommen ist, nicht tadeln, wenn er auch etwas in sie gebracht, das vielleicht aus ihnen wegzuwünschen wäre. Ist es in unserer Macht, zu sagen, daß sie so streng sittlich, so gründlich künstlerisch, so rechtlich, wacker, fromm und treu wären, wenn sie geblieben, was sie waren? Und was waren die meisten? Etwa Protestanten? Nein – sie waren nichts, sie waren ohne alle Religion, denn wären sie Protestanten im wahren Sinne des Wortes gewesen, so könnten sie ja wohl alles gewesen und geworden sein, was sie jetzt als Katholiken sind.97

Auch hier urteilt sie nicht, sondern versucht, Verständnis aufzubringen. Ähnlich äußert sie sich in einem Brief an Immanuel Bekker vom Juli 1818 über die Religion Dorothea Schlegels. Mild und duldsam, wie ich die Schl[egel] nie gekannt, ist sie jetzt; in ihrer frühen Zeit, wo sie das Wort Religion noch nicht verstand, (wie wir unglücklichen aufgeklärten Juden denn Gott danken müssen, wenn uns der Sinn davon nur im spätern Leben aufgeht), da war ihre große Lebhaftigkeit, Verstand und Geist immer über alles hinaus, und sie verwarf, wie sie liebte, ernstlich und wahr, und tat beides mehr als recht war – Als sie, noch mit leichtem Sinn, sich mit Schl[egel] verband und ihm folgte, führte Gott 96 Brief von Henriette Herz an Immanuel Bekker vom 7. Juli 1819. In: Putzel (Hrsg.): Letters (Anm. 12), S. 30. 97 Hermann Uhde (Hrsg.): Erinnerungen und Leben der Malerin Louise Seidler. 2. Aufl. Berlin 1875, S. 159–160; wieder bei Landsberg (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit (Anm. 11), S. 459.

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sie, nach vielem äußern und inneren Umherirren nach Köln – Hätte sie ruhig, in Verbindung mit frommen Protestanten, an einem protestantischen Ort gelebt, so wäre sie auch protestantische Christin geworden. Wie leicht der Schritt vom Nichts zum Übermaß, ist bekannt – sie ward Katholikin und zwar fanatische, wie man mir sagte – ich sah sie in jener Zeit nicht, und ihre Briefe an mich wurden auch damals sehr selten. Ihr Leben in der Welt, ihr Umgang mit wackern, frommen Leuten haben ihr Herz und ihren Geist insofern geläutert, daß das erste ruhig und gläubig festhält an dem, was ihr als das einzig wahre gezeigt und von ihr angenommen worden, der andere es sieht, wie nicht alles gleich sein kann – und wenn in ihrem frommen Katholizismus sie vielleicht jeden tief bedauert, der nicht darin ist, so habe ich doch nie die kleinste Äußerung von Unwillen oder gar noch etwas Schlimmeres über die Protestanten gehört. Sie spricht laut gegen alle Unduldung von jeder Seite, und ich schwöre es Ihnen bei allem, was uns heilig ist, daß ich nie ein Wort von ihr zu mir gehört habe, daß nur den Wunsch verriete, daß ich katholisch werden mögte, viel weniger, daß sie mich quälen sollte mit Zureden, Bereden u.d.gl. Ich bin es ihr schuldig, jedem, der sie der Proselytenmacherei beschuldigt, zu sagen, daß er ihr großes Unrecht antue. Wenn im umgekehrten Falle die Liebe und die Freundschaft, die von meiner Kindheit an für die Schl[egel] in meinem Herzen ist, mir Schonung und Verschweigung auflegen würden, so muß ich jetzt um so lauter die Wahrheit sagen – und den Freunden zuerst, die Teil an mir nehmen, die mich kennen und wissen, daß ich ihnen keine Unwahrheit sagen werde […].98

Diese Überlegungen und Haltungen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern sie sind das bewusste, durchdachte Ergebnis eines hoch reflektierten, zum einen durch Beobachtung ihres Umfeldes entstandenen, zum anderen aber selbstreflexiven, langsamen, aber keinesfalls einfachen Konversionsweges. Unglauben hingegen, den sie durchaus auf Seiten der Juden und der Christen sieht, bedauert sie – das zeigen ihre Bemerkungen zu Goethe und den Neuisraeliten. Die Versuchung, ihre Äußerungen als ,Frömmelei‘ abzutun, wie es gelegentlich in der Forschung geschieht, verstellt den Blick auf diese differenzierten Positionierungen.

5.

,Erfahrungsseelenkunde‘ und religiöses Bekenntnis in den Jugenderinnerungen

Die Jugenderinnerungen von Henriette Herz sind in mindestens zwei Denkhorizonten zu verorten, die zum Ende des 18. Jahrhunderts zusammenlaufen: Einerseits in dem der religiösen, besonders der pietistischen Bekenntnisschriften und Autobiographien, deren Ziel es ist, „göttliche Lenkung in der Verwirrung des Daseins zu erkennen und zu zeigen“, um dann in der „Bekehrung und

98 Brief von Henriette Herz an Immanuel Bekker. In: Putzel (Hrsg.): Letters (Anm. 12), S. 19.

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Erweckung als der rettenden Lebenskrise seinen Höhepunkt“99 zu finden. Andererseits gehören sie zu den Texten, die die religiöse Biographie und Autobiographie weiterentwickeln und zum Ende des 18. Jahrhunderts in die ersten psychologischen Fallgeschichten münden. Das „Motiv der Gewissensforschung und der Rechtfertigung [wird] noch beibehalten [aber] [a]us der göttlichen Lenkung ist hier die planende Selbstgestaltung des Lebens durch das bewußt tätige Individuum geworden.“100 Es ist ein „Säkularisierungsvorgang“101, der sich hier innerhalb einer Gattung abspielt und der im geselligen Umfeld des Hauses Herz mit Händen zu greifen ist, und mit deren beiden Ausformungen Henriette Herz fraglos vertraut war. Am 30. Mai 1798 hatte Schleiermacher, wie bereits dargelegt, an seine Schwester geschrieben, er habe mit Henriette Herz Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele gelesen – die berühmte literarische Bearbeitung der Unterhaltungen, die der junge Goethe während seiner Krankheit in Frankfurt mit der den Herrnhutern zuneigenden Susanne von Klettenberg (1723–1774) geführt hatte. In diesen Unterhaltungen hatte sie von ihrer religiösen Erweckung berichtet. Auch religiöse Bekenntnisschriften wie die von Johann Heinrich Jung-Stilling102 (1740–1817) oder Johann Georg Hamann103 (1730–1788) waren in aller Munde und regten allenthalben zur literarischen Nachahmung an. Indem Henriette Herz an verschiedenen Stellen der Jugenderinnerungen versucht, göttlichen Einfluss auf ihr Leben aufzuzeigen, kann man in ihnen Elemente aus dieser Tradition der religiösen Bekenntnisschriften erkennen. Allerdings bedient Henriette Herz diese Tradition nur teilweise. Der Text ist eben nicht nur ein religiöses Bekenntnis zu ihrem protestantischen Glauben, sondern auch eines zu ihrer sephardischen Herkunft, zur Bildung, zur Vernunft, zur Kunst und Literatur, zur Geselligkeit, zur Freundschaft, Liebe und Tugend und auch eines zur Schönheit. Damit lässt es sich auch in die Tradition psychologischer Texte einordnen, wie Karl Philipp Moritz (1756–1793) sie im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793)104 zu99 Ralph-Rainer Wuthenow: Autobiographie, autobiographisches Schreiben. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. A–Bib. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 1267–1276, hier. Sp. 1269. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Sie erschienen in drei Teilen: 1777 Heinrich Stillings Jugend, 1778 Heinrich Stillings Jünglingsjahre, 1778 Heinrich Stillings Wanderschaft. 103 Hamann hatte 1758 in London ein christliches Erweckungserlebnis, das er in den „Biblischen Betrachtungen“ niedergeschrieben hat. Vgl. Johann Georg Hamann: Biblische Betrachtungen. In: Hamanns Schriften. Hrsg. von Friedrich Roth. Theil 1. Berlin 1821. 104 Das gesamte Magazin ist verfügbar unter : http://telota.bbaw.de/mze/ [23. 12. 2016]. Ein Teilabdruck findet sich in: Stefan Goldmann (Hrsg.): Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Eine Anthologie. Gießen 2014. Dort hatte unter anderem Marcus Herz im Jahr 1783 einen Bericht über seine schwere Krankheit veröffentlicht: Marcus Herz:

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gänglich gemacht hatte.105 „Fakta – und kein moralisches Geschwätz“,106 das war die Devise des Magazins gewesen. In diesem Spannungsfeld sah Henriette Herz sich wohl, als sie sich daransetzte, ihre Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Dass sie sie offenbar weder in die eine, noch in die andere Kategorie zufriedenstellend einbetten konnte, zeigen der summarische Abschluss und das abrupte Ende des Textes: D. 27 t. August 1829. – – Ich beschlisse diese Zeilen hiermit die ich weiter ausführen wollte – wozu das Leben mich durch den Umgang mit ausgezeichneten Menschen gemacht hat dafür danke ich allein Gott. Eine lange Reihe von Jahren lebte ich mit allen den vorzüglichen Menschen Berlins in geselligem Verkehr – einige nur will ich nennen: – früher mit Gentz, Brinkmann, Leuchsenring, Graf Bernstorf, Ancillon waren von einem kleinen Theekränzchen. Die beiden Humboldts, Dohm, Klein, Engel, Zöllner in jener obenbenannten Lesegesellschaft, die, wie jenes Theekränzchen durch hinzukommende Fremde vergrössert wurden, wie das durch La Roche u. C. Dohm geschah. Später entstand die Fesslersche Lesegesellschaft woran Künstler u. Staatsmänner, Gelehrte u. Frauen Theil nahmen, mehrere von diesen kamen in unser Haus, so wie jeder an Geist bedeutende Fremde fast es besuchte – Herz zog durch seinen Geist u. als berühmter Arzt die Leute an sich, ich durch meine Schönheit u. durch den Sinn den ich für alles Wissenschaftliche hatte, denn es gab kaum eine in der ich mich nicht einigermassen umgesehn hätte u. einige trieb ich ernstlich – so Physic u. später mehrere Sprachen. Zu den früheren grossen Gesellschaften gehört auch ein Kränzchen das wir mit Nicolai, Klein, Görke u. einigen andern hatten, wozu jeder im Hause eingeführte Fremde eingeladen wurde. Herzens grosser Ruf als Arzt führte ihm viele Fremde zu so wie seine ausgebreitete Praxis uns mit vielen Leuten in Verkehr brachte da H-s Verstand u. Wiz ihn zu einem sehr angenehmen Gesellschafter machte – Er hatte es gern wenn wir oft eingeladen waren u. er hatte fern von aller Eifersucht seine grosse…107

In der Ausgabe des Litteraturarchives folgt die abschließende editorische Bemerkung: „Mit diesen Worten endet das Manuscript mitten auf einem neu angefangenen Blatte.“108 Der Grund des Abbruchs ihrer Aufzeichnungen könnte gerade darin liegen, dass sie sich durch das Konglomerat von religiösem Bekenntnis und ,Erfahrungsseelenkunde‘ überfordert fühlte.109 Zwar versucht sie

105 106 107 108 109

Psychologische Beschreibung meiner eignen Krankheit. An Herrn Doktor J[oel] in Königsberg. In: Goldmann (Hrsg.): Berühmte Fälle (Anm. 104), S. 23–47. Für diesen Hinweis danke ich Herrn PD Dr. Stefan Goldmann. Vgl. ders.: Sheila Dickson und Christof Wingertszahn. „Fakta. Und kein moralisches Geschwätz“. Zu den Fallgeschichten im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783–1793). Göttingen 2011. Karl Philipp Moritz: Einleitung. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, Stück 1, 1783. Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 183–184. Ebd. Neben diesen beiden Kategorien gehören die Jugenderinnerungen auch zu einer Textgattung, die man ,Gesellschaftsbericht‘ nennen könnte. Das reichte sie später in den Diktaten an Fürst nach, wobei, wie bereits gesagt, die Authentizität dieser Diktate sehr fraglich ist.

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sich in einer substanziellen Selbstbetrachtung, wie sie im Magazin gefordert worden war, an dem Punkt aber, wo der gesellige Verkehr im Hause Herz es erfordert hätte, persönliche Standpunkte oder Wendepunkte zu benennen, bricht sie ab. Was hier an religiösen und psychologischen Reflexionen gefordert gewesen wäre, konnte oder wollte sie offenbar nicht leisten.110 Das, was sie an „Fakta“ im Sinne des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde erzählt, ist aber eine sehr dezidierte Selbstdarstellung inklusive des Versuches der daraus abgeleiteten Selbstdeutung. Besonders spannend an ihrer Darstellung ist, dass sie den Text mit einem Rekurs auf ihre sephardische Herkunft beginnt. Der erste Satz des Textes, „[m]ein Vater war portugiesischer Jude, dessen Großvater mit vielen seiner Glaubensgenossen aus Portugal fliehen mussten um nicht in die Hände der Inquisition zu gerathen“, ist ein – wie eine Anmerkung erläutert, „späterer Zusatz von H. H.’s Hand“111 –, der in keiner anderen Ausgabe als solcher kenntlich gemacht wurde. Mit dieser Aussage, die sie längere Zeit nach ihrer Konversion dem Manuskript hinzugefügt hat, verortet sie sich mit ihrer Herkunft dezidiert im jüdischen, genauer gesagt sephardischen Herkunftsbereich.112 Sie ist stolz auf diese Herkunft, aber sie hat für sie keine religiöse Bedeutung mehr. Sie grenzt sich damit, so Schapkow, „sowohl vom traditionellen als auch aufgeklärten Judentum der zeitgenössischen aschkenasischen Juden ab.“113 Mit dem Bild der iberisch-sephardischen Juden, die in Spanien lebten, ist eine Geschichtskonstruktion verbunden, die sie als eine Art Kulturträger für Europa versteht,114 und die auch für Henriette Herz so reizvoll war, dass sie es an den Anfang ihrer Aufzeichnungen setzte. Gleichzeitig scheint dieser Topos mit dem des Exotismus der ,Schönen Jüdin‘,115 den Henriette Herz in ihrer Jugend gern bedient hatte, zu korrelieren. Ihre Herkunft bot ihr damit die Möglichkeit einer doppelten Identifizierung sowohl in intellektueller als auch ästhetischer Hinsicht: Verstand und Schönheit, ergänzt durch Gefühl und Güte, Pragmatismus und Tugendhaftigkeit, bilden immer wieder Markierungspunkte der Jugenderinnerungen. Die Ausbildung, die sie als Kind erhielt, empfand sie als defizitär und zu wenig gelenkt. Erst mit der Heirat wurde ihrem Bildungshunger eine klare Richtung gegeben. So schreibt sie, dass eine gewisse Frühreife schon

110 Vgl. zu den Gründen für den Abbruch auch: Seibert: Henriette Herz (Anm. 9), S. 50. 111 Vgl. Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 142. 112 Vgl. zur Bedeutung des Sephardischen im Zusammenhang mit der Herkunft von Henriette Herz den Artikel von Carsten Schapkow in diesem Band. 113 Ebd. 114 Vgl. hierzu Carsten Schapkow: „Mit stets neuer Bewunderung“. Iberisch-sephardische Topoi im deutsch-jüdischen Diskurs im 19. Jahrhundert. In: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Hrsg. von Dan Diner. Bd. 1. Leipzig 2003, S. 199–216. 115 Vgl. zum Bild der ,Schönen Jüdin‘ den Beitrag von Anna-Dorothea Ludewig in diesem Band.

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bald ihre kindlichen Spiele beendet habe116 und sie Gefallen an schauerlichen und sentimentalen Romanen finden ließ, wobei das Schauerliche sie nur äußerlich berührt habe, das Sentimentale hingegen „kam wol ganz aus mir allein, denn niemand den ich sah erregte es auf irgend eine Weise […].“117 Gleichzeitig beschreibt sie eine Neigung zur Wohltätigkeit,118 die von der Mutter ererbt zu sein scheint, die „Rathgeberin vieler Menschen u. thätige Helferin in Noth u. Freude [war]; diese Eigenschaften machten sie vielen theuer u. sie verdiente es.“119 Auch ihr vielgerühmter praktischer Verstand kommt von der Mutter : „Sie hatte geraden, richtigen Verstand u. ohne eigentlich gebildet zu sein würdigte sie doch alles was zur höheren Bildung gehörte […].“120 Obwohl auch ihre Mutter „sehr hübsch gewesen sein“ soll,121 kommt die wirkliche Schönheit vom Vater, von dem sie schreibt: „[E]r soll aber sehr schön gewesen sein, was sowol an einem Jugendbilde das ich von ihm besize zu sehen ist, als man auch noch bis zu seinem Tode Schönheitsspuren in seinem Gesichte sah.“122 Zu diesen Gaben der Natur gesellte sich ein Gemüt, das „fast immer heiter u. vergnügt u. nicht selten ausgelassen war“, allerdings kombiniert mit einer eleganten Schwermut – „ein trübes und sehnsüchtiges Gefühl“123 –, die aus dem Rückblick der zwanziger Jahre als das erscheinen mochte, was Jean Paul so treffend als ,Weltschmerz‘ bezeichnet hatte. Es suggeriert an dieser Stelle, dass schon die kindliche Henriette ein Gefühl für dergleichen gehabt habe, oder dass das, was ihre Natur gebraucht hätte, sei es Liebe oder Religion, schon damals gefehlt habe. Klarsichtig, wenn auch nicht uneitel, berichtet sie hier also von ihrer intellektuellen und emotionalen Entwicklung. Dass sie aber nicht versucht, ihre Bekehrung zu beschreiben, liegt möglicherweise an deren mangelnder dramatischer Dimension. Es war kein religiöser Durchbruch gewesen, wie ihn die Pietisten gefordert hatten, um ein ,Neuer Mensch‘ im Sinne von 2.Kor. 5.17 zu werden, keine spektakuläre Gotteserkenntnis wie bei Hamann, kein qualvoller langer Leidensweg wie bei Jung-Stilling, sondern ein langsamer, schrittweise gegangener Weg. Ihrer Analyse nach setzte er schon im Elternhaus an, beim Vater, der zwar noch „streng im Gesez seines Glaubens [lebte], […] aber die Milde u. Liebe des Christenthums im Herzen [hatte] u. […] daher duldsam gegen alle die welche dagegen handelten [war].“124 Die Form der religiösen Selbstbespiegelung, die in 116 117 118 119 120 121 122 123 124

Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 3), S. 155. Ebd., S. 158. Ebd., S. 154. Ebd., S. 151. Ebd., S. 153. Ebd., S. 152. Ebd., S. 151. Ebd., S. 157. Ebd., S. 151.

Überlegungen zum religiösen Selbstverständnis der Henriette Herz

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vielen Bekenntnisschriften bis zum Exzess betrieben wurde, fehlt in den Jugenderinnerungen und sie sind deshalb keine klassische religiöse Bekenntnisschrift. Allerdings ist die Reflexion über Religion auch nicht weggefallen oder völlig durch die oben beschriebene ,Erfahrungsseelenkunde‘ substituiert worden. An ihre Stelle rückt die Auseinandersetzung mit den religiösen Ansichten anderer, die besonders in dem Abschnitt über Moses Mendelssohn einen sehr stimmigen Ausdruck findet: Dieser Mann lebte streng nach den mosaischen Gesezen u. die Leute glaubten den innigen Freund Lessings zu aufgeklärt u. vernünftig als dass es ihm Ernst sein könnte, sie glaubten dass er den Zwek habe seine Nation aufzuklären u. fürchtend dass er ihr Zutrauen verlieren würde wenn er sich von ihren Gesezen u. Gebräuchen entferne halte er sie, ich bin anderer Meinung über ihn u. die Duldung u. Nachsicht mit welcher er alle die ertrug welche Freidenker waren bewiesen mir dass ich nicht irre wenn ich aus Ueberzeugung sage dass der weise, milde Mann Gott im Herzen hatte und den Weg zu ihm durch das Judenthum hoffte – Ohne Stab u. Stüze zu im gelangen zu können glaubte er nicht, im Judenthum erzogen, das Christenthum nicht kennend, lebte er in ersten fort u. hielt darauf dass sein Haus in gleichem Sinne geführt u. so auch seine Kinder unterrichtet wurden, freilich blieben diese in so aufgeklärten Zeiten wie die waren in welchen Mendels(ohn) lebte, nicht lange innerlich Juden – u. die Freunde des Hauses auch sogenannte aufgeklärte Juden u. Christen d. h. eigentliche Deisten, trugen nicht eben dazu bei einen besseren Sinn in die Kinder zu bringen, da die Freunde alle der Meinung waren dass es dem Vater mit dem Judenthum nicht Ernst sei.125

Das wahre Problem für Henriette Herz – das hatten schon die Briefe gezeigt – ist nicht Andersgläubigkeit, nicht die jüdische Religion, sondern Atheismus – was sie als Deismus bezeichnet. Diese Haltung könnte eine weitere Erklärung dafür sein, warum sie selber es so lange nicht zwingend nötig fand, zu konvertieren: Offenbar konnte man, ihrem Verständnis nach, auf verschiedenen Wegen zu Gott kommen. Mendelssohn habe es durch das Judentum versucht, Dorothea Veit-Schlegel sei Katholikin geworden, sie selbst ist zum Protestantismus konvertiert. Das zeigt, bei aller Konzentration auf den Protestantismus Schleiermacherscher Prägung doch, dass sie sich eine Toleranz bewahrt hat, die letztlich wohl nur aus ihrer intellektuellen und gefühlsmäßigen Erfassung des Phänomens ,Gott‘ resultieren konnte. Sie nimmt ihn offenbar als geselligen, allen Gläubigen gegenüber offenen Gott wahr.126 Eine solche Position im allgemeinen Assimilationsdruck um und nach 1800 zu bewahren, spricht für sie – sie diskreditiert weder die früheren Glaubensgenossen, noch die Katholiken. Und wenn sie sich auch wünschen würde, dass alle Protestanten wären, ist sie doch 125 Ebd., S. 178. 126 Inwieweit das mit Schleiermachers Konzept von Geselligkeit korreliert, wäre an anderer Stelle zu prüfen.

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klug und einfühlsam genug, sich Friedrichs II. Aussage, „hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden“, anzueignen. „Moralisches Geschwätz“ im Moritzschen Sinne oder ,Frömmelei‘, wie oftmals in der Forschung behauptet, sind die Äußerungen von Henriette Herz nicht. Dass sie nicht missioniert und einsieht, dass das Seelenheil der Andersgläubigen keineswegs verloren, das der Atheisten allerdings sehr gefährdet sei, zeigt ein säkulares, sehr reflektiertes Religionsverständnis. In diesem Sinne ist ihre vermeintliche Unfähigkeit, klare Positionen auszubilden und zu behaupten, vielmehr als Stärke denn als Schwäche zu sehen, weil sie stets das Eigene im Anderen akzeptiert.

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„Wie in ein unbekanntes Land, das fern im Nebel liegt, sah ich auf mein Sein in Rügen“1 – Henriette Herz auf Rügen

„Seit einigen Jahren ist auch die Insel Rügen ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und Neugier der Fremden geworden, und Reisende aus nahen und entfernten Gegenden haben sie, die vor einigen Dezennien selbst in Deutschland fast noch eine Terra incognita war, nicht nur eines Besuches würdig geachtet, sondern auch mit der Erklärung verlassen, daß das Land ihre Erwartungen übertroffen habe“, heißt es in der Vorrede von Johann Jacob Grümbkes (1771–1849) 1805 veröffentlichten Streifzüge[n] durch das Rügenland.2 Der dichtende Pfarrer Ludwig Theobul Kosegarten (1758–1818) besang die Insel als Erster : ihre tief eingeschnittene Küste, die mit Moos bewachsenen Hünengräber, die Wälder und Seen, die gewaltigen Kreidefelsen, die unendliche Weite des Meeres. Seit seinen Briefe[n] eines Schiffbrüchigen (1794), Johann Friedrich Zöllners (1753–1804) Reise durch Pommern nach der Insel Rügen und einem Theile des Herzogthums Mecklenburg (1797) sowie Johann Carl Friedrich Rellstabs (1759–1813) Ausflucht nach der Insel Rügen durch Mecklenburg und Pommern (1797) erfreute sich die zu Schweden gehörende Insel zunehmender Beliebtheit. Eines der meistbesuchten Ziele war die etwa 700 Einwohner zählende Stadt Sagard. Hier hatte der Pfarrer Heinrich Christoph von Willich (1759–1827) im Jahre 1794 an einer mineralhaltigen Quelle den ersten Gesundbrunnen Rügens, die „Brunnen-Bade-und Vergnügungsanstalt“ errichtet. Der Hallenser Schriftsteller August Gottlob Eberhard (1769–1845) erinnerte sich an eine Begegnung mit Willich, der seit 1783 Pfarrer in Sagard war : Ich lernte in ihm [Willich] einen fein gebildeten, höchst gefälligen Mann kennen, der mich freundlich über alles, was ich zu wissen wünschte, belehrte. Auch zeigte er mir in einem kleinen, nahegelegenen Thale, dessen Spazierwege es an Schatten nicht fehlte, 1 Henriette Herz an Ehrenfried von Willich. Prenzlau, den 16. Juli 1804. In: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher u. Henriette Herz: Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801 bis 1807. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 1984, S. 107. 2 Johann Jacob Grümbke: Streifzüge durch das Rügenland. Hrsg. von Albert Burkhardt. Leipzig 1988, S. 8.

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die von ihm gemachten Badeanlagen. Alles freilich, im Vergleich mit anderen berühmten Bädern, nur nach einem sehr verjüngten Maaßstabe; aber nützlich und verdienstlich genug, um einen uneigennützigen, auf Menschenwohl und Wohlgefühl im Genuß der Natur gerichteten Sinn in dieser kleinen Schöpfung mit Freudigkeit anerkennen zu müssen.3

Willich hatte ein Badehaus und über der Quelle ein turmartiges Gebäude errichten lassen, er schuf eine Parkanlage im Stile des frühen 19. Jahrhunderts mit Wegen, Anpflanzungen, kleinen Lauben und einem Pavillon. Auch sorgte er für ansprechende Quartiere für die Badegäste und bemühte sich um ein kulturelles Angebot. Bereits 1795 hatte sein Bruder, der Landphysikus Moritz von Willich (1750–1810), die erste Werbeschrift für den Gesundbrunnen zu Sagard veröffentlicht, den Vorläufer einer künftigen ausführlichen Beschreibung des Gesundbrunnens zu Sagard auf der Insel Rügen, nebst Anzeige von dessen Bestandtheilen, und den bey und um denselben gemachten Anlagen. Im folgenden Jahr erschienen dann Neuere Nachrichten vom Gesundbrunnen zu Sagard, auf der Insel Rügen. Ausführlich werden der Tagesablauf und die Angebote für die Kurgäste beschrieben. „Schon Morgens um 5 Uhr“ versammelten sich die Kurgäste, denen „gegen 7 Uhr sämmtliche, sich zum Vergnügen beim Bade aufhaltende Gäste“ folgten. „Um 8 Uhr kam gewöhnlich das besoldete und förmlich angestellte, sehr gute, Corps Musikanten […]. Die Gesellschaft hörte dann dieser Musik, in der Nähe und in der Ferne, beim Spaziergange, oder in einer gesellschaftlichen Laube, oder auch in einer kleinen, einsamen, versteckten Grotte, Laube, Nische“ zu. Die Gäste „vergnügten sich oft im Freien, beim frohen, munteren Tanze, wobei oft das Frohseyn so allgemein wurde, daß selbst bejahrte Personen am frohen Tanze Theil nahmen und sich der tanzenden Gesellschaft zumischten. Andere ergötzten sich mit Kegelschieben, mit Scheibenschießen, jedoch nur mit Blasröhren, mit Schaukeln, Wippen, auf dem Karoussel, auf der Balance, bei der Wurfscheibe […].“4 Auch von gemeinsamen Ausflügen der Kurgäste zum Jasmunder Bodden, zur Stubbenkammer und zum Herthasee berichtet Willich. Da oft etwa 100 Personen zugleich in Sagard weilten, wurde jede Woche ein Ball organisiert. Dieser fand zunächst im Pfarrhaus, später dann im extra dafür angebauten Ballsaal statt. Im Pfarrhaus stand den Gästen zudem eine bedeutende Bibliothek zur Verfügung. 3 August Gottlob Eberhard: Erinnerungen von Rügen. In: Salina, oder Unterhaltungen für die leselustige Welt. Bd. 2. Halle 1812, S. 197. 4 Moritz von Willich: Neuere Nachrichten vom Gesundbrunnen zu Sagard, auf der Insel Rügen. Bergen 1797, S. 4f.

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Obwohl Moritz von Willich in seinen Neueren Nachrichten vom Gesundbrunnen zu Sagard ein Verzeichnis der Gäste, die im Sommer 1795 das Bad besuchten, veröffentlichte, so sind wir doch leider nur sehr lückenhaft über die Besucher des Bades informiert. Zu den regelmäßigen Gästen gehörten die Familien des pommerschen Adels, die von Eickstedt, die von der Lancken, von Usedom, von Gagern oder von Platen. Ebenso besuchten Angehörige der Universität Greifswald und des Bürgertums den Gesundbrunnen. Auch von Berliner Gästen berichtet Willich: So weilten im Sommer 1795 der Oberkonsistorialrat Zöllner, der Professor Claproth, der Kammersekretär Spalding, Wilhelm Heinrich Wackenroder und „Madam Weit, gebohrne Mendelssohn“, das ist Dorothea Veit (1764–1838), die spätere Ehefrau von Friedrich Schlegel (1772–1829), in Sagard.5 Auch Henriette Herz und Friedrich Schleiermacher (1768–1834) besuchten Sagard, jedoch nicht als Badegäste. Es war der Theologe Ehrenfried von Willich (1777–1807), Bruder von Heinrich Christoph und Moritz von Willich, der die Kontakte zur Insel Rügen herstellte. Im Mai 1801 traf er in Prenzlau mit Henriette Herz und Schleiermacher zusammen. „An Willich habe ich einen recht herzlichen Freund gefunden, der mich sehr liebt, an allem, was in und mit mir vorgeht, herzlichen Anteil nimmt“, schrieb Schleiermacher am 1. Juli 1801 der Schwester Charlotte. „Willich war gewöhnlich bis spät in der Nacht da und des Morgens bald wieder auf dem Platz, und es ist in dieser Zeit so vielerlei vorgekommen und berührt worden, daß wir uns schneller kennenlernten und also auch liebgewannen, als sonst in so kurzer Zeit bei mir der Fall zu sein pflegt.“6 Nach diesem ersten Zusammentreffen begann ein reger Briefwechsel zwischen Schleiermacher, Henriette Herz und dem Freund. Schnell wurden auch Willichs Verwandte und dessen Freundeskreis in Altenkirchen, Bobbin, Götemitz und Sagard in den Briefverkehr einbezogen. Schleiermacher unterrichtete den neu gewonnenen Freund über die von ihm verfassten Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) und Henriette Herz lud Ehrenfried von Willich mehrmals nach Berlin ein. „Denn kommen müssen Sie, und das bald“, heißt es im Brief vom 14. Januar 1802. „Ich wollte, daß mein Haus so eingerichtet wäre, daß Sie bei mir wenigstens ein paar Tage wohnen könnten, jetzt geht es aber nicht, und ich finde schon etwas aus meiner Nähe.“ Und wenige Tage später schreibt sie: Sie wissen es nun schon, mein Freund, daß Schlegel den 24. reist und daß Sie nun kommen können, wenn Sie wollen, je eher, je lieber; zu mir kommen Sie zuerst. Mein Haus liegt am Wege zu Schleier. Sie kommen über die Königsbrücke, und wenn Sie 5 Willich: Neuere Nachrichten (Anm. 4), S. 15–24, bes. S. 21 u. 23. 6 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher : Kritische Gesamtausgabe. 5. Abt. Bd. 5. Berlin u. New York 1999, S. 154.

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darüber sind, gehen Sie in die erste Querstraße rechter Hand ins zweite Haus von der Ecke, No. 22 in der neuen Friedrichstraße […].7

Vom 3. bis 19. Februar 1802 hielt sich Willich dann, zu dieser Zeit Erzieher des jungen Grafen Wilhelm von Schwerin-Putzar (geb. 1791), in Berlin auf. Er wohnte bei Schleiermacher und fand schnell Anschluss an die gesellschaftlichen Kreise der preußischen Hauptstadt. „Er lebt ganz mit mir und der Herz“, schrieb Schleiermacher der Schwester. Des Vormittags sind wir wenn er nicht ausgeht um irgend eine Merkwürdigkeit zu besehen gewöhnlich zu Hause, theils arbeitet jeder für sich etwas, theils lesen wir interessante Sachen zusammen, und da wir Beide Tee frühstücken, so giebt das ein schönes Plauderstündchen bei der SpiritusFlamme gewöhnlich bis nach Neun Uhr. Essen wir des Mittags zu Hause, so sind wir des Abends bei Herz oder es geschieht umgekehrt. Auch dort wird interessant gesprochen oder gelesen; so haben wir in zwei Abenden den herrlichen Roman gelesen, der das letzte unvollendete Werk des seligen Hardenberg [Heinrich von Ofterdingen] ist, […] oder es sind auch einige Menschen da, die so für uns die liebsten in der Berliner Welt sind.8

Für den Sommer des Jahres planten Schleiermacher und Henriette Herz ihren Gegenbesuch. Doch diese Reise wurde nicht verwirklicht. Erst im Sommer 1804 besuchten die Berliner Freunde die Insel Rügen, wurden in den Freundeskreis von Ehrenfried von Willich eingeführt. „Unbeschreiblich freue ich mich zu Rügen“, schrieb Henriette Herz bereits am 13. Mai 1804 an Ehrenfried von Willich, „und wenn irgend etwas mir ängstlich dabei ist, so ist es die Furcht, vor Ihren Freunden zu erscheinen, die nur durch Sie, durch Worte der Freundschaft, von mir erfahren haben.“9 Auf Rügen lernten die Herz und Schleiermacher nicht nur den Freundeskreis von Ehrenfried von Willich kennen, sondern auch dessen Braut Henriette von Mühlenfels (1788–1840) und deren Schwester Charlotte, verheiratete von Kathen (1778–1850). Die in Berlin geborene und im rügenschen Sissow aufgewachsene Tochter eines Offiziers hatte, noch nicht zwanzigjährig, den Herrn auf Varbelvitz und Götemitz Leutnant a. D. Karl von Kathen (1767–1850) geheiratet, dem sie neun Kinder gebar. Auch für ihre jüngeren Geschwister musste Charlotte von Kathen die Mutterrolle übernehmen, da die Eltern früh verstorben waren. Trotz der großen Belastung als Mutter und den Pflichten einer Gutsfrau schaffte sie sich, die von der Mutter religiöse Neigungen und Bildung empfangen hatte, ein Refugium: Das Götemitzer Gutshaus wurde im Laufe der Zeit zu einem Treffpunkt 7 Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Frankfurt a. M. 1984, S. 338ff. 8 Schleiermacher : Kritische Gesamtausgabe. Bd. 5 (Anm. 6), S. 310f. 9 Schleiermacher u. Herz: Bis nächstes Jahr auf Rügen. (Anm. 1), S. 107.

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für literarisch und religiös Interessierte. Regelmäßige Gäste waren einheimische Pastoren, kulturell engagierte Gutsherren und -pächter sowie Professoren der Universität Greifswald. Zu ihrem Freundeskreis gehörten Ernst Moritz Arndt (1769–1860), der zum engen Brieffreund wurde, und Ludwig Gotthard Theobul Kosegarten. Mit Schleiermacher führte sie seit 1802 einen Briefwechsel, erbat sich von ihm die Monologen (1800). Ihr Ehemann, der den geistigen Interessen seiner Frau ablehnend gegenüberstand, widmete sich der Landwirtschaft. Ehrenfried von Willich, der Stiefsohn Schleiermachers, bezeichnete ihn in seinen Erinnerungen als „brav und tüchtig, aber feine Bildung abweisend und hassend, obgleich selbst mit guten, natürlichen Verstande begabt“.10 In einem Brief von Henriette Willich an Schleiermacher heißt es: „Jette (Henriette Herz) hat Dir gewiß gesagt, oder wird es noch thun, daß unsere theure Lotte wieder so trübe, so ungewöhnlich traurig war – die unglückliche Lotte, und sie ist so gar nicht zu trösten, die Harmonie ihres Daseins ist doch ganz untergraben, so lange wie sie mit solchem Manne lebt.“11 Mit Charlotte von Kathen blieb Schleiermacher im ständigen Kontakt, er schickte ihr das Sonett An Charlotte von Kathen, tauschte sich mit ihr über die politischen Verhältnisse aus, auch Fragen der Kindererziehung diskutierten sie. Charlotte von Kathen interessierte sich besonders für Erziehungsfragen, äußerte dies auch in Gesprächen mit Ernst Moritz Arndt, der ihr wenige Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen in Greifswald seine Fragmente über Menschenbildung sandte. Und Schleiermacher setzte dem Kreis um Charlotte von Kathen in seiner 1806 erschienenen Weihnachtsfeier ein literarisches Denkmal, von der er ein Exemplar ohne Angabe der Verfasserschaft nach Götemitz schickte. Die Episode vom todkranken Kind und dessen Mutter bezieht sich auf Gottlieb von Kathen und seine Mutter Charlotte. Henriette Herz schrieb auf der Rückreise von Rügen aus Prenzlau, wo sie ihre Schwester Johanna besuchte, an Ehrenfried von Willich: „durch Sie, mein teurer Bruder, ist es mir wohl geworden und heimisch in der Fremde […] Wie in ein unbekanntes Land, das fern im Nebel liegt, sah ich auf mein Sein in Rügen. Wie herrlich aber hat es sich aufgeklärt, um sich nie wieder zu verdunkeln.“12 Auch über ihre Gefühle zu Charlotte von Kathen schreibt sie: Die Kathen schwebt mir immer wie ein höheres verklärtes Wesen vor, dem ich mich nicht zu sehr nähern darf, und dennoch war sie so zutraulich und gut, daß mir ihre Größe und Höhe ganz verschwand, als ich ihr nahe war. Und ich weiß, daß es wieder so 10 Ehrenfried von Willich: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes. Berlin 1909, S. 64. 11 Friedrich Schleiermacher : Friedrich Schleiermachers Briefwechsel mit seiner Braut. 2. Aufl. Hrsg. von Heinrich Meisner. Gotha 1920, S. 125. 12 Schleiermacher u. Herz: Bis nächstes Jahr auf Rügen (Anm. 1), S. 113.

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werden wird, wenn ich in ihrer Nähe bin, und ich kann schon jetzt mit großer Freude an die Zeit denken, wo ich meinen Rügener Aufenthalt wieder mit Götemitz beginne.13

Im September 1804 heiratete Ehrenfried von Willich, seit einiger Zeit Militärgeistlicher in Stralsund, Henriette von Mühlenfels, die Schwester Charlotte von Kathens. Diese Eheschließung begleiteten Schleiermacher und Henriette Herz aus der Ferne mit den herzlichsten Wünschen. „Ihr habt mich eingeladen, lieben (!) Freunde, und da bin ich nun, unter Euch Allen, zu leben und zu lieben“, schrieb Schleiermacher. „Ist nicht der Geist der Menschen da, wo er wirkt? Dann bin ich gewiß bei Euch, und unsere Freundin in Berlin ist aus ihrer einsamen Zelle auch bei Euch eingekehrt.“14 Henriette von Willich begann einen intensiven Briefwechsel mit Schleiermacher, sie nannte ihn „Väterchen“, in dem sie über ihre familiären und häuslichen Erfahrungen plauderte. Immer wieder findet auch Henriette Herz Erwähnung, werden Grüße der Rügener Freunde an die „große Jette“ übermittelt. Die Ehe von Ehrenfried und Henriette von Willich war nur von kurzer Dauer. Bereits am 2. Februar 1807 starb Willich an Typhus, der während der Belagerung Stralsunds durch napoleonische Truppen in der Stadt grassierte. Die Witwe zog mit ihrer Tochter nach Sagard ins Haus ihrer verstorbenen Mutter. Nach der Übergabe Rügens an die Franzosen wurde die Last der Einquartierungen für die Bewohner der Insel erdrückend. Henriette von Willich berichtete, dass sie Sagard verlassen habe und dass auch Kathens von den Einquartierungen nicht verschont geblieben waren. Trotz der napoleonischen Besetzung blieb also der Kontakt zwischen Berlin und Rügen erhalten und so erfuhren die Freunde, dass Henriette Herz nach der Niederlage Preußens in finanzielle Schwierigkeiten geraten war : „Ja, liebe Schwestern, ich werde wohl zu Ostern Berlin verlassen müssen, weil die Pensionen noch immer nicht gezahlt und die Interessen noch immer nicht entrichtete werden“, schrieb sie im Oktober 1807. „Von beiden lebte ich still und sehr angenehm […]. Meine mir nur mit mancher Aufopferung, mit vieler Entsagung erhaltene Freiheit muß ich nun auf einige Jahre aufgeben und mir ein anständiges Unterkommen suchen.“ Henriette Herz erwog das Land zu verlassen und in Russland oder Frankreich als Erzieherin zu arbeiten. Doch auch eine Tätigkeit auf der Insel konnte sie sich vorstellen: „ich gebe Euch hiermit den Auftrag, Euch auch in Eurem Lande für mich umzusehen.“15 Gleichzeitig teilte sie den Freunden auf Rügen ihre Vorstellungen über ihre zukünftige Tätigkeit mit. „Ich habe nur zwei Bedingungen zu machen, freie Reise und freies Leben im Hause“, schreibt sie. „Die Gouvernantenkünste ver13 Ebd., S. 114. 14 Schleiermacher : Kritische Gesamtausgabe. Bd. 7 (Anm. 6), S. 450. 15 Herz: Erinnerungen (Anm. 7), S. 387.

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stehe ich alle, und Gesellschaft kann ich auch leisten. Die Pflichten der Erzieherin sind sehr schwer, ich würde sie aber treu erfüllen und mit ganzer Seele.“ [Hervorheb. im Original]16 Und Henriette von Willich berichtete Schleiermacher wenig später, dass die Kathen „niemand, dem sie vertrauen kann, bei den Kindern jetzt hat“.17 Bereits 1805 hatte sich Charlotte von Kathen um einen Erzieher für ihre Kinder bemüht. Ernst Moritz Arndt antwortete ihr auf einen Brief am 1. Dezember 1805: „Sie suchen etwas, was nicht auf den Landstraßen und Jahrmärkten zu finden ist, einen verständigen, liebenden, guten Jüngling, dem Sie den Unterricht und die Leitung ihrer Kinder mit Vertrauen übergeben möchten. Solche Menschen sind immer selten gewesen; sie sind es jetzt mehr denn je.“18 Kurzzeitig fand sie diesen „verständigen, liebenden, guten Jüngling“ im Sohn eines Pfarrers. Doch bereits im Herbst 1807 suchte Charlotte von Kathen wieder eine Erzieherin für ihre Kinder. Friedrich Schleiermacher hatte sie über die Pläne der Auswanderung von Henriette Herz informiert und am 2. Dezember 1807 teilte diese den Freunden auf Rügen mit: „… ich zögere nicht länger, ich komme zu Euch, ich nehme an, was Lotte mir reicht, ich nehme es, weil ich auch geben kann und will.“19 Über diese Entscheidung freute sich besonders Henriette von Willich. Sie teilte „dem Väterchen“ Schleiermacher ihre Freude mit, plante das Zusammensein mit Henriette Herz, wollte bei ihr Unterricht nehmen. Aus den erhaltenen Briefen geht hervor, dass Henriette Herz auf Rügen wohl eher die Rolle einer Gesellschafterin zugedacht war ; zu dieser Zeit hatte Charlotte von Kathen bereits wieder ein Kindermädchen gefunden. Aber es waren nicht nur die freundschaftlichen Beziehungen, die Henriette Herz auf die Insel führten. Sie verfügte über eine ausgezeichnete Bildung und konnte ihre Kenntnisse auch vermitteln. In ihren Jugenderinnerungen berichtet sie davon, dass sie durch Hauslehrer „im Notwendigsten“ unterrichtet wurde – „im Hebräischen, Französischen, Schreiben, Rechnen und Geographie“.20 Später dann setzte ihr Ehemann, der Arzt und Gelehrte Marcus Herz (1747–1803), ihre Ausbildung fort und schließlich „sprach und las [sie] sieben lebende Sprachen und lernte Sanskrit und Altgriechisch so gut, dass es für die Lektüre der Klassiker reichte. Sie bildete sich in Chemie und Physik und konnte nach dem Tod ihres Mannes ihre Kenntnisse zum Broterwerb, dann zum Lebensinhalt ma-

16 Ebd., S. 386. 17 Schleiermacher : Briefwechsel mit seiner Braut (Anm. 11), S. 86. 18 Ernst Moritz Arndt: Ernst Moritz Arndt. Briefe an eine Freundin. Hrsg. von Eduard Langenberg. Berlin 1878, S. 37. Insgesamt richtete Arndt mehrere hundert Briefe an sie, die Briefe Charlotte von Kathens sind nicht erhalten. 19 Herz: Erinnerungen (Anm. 7), S. 387. 20 Ebd., S. 10.

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chen.“21 Bereits 1802 schrieb sie Ehrenfried von Willich davon, dass sie zurzeit drei junge Leute in Französisch, Englisch und Italienisch unterrichtete. Und am 14. Januar 1808 schrieb Henriette Herz an Ludwig Börne (1786–1837): „Ich gehe mit dem frühesten Frühjahr nach der Insel Rügen, wo ich, wie sie wißen Freunde habe, zu einer Freundin ins Haus u warte dort ab was über mich ergehen wird. Ich lebe kostenfrei u mache mich dafür ihren Kindern nüzlich die ich mancherlei lehren will, lebe bei Menschen, die mich viel mehr lieben als ichs verdiene u die ich nicht genug lieben kann.“22 Aus einem Brief Schleiermachers an Henriette von Willich wissen wir, dass die Herz dann seit Anfang März 1808 auf der Insel weilte. Dieser Briefwechsel informiert auch relativ ausführlich über ihren Aufenthalt auf Rügen. So berichtet Henriette von Willich von Besuchen der Herz in Begleitung der Kinder Charlotte von Kathens in Sagard und Wieck, von einem Besuch bei Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten in Altenkirchen. Die Geburtstage wurden gemeinsam in Götemitz gefeiert und für den Heiligabend wurde die Aufführung der Weihnachtsgeschichte geprobt, die Götemitzer Mädchen spielten die Heiligen drei Könige. Henriette Herz wurde zunehmend zur Bezugsperson für Henriette von Willich, mit ihr konnte sie über alles reden. Auch über Fragen der Religion sprach man: „[…] auch sagte sie mir ihre Gründe, die sie abhalten schon jezt öffentlich unserer Religion beizutreten“, heißt es im Brief vom 5. März 1809. „Findest Du es nicht auch natürlich, daß sie ihrer alten Mutter nicht diesen harten Stoß geben will? Einst wird sie sich gewiß zu uns bekennen, wie sie es lange innerlich gethan hat.“23 Trotz der Einbeziehung in den Familien- und Freundeskreis der Charlotte von Kathen fühlte sich Henriette Herz wohl zunehmend einsam auf der Insel. Und als Alexander Graf von Dohna-Schlobitten die Berufung zum preußischen Innenminister erhielt, wurde der Gedanke an eine Rückkehr nach Berlin immer stärker. Friedrich Ferdinand Alexander Graf von Dohna-Schlobitten (1771–1831) hatte an der Frankfurter Viadrina studiert und trat 1790 in den preußischen Staatsdienst ein. Sehr schnell gehörte er zum engsten Freundeskreis von Henriette Herz, galt in der Berliner Gesellschaft lange Zeit als ihr Liebhaber. Er war es, der 1794 Friedrich Schleiermacher in ihren Zirkel einführte. Die freundschaftlichen Beziehungen blieben auch nach seiner Versetzung nach Ostpreußen erhalten und Henriette Herz erwartete ungeduldig seine Rückkehr nach Berlin. Als dann die Mitteilung, dass die Witwenkasse die rückständigen Pensionen 21 Hannah Lotte Lund: Biographien jüdischer Frauen. Plädoyer zur Wiederentdeckung einer berühmten Frau – Henriette Herz zum 250. Geburtstag. In: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 8 (2014), H. 15, S. 2. 22 Ludwig Börne u. Henriette Herz: Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Hrsg. von Ludwig Geiger. Oldenburg u. Leipzig 1905, S. 112. 23 Schleiermacher : Briefwechsel mit seiner Braut (Anm. 11), S. 359.

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ab April 1809 auszahlen werde, veröffentlicht wurde, soll sich Henriette Herz sogar bereits um einen Fuhrmann für ihre Sachen bemüht haben. Aus dem Briefwechsel von Friedrich Schleiermacher mit seiner Verlobten ergibt sich, dass die Herz immer mehr zur Vertrauten von Henriette von Willich wurde. Mit ihr tauschte sie sich über die Einrichtung der zukünftigen Wohnung aus, zeitweilig wurde überlegt, dass dort auch Henriette Herz einziehen könnte. „Ich habe die Jette doch eigentlich gewaltig lieb – und doch fürchte ich mich heimlich ein bischen vor ihr, wenn ich an die Zukunft denke“,24 schrieb Henriette von Willich dem Verlobten. Nachdem Friedrich Schleiermacher eine Predigerstelle an der Dreifaltigkeitskirche erhalten hatte, schloss er am 18. Mai 1809 in Sagard die Ehe mit der jungen Witwe. Nach der Trauung, die der Bruder Ehrenfried von Willichs, der Pastor Heinrich Christoph von Willich, vorgenommen hatte, übersiedelte das Ehepaar in die Amtswohnung in die Kanonierstraße. Henriette Herz blieb bis Ende 1809 auf der Insel und kehrte dann in die Berliner Markgrafenstraße 59 zurück.

24 Ebd., S. 231.

Schreib- und Rezeptionsweisen – das Bild der „Schönen Jüdin“

Michael Heinemann

Alltägliche Empfindsamkeit – Zum Hochzeitslied für Marcus und Henriette Herz

Repräsentativ ist es schon, das kleine Lied, das wohl ein Freund des Hauses dem Hochzeitspaar zueignete. Doch nicht wegen eines kompositorischen Aufwandes, der dem freundlichen Verse auch schlecht anstände. Vielmehr aufgrund der Möglichkeit, Einblicke in einen Standard der Produktion von Liedern zu gewinnen, in die Modi von Vertonungen, bei denen kein Meister mit weiser Hand Regeln bräche, um neue aufzustellen, sondern sich bewährter Praktiken bedient, um eine feiernde Gesellschaft zu unterhalten. Ein Stück musikalischer Alltagskultur also anlässlich eines Festes: nur scheinbar ein Paradox. Denn das Ausnahmewerk als künstlerisches Analogon des im bürgerlichen Leben meist singulären Ereignisses hätte eine Aufmerksamkeit auch der Hörerschaft gefordert, die wohl allseits als unangemessen empfunden worden wäre. Zumal Zweck und Funktion dieses Liedes außer Frage stehen. Das Lob der Braut mit geläufigen Epitheta und leicht verfügbarer, bildungsbeflissener Metaphorik sollte ein freundliches Klanggewand erhalten. Eine Musik, die sich ihrer subsidiären Rolle nicht bewusst bliebe, hätte nur als störend empfunden werden können. So verstanden, hat Verf. – das Geschlecht ist nicht zu bestimmen – die Aufgabe sogar selbständiger gelöst, als es nach den Konventionen der Zeit zu erwarten gewesen wäre. Auffällig ist zunächst die Gruppierung der Vierzeiler in fünf musikalische Strophen, mit der eine allzu häufige Wiederholung einer schlichten Weise geschickt vermieden wird. Andererseits sorgt die Wiederaufnahme der Eingangszeile am Schluss für eine formale Rundung: ein bewährtes, schon im mittelalterlichen Reprisen-Bar geläufiges Mittel, die bloße Reihung von Versen und Liedzeilen zu formen. Die Wahl von Metrum und Tonart folgt gängigen Gestaltungsmustern. Jamben im Dreiertakt umzusetzen liegt mehr als nahe; der 6/8-Takt erlaubt freundliche Melismen auf den betonten Silben: heitere Gelassenheit als Grundduktus eines fröhlichen Textes. Dem entspricht die Grundtonart G-Dur,1 1 Vgl. zur Verbindung von G-Dur und 3/8-, 6/8- oder 9/8-Takt Paul Mies: Der Charakter der

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auf die zurückzugreifen Christian Daniel Friedrich Schubart (1739–1791) hier besonders empfahl: „G-Dur. Alles Ländliche, Idyllen- und Eklogenmäßige, jede ruhige und befriedigte Leidenschaft, jeder zärtliche Dank für aufrichtige Freundschaft und treue Liebe – mit einem Wort jede sanfte und ruhige Bewegung des Herzens läßt sich trefflich in diesem Tone ausdrücken.“2 Eine schon im 18. Jahrhundert traditionsreiche Bestimmung: Athanasius Kircher (1602–1680) nannte G-Dur „amorosum und voluptuosum“, und dass „lustig und verliebt“ geläufige Synonyma dieser Tonart gewesen seien, berichtet auch Johann Mattheson (1681–1764).3 Solcher Vorgaben eingedenk, folgt Verf. der Konvention auch mit den Vortragsangaben („Grazioso“, „dolce“), die herauszustellen weniger Prätention als mangelndes Vertrauen in die performative Kompetenz darstellt – auch auf das Resultat einer kompositorischen Konzeption hin, die nicht eo ipso eine heitergelöste Aufführung indiziert. Die Gefahr, die mehrfache Tonwiederholung gleich zu Anfang etwas zu unbeweglich zu gestalten, liegt ebenso nah wie der Hinweis zur Zurückhaltung in der Begleitstimme. Insbesondere deren tief liegende Terzen (T. 2f.) – vielleicht nur Rudimente einer Generalbass-Aussetzung – sind klanglich nicht leicht befriedigend zu realisieren. Stimmig hingegen ist die harmonische Disposition zumindest der ersten Hälfte des Liedes. Der Halbschluss der ersten Zeile wird durch eine Modulation zur Dominante in der Mitte des Liedes wirkungsvoll gesteigert. Dann freilich stagniert die harmonische Bewegung, und die unveränderte Wiederaufnahme der ersten Zeile erscheint weniger vermittelt denn mutwillig, vielleicht auch nur ratlos. So offenkundig die Harmonik auf vertraute Modelle rekurriert, diese jedoch eher ungeschickt als mit klugem Kalkül abwandelt, so sehr ist die melodische Erfindung von Floskeln getragen, die im ersten Zugriff von sanglicher Erfahrung gekennzeichnet sind, deren Kombination jedoch nicht sonderlich gewandt erscheint. Problematisch sind nicht schon Auftakt und Tonrepetition, sondern die Wiederholung des nur leicht variierten ersten Motivs in der zweiten Hälfte des Eingangstaktes. Denn dass die melodische Entwicklung stagniert, wäre durch eine Sequenzbildung leicht zu vermeiden gewesen, die eleganter zum Seufzermotiv des Versendes geleitet hätte. Dass der zweite Vers („Wer sah der Göttinn Abbild je“) dann auf schlichte Skalenbewegung zurückgreift, isoliert das prägnante Eingangsmotiv vollends. Und die Verzierungen, mit denen die Munter-

Tonarten. Eine Untersuchung. Köln u. Krefeld 1948, S. 32f. 2 Christian Daniel Friedrich Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Hrsg. von Jürgen Mainka. Leipzig 1977, S. 286. 3 Johann Mattheson: Das neu-eröffnete Orchestre. Hamburg 1713 (Reprint Hildesheim 1997), S. 243f., hier auch der Verweis auf Athanasius Kircher (Musurgia universalis. Rom 1650).

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keit beziehungsreich akzentuiert wird, sind schon an analoger Stelle zwei Takte später bloße Konvention, die zur Textdeutung nichts beiträgt. Erfahrung mit Gestaltungsmustern, doch wenig Versiertheit in deren geschmackvollem Arrangement zeigen auch die folgenden Zeilen: Die auftaktige große Sexte, markant auf den Terzton der Dominante zielend, war schon seinerzeit eine Wendung, deren Ausdrucksqualität sich verbraucht hatte, kaum weniger die Vorhaltsbildungen in der absteigenden Tonleiter. Die Wiederholung solchen Aufschwungs und die Kadenz zur Dominante jedenfalls („als Pasithe“) lassen sie nicht ahnen. Der Rückmodulation dient die anschließende Zeile, deren melodisches Design durch die Sequenzstruktur klareres Profil erhält. Doch der Strukturwechsel der Begleitung bleibt auch hier unmotiviert. Dass die Prosodie nur die Versakzente berücksichtigt, nicht aber einzelne Wörter herausstellt, bezeichnet nicht zwingend ein Defizit, da in der Ästhetik der Berliner Liederschule, der diese Vertonung zuzurechnen ist, eher die Stimmung eines Textes musikalisch umzusetzen war, als dass es ein kompositorisches Anliegen gewesen wäre, markante Passagen durch expressive Wendungen hervorzuheben. Gleichwohl versuchten die Verfasser solch häufig außerordentlich populärer Lieder wenigstens in der ersten Strophe die Schwerpunkte des Textes melodisch zu akzentuieren; weder der Spitzenton auf „in“ (Zeile 3) noch die Auszeichnung der Präposition in der Schlusszeile können als Beispiele geglückter Vertonung dienen. Und die exponierte Stellung des höchsten Melodietons wird noch problematischer durch die Vorbereitung einer nur zeitweise disponierten zweiten Vokalstimme, mit der die Kadenzen im Stil naiver Empfindsamkeit erweitert werden, deren Sprung in den Einklang zumal in solcher Stimmlage aber nur mit Mühe künstlerisch überzeugend zu gestalten ist. Dass musikalische Mittel und poetischer Anlass divergieren, ist indes nicht nur Konsequenz eines Analyserepertoires, dessen Anwendung auf Kasualkompositionen lediglich Defizite konstatieren ließe. Deutlich wird durch eine unzulängliche Adaption kompositorischer Formeln vielmehr, welche Präsenz sie auch bei der Gestaltung des musikalischen Alltags hatten – selbst zu Hochzeiten.

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Bildnachweis Alle Abbildungen: Archiv der BBAW, Splitternachlass H. Herz.

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Die Erinnerungen der Henriette Herz – Bekenntnisse und Memoire

Hannah Lotte Lund spricht in ihrem Buch von einem „Master Narrative“ des Salons, das sich in die Geschichten und Legenden über die Berliner Salons eingebettet hat.1 Obwohl der Salon, wie sie darlegt, „als Ort der Kommunikation zu verstehen“2 ist und aus einer Vielfalt diverser Kommunikationsformen bestand, steht ohne Frage die mündliche Form der Kommunikation im Vordergrund. SaloniHren wurden berühmt, weil sie eine Kultur der Oralität entwickelten,3 die auf ihren Talenten als Gastgeberinnen und Künstlerinnen des Geistes und der Konversation beruhte.4 Diese ephemeren Salonabende sind durch die später veröffentlichten Briefe, Berichte oder Memoiren nicht umfassend zu erfassen, da die Anziehungskraft gerade darin lag, dass diese Treffen etwas Erlebtes waren. Was aber bleibt, sind die schriftlichen Zeugnisse, die, wie die Erinnerungen von Henriette Herz, die Entstehung und Entwicklung dieses Phänomens belegen. Postum veröffentlicht, bildeten und bilden noch heute Herz’ Erinnerungen die wichtigste Grundlage zur Erforschung der Herz’schen Geselligkeit. Herz hinterließ, so die Hypothese der folgenden Ausführungen, zwei Texte, die als verwandte aber getrennte Erinnerungen gelten sollten. Seit den 1910er Jahren haben mehrere Herausgeber, wie Hans Landsberg, Rainer Schmitz und Ulrich Janetzki, die beiden Fassungen zusammengefügt, Teile ausgelassen sowie Briefauszüge innerhalb eines Bandes publiziert.5 In diesem Essay werde ich die 1 Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin 2012, S. 54. 2 Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ (Anm. 1), S. 537. 3 Nicole Pohl: „Perfect Reciprocity“. Salon Culture and Epistolary Conversations. In: Women’s Writing 13 (2006), H. 1, S. 139–159, hier S. 142. 4 Steven Kale: French Salons. High Society and Political Sociability from the Old Regime to the Revolution of 1848. Baltimore 2004, S. 22. 5 Vgl. Hans Landsberg: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Weimar 1913; Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Frankfurt a. M. 1984; Ulrich Janetzki: Berliner Salon. Erinnerungen und Portraits. Frankfurt a. M. 1984.

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Entstehung, Struktur und Themen beider Textvarianten getrennt behandeln, um sie als literarische und historische Texte im Hinblick auf gegenwärtige und feministische Autobiographietheorien kritisch einzuordnen und zu interpretieren. Herz reflektierte als reife und ältere Frau über die Zeit ihrer Jugend und, in der Version von Fürst, über den Höhepunkt des Salons um 1800. An dem ersten Text arbeitete sie sporadisch von 1823 bis 1829. Sie verfasste ihn in Form einer pietistischen Autobiographie. Dieses Manuskript wurde erst im Jahre 1896 als Fragment von Heinrich Hahn in einer Auflage von 100 Exemplaren für die Freunde der Preußischen Bibliothek veröffentlicht.6 Seit den Jugend- und Ehejahren der ersten Erinnerungen hatte sich nicht nur die gesellschaftliche und politische Lage in Deutschland verändert, sondern es fanden auch wichtige Ereignisse in Herz’ Leben statt, die eine neue Lebensepoche einleiteten. Henriette Herz war gezwungen, ihre Lebensumstände nach dem Tod ihres Mannes 1803 und dem Verlust ihrer Witwenpension durch den Einzug Napoleons 1806 in Berlin neu zu organisieren. Sie arbeitete als Gouvernante für Freunde von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) auf der Insel Rügen und hatte, als sie wieder in Berlin lebte, nicht die Mittel, einen großen Salon zu führen. Jedoch öffnete sie fast bis zum Ende ihres Lebens ihr Haus für kleinere gesellschaftliche Abende und war häufiger Gast in den Salons von Rahel Levin Varnhagen (1771–1833), Sara Levy (1761–1854) und Bettina von Arnim (1785–1859). Nach dem Tod ihrer Mutter 1817 trat sie aus Überzeugung zum Protestantismus über und unternahm eine mehrjährige Reise nach Italien. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin nahm Herz ihr altes Leben wieder auf und freute sich über die „Geselligkeit“ und ihre „Tätigkeit“ als Lehrerin.7 In von ihr erhaltenen Briefen8 reflektiert sie über den Tod vieler Freunde und Verwandter und stützt sich dabei auf ihren christlichen Glauben, in welchem sie Trost fand.9 Das Schreiben einer spirituellen Autobiographie gehörte zur pietistischen Tradition. Die Bekenntnisse wurden zu Begräbnisfeiern vorgelesen oder veröffentlicht. Wie Jeannine Blackwell ausführt, bestanden wichtige Unterschiede

6 Henriette Herz: Jugenderinnerungen von Henriette Herz. Hrsg. von Heinrich Hahn. In: Mittheilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin 1 (1896), S. 139–184. 7 Henriette Herz: Briefe von Henriette Herz an August Twesten (1814–1827). Hrsg. von Georg Heinrici. In: Zeitschrift für Bücherfreunde Neue Serie 5.2, No. 333 (1914), S. 301–316, S. 333–347, hier S. 341. 8 Siehe z. B.: Friedrich Schleiermacher u. Henriette Herz: Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820–28. Mit Einleitungen und mit einem Anhang ungedruckter Briefe von Schleiermacher und Henriette Herz. Hrsg. von Johannes Bauer. Leipzig 1909, S. 122. 9 F. C. Sibbern: Breve til og fra F. C. Sibbern. Bd. 1. Hrsg. von C. L. N. Mynster. Copenhagen 1866, S. 115–117.

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zwischen den Bekenntnissen von Männern und Frauen.10 Das zentrale Motiv dieser Memoiren war ein „gedoppelter Lebenslauf“, der den Diskurs über irdisches Leben mit dem der spirituellen Erweckung verband.11 Felicity Nussbaum, die über britische Bekenntnisse gearbeitet hat, charakterisiert diese Schreibweise folgendermaßen: The purpose, of course, was to issue an urgent appeal to others to repent. They are schematic structuresBa long period of searching for belief and meaning, often accompanied by profligacy, until the inner truth or light appears to them. What follows is a period of commitment and of witnessing to the power of God’s message for all humanity.12

Dieses Modell galt auch für pietistische Autobiographien von deutschen Frauen. Einige nutzten die Gelegenheit und die Flexibilität der Form, „to envisage new possibilities in the interstices between discourses or to weave them together in new hybrid forms. . . . [O]ften the texts may be read as subverting hegemonic formulations of identity, thus arrogating the power to change dominant knowledges regarding the human subject“.13 In diesem Sinne verwendete Herz diese Form, die ihr durch die Freundschaft zu Alexander und Wilhelm von Humboldt sowie Friedrich Schleiermacher vertraut war. In den Jugenderinnerungen berichtet sie über ihre Kindheit, Jugend und die ersten Jahre ihrer Ehe mit dem Arzt und Philosophen Marcus Herz (1747–1803). Die Themen ihrer Erzählung ließen sich nur schwer in die Form des Bekenntnisses einpassen, das eine persönliche Erweckungsgeschichte erzählen sollte.14 Liliane Weissberg hebt dies in ihrer Analyse hervor: „Aber es ist auch nicht leicht, ihre Memoiren als Bekenntnisliteratur zu lesen.“15 Innerhalb von Herz’ Darstellung lassen sich drei Hauptthemen bestimmen: Eitelkeit und sexuelle Versuchung, körperliche Leiden und die jüdische Herkunft. Obwohl ich mit Weissbergs Interpretation von Herz’ Eitelkeit nicht gänzlich übereinstimme, ist ihr in der Betonung der Diskrepanz zwischen der Form und dem Inhalt zuzustimmen. Denn der Körper statt des Geistes steht hier im Mittelpunkt eines spirituellen Bekenntnisses. Diese Verlagerung ist jedoch durchaus typisch für 10 Jeannine Blackwell: Gedoppelter Lebenslauf der Pietistinnen. Autobiographische Schriften der Wiedergeburt. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hrsg. von Michaela Holdenried. Berlin 1995, S. 49–60, hier S. 49–51. 11 Ebd, S. 49. 12 Felicity Nussbaum: The Autobiographical Subject. Gender and Ideology in EighteenthCentury England. Baltimore 1989, S. 159. 13 Ebd, S. 37. 14 Marjanne E. Gooz8: The Doubled Self-Representation of Henriette Herz. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 18 (2006), S. 13–33, hier S. 33. 15 Liliane Weissberg: Weibliche Körperschaften. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jutta Dick u. Barbara Hahn. Wien 1993, S. 71–92, hier S. 79.

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autobiographische Schriften moderner Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts.16 Durch ihre Selbstrepräsentation konfrontieren sie die Normen der Form mit der Gesellschaft. Sie behaupten sich dadurch, dass ihre Körper Mittel einer Selbstdarstellung werden, um „Agency“ und Subjektivität zu gewinnen. Leigh Gilmore führt dazu aus, diese Autorinnen seien „no longer primarily subject to exchange but subjects who exchange the position of object for the subjectivity of selfrepresentational agency.“17 Autorinnen, die sich so verhalten, werden laut Gilmore, „unruly subjects“ – ungebändigte Subjekte. Obwohl Herz ihr Memoirenprojekt in die Struktur eines Bekenntnisses einzupassen versuchte, geht es weit über dessen gebräuchliche Form hinaus. Die Erzählerin und ihr früheres Ich können nicht gebändigt werden – sie werden „unruly subjects“. Als autobiographische Erzählerin will Herz aus der Perspektive eines Kindes und einer jungen Frau sprechen, zugleich aber auch ihre Erfahrungen vom Standpunkt der reifen Frau aus befragen. Der Reflektionsstandpunkt ist wichtig, da ihr Alter Herz erlaubt, mit Vergnügen über ihre jugendliche Schönheit und Eitelkeit zu sprechen: „Ich bin jetzt 63 Jahr alt – wir zählen 1829, u. ich darf daher wol von meiner damaligen, anerkanndten Schönheit sprechen, von der auch keine kleinste Spur mehr sichtbar ist.“18 Als sie fortfährt, ihre Eitelkeit zu bekennen, berichtet sie von den negativen Folgen der Schönheit, da diese fremdes Begehren hervorrief. Im Ganzen teilt sie sechs Vorfälle mit, durch die ihre Tugend geprüft wurde. Herz will sich jedoch nicht als femme fatale porträtieren. Nur zu Beginn betont sie ihre Schönheit, die die Anziehungskraft als junge Gastgeberin ausmachte, anschließend hebt sie ihre Eigenschaften als geistreiche und gelehrte Frau hervor. In einem Paragraphen, datiert auf den 27. August 1829, fasst sie die Salonzeit im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts anhand einer Liste prominenter Gäste zusammen und begründet so den Erfolg des sogenannten „Doppelsalons“: „Herz zog durch seinen Geist u. als berühmter Arzt die Leute an sich, ich durch meine Schönheit u. durch den Sinn den ich für alles Wissenschaftliche hatte […]“.19 Das zweite Thema der Jugenderinnerungen passt sich am besten in das Format eines christlichen Bekenntnisses ein. In der Erzählung von kindlichen Unfällen und einer gefährlichen Krankheit von Marcus Herz dankt die Erzählerin Gott für die Genesungen. Die Einführung des dritten Themas überschreitet jedoch den Rahmen einer christlichen Erweckungsgeschichte: ihre jüdische Herkunft. Im ersten Satz der von Hahn gedruckten Erinnerungen verortet Herz ihre Identität in der jüdischen Geschichte und Kultur: „Mein Vater war portu16 Leigh Gilmore: Autobiographics. A Feminist Theory of Women’s Self-Representation. New York 1994, S. 42. 17 Ebd., S. 12. 18 Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 6), S. 180. 19 Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 6), S. 183.

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giesischer Jude, dessen Grossvater mit vielen seiner Glaubensgenossen aus Portugal fliehen mussten um nicht in die Hände der Inquisition zu gerathen.“20 Dieser Satz befindet sich als Randbemerkung auf der ersten Seite des Manuskripts, aber er weist sehr deutlich auf den im Mittelpunkt stehenden unausweichlichen Konflikt zwischen der autobiographischen Narration und den Ereignissen ihres Lebens. Herz kann und will die gesellschaftliche Intoleranz nicht verheimlichen. Sie rückt Familienmitglieder und jüdische Freunde moralisch in ein positives Licht, doch der pietistische Rahmen fordert eine Deutung dieser Tugenden als christlich. Sie ist stolz auf ihre Herkunft, aber für eine christliche Leserschaft charakterisiert sie ihren Vater und Moses Mendelssohn (1729–1786) als Menschen, die über christliche Werte zu identifizieren sind. So enthält die Darstellung ihres Vaters die folgenden Eigenschaften: „Mein Vater lebte streng im Gesez seines Glaubens, hatte aber die Milde u. Liebe des Christenthums im Herzen u. war daher duldsam gegen alle die welche dagegen handelten.“21 Dieses Zitat zeigt, dass das Projekt, ein Bekenntnis nach christlichen Werten zu schreiben, scheitern musste. Die Autorin bricht aus den Formregeln – als Subjekt und als Erzählerin – aus, sie ist „unruly“ – ungebändigt. Nach sechs Jahren sporadischer Arbeit brach sie 1829 das autobiographische Projekt ab. Das nur 55-seitige Manuskript befand sich in einer blauen Mappe mit der Anweisung „nach meinem Tode zu verbrennen.“ Obwohl es Herz unmöglich war, ein Bekenntnis zu verfassen, ist das Projekt zum Teil dennoch ein persönlicher Erfolg, denn durch das Schreiben dieses Manuskripts übernimmt sie „Agency“ über ihre eigene Darstellung und Lebensgeschichte. Ihre lebhafte Erzählung informiert über die Entwicklung der Geselligkeit, das Leben der sich emanzipierenden Berliner Juden und die geistigen Tätigkeiten am Ende des Jahrhunderts in Berlin. Schließlich usurpiert sie die ungeeignete Bekenntnisform, um die Geschichte einer jüdischen Kindheit und Ehe zu erzählen. Ende der dreißiger Jahre dachte Herz darüber nach, ihren Ruf als SaloniHre und Freundin berühmter Männer selbst zu bestimmen. Die neue Generation der Jungdeutschen Autoren zeigte damals Interesse an dem kulturellen Leben der SaloniHren um 1800.22 1833 publizierte Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) den einbändigen Privatdruck Rahel: Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde – nur vier Monate nach dem Tod seiner Frau Rahel Levin Varnhagen –, diese Veröffentlichung beunruhigte Herz sehr. Sie wusste nicht, dass Rahel Levin Varnhagen an diesem Buch selbst mitgearbeitet hatte. Die öffent20 Ebd., S. 142. 21 Ebd., S. 151. 22 Marjanne E. Gooz8: Utopische Räume und idealisierte Geselligkeit. Die Rezeption des Berliner Salons im Vormärz. In: Romantik und Vormärz. Differenzen und Kontinuitäten. Forum Vormärz-Forschung. Hrsg. von Wolfgang Bunzel, Peter Stein u. Florian Vaßen. Bielefeld 2006, S. 363–390, hier S. 379–385.

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liche Verbreitung von privaten Briefen und Tagebüchern, die Entblößung intimer Beziehungen, ohne die Zustimmung der Beteiligten, erschreckte sie. Herz wollte soweit wie möglich selbst bestimmen, welche ihrer Briefe und Schriften an das Lesepublikum vermittelt werden sollten. So sichtete Herz nach dem Tod Friedrich Schleiermachers 1834 ihren Briefwechsel mit ihm. Sie kopierte Teile seiner Briefe an sie und verbrannte die Originale, da sie diese nicht veröffentlicht wissen wollte. Karl August Varnhagen reagierte in seinem Tagebuch auf Herz’ Absicht ihren Ruf selbst zu bestimmen, nachdem er Aus Schleiermachers Leben. In Briefen (1858), herausgegeben von Wilhelm Dilthey, gelesen hatte. Er schrieb dazu am 17. August 1858: Unwillkürlich komm’ ich auf die Vermuthung, die Hofräthin Herz habe von den Briefen Schleiermacher’s nicht, wie sie sagt, dasjenige vernichtet, was zu sehr zu ihrem Lobe war, und wegen dessen Bewahrung sie zu sehr der Eitelkeit beschuldigt zu werden fürchtete, sondern dasjenige, was nicht zu ihrem Vortheil war, was einigen Schatten auf sie warf.23

Schließlich wendete sich Henriette Herz an J. Fürst, der mit ihr Gespräche führte, die er niederschrieb. Seine genaue Identität, auch sein Vorname, „Joseph“ oder „Julius“, ist heute ungeklärt. Es gilt jedoch als sicher, dass er nicht der Bibelforscher Julius Fürst (1805–1873) war. Wahrscheinlich war er ein angehender Dramatiker und Kunstjournalist. Herz ließ ihn 1839 nach seiner Aussage Briefwechsel, Tagebücher und ihr erstes Memoire benutzen. Er bearbeitete diese sowie die Notizen zu den Salonkonversationen und erstellte ein zweites Memoire, das er erst nach ihrem Tode veröffentlichen durfte. Der Hauptteil besteht aus einer Ich-Erzählung, in der Fürst Henriette Herz – scheinbar authentisch – sprechen lässt. Er verfasste auch einen ausführlichen, einleitenden biographischen Absatz. Die Form der später von ihrem Gesprächspartner herausgegebenen Memoiren lässt sich mit Hilfe moderner und feministischer Autobiographietheorien untersuchen. Sidonie Smith, Julia Watson und Irene Kacandes bezeichnen alle Formen der Selbstdarstellung als „life narrative“, wobei auch die strikten Unterschiede zwischen Ich-Erzählung und Biographie aufgehoben werden.24 Das von Fürst herausgegebene Memoire, in welchem er eine Biographie schreibt und Herz’ Erinnerungen in ihrer Stimme ventriloqusiert, lässt sich am ehesten als „life history“ kategorisieren. Marcia Wright definiert „life history“ als „a 23 Karl August Varnhagen von Ense: Tagebücher. Bd. 14. Leipzig 1861–1906. Reprint Bern 1972, S. 352. 24 Sidonie Smith u. JuliaWatson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis 2010, S. 4; Irene Kacandes: Experimental Life Writing. In: Routledge Encyclopedia of Experimental Literature. Hrsg. von Joe Bray, Alison Gibson u. Brian McHale. London u. New York 2012, S. 380–392, hier S. 380.

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mediated account composed by another person but retaining the perspective of the subject.“25 Judy Long erläutert den Begriff wie folgt: Life history is the narrative of an individual life, and aims to convey the subject’s personal experience; narrative in form, subjective in focus, it speaks in the first person. […] The life history cannot be read as the subject’s conversation with herself, nor taken as an expression of unimpeded subjectivity. For life histories originate reactively rather than spontaneously. They are first-person accounts that are shaped by the requests of the narrator […].26

Nach ihrem Tod am 22. Oktober 1847 veröffentlichte Fürst das Memoire 1849 und 1850 in sechsundzwanzig Folgen in der Constitutionellen Zeitung. Der letzte Abdruck enthielt das Kapitel über Madame de Sta[l und August Wilhelm Schlegel. Im selben Jahr gab er eine revidierte und erweiterte Ausgabe als Buch heraus – unter dem Titel Henriette Herz: Ihr Leben und ihre Erinnerungen.27 Acht Jahre später erschien eine zweite revidierte und erweiterte Auflage mit dem neuen Kapitel „Zeitgeschichtliches“.28 Die Erinnerungen in der ersten Ausgabe lassen die schweren Jahre der Okkupation aus und erwähnen kaum die Jahre nach 1819. Fürst hebt ihre Jugend und den Höhepunkt des Salons hervor sowie alle wichtigen kulturellen Größen, die Berlin besuchten und bei ihr zu Gast waren. Er glaubte sicherlich, dasselbe Publikum anzusprechen, das sich für Varnhagens Briefausgaben von Rahel Levin Varnhagen interessiert hatte. Nach einer kurzen Einführung von Fürst folgt ein umfangreiches Kapitel aus seiner Perspektive unter der Überschrift „Biographie“. Vieles aus dem Bekenntnis nimmt er hierbei auf. Er zitiert aus Briefen und Tagebüchern, die heute nicht mehr vorhanden sind. Das Ziel dieses Kapitels, welches er mit „Skizze“ überschreibt, ist es, den Erinnerungen aus Herz’ Perspektive einen biographischen ,Rahmen‘ zu geben, da ihre Erinnerungen keine Autobiographie im herkömmlichen Sinne darstellen, sondern „eine Reihe von Charakterzügen“ oder „Pinselstriche[n]“ sind.29 Dieser zweite Teil, als „Erinnerungen“ benannt, besteht aus zweiundzwanzig Kapiteln. Von diesen tragen vierzehn den Namen – und in drei Fällen die Namen – von Zeitgenossen, mit denen sie verkehrte: z. B. Schleiermacher, Börne, Dorothea Schlegel. Fürst hob nicht nur die berühmten 25 Marcia Wright: Personal Narratives, Dynasties, and Women’s Campaigns. Two Examples from Africa. In: Interpreting Women’s Lives. Feminist Theory and Personal Narratives. Hrsg. von Personal Narratives Group (Joy Webster Barbre [u. a.]). Bloomington 1989, S. 155–171, hier S. 155. 26 Judy Long: Telling Women’s Lives. Subject, Narrator, Reader, Text. New York 1999, S. 73. 27 Henriette Herz: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Hrsg. von J. Fürst. Berlin 1850. 28 Henriette Herz: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Hrsg. von J. Fürst. 2., durchgesehene und vermehrte Aufl. Berlin 1858. 29 Herz: Ihr Leben (Anm. 21), S. 11 u. S. 85.

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Männer, sondern auch Freundinnen und Gäste hervor. Von diesen Kapiteln sind vier mit dem Namen einer Frau betitelt, eines trägt die Namen zweier Frauen, ein weiteres wird zwischen de Sta[l (1766–1817) und August Wilhelm Schlegel (1767–1845) aufgeteilt. Noch zwei Kapitel – „Marcus Herz und das Haus“ und „Ein Erlebnis bei Ernst Moritz Arndt“ – tragen die Namen von Männern.30 Solch eine aus Porträts bestehende Autobiographie war nicht ganz unbekannt. Im 17. Jahrhundert schrieben die französischen SaloniHres wie Madeleine de Scud8ry (1697–1701) und Marie de Rabutin-Chantal, Madame de S8vign8 (1626–1696), was man „portrait galant“, „portrait mondain“ oder „portrait pr8cieux“31 nennt. Nina Ekstein bezeichnet diese Porträts als „a positive form for women […]. Women thus assumed the role of author/authority and thereby claimed knowledge and expertise“.32 Die Porträts verstoßen gegen die Linearität traditioneller Erzählformen und die Ideologie der getrennten Sphären.33 Herz’ Memoire befasst sich mit der Schaffung solcher Porträts.34 In diesen wurden die physischen Charakteristiken der Menschen mit ihren sprachlichen und geistigen Eigenschaften verglichen. Ihr kritischer Blick offenbart eine scharfe Menschenkenntnis. Der im Memoire verwendete Stil zitiert dabei den Konversationsstil der Französinnen, die nicht linear oder konsequent über eine Person oder Gruppe erzählten. Wie in einer echten Konversation schweift das Thema manchmal von einem zum anderen ab. Dies soll der Leser nicht als Mangel an Erzählkunst bewerten, sondern als eine Kostprobe ihrer Gesprächsart genießen. In den von Fürst herausgegebenen Erinnerungen verbindet Herz den Geist, die Persönlichkeit und den Charakter der Subjekte mit ihrer physischen Präsenz. Auch wenn eine Unstimmigkeit zwischen Körper und Geist zu entstehen scheint, werden beide in Betracht gezogen und deren Unterschied hervorgehoben. Die Metaphern des Malens und der Porträts werden für die äußere Erscheinung und die Persönlichkeit verwendet. Von besonderem Interesse sind ihre Porträts von Personen oder Schriftstellern, deren Ruhm oder Schriften bereits vorher einen Eindruck bei ihr hinter30 Martin Davies, die erste Auflage benutzend, bemerkt: elf von den einundzwanzig Kapiteln „concern male guests“, sechs weibliche, und er zählt Kapitel 12 zweimal für de Sta[l und Dorothea Schlegel. Martin Davies: Portraits of a Lady. Variations on Henriette Herz (1764–1847). In: Women Writers of the Age of Goethe 5 (1992), S. 45–74, hier S. 53. 31 Nina Eckstein: Women’s Images Effaced. The Literary Portrait in Seventeenth-Century France. In: Women’s Studies 21 (1992), S. 43–56, hier S. 43–44. 32 Eckstein: Women’s Images (Anm. 25), S. 45. 33 Ebd., S. 46. 34 Herz und Fürst kannten auch dieses Model von geschriebenen Porträts durch die Bücher von Karl August Varnhagen von Ense, der 1836 Rahel von Varnhagens Freundeskreis: Galerie von Bildnissen aus Rahel’s Umgang und Briefwechsel (Leipzig 1836) herausgab. Jedes Kapitel trägt den Namen von einem Bekannten oder Freund Rahels, fängt mit einer kurzen Biographie an, gefolgt von Briefen.

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lassen hatten, z. B. Schiller und Goethe. Das Image von Schiller – „das Bild der Persönlichkeit“ – wurde durch seine Werke geprägt.35 Als er 1804 Berlin besuchte, stellte sie sich vor, dass er wie Marquis Posa in Don Carlos reden würde: „so hatte ich ihn mir in seiner Ausdrucksweise feurig, und in seinen Reden rückhaltlos seine Ueberzeugungen aussprechend gedacht“.36 Sie war enttäuscht, da er zurückhaltend und „höchst vorsichtig“ sprach.37 Trotzdem war er ihr „ein sehr lebenskluger Mann.“38 Wenn Herz über ihre eigene Ausbildung oder über Schauspieler berichtete, legte sie den Schwerpunkt auf die Sprech- und Ausdrucksweise dieser. Ihr Interesse an der Kunst des Gesprächs deutet klar darauf hin, dass sie sich bemühte, diese Kunst selbst zu üben. Goethe traf sie 1810 in einer Galerie in Dresden: „Hatte ich ihn gleich nie gesehn, dennoch erkannte ich ihn gleich auf der Stelle, und ich hätte ihn erkannt wäre mir auch nie ein Bildniß von ihm zu Gesicht gekommen.“39 Sie beschreibt ihn als „imposant“, aber ohne Mitgefühl und als egoistisch.40 In ihrer Schilderung von Personen, mit denen sie eine lange Bekanntschaft verband, beschreibt sie deren Persönlichkeitsentwicklung durch psychologische Begriffe. Von äußerster Wichtigkeit ist ein Gleichgewicht positiver Eigenschaften. Mehrmals erwähnt sie Termini wie ,Geist‘, ,Gemüth‘ und ,Herz‘. Besonders bei Frauen würdigt Herz ,Geist‘ und ,Bildung‘. Rahel Levin Varnhagen, die im Kapitel nach Dorothea von Kurland dargestellt wird, vertrat ihrer Meinung nach diese ideale Balance von Eigenschaften: „Denn neben dem Geiste und der Freiheitsliebe […] war sie auch durch ein fühlendes Herz hervorragend“.41 So widerlegt sie am Beispiel von Rahel Levin Varnhagen die Behauptung, „daß Herzensgüte nicht neben einem scharfen und kritischen Verstande bestehen könne“.42 Das Memoire bietet den Leserinnen und Lesern keine vollständige Geschichte der Salongeselligkeit oder des Lebens von Henriette Herz. Was es vermittelt, sind Einsichten in die Entstehung und Existenz der Salongeselligkeit, in Herz’ eigenes Wirken im Salon und in ihre Entwicklung von der schönen Jüdin zur geistreichen Frau und zur älteren Memoirenschreiberin. Dieses Rückerinnern über mehrere Jahre hinweg machte sich Herz zur Altersaufgabe und sicherte damit ihren Ruhm bei der Nachwelt. Auch wenn Herz nicht immer direkt über ihre Tätigkeiten als SaloniHre berichtet oder, mit Aus35 36 37 38 39 40 41 42

Henriette Herz: Ihr Leben (Anm. 22), S. 222. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 224. Ebd., S. 224–226. Ebd., S. 197. Ebd.

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nahme ihrer Italienreise, viel über ihr Leben nach 1806 erzählt, erfahren wir, was sie an sich und anderen schätzte. Wenn Henriette Herz in ihrem Memoire über sich selbst und andere Frauen spricht, betont sie wiederkehrend, dass man Tugend, Charaktereigenschaften und Geist über Aussehen, Kleidung oder Reichtum stellen sollte. Was mit dem Alter blieb, waren die wesentlichen Charakteristiken, die sie zu einer geachteten SaloniHre gemacht hatten: der Geist, das Gefühl und das Talent, andere zum Gespräch anzuregen. Die Schriftstellerin Fanny Lewald (1811–1889) fand diese noch in der 79-jährigen Henriette Herz und schrieb in ihren eigenen Erinnerungen: „Es war ein Vergnügen, sie sprechen, und ein Genuß sie erzählen zu hören. […] Sie suchte niemals die Aufmerksamkeit auf sich oder die Unterhaltung an sich zu ziehen, aber sie war mitteilsam und das Sprechen machte ihr Freude, wie die Übung einer Kunst, in welcher sie Meister war.“43

43 Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte. Hrsg. von Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt a. M. 1980, S. 234.

Anna-Dorothea Ludewig

Die ,schöne Jüdin‘ Henriette – Selbststilisierung und Rezeption einer Berliner Salonière

In den inzwischen zahlreichen Werken zu weiblicher Autobiographik ist der Name Henriette Herz – wenn überhaupt – nur eine Randnotiz. Das ist einerseits der prekären Quellenlage geschuldet, auf die noch näher einzugehen sein wird, hängt aber andererseits auch mit Herz’ Persönlichkeit zusammen, die wir hinter den wenigen schriftlichen Zeugnissen zu erahnen glauben. Oberflächlichkeit und Eitelkeit sind zwei zentrale Eigenschaften, die immer wieder mit ihr in Verbindung gebracht werden, und die sich in ihren nachgelassenen Texten zu bestätigen scheinen: Ich bin jetzt 65 Jahre alt, wir zählen das Jahr 1829, und ich darf daher wohl von meiner damaligen anerkannten Schönheit sprechen, von der auch keine Spur mehr sichtbar ist. Die dunkeln, glänzenden Augen sind heller und matt geworden, das rabenschwarze Haar weiß, die weißen perlenartigen Zähne schwarz und schadhaft, das schöne Oval des Gesichts mager und lang usw.1

Henriette Herz’ Schwanengesang, dieser Ausschnitt ist ihren Jugenderinnerungen entnommen, ist eine Liebeserklärung an ihr jüngeres Selbst. Wie im Hohelied Salomons, im Lied der Lieder, der Geliebte die Schönheit seiner Geliebten in allen Einzelheiten preist, „Schön bist Du …“, so besingt sie hier den vergangenen Liebreiz ihrer Jugend und fordert Zeitgenossen und Leser damit nachdrücklich auf, die Vergänglichkeit zu überblenden und das detailliert beschriebene Bild des jungen und makellosen Mädchens lebendig zu halten. Diese Fokussierung auf Äußerlichkeiten durchzieht die gesamten Jugenderinnerungen und hat entscheidend zur Rezeption einer Henriette Herz beigetragen, die in der deutschen, vielleicht sogar in der europäischen Kulturgeschichte zum Inbegriff, zur Personifikation der ,schönen SaloniHre‘ geworden ist – auch in Abgrenzung zu Rahel Levin Varnhagen (1771–1833), die als weniger ansehnlich, dafür aber intellektuell und geistreich etikettiert wurde. 1 Henriette Herz: Jugenderinnerungen. In: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Hrsg. von Hans Landsberg. Weimar 1913, S. 101–154, hier S. 150.

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Das Narrativ von außergewöhnlicher Schönheit und weiblichem Ideal war aber kaum das zufällige Produkt einer naiven Plauderei, vielmehr hat Henriette Herz – wie das erwähnte Zitat anschaulich zeigt – diese Spur selbst gelegt, sie nahm zu ihren Lebzeiten entscheidenden Einfluss darauf und war, so scheint es, entschlossen, diese Deutungshoheit auch über ihren Tod hinaus zu wahren.2 Es wird immer wieder betont, dass Henriette Herz, verglichen mit ihren „Zeitund Schicksalsgenossinnen“ deutlich „weniger schriftliche Zeugnisse“3 hinterlassen hat. In diesem Zusammenhang wird ihr intellektueller „Kleinmut“4 unterstellt, und Ludwig Geiger (1848–1919) attestiert ihr „Größe doch nicht auf geistigem, sondern auf sittlichem Gebiet“.5 Zudem hat sie einen Großteil ihrer Korrespondenz verbrannt und so dafür gesorgt, dass ihre Persönlichkeit weit schemenhafter bleibt als ihre äußere Gestalt – ihr Vermächtnis ist das Bild der ,schönen SaloniHre‘, ein Gesamtkunstwerk, das sie bewusst mitgestaltet hat: „Gesamtkunstwerke“ bergen immer einen Wahrheitsanspruch als notwendige Voraussetzung, um ein „Ganzes zu erfassen“ und bleiben insofern „nicht an ihren historischen Urheber gebunden, sie werden gerade durch ihren umfassenden Anspruch anonym wie ,die Wahrheit‘ selber. Sie werden urheberlose Erzählungen, also Mythos, zumindest mythosähnlich“.6 Über das zum Mythos gewordene ,Gesamtkunstwerk Henriette Herz‘ soll im Folgenden auf Grundlage der Jugenderinnerungen als schriftliches Zeugnis und einiger Porträts7 nachgedacht werden. Es folgen einige Überlegungen zur kulturgeschichtlichen Adaption und der Frage, inwieweit Henriette Herz – bewusst oder unbewusst – zur Entwicklung der Sprachformel und des Topos der ,schönen Jüdin‘ beigetragen hat.

2 Marjanne E. Gooz8 stellt fest, dass Henriette Herz darauf bedacht war, ihre Außenwirkung zu steuern: „This was a woman who was highly motivated to control her own image and reputation.“ Marjanne E. Gooz8: Posing for Posterity. The Representations and Portrayals of Henriette Herz as „Beautiful Jewess“. In: Body Dialectics in the Age of Goethe. Hrsg. von Marianne Henn u. Holger A. Pausch. Amsterdam 2003, S. 67–95, hier S. 80. 3 Ludwig Geiger : Einleitung. In: Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Oldenburg u. Leipzig 1905, S. 5–35, hier S. 11. 4 Gisela Greulich-Janssen: Henriette Herz – die erste deutsche SaloniHre. In: Bedeutende Frauen des 18. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Hrsg. von Elke Pilz. Würzburg 2007, S. 83–101, hier S. 99. 5 Geiger : Einleitung zum Briefwechsel (Anm. 3), S. 16. 6 Bazon Brock: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Können. In: http://www2.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/ Brock/Schrifte/AGEU/Totalkun.html (25. 2. 2016). 7 Henriette Herz ist mehrfach porträtiert worden, die bekanntesten Werke sind: Anna Dorothea Therbusch: Henriette Herz als Hebe, Öl auf Leinwand (1778); Johann Gottfried Schadow: Büste der Henriette Herz (1783); Anton Graff: Henriette Herz, Öl auf Leinwand (1792); Georg Friedrich Adolph Schöner : Henriette Herz, Öl auf Leinwand (1802); Wilhelm Hensel: Henriette Herz, Bleistiftzeichnung (1823).

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Text Bereits 1833 und damit noch im Jahr ihres Todes erschien als Privatdruck Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, in dem der Herausgeber, der Witwer Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), Briefe und Aufzeichnungen seiner Frau zusammengestellt hatte. Henriette Herz war zu diesem Zeitpunkt knapp 70 Jahre alt, und es ist anzunehmen, dass sie diese Publikation und ihre Folgen mit großem Interesse verfolgte. Ob die Vernichtung ihrer eigenen Korrespondenz eine direkte Reaktion auf die Veröffentlichung der Rahel-Briefe gewesen ist, sei dahingestellt;8 mit Sicherheit war ihr die Vorstellung, intimste Details öffentlich preiszugeben, sei es auch posthum, unangenehm. Die aus dieser Briefvernichtung hervorgehende Stimmlosigkeit, das Fehlen von Henriette Herz’ „eigene[r] Sprache“ im „Konzert der [zeitgenössischen] Stimmen“9 hat eine Leerstelle hinterlassen, die, und das scheint fast zwangsläufig, zu einer Projektionsfläche geworden ist, wobei mit den hier verwendeten Bezeichnungen Leerstelle und Projektionsfläche keinesfalls jene ,innere Leere‘ gemeint ist, die Henriette Herz immer wieder unterstellt wurde und wird. War die Vernichtung der Korrespondenz also nur ein Akt der Diskretion, ein Versuch des Selbstschutzes oder eine Möglichkeit, eine Maßnahme, das eigene ,Image‘ zu gestalten, sogar zu manipulieren? Bis auf einzelne erhaltene Briefe wird die Stimmlosigkeit der historischen SaloniHre Henriette Herz nur in den bereits erwähnten Jugenderinnerungen gebrochen, einem Fragment, das sie explizit für die Veröffentlichung vorgesehen und entsprechend bearbeitet hatte. Zusätzlich ergänzten und verfremdeten verschiedene Herausgeber, insbesondere J. Fürst, das Werk.10 Nicht mehr die „selbstreflexiven Bedürfnisse der Au-

8 Als direkte Reaktion auf die Publikation der Briefe Rahel Levin Varnhagens interpretiert diese Vernichtung Willi Jasper : Deutsch-jüdischer Parnaß. Literaturgeschichte eines Mythos. München 2004, S. 83. Als Akt „der Diskretion“ bezeichnet es hingegen Liliane Weissberg: Weibliche Körpersprachen. Bild und Wort bei Henriette Herz. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jutta Dick u. Barbara Hahn. Wien 1993, S. 71–92, hier S. 77. 9 Hannah Lotte Lund: Der Berliner „Jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin u. Boston 2012, S. 42. Vgl. auch dies.: Biographien ju¨ discher Frauen. Plädoyer zur Wiederentdeckung einer beru¨ hmten Frau – Henriette Herz zum 250. Geburtstag. In: MEDAON – Magazin fu¨r ju¨ disches Leben in Forschung und Bildung 8 (2014), S. 1–5, online unter http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_15_Lund.pdf (25. 02. 2016). 10 1850 erschien in Berlin die erste Auflage des von J. Fürst herausgegebenen Bandes „Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen“, auf dem auch die jüngste Ausgabe basiert: Henriette Herz: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Hrsg. von Rainer Schmitz. Berlin 2013 [Frankfurt a. M. 1984]. Die Jugenderinnerungen sind hingegen ein authentischer Text, der 1896 in den Mittheilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin erstmals publiziert wurde und in der Ausgabe von Hans Landsberg (Anm. 1) enthalten ist.

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tobiographin“11 sind hier strukturgebend, sondern die von männlichen Editoren für interessant befundenen Textteile; verfälscht durch angebliche mündliche Berichte, die Fürst verschriftlichte und damit das ursprüngliche Manuskript „kontaminierte“.12 Durch das Fehlen der Briefe haben nun die Jugenderinnerungen eine vergleichsweise große Bedeutung bekommen, obgleich hier nur ein kurzer Lebensabschnitt behandelt wird, und zwar die Zeit vor ihrer ,Karriere‘ als Gastgeberin. In den Jugenderinnerungen erweisen sich nun, wie die anfangs zitierte ,Liebeserklärung‘ bereits gezeigt hat, Jugend und die damit verbundene Schönheit als konstitutives Narrativ : Herz berichtet, dass ihr der „Ruf eines schönen Kindes“ vorauseilte, und so wird sie bei passenden Anlässen von der jüdischen Gemeinschaft als Repräsentantin ausgewählt. Anlässlich eines Besuches der Prinzessin Amalie bei einem „der reichsten Israeliten“ wurde die kleine Henriette beispielsweise – wie ein Ausstellungsstück – gemeinsam mit einer Laubhütte präsentiert. Nicht frei von Selbstgefälligkeit erinnert sie sich, „in meinem blaustoffenen Kleide mit bunten Blumen recht gut ausgesehen [zu] haben“.13 Mit 15 Jahren wurde sie mit dem 17 Jahre älteren Arzt und Philosophen Marcus Herz (1754–1803) verheiratet, eine Entscheidung, an der sie selbst traditionsgemäß nur wenig beteiligt war, mit der sie aber nicht unzufrieden gewesen zu sein schien, bedeutete die Ehe doch Unabhängigkeit, in erster Linie wohl von ihrer zänkischen Mutter. Dem Vater, ebenfalls Arzt, brachte sie hingegen Zärtlichkeit und Verehrung entgegen; ähnliche Gefühle hegte sie für ihren Ehemann, der sich nun auch ihrer Ausbildung annahm. Verlobung und Hochzeit werden in den Jugenderinnerungen ebenfalls stark mit Äußerlichkeiten verbunden, die Hoffnung auf „bessere Kleider und einen Friseur“14 lösten kindliche Begeisterung aus, und die Erinnerung an das Verlobungskleid schien auch Jahrzehnte später noch sehr präsent zu sein, wie detailliert berichtet wird: Am Tag der Verlobung ging [ich] im Zimmer auf und ab, kam zufällig an dem Spiegel vorbei und erschien mir zum ersten Male mehr als hübsch – ein apfelgrün und weiß gestreiftes, seidnes Kleid, ein schwarzer Hut mit Federn standen mir sehr gut, mein dunkeles Auge glänzte durch die Röte der Wangen, und der kleine Mund war freundlich.15

11 Peter Seibert: Henriette Herz. Erinnerungen. Zur Rekonstruktion einer frühen Frauenbiographie. In: Der Deutschunterricht 2 (1989), S. 37–50, hier S. 45. 12 Ortrun Niethammer : Autobiographien von Frauen im 18. Jahrhundert. Tübingen u. Basel 2000, S. 151. 13 Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 105. 14 Ebd., S. 124. 15 Ebd., S. 125.

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Die fast narzisstische Begeisterung für die eigene Schönheit scheint alles andere ausgeblendet zu haben, auch den Bräutigam, den sie als „klein und hässlich“,16 aber hochgelehrt bezeichnet. Doch bei näherem Hinsehen weist diese Selbstspiegelung vielleicht über naive Eitelkeit hinaus und markiert den Übergang vom Kind, vom Mädchen zur Braut und Ehefrau: Ich „erschien mir zum ersten Male mehr als hübsch“ – dieser Satz signalisiert auch einen Zuwachs an Selbstvertrauen, der nicht auf das Äußere beschränkt sein muss, und eine neue Unabhängigkeit, die sie durch die Ehe zu bekommen hofft und tatsächlich auch erhält. Denn mit der Ehe begann für Henriette Herz eine Zeit der Freiheit, die durch ihre Kinderlosigkeit natürlich begünstigt wurde. Marcus Herz, der sich primär seiner wissenschaftlichen Arbeit und ärztlichen Tätigkeit widmete, stand den schöngeistigen Betätigungen und den intensiven Beziehungen seiner Frau nicht im Wege. Dass der Kant-Schüler ihren Zirkel wohl nicht ganz ernst nahm, ist der folgenden, nicht gesicherten Anekdote zu entnehmen: Angeblich habe Herz „zu David Friedländer, der ihn um die Erklärung einer dunklen Stelle bei Goethe angeht, gesagt […]: ,Gehen Sie zu meiner Frau; die versteht die Kunst, Unsinn zu erklären!‘“17 Dennoch respektierte Herz die Interessen und auch das ausgeprägte Sozialleben seiner Frau, die in den Jahren ihrer Ehe enge Freundschaften pflegte, insbesondere mit Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Ersteren unterrichtete sie, ebenso wie seinen Bruder Alexander, im Hebräischen, und mit letzterem verbrachte sie ganze Tage, die mit wechselseitigem Sprachunterricht (Italienisch und Griechisch), gemeinsamer Lektüre und intensiven Gesprächen gefüllt waren. Die kulturhistorische Bedeutung dieser Beziehungen erschließt sich auf verschiedenen Ebenen: Zunächst waren Henriette Herz und ihre Freundinnen Pionierinnen einer sozialen Entwicklung. Als „Schrittmacherinnen eines gesellschaftlichen Brückenschlags zwischen den Religionsgemeinschaften“18 eröffneten sie (Kommunikations-)Räume, die die deutsche und europäische Geistesgeschichte stark prägen sollten. Nicht zuletzt führten die literarisch orientierten Zirkel um die später als erste ,SaloniHren‘ bezeichneten Frauen zu einer Etablierung von „Autoren – vor allem de[s] jungen Goethe –, die von den Berliner Aufklärern bekämpft wurden“.19 Auch bot der Salon mit seinen Gastgeberinnen die Möglichkeit einer realen Begegnung insbesondere zwischen christlichen Männern und jüdischen Frauen – so scheint es wenigstens. Denn die sich besonders stark in den Briefen der Tugendbundzeit (um 1787) spiegelnde Intimität zwischen beispielsweise Henriette Herz und Wilhelm von Humboldt 16 Ebd. 17 Landsberg: Henriette Herz. Einleitung (Anm. 1), S. 1–100, hier S. 53. 18 Florian Krobb: Die Schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993, S. 66. 19 Seibert: Henriette Herz (Anm. 11), S. 40.

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muss nicht notwendigerweise eine solche gewesen sein. Vielmehr ist der Adressat „zunächst einmal ein ideelles Du, Partner schlechthin. […] [D]ie wirklichen Menschen blieben hinter ihren brieflich fingierten Stellvertretern meist allzu schnell und hoffnungslos zurück. Schließlich blieb ja auch die allgemeinmenschliche Emanzipation der Juden auf den Brief beschränkt […].“20 Und so wurde Henriette Herz zunehmend als Jüdin, als ,schöne Jüdin‘ rezipiert. Die Sprachformel ,schöne Jüdin‘ hat in der Salon-Ära allerdings noch nicht existiert, vielmehr ist mit Florian Krobb davon auszugehen, dass die Übertragung des Etiketts ,Jüdin‘ auf nichtjüdische Frauen mit ähnlichem Profil [bspw. Bettina von Arnim] auch deutlich [macht], wie sehr sich die Vorstellungen von Jüdinnen als selbständigen, intellektuellen, demokratisch gesinnten, später wohl auch sozial orientieren […] Frauen schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verfestigt hatten.21

Diese Eigenständigkeit und Bildung wurden auch von Schleiermacher bestätigt, der in einem vielfach zitierten Brief an seine Schwester die häufigen Besuche in einigen Berliner „jüdischen Häusern“ eben damit rechtfertigt, dass „die jüdischen Frauen, die Männer werden zu früh in den Handel gestürzt, sehr gebildet sind, von allem zu sprechen wissen und gewöhnlich eine oder die andere schöne Kunst in einem hohen Grade besitzen.“22 Doch die Wahrnehmung war durchaus ambivalent; die von Schleiermacher positiv hervorgehobenen Eigenschaften wurden von einer Zeitgenossin ganz anders bewertet: „die Geistesbildung und Empfänglichkeit fürs Schöne“, schrieb die für ihre antijüdischen Ressentiments bekannte Schriftstellerin und Verlegergattin Helene Friederike Unger (1741–1813) im Jahre 1798, grenze bei den „Töchtern Israels […] hart an Verbildung“.23 Jüdische Frauen, die die vergangenen Jahrhunderte meist in der doppelten Verborgenheit von Ghetto und Häuslichkeit verbracht hatten, betraten nun den öffentlichen Raum, sie wurden real. Selbstverständlich prägte diese „Wechselbeziehung zwischen literarischer Gestaltung und eigener Anschauung“24 das allgemeine ,Jüdinnenbild‘ dieser und der nachfolgenden Epochen entscheidend. Hier ist Henriette Herz wegweisend, tauschte sie doch – selbstbewusst und eitel zugleich – zunächst die Haube, mit der eine verheiratete jüdische Frau ihr Haar

20 Gert Mattenklott: Jüdische Frauen im Briefwechsel um 1800. Gedanken zu „Geschichtlichkeit und Erbe der Romantik“. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (1987), S. 39–49, hier S. 45. 21 Krobb: Schöne Jüdin (Anm. 18), S. 71. 22 Brief von Friedrich Daniel Schleiermacher an seine Schwester Charlotte am 4. August 1798. In: Herz: Erinnerungen (Anm. 10), S. 269. 23 Helene Friederike Unger: Briefe über Berlin aus Briefen einer reisenden Dame an ihren Bruder in H. Berlin 1930 [1798], S. 11f. Vgl. auch Krobb: Schöne Jüdin (Anm. 18), S. 65f. 24 Krobb: Schöne Jüdin (Anm. 18), S. 81.

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bedecken musste, durch eine Perücke „die mir sehr gut stand, doch ward sie bald beiseitegelegt, und das eigene, rabenschwarze und glänzende Haar ersetzte sie“.25 Mit dem Ablegen der tradierten äußeren Erkennungszeichen jüdischer Frauen wurde der Körper der Henriette Herz zwar zum Symbol eines Wertewandels, aber die scheinbare Gleichheit erweist sich als Täuschung, denn das Interesse der mehrheitlich jungen christlichen Männer, die in ihrem Haus verkehren, führt nicht zu einer substantiellen Annäherung zwischen Christen- und Judentum, zwischen Männern und Frauen, zwischen Mehr- und Minderheit. Das unbedeckte rabenschwarze Haar ist vielmehr Sinnbild einer (weiblich-) jüdischen Illusion, denn die Faszination lag nach wie vor in der Differenz. Und so führte der vielzitierte ,Brückenschlag‘ nicht zu einem dauerhaften Austausch, sondern erwies sich als Selbstgespräch,26 für das die zahlreichen Konversionen ein Indiz sind. Auch Henriette Herz ließ sich 1817, nach dem Tod ihrer Mutter, in aller Stille taufen. Diese Taufe ist ein weiteres enigmatisches Element der Herz’schen Biographie, geschah dieser Schritt doch ohne äußere Zwänge und wurde so diskret vollzogen, dass selbst enge Freunde erst nachträglich davon erfuhren. Über ihre Beweggründe kann nur spekuliert werden, bekannt ist hingegen, warum sie es nicht tat: Sie war nicht im Begriff einen christlichen Mann zu heiraten, und ihr war keine Position angeboten worden, für die sie hätte Christin werden müssen. Beides lag 1817 bereits hinter ihr : Den Heiratsantrag ihres engen Freundes Graf Alexander zu Dohna (1771–1831) hatte sie nach dem Tod ihres Mannes (1803) ebenso wenig angenommen wie eine Stellung als Erzieherin der preußischen Prinzessin Charlotte – beides hätte den Übertritt zum Protestantismus vorausgesetzt. Ob Henriette Herz diese beiden gesellschaftlich bedeutenden Positionen wirklich ausschlug, weil sie ihrer alten Mutter ersparen wollte, ihre Konversion mitzuerleben, ist nicht verbürgt. Dass sie später dennoch konvertierte, führt der russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow in seiner Geschichte des Jüdischen Volkes auf Schleiermachers Einfluss zurück: „In dem Maße, als der oberflächliche Geist einer Salondame dafür empfänglich war, hatte sie [Henriette Herz] sich nämlich die deutsch-christlichen Ideale Schleiermachers zu eigen gemacht, wie sie auch voll seine Meinung

25 Herz: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 141. 26 Eine der bekanntesten und radikalsten Stellungnahmen zu diesem Thema ist Gershom Scholems Text Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch: „Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft […].“ Gershom Scholem: Judaica II. Frankfurt a. M. 1987 [1970], S. 9.

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teilte, daß ein Jude, ohne der christlichen Kirche beigetreten zu sein, nicht deutscher Staatsbürger werden könne.“27 Für diesen Abfall von der Religion der Väter macht Dubnow den „Zauber der Romantik und das Gift der Assimilation“28 verantwortlich, dem die SaloniHren schon früh erlegen waren. Hier werden der ,stummen‘ Henriette Herz Oberflächlichkeit und geistige Beschränktheit ebenso zugeschrieben wie Beeinflussbarkeit. Ein Halbsatz aus einem ihrer wenigen erhalten Briefe weist hingegen in eine andere Richtung: Im Jahr nach ihrer eigenen Taufe schrieb sie mit Bezug auf ihre inzwischen zum Katholizismus konvertierte Freundin Dorothea Schlegel (1764–1839) an Immanuel Bekker (1785–1871), „wie wir unglüklichen aufgeklärten Juden, [sic!] denn Gott danken müssen wenn uns der Sinn davon nur im spätern Leben aufgeht“29 – und deutet damit an, dass eine unreflektierte Religiosität für die erste Generation nach Moses Mendelssohn (1729–1786) keine Option mehr darstellen konnte. Ihre eigene (kulturelle) Zugehörigkeit zum Judentum schien sie hingegen auch nach ihrer Konversion nicht in Frage zu stellen. Aus diesen Indizien lässt sich das Bild einer Frau ableiten, die dem Wunsch nach Unabhängigkeit alles andere unterzuordnen bereit war : Obwohl sie als Witwe gezwungen war, in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen zu leben und teilweise für ihren Unterhalt arbeiten musste, wollte sie ihre persönliche Freiheit weder aus finanziellen Erwägungen heraus aufgeben, noch schien ein gesellschaftlicher Aufstieg für sie von Interesse gewesen zu sein. Den vermutlich letzten Heiratsantrag machte ihr der über 20 Jahre jüngere Altphilologe Immanuel Bekker, Henriette Herz war zu diesem Zeitpunkt 54 Jahre alt. Ein Brief Wilhelm von Humboldts an seine Frau, dem sie offensichtlich von Bekkers Absichten berichtet hatte, hält die Begebenheit – wiederum aus männlicher Perspektive – fest: Die Herz war bei mir diesen Morgen. Der Komet hat sie gebleicht, tut er mehr gehen auch einige Falten weg. Sie war wirklich viel hübscher. Bekker hat nun Heiratsvorschläge getan. Ich habe abgeraten. Ohne den Altersunterschied täte sie’s, das glaube mir. Sie hat mir gestanden, daß es ihr doch viel Vergnügen mache, noch solchen Eindruck hervorzubringen. Das finde ich wirklich natürlich. Ich hätte es selbst gern, wenn man mich noch hübsch fände.30

27 Simon Dubnow: Die Neueste Geschichte des Jüdischen Volkes. Band VIII: Das Zeitalter der ersten Emanzipation (1789–1914). Berlin 1928, S. 258. 28 Ebd., S. 258. 29 Brief von Henriette Herz an Immanuel Bekker vom 29. Juli 1818. In: Max J. Putzel: Letters to Immanuel Bekker from Henriette Herz, S. Pobeheim and Anna Horkel. Bern 1972, S. 19. 30 Brief von Wilhelm von Humboldt an seine Frau Caroline vom 6. Juli 1819. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Sechster Band: Im Kampf mit Hardenberg. Briefe von 1817–1819. Hrsg. von Anna von Sydow. Berlin 1913, S. 572.

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Auch hier steht wieder der weibliche Körper im Mittelpunkt männlicher Betrachtung: Der immerhin mögliche Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit wird nicht einmal in Betracht gezogen, kommentiert wird vielmehr ihr Äußeres, das den Heiratsantrag des jüngeren Mannes zumindest teilweise rechtfertigt. Da Henriette Herz selbst zeitlebens an dem Narrativ von Schönheit und Jugend festhielt, bieten sich nur wenig Möglichkeiten, von dieser Wahrnehmung abzuweichen. Die gebildete Hofrätin, die sieben lebende Sprache sowie Sanskrit und Altgriechisch beherrschte, durchdringt ebenso selten das selbst mitgeschaffene Bild wie die Lehrerin, die, wie Ludwig Börne (1786–1837) bei einem Besuch im Jahre 1828 zu seinem eigenen Erstaunen feststellen muss, „in beständiger Thätigkeit [lebt] und die Viertelstunden [benutzt] als wären es Tage. […] Jeden Tag von 9–12 Uhr unterrichtet sie die Kinder armer, einst vermögender Eltern, in allen lebenden Sprachen, und zwar unentgeldlich [sic!]. Sie thut dies schon seit 1813.“31 Und ihre vermutete Übersetzung (1832) von Mary Wollstonecrafts feministischem Manifest A Vindication oft he Rights of Women (1792) lässt erahnen, dass die schöne Oberfläche möglicherweise auch eine Konzession an zeitgenössische Erwartungen war, mit denen sie nicht brechen wollte oder konnte.32

Bild Jenseits dieser rudimentären und teilweise verfälschten schriftlichen Zeugnisse konzentriert sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Henriette Herz auf einige Porträts, die insbesondere von Liliane Weissberg und Marjanne Gooz8 verschiedentlich analysiert und interpretiert wurden. Durch die Gemälde als signifikantesten, aber auch zugänglichsten Teil der Henriette-Herz-Rezeption war eine Konzentration auf Körper und Körpersprache naheliegend. In den Kontext der Jugenderinnerungen passt natürlich das wohl bekannteste Porträt Henriette Herz als Hebe der Malerin Anna Dorothea Therbusch (1721–1782). 1778 entstanden, zeigt es die 14-jährige Braut in einem griechisch-mythologischen Kontext, als Göttin der Jugend, deren Schönheit das „Entr8ebillet“ zu gesellschaftlicher Anerkennung und sozialem Aufstieg bildet. Der jüdischweibliche Körper überbrückt die Kluft zwischen Ghetto und christlicher 31 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 23. 32 Peter Seibert verweist diesbezüglich auf die „unterstellte Nähe der Frauen zu Mündlichkeit und Dialogizität“, die als gesellschaftlich anerkannter Rahmen „emanzipativen Agierens“ genutzt wurde. Nicht-kommunikativ gebundene Schriftlichkeit, die also über Briefe bzw. Briefbücher hinausging, hätte diesen Rahmen gesprengt. Vgl. Seibert: Henriette Herz (Anm. 11), S. 42.

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Mehrheitsgesellschaft scheinbar mit Leichtigkeit, doch der Preis dafür ist hoch. Die erwähnten Taufen im Kontext der Berliner jüdischen Salons sind nur ein Hinweis auf die Verhandelbarkeit jüdisch-weiblicher Identität nach Aufklärung und Haskala. Henriette Herz’, oder vielmehr Henriette de Lemos’ Porträt, das ja noch vor ihrer Hochzeit entstand, verweist einmal mehr darauf, welche Funktion ihr zugestanden und zugewiesen wurde – und sie erfüllte sie mit Bravour : Spielerisch bewegte sich das blumengeschmückte Mädchen in einem anspruchsvollen Kreis von Bewunderern, die von ihr in Scharen angezogen wurden. Dass sie vor diesem Hintergrund weder zur Dekoration, wie es die Assoziation mit Hebe nahe legt, noch zur Trophäe eines Verehrers, sondern zu einem, wie Fanny Lewald (1811–1889) es ausdrückte, „geistigen Wahrzeichen von Berlin“33 wurde, ist bemerkenswert. Plastisch wird diese Wahrnehmung Henriettes in ihrer Entwicklung von der Hebe zur Juno: Das Brautbild hat zwar – gemeinsam mit den Memoiren – die Jugend der Henriette Herz in die kollektive Erinnerung der Salonära eingeschrieben, aber für ihre zeitgenössischen Bewunderer blieb die junge Frau nicht dem komplementären Charakter der Hebe verhaftet, sie wurde bereits in einem anonymen Hochzeitsgedicht auch mit Juno verglichen,34 und wie Ludwig Börne rückblickend festhielt, auch weiterhin so allegorisiert: „Ich habe sie in ihrem Sommer gesehen – eine Juno! und das war damals das Wort in Jedes Mund.“35 Die Verknüpfung von Henriette Herz mit der griechischen bzw. römischen Mythologie und ihre damit einhergehende Stilisierung zu einer klassischen Schönheit ist keineswegs zufällig entstanden. Wenn Fürst in seinem Vorwort zu dem umstrittenen Erinnerungsband ihr Profil als natürliche Vollendung der griechischen Kunst lobt und das Verhältnis zwischen ihrem Kopf und ihrem Körper als „wunderbare Übereinstimmung mit dem kanonischen Verhältnissen aus der klassischen Zeit griechischer Skulptur“36 hervorhebt, ist es naheliegend, das als eine Selbstinszenierung zu deuten, die auch vom Judentum ablenken sollte und, wie Liliane Weissberg nachgewiesen hat, von den Zeitgenossen aufgegriffen wurde und damit erfolgreich war.37 Das Therbusch-Gemälde sollte Henriette Herz lange begleiten, in ihrer bescheidenen Witwenwohnung wurde „die schmucklose Einfachheit ihres Zimmers“ durch das Porträt wirkungsvoll gebrochen und erinnerte ihre Besucher auch in späteren Jahren daran, „daß die Schönheit dieser Frau einen europäi-

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Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1989, S. 83. Vgl. den Beitrag von Michael Heinemann und Ulrike Wels in diesem Band. Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 23. Henriette Herz: Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Hrsg. von J. Fürst. Berlin 2015 [1850], S. 22. 37 Vgl. Weissberg: Weibliche Körpersprachen (Anm. 8), S. 88f.

Selbststilisierung und Rezeption einer Berliner Salonière

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schen Ruf gehabt, daß seit sechzig Jahren kaum ein bedeutender Mann gelebt, den sie nicht gekannt und der sie nicht verehrt“.38 Im zeitgenössischen Kontext schien das von Henriette Herz gelegte Deutungsmuster also zunächst aufzugehen: Sie war und blieb die außergewöhnliche und klassische Schönheit, die ,schöne SaloniHre‘. Doch in die beifällige Bewunderung mischten sich auch Ressentiments, wurde doch die Auffälligkeit ihrer Erscheinung durch eine ungewöhnliche Körpergröße noch verstärkt, die, wie der Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764–1850) erklärte, „die weibliche Anmut überschritt“.39 Einige Karikaturen der Herz zeugen davon, dass Schadows Ansicht von seinen Zeitgenossen geteilt wurde. Insbesondere die Beziehung zu Schleiermacher, die ohnehin eine gesellschaftlich-religiöse Gratwanderung darstellte, wurde in Spottbildern physiognomisch stigmatisiert: Wenn die ,Riesin‘ Henriette mit dem ,Zwerg‘ Schleiermacher über einen Jahrmarkt wandelt, wird diese (platonische) Freundschaft als Lächerlichkeit dargeboten.40 In Bezug auf Henriette wurde „das Leitmotiv der Überschreitung verhängt, das ihr als einer emanzipierten Jüdin ohnehin anhaftete und das in ihrem, die Grenzen weiblicher Anmut sprengenden Körperbau physische Gestalt angenommen zu haben schien“.41 Henriette Herz blieb bis zuletzt als Gastgeberin aktiv, doch es wurde, auch bedingt durch ihr hohes Alter, zunehmend einsam um sie. Der äußerliche Alterungsprozess der letzten Jahrzehnte, sie starb mit 83 Jahren, wurde von ihren Zeitgenossen mit kritischen Kommentaren begleitet – ein Umstand, der ihr nicht verborgen geblieben sein kann. Die Bemerkung Karl August Varnhagens, „Madame Herz“ sei in den vergangenen fünf Jahren „wenigstens um zehn älter geworden an Körper, und an Seele um dreißig jünger, ein zaghaft kindlich Wesen“,42 ist nur ein Beispiel für die Erbarmungslosigkeit, mit der das Ver38 Lewald: Lebensgeschichte (Anm. 33), S. 82. 39 Zitiert nach Joachim Rees: Jette statt Juno – Abschied von einer allegorischen Person. Henriette Herz. In: Preußens Eros, Preußens Musen. Frauenbilder aus Brandenburg-Preußen. Hrsg. von Sven Kuhrau u. Isabelle von Marschall im Auftrag des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Potsdam 2010, S. 96–99, hier S. 97. 40 Es handelt sich hier um einen Kupferstich, der J[ohann] D[avid] Falks satirisches Drama Der Jahrmarkt zu Plundersweilen illustriert. Die Vorbilder der mehr oder weniger fiktiven Hauptpersonen werden spätestens durch diese Karikatur enthüllt: Henriette Herz wird im Stück als namenlose „Judenfrau“ präsentiert, während Schleiermacher als junger Geistlicher auftritt, der „mit imposantem Ton und oratischem Anstande“ spricht. Der Spott des Autors gilt in erster Linie den Romantikern, insbesondere Friedrich Schlegels Roman Lucinde (1799), wendet sich mit deutlich antijüdischen Ressentiments aber auch gegen die Berliner SaloniHren. Vgl. J.D. Falk: Der Jahrmarkt zu Plundersweilen. Parodie des Göthischen. In: Taschenbuch für die Freunde des Scherzes und der Satire. Hrsg. von J.D. Falk. Weimar 1801, S. 307–398. 41 Rees: Jette statt Juno (Anm. 39), S. 97. 42 Brief von Karl August Varnhagen von Ense an Karoline [sic!] von Humboldt vom 5. No-

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Anna-Dorothea Ludewig

Titelkupfer in: Falk: Der Jahrmarkt zu Plundersweilen (wie Anm. 40). Digitalisat: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz.

schwinden weiblicher Jugend und Schönheit thematisiert und in Verbindung mit ,Geistlosigkeit‘ ridikülisiert wurde. Dazu kamen ihre Kinder- und Ehelosigkeit, sie selbst klagte oft über Einsamkeit, und ihre relative Armut;43 Faktoren, die im Alter weniger Unabhängigkeit als Schutzlosigkeit evozierten. So kommentierte auch Caroline von Humboldt gegenüber ihrem Mann den ,Verfall‘ der gemeinsamen Freundin mit boshaftem Vergnügen: Die Herz wirst Du auch schrecklich verändert finden, selbst der Bau der Knochen scheint sich im Kopf verändert zu haben, und leider trägt sie immer die Netze und wunderbaren Turbane statt einer simplen Haube, in der sie am besten aussieht. Das

vember 1812. In: Briefwechsel zwischen Karoline von Humboldt, Rahel und Varnhagen. Hrsg. von Albert Leitzmann. Weimar 1896, S. 68. Vgl. auch Marjanne Gooz8: Geist und Schönheit der alternden SalonniHre. In: Geschlecht – Generation – Alter(n). Geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Hella Ehlers, Gabriele Linke, Beate Rudolf u. Heike Trappe. Münster 2011, S. 43. 43 Vgl. Gooz8: Geist und Schönheit (Anm. 42), S. 50.

Selbststilisierung und Rezeption einer Berliner Salonière

259

eigentliche Verschwinden der Schönheit ist doch eine traurige Sache, wenn sie einen gewissen Punkt erreicht hat.44

Und Wilhelm von Humboldt wusste seiner Frau vom Anblick der Herz in einem kurzärmeligen Kleid zu berichten, dass ihn ihren „Mannesarm mit starken Adern“45 sehen ließ. Das „Leitmotiv der Überschreitung“46 greift auch hier : Schönheit ist mythologisch untrennbar mit ewiger Jugend und deshalb auch mit frühem Tod verbunden.47 Henriette Herz aber überschritt die Lebenserwartung ihrer Zeit um mehr als das Doppelte, ihre bewunderte Schönheit verfiel buchstäblich vor den Augen ihrer Zeitgenossen, und das führte zu einer (teilweisen) Dekonstruktion des ,Mythos Herz‘. Der weibliche Körper, insbesondere der schöne weibliche Körper, wurde und wird mit dem Alterungsprozess zu einer (halb)öffentlichen Belustigung, zu einem mitleidheischenden Objekt. Sie selbst litt darunter, hatte dieser Entwicklung aber auch wenig entgegenzusetzen. Vielmehr berichtete Ludwig Börne 1828, dass sie sich zur allgemeinen Belustigung „wie ein junges Mädchen kleidet“48 und bemüht war, ihr Alter in Vergessenheit geraten zu lassen. Börne selbst, der ihr als Student buchstäblich verfallen war, betrachtet sie bei diesem Wiedersehen mit liebevoller Nachsicht, die nicht frei ist von Bedauern über „die grausame Zeit, die alles zerreißt und zermalmt, ehe sie es verschlingt“.49 Henriette Herz aber schmückte ihre Wohnung in diesen späten Jahren ausgerechnet mit dem Therbusch-Porträt und wählte ihre vermeintlich ewige Jugend damit gleichsam als Gegenüber. Auch die Arbeit an ihren Jugenderinnerungen, von Marjanne Gooz8 als Versuch gewertet, sich „im Alter mit ihrem jüngeren Selbst“50 zu verbinden, ist wohl mehr ein Versuch, dem Unaufhaltsamen auszuweichen, die Wirklichkeit mythisch zu überblenden. Und mit dem Verweis auf das Eröffnungszitat dieses Aufsatzes, den Schwanengesang auf die vergangene Schönheit aus den Jugenderinnerungen, schließt sich der Kreis: Das Narrativ (ewiger) Schönheit und Jugend, von Henriette Herz selbst

44 Brief von Caroline von Humboldt an ihren Mann Wilhelm vom 25. Mai 1819. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen (Anm. 30), S. 550f. 45 Brief von Wilhelm von Humboldt an seine Frau Caroline vom 9. Juli 1819. In: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen (Anm. 30), S. 574. 46 Rees: Jette statt Juno (Anm. 39), S. 97. 47 Elisabeth Bronfen diskutiert die Frage, warum „für uns seit der Antike der Tod einer schönen Frau ein ebenso brisanter Wunschtraum geworden ist, wie die beiden von Sigmund Freud designierten Kernträume von Vatermord und Mutterliebe.“ Elisabeth Bronfen (Hrsg.): Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Vorwort zur Neuauflage. Würzburg 2004, S. I–XXII, hier S. II. 48 Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz (Anm. 3), S. 25. 49 Ebd., S. 24. 50 Gooz8: Geist und Schönheit (Anm. 42), S. 54.

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Anna-Dorothea Ludewig

mitinitiiert, wandte sich letztendlich gegen sie selbst. Der Versuch, Bild gegen Wort zu setzen, misslang – zurück blieb eine Leerstelle.

Schluss Die Rezeptionsgeschichte der Henriette Herz als ,schöner Jüdin‘ entwickelte eine Eigendynamik, die sich der Kontrolle der Protagonistin zunehmend entzog, stattdessen wurde sie zur Projektionsfläche eines deutsch-jüdischen Mythos. In der deutschen, vielleicht sogar in der europäischen Kulturgeschichte wird dieser Mythos in erster Linie durch zwei weibliche Komponenten geprägt: Die biblischen Jüdinnen und eben den Salon mit seinen Gastgeberinnen. Die biblischen Mütter und Töchter wurden und werden auch und gerade in christlichen Kontexten vielfach besungen, beschrieben und gemalt, und sie dominieren bis heute die Rezeption jüdischer Frauengestalten, das unterscheidet sie deutlich von der Rezeption männlich-jüdischer Figuren in Text und Bild. Jüdische Weiblichkeit, das wird bereits in der Bibel deutlich, ist oft mit erotischen Elementen verknüpft: Die Hebräerinnen werden begehrt und begehren selbst, ihre intellektuelle Präsenz ist oftmals mit einer sexuellen Präsenz verknüpft, die sie zu (christlich-)männlichen Phantasie- und Traumbildern werden lässt, die ihre Spuren in der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte hinterlassen haben. Und auch der Teetisch von Henriette Herz und die Dachstube der Rahel Levin Varnhagen führen ein Eigenleben, sie existieren, um auf das zum Mythos gewordene ,Gesamtkunstwerk‘ zurückzukommen, losgelöst von ihren sozial- und literaturhistorischen Kontexten als vermeintliches Symbol der viel beschworenen deutsch-jüdischen Symbiose. Sigrid Weigel formuliert in diesem Zusammenhang treffend, dass „in die Imagination der romantischen Salonkultur und ihrer Protagonistin vor allem Wunschphantasien ein[gehen], die sich aus den Konstruktionen des ,Weiblichen‘ und des ,Jüdischen‘ speisen“.51 Kontrapunktisch zu den „Wunschphantasien“ existieren die „Angstphantasien“,52 doch letztere werden überlagert durch die Vorstellung der deutsch-jüdischen Frau, die in den historischen SaloniHren Gestalt annimmt und damit auch zum Ausgangspunkt des Topos der ,schönen Jüdin‘ wird. Nach der Schoah wird der Salon, repräsentiert durch seine jüdischen Protagonistinnen, endgültig zu einem mythischen Ort deutsch-jüdischer Gemeinschaft und Geistesgeschichte. 51 Sigrid Weigel: Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Zur Einführung. In: Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Hrsg. von Inge Stephan, Sabine Schilling u. Sigrid Weigel. Köln [u. a.] 1994, S. 1–8, hier S. 1. Hervorhebung im Original. 52 Ebd.

Paola Ferruta

Göttinnendämmerung – Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

1.

Ikonisierung, Mythologisierung und Hypostasierung der Salonnièren

Die Mythologisierung von Henriette Herz, verewigt von Anna Dorothea Therbusch (1721–1782) in einem berühmten Gemälde von 1778, in dem sie als Hebe, Göttin der Jugend dargestellt ist, ist nicht nur eine geschickte Selbstdarstellung,1 sondern auch die Apotheose eines Bildungsweges. Herz wurde in der Tat von der Familie als ,Gesellschafts-Schönheit‘ (society beauty) erzogen.2 Liliane Weissberg hat Henriettes theatralisches Verhältnis zu ihrer eigenen Schönheit erörtert, welches die Schaffung eines Körpers beinhaltet, der eine „lebendige Maske“3 wird, einer Schönheit, die eine „desinteressierte Präsenz“ darstellt und reine Bewunderung verlangt und erhält.4 Die von Fürst herausgegebenen Erinnerungen von Herz sind als eine Werkstatt zu begreifen, in der sich diese Beziehung mit ihrem eigenen, im Spiegel reflektierten Bild entwickelt, eine Szene, die die Erzählerin selbst evoziert.5 Diese Erinnerungen werden ebenso in einem Spiegel reflektiert, während die Zeit angehalten und ein Porträt erstellt wird, das eine Form von Kunst ist, die eine Form von Künstlichkeit mit sich bringt. Herz erfand sich neu als Kunstfigur und Allegorie, ihre ,griechische‘ Schönheit und ihre Jugend wurden somit erhalten. Wenn die Notwendigkeit, für ihr eigenes Bild zu leben, auch das Risiko barg, steril und kindisch zu erscheinen – und damit sind die Mängel der attraktiven Henriette gemeint – gibt es doch keinen Zweifel daran, dass sie in ihrem Experiment des self-enhancement alles 1 Zum Begriff der Selbstdarstellung vgl. Florian Krobb: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im 19. Jahrhundert. Würzburg 2000. 2 Vgl. Liliane Weissberg: Life as a Goddess. Henriette Herz Writes Her Autobiography. Braun Lecture in the History of German Jewry (Vorlesungsreihe) 1999. Bar-Ilan University, Ramat Gan 2001, S. 5–40, hier S. 8. 3 Weissberg: Life as a Goddess (Anm. 2), S. 24. 4 Ebd., S. 27. 5 Ebd.

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Paola Ferruta

andere als unerfahren war.6 Diese Fähigkeit machte nach Weissberg aus der junonischen Henriette eine der ,Mütter‘ der westlichen Zivilisation.7 In einer Welt von gesetzlich festgelegten Vorurteilen gegen Juden, die das Leben der SalonniHren in allerlei Hinsicht beschränkten, wurde für diese Frauen die Selbstdarstellung ein Mittel, um ihre kulturelle Geltung zu bekräftigen, die sonst durch Reichtum und Bildung ihrer Väter und Ehemänner zu behaupten war. Der Literaturwissenschaftler Peter Seibert hat darauf hingewiesen, dass Henriette Herz ihre „Selbstvermarktung“ selbst konzipierte und bewusst betrieb, um sich als Schönheitsikone zu profilieren.8 Es ging ihr jedoch nicht bloß um Anmut, sondern um die Bedeutung dieser Schönheit für ihren sozialen Erfolg. Henriettes Liebreiz ging, zumindest am Anfang, mit ihrer glamourösen Reputation einher, was einen gesellschaftlichen Anziehungspunkt darstellte. Die Prominenz ihrer Anmut legitimierte vor allem den Anspruch auf soziokulturelle Einflussnahme. Elena Shapira betont, dass die Wiener SalonniHren Fanny von Arnstein (1758–1818), Cäcilie von Eskeles (1760–1836) und Henriette von Pereira-Arnstein (1780–1859) sich während der verschiedenen Phasen ihres Lebens in verschiedenen Rollen gestalteten und „vermarkteten“.9 Verschiedene Porträts veranschaulichen die Alterungsprozesse der SalonniHren und heben hervor, wie diese Selbstvermarktung einen Reifungsprozess durchlief, so dass diese prägenden Persönlichkeiten des kulturellen wie gesellschaftlichen Lebens sich stets auf neue Art und Weise präsentierten. Diese Kunst der Selbstdarstellung der SalonniHren soll im Folgenden differenziert erörtert werden. Wenn in Henriettes Fall von Ikonisierung oder Mythologisierung die Rede sein kann, wie definiert sich dann die einzigartige und meditative ,Mystik des Selbst‘, die Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) im Laufe der Jahre inszenierte? Henriette Herz’ Beitrag zur Schaffung des Charakters ,Rahel‘ war hierbei entscheidend für die Definition ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit, und sie pflegte diese Darstellung weiterhin nach dem Tod der Freundin. Hinzu kommt der Beitrag von Karl August Varnhagen (1785–1858), mit dem die Hypostasierung10 der verstorbenen SalonniHre ihren Höhepunkt 6 Ebd., S. 30. 7 Ebd. 8 Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 123–124. 9 Elena Shapira: Kunst und Repräsentation. Darstellungen jüdischer Salondamen in Wien um 1800. In: Salondamen und Dienstboten. Jüdisches Bürgertum um 1800 aus weiblicher Sicht. Hrsg. vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs St. Pölten. (= Juden in Mitteleuropa 2009), St. Pölten 2009, S. 10–18. 10 Bezeichnung für die Personifizierung und Vergegenständlichung von immateriellen Gegebenheiten, insbesondere von Vorstellungsinhalten, abstrakten Begriffen und Eigenschaften. Kant versteht unter Hypostase etwas, was bloß in Gedanken existiert, dem man aber dieselbe Qualität zuschreibt, die einem wirklichen Gegenstand außerhalb des denkenden Subjekts

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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erreichte: Durch sie wurde ,Rahel‘ zu einer Verkörperung der vollkommenen Harmonie zwischen ihren intellektuellen und moralischen Qualitäten. Sie wurde, wie Henriette, als Halbgöttin stilisiert, zu einem höchsten „Muster“ für „alles Frauenwesen“ erhoben, „wie“ es „sich in Schleiermacher Ethik darstellte“.11 Dieser Höhepunkt ereignet sich in der Weitergabe eines stereotypen Bildes der Kultur der Berliner Salons an den im Entstehen begriffenen Sozialismus in Frankreich. Auf diesen Aspekt werde ich am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen. Im Weiteren steht nicht nur die Mythologisierung der Schönheit und des Charmes der SalonniHren im Mittelpunkt, sondern das Nachlassen des Reizes, eine Art ,Göttinnendämmerung‘. Wenn man die Aufmerksamkeit vom visuellen Aspekt der Verherrlichung auf die Schriften lenkt, gewinnt die Selbstdarstellung im Laufe der Jahrhunderte noch mehr an Einfluss. Als wäre die spielerische Mystifizierung des eigenen Bildes seitens der SalonniHren nicht genug, so vermischen sich zudem oft die realen Lebensbedingungen der jüdischen Gastgeberinnen mit dem Bild, das sich die Salonforschung davon macht.12 Eine ,Mystik des Selbst‘ umfasst die Konstruktion einer sozialen Identität, welche im Fall von Rahel durch die Rousseau’sche ,Selbstpädagogik‘ eine ethische Konnotation erhielt.13 Es geht im Grunde um eine Botschaft an die Nachwelt. Das Nachlassen des Glanzes verlangte eine erhebliche Kunstfertigkeit, um die Pracht der rezenten Vergangenheit aufrechtzuhalten und die Botschaft zu tradieren. In diesem Sinne kann der Verlauf der freundschaftlichen Beziehung zwischen Henriette Herz und Rahel Levin Varnhagen als paradigmatisch für die Entstehung dieser neuen Kunst der Selbstdarstellung gelten. Dies zeigt auch, wie sich die Kunst der Konstruktion und der Weitergabe ihres Bildes unterscheiden. Im Falle von ,Rahel‘ ist es besonders schwierig, die Inszenierung und die Rezeption ihrer Persona auseinanderzuhalten. Diesen diskrepanten Wahrnehmungen folgte eine Hypostasierung durch jene, die mit ihrem Mythos in Kontakt kamen. Hannah Arendt (1906–1975) hat an dieser Denkmalpflege der Figur Rahels zukommt. Er meint mit dem Verb „hypostasieren“, dass einem Gedanken gegenständliche Realität untergeschoben wird. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in zwölf Bänden Band 4. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1977, S. 515–523. Siehe auch Henri Bergson: L’8volution cr8atrice. Paris 1907, S. 355 und Vladimir Jank8l8vitch: Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien. Paris 1957, S. 59. 11 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Bd. 1. Hrsg. von Michael Holzinger. Berlin 2013, S. 251. 12 Hannah Lotte Lund: Nachtthee, Networking und Emanzipation oder : Was macht eine Berliner SaloniHre 1799? In: In: Salondamen und Dienstboten. (Anm. 9), S. 2–9, hier S. 4. 13 Vgl. Liliane Weissberg: Introduction. Hannah Arendt, Rahel Varnhagen, and the Writing of (Auto)biography. In: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. First complete Edition. Hrsg. von Liliane Weissberg. Baltimore 1997, S. 3–69, hier S. 12.

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manches auszusetzen. Sie wirft Karl August Varnhagen Schönfärberei und sogar Fälschung vor.14 Arendt zufolge wurde auf der einen Seite die Sinnlichkeit, auf der anderen das Jüdischsein von Rahel durch Varnhagen verstümmelt. Er wollte ihr Bild in der Öffentlichkeit korrigieren, d. h. in einer Art und Weise gestalten, die den „sozialen Anstand“ nicht beleidigte.15 Varnhagen wusste jedoch, dass Worte und Briefe nicht Rahels Präsenz hätten wiedergeben können: Ich darf hier keine Schilderung meiner teuern Rahel versuchen; sie ganz zu kennen und zu würdigen kann ich niemanden zumuten, der nicht in anhaltender Fortdauer und in allen Beziehungen ihr vertrauter Lebensgenosse war ; denn selbst ihre Briefe, wie reich und eigentümlich auch die Quellen ihres Geistes und Gemütes dort sprudeln, geben nur ein unvollkommenes Bild von ihrem Wesen, dessen Hauptsache gerade die ursprüngliche, unmittelbare Lebendigkeit ist, wo alles ganz anders aussieht, leuchtet und schattet, erregt und fortreißt, begütigt und versöhnt, als irgend Bericht oder Darstellung wiederzugeben vermag.16

Es ist bekannt, dass Rahel Levin Varnhagen zur Weitergabe ihrer Persona an die Nachwelt beitrug und an der Auswahl der Briefe für das berühmte Buch des Andenkens beteiligt war.17 Im Jahr 1833, kurz nach ihrem Tod wurde eine private Briefausgabe von Varnhagen in Umlauf gebracht. 1834 folgte eine Ausgabe in drei Bänden durch einen renommierten Verlag. Das Buch des Andenkens ist als livre d’amiti8 zu verstehen, aber auch als Testament und mehr noch als ein „Denkmal“, welches nach ihrem Tod errichtet werden sollte, um den Worten Rahels „eine biblische Dimension“ zu verleihen.18 Ironischerweise wurde es später ,Das Buch Rahel‘ genannt, was gegenläufig zu dem von ihr befürworteten Konzept des „Naturmoments“19 war. Als Folge wurde das für Rahel als wesentlich Erachtete durch die posthume Darstellung ihrer Person überschattet. Sie hatte zur Gestaltung ihres geistigen und moralischen Profils beigetragen; allerdings konnte sie das Nachleben ihres Bildes nicht erahnen. Karl August Varnhagens zum Teil getreues Porträt seiner Frau beeinflusste maßgeblich die Rezeption ,Rahels‘. Die Versuchung, das Göttliche in Rahel bzw.

14 15 16 17 18 19

Hannah Arendt (Hrsg.): Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. London 1958. Weissberg: Introduction (Anm. 13), S. 14. Varnhagen: Denkwürdigkeiten (Anm. 11), S. 255. Weissberg: Introduction (Anm. 13), S. 15. Weissberg: Introduction (Anm. 13), S. 13. „Glücklich die schönen Gebilde eines lächelnden Naturmoments, die aller Menschenerfindung weit entrückt der kunstreichsten zum Vorbilde dienen können!“ Rahel Varnhagen: Brief an Delsner in Paris vom 27. Dezember 1821. In: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Hrsg. von Karl August Varnhagen. Berlin 1834, S. 56. Weissberg präzisiert, dass für Rahel der Naturmoment als Moment der Wahrheit zu verstehen ist, als Moment ihres Geständnisses. Vgl. Weissberg: Introduction (Anm. 13), S. 12.

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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das „Gottesgeschöpf“ in dem „echten Menschen“ zu sehen,20 beeinträchtigte die Richtigkeit des Bildnisses. In den folgenden Jahren veröffentlichte Varnhagen eine Reihe von Publikationen über Rahel und ihre Korrespondenten, wie eben die Bildnisse (1836).21

2.

,Herrlichkeit‘ und Gleichgewicht des ,Gemüths‘ und des ,Verstandes‘

Rahel Levin Varnhagen konnte die erotisch-ästhetischen Flirts von Henriette Herz nicht ertragen, da diese nie die Grenzen der „Tugend“ überschritt, aber zugleich eine Art von „Simulacrum“ ausstellte, die Rahel unangenehm war. Die jüngere SalonniHre erklärte und bewies in ihren Freundschaften, dass sie echte Frivolität für sinnvoller hielt. Ihre Äußerungen über die Freundin sind meistens negativ : sie wirft ihr einen Mangel an Vitalität und Spontaneität vor. 1809 drückt es Rahel sehr klar aus: Götter der Welt! Wie kann man bei so wenig Leben leben bleiben […] Hassen kann man sie nicht; fast muß man sie achten: vernichten aber möchte man sie […] aus Rührung möchte man die Herz getötet wissen. Mündlich die tiefste Rechenschaft hiervon: so viel nur! Sie spricht nicht von Unglück, ist auch bis zu solcher Tiefe nie gedrungen.22

Ein Jahr später, in einem Brief an Varnhagen, behält sie diesen Ton bei: „Mad. Herz lebt geputzt; ohne zu wissen, daß man sich ausziehen kann, und wie einem dann ist“.23 Die Geziertheit der älteren SalonniHre missbilligt sie 1811 immer noch, als sie aus Dresden berichtet: „Die Hofrätin Herz ist seit gestern hier ; ich habe sie heute abend in Körners Vorzimmer mit Meier gesprochen, sterile, affektiert.“24 Es wird dennoch im Buch des Andenkens der Versuch lesbar, die gegenseitige Achtung der zwei SalonniHren transparent zu machen. Nachdem das 1833 publizierte „Buch des Denkens für die Nachwelt“,25 nicht bloß als Briefsammlung, 20 Zitiert nach Petra Wilhelmy-Dollinger : Die Berliner Salons: mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin 1989, S. 83. 21 Karl August Varnhagen (Hrsg.): Galerie von Bildnissen aus Rahels Umgang und Briefwechsel. Leipzig 1836. 22 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Wilhelm von Humboldt vom 28. 6. 1809. In: Gesammelte Werke Bd. 9. Hrsg. von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München 1983, S. 40. 23 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Karl August Varnhagen vom 29. 11. 1810. In: Gesammelte Werke (Anm. 22). Bd. 4, Teil 2, S. 609. 24 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Karl August Varnhagen vom 29. 9. 1811. In: Gesammelte Werke (Anm. 22). Bd. 4, Teil 2, S. 622. 25 Der Ausdruck ist von Barbara Hahn. Rahel Levin Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hrsg. von Barbara Hahn. Göttingen 2011, S. 11–38, hier S. 11.

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sondern als Publikationsprojekt einer Autorin und ihres Herausgebers zu verstehen ist, haben Rahel Levin Varnhagens Äußerungen aus den letzten Jahren ihres Lebens über die „liebste Freundin“ Henriette Herz eine sinnstiftende Bedeutung: Einen Fehler haben Sie, und hatten Sie von je, liebste Freundin: Ihre zu große Bescheidenheit, die Ihnen nicht alle Selbstthätigkeit erlaubt, deren Sie durchaus fähig sind. Aber Ihnen schadet das weniger bei Ihren hohen Tugenden, denen Sie mit dem größten Talente Folge leisten. Haben Sie die Gnade, sich die Blätter von unserer Lotte geben zu lassen. Dann kommen sie mir ohnehin näher. – Verwahren Sie diese Karakteristik.26

Die Zuneigung, welche der heiklen Beziehung zwischen den beiden SalonniHren zugrunde lag, wurde schließlich an die Nachwelt weitergegeben. Rahel Levin Varnhagen bemühte sich 1830, nicht in einen unnachgiebigen Ton zu verfallen, während sie der Freundin deren Schwächen bewusst machte. Diese Sanftmut der letzten Lebensjahre, welche die Konflikte nuancierte, wird ohnehin 1832 von Rahel thematisiert.27 An Frauen und Männern bewunderte sie sowohl Persönlichkeit als auch Sinnlichkeit, wie die einer Pauline Wiesel (1778–1848). Es ging ihr nicht nur um die Bedeutung von Persönlichkeit,28 sondern auch um den Wert des Lebens als sinnliche Erfahrung. Rahels Freunde waren zum Beispiel Prinz Louis Ferdinand (1772–1806) und Friedrich von Gentz (1764–1832). Varnhagen betrachtete Rahels Vergleich zwischen sich und der verrufenen Pauline Wiesel als nicht sehr schmeichelhaft. Er bestand darauf, dass Paulines Charakter widersprüchlich war, während Rahels Außergewöhnlichkeit in der vollkommenen Einheit ihrer Eigenschaften begründet sei. Genie, Charakter und Instinkte verstärkten sich gegenseitig. Rahel betonte dagegen ihre Unzufriedenheit über den Mangel an Gleichgewicht zwischen ihrem eigenen Willen und ihrem Mut zu handeln. Sie wagte nicht zu tun, was in Einklang mit ihren Wünschen gewesen wäre, so ihr Vorwurf an sich selbst. Trotz ihrer Solidarität mit den ,Sündern‘ und den leidenschaftlichen Menschen, die die gesellschaftlichen Konventionen brachen, war Rahel Levin Varnhagen seit ihrer Jugend von Menschen umgeben, die aus einer Abstraktion ihr Bild gestalteten. Einen entscheidenden Beitrag zur Herstellung des Monuments ,Rahel‘ bzw. zur Hypostasierung Rahel Levin Varnhagens hat Henriette Herz geleistet. Insbesondere die Jahre 1833, 1834 und 1836/1837 erweisen sich 26 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Henriette Herz vom 13. 5. 1830. In: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Berlin 1833. S. 544. 27 Ebd. S. 568. Rahel Levin Varnhagen: Brief an Adolph von Willisen vom 25. April 1832. 28 Über Rahel Levin Varnhagens Äußerungen über die Persönlichkeit als „schärfste Bedingung“ und der „zu erreichende Grund unseres Bewusstseins“ siehe Otto Berdrow: Rahel Varnhagen: Ein Lebens- und Zeitbild. Stuttgart 1902, S. 396.

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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als Höhepunkte der Hypostasierung der verstorbenen SalonniHre. Herz’ Mitwirkung an diesem Prozess hatte viel mit ihrer eigenen Neigung zur Selbstgestaltung zu tun.29 Salons waren ideale Arenen der Selbstdarstellung. Die Andersartigkeit Rahel Levin Varnhagens, ihre Unbefangenheit, welche als Unbändigkeit missverstanden werden konnte, stimulierten Herz’ Bedürfnis, das Bild und die Persönlichkeit der anders eingestellten Rahel zu stilisieren. Damit wurden dem ,weiblichen Spielraum‘ innerhalb der Salon-Gesellschaft klare Grenzen gesetzt. Bereits 1807 wurde Rahel systematisch, so Karl August Varnhagen, „über jede Vergleichung“ erhoben.30 Madame Herz sprach von ihr immer als von etwas Einzigem, Unvergleichbarem, und wenn auch in das strömende Lob hin und wieder eigener Tadel einfloß, zum Beispiel von allzu großer Freiheit im Aussprechen ihrer Denkart und von zu geradem und selbstständigem Befolgen der eigentümlich gefaßten Überzeugung, wobei die Weiblichkeit zuweilen mehr Bewahrung des Scheins und wenn auch nur verstellten Einklang mit der Welt verlangen dürfte, so hatte sie es doch auf keine Weise hehl, daß sie vor ihr sonst in jeder wesentlichen Beziehung alle Segel strich.31

Eine solche Stilisierung und später, nach Rahels Tod 1833, die Hypostasierung der berühmten SalonniHre, zeigen eine gewisse Ambivalenz bezüglich des übertriebenen Strebens nach Stilreinheit, nach der reinen Lehre, nach Reinheit der Motive des Handelns. Ein gewisser Purismus von Henriette Herz’ Seite wird spürbar. Man denkt an den von ihr 1790 vermeintlich mit begründeten sogenannten „Tugendbund zur Pflege der Freundschaft“, der sich auf ethische Werte berief. Sogar die Sinnlichkeit wurde zur Tugend, wie eine bekannte Passage der von Fürst herausgegebenen Herz-Memoiren erahnen lässt: „Die Sinnlichkeit war, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit einer Art reinigenden Prinzips gemischt welches zu verletzen man sich scheute, und die ,Lucinde‘ ist gewissermaßen aus der Idee dieses Verbandes hervorgegangen.“32 In den Herz-Memoiren werden die wesentlichen Charaktereigenschaften von Rahel zusammengefasst, allerdings ohne ihr ein ganzes Kapitel zu widmen. Auf nostalgische Weise gibt Henriettes Biograph Fürst deren Meinung über Rahels Persönlichkeit wieder, eine Meinung, die sich im Laufe der Jahrzehnte nicht änderte. Die Briefe von Henriette Herz an Karl August Varnhagen, geschrieben zwischen 1830 und 1834, sowie die von Herz und der Maler-Poetin Auguste 29 Vgl. Marjanne E. Gooz8: Posing for Posterity. The Representations and Portrayals of Henriette Herz as ,Beautiful Jewess‘. In: Body Dialectics in the Age of Goethe. Hrsg. von Marianne Henn u. Holger A. Pausch. Amsterdam u. New York 2003, S. 67–95. 30 Varnhagen: Denkwürdigkeiten (Anm. 11), S. 251. 31 Ebd. 32 J. Fürst: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. 2., durchgesehene und vermehrte Aufl. Berlin 1858, S. 334.

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Paola Ferruta

Klein33 von 1833 an Karl August Varnhagen, bezeugen ihre Reaktion auf die Krankheit und den Tod Rahels. Nehmen Sie meinen Dank aus tief gerührtem Herzen für das unschätzbare Geschenk34 dessen Sie mich gewürdigt haben – ich hoffe, ich durfte es erwarten von Ihrer Güte da Sie wißen daß ich die Treffliche, die Verklärte geliebt u daß sie mir sehr freundlich war, wie Sie den[n] überhaupt Liebe u Güte war ; die Herrlichkeit ihres Gemüths war der ihres Verstandes gleich. Vergeßen Sie mein nicht.35

Diese Worte sind fast identisch mit der Beschreibung in den von Fürst herausgegebenen Herz-Memoiren, in denen Rahels Persönlichkeit definiert wird: Denn neben dem Geiste und der Freiheitsliebe welche sie schon damals vor allen Mädchen ihres Alters ausgezeichneten, war sie auch durch ein fühlendes Herz hervorragend, wie sie mir denn überhaupt immer für die schlagendste Widerlegung der Behauptung gegolten hat daß Herzensgüte nicht neben einem scharfen und kritischen Verstande bestehen könne.36

Das Motiv des Gleichgewichtes zwischen Gemüt und Verstand (oder „Geist“) von Rahel wird oft wiederholt, wie im Sommer 1833: Nicht ohne Zagen wage ich eine bitte an Sie, weil es eine unbescheidene ist mein werther Freund. Von vielen guten Freunden u Freundinnen werde ich gebeten, gequält ihnen das Buch [des Andenkens] zum Durchlesen zu leihen womit Sie mich so erfreut haben – ich kan[n] aber das Buch nicht mißen, nicht weil ich es noch nicht durchgelesen habe, das thue ich nicht u will es nicht, ich lebe aber – ja – ich lebe darin mit Rahel, staune ihren Geist an u drükke zärtlich ihr Gemüth an mein Herz, kurz, ich kan[n] das Buch weder jetzt noch je aus meinen Händen geben.37

Zusammen mit dem Gedicht Auguste Kleins, das Rahel ehrte, sandte Herz vier Monate später einen Brief an Varnhagen: Doch auch aus uns’rer Mitte leuchten Flammen, Und scheinen weit ins fremde Land hinein. Es drängt sich alles Große hier zusammen In Einer strahlt es milde hell und rein Im lichten Aether Ernst und Liebe schwammen Und Menschheit glänzt im hellsten Strahlen Schein 33 Auguste Klein, ,Mahler Poetin‘, in Italien mit Henriette Herz 1817–1819. 34 Gemeint ist hier der einbändige Privatdruck, Berlin 1833. 35 Biblioteka Jagiellonska, Krakau, Katalog von Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin 1911, S. 341. Henriette Herz: Brief an Karl August Varnhagen aus Berlin Charlottenburg vom 20.7 1833 [86]. 36 Fürst: Henriette Herz (Anm. 32), S. 197. 37 Biblioteka Jagiellonska, Krakau (Anm. 35). Henriette Herz: Brief an Karl August Varnhagen aus Berlin Charlottenburg vom 28. 7. 1833 [86].

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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Ja sie ist Frau bis in das höchste Leben Allein ein Geist vor dem wir tief erbeben.38

Wie diesen Briefen zu entnehmen ist, schloss Henriette Herz’ Purismus, ihre Stilisierung der Figur Rahels, eine affektive Bindung zu der Freundin nicht aus. Das Gleiche gilt für Karl August Varnhagen, der auch besonders nach 1833 den Mythos ,Rahel‘ konstruierte und pflegte. Für Herz ging es nicht nur um die imaginäre Denkmalpflege, sondern auch um das Phänomen des Todes und der Erinnerung an Verstorbene und Kranke. Die Briefe Henriettes aus den 1830ern zeigen ihre Beschäftigung mit Leidenden, Toten und Grabsteinen: Ich wende mich mit einer Bitte an Sie, werther Freund, deren Erfüllung Sie mir gewiß nicht versagen werden. Sie wißen wie unglüklich mein Schwager Natorff39 ist sein einziges Kind durch einen Zweikampf verloren zu haben u er will ihm gerne eine Inschrift auf seinem Grabstein eingraben laßen u hat mich gebeten ihm eine dazu paßende zu verschaffen, den[n] daß ich keine machen kan[n] weiß er – ich wende mich daher an Sie es zu thun u sie mir zuzuschikken oder, lieber, zu bringen. Jezt ist die geliebte Rahel allem irdischen Schmerz enthoben, sonst würde sie der Tod des Casperschen Kindes40 tief betrübt haben.41

3.

,Rahel‘ im theoretischen Gefüge der Saint-Simonisten

Die entschiedene Abneigung Rahel Levin Varnhagens gegen Stilisierung und Affektiertheit konnte die Hypostasierung ihrer Persönlichkeit, besonders nach ihrem Tod, nicht verhindern. Dieses Phänomen hatte eine transnationale Wirkung. Die Figur Rahel wurde in die Konstruktion einer jüdisch-weiblichen Hypostase seitens des Saint-Simonisten Gustave d’Eichthal (1804–1882)42 einbezogen. 38 Biblioteka Jagiellonska, Krakau (Anm. 35). Auguste Klein: Gedicht an Karl August Varnhagen aus Berlin Charlottenburg vom 26. 11. 1833 [100]. 39 Über das tödliche Pistolenduell Natorffs, Sohn eines Berliner Buchhändlers und Referendar beim Stadtgericht, mit von Canitz, hat Varnhagen in einer Korrespondenz der Allgemeinen Zeitung, Nr. 67, 8. März 1833, Beilage S. 267f. berichtet. Georg von Vincke war als Natorffs Sekundant in die Angelegenheit verwickelt, wie seinen Biographien zu entnehmen ist. Näheres dazu unter : Allerlei. (Der Wahnsinn des Herrn v. Canitz.). In: Wiener Fremden-Blatt 16/341 (14. 12. 1862). 40 Johann Ludwig Casper und Fanny Robert-Tornow (Tochter von Rahels Bruder Markus Theodor) hatten zwei frühverstorbene Töchter, Elise geb. 1824 und Bertha geb. 1829, deren Sterbedatum unbekannt ist, siehe Stammtafel in: Rahel Levin Varnhagen: Familienbriefe. Hrsg. von Renata Buzzo M/rgari Barovero. München 2009, S. 1474. 41 Biblioteka Jagiellonska, Krakau (Anm. 35). Henriette Herz: Brief an Karl August Varnhagen aus Berlin Charlottenburg vom 20. 6. 1833 [86]. 42 Französischer Publizist und Hellenist. Im Alter von dreizehn Jahren konvertierte er zum

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Paola Ferruta

Die Schüler und Nachfolger des französischen Sozialphilosophen ClaudeHenri de Saint-Simon (1760–1825) entwickelten eine Lehre und initiierten eine soziale Bewegung, welche die friedliche Umwandlung der kapitalistischen Klassengesellschaft in einen staatlich zu fördernden, religiös fundierten Genossenschaftssozialismus vorsah. Barth8lemy-Prosper Enfantin (1796–1864), das charismatische Oberhaupt der Bewegung, trat für die Abschaffung der Einehe und die Emanzipation der Frauen ein. Rahel Levin Varnhagen erwähnte in ihren Briefwechseln mehrfach den SaintSimonismus und kam in den 1820er Jahren selbst in Kontakt mit dessen Anhängern.43 Es gab ein gemeinsames theoretisches Substrat: die Philosophie von Louis Claude de Saint-Martin (1743–1803). Die Saint-Simonistische Lehre beruhte auf den Schriften dieses ,unbekannten Philosophen‘.44 Rahel hatte wiederum seine rationale Mystik studiert und Saint-Martins Schriften mitherausgegeben.45 Sie bekannte sich während ihrer letzten Lebensjahre ganz dezidiert zur saint-simonistischen Bewegung. Heinrich Heine (1797–1856) diskutierte aus Paris mit ihr das Gedankengut des Saint-Simonismus; zudem berichtete er über die Verbreitung dieser Ideen in Frankreich und in Europa. Er kommentierte noch 1837: „Doch habe ich noch einige Briefe, die sie [Rahel] mir über den St. Simonismus hierher schrieb und, ich denke, die das Bedeutendste sind, was je aus ihrer Feder geflossen“.46 In der Tat identifizierte sich ,Rahel‘47 völlig mit dem sozialen Diskurs der Saint-Simonisten. Am 5. Mai 1832 verdeutlichte die SalonniHre ihre Überzeugung: „Ich bin die tiefste Saint-Simonistin. Nämlich mein ganzer Glaube ist die Überzeugung des Fortschreitens, der Perfektibilität, der Ausbildung des Universums, zu immer mehr Verständniß und Wohlstand im höchsten Sein, Glück und Glückbereitung.“48

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Katholizismus, 1822 wurde er Schüler von Auguste Comte, der ihn in die Lehre Saint-Simons einführte. Marie-Claire Hoock-Demarle bekräftigt, dass Konrad Engelbert Oelsner Rahel vor 1828 die saint-simonistische Bewegung näher brachte. Vgl. Marie-Claire Hoock-Demarle: L’Europe des lettres: R8seaux 8pistolaires et construction de l’espace europ8en. Paris 2008, S. 248, Fn. 56. Der „Philosophe Inconnu“ war ein französischer Freimaurer, Philosoph, Theosoph und Mystiker. Vgl. Karl August Varnhagen (Hrsg.): Angelus Silesius und Saint-Martin: Auszüge. Leipzig 1834. Die Fußnoten wurden von Rahel Levin Varnhagen eingefügt. Heinrich Heine: Brief an Campe aus Paris vom 3. Mai 1837. In: Heine-Säkularausgabe Bd. 21. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin [u. a.] 1970ff., S. 204. Über die Entscheidung der Saint-Simonistinnen, nur den Vornamen zu benutzen, vgl. Lydia Elhadad: Femmes pr8nomm8es. Les prol8taires Saint-Simoniennes r8dactrices de ,La Femme Libre‘ 1832–1834. In: Les R8voltes Logiques 4 (1977), S. 62–88. Rahel Levin Varnhagen: Brief an Karl Schall vom 5. 5. 1832. In: Buch des Andenkens Bd. 3 (Anm. 26), S. 570.

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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Obwohl ,Rahel‘ über den Saint-Simonismus auf eine sehr überzeugte, fast religiöse Art und Weise schrieb, betrachtete sie diesen nicht als eine Religion, sondern vielmehr als eine säkulare Lehre.49 Ihre Begeisterung für die saintsimonistische Bewegung und ihre Lektüre der Zeitung Le Globe wurden durch ihr Interesse motiviert, politische und soziale Alternativen für die deutsche Gesellschaft zu finden. Hier haben Sie Globes. Le pain quotidien, welches man haben muß. Sie werden durch meine Striche und Worte sehen, was ich für schön, schön gesagt und wichtig finde; aber nicht, wie erschütternd und zerreißend, auch beglückend es auf mich wirkt: es trifft einen ganz lebendigen, geordneten Vorrat in mir an.50

Weiterhin nennt Rahel Le Globe „ihre ganze Nahrung“.51 Für den Publizisten d’Eichthal war eine Weltveränderung nur möglich, wenn eine Figur die Differenz an sich verkörperte, in diesem Falle die einer jüdischen Erlöserin.52 Diese Gestalt konnte dann, ähnlich wie im theoretischen Gefüge der Saint-Simonisten, in universalistische Begriffe übersetzt werden. Rahel Levin Varnhagen wurde für d’Eichthal zu einem Symbol einerseits für die Veränderbarkeit der geschlechtlichen Identität, andererseits für die ,Doppelnatur‘ des Jüdischseins. Rahel war zwar eine Frau, jedoch eine, welche der späteren Entwicklung seiner Theoretisierungen zufolge, die Zweigeschlechtlichkeit aller Wesen am besten darstellen konnte. In zweien seiner Briefe (1836/37) beruft er sich nicht direkt auf seine Entwürfe von 1836 über die „Doppelnatur der Juden“, doch seine Thematisierung der Berliner SalonniHre bleibt das einzige Beispiel, durch das seine Konzeptionen einen konkreten Wirklichkeitsbezug erhalten. Kurz nachdem er von einer Reise ins Habsburgerreich zurückgekehrt war, schrieb er seinem saint-simonistischen Freund Charles Duveyrier (1803–1866): Als ich Dir die Extrakte der Briefe von Gentz schickte, in denen er zu Mme. de Varnhagen sagte, dass in ihrer Beziehung sie der Mann und er die Frau gewesen sei; als ich hinzufügte, dass eine Beziehung dieser Art auch zwischen zwei Männern oder zwischen zwei Frauen existieren könnte, hatte ich unsere eigene Beziehung im Sinn; Gentz’ Denken hatte mir das zum ersten Mal zu Bewusstsein gebracht.53

49 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Pückler vom 8. 2. 1832. In: Gesammelte Werke Bd. 3 (Anm. 22), S. 555. 50 Rahel Levin Varnhagen: Brief an Adolph von Willisen vom 25. 4. 1832. In: Buch des Andenkens Bd. 3 (Anm. 19), S. 568. 51 Ebda. 52 Über die Saint-Simonisten und die jüdische Erlöserin vgl. Paola Ferruta: Die Saint-Simonisten und die Konstruktion des Weiblichen (1829–1845). Eine Verflechtungsgeschichte mit der Berliner Haskala. Hildesheim 2014. 53 Gustave d’Eichthal: Brief an Charles Duveyrier aus Montpellier vom 3. 5. 1837. Arsenal Bibliothek Paris, Fonds d’Eichthal, Ms. 13759 f 7.

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Zwischen 1824 und 1837 ergaben sich durch Gustave d’Eichthals Reisen nach Deutschland, durch Rahel und Karl August Varnhagens Annäherung an die saint-simonistische Sache nach 1830 und durch den wiederholten Austausch d’Eichthals mit Varnhagen um 1836 eine Anzahl von wechselseitigen Kulturtransfers, die das saint-simonistische Gedankengut weiter befruchteten. Dies trieb d’Eichthals darauf folgende geschäftliche Bestrebungen voran, und inspirierte sowohl seine Auffassung der Geschlechterbeziehungen sowie die einer jüdischen Erlöserin. Als Beweise für ein intensiveres persönliches Kennenlernen von d’Eichthal und Karl August Varnhagen im August 1836 dienen zum einen Varnhagens Tagebuch, zum anderen zwei Briefe. Einen schrieb d’Eichthal einige Tage nach einem gemeinsamen Aufenthalt im Kurort Ems an Varnhagen. Karl August Varnhagens Tagebuch vom Sommer 1836 weist zwischen dem 9. August und dem 16. September mehrere Einträge über Gustave d’Eichthal auf. Am 9. August, während seines Kuraufenthalts in Ems, notiert Varnhagen: „Gustav von Eichthal, den ehmaligen Saint-Simonisten, gesprochen; sehr erwünscht!“54 Und am 16. August vermerkt er seine Beobachtung über die politische Einstellung d’Eichthals: Mit Hrn von Eichthal fortgesetzte Unterhaltungen gehabt: er ist, ohne es zu bekennen und vielleicht mehr als er selbst es weiß, noch durch und durch Saint-Simonistisch, sehr von Österreich eingenommen, und in diesen Staat vieles hineindichtend; über alles spricht er geistreich, aber, wie mich dünkt, mit unzulänglicher Sachkenntniß, zu sehr wie ein Franzose. Seine Gesinnung ist edel, sein Streben ernst und aufrichtig.55

Den zweiten Brief sandte d’Eichthal am 25. Januar 1837 aus Wien. Dieser letzte Brief ist eine Huldigung der jüdischen Mission und der Zukunft Österreichs. Die Wahl Varnhagens und seine Einbeziehung in die Pläne zur Mission des „Volks der Väter“ begründet d’Eichthal mit den folgenden Worten: Israel ist „das Volk eines Menschen“, dem Varnhagen „sehr zugeneigt war“ –, gemeint ist Rahel.56 Der Brief offenbart die politischen Überzeugungen von d’Eichthal, der sich sehr bewusst entschieden hatte, seine Ideen öffentlich zu machen und für deren Umsetzung zu kämpfen. Der Saint-Simonist verfasste ein Manifest und wollte dieses in den Berliner intellektuellen Kreisen verbreiten. Und doch unter all den Völkern […] giebt es ein Volk, welches ich noch nicht genannt habe, und welches jedoch das größte von allen ist. – Es ist das cosmopolitische Volk, das von Gott auserwählte Volk, um unaufhörlich auf Erden das Organ seiner Offenbarung 54 Karl August Varnhagen: Tagebuch, Biblioteka Jagiellonska, Krakau, „Die Varnhagen von Ense’sche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin“, Tagesblätter von 1834 bis 1840. Tagesblätterkasten im Karton 252; darin Konvolut von „Reiseblättern 1836.“ 55 Varnhagen: Tagebuch (Anm. 54). 56 Biblioteka Jagiellonska (Anm. 35), S. 202, „Gustav von Eichthal, Saint-Simonist in Wien“: Brief an Varnhagen aus Wien, 25. 1. 1837 [55].

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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zu seyn. […] Wenn die Gegnerschaft der beiden Hemisphären aufhören soll, wenn der Orient und der Occident, der Christianismus und der Islamismus sich die Hände reichen sollen, obgleich Jede das heilige Gepräge der Charactere behalten soll, welche sie unterscheiden und trennen; wenn die Erde einstmals in ihrer eigenen Einheit der Spiegel der göttlichen Einheit werden soll, dann wird Oesterreich der p o l i t i s c h e P r i e s t e r dieser großen Vereinigung seyn, aber der religiöse Priester davon wird immer das Volk Gottes seyn.[…] ,Das Volk Gottes, sagt Saint-Simon im Anfange des nouveau christianisme, dieses Volk, welches alle Offenbarungen empfangen hat, welches am allgemeinsten über die ganze Erde verbreitet ist, hat immer eine neue Aera erwartet.‘ […] Seit Moses Mendelssohn hat eine große Bewegung in Israel begonnen, und währt noch fort. Man bemerkt sie nur wenig in Frankreich, und besonders in Paris, wo die Juden nur eine geringe Minorität ausmachen. Aber sie ist sehr bemerkbar in Deutschland, wo die Juden eine ganz andere Bedeutsamkeit haben.57

Eingesandt und übersetzt von Karl August Varnhagen, erschien der Brief bzw. der Text d’Eichthals über die ,Zukunft Israels‘ in der deutschen Zeitung Minerva.58 Varnhagen half d’Eichthal, seine Ideen in Deutschland zu verbreiten, blieb jedoch auf der intellektuellen Ebene skeptisch. In einem weiteren Eintrag von Varnhagen in seinem Tagebuch Anfang 1837 heißt es: Brief aus Wien von Gustav von Eichthal; das Wort, in welchem er jetzt lebt, ist ,Israel‘. Einen schwereren Gegenstand konnten seine Meditationen nicht wählen. Hier mehr noch, als bei jedem andern muß er aber positiv sein, die rechte Kenntniß mit dem rechten Sinn vereinbaren. Auf diesem Boden schlagen überspannte und dichterische Phantasien durchaus nicht Wurzel.59

D’Eichthal ging so weit, in Österreich eine ideale politische Regierung zu erblicken, die einen Mittelweg repräsentiere zwischen dem „Weg der Revolution“ Frankreichs und dem „Weg des Untertanentums“ der Türkei. Am bedeutsamsten aber bleibt seine Huldigung der Heterogenität der okzidentalen und orientalischen „Rassen“60 Österreichs, vor allem seine Verherrlichung des Judentums, dem er eine vorherrschende Rolle im Prozess der universellen Union zuwies.

57 Biblioteka Jagiellonska (Anm. 35), S. 202, Gustav von Eichthal, Saint-Simonist in Wien: Brief an M. … in Paris aus Wien vom Januar 1837, franz. [55]. 58 Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts 1/181 (1837), S. 553–562. 59 Varnhagen: Tagebuch, Biblioteka Jagiellonska, (Anm. 54), Dienstag den 31. 1. 1837. 60 Über den Begriff race bei d’Eichthal vgl. Lisa Moses Leff: Self-Definition and Self-Defense. Jewish Racial Identity in Nineteenth Century France. In: Jewish History 19 (2005), H. 1, S. 7–28.

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4.

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Das ,parallele Leben‘ der Salonnièren – Rahel Levin Varnhagens ,doppeltes Erbe‘

D’Eichthals Projekt fußte immerhin auf einer detaillierten finanziellen Planung. Im Dezember 1836 schickte er einen Brief an den Baron James von Rothschild, um ihn bezüglich einer finanziellen Unternehmung in der Sache der Emanzipation der österreichischen Juden anzufragen. D’Eichthals Ziel war es, die alte „jüdische Abgabe“ durch ein modernes Steuersystem zu ersetzen.61 Die gleiche Summe würde weiterhin an die österreichische Regierung gezahlt werden, die sich aber im Austausch für die Emanzipation der Juden engagieren solle. Er hatte eine Finanzreform vor, die durch die Erneuerung des gesamten Banksystems alle der österreichischen Monarchie zugehörigen Länder erreichen sollte. Um die Kreditvergabe zu vereinfachen und die Kommunikationswege durch Kanäle und neue Navigationssysteme zu verbessern fand er es unerlässlich, die Banken „der alten Schule, die der Handelsmänner-Bankiers“ abzuschaffen.62 D’Eichthal setzte alle seine Hoffnung in ausländisches Kapital, das an einer Gesellschaft für industrielle Investitionen mitwirken sollte, wie es in Belgien 1835 der Fall gewesen war. Sein Finanzplan hatte zwar mehrere Gemeinsamkeiten mit jenem, den die Gebrüder Pereire fünfzehn Jahre später mit der Gründung der Soci8t8 du Cr8dit mobilier, die sich bis nach Österreich erstreckte, einführten, doch wurde er zu diesem Zeitpunkt noch nicht genügend geschätzt, um die Rothschilds oder die Bankiers, die mit d’Eichthal verwandt waren, zu Taten zu veranlassen. Die von d’Eichthal in Deutschland vollzogene Projektion seines Weiblichkeitsideals auf die Person der verstorbenen Rahel Varnhagen, die er durch den u. a. von Henriette Herz und Karl August Varnhagen um ihre Person errichteten Mythos kannte, bestätigt die Funktion des Weiblichen als Katalysator von Ambivalenzen. Der Modernisierungsprozess wurde von Skepsis und einem das 19. Jahrhundert kulturtheoretisch kennzeichnenden permanenten Krisenbewusstsein begleitet. In diesem Zusammenhang wird ,die Frau‘ zum „zentralen Ort – key zone“ des Auftretens von „Ambivalenzen sowohl für Männer als auch für Frauen“.63 Diese Feststellung trifft auf der Mikroebene der saint-simonistischen Bewegung zu, indem die Gestalt der Erlöserin die Funktion eines Katalysators sowohl für Ambivalenzen als auch für den saint-simonistischen Kampf für soziale Gerechtigkeit übernimmt. Bei d’Eichthal handelte es sich um eine 61 Michael Graetz: Une initiative saint-simonienne pour l’8mancipation des Juifs. Lettres de Gustave d’Eichthal sur son voyage en Autriche. In: Revue des Ptudes Juives 129 (1970), H. 1, S. 67–84. 62 Graetz: Une initiative saint-simonienne (Anm. 61), S. 80. 63 Rita Felski: The Gender of Modernity. Harvard 1995, S. 210.

Henriette Herz, Karl August Varnhagen und ,Rahel‘ in den 1830er Jahren

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,jüdische Antwort‘ auf die saint-simonistische Mystik des Weiblichen. Die Metapher der Jüdin hat sich schließlich als saint-simonistischer ,vitalistischer Speicherort‘ formiert: für die jüdischen Mitglieder als Weg der Selbstbestimmung, für die übrigen Mitglieder teils als Mittel zur Überwindung überkommener Denkschemata, teils als ,Zauberformel‘ angesichts einer zunehmenden Fragmentierung der modernen Gesellschaft. Schließlich spielte der Messianismus der Saint-Simonisten, wenn auch indirekt, eine positive Rolle in der Beziehung der beiden berühmten SalonniHren. Die Begegnung mit der saint-simonistischen Lehre besänftigte Rahel Levin Varnhagens Strenge und Einseitigkeit. Sie trug zudem dazu bei, Rahels Entscheidung, sich taufen zu lassen (1814), mit dem eigenen Jüdischsein in Einklang zu bringen. Mein Beitrag versteht sich dementsprechend als eine Einladung, Rahels „doppeltes Erbe“64 sowie ihre letzten Worte einer saint-simonistischen Lektüre zu unterziehen: Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen […]. Lieber August, mein Herz ist im Innersten erquickt; ich habe an Jesus gedacht, und über seine Leiden geweint; ich habe gefühlt, zum ersten Mal es so gefühlt, daß er mein Bruder ist. Und Maria, was hat die gelitten. […] Das hätte ich nicht gekonnt, so stark wäre ich nicht gewesen. Verzeihe mir es Gott, ich bekenne es, wie schwach ich bin.65

In diesem Zitat stehen Judentum und Christentum im Vordergrund. Außerdem werden Schmerz und Schwäche zu existentiellen Aufforderungen: Rahel empfindet jedoch, dass sie beide nicht bewältigen könnte. Dies kontrastiert sowohl jegliche Hypostasierung als auch jede ausgedachte, zur Perfektion neigende Harmonisierung von widersprüchlichen Charakterzügen, welche die Rhetorik der Salongesellschaft suggeriert. Die Herz-Memoiren sind ein kalkuliertes Projekt: in ihnen wird sowohl die Persönlichkeit Rahel Levin Varnhagens als eine ausgewogene dargestellt, als auch der gegenseitig vorhandene Respekt zwischen den beiden Freundinnen betont.66 Trotz der unterschiedlichen Lebenswege beider SalonniHren vermitteln die posthum erschienenen Schriften der Nachwelt ein befriedetes Bild ihrer Beziehung. Aufgrund ihres Mangels an Wahrhaftigkeit konnte Henriette Herz keine Gesprächspartnerin für die politisch engagierte femme pr8nomm8e ,Rahel‘ sein. Für Letztere war die Notwendigkeit, einen Charakter zu würdigen, der 64 Der Ausdruck ist von Deborah Hertz. In: How Jews Became Germans: The History of Conversion and Assimilation in Berlin. Yale 2007, S. 215. 65 Rahel Levin Varnhagen: 2. 3. 1833. Notat von Karl August Varnhagen. In: Gesammelte Werke (Anm. 22), Bd. I, S. 43. 66 Der Herz-Biograph Fürst hat Rahels Brief an Henriette vom 13. Mai 1830 aus dem Buch des Andenkens zitiert. Vgl. Fürst: Henriette Herz. (Anm. 32), S. 9.

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andere Werte als sie vertrat, nicht von Beginn an nachvollziehbar. Auf der Grundlage ihres intellektuellen und politischen Engagements durchlief Rahel Levin Varnhagen aber einen über sich selbst hinausweisenden Prozess des Selbstverständnisses und fing an, Verständnis aufzubringen für das ,parallele Leben‘ der älteren SalonniHre, die 1817 zum Protestantismus übergetreten war.

Ulrike Schneider

„Ein Freund ist ein köstliches Kleinod das man zu schäzen, zu hegen u zu pflegen wißen muß u auch weiß sobald man es wirklich besizt.“1 – Der Briefwechsel von Henriette Herz und Ludwig Börne unter der Herausgeberschaft Ludwig Geigers Eine Freundin der Dorothea [Mendelssohn] war Henriette Herz, die schöne Frau eines bedeutenden Mannes […]. In ihrer Schönheit mehr als in ihrem Geist lag der Hauptreiz, den sie übte. Sie wurde der wahre Mittelpunkt einer großen Geselligkeit, in der die angesehensten und vornehmsten Männer und Frauen gern und oft verkehrten. Sie war die Freundin Schleiermachers und die angebetete Göttin des jungen Börne, sie war die Verkünderin neuer philosophischer Lehren und die Lobrednerin Goethes, als dieser in Berlin noch ein geringes Publikum hatte. Aber dieses geistige Interesse war bei ihr mehr Mode und Formsache als Wirkung eines nie rastenden geistigen Bedürfnisses. Sie war innerlich hohl, ,eine übertünchte Unwahrheit‘, wie sie ein Zeitgenosse nannte.2

Diese Einschätzung von Henriette Herz findet sich nicht allein in Ludwig Geigers Skizze zur jüdischen Gesellschaft Berlins, die er 1898 im Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur publizierte. In Vorträgen sowie Aufsätzen, in denen er sich im weitesten Sinne mit den jüdisch-christlichen Kommunikationsräumen des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigte oder in literarischen und historischen Abhandlungen zu prägenden Zeitgenossen und Zeitgenossinnen aus der Blütezeit der sogenannten Berliner Salons sowie aus späteren Jahren, bekräftigte Geiger (1848–1919) sein Urteil über die Berliner SaloniHre. Während die südländische „Schönheit“3 Henriette Herz – die als ein Verweis auf die sephardische

1 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 08. Januar 1806. In: Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Hrsg. von Ludwig Geiger. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Oldenburg u. Leipzig 1905. Eschborn bei Frankfurt a. M. 2000, S. 157. 2 Ludwig Geiger : Die jüdische Gesellschaft Berlins im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur Heft 1 (1898), S. 190–215, hier S. 193. Vgl. weiterhin Ludwig Geiger : Henriette Herz, Bettine von Arnim, Charlotte Stieglitz. In: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens Heft 2 (August 1895), S. 71–80. 3 Vgl. Ludwig Geiger : „Mit der Schönheit der Südländerin vereinte sie nicht deren Reizbarkeit und leicht sinnliche Erregbarkeit. Ob ein gefesteter Tugendbegriff und starkes Pflichtgefühl oder Lässigkeit und Bequemlichkeit ihr stärkere Waffen in die Hand gab, um die stürmischen Angriffe kecker Jünglinge ebenso abzuschlagen wie die raffinierten Bemühungen älterer Männer, ist heute schwer feststellbar, zumal der größte Teil ihres Briefwechsels von ihr ver-

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Herkunft des Vaters Benjamin de Lemos gelesen werden kann – von ihm hervorgehoben wird, steht dieser eine von ihm attestierte „geistige Unreife“4 gegenüber. Mit dieser Typisierung knüpft er an Überlieferungen und Rezeptionsmuster des Kreises um Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) und Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) an.5 Die „Unreife“ wird wiederum in Stellung gebracht zu einer „sittliche[n]“6 Vollkommenheit, die Herz gegenüber Dorothea Schlegel (1764–1839) auszeichne. Als Gegenbild der „geputzten“, aber intellektuell leeren Schönheit dient ihm Rahel Levin Varnhagens tätiger Geist und deren philosophische Begabung. Trotz dieser despektierlichen Beschreibung von Henriette Herz unterstreicht Geiger stets ihre große Bedeutung für den „Glanz des gesellschaftlichen Lebens jener Zeit“7. Der auch in Bezug auf Henriette Herz von Geiger betonte und verteidigte jüdische Beitrag zur deutschen Kultur und Literatur bildete einen wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeiten des Literaturhistorikers. Ludwig Geiger, Sohn des Rabbiners, jüdischen Gelehrten und Wegbereiters des liberalen Judentums Abraham Geiger (1810–1874), war nicht nur einer der bedeutendsten Goetheforscher seiner Zeit und 1880 Begründer des Goethe-Jahrbuchs. Im Zuge seiner akademischen Außenseiterposition, die sich aus der Weigerung ergab, durch Konversion einen regulären Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin zu erhalten und anstelle dessen er das Plädoyer für die „Gleichberechtigung jüdischer Gelehrter“8 setzt, rückte er zwei bisher marginale

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nichtet wurde.“ In: Ludwig Geiger : Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 5–35, hier S. 7. Geiger : Jüdische Gesellschaft (Anm. 2), S. 194. Vgl. Geiger : Briefwechsel (Anm. 1), S. 5–35, hier S. 14. „Die bösen Worte des Varnhagen’schen Kreises ohne weiteres durch Behauptung abzutun, daß die Mitglieder dieser Goterie nur aus Neid so über Henriette geurteilt hätten, geht nicht an. […] Henriette fehlte jedes produktive Talent, es mangelte ihr an voller geistiger Selbständigkeit. Sie verstand zu hören und zu fragen und machte daher bei geistvollen Männern und Frauen den Eindruck tiefen Verständnisses und selbsttätigen Eindringens […].“ Vgl. Rahel Levin Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Hrsg. von Barbara Hahn. Göttingen 2011, S. 119 (Brief Nr. 428, 19. Juni 1809: „Und ich komme vor meinem Erstaunen nicht zurück! Mit der [Henriette Herz] gehen kluge Männer um? dies bewundern sie? halten (sie) sie aus? Mehr hat sie ihnen nicht nachdenken gelehrt? […] Rein gemein ist’s; Dumpfheit zu ehren; und sich von ihr ehren zu lassen, ohne Einsicht, um nicht an Wundes in sich, oder Grauses für den Geist, oder Ungefälliges für die Welt, zu kommen!“); S. 129 (Brief Nr. 429, 28. Juni 1809: „Mad. Herz habe ich zu sprechen gesucht. Götter der Welt! wie kann man bei so wenig Leben leben bleiben! […] Hassen kann man sie nicht; fast muß man sie achten: vernichten aber, möchte man sie.“). Vgl. weiterhin: Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens. 6 Bde. Hrsg. von Ludmilla Assing. Leipzig 18713 sowie Karl August Varnhagen von Ense: Tagebücher. 14 Bde. Hrsg. von Ludmilla Assing. Leipzig, Zürich u. Hamburg 1861–1870. Geiger : Jüdische Gesellschaft (Anm. 2), S. 194. Ebd., S. 191. Hans Dieter Holzhausen: Ludwig Geiger (1848–1919). Ein Beitrag über sein Leben und sein

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literaturwissenschaftliche Bereiche ins Zentrum seiner Arbeiten: Zum einen die Untersuchung einer deutschen Literatur jüdischer Autoren, die dem Gedanken einer deutsch-jüdischen Symbiose verpflichtet war. Die auf dieser Prämisse gründende Literaturgeschichtsschreibung enthält jedoch ein nicht unproblematisches und idealisiertes Verständnis deutschsprachiger Literatur, die die Zeit von der Renaissance und des Humanismus bis zur Gegenwartsliteratur des 19. Jahrhunderts umfasst. Zum anderen war er einer der ersten Literaturwissenschaftler, die durch biographische Abhandlungen, Briefausgaben und thematische Analysen den künstlerischen Leistungen von Schriftstellerinnen und Dichterinnen, wie Karoline von Günderode (1780–1806), Fanny Lewald (1811–1889), Therese Huber (1764–1829) und Dorothea Schlegel, ein erweitertes wissenschaftliches Interesse sowie Anerkennung entgegenbrachten. Dabei bezieht er sich auf die in vereinzelten Abhandlungen thematisierte Darstellung der jüdischen Autorinnen in der Romantik9 und rekurriert weiterhin auf die Rezeption der jungdeutschen Autoren, die Vertreterinnen wie Rahel Levin als Botinnen der weiblichen Emanzipation begriffen.10

Die Edition des Briefwechsels Wichtigstes Indiz für Geigers Interesse an dichtenden Frauen sowie den Berliner SaloniHren sind die in seiner Nachlassbibliothek vorhandenen Werke. Sie sind Teil eines 1600 Bände umfassenden Bestandes zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Dieser, ebenso wie 1500 Schriften zur Goetheforschung, 600 Bücher zur Literatur der Renaissance und des Humanismus sowie 530 Werke zur Geschichte Berlins und zur europäisch-jüdischen Geschichte, bilden den überlieferten Gesamtbestand von 7300 Bänden.11

Werk unter dem Aspekt seiner Bibliothek und weiterer Archivalien. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte (1991), S. 245–269, hier S. 245. 9 Vgl. den Beitrag „Die Töchter der Haskala. Die jüdischen SaloniHren aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung“ von Christoph Schulte in diesem Band. 10 Vgl. Karl Gutzkow: „Wer einst die organische Entwicklung unserer neuen Literatur zeichnen will, darf den Sieg nicht verschweigen, den drei durch Gedanken, ein Gedicht und eine That ausgezeichnete Frauen über die Gemüther gewannen. Mit Rahel zeichnete sich die höhere Empfänglichkeit, bis zu der es weibliche Wesen bringen können, gegen die Folie der gewöhnlichen Frauenbildung ab. Bettina warf auf das Antlitz zahlloser Frauen den rosigen Abglanz einer freieren Anschauung der Menschen und Dinge.“ In: Karl Gutzkow: Vergangenheit und Gegenwart 1830–1838. In: Jahrbuch der Literatur. Hrsg. von Heinrich Heine. Bd. 1. Hamburg 1839, S. 1–110, hier S. 37. 11 Vgl. Holzhausen: Ludwig Geiger (1848–1919) (Anm. 8), S. 247f. Während Manuskripte, Entwürfe oder Briefe des Berliner Wissenschaftlers nur noch bedingt existieren, hat ein großer Bestandteil seiner Arbeitsbibliothek die NS-Zeit in der Stadtbücherei Wilmersdorf

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Zu Henriette Herz finden sich in der Bibliothek, neben der von Geiger selbst als ungenau und zweifelhaft apostrophierten Ausgabe Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen von J. Fürst von 1850, die Ausgabe der Erinnerungen von Hans Landsberg aus dem Jahr 1913 – Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit – sowie der 1896 in der Zeitschrift Litterarische Mittheilungen veröffentlichte Auszug aus den Jugenderinnerungen von Henriette Herz. Diesem wird im Vorwort bescheinigt, dass [diese] Handschrift der Jugenderinnerungen, welche zum ersten Male in ihrer richtigen Fassung und ohne Weglassung nachfolgend mitgetheilt werden, [von] Henriette Herz noch bei ihren Lebzeiten an Frau Luise Wolff geschenkt [Tochter des Pastors Wolff, der Herz in Zossen getauft hatte] [wurden], aus deren Nachlass sie an unser Mitglied Prof. Dr. [Heinrich] Hahn und durch Schenkung desselben an das Litteraturarchiv in Berlin gelangte.12

Darüber hinaus hat Ludwig Geiger selbst als Herausgeber der nur rudimentär erhaltenen Briefe von Henriette Herz fungiert. Im Vorfeld einer elfbändig konzipierten Werkausgabe der Schriften und Briefe von Ludwig Börne (1786–1837), die ab 1911 veröffentlicht wurde, aber letztendlich nur sechs Bände umfasste, gab Geiger 1905 in der Schulze’schen Hof-Buchhandlung den Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz heraus. Die von Geiger vorgelegte Ausgabe enthält 110 Dokumente, der Großteil besteht aus den Briefen, die von 1803 bis 1807 verfasst wurden, ein Teil des Materials bilden Tagebuchaufzeichnungen Börnes sowie Briefe an seine Eltern und Freunde. In der editorischen Vorbemerkung zeigt der gewissenhafte Philologe den Quellenbestand an und deutet auf die Differenz zu Fürsts Arbeitsweise hin, wenn er die originalgetreue Wiedergabe der Herz’schen Briefe aus der „Börne-Administration in Frankfurt a. M.“13 betont. Weiterhin verweist er auf die Abschrift von Börnes Briefen aus der Sammlung Varnhagen in der Königlichen Bibliothek in Berlin, da dessen Originalbriefe, der zur Zeit der Korrespondenz noch den Namen Louis Baruch trug, nicht mehr vorhanden seien.14 Das Anliegen der von Geiger betreuten Fassung von Börnes Werken, welche sich auf den Briefwechsel übertragen lässt, besteht seinen Ausführungen in der Einleitung zufolge in einer „historischkritische[n] [Ausgabe]: historisch, indem sie die Schriften nach ihrer Zeitfolge ordnet, kritisch, indem sie sich nicht mit einem bloßen Abdrucke begnügt, sondern die verschiedenen Drucke vergleicht und die Abweichungen der einüberdauert und ist 2005 als Dauerleihgabe an das Moses Mendelssohn Zentrum übergeben worden. 12 Henriette Herz: Jugenderinnerungen. In: Mittheilungen aus dem Literaturarchiv in Berlin Litteraturarchiv-Gesellschaft 56 (1896), S. 6. Online verfügbar unter : http://sophie.byu.edu/ sections/jugenderinnerungen-von-henriette-herz [01. 01. 2017]. 13 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 1 u. S. 3. 14 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 3.

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zelnen Editionen verzeichnet.“15 Des Weiteren sollten durch umfangreiche Einleitungen die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Schriften, die zeitgeschichtlichen Kontexte sowie das biographische Netzwerk Börnes erläutert werden. Die Einleitung zu dem Briefwechsel zwischen Herz und Börne bildet das umfassendste Dokument der Beschäftigung mit der Berliner Jüdin Henriette Herz seitens Ludwig Geigers. Eine erste Darstellung zu Herz unternahm Geiger in seiner Geschichte der Juden in Berlin von 1871, in der er auch auf deren Freundschaft zu Schleiermacher verwies. Darüber hinaus verfasste Geiger einen 1880 in der Allgemeinen Deutschen Biographie erschienenen, relativ detaillierten Artikel zu Henriette Herz. In diesem operiert er mit der zu Beginn angeführten Zuschreibungskategorie der Schönheit und ergänzt sie um die Eigenschaft der Eitelkeit. Hervorgehoben werden vor allem die Freundschaften zu Friedrich Schleiermacher und Ludwig Börne, die sich jedoch unterschieden: Während Börnes Interesse von Leidenschaft motiviert gewesen sei, zeichne die Beziehung zwischen Herz und Schleiermacher das Charakteristikum einer „geistigen“ Verbundenheit aus: Zwei ihrer Freundschaftsverhältnisse haben aber besonders viel von sich reden gemacht: das mit Schleiermacher und mit Börne. […] Börne sah […] 1827 in Berlin die früher leidenschaftlich geliebte Frau mit wesentlich anderen Empfindungen wieder und lieh seiner Enttäuschung mitunter scharfe Worte. Das Verhältniß mit Schleiermacher gehört zu den idealen Freundschaftsbündnissen, an denen gerade jene Epoche ziemlich reich war. In diese Freundschaft mischte sich keine Liebe und keine Leidenschaft, sogerne sinnlichere Freunde, wie Friedrich Schlegel, eine solche voraussetzten, bedächtigere Rathgeber vorwurfsvoll das Haupt schüttelten, und der Berliner Volkswitz sie karikirte, es war ein inniges, geistiges und gemüthliches Zusammenleben, das niemals eine Trübung oder gar Störung erlitt.16

15 Ludwig Geiger : Vorwort. In: Ludwig Börne. Erster Band. Jugendschriften. Hrsg. v. Ludwig Geiger u. Leon Zeitlin. / Dramaturgische Blätter I. Hrsg. v. Erwin Kalischer. Berlin, Leipzig, Wien u. Stuttgart 1911, S. X. Die Herausgeber der Wiederauflage der Briefe zwischen Jeanette Wohl und Ludwig Börne (der neunte Band der von Geiger edierten Werkausgabe) Renate Heuer und Andreas Schulz betonten in dieser die wichtige Leistung Geigers im Hinblick auf die Werkausgabe. Vgl. Renate Heuer u. Andreas Schulz (Hrsg.): Ludwig Börne, Jeanette Wohl. Briefwechsel (1818–1824). Edition und Kommentar. Berlin u. Boston 2012, S. LXX. 16 Ludwig Geiger : Herz, Henriette. In: Allgemeine deutsche Biographie 12 (1880), S. 258–260, hier S. 259. Online unter : https://www.deutsche-biographie.de/gnd118550152.html#adb content [10. 08. 2016]. Die spätere biographische Darstellung von Ingeborg Drewitz in der Neuen deutschen Biographie von 1969 unterscheidet sich von Geigers Darstellung und ist einerseits von feministischen andererseits von sozialgeschichtlichen Aspekten stärker geprägt. Vgl. Ingeborg Drewitz: Herz, Henriette Julie. In: Neue deutsche Biographie 8 (1969), S. 728–729. Online unter : https://www.deutsche-biographie.de/sfz30409.html#ndbcontent [10. 08. 2016].

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Im Folgenden soll anhand des Briefwechsels sowie dessen Einleitung die Intention des Herausgebers rekonstruiert sowie das von Geiger intendierte Interpretationsmuster zu Henriette Herz hinterfragt werden. Zuvor wird der Briefwechsel vorgestellt, um einerseits das darin dokumentierte Verhältnis zwischen Henriette Herz und Ludwig Börne aufzuzeigen, andererseits thematische Schwerpunkte der Korrespondenz zu benennen. Abschließend gilt es zu prüfen, welche Kategorien Geiger ins Feld führt, über die die Frauen bzw. SaloniHren als Dichterinnen klassifiziert werden.

Grundzüge des Briefwechsels zwischen Henriette Herz und Louis Baruch Welche Augen! Welch ein holdes Lächeln! Welche Freundlichkeit umfließt den Mund! – Ich habe keine Worte. – Wer die Sprache erfand, hatte kein Gefühl für Schönheit; das erste schöne Weib hätte seiner Erfindung gespottet. Ich kann mich recht ärgern, wenn man Mad. Herz lobt. Wie kann man gar eine solche Frau loben? – Bewundern, anbeten muß man sie. Wenn ich Madam Herz spreche, so schwindet alles um mich her im eigentlichen Sinne des Wortes, ich höre und sehe nichts außer sie.17

Dies sind nur einige Beispiele der vielfältig vorhandenen Verehrungs- und Liebesbekundungen Louis Baruchs gegenüber Henriette Herz, oftmals innerhalb des Briefwechsels durch Tagebuchäußerungen ergänzt, aber auch in Briefen an Herz artikuliert. Bis zur Übersiedlung Baruchs nach Halle im Juli 1803 finden sich zahlreiche Sehnsuchtsbeteuerungen, Selbstmitleidsbezeugungen, sogar Selbstmorddrohungen in den Aufzeichnungen, die der 16-Jährige leidenschaftlich führte, zugleich aber auch selbstironisch kommentierte, wenn er am 20. April 1803 darüber nachsinnt, ob er „Mad. Herz jezt nicht blos aus Gewohnheit liebe, oder aus Trägheit“18. Louis Baruch, der sich erst nach seiner Konversion 1818 Karl Ludwig Börne nannte, kam auf Anfrage seines Vaters im November 1802 in das Haus von Marcus und Henriette Herz, um dort für das Medizinstudium qualifiziert zu werden. Für den jungen Baruch bedeutete die Ankunft in Berlin die Konfrontation mit einer neuen Lebenskultur. Im Gegensatz zur Enge des ehemaligen Frankfurter Ghettos, in dem seine Eltern noch bis 1811 lebten und das Börne 17 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 09. November 1802. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 38; Ebd.: Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 18. April 1803, S. 64 sowie der Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 20. April 1803, S. 74. 18 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 20. April 1803. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 72.

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später als „engsten, spitzesten Krähwinkel [Deutschlands]“19 bezeichnete, ermöglichte Berlin und insbesondere das Haus Herz mit seinen laut Hannah Lotte Lund spezifischen „Kommunikations- und Geselligkeitsformen“20 den Zugang zu neuen säkularen Wissensgebieten sowie die Teilhabe an aktuellen Debatten. Die Differenz zwischen den beiden Lebensräumen verkörperte für Baruch aber vor allem Madame Herz, die nicht allein „4 fremde Sprachen“ beherrschte – „haben Sie das je von einer Frau gehört?“21 –, und ihn nicht nur mit ihrem Wissen und ihrer gesellschaftlichen Gewandtheit beeindruckte, sondern ebenfalls durch „ihre Liebenswürdigkeit“, „Menschenliebe“22 und ihr Interesse an seiner Person ein Lebenskonzept repräsentierte, das die Frankfurter Herkunftswelt gänzlich in den Schatten stellte. Während die frühen Berliner Briefe Baruchs Distanzierung, Zurechtweisungen und Ermahnungen von Seiten Henriette Herz’ hervorrufen, verdeutlicht die spätere, während Baruchs Zeit in Halle geführte Korrespondenz ein anders akzentuiertes Briefgespräch: Neben die anfangs noch häufig geäußerten Ermahnungen treten vielfältige Themen, über die Positionierungen dargelegt, verhandelt und in einem ebenbürtigen Dialog ausgetauscht werden: „Ich kann es immer noch nicht fassen, meine liebe Mutter, und oft dünkt mir’s es sey nicht wahr, daß Sie mich des Glücks würdigen, mich schriftlich mit Ihnen unterhalten zu dürfen, daß Sie meine Briefe lesen, und sie beantworten.“23 Die geographische Entfernung verlagert den Austausch auf die Ebene der Schriftlichkeit, mit der beide nicht allein zunehmend gleichberechtigter und offener agieren, sondern auch verstärkt private Erfahrungen seitens Herz’ sowie gesellschaftlich-kulturelle Aspekte ins Zentrum rücken. Die verallgemeinernde Aussage Geigers innerhalb der Einleitung, die Briefe von Henriette Herz seien allein als „Sammlung ständiger Mahnungen“24 zu lesen, berücksichtigt nur bedingt diesen neuen Kommunikationsraum. Denn anhand der Briefthemen treten die charakteris19 Börne zitiert nach: Willi Jasper : Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie. Hamburg 1989, S. 47. 20 Hannah Lotte Lund: Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte. Berlin u. Boston 2012, S. 59. Lund plädiert in ihrer Dissertation explizit für ein neues Verständnis des „Salons“, der von ihr nicht als „Ort ,zwischen den Sphären‘“ verstanden wird, sondern anhand dessen vielmehr aufzeigt werden kann, dass „Frauen und Männer des 18. Jahrhunderts sich nicht in festgelegten Rollen und Sphären bewegten, sondern eine Vielfalt an Rollen und Verantwortlichkeiten durchlebten und sich abhängig vom Kontext und der Situation verschieden repräsentieren konnten und mussten.“ In: ebd., S. 69. 21 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 13. November 1802. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 39. 22 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 28. Februar 1803. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 49. 23 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 24. Dezember 1803. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 97. 24 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 20.

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tischen Unterschiede zwischen beiden hervor, die nicht allein durch die Verteilung der Rollen als mütterliche Freundin („liebe Mutter“, so die Anrede Baruchs) und junger Zögling („mein lieber Louis“, so die Anrede Herz’) evoziert werden, sondern vielmehr aus den persönlichen Veranlagungen, erziehungsund sozialgeschichtlichen sowie kulturellen Zusammenhängen resultieren und zum Teil generationell bedingte Abweichungen aufzeigen. Ein weiteres Element ist das bereits für Immanuel Bekker konstatierte Einwirken Herz’ auf ihren eigensinnigen Briefpartner, um diesen durch Liebenswürdigkeit zur Geselligkeit zu befähigen und in ihre Gesellschaftsräume einzuführen.25 So schildert Henriette Herz dem jungen Baruch ihre nach dem Tod von Marcus Herz zunehmend prekäre Situation vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Schranken, die ihr als Jüdin und Frau gesetzt waren. Ihre Reflexion über den Status als Jüdin verkennt weder die Grenzen, die das christlich-jüdische Verhältnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts betreffen, noch die geforderten Reglements, innerhalb derer ihre Handlungen bewertet werden: Ich weiß daß die meisten von den gewöhnlichen Menschen es gern gesehene hätten wenn ich das harte Schicksal das mich traf mit weniger Stärke ertragen hätte, u sehr gerne würden sie es gesehen haben wenn ich mich mit meinem jetzt eingeschränkten Leben unzufrieden ich mich abhängig gemacht hätte von ihnen –. Ich lebe auf keinem Schloß, mein guter Louis, sondern in den kleinen Stuben die Sie einrichten sahen – u habe auch weiter keine besondere Beziehungen auf eine Fürstinn als daß ich die jüngste Princeß von Curland ins englisch unterrichte […]. […] nicht leicht mag es Fürstlichkeiten u gar von königlichem Geblüt vorgekommen sein, mit einer Bürgerin – einer Jüdin – an einem Tisch zu essen – wie ich nehmlich bei der Herzogin [von Kurland] schon mit solchen gegeßen habe.26

Daneben erörtert sie die Einschränkungen ihrer weiblichen Existenz, die eine unvollendete bleiben müsse, da sie im Gegensatz zum männlichen Gegenüber weder „die innere Welt“ noch das „äußere Leben“27 sichern könne. Die den Geschlechtern zugeschriebenen Rollen bedeuten für Herz den Rückzug in einen verbindlich festgelegten, privaten und halböffentlichen Raum. Bestand doch die Annahme eines „äußere[n] Gewerbe[s]“28 allenfalls in wenigen Ausnahmen für bürgerliche Frauen, z. B. in einer Tätigkeit als Erzieherin, während dies für Jüdinnen allein durch eine Konversion möglich war. Aus dieser Perspektive einer doppelten gesellschaftlichen Marginalisierung erscheint die Option, eine „in25 Vgl. den Beitrag „Sprechen und Schweigen in der Korrespondenz von Henriette Herz und Immanuel Bekker“ von Selma Jahnke in diesem Band. 26 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 20. März 1804. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 110. 27 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 24. März 1806. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 160. 28 Ebd.

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nere Welt“ durch eine äußere Existenz zu gestalten, in Vorbereitung des Emanzipationsprozesses als zweifach hohes Gut, weshalb sie die Forderung an Baruch stellt, die innere Entwicklung mit der Sicherung der „bürgerlichen Existenz“29 zu verbinden. Dieser Mahnung zur sozialen Festigkeit, um eine innere Freiheit zu verwirklichen, steht jedoch das Unverständnis Baruchs gegenüber, der seine „Persönlichkeitsrechte“30 vehement verteidigt und die Entwicklung seiner eigenen Individualität unabhängig von einer gesicherten bürgerlichen Existenz betreiben will. Auch er reflektiert den diffizilen Status seiner gesellschaftlichen Situation, der sich aus der jüdischen Herkunft ergibt – „Jung, wie ich bin, und ohne Stand und Würde, wer hätte nöthig mich zu fürchten? […] Wenn sie erst kommen und dir sagen, daß du ein Jude bist, wenn sie den Mauschel beohrfeigen, daß man sich kranklachen möchte.“31 –, setzt dieser Herabsetzung aber einen kämpferischen Impuls entgegen, der im Jahr 1806 aus der politischen Umbruchsituation und der Hoffnung auf eine bürgerliche Gleichstellung im Zuge der Gründung des Rheinbundes resultierte. Die unterschiedliche Reaktion auf ihre jeweilige (geschlechtsbedingte) soziale Stellung offenbart letztendlich die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Briefpartnern. So kann der von Herz für Baruch eröffnete Zutritt zu ihren Netzwerken nicht zum Umschwung seiner Lebenshaltung beitragen. Weder ihre Empfehlung an den christlichen Mediziner Professor Johann Christian Reil (1759–1813) nach Halle, in dessen Haus er Unterkunft findet, noch ihre Vermittlung an den Freund Friedrich Schleiermacher (1768–1834) führen – trotz seiner anfänglichen Begeisterung für diesen („Schleiermacher ist ein wahrhaft göttlicher Mensch“)32 – zu nachhaltigem Einfluss auf den jugendlichen Freigeist und nicht gerade strebsamen Zeitgenossen. Der Umgang mit beiden verstärkt vielmehr seine kritische Haltung bzw. bildet diese erst aus. Laut Norbert Altenhofer sieht Baruch um 1805 in dem angepassten Verhalten von Herz und Schleiermacher einen Verrat an „den Errungenschaften der frühromantischen Geselligkeitstheorie, Psychologie und Liebesethik samt ihrer antibürgerlichenkulturrevolutionären Konsequenzen“.33 Das „grausame Vorurtheil“, welches Baruch für die ältere Generation der „Männer und Frauen“ gegenüber den „Jünglingen und Mädchen“ seiner Generation konstatiert, verhindere ein „Vertrau29 Altenhofer, Norbert: Henriette Herz und Louis Baruch – Jeanette Wohl und Ludwig Börne. In: Ludwig Börne (1786–1837). Zum 200. Geburtstag des Frankfurter Schriftstellers. Hrsg. von Alfred Estermann. Frankfurt a. M. 1986, S. 211–221, hier S. 215. 30 Altenhofer : Herz und Baruch (Anm. 29), S. 215. 31 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 26. Juli 1806. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 169. 32 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 13. November 1804. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 126. 33 Altenhofer : Herz und Baruch (Anm. 29), S. 215.

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en“,34 das als Grundlage einer gemeinsamen Beziehung angesehen wird und in einem gleichberechtigten Gespräch besteht, welches der Ausbildung der eigenen Individualität dient. Dieses Vertrauen, das aufgrund der vermeintlichen Weltklugheit und der psychologischen Überlegenheit der Älteren nicht erwachsen kann, kann Baruch gerade im Hinblick auf Schleiermacher nicht ausbilden, im Gegensatz zur Freundschaft zu Henriette Herz trotz der bestehenden Abweichungen, da diese ihn als gleichrangigen Gesprächspartner betrachtet.

Ludwig Geigers Einordnung des Briefwechsels „Adieu lieber Louis, sein Sie etwas weniger genialisch, oder verschieben sie es bis Sie mehr Stoff gesammelt um die Genialität die ich übrigens verehre wie sichs gebührt, auf etwas wirken zu laßen und zu wirken.“35

Weder charmant-geistvolle Zitate wie dieses, aus einem Brief von Herz an Baruch aus dem Jahr 1805, noch die eingehende Analyse der Briefinhalte bilden das Zentrum von Ludwig Geigers Einleitung zum Briefwechsel. Obgleich der Vorstellung des Lebens von Henriette Herz dem Seitenumfang nach der größere Teil gewidmet ist, da sie weitaus „weniger bekannt“36 sei als Ludwig Börne, ist das Interesse Geigers primär auf Börne ausgerichtet. Über die abgedruckten Briefe könne, so die Absicht Geigers, Börnes „allmähliche“37 Entwicklung zum Schriftsteller seitens der Leser nachvollzogen werden. Henriette Herz dient folglich allein als Objekt. Subjekt ist der sich selbst ergründende Börne, der sich formende Künstler, der die Adressatin seiner Briefe für den eigenen Erkenntnisprozess benötigt, um mit den Zeilen an diese seine eigene Ideenwelt auszubilden. Herz stellt, in ihrer Schönheit und Weiblichkeit, die Imaginationsfläche für den späteren Intellektuellen und Schriftsteller dar, während Herz nach der Interpretation von Geiger im Gegensatz zu Börne keine Weiterentwicklung zugestanden wird. Geprägt durch eine männliche Perspektive, überhört der Herausgeber die eigene Stimme der Adressatin Börnes, die durchaus vernehmbar ist und von diesem selbst auch gehört wird. Überdeckt wird die weibliche Stimme womöglich durch die entscheidende Intention Geigers, mit dem Briefwechsel an der Rehabilitation und Legitimation Ludwig Börnes als deutscher Schriftsteller zu arbeiten. Dieser habe sich durch „die echte tiefe Vaterlandsliebe“ ausgezeichnet, und sei nicht nur einer der 34 Brief von Ludwig Börne an Henriette Herz vom 01. Dezember 1805. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 155. 35 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 26. Januar 1805. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 134. 36 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 5. 37 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 18.

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„begabtesten und geistvollsten Journalisten“ gewesen, sondern habe vor allem der „deutschen Prosa französischen Esprit eingehaucht“.38 Geigers Einschreibung Börnes als Schriftsteller in die deutsche Literaturgeschichte, die dezidiert gegen Ausgrenzungen und antisemitische Herabsetzungen seitens der damaligen völkischen Germanistik postuliert wird, steht im Zusammenhang mit seinem Projekt einer deutschen Literaturgeschichtsschreibung jüdischer Schriftsteller sowie mit der geplanten Werkedition zu Börne. Als Reaktion auf die von Adolf Bartels (1862–1945) 1901/02 veröffentlichte Geschichte der deutschen Literatur in zwei Bänden, in der Literatur und Kultur als ethnisch und national bedingte Systeme definiert und Autoren wie Heinrich Heine und Börne als „Virtuosen“39 diskreditiert, als „Seelenvergifter“40 diffamiert werden, hält Geiger u. a. 1903/04 eine Gegenvorlesung an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In dieser spricht Geiger der deutschen Literatur eine universalisierende Kraft zu und proklamiert eine Bereicherung der Literatur durch jüdische Schriftsteller sowie jüdische Stoffe.41 Ebenso wie dieser literaturhistorische Überblick ist auch die Einleitung zum Briefwechsel in Form einer Verteidigungsschrift angelegt, mit der der Philologe seine Positionierung anzeigt und seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in Form objektiver Kriterien begründet. Innerhalb der Vorlesungsreihe führt er neben Börne und Heine auch die Frauen der jüdischen Salons ins Feld, die ebenfalls einen wichtigen Beitrag für die deutsche Literatur geleistet, darüber hinaus aber auch auf das jüdische Bürgertum zurückgewirkt hätten.42 In weiteren, bereits vor der Vorlesung verfassten Abhandlungen verweist er auf die überlieferten Schriften und Briefe von Henriette Herz, Dorothea Schlegel und Rahel Levin Varnhagen. Das eigene positive Urteil zu Schlegels Romanfragment Florentin, welches unter der Herausgeberschaft von Friedrich Schlegel 1801 erschien, erhellt er interessanterweise mit dem ebenfalls wohlwollenden Votum einer Zeitgenossin Schlegels – Charlotte von Schiller und markiert insofern dezidiert einen weiblichen Leseeindruck.43 Als Form des weiblichen Schreibens gilt ihm jedoch weniger der 38 39 40 41 42 43

Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 5. Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2. Leipzig 1905, S. 141. Ebd., S. 151. Vgl. Ludwig Geiger : Die Juden und die deutsche Literatur. Einleitung. Berlin 1910. Ebd., Einleitung, S. 1–24, hier S. 21. Vgl. Ludwig Geiger : Dorothea Schlegel. In: ders.: Dichter und Frauen. Vorträge und Abhandlungen. Berlin 1896, S. 128–150, hier S. 140. Eine Lesart zu den Briefen Börnes an Herz formuliert Rahel Levin Varnhagen. Diese hätten ihr offenbart, „daß man doch einen Andern mehr liebt, als sich; wir können die Eigenschaften, die wir für die wesentlich menschlichsten halten, für die liebenswürdigsten, rührendsten, wenn wir sie uns selbst zugestehen müssen, nicht in uns lieben, uns nicht selbst dafür lieben. Wohl aber in Andern. Mit einer Art leidenschaftlicher Anerkennung, mit der zärtlichsten Verehrung. […] Nur der Tag ist mir versüßt, wo ich durch oder für meine Gedanken etwas Neues erfahre. Dieses Neue verdank’

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frühromantische Roman oder die Prosa im Allgemeinen, sondern neben der Lyrik vor allem der Brief: „Nach ihren Briefen von ehedem.“ Das Wort ist höchst charakteristisch für die Frauen jener Zeit. Ihnen war es ein Bedürfnis, Briefe zu schreiben, es bildete einen Theil ihrer Lebensaufgabe. Manche brachten es in dieser Thätigkeit zu hoher Vollendung, wie die anmuthig plaudernde, geistreich rässonnirende Caroline Schlegel […]; oder wie Rahel, die eine Welt von Gedanken in ihren Briefen niederlegte, über Alles originell dachte und vor den krassesten Urteile nicht zurückschreckte: eine Frau, deren Herz so groß war, wie ihr Geist […].44

Nicht allein in diesem Zitat hebt er Rahel Levins Intellekt und damit verbunden die von ihr hinterlassenen und publizierten Briefe hervor, denen er eine öffentliche und überdauernde Relevanz zuerkennt. Im Gegensatz zu Rahel Levin und Dorothea Schlegel, denen eine schriftstellerische Begabung bescheinigt wird, für Levin durch die Form des Briefes, für Schlegel durch den Roman, offenbaren die Briefe von Herz, „daß die Verfasserin […] zur Schriftstellerei völlig unfähig gewesen wäre“, da diese „unorthographisch geschrieben, voll grammatischer Fehler [seien und] der Kunst der Anordnung und der Reize des Stils [entbehrten]“45. In den wenigen überlieferten Briefen von Herz ist für Geiger demzufolge weder eine „hohe Form der Vollendung“ noch eine „Welt von Gedanken“ zu finden, sondern nur eine „gewisse geistige Inferiorität“46. Diesem Urteil Geigers, der wie kaum ein anderer Literaturhistoriker seiner Zeit eine weibliche Autorschaft anerkannte, könnten einige Briefstellen aus dem von ihm herausgegebenen Band entgegengestellt werden, die zwar nicht den Geistesblitz einer Rahel Levin präsentieren, aber über die von ihm konstatierte „Ungewandtheit im schriftlichen Ausdruck“ erheblich hinausgehen. Neben den lediglich kursorisch behandelten Themen, die von Herz und Börne im Briefgespräch erörtert wurden, ist vor allem die Definition des Briefes von Herz aus dem Jahr 1806 als vertiefende und sich dem Anderen offenbarende Rede einzubeziehen: Man machte mir einmal die Frage ob man einen Menschen wohl mehr durch Besuche oder durch Briefe kennen lerne, der doch auch eigentlich nur ein Besuch sei? Im ersten Augenblick schien mir ein Besuch, wo doch außer den Worten auch Ton u Miene, u Wesen vernehmbar, deutlicher den Menschen darzustellen, ich ward bald anderer Meinung. Durch unterbrochenes Gespräch läßt sich weniger errathen und verstehen als durch zusammenhängende Rede – ein Brief ist mehr das letzte u wer nicht ganz besondere Ursachen sich zu verbergen hat der läßt, sich selbst unbewußt, sich durch den ich der Börne’schen Jugendkorrespondenz; die mich ganz belebt hat.“ In: Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens (Anm. 5), S. 283f. (Eintrag 06. Januar 1821). 44 Ebd., S. 140f. 45 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 12. 46 Ebd., S. 12.

Der Briefwechsel von Henriette Herz und Ludwig Börne

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Brief durchguken – u wer ihn anschaut nimmt deutlich die Widersprüche wahr die sich in ihm zeigen.47

Der Brief als fortgeführte, sich selbst befragende und vertrauensbildende Rede erinnert nicht allein an Schleiermachers Bestimmung der Frauen als „Meisterinnen des Gesprächs“, sondern verweist desgleichen auf die Funktion des Briefes als Ort der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung, wie es in der späteren Forschung für die Briefe Rahel Levin Varnhagens u. a. von Liliane Weissberg demonstriert wurde. Literarische Genres wie Briefe und Essays implizieren laut Weissberg einen „Selbstentwurf“,48 der von Befragung und Reflexion ebenso bestimmt sei wie dem Changieren zwischen Privatem und Öffentlichem, wodurch die Problematik des Akkulturationsprozesses evident werde. Betrachtet man die Briefe Henriette Herz’ vor dieser Folie, lassen sich neue Lesarten zu ihrem Leben gewinnen, die sowohl Aufschlüsse zu ihren innerfamiliären Verpflichtungen als auch zu ihrem gesellschaftlichen Status als jüdische Witwe in einer christlich dominierten Gesellschaft erlauben. Obschon damit keine Zuschreibung als „Dichterin“ im Sinne Ludwig Geigers verbunden sein kann, eröffnen die Briefe an Louis Baruch/Ludwig Börne kein so eindeutiges und vereinfachendes Bild von Herz, wie es der Literaturhistoriker in Rückgriff auf verbreitete Deutungsmuster evoziert. Die von dem jungen Louis Baruch als „klug“ und dem späteren Ludwig Börne als „weise und achtenswerth“49 charakterisierte Henriette Herz zeigt mit ihren Briefen selbst neue Perspektiven, die eine Erweiterung zu ihren Jugenderinnerungen sowie den Darstellungen von Zeitgenossen bilden und mit denen bisher dominante Rezeptionsmuster zumindest zu befragen sind.

47 Brief von Henriette Herz an Ludwig Börne vom 21. Juni 1806. In: Geiger (Hrsg.): Briefwechsel (Anm. 1), S. 164f. 48 Liliane Weissberg: Schreiben als Selbstentwurf. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), H. 3, S. 231–253, hier S. 233. 49 Geiger : Einleitung (Anm. 3), S. 20 u. S. 23 (hier : Brief von Ludwig Börne an Jeanette Wohl vom 18. Februar 1828).

Katrin Schreinemachers

Bibliographie

1.

Henriette Herz – Werke und Briefe

1.1

Autobiographische Texte und gedruckte Einzelbriefe

Hahn, Heinrich: Aus dem Nachlaß von Henriette Herz. In: Nord und Süd 63 (1892), S. 58–74. [Darstellung und Teilabdruck des Nachlasses von Henriette Herz (heute BBAW). Insgesamt 14 Notizen und Briefe von H. Herz, Briefe von Marcus Herz, Schleiermacher, Alexander von Humboldt. Drei Briefe stammen aus der Autographensammlung von Adolf Arnstein.] Herz, Henriette: Jugenderinnerungen. In: Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin 56 (1896), S. 141–184. Online verfügbar : http://sophie.byu.edu/sections/jugenderinnerungen-von-henrietteherz [01. 01. 2017]. [textnahe Edition des in der BBAW aufbewahrten Manuskriptes aus dem Nachlass von Henriette Herz] Herz, Henriette: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Zeit. Hrsg. von Hans Landsberg. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Weimar 1913. Eschborn bei Frankfurt a. M. 2000. [an der Ausgabe der Jugenderinnerungen des Litteraturarchivs orientierter Druck der Jugenderinnerungen mit Briefen von Marcus Herz, von Alexander und Wilhelm von Humboldt, von und an Börne, von und an Schleiermacher, an Sibbern, an Luise Seidler und bis dahin ungedruckten Briefen von Henriette Herz]

1.2

Korrespondenzen

Bekker, Immanuel: Papers 1806–1853. Inventory : Henriette Herz (1764–1847). Online verfügbar : https://www.lib.uchicago.edu/ead/pdf/bekker-0001-003.pdf [21. 01. 2017]. Börne, Ludwig u. Henriette Herz: Briefwechsel des jungen Börne und der Henriette Herz. Hrsg. von Ludwig Geiger. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Oldenburg u. Leipzig 1905. Eschborn bei Frankfurt a. M. 2000.

292

Katrin Schreinemachers

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1.3

Übersetzungen

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2.

Bearbeitungen und Zusammenstellungen

Fürst, J.: Henriette Herz. [Zeitungsessays]. In: Constitutionelle Zeitung. Berlin 1849/1850. 26. September 1849 10./ 19./ 31. Oktober 1849 13./ 23./ 30. November 1849 9./ 18./ 27. Dezember 1849 2./ 3./ 10./ 15./ 19./ 23./ 29. Januar 1850 2./ 12./ 15./ 19./ 28. Februar 1850 5./ 13./ 20./ 30. März 1850 [Vorabdruck des Folgenden]

Bibliographie

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Fürst, J. (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 1850. Online verfügbar : http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10 063788_00007.html [Kompilation des Textes der Jugenderinnerungen mit Aufzeichnungen von Fürst, die er sich von Henriette Herz in die Feder diktiert haben lassen will] Fürst, J. (Hrsg.): Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. 2., durchges. und verm. Aufl. Berlin 1858. Janetzki, Ulrich (Hrsg.): Henriette Herz. Berliner Salon. Erinnerungen und Porträts. Frankfurt a. M., Berlin u. Wien 1984 (Ullstein Buch 30165. Die Frau in der Literatur). [weiter gekürzte Kompilation des Textes der Jugenderinnerungen mit den Erinnerungen von Fürst] Schmitz, Rainer (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Leipzig 1984. [Kompilation des Textes der Jugenderinnerungen mit den Erinnerungen von Fürst] [Neuaufl.: Döring, Christian (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Neu ediert von Rainer Schmitz Berlin 2013 (Die Andere Bibliothek Bd. 347)]. [Kompilation des Textes der Jugenderinnerungen mit den Erinnerungen von Fürst incl. ergänzender Materialien, vgl. die Editorische Notiz, ebd. S. 670.]

3.

Weitere Primärquellen (in Auswahl)

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294

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5.

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Mischke, Roland: Geistige Revolution aus dem Salon. Blick in die Frühromantik: Briefe von Henriette Herz [Rezension]. In: Osnabrücker Zeitung (10. 01. 2014). Online verfügbar : http://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/441682/blick-in-die-fruh romantik-briefe-von-henriette-herz [21. 01. 2017]. [Rezension zu: Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Neu ediert von Rainer Schmitz. Berlin 2013 (Die andere Bibliothek Bd. 347)]. Vi[tor, L.: Schleiermacher und seine Lieben. Nach Originalbriefen der Henriette Herz [Rezension]. In: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft 36 (1911), H. 9, S. 273–274. Wiggershaus, Renate: Geist: „Gewaltiger Gleichmacher“ [Rezension]. In: Frankfurter Rundschau (20. 07. 1985), H. 165. Wirsing, Sibylle: Edel und schmerzlos, rüstig und kalt [Rezension]. In: Frankfurter Allgemeine. Ausg. D (26. 01. 1985), H. 22, Bilder und Zeiten. [Rezension zu: Rainer Schmitz (Hrsg.): Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen. Frankfurt a. M. 1984].

Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam Herausgegeben von Iwan-Michelangelo D’Aprile, Cornelia Klettke, Andreas Köstler, Ralf Pröve, Stefanie Stockhorst und Dirk Wiemann Im Fokus dieser Schriftenreihe steht die weit gefasste und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Frühneuzeitforschung. Grundlage ist dabei ein umfassender Begriff von Kultur, der diese als den Kern aller menschlichen Lebensformen – einschließlich der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen – versteht, d. h. als eine Praxis, in der sich die Selbstreflexion von Gesellschaften vollzieht. Von besonderem Interesse ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die durch eine Bündelung unterschiedlicher Perspektiven etwa aus der Anglistik/Amerikanistik, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik, Geschichte, den Jüdischen Studien, der Kunstgeschichte, Philosophie, den Religionswissenschaften und der Romanistik erreicht werden soll. Ziel ist es, Potenziale dieser Disziplinen auszuschöpfen und Synergieeffekte zu schaffen, um ein wirkliches Ineinandergreifen der Fächer zu erreichen. Die Reihe ist am Frühneuzeitzentrum Potsdam verortet. Erscheinen werden sowohl die Ergebnisse der hier verantworteten Workshops und Tagungen als auch Monographien. Weitere Bände dieser Reihe: Band 4: Dirk Niefanger / Werner Wilhelm Schnabel (Hg.) Positionierungen Pragmatische Perspektiven auf Literatur und Musik der Frühneuzeit 2017, 391 Seiten, gebunden ISBN 978-3-8471-0623-4 € 55,– D /€ 56,60 A Band 3: Mathias Palm Dialogische Ordnung Machtdiskurs und Körperbilder in der höfischen Trauerdichtung Johann von Bessers (1654–1729) 2014, 204 Seiten, gebunden ISBN 978-3-8471-0221-2 € 40,– D / € 41,20 A Band 2: Stefanie Stockhorst (Hg.) Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung 2013, 368 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-909-3 € 55,– D / € 56,60 A Band 1: Cornelia Klettke / Ralf Pröve (Hg.) Brennpunkte kultureller Begegnungen auf dem Weg zu einem modernen Europa Identitäten und Alteritäten eines Kontinents 2011, 277 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-877-5 € 55,– D / € 56,60 A

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