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German Pages [178] Year 2016
Research in Contemporary Religion
Edited by Hans-Günter Heimbrock, Stefanie Knauss, Jens Kreinath Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Joachim Sander, Trygve Wyller In co-operation with Hanan Alexander (Haifa), Carla Danani (Macerata), Wanda Deifelt (Decorah), Siebren Miedema (Amsterdam), Bonnie J. Miller-McLemore (Nashville), Garbi Schmidt (Roskilde), Claire Wolfteich (Boston) Volume 22
Vandenhoeck & Ruprecht
Carla Danani / Ugo Perone / Silvia Richter (Hg.)
Die Irritation der Religion Zum Spannungsverhältnis von Philosophie und Theologie
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-1145 ISBN 978-3-666-60456-0
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt
Inhalt
Ugo Perone Philosophie und Theologie angesichts der Irritationen der Religion . .
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Sektion I Das Denken in der Spannung religiöser Fragen Maria Cristina Bartolomei Philosophie und Theologie im heutigen Europa Eine Bestandaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Notger Slenczka Emotionales Selbstbewusstsein – theologische Implikationen eines phänomenologischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mario Ruggenini Das Wesen des Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Feldtkeller Religionswissenschaft als säkularer Wissensdiskurs über Religion . . .
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Sektion II Glauben und Wissen vor der Herausforderung des Pluralismus Adriano Fabris Das Christentum – eine unmögliche Religion? . . . . . . . . . . . . . .
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Maurizio Pagano Pluralismus und Religionsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Silvia Richter Franz Rosenzweigs „Neues Denken“: Perspektiven für ein neues interreligiöses Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Paolo Gamberini SJ Dialogische Identität des Christseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Sektion III Religion und öffentliche Sphäre Wilhelm Gräb Resignieren Philosophie und Theologie angesichts des Pluralismus der Vernunftmodelle? Ein philosophisch-theologisches Plädoyer für eine vernünftige Religion der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Rolf Schieder Religion in einer säkularisierten Gesellschaft. Das deutsche Beispiel . . 135 Carla Danani Religion und Öffentlichkeit: Wie ein Raum sich bildet . . . . . . . . . 147 Andreas Arndt Kapitalismus und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Ugo Perone
Philosophie und Theologie angesichts der Irritationen der Religion
1. Heute und gestern Man spricht zwar oft über den wissenschaftlichen Austausch, praktiziert ihn aber de facto wenig. Zu viele Autoren sind zu spezialisiert in ihre Fachbereiche. Man neigt dazu, Zeiten zu beneiden, als die Polemik es noch vermochte, über alle Disziplinen übergreifend aufzuflammen. Heute scheint die „unsichtbare Hand“ (the invisible hand) des Marktes alles zu entscheiden. Autoren und Bücher, die diskutiert werden, sind auch gleichzeitig jene, die Erfolg gehabt haben. Aber solche Erfolge sind oft Zufall oder Folge einer kommerziell gut vorbereiteten Marketingaktion. Die öffentliche Diskussion leidet darunter, da sie hierdurch lediglich zu einem Mittel für einen weiteren, noch größeren Erfolg jener Bücher und Autoren instrumentalisiert wird. Dabei bleiben aber oft gerade jene Fragen unberührt, die uns am meisten bewegen. Das Ringen um den Glauben, das viele Menschen betrifft, oft sogar die religiös unmusikalischen, scheint heute aus der Philosophie und sogar aus der Theologie verschwunden zu sein. Jede Disziplin bleibt in ihrem eigenen Bereich und wagt sich kaum hinaus. Es herrscht eine elegante und gut erzogene Indifferenz. Eine weit verbreitete Gleichgültigkeit scheint heute der Weg zu sein, alte Konflikte zu überwinden und sie zur Vergangenheit zu verdammen. Im akademischen Alltag kann die Indifferenz die Form eines wissenschaftlich begründeten Parallelismus annehmen, bei dem jeder sich lediglich um seinen eigenen Bereich kümmert. In der Tat steckt hinter diesem Benehmen eine unthematisierte und vor allem unausgesprochene Wahrnehmung der Krise – sowohl der Philosophie wie auch der Theologie. In der Philosophie sind die großen ontologischen und metaphysischen Modelle in Verruf geraten, wobei die phänomenologischen und hermeneutischen Strömungen, einerseits, große Schwierigkeiten haben, ein einheitliches Ersatzbild des philosophischen Wissens anzubieten, und es der analytischen Ausrichtung, andererseits, an jeder Grundlage fehlt für eine lebensnahe und nicht nur methodische Auseinandersetzung mit den religiösen Themen. In der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie scheinen die zwei Muster, die Jahrhunderte lang eine dominante Rolle gespielt haben, an Gewicht verloren zu haben. Der Versuch einer Integration der beiden Disziplinen, die sehr früh im Christentum angefangen hat, und die sich in Formeln wie
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credo ut intelligam und intelligo ut credam niedergeschlagen hat, verliert allmählich an Boden.1 Die Idee einer möglichen Komplementarität von ratio und fides wird als säkularistisch abgelehnt. Die Moderne hat programmatisch die Suche nach einer umfassenden kulturellen Einheit aufgegeben. Der Glaube gehört daher in die Privatsphäre und bedarf (auch) keiner rationalen Rechtfertigung. Die Bereiche des Glaubens und der Vernunft, wie auch die der Natur und der Gnade, bestehen höchstens separat in ausgesonderter Form und jeder Versuch, eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen, wird als unzeitgemäß abgestempelt. Aber auch das andere Muster, nach dem die Theologie sich selbst eine eigene Philosophie und Rechtfertigung liefert – ein Muster, das schon im Mittelalter, bei Duns Scotus und Ockham zum Beispiel, zur Geltung kam und Luther und die Reformation fortgesetzt haben – zeigt erhebliche Risse. Nach diesem Muster beanspruchte die Theologie nicht so sehr ein Primat, sondern übernahm vor allem (direkt) eine philosophische Aufgabe, sodass sie am Ende die Philosophie ersetzte. Solange die Philosophie eine gut fundierte und grundlegende Auffassung besaß, war es möglich, zu zeigen, dass man das Selbe, aber aus einem anderen Fundament, erreichen konnte. Bei Duns Scotus ist das Primat der Theologie auch der Weg auf neuer Basis, dieselben Ergebnisse zu erreichen (und sogar etwas mehr). Selbst bei Luther kommt man zu einer Entdeckung eines Subjektbegriffs, d. h. eines ganz zentralen Inhaltes der Moderne, der inhaltlich sehr nah zu den philosophischen Errungenschaften der Moderne steht, der jedoch eine rein theologische Begründung hat.2 Wie kann jedoch, in der jetzigen Situation der Philosophie, die offensichtlich inhaltsarm ist und eher die Form eine Dekonstruktion besitzt, die Theologie noch ihren Anspruch auf eine andere Begründung aufrechterhalten? Was soll sie anderes als den ihr zugewiesenen theologischen Bereich begründen? Sie müsste dann nicht nur die „natürliche“ Vernunft mit einer im Glauben verankerten Vernunft ersetzen; sie sollte darüber hinaus eher vollkommen neu an einem angemessenen Begriff von Vernunft arbeiten. Wenn eine solche resümierende Beschreibung, die heutige Lage in korrekter Weise wiedergibt, ist damit aber nicht gesagt, dass das Bedürfnis nach einer „denkenden“, der Philosophie aufgeschlossenen Theologie und nach 1 Eine tausendjährige Entwicklung in ein paar Zeilen zusammenzufassen ist nicht nur riskant, sie verkürzt auch unvermeidlich einen äußerst komplexen Zusammenhang. Wenn wir aber die mittelalterliche Philosophie unter dem Gesichtspunkt der Beziehung des heutigen religiösen Wissens (d. h., im Kontext dieses Bandes vor allem, der zeitgenössischen christlichen Theologie) mit der Philosophie betrachten, müssen wir zugeben, dass nach Augustinus der Versuch unternommen wurde, die Theologie als ein Wissen zu etablieren, das eine der Philosophie angemessene Würde besitzt. In diesem Sinne kann man Thomas als eine Art Fortsetzung von Augustinus sehen, mit dem Unterschied, dass er die augustinische Einheit zwischen wahrer Religion und wahrer Philosophie (ich denke vor allem an De vera religione) durch die Formel einer Komplementarität ersetzt. 2 Dies wird sehr schön gezeigt in S. Rostagno 2015.
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einer dem Glauben offenen Philosophie verschwunden ist. Sogar das öffentliche Leben liefert uns ausreichende Beispiele eines solchen Bedürfnisses. Man spürt die fragile Lage unserer politischen Systeme. Man weiß, dass ethische Werte, politische Grundprinzipien, „persönliche Überzeugungen“, Begründungen oder mindestens sinnfähige Motivationen brauchen. Das Bedürfnis nach dem Religiösen steigt; es verschwindet nicht, wie es die klassische, veraltete Formulierung des Säkularisierungsprinzips prophezeite. Somit brauchen wir auch wieder einen aktuellen Begriff von Glauben heute, der sich nicht bloß in einer privaten und unbegründeten Option erschöpft.3 Aber gerade aus demselben Grunde brauchen wir auch wieder die Vernunft, und nicht nur als eine schwache, rein prozedurale Vernunft. Ein Dialog, vielleicht auch in Form eines Konflikts, auf jeden Fall jedoch eine Auseinandersetzung, tut heute wieder not. Und dabei gewinnt die alte biblische Metapher des Kampfes Jakobs mit dem Engel erneut an Aktualität. Wenn wir Jakob als eine Figur des humanum lesen und im Engel eine Spur des divinum erkennen, so finden wir in diesem Kampf, der keinen Sieger hervorbringt, aber sowohl eine Wunde als auch ein Segen als Zeichen hinterlässt, ein noch heute brauchbares Modell der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube, humanum und divinum. Die Herausforderung bestand darin, über die drei hier beschriebenen Muster (einer gleichgültigen Parallelität, wie in der jetzigen Lage, einer aufnehmenden und aufhebenden Ergänzung und einer inklusiven Ersetzung, wie in der Tradition) hinauszugehen. Daher haben wir versucht, die unsichtbare aber feste Mauer, die heutzutage vorherrschend ist, zu durchbrechen, indem wir Fachleute aus Philosophie und Theologie, aus Deutschland und Italien, aus verschiedenen Konfessionen sowie aus konfessionsloser Perspektive jedoch an der Religion interessierte Forscher, der jüngeren und älteren Generation, über den jetzigen Standpunkt der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie befragt haben.4 Zwei miteinander verknüpfte Themen schienen uns hierbei besonders brisant: ob der traditionelle Unterschied zwischen Mythos und Logos im philosophischen und theologischen Diskurs noch eine Rolle spielt und in welcher Richtung. Hieraus folgt weiter, ob im Bereich der religiösen Frage überhaupt ein Wissen zu gewinnen ist, und welcher Art dieses Wissen ist. Dies alles bezogen auf unsere europäische Situation, jedoch ohne damit die Augen gegenüber den Differenzen mit den USA und den orientalischen Kulturen zu verschließen. Wie man gleich merken kann, bietet diese Fragestellung eine Möglichkeit, altbekannten Problemen neu zu begegnen: unter anderem z. B. 3 In dieser Formulierung zeigt sich m. E. die Schwäche einer Studie wie Charles Taylor 2007, in der Taylor eine glänzende Nacherzählung einer Geschichte der Säkularisierung liefert, die trotz der Fülle der Informationen nicht ganz der theoretischen Komplexität des Themas angemessen ist. 4 Durch dieses Buch geben wir Rechenschaft ab von einer wissenschaftlichen Diskussion, die an der Humboldt-Universität zu Berlin im Mai 2014 stattgefunden hat und eine erste schriftliche Darlegung in der italienischen Zeitschrift „Filosofia e teologia“, XXVIII, 3, 2014 fand.
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der Säkularisierungsproblematik sowie der für die Vernunft bereichernden Verflechtung zwischen emotionalen und rationalen Motiven in der religiösen Erfahrung. Es soll darüber hinaus noch gesagt werden, dass ein solcher Versuch nicht nur Ausdruck eines Dialogwunsches ist, sondern ebenso auch Zeichen eines Bewusstseins, nämlich des Bewusstseins eines gemeinsamen Schicksals, das Philosophie und Theologie, als Formen eines orientierungsfähigen und sinngebenden Wissens, gleichermaßen betrifft.
2. Wahlverwandtschaften Es steht mir nicht zu, an dieser Stelle eine persönliche Auffassung darzulegen.5 Meine Aufgabe ist eher, über die Ausgangslage und die Absichten der Arbeit zu referieren und die Ergebnisse in einem größeren Öffentlichkeitsraum zur Diskussion zu stellen. In einem solchen, kollektiven Buch geht es nicht darum, einzelne Perspektive gelten zu lassen. Vielmehr scheint es mir wichtig, ein Gespräch in Bewegung zu setzen und den daraus entstehenden Dialog produktiv auf den Lesenden wirken zu lassen. Um die Verflechtung, die Komplexität und die Varianten dieser Themen zu verdeutlichen, ist es vielleicht nicht unnütz, uns im Voraus an ein Muster, das wir den Wahlverwandtschaften Goethes entnehmen, zu erinnern, ein Muster übrigens mit dem wir tatsächlich unsere Tagung eröffnet haben. Im Inneren der leitenden Geschichte des Romans, die sich um vier Protagonisten abspielt, ist, als wäre es ein kostbarer Juwel, eine Novelle eingefügt mit dem Titel Die wunderlichen Nachbarskinder. Eduard und Charlotte, die zwei tragenden Figuren der Geschichte, haben in ihrer Jugend eine gegenseitige Anziehung zueinander verspürt, jedoch, den sozialen Konventionen folgend, Vernunftehen geschlossen, die sie beide voneinander entfernt haben. Erst nach deren Ende, finden sie sich wieder und schließen eine Ehe. Der Eingriff in ihr Leben durch einen alten Freund Eduards, den Kapitän, sowie durch Ottilie, Charlottes Nichte, bringt das Gleichgewicht, das sie um ihr neues, gemeinsames Leben konstruiert haben, in Unruhe. Es folgt eine beträchtliche Serie von tragischen Ereignissen, die alle ihren Ursprung haben in der entstandenen Leidenschaft Eduards für die junge Ottilie und in der Neigung Charlottes für den Kapitän. In der Novelle stehen wir einer Art Spiegelbild gegenüber : Die zwei Jugendlichen, deren Name uns nicht gesagt wird, verweigern sich trotz der evidenten gegenseitigen Anziehung, die sie seit der Kindheit einander annähert, in jeder Weise einer Verbindung. Erst später, als jeder seinen eigenen Weg eingeschlagen hat, sind sie geneigt ihre Liebe zueinander anzuerkennen. Um 5 Der interessierte Leser sei verwiesen auf meine Bücher: 19912, 2012, 2015.
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vor der bereits versprochenen Heirat mit einem Bekannten der Familie wegzulaufen, wirft sich die junge Frau, während eines Spazierganges am See, ins Wasser, bereit zu sterben. Aber der junge Mann zieht sie in Sicherheit und, der Gefahr entkommen, gesteht sich das Paar, gegenüber sich und ihren Familien, die Liebe, die sie verbindet und die sie schließlich zu einer Liebesheirat führt. Ohne damit eine umfassende Interpretation des Goetheschen Werkes zu wagen, können wir daraus eine Reihe von vielleicht nützlichen Elementen ziehen, um unsere Thematik zu erhellen. Drei Kräfte sind in dieser Begebenheit im Spiel: der Mythos, die vernünftigen Sitten der Gesellschaft und die Freiheit. Wenn wir Walter Benjamin Recht geben wollen, der eine wunderbare Interpretation der Wahlverwandtschaften vorgeschlagen hat, so hat der Mythos, beziehungsweise die reine Passion als blinde Anziehungskraft oder Zurückweisung, eine barbarische Kraft, der gegenüber es schwer fällt, sich zu entziehen. Aber auch der Logos der gesellschaftlichen Regeln hat eine fesselnde Kraft, sei sie auch noch so schwach, und auch er ist der Wahrheit gegenüber gleichgültig. Die Heiraten, die diese Logik gesellschaftlich realisieren, sind dem Scheitern ausgesetzt und die Figur des Romans, die sich abmüht, sie zusammenzuhalten, trägt bereits im Namen – Mittler – die eigene Ironie. Der Logos ist somit ein anderer Mythos, ein Mythos der Gesellschaft, jedoch ein schwächerer als der der Natur. Nirgendwo findet hier die Freiheit ihren Platz. Und dennoch ist sie es, die die entscheidende Rolle in der Novelle ausübt. Am Rand der Niederlage ist eine Geste der Freiheit, und nicht so sehr eine der Aufopferung, entscheidend: jene des Mädchens, das aus Liebe sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Genauso wie es der Junge tut, der sie rettet, einem eigenen Antrieb folgend und das Ruder des Boots loslassend – somit rettet er beide und führt, durch den Bruch des Mythos, die Freiheit ein. Wahlverwandtschaften also: Frucht einer Entscheidung und einer Wahl. Die Begriffe unseres Forschungsthemas finden sich hier alle versammelt. Aber nicht in der klassischen, ein wenig stereotypen Form einer bloßen und einfachen Gegenüberstellung von Mythos und Logos, sondern in jener komplexeren und vielleicht aussichtsreicheren einer immanenten Barbarei, die dem einen wie dem anderen unterliegt (in der Form der gesellschaftlichen Sitten und Gewohnheiten, die fesseln), aber auch durch eine mögliche Befreiung, am Rand des Abgrunds, mittels der Freiheit. Gerade Philosophie und Theologie, die in diesem Buch die Protagonisten sind, haben selbst eine Auseinandersetzung und einen tödlichen Kampf gekannt, die die Philosophie bis zur Absorbierung und Negation der theologischen Inhalte geführt hat sowie die Theologie zu dem Anspruch, ihre eigene Aufgabe ohne irgendeine philosophische Bezugnahme zu verfolgen. Der Versuch, den Konflikt zu lösen, indem man die eine (Theologie) eher in den Bereich des Mythos verweist und für die andere (Philosophie) das Privileg der Rationalität vorbehält, hat sich als unbrauchbar erwiesen. Denn Mythos und Logos durchdringen beide und bringen vorbestimmte Rollenspiele (Muster, Spiele) durcheinander. Aber das in der doppelten Geschichte von Goethe
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enthaltene Modell ermahnt auch diejenigen, die die Ehe von Philosophie und Theologie vorherbestimmt sehen wollen, so als ob sich quasi alles seit dem Beginn an verschwört hätte zu einer Verbindung. Wir wissen, dass es nicht so ist, und wir wissen auch, dass wenn man zu sicher ist, dass es so sei, unvorhersehbare und überraschende Abweichungen geschehen. Die Seelenverwandtschaften müssen sich gegenseitig und frei wählen. Nur so durchstehen sie auch Entfremdungen und Widerstände. Es sind Gesten der Freiheit, kulturelle Optionen, die eine neue Chance der Erschließung anbieten können, auch wenn wir die Gefahren (für die eine und die andere Disziplin) nicht übersehen dürfen. Eine Wahlverwandtschaft macht uns auf eine symbiotische Beziehung aufmerksam, aber ebenso auch auf die Gefahren einer solchen Beziehung. Jede Symbiose zeugt von einer gemeinsamen Einheit. Aber gerade um einen gemeinsamen Untergang zu vermeiden, kann eine tödliche Konkurrenz entstehen, bei der jeder versucht, sich auf Kosten des Anderen zu retten. Eine Symbiose kann auf diese Weise zu einer Gefahr werden. Man muss zuerst, den eigenen Weg gehen, um sich danach wieder frei und aus eigenem Antrieb treffen zu können. Ein Dialog entsteht aus Distanz und nur so führt die unbestreitbare Verwandtschaft zu einem produktiven Dialog. Methode und Ziel unseres Unterfangens sind damit gesetzt und beschrieben.
3. Überblick Die knappe thematische Zusammenfassung der einzelnen Beiträge dient im Folgenden dazu, einen Überblick über die gesamte Thematik des Buches zu geben und um einen Leitfaden in der reichen Mannigfaltigkeit der behandelten Aspekte zu finden. In einem prägnanten Beitrag, der die kontrastreichen Begebenheiten dieser zwei Disziplinen nochmals Revue passieren lässt, hebt Maria Cristina Bartolomei die Pionierrolle einer italienischen Zeitschrift wie Filosofia e Teologia hervor und schließt mit dem suggestiven Bild, das als Logo der Associazione italiana di Filosofia e Teologia dient: zwei Tauben, die in verschiedenen Haltungen, die eine trinkend, die andere betrachtend, sich an der gleichen Quelle treffen. Nichts irenisches liegt in Bartolomeis Bilanz, aber das tiefe Bewusstsein einer gemeinsamen Bestrebung – in aller Verschiedenheit –, die aus der gleichen Quelle schöpft. Somit ist die Spannung zwischen dem theologischen und dem philosophischen Denken dargelegt. Die weiteren Beiträge dieser Sektion belegen jeweils auf ihre Weise die unterschiedlichen Ansätze der beiden Disziplinen. Notger Slenczka zeichnet die protestantische (spezifisch lutherische, aber bis auf Augustinus und Bernhard von Clairvaux zurückreichende) Tradition nach, die im Selbstbewusstsein die Grundlage einer möglichen Erkenntnis Gottes verortet, um damit einen präkategorialen, prärationalen, unmittelbaren und jedem Logos
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vorangehenden, obgleich es dennoch stützenden Moment einzufordern. Daraus ergibt sich eine Phänomenologie des Selbstbewusstseins, die in letzter Instanz der Religion die Funktion zuschreibt, vertrauensvoll den Menschen in seiner Suche nach sich zu unterstützen. Mario Ruggenini sieht hingegen in der Sprache den zugleich endlichen und unerschöpflichen Horizont jedes möglichen Dialogisierens. Gegen die Ansprüche der (auch religiösen) Beschlagnahmung der Wahrheit, ist das Wort – offen für vielfältige Bedeutungen und auch unvermeidlich vermischt mit dem Missverständnis – der Ursprungsort jeder Begegnung endlicher Wesen. In der kontroversen Wahrheit des Gesprächs und gegen den Anspruch der unumstößlichen Wahrheit der Metaphysik ereignet sich der echte philosophische Diskurs. Auf einem Metaniveau sozusagen legt Andreas Feldtkeller dar, wie das dominante Schema einer Religionswissenschaft eine säkularistisch-programmatische Wahl enthält, die dennoch zeigt, wie wenig über die Bedeutung des Begriffs „säkular“, der sich gerade der Religion widersetzt, nachgedacht wurde. Zudem wird deutlich wie sehr dieses dualistische Schema die eigene Schwäche offenlegt, wenn es an nicht abendländischen Formen der Religion angewandt wird, die sich weder als Religion noch als Säkularismus definieren lassen. Andreas Feldtkeller veranschaulicht dies, indem er ein Interpretationsschema der Religionen vorgeschlagen hat, das den darin enthaltenen Charakter des Wissens anerkennt. Die zweite Sektion stellt sich die Frage, wie sich in der heutigen Situation eines verbreiteten Pluralismus der Glaube überhaupt noch beschreiben lässt und in welchen Beziehungen die unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse der Religionen sich heute verorten bzw. zu lesen sind. Adriano Fabris vertritt die Ansicht des unmöglichen, weil paradoxen und sogar über die menschlichen Kräfte hinausgehenden Charakters der Religionen, insbesondere der christlichen Religion. Und dennoch gerade durch die Erfahrung dieser sowohl theoretischen als auch praktischen Unmöglichkeit bietet sich für den Menschen eine Sinnerschließung und eine Perspektive des Heils, die ihm zutiefst zugehörig sind. Es ist in diesem Sinn gerade die Grunddifferenz zwischen einer paradoxen Religion und einer rational argumentativen Philosophie, die die produktive Schnittstelle eines möglichen Dialogs ist. Maurizio Pagano hingegen, der damit einen fruchtbaren Vergleich stiftet, ohne die Differenzen der Akzente zu verneinen, bringt die fernöstliche Tradition der Schule von Kyoto in Verbindung mit Kernpunkten der christlichen Tradition, wie jene entscheidenden der Transzendenz und der Sinnbestimmung. Er macht dabei insbesondere jene Rolle geltend, die – auch in einem Kontext des kulturellen Pluralismus und der Globalisierung wie dem unseren – Grundsätze der Universalität und der Gegenständlichkeit haben können, wenn sie erneuert und richtig verstanden sind. Leben und Werk des jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweigs
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(1886–1929) nachzeichnend, legt Silvia Richter dar, wie es möglich sei, das Christentum tiefer zu verstehen. Dies wird gerade am Beispiel Rosenzweigs und seines wiederbestätigten Beitritts zum Judentum besonders deutlich, da er uns ein neues Licht auf die spezifischen Charakteristika des Christentums bietet. Ein Judentum, das in dieser Weise nicht lediglich auf die Funktion eines Vorboten der christlichen Ankündigung reduziert wird, sondern eine andere und immer aktuelle Weise darstellt, eine Erfahrung des Göttlichen zu machen – eine Erfahrung, die nicht eingeschlossen ist in einer monologischen Auffassung der Wahrheit, sondern vielmehr auf einen Dialog angewiesen ist und daher auch fähig zu einer authentischen, interreligiösen Offenheit. Der Pluralismus der Wahrheiten und der Religionen scheint heute, vor allem in Europa, aber nicht nur dort, dermaßen vielfältig, dass sich das theoretische Problem stellt, wie man die Bedeutung der Wahrheit in einem Kontext des extremen Pluralismus verstehen kann. Paolo Gamberini unternimmt, im vierten Beitrag dieser Sektion, den Versuch zu zeigen, dass die Identität der christlichen Religion weder eine besitzergreifende Funktion haben muss in Bezug auf die Verschiedenartigkeit der anderen Religionen, noch notwendigerweise Anlass zu deren Ausschluss geben muss. Vielmehr kann sie eine paradoxe relationale Struktur haben, die in der Lage ist, einer wirklichen dialogischen Öffnung Raum zu geben, und die gemäß dem Modell einer pluralen Identität vor allem zum Zuhören und zur Öffnung fähig ist. In der letzten Sektion wird die Bedeutung beschrieben, die der Religion im öffentlichen Raum zukommt. Das Thema setzt selbstverständlich eine Beurteilung der jetzigen, pluralistischen und säkularisierten Lage voraus. Es zeigt sich hier, wie verknüpft theoretische Betrachtung und praktische Lebensformen sind. Man kann Breite und Tiefe einer Theorie nicht verstehen, wenn man ihre Folgen im Alltag vernachlässigt. Auf der anderen Seite wird das Leben bagatellisiert, wenn man dessen impliziten theoretischen Ansätze nicht berücksichtigt. Ein Vorteil der Vielfalt der Beiträge dieses Bandes ist eben die Fähigkeit, eine nicht nur rein theoretische Diskussion zu führen. Wilhelm Gräb verneint mit Entschiedenheit die Gültigkeit des interpretativen Mythos der Säkularisierung und hebt hervor, dass gerade in säkularen Aussagen, wie es in eminenter Weise deutlich wird in der Formulierung der Prinzipien der Menschenrechte, ein Absolutheitsanspruch liegt, der einen zutiefst religiösen Charakter hat. Der politische Raum wird damit als Bereich grundlegender Prinzipien einer ethisch geregelten Gemeinschaft zum aktuellen Ort einer anthropologisch verankerten Dimension des Religiösen. Dem Paradigma einer triumphierenden Säkularisierung widersprechend unterstreicht Rolf Schieder die Unterschiede des Paradigmas zwischen Europa und Amerika. Zur gleichen Zeit weist er die Reduktion der Religion auf die Sphäre des Privaten zurück. Es ist darüber hinaus wahr, dass die Religion den Anspruch aufgeben muss, in einen Wettkampf mit Weltauffassungen der politischen und globalen Art zu treten, um stattdessen vielmehr eine adäquate Interpretation der Existenz zu liefern.
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Carla Danani knüpft direkt an die Debatte der öffentlichen Rolle der Religion an (mit explizitem Bezug zu den gegenteiligen Positionen von Rawls und Habermas), um den nicht nur metaphorisch verstandenen Begriff des öffentlichen Raumes zu vertiefen. Die räumliche Dimension tritt auf diesem Weg auch als konstituierend für die religiöse Erfahrung hervor, und zwar vom Moment an, wo sie nicht nur den Rahmen bildet, in dem diese stattfindet, sondern auch die Inhalte setzt. Es stellt sich also das Problem, wie mittels einer erneuerten Phänomenologie des Heiligen eine Erfahrung des Raumes zu verstehen ist, die sich per definitionem auf etwas bezieht, das nicht zu verräumlichen ist. Schließlich fragt sich Andreas Arndt, ausgehend von einem Text Benjamins, ob es lohnenswert wäre, den Kapitalismus als eine Form der Religion zu interpretieren. Daraus resultiert eine negative Antwort, die die Tiefe dieser Perspektive verneint und vorschlägt, den Kapitalismus auf der Ebene der Definition der Vernunft in Frage zu stellen. Im Geist aller Untersuchungen schwingt implizit die Frage mit, ob Mythos und Logos Kategorien konstituieren, durch die religiöse und philosophische Aspekte einzuordnen sind. In der Debatte um Mythos und Logos sind emotionale und rationale Dimensionen miteinander verwoben. Manchmal hat das, was auf den ersten Blick als Mythos erscheinen konnte (z. B. die Verwurzelung in einer gegebenen Tradition oder die präkategoriale Unmittelbarkeit eines Beitritts), seine innerste und tiefe Rationalität herausgestellt, seinen Wissenscharakter, sei es auch nur in einer anderen als der gewohnten Form. Ein anderes Mal waren es die rationalen Interpretationsschemata, wie jene der Säkularisierung oder der Identifikation der Pluralität mit dem Relativismus, die ihre Schwäche zeigten und ihren uneingestandenen Voraussetzungscharakter. All diese Probleme wurden in den Blick genommen und ausgelotet. Wiederum ein anderes Mal wurde das Selbstbewusstsein als eine Bedingung vorgeschlagen, das Unendliche zu erlangen. Aber ein Selbstbewusstsein, das nicht nur bloß rationales Wissen von sich selbst ist, sondern ein emotionaler Bezug, gekennzeichnet mit der eigenen fragilen Identität. Hieraus entstand ein Überwinden jedweder narzisstischen Voraussetzung der Einseitigkeit. Fachleute aus Philosophie und Theologie, aus Deutschland und Italien, Katholiken und Protestanten, haben zusammen gearbeitet; jeder vertrat seine eigene Position, aber jeder wusste, dass diese nur Bestand hat in der Beziehung – im Konsens oder im Kontrast, in jedem Falle im Dialog – mit den anderen. Dies ist ein außergewöhnliches Modell für uns alle, die wir eine Form der Einheit erfinden und ausprobieren müssen, die keine Vereinheitlichung ist.
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4. Einheit und Vielfalt Von einem solchen Buch wie dem vorliegenden kann man keine einheitliche Antwort erwarten. Sie ist indes auch gar nicht angestrebt. Zu groß ist die Vielfältigkeit der behandelten Perspektiven. Dennoch darf man trotz allem nicht die Einheit der Absichten vernachlässigen. Auf dieser Ebene befindet sich vielleicht sogar der größere Schatz, als es eine bloße Betonung der Differenzen ermöglichen könnte. Der erste Schritt über jene Indifferenz, worüber wir am Anfang gesprochen haben, besteht im Ausgang aus einem als rein privat betrachteten Bereich. Man bleibt vorrangig unter sich, da die gemeinsam geteilte Ausgangsbasis eine unkomplizierte und vor allem unverfängliche Diskussion ermöglicht: Die Theologen sprechen nur mit Theologen, die Philosophen mit Philosophen, Katholiken mit Katholiken, Protestanten mit Protestanten, Nichtgläubige mit Nichtgläubigen. Allmählich spricht jeder bzw. jede Gruppe nur noch mit sich und unter sich selbst und publiziert, nicht um sich einer Diskussion zu stellen (im Sinne Kants), sondern um sich selbst zu bestätigen. Die Folge ist ein Triumph der intellektuellen Fragmentierung. An diesem Punkt muss man versuchen dagegen zu steuern – und genau dies haben wir mit dem vorliegenden Band versucht. Filosofia e Teologia ist eine in Italien veröffentlichte Zeitschrift, die seit fast dreißig Jahren Philosophen unterschiedlicher religiöser Auffassungen und Theologen verschiedener Konfessionen unermüdlich zusammenbringt und sie mit Herausforderungen der Moderne konfrontiert. Das sprachliche Ghetto, in dem sich das Italienische heute (anders als in früheren Zeiten) befindet, hat ihre Auswirkung jedoch eingeschränkt. Und selbst in Italien, das gegen jede Erwartung ein laizistisches Land ist, bedeutet oft die bloße Nennung des Namens Theologie eine für viele, die mehr die Vergangenheit pflegen als die Zukunft anstreben, fragwürdige Benennung. Es war an der Zeit, einen Schritt nach vorne zu wagen und unter der Schirmherrschaft des mutigen Projekts einer Guardini Professur, d. h. eines katholisch orientierten, philosophischen, jedoch in einer lutherischen theologischen Fakultät angesiedelten Lehrstuhls, den ich inne habe, eine Brücke in Richtung eines akademisch anerkannten, theologischen Protestantismus zu schlagen. So etwas geschieht in Berlin in Kooperation mit einer Fakultät, in der das Erbe der Theologie Schleiermachers immer noch richtungsweisend ist. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle deutschen Beteiligten sich in der geistigen Spur von Schleiermacher bewegen. Andere Aspekte spielen ebenso eine Rolle: das Erbe Hegels und seines Denkens, die Offenheit für unterschiedliche, auch nicht ursprünglich abendländische Formen des Religiösen, der Dialog mit der Soziologie und das Interesse für die Themen einer civil religion sowie die Aufmerksamkeit für die politischen Menschenrechte. Wollte man diese unterschiedlichen Aspekte auf einen gemeinsamen Nenner bringen, könnte man vielleicht sagen, dass sie alle, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, mit
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der Modernität zu tun haben, d. h. mit einem im Denken Schleiermachers als auch Hegels verwurzelten Thema. Hier lässt sich die entscheidende Schnittstelle mit den italienischen Gesprächspartnern ausmachen. Auch sie gehören zu keiner einheitlichen philosophischen oder theologischen Schule. Bei allen aber spielt die Konfrontation mit der Moderne eine wichtige Rolle, die keine bloße Aufnahme, sondern, oft in Anlehnung an eine hermeneutische Auffassung, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Moderne ist. Wie man sieht, ist die Vielfältigkeit der Perspektiven in einem gemeinsamen Sitz im Leben verwurzelt. Die Zugehörigkeit zur Moderne wird von niemandem bestritten, aber auch von niemandem als unproblematisch erlebt. Auf dieselbe Art und Weise leiten sowohl Theologen wie Philosophen ihre Beiträge nicht einfach aus einer für wahr gehaltenen Denkrichtung ab. Jeder denkt aus der jetzigen Gegenwart her, mit der Gabe und der Last einer Erbschaft, aber jeder denkt auch in Richtung Zukunft. In diesem zukunftsorientierten Denken ist eine nicht uniforme Einheit des Denkens enthalten, die theologisch und auch ökumenisch vielversprechend ist. Man könnte zum Schluss zwei Bilder erwähnen. Das eine ist jenes des Labyrinths. Dort sind viele Wege, die meisten jedoch sind Irrwege, die sich kreuzen und die keine Logik beinhalten. Man wäre geneigt die Modernität mit einem Labyrinth zu vergleichen. Dann wäre man gezwungen zu sagen, dass die einzige praktikable Lösung ein Ausweg aus dem Labyrinth wäre. Wenn man dem Bild treu bleibt, ist der gesuchte Ausweg nur ein einziger – und dazu ein Weg, den man erkämpfen muss. Aber dieser Weg bedeutet zugleich auch Abschied. Die Vielheit der Wege könnte man als Bild für das Unbehagen der Moderne deuten und die Einheit des Auswegs als eine Heilung aus diesem Unbehagen. Diesem eher verstörenden Bild könnte man aber, Walter Benjamin zitierend, das Bild eines Mosaiks entgegensetzen, in dem die Steine, aus denen das Mosaik besteht, nicht nur ihre eigene Identität (Form, Farbe, etc.) behalten, sondern zu einer Komposition führen, in der die Ränder sich berühren, ohne in einer glatten Uniformität zu enden. Dieses Bild verwendet Benjamin, um den Traktat zu definieren. Sogar ein systematisches Werk wie ein Traktat nimmt in der Moderne die Form einer Vielheit an, die sich zusammenfügt, ohne Verzicht zu leisten auf die Eigenartigkeit jedes einzelnen Momentes. Dieser zweite Weg ist viel schwieriger, gleichzeitig aber auch wesentlich vielversprechender. Er nährt sich zu einem Teil aus jener Irritation der Religion, die nicht nur den Titel unseres Buches ausmacht, sondern zugleich auch ein elementares und konstituierendes Moment der Moderne ist. Die Aufmerksamkeit, die die öffentliche Diskussion dem religiösen Moment heute zuteil werden lässt, wurde nicht erst durch die Katastrophe des 11. September akut – auch wenn diese sicherlich den dramatischen Höhepunkt eines lange schwelenden Prozesses bildet. So ist die Bekämpfung des religiösen Fundamentalismus und des damit einhergehenden Terrorismus auch nur ein Aspekt,
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der aktuellen Irritation der Religion, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasst, und sich nicht in den Mauern der Kirchen, Moscheen oder Synagogen einfangen lässt. Die Botschaft der Religion geht über diese Mauern hinweg und spricht uns alle an. Eine Auseinandersetzung mit ihr ist heute mehr denn je vonnöten: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich der unabgeschlossenen Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen.“6 Diese (selbst)kritische Reflexion zeugt von einem authentischen Ringen, um das was menschliche Existenz in ihrem tiefsten Inneren ausmacht – und was alle Religionen und alle Menschen miteinander verbindet. Genau so etwas haben wir angestrebt mit dem vorliegenden Band und so etwas bieten wir nun auch dem aufmerksamen Leser an, damit er mit seinen eigenen Mosaiksteinen einen Beitrag zum gemeinsamen Bild leistet.
Bibliographie Augustinus Ipponiensis, De vera religione: http://www.augustinus.it/latino/vera_reli gione/ (24. 09. 2015). Ciancio Claudio/Ferretti Giovanni/Pastore Annamaria/Perone Ugo, 1991 (2), In lotta con l’angelo, Torino: Sei Torino. Habermas Jürgen, 2001, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Perone Ugo (Hg.), 2012, Filosofia e spazio pubblico, Bologna: il Mulino. Perone Ugo, 2015, L’essenza della religione, Brescia: Queriniana. Rostagno Sergio, 2015, Doctor Martinus. Studi sulla Riforma, Torino: Claudiana, 2015. Taylor Charles, 2007, The Secular Age, Harvard: Harvard University Press.
6 Jürgen Habermas 2001, 11.
Sektion I Das Denken in der Spannung religiöser Fragen
Maria Cristina Bartolomei
Philosophie und Theologie im heutigen Europa Eine Bestandaufnahme
1. Sich gegenseitig ignorieren um Konflikte zu meiden 1963 konnte man in „Die Zeit“, innerhalb einer von Heinz Zahrnt verfassten Rezension des Buches von Karl Jaspers Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, folgendes lesen: Den Theologen und Philosophen geht es heute ähnlich wie einst den Hirten Abrahams und Lots: „Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten“. [Genesis 13,9]. Und also haben sie sich schiedlich-friedlich voneinander getrennt. Jeder von ihnen hat, fern von dem andern, seine eigenen Weideplätze bezogen, und es gibt kaum noch Streit zwischen den Hirten1.
Zahrnt erwähnte als Ausnahmen unter den Theologen Rudolf Bultmann und Paul Tillich, und unter den Philosophen die hin und wieder über die Zäune hinweg einen Dialog starteten, Martin Heidegger, Wilhelm Weischedel, Hans Georg Gadamer, Wilhelm Kamlah, wobei er jedoch in Karl Jaspers allein einen erblickte, der die Diskussion auf einer breiteren Front führte. Diese Passage wird von Wilhelm Weischedel zitiert im Band Helmut Gollwitzer – Wilhelm Weischedel, Denken und Glauben. Ein Streitgespräch, der den Zyklus von Vorlesungen enthält, welche die zwei Autoren an der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1963–64 hielten vor einem Publikum aus Studenten der verschiedensten Fakultäten und interessierter Bürger (jeweils am Montag von 15.00 bis 16.00 Uhr die theologische und von 16.00 bis 17.00 Uhr die philosophische Vorlesung. Am Dienstag folgte ein von beiden Dozenten geführtes Seminar). Dieses gegenseitige, jedoch wenigstens friedliche Sich-Ignorieren, indem man die Zuständigkeitsbereiche untereinander teilte, folgte auf eine lange und mühsame Geschichte von Konflikten und Kämpfen für gegenseitige Unterordnung. Auch praktische Unterordnung der Philosophie unter die Theologie: man denke nur an die Verurteilungen, Verbote usw. seit dem Mittelalter bis in die Moderne (Kant und Fichte, z. B.); theoretische Unterordnung der Theologie unter die Philosophie (von Hegel bis Heidegger) bis hin zur Liquidierung der ersten als Pseudo-Wissen, als ausschließlich ideologisch ausgerichtetes Wissen, wenn nicht gar ein Delirium. Jedenfalls im Dienst und in Funktion 1 Heinz Zahrnt, 1963.
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eines konfessionell-frommen Bereiches, irrelevant für die Philosophie oder Hindernis auf dem Weg philosophischer Erkenntnis. Eine Geschichte, die zusammenzufassen weder möglich noch nötig ist. Weischedel und Gollwitzer beziehen sich auf Philosophie und Theologie, indem sie das Kennzeichen, das sie in ihrer radikalen Antithese voneinander unterscheidet, zitieren, nämlich das Denken und der Glaube. Hat sich im Verlauf von fünfzig Jahren die eben beschriebene Lage verändert und, wenn ja, wie? In welchen Schritten der Entwicklung und mit welchen aktuellen Aussichten?
2. Neue philosophische und theologische Grundlagen für den Dialog Im Jahre 1987 erscheint die Zeitschrift Filosofia e Teologia zum ersten Mal und seither regelmäßig. Das war im italienisch-kulturellen Panorama ein Unikum, da zum ersten Mal sich ein nicht-konfessioneller Raum für eine solche Konfrontation öffnete. Infolge der besonderen Beziehung zwischen Kirche und Staat in Italien, die von der Gegenwart des Apostolischen Stuhls und von den Auseinandersetzungen anlässlich der Entstehung des geeinten italienischen Staates gezeichnet ist, war und ist die Überlieferung der Philosophie in Italien im Verhältnis zu anderen europäischen Staaten im 20. Jahrhundert noch immer durch die noch radikalere Fremdheit zwischen Philosophie und Theologie bestimmt. Die Tatsache, dass es in den italienischen staatlichen Universitäten keine theologische Fakultät gibt, fördert gewiss nicht den Dialog. Die Zeitschrift Filosofia e Teologia wurde gegründet in der Überzeugung, dass ein Dialog in der veränderten Lage, in der sowohl die Philosophie als auch die Theologie sich befanden, notwendig sei. Und zwar damit jeder der zwei Wege des Wissens größere Fülle und ein stärkeres Selbstbewusstsein erlange, und somit in gemeinsamer Zusammenarbeit besser auf die kulturellen Herausforderungen der Zeit antworten könnten. Die Art und Weise selbst, wie das Problem des Dialogs Weischedel–Gollwitzer angelegt war, erwies sich bereits als überholt und verändert. In der ersten Nummer von Filosofia e Teologia wurden Beweggründe, Aussichten und Ziele eines solchen Unternehmens dargelegt, wobei bemerkt wurde: Die Art und Weise, Philosophie und Theologie als Ausdruck einer unauflöslichen Antithese der Erfahrung und der Erkenntnis zu sehen, ist noch sehr verbreitet. In ihrer „Beziehung“ erblickt man weiterhin den alten unversöhnbaren Gegensatz zwischen kritischem und dogmatischem Wissen, zwischen gnoseologischem Pluralismus und Wahrheitsmonismus, zwischen profaner und religiöser Kulturgeschichte. Könnte es im Gegenteil nicht klar werden, dass dieser Gegensatz nur unter
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dem Preis einer wenigstens partiellen Auflösung überwunden werden kann? Und dass dieses Problem nicht nur eine erlaubte, sondern sogar essentielle Aufgabe der Erkenntnis werde? Es ist in der Tat nicht auszuschließen, dass die Antithese selbst zwischen Glauben und Wissen als solche sich als insignifikant erweise im Hinblick auf die hermeneutischen Aussichten einer integralen Erkenntnis des Menschen.
Die Aussicht auf mögliche neue Formen des Dialogs zwischen Philosophie und Theologie verbindet sich tatsächlich mit den tiefen Veränderungen, die innerhalb der zwei Disziplinen erfolgt sind. Die Entwicklung des philosophischen Denkens bietet einerseits das Bild einer bis zur Erosion reichenden Abschwächung nicht nur jeden systematischen Anspruchs, sondern des Vertrauens selbst auf die Universalität des philosophischen Logos und umso mehr seiner Autonomie und seiner sich selbst genügenden Erkenntniskraft. Die Philosophie hat sich mehr und mehr in Richtung „Methodologie“ orientiert, sei es in ihren metalinguistischen Trends analytischen und epistemologischen Typs, oder im kontinentalen Raum, in Richtung auf Theorien der Hermeneutik, die programmatisch schwach sind und die sich der Frage nach der Wahrheit nicht nur entziehen, sondern sie gar zurückweisen, wo hingegen die Philosophie, wie Adorno sagt, als Bewegung des Geistes auf die Wahrheit hin verstanden werden soll. Sie lösen die Frage nach dem Sinn in die nicht versöhnbare und nicht entscheidbare Pluralität der vielen Sinne auf. Ihrerseits hat die Theologie eine Verschiebung ihres Schwerpunkts erfahren, nämlich vom traditionell europäischen zu dem anderer Kulturen und Kontexte. Sie hat sich vor allem nach interreligiösen und ökumenischen (im weiteren Sinn) Themen ausgerichtet. Dabei hat sie sich pluralistisch nicht nur in der Methode, sondern in ihrer eigenen Konstitution entwickelt, indem sie mit Positionen des Denkens in Beziehung trat, die ihr radikal fremd sind. Was die katholische Theologie insbesondere betrifft, hat sich diese im Gefolge des zweiten vatikanischen Konzils wieder mehr auf die biblischen Quellen bezogen. Auch in der Theologie ist der universalitische Anspruch des Logos, wenigstens in der Bedeutung einer gemeinsamen, einzigen christlichen Sprache in ihrer Art in Frage gestellt.
3. Überwindung starrer Denkstrukturen Im Verlauf des nächsten Vierteljahrhunderts können wir eine weitere Veränderung der Lage registrieren. Wie können wir diese äußerst synthetisch nachzeichnen, ohne Nuancen, Sinnrichtungen und Stellungnahmen gänzlich zu verwischen? Philosophie und Theologie setzten, jede auf ihrem Gebiet, ihre Arbeit auf dem Weg einer größeren Behändigkeit und „Erleichterung“ fort: sie ließen zu schwerfällige Ausrüstungen fallen, die sie wie Ballast unter dem Gewicht zu ersticken und somit ihr Fortschreiten zu verhindern drohten. Die
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Entwicklung des beiden eigenen Gedankenganges hat immer mehr die Kategorie der Beziehung im Denken selbst der Wahrheit ins Zentrum gerückt. Dies gibt dem Dialog ein anderes Gewicht. Wenn die Wahrheit nicht als ein Gegenstand verstanden wird, dessen man sich völlig bemächtigen kann, sondern wenn man anerkennt, dass die Öffnung zur Wahrheit immer (wie Husserl lehrt) von einer Perspektive aus erfolgt, die notwendigerweise beschränkt und inadäquat ist, um die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit und in der Komplexität ihrer Gesichtspunkte zu erfassen, dann hört der Dialog auf, eine Option für „gute Manieren“ zu sein, oder ein Zugeständnis, sondern er wird zu einer wesentlichen Modalität auf dem Weg zur und in der Wahrheit. Der soziokulturelle, immer mehr pluralistische Kontext hat die Notwendigkeit und den Geschmack geweckt für Kontaminationen sowohl im philosophischen als auch im theologischen und religiösen Bereich, ohne damit gezwungenermaßen in einen radikalen Relativismus zu münden. Bezüglich des religiösen Bereichs schrieb der Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini: Die Überlieferungen, die unsrigen einbezogen, können auch Formen der Dekadenz kennen. Wir müssen uns vielmehr gegenseitig befruchten und beleben, jenseits jeglicher religiöser Zugehörigkeit, so dass jedem geholfen ist sich vor Gott zu verantworten.
4. Synergie aus der Schwäche In dieser Entwicklung erkennt man die Ergebnisse der philosophischen Arbeit des letzten Jahrhunderts. Die Kritiken der Lehrer des Verdachts; die Krise der Metaphysik und der Onto-theologie („Krise“ bedeutet nicht ohne weiteres „Ende“); die Annahme der Anregungen der Phänomenologie, der Hermeneutik, der analytischen Philosophie und der Sprachphilosophie haben tief eingewirkt. Die „Behändigkeit und Erleichterung“ von der oben die Rede war hatten (und haben) die „Schwächung“ und oberflächliche Zerstreuung auf beiden Gebieten zur Folge. Bekannter und sichtbarer auf philosophischem Gebiet, aber auch auf theologischem Gebiet erkennbar. Es sei erlaubt klarzustellen, dass, wer schreibt, weit entfernt – um nicht „antipodisch“ zu sagen – ist von Sympathien für den „schwachen Gedanken“ und für die Verherrlichung einer Form des Postmodernen, die ihren Ruhm in der Liquidation der Erbschaft der Moderne findet. Das hindert aber nicht die Zweckmäßigkeit von Stilen größerer Freiheit im Denken anzuerkennen, von Öffnungen der Horizonte, die auf überlieferte Denkformen beschränkt waren, Formen, die sich für stark hielten, aber in Wirklichkeit als starr, verschanzt und in sich verschlossen anzusehen sind. Philosophie und Theologie machten sich frei von gepanzerten Rüstungen, die jeden osmotischen Austausch untereinander verunmöglichten; sie befreiten sich von zentripetalen, selbstge-
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nügsamen Haltungen, und von der absoluten Selbstbegründung, was die Philosophie betrifft; und, was die Theologie betrifft, befreite sie sich vom Anspruch, das Monopol der unveränderlichen, die Historizität ignorierenden und der Modernität abholden Wahrheit zu besitzen. Diese relative „Schwachheit“ hat die Philosophie und die Theologie weniger geeignet gemacht, die Herausforderungen der Wirklichkeit und des Gedankens anzunehmen, hat aber gerade aus diesem Grund ihre Begegnung möglich und wünschenswert gemacht, damit jede sich des Reichtums der anderen erfreue. Es wäre falsch zu denken, dass die Annäherung zwischen Philosophie und Theologie regressiv und defensiv motiviert sei, und dass sie eine gemeinsame Front bilden könnten um irgendetwas zu „bewahren“. Ganz verschieden ist es festzustellen, wie die Synergie zwischen beiden in einem Kontext wie der aktuelle gemeinsame Sinnhorizonte anbieten kann. In diesem Kontext biedern sich nämlich wirtschaftliche Strukturen und Mächte einer „flüssigen“, auf die eigenen Kräfte verzichtenden Kultur an. Sehr starke finanzielle und technologische Kräfte bilden ein System, das potenziell erstickend ist. Im Gegensatz dazu braucht der Mensch um das Neue zu denken und zu planen, um Gesten der Freiheit vollbringen zu können ein mögliches „Anderswo“, ein extraterritoriales ubi consistam, wo in Form einer normativen Idealisierung alternative Modelle des Lebens, der menschlichen Beziehungen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft ermöglicht und vorausgenommen werden können.
5. Jenseits des Gegensatzes Mythos-Logos Die Gehege niederzureißen oder wenigstens etwas niedriger zu halten hat neue Möglichkeiten gemeinsamer Wege eröffnet. Auch in Italien gibt es seit Beginn des 21. Jahrhunderts nicht selten Initiativen und Gelegenheiten des Dialogs über die Gehege, die Laien und Glaubende trennen, hinweg. Welche Tendenzen machen sich im Augenblick geltend? Drei Bemerkungen zur Orientierung: a) Die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie artikuliert sich in verschiedenen Richtungen. Wir können die Konfrontation der Philosophie mit der „Religion“ im Sinn eines sozial relevanten Faktors unterscheiden, oder mit der Religiosität im Sinn einer psychologischen und anthropologischen Haltung (Homo als animal capax religionis), oder mit den religiösen Institutionen und ihrer öffentlichen Rolle; oder die Konfrontation der Philosophie mit der Theologie im eigentlichen Sinn, oder mit der vernunftmäßigen Erarbeitung des Glaubensinhaltes. Oder schließlich die Konfrontation der Philosophie mit den Größen „Offenbarung“ oder das „Heilige“, mit dem „Glauben“ (im doppelten Sinn als Substantiv und als Verb) als Modalität, die dem Gedanken Form gibt; oder mit der Kritik der Ideologie der
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Religion. Das alles geschieht indem sie die Säkularisation und ihre Ergebnisse berücksichtigt. b) Es ist überdies interessant zu bemerken, wie sich die hl. Schrift als neuer privilegierter Boden des Dialogs zwischen Philosophie und, im allgemeinen Sinn, Theologie erweist durch die Exegese und die biblische Hermeneutik. Dies deshalb, wie Paul Ricœur bemerkt, weil im komplexen und von hohem spekulativem Niveau charakterisierten Diskurs der Theologie bereits philosophische Elemente mit einbezogen sind. Für die Philosophie ist es deshalb besonders interessant auf nicht-philosophische Texte einzugehen, in denen jedoch der Gedanke präsent ist und die philosophisch zu denken geben. c) Dies alles erfolgt innerhalb eines kulturellen Rahmens, in dem der Gegensatz zwischen Mythos und Logos weitgehend überwunden ist. Der Mythos, oder die Mytho-logie (da wir in der Geschichte ja immer und allein mit Mythologien in Berührung sind, wie Blumenberg beobachtet) ist bereits anerkanntermaßen eine Form der Tätigkeit des Logos. Andererseits anerkennt der Logos selbst nicht der Weggang vom Mythos zu sein, das Verlassen des Mythos, sondern der „Erzählung“ gegenüber schuldig zu sein, von der er die kritische Interpretation ist; dem Bereich des Symbols schuldig zu sein, worin dieser zum „Gedanken gebracht“, konzeptualisiert, aber nicht erschöpft wird; und von Metaphern und Metaphorizität durchwoben ist. Nicht deswegen wird ihre Differenz verneint. Diese ist vielmehr eine glückliche Polarität des Sagens und des Sich-Mensch-Sagens. Gewiss wird die Polarität Mythos-Logos nicht mehr so gedacht, dass der Philosophie der Bereich des Logos und der Theologie jener des Mythos zugewiesen wird.
6. Wichtigste aktuelle Tendenzen Das auf Denker wie Rosenzweig, Tillich, Jaspers, Ricœur, L8vinas folgende Geschlecht hat deren Erbschaft übernommen und weiterentwickelt, indem es vor allem die Zentralität der symbolischen Dimension sowohl für die Philosophie als auch für die Theologie ins Licht rückt. In diesem neuen Klima findet man die bekannten Forschungsgebiete, in denen Philosophie und Theologie neue Formen der Begegnung kennen, wovon hier nur einige Beispiele genannt werden können ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit. Im frankophonen Bereich genügt es die sogenannte „theologische Wende“ der französischen Phänomenologie zu nennen, deren Exponenten Jean-Luc Marion und Michel Henry sind. Auf deutschsprachigem Gebiet denke man einerseits an den neuen Reflexionskurs von Jürgen Habermas, an seine Auffassung des Post-Säkularen und an die damit verbundene Revision der Beziehung zwischen Religion und moderner Vernunft. Auf der anderen Seite, wie Wilhelm Weischedel aus dem Inneren einer skeptischen Perspektive heraus, dazu gelangt, den Gesichtspunkt des Geheimnisses in den Blick zu fassen, dem das
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Fragen entspringt. Oder, in noch anderer Perspektive, wie Georg Scherer die Frage Gottes neu stellt. Oder noch an die mehrstimmigen Bände wie Philosophische Gotteslehre, 2008 erschienen, in denen Stimmen von nicht glaubenden Philosophen sich mit denen von Theologen und von persönlich glaubenden Philosophen ablösen. Auf anglophonem Gebiet muss der anatheistische Vorschlag von Richard Kaerney erwähnt werden (obwohl er jetzt in den USA lehrt, hat er eine europäische Bildung). Und infolge der Osmose zwischen den anglophonen Philosophien diesseits und jenseits des atlantischen Ozeans, kann man hier auch die Stimme des analytischen Philosophen Robert Audi erwähnen, der die Rationalität der Option des Glaubens verteidigt. Auf italienisch sprechendem Gebiet finden wir viele Beispiele von Philosophen, die persönlich nicht glauben, aber sich auf das Denken des Göttlichen einlassen: Massimo Cacciari, Vincenzo Vitiello, Mario Ruggenini, Salvatore Natoli (diese letzten nehmen am Abenteuer von Filosofia e Teologia teil), um nur die Bekannteren zu erwähnen. Während die Schule von Luigi Pareyson und die Erbschaft von Enrico Castelli, Italo Mancini, Albert Caracciolo, und, unter den Lebenden Virgilio Melchiorre, Giovanni Ferretti, um von nicht wenigen anderen zu schweigen, dieselbe Forschungsarbeit vonseiten persönlich glaubender Philosophen leisten. Auf theologischem Gebiet muss die Öffnung christlicher Theologen erwähnt werden, die ihre Reflexion aus den verschiedensten philosophischen Richtungen heraus führen. Hans Jürgen Verweyen, zum Beispiel, findet eine letzte Begründung der Theologie in der idealistischen Vernunft Fichtes; oder Ugo Dalferth, der eine „Begründung“ des Glaubens abweist und dessen Begriff im Rahmen eines linguistischen Pragmatismus entwickelt. Andere Theologen inspirieren sich am poststrukturalistischen Dekonstruktivismus, an der Habermasschen Ethik des Diskurses, während Religionsphilosophien, die den Horizont des Nihilismus annehmen, nicht fehlen, wie beispielsweise die von Bernard Welte.
7. Die Gabe eines „Gegenüber“. Theoretische und politische Bedeutung Der Austausch und die Auseinandersetzung zwischen einer Philosophie und einer Theologie, die gelöster und flexibler sind, frei von Erstarrung in Vorurteilen, gibt keineswegs, weder der einen noch der anderen, den Vorwand weder die seriöse Forschung noch die Behandlung zentraler Themen aufzugeben, um sich ausschließlich Randproblemen zu widmen. Im Gegenteil. Gerade weil sie nicht gehindert werden sich dem fundamentalen „Anderen“ zu öffnen, das jede von beiden sich gegenüber hat, werden sie wieder dazu geführt sich mit den „letzten Wirklichkeiten“ (the ultimate concern von dem Tillich sprach), den wesentlichen Problemen, die ihnen eigen sind und die sie
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weithin gemeinsam haben, zu beschäftigen, ohne aufzuhören sich voneinander zu unterscheiden, sei es wegen der Quellen, aus denen sie schöpfen, sei es wegen der Methode (met/ hodks: der Weg auf dem sie voranschreiten), sei es wegen der Richtung ihres Weges, der sie folgen. Vereinfachend können wir sagen: die Theologie „erinnert“ die Philosophie allein durch ihr Vorhandensein daran, dass diese sich nicht dem Problem des letzten Sinns entziehen kann; dass sie nicht der einzige Diskurs sei durch den es thematisiert wird; dass die Skepsis, das radikale Fragen nicht ein unberührter, absoluter Anfang sind, sondern einen Sinnhorizont und einen Bedeutungshorizont voraussetzen. Die philosophische Geste, die sie kritisch in Frage stellt, um in der Forschung von jeder Aussage kritische Rechenschaft zu verlangen, kann sie nicht eliminieren und kann sie nicht ersetzen. Die Philosophie erinnert ihrerseits die Theologie daran, dass der Bezug auf eine Tradition von Texten sie nicht von der Aufgabe befreien kann, sich das Problem der Universalität zu stellen; dass die Eröffnung des Kredits genannt Glaube sie nicht davon befreien kann, das Problem der Wahrheit zu stellen, und kritisch sowohl die fides qua als auch die fides quae creditur zu hinterfragen. Andernfalls ist das Glauben an Stelle der Öffnung dem Anderen gegenüber ein Zirkelschluss, der sich selbst bestätigt. Der Glaubensakt als solcher wird vergöttert, und es werden unter dessen Voraussetzung unterschiedslos seine Inhalte gerechtfertigt, sodass man in die nackte Ideologie endet. In diesem Sinn können Philosophie und Theologie erkennen, dass sie nicht zwei einander fremde Disziplinen, sondern zwei nicht summierbare, aber in ihrem dialektischen Charakter integrierbare Denkbewegungen des menschlichen Diskurses sind. Die Annäherung zwischen Philosophie und Theologie nimmt übrigens öfters die Form der gegenseitigen Übernahme von Interessen und Themen an als die des Dialogs miteinander. Manchmal wird diese Annäherung dahingehend verfolgt, dass für eine substanzielle Identität zwischen beiden argumentiert wird, wobei die Differenzierung allein äußeren, historischen, politischen und kulturellen Umständen zu verdanken wäre: was überwunden werden sollte im Hinblick auf ihre Fusion. Philosophie und Theologie formten sich und erreichten ihre Identität innerhalb einer konstitutiven Beziehung, infolge gegenseitiger Differenz, in einer Geschichte, die sie in ihrem Differenzierungsprozess von einer gemeinsamen Matrix ausgehend gesehen hat. Von einer undifferenzierten Einheit und einer symbiotischen Gestalt haben sie sich abgespalten, auch durch Konflikte hindurch und gegenseitiges Sich-Verleugnen. Die eroberte Unabhängigkeit und die Angst vor neuen Formen der Absorption hat sie veranlasst, sich gegenseitig zu ignorieren und sich voneinander zu entfernen. Jetzt scheinen sie sich wieder anzunähern. Das kann durch Schwächung des Unterschieds erfolgen, in einem gegenseitigen Sich-Ähnlich-Werden bis zur Beseitigung ihrer Differenz. Oder es kann erfolgen mittels der Aufwertung ihrer Differenz, in einer gegenseitigen Anerkennung, in welcher jede die andere „bittet“ für sie ein ’ezer ke-negdo (Genesis 2, 18), eine ihr gegenüber
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gestellte Hilfe zu sein, damit es eine reiche und fruchtbare Beziehung geben kann. Indem sie verschieden bleiben, können Philosophie und Theologie wie zwei Spiegel verstanden werden, die einander gegenübergestellt werden und dem Betrachter eine Schau von großer Tiefe in der Erzeugung von Sinn und Gedanken vermitteln können. Das Signet der Associazione Italiana per gli Studi di Filosofia e Teologia (AISFET: Italienische Gesellschaft für philosophische und theologische Studien) ist eine Bearbeitung des bekannten Mosaiks der zwei Tauben, das sich im Mausoleum der Galla Placidia, Ravenna, befindet. Zwei Tauben, die auf dem Rand der gleichen Schale ruhen, die aber zwei verschiedene Haltungen zeigen: die eine trinkt, die andere blickt forschend hinaus. Sie schauen in verschiedene Richtungen und umfassen nur so das intendierte Ganze. Die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie ist für das Verständnis der europäischen Kultur wesentlich. In ihr spiegelt sich das kulturelle Verhältnis zwischen Mythos und Logos. Die Idee, dass die Theologie Mythos sei und die Philosophie Logos ist nunmehr weitgehend und glücklicherweise überwunden. In beiden sind die zwei, Mythos und Logos, miteinander im Spiel. Mehr noch: Im Innern der philosophischen und theologischen Selbstreflexion, die auch von der Überlegung über ihr gegenseitiges Verhältnis angeregt ist, erkennt man wie der Logos im Mythos eingebettet ist und der Mythos im Logos, und somit ihr gegenseitiges Ineinander. Dies kann Europa auf einem im weiteren Sinn kulturellen Boden helfen. Europa kann mit Recht sowohl das Abgleiten ihrer Mythen als auch jenes seiner rein berechnenden Vernunft fürchten: die Geschichte der Religionskriege, der nationalistischen Auseinandersetzungen und der von totalitären Ideologien provozierten Tragödien ist eine ständige Mahnung. Aber gerade deswegen kann Europa sich der Anregungen bedienen, die von der philosophischen und theologischen Reflexion über die notwendige Vermittlung zwischen Mythos und Logos kommen, sie ineinander flechten, sie gegenseitig ins dialektische Spiel bringen und sie zu einer synergetischen Kraft reifen lassen, sie ineinander schmelzen ohne ihre Eigenart auszulöschen. So kann Europa in den eigenen mythischen Ursprüngen (die eben von einem außereuropäischen Ursprung Europas sprechen und von dessen Stellung im Zentrum der vielen, gegenseitig miteinander verbundenen Völker), im Lichte des Logos, der Geschichte und der Aktualität unzweideutig interpretiert, eine Anregung entdecken, sich selbst in mehr poetischer Weise zu denken und zu verwirklichen, in einschließender, pluralistischer und dem Neuen offenen Weise, fähig die Freiheit zu fördern, indem es von der Feindseligkeit zur Gastfreundschaft schreitet.
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Notger Slenczka
Emotionales Selbstbewusstsein – theologische Implikationen eines phänomenologischen Ansatzes
Einleitung Was hat das Verhältnis von Philosophie und Theologie mit einem „emotionalen Selbstbewusstsein“ zu tun? Und was soll das eigentlich sein: „emotionales Selbstbewusstsein“? Den zur Verfügung stehenden begrenzten Raum werde ich nicht mit großen Einleitungen verschwenden, sondern kündige nur an, dass ich mich auf den Obertitel konzentrieren werde und auf die Verbindung von Theologie und Phänomenologie nur knapp eingehen werde. Ich werde lediglich drei kurze Gedankenschritte gehen (Dreischritte sind das Laster, durch das ein Theologe sich ständig verrät): Ich werde zunächst wenige Sätze zum Phänomen „Selbstbewusstsein“ sagen und daran erinnern, dass dieses Phänomen einen entscheidenden Aspekt dessen markiert, was wir mit dem Titel „Europa“ meinen. Wenn man diesem Aspekt nachgeht, stößt man auf das, was ich „emotionales Selbstbewusstsein“ nenne – das ist der zweite Schritt. Ich werde dann in einem dritten, sehr kurzen Schritt sehr thesenartig zu formulieren versuchen, was dies für einen Aspekt des Verhältnisses von Philosophie und Theologie bedeuten könnte. Diese vorgreifende Andeutung ist kryptisch – aber wenn damit schon alles klar wäre, wäre der Beitrag überflüssig.
1. Die Reformation und das Selbstbewusstsein Der Ausgangspunkt ist zunächst durchaus protestantisch, im Zeitalter der Lutherdekade passenderweise: lutherisch. Es war Hegel, der Europa nicht nur geographisch, sondern als Schritt in der Entwicklungsgeschichte des Geistes definierte: Das Prinzip des europäischen Geistes ist die selbstbewusste Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, dass Nichts gegen sie eine unüberwindliche Schranke sein kann, und die daher Alles antastet, um sich selbst darin gegenwärtig zu werden.1 1 Hegel Georg Wilhelm Friedrich 1830, 1970, III, § 393 [Zusatz], 10, 62.
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Dies Prinzip der Selbsterfassung und der Selbstbestimmung und damit der nicht sinnlichen, sondern allgemeinheitsfähigen Freiheit manifestiert sich im geographischen Europa im Laufe einer Geschichte, in der die Reformation eine entscheidende weltgeschichtliche Funktion einnimmt, die Hegel in seiner Philosophie der Weltgeschichte würdigt: Erst die germanischen Nationen sind im Christenthume zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frei, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; dies Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber dieses Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung war.2
Das Prinzip der Subjektivität meldet sich in der Person Luthers und ist der entscheidende Gewinn der Reformation; dort erfolgt die Transformation der objektiven Gestalt des Geistes – des Christentums, das sich in der kirchlichen Anstalt, in der gegenständlichen Lehre und in den Sakramenten darstellt – in individuelle Subjektivität. Die Freiheit macht sich dabei erst negativ geltend als Widerspruch gegen den Anspruch der anstaltlichen Kirche auf Herrschaft über das individuelle Gewissen; aber in diesem Widerspruch lebt eben das Prinzip der Reformation: die Überzeugung von der Autonomie des Subjekts. Hierzu noch einmal Hegel, nun aus der Philosophiegeschichte: Dies ist nun das, was der lutherische Glauben ist, daß der Mensch im Verhältnis zu Gott stehe und hierin er selbst als dieser nur erscheine …; d. h. seine Frömmigkeit und die Hoffnung seiner Seligkeit und alles dergleichen erfordere, daß sein Herz, sein Innerstes, seine Empfindung, seine Überzeugung, seine Gesinnung dabei sei, kurz: schlechthin das Seinige. … Hier ist also das Prinzip der Subjektivität, der reinen Beziehung auf sich selbst, worauf alles andere beruht, nicht nur anerkannt; sondern es ist schlechthin gefordert, daß es nur darauf ankomme im Kultus, in der Religion. Dies ist die höchste Bewährung dieses Prinzips, daß nur dies vor Gott gelte; nur der Glaube, nur das eigene Herz, die Überwindung des eigenen Herzens und die Begeisterung des eigenen Herzens ist das Prinzip der christlichen Freiheit.3
Es ist mit diesem Zitat deutlich, dass nicht allein der negative Widerspruch gegen die Ansprüche der Institution den Neueinsatz der Reformation markiert; das Zentrum und die eigentliche Entdeckung ist nach Hegel vielmehr die Einsicht, dass alle Inhalte des Glaubens zur individuellen Aneignung bestimmt sind und dass in diesem Vollzug der Aneignung – im Zitat: im „Dabeisein des Herzens“ – das Wesen des christlichen Glaubens liegt. Das Prinzip der Subjektivität tritt als Vorzeichen vor die objektive Gestalt des Geistes in der kirchlichen Hierarchie und in der Lehre und beginnt, sich in den objektivierten Gestalten des Christlichen durchzusetzen. Darin ist eben das Subjekt 2 Hegel Georg Wilhelm Friedrich 1837, 1976, 12, 31. 3 Hegel Georg Wilhelm Friedrich 1825–1826, 1986, 63.
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als das unabdingbare und nicht auf anderes zurückzuführende und insofern freie Grundprinzip erfasst – die Anspielungen auf Descartes im eben zitierten Text sind evident. Mit dem Rekurs Luthers auf die Unvertretbarkeit des individuellen Glaubens wird die Bedeutung der Subjektivität entdeckt. Das Subjekt ist entdeckter Geltungsgrund aller objektiven Gestalten des Christlichen; und von diesem Zentrum der Religion aus setzt sich dieses Prinzip der Freiheit in allen anderen Lebensbereichen durch – vgl. das zweite Zitat. Die Neuzeit, diese eigentümliche Epoche, die spezifisch ist für Europa, beginnt, so Hegel, mit dieser Entdeckung der konstitutiven Funktion des Subjektes, d. h. sie beginnt nicht mit Descartes, sondern auch Descartes ist eine Position, in der sich der Ertrag des religiösen Umbruchs der Reformation versammelt. Damit haben Sie den ersten Schritt bereits überstanden, aber bevor Sie sich freuen, kündige ich an, dass der zweite Schritt umfänglicher und detailreicher ist.
2. Europa und die Buße Ich habe den Eindruck, dass diese von Hegel auf Luther zurückgeführte Linie, weiter zurückreicht. Wenn man ihr folgt, dann sieht man, dass die Gestalt des Selbstbewusstseins, um die es Luther im Zentrum geht, eine andere ist als diejenige, die Hegel vor Augen hat. Ich kann hier nur Linien skizzieren und gehe jetzt erst einmal von Luther aus ein paar große Schritte zurück:
2.1. Luther und die meditatio Luthers grundlegende Einsicht ist m. E. am besten greifbar in der Gestalt, die Luther ihr in der ersten Psalmenvorlesung 1513, also in der Frühzeit seiner akademischen Tätigkeit gibt – nur ein Beispiel: Luther befasst sich hier in der Auslegung von Psalm 1 mit dem Lob des Gerechten, der nach diesem Psalm über dem Gesetz des Herrn grübelt Tag und Nacht („in lege eius meditatur die ac nocte“); und Luther stellt das meditari dem imaginari und cogitare gegenüber : Die Fähigkeit zum meditari ist eine rationale Fähigkeit. Meditari und cogitare sind nämlich etwas Unterschiedliches, denn meditari bedeutet hartnäckig, tief, sorgfältig cogitare zu tun, und ist eigentlich ein Wiederkäuen im Herzen [ruminare in corde]. Daher heißt meditari eigentlich in der Mitte [vgl. cor – Herz] bewegen oder in der Mitte und im Innersten bewegt werden [in medio et intimo moveri]; wer also innerlich und sorgfältig denkt [cogitat], fragt, erwägt, der meditatur.4 4 Luther 1513, Enarratio in Psalmos, WA 55; 11,26–12,5 [alle Übers. hier und im ff. N.Sl.).
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Was heißt „das Gesetz meditari“ – fragt Luther. Dieses meditari des Gesetzes hat die Liebe zum Gesetz zur Voraussetzung, so Luther, denn nur über dem, was wir lieben, grübeln wir sorgfältig, während wir über das, was wir hassen oder was uns gleichgültig ist, leicht hinweggehen. Cogitare und meditari sind hier einander nicht einfachhin entgegengesetzt, sondern das meditari ist gleichsam ein tiefergelegtes cogitare, in dem die Instanz des Herzens oder des „Inneren“ mitbetroffen ist. Das meditari vollzieht sich „nicht im Mund oder auf der Zunge, auch nicht in den Häuten des Herzens, sondern drinnen in der Mitte und im innersten Mark des Herzens.“5 Das meditari des Gesetzes ist keine bloß oberflächliche, kognitive Kenntnisnahme, es ist auch nicht ein Wollen; sondern dies meditari verbindet Luther mit einer ins Extrem ausgearbeiteten Bußtheologie: der Gerechte meditiert, indem er ein accusator sui – ein Ankläger seiner selbst ist. Das meditari des Gesetzes vollzieht sich im emotionalen Akt der contritio. Das ins Herz gehende meditari über dem Gesetz ist die contritio; es ist ein cogitare, bedenken, das in eine emotionale Selbstwahrnehmung am Leitfaden des Gesetzes übergeht, die er, die Kommentierung des Psalm 1 abschließend, in einem corrolarium zum Stichwort iudicium entfaltet: … was unsere Scholastiker in theologischer Terminologie die Akte der Buße [actus penitentiae] nennen, nämlich: sich selbst mißfallen, verabscheuen, verurteilen, anklagen, der Wille anzuklagen, sich zu strafen, zu tadeln und mit innerer Bewegung [cum affectu (korr. aus effectu)] das Böse zu hassen und sich selbst zu zürnen, das nennt die Schrift mit einem Wort ,Urteil‘ … So ist insgesamt das Sein, die Heiligkeit, die Wahrheit, die Gutheit, das Leben Gottes etc. nicht in uns, wenn wir nicht erst nichts, unheilig, Lügner, böse und tot vor Gott werden …6
Dieses meditari des Gesetzes, das aus der Liebe zum Gesetz kommt, ist daran erkennbar, dass es die Gestalt der accusatio sui ipsius – der Selbstanklage hat: die Erkenntnis wird zur Selbsterkenntnis. Das hat viele Implikationen; für mein leitendes Anliegen ist entscheidend, dass hier wie in den anderen einschlägigen Texten erkennbar wird: es geht nicht nur um die Beschreibung einer thematischen Selbsterkenntnis, sondern es geht bei diesem negativen Selbstverhältnis der Buße um eine vorthematische Intensität dieses negativen Selbstverhältnisses, für die er zum Begriff des affectus greift und den emotionalen Mehrwert in Anspruch nimmt, die die affektiven Begriffe „Zorn“, „Hass“ etc. enthalten (vgl. im Zitat oben: „mit innerer Bewegung das Böse zu hassen und sich selbst zu zürnen“). Der Unterschied zur thematischen Selbsterkenntnis liegt nach Luther darin, so könnte man jetzt im einzelnen zeigen, dass dieses emotionale Selbstverhältnis nicht gewählt ist, sondern das Subjekt überfällt, wenn es meditari tut mit Bezug auf das Gesetz. 5 Ebd. 30,28 f. 6 Ebd. 37,10–13. 19–21. 26–30; vgl. auch 26.
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Luther kommt es offensichtlich darauf an, den religiösen Akt nicht als gegenständliches Erkennen, sondern als eine den Menschen im Innersten erfassende Bewegung des Selbstverhältnisses bzw. der Selbsterkenntnis zu beschreiben. Das göttliche Gesetz ist nicht dann erfasst, wenn es als Quelle von Erkenntnissen oder von Handlungsanweisungen verstanden ist – das wäre cogitare. Verstanden ist das Gesetz dann, wenn es zur Quelle einer Selbsterkenntnis wird, die der Mensch nicht vollzieht, sondern die sich an ihm vollzieht. Der religiöse Akt ist nicht dem cogitare verwandt, sondern dem Überfallartigen des Affekts, der passio. Und diese passio ist eine Gestalt der emotionalen Selbsterkenntnis: contritio – Zerknirschung; odium sui – Selbsthass; und genau dies negative Selbstverhältnis ist gemeint, so Luther, wenn die Tradition vom „Jüngsten Gericht“ oder von der „Hölle“ spricht. 2.2. Bernhard von Clairvaux – Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis Dieses Insistieren darauf, dass Religion nicht Erkennen von göttlichen Gegenständen, sondern Selbsterkenntnis ist, und dass diese Selbsterkenntnis kein thematisches Erkennen, sondern ein vorbewusster, vorthematischer Akt ist, der den Menschen überfällt mit der Kraft der Emotion – diese Einsicht hat Luther nicht erfunden, sondern er übernimmt sie von Bernhard von Clairvaux, den er gerade in der Zeit der Ausarbeitung seiner Ersten Psalmenvorlesung sehr genau liest. Hier trifft er auf eine Position, die die Gotteserkenntnis und die Selbsterkenntnis nicht nur auf engste verschränkt; vielmehr erklärt Bernhard die Selbsterkenntnis zur Voraussetzung der Gotteserkenntnis. Noch genauer müsste man sagen: In der Selbsterkenntnis liegt die Gotteserkenntnis. Auch Bernhard geht es, wie Luther, um eine Selbsterkenntnis, die eine Gestalt der Demut, genauer der contritio, ist: Ich wünsche deshalb, daß eine Seele zuallererst sich selbst erkennt … Durch eine solche Erfahrung und in einer solchen Ordnung gibt sich Gott auf heilsame Weise zu erkennen, wenn sich der Mensch zuerst in seiner Bedürftigkeit erfährt und dann zum Herrn ruft. … Eben auf diese Weise wird deine Selbsterkenntnis ein Schritt (gradus) zur Gotteserkenntnis sein; und in seinem Bild, das in dir wiederhergestellt wird, wird er selbst zu sehen sein.7
Genau um dieses, jede Gotteserkenntnis begründende Wissen um sich selbst geht es in der Demut, zu der Bernhard seine Mönchsbrüder einzuweisen sucht in Predigten, die geniale Seelenleitung sind. Denn auch hier : Von der Selbsterkenntnis im Modus der humilitas wird man im Hören der Predigt oder im Lesen der Schrift ergriffen. Alle Feinheiten können wir weglassen; auch hier geht es um Selbsterkenntnis, und auch hier geht es wieder um eine Selbsterkenntnis, die ihren Ort 7 Bernhard von Clairvaux 1994, 568–571.
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nicht in der Helle des thematischen „Wissens über“ sich selbst hat, sondern im Halbdunkel der contritio – Zerknirschung. Damit bewegen wir uns im Rahmen der mönchischen Seelsorge und wenig später im Rahmen des Bußsakraments, das ich persönlich als die wichtigste Kulturleistung des Christentums im westlichen Europa betrachte. Sie wissen alle, dass mit dem Vierten Laterankonzil 1215 die jährliche Beichtpflicht verordnet wird: Einmal im Jahr mussten alle religionsmündigen Menschen zum Bußsakrament gehen, und das heißt: die Selbsterforschungskultur, die das Mönchtum etwa bei Bernhard ausgebildet hatte, wurde – jedenfalls der normativen Idee nach – allgemein. Es handelt sich hierbei in der Tat nicht einfach um ein Instrument zur Sozialdisziplinierung. Denn der Idee nach ist das Verhältnis von Beichtkind und Beichtvater nicht so strukturiert, dass der Beichtvater Repräsentant der Öffentlichkeit, Staatsanwalt oder Richter ist, der die Abgründe der Seele des Beichtkindes erforscht und erkennt. Er hat vielmehr die Aufgabe, im unverbrüchlichen Schweigen und in der Privatheit des Gesprächs das Beichtkind zur Erkenntnis der Wahrheit seiner selbst, in das Selbstverhältnis der contritio zu leiten. Es geht gerade nicht darum, dass der Beichtvater erkennt und urteilt, sondern das Beichtkind muss sich selbst erkennen. Die jährliche Beichtpflicht etabliert eine Kultur der Selbsterkenntnis. Und genau dies steht auch im Zentrum der Reformation; sie ist unter dieser Perspektive lediglich die Ausweitung und Ent-Institutionalisierung dieser Kultur der Selbsterforschung. Nicht mehr einmal im Jahr ist diese Selbsterforschung angesagt, sondern der gesamte Lebensvollzug tritt unter das Vorzeichen der contritio, d. h. einer beständigen negativ wertenden Wahrnehmung des eigenen Lebensvollzuges: „Als Jesus Christus sagte: Tut Buße, da wollte er, dass unser ganzes Leben eine Buße sei.“ 2.3. Augustin und die Scham Letztlich geht diese Aufmerksamkeit auf die individuelle Subjektivität, wie fast alles im westlichen Europa, zurück auf Augustin, der insbesondere in seinen Beiträgen zum Verständnis des Willens, dann aber insbesondere in den Confessiones und in De Trinitate ein Verständnis der individuellen Subjektivität ausarbeitet, das darin seine Besonderheit hat, dass es nicht begrifflich geleitet ist, sondern einer intensiven Selbstreflexion und dem Bemühen um eine phänomengerechte Selbstbeschreibung entspringt, von der her Augustin die ihm überkommene anthropologische Terminologie neu justiert. Ich konzentriere mich auf eine einzige exemplarische Passage aus den Confessiones, aus Buch 8, das in der Beschreibung der berühmten Gartenszene mündet, in der sein Weg zu Gott zu einem vorläufigen Ziel kommt. Augustin beschreibt hier den Zustand, dass ihm im Sinne der kognitiven Einsicht bereits von seinem neuplatonischen Erbe her die Wahrheiten über Gott und auch über den Logos einsichtig sind. Er beschreibt den Zustand, dass ihm auch einsichtig ist,
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was von ihm gefordert ist – nämlich die unzweideutige Hingabe des gesamten Lebens an ein Ziel, und das heißt für ihn: Die Aufgabe seiner Konkubine. Er beschreibt dies allerdings als den Zustand eines Zwiespaltes des Willens, beschreibt sich als gebunden an die Welt und als unfähig, seinen Willen zu regieren. Was ihm fehlt, so konstatiert er, ist nicht die Einsicht in das, was er soll, sondern er ist unfähig, zu wollen, was er soll. Die eigentliche Wandlung des Willens vollzieht sich in zwei Schritten, deren erster in der Überzeugungskraft eines fremden Bekehrungserlebnisses seinen Ursprung hat – Augustin beschreibt, wie er durch die Erzählung von zwei jungen Männern, die nach der zufälligen Lektüre der Vita Antonii den Staatsdienst aufgaben und Mönche wurden, erschüttert wurde. Er beschreibt diese Erschütterung mit folgenden Worten, auf die es ankommt: Dies erzählte Ponticianus. Du aber, Herr, hast mich während seiner Worte gewaltsam gegen mich selbst zurückgewendet, mich hinter meinem Rücken hervorholend, wo ich mich niedergelassen hatte, weil ich nicht aufmerken wollte auf mich selbst, und du hast mich vor mein Angesicht gestellt, daß ich sähe, wie schändlich ich sei, wie verdreht und schmutzig … Und ich sah und erschrak und es gab keinen Ort, an den ich vor mir selbst fliehen könnte.8
Das ist eine ungeheuer kunstvolle Beschreibung, denn in gewisser Weise sind wir alle in unserem Rücken: unser Gesicht sehen wir nicht, sondern wir sehen mittels unseres Gesichts, stehen also in der Tat gleichsam hinter dem Rücken unseres Gesichts. Augustin beschreibt nicht, dass er sich erstmals sieht, sondern dass er sich erstmals ins Gesicht sieht. Die emotionale Selbstidentifikation mit den jungen Männern, von deren Entscheidung ihm erzählt wird – er liebt sie, sagt er im folgenden Zitat –, führt dazu, dass er sich sieht, den er, wie er schreibt, wohl kannte, aber über den er sich hinwegtäuschte und den er vergaß: Dann aber, je brennender ich sie [die jungen Männer, die sich bekehrten] liebte, von denen ich hörte, daß sie sich mit gesunder Leidenschaft dir ganz zur Heilung übergeben hatten, desto unsäglicher haßte ich mich selbst im Vergleich mit ihnen.9
Dieser negativ wertende Blick auf sich selbst ist lediglich die Kehrseite der Identifizierung mit dem Guten, das ihm in Gestalt der beiden jungen Männer entgegentritt. Derjenige, der emotional vom Guten ergriffen ist – es liebt –, trennt sich von sich selbst, tritt sich selbst gegenüber und sieht sich selbst ins Gesicht. Dieser Zustand der vollendeten, täuschungsfreien Selbsterkenntnis ist ein emotionaler Zustand den Augustin als Selbsthass oder als Scham zusammenfasst. Auch hier, bei Augustin – darum ziehe ich ihn hier heran – kommt alles darauf an, dass dieser Vorgang keine kognitive Erkenntnis ist und nichts, was 8 Augustin, 8, VII,16. 9 Ebd. VII,17.
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ein Mensch wählen könnte. Dass ein Mensch überhaupt zur Einsicht in die Wahrheit seiner selbst gelangt, ist, so Augustin, ein unwillkürlicher Vorgang, der das Subjekt mit der elementaren Kraft und Unentrinnbarkeit des Gefühls überfällt: contritio – Zerknirschung, oder erubescentia – Scham. Und dennoch ist hier, bei Augustin, wie auch bei Bernhard und Luther und vielen anderen, ein entscheidendes Moment an dieser Erfahrung das Moment der Evidenz: das Bewusstsein, nun und nun erst richtig und in Durchbrechung aller Täuschungen vor sich selbst und vor seiner Wahrheit zu stehen. Und eben dieser Evidenz des „dies bin ich in Wahrheit und diesseits aller Täuschungen“ trägt die Rede vom göttlichen Richter Rechnung, mit dessen Urteil der Mensch, wenn er so vor sich selbst gestellt ist, übereinstimmt – denn Gott ist, jedenfalls nach den reflektiertesten Gestalten der mittelalterlichen Gotteslehre, mitnichten da draußen irgendwo und sieht mich, sondern er ist mir innerlicher als ich mir selbst bin, wie Augustin sagt. Gott ist ein Moment in meinem emotionalen Verhältnis zu mir selbst, und die explizite Rede von Gott als dem Richter bringt genau dies zur Sprache.
3. Europa und die Kultur der Selbsterfassung Ich bin nun Hegels Deutung Europas als Ort individueller Autonomie und seinem Hinweis auf Luther gefolgt und bin von dort aus weiter zurück bis zu Augustin gegangen, der explizit das „Erkenne dich selbst“ des Gottes von Delphi als das Grundgebot des Christentums auslegt. Ich habe versucht, die These einsichtig zu machen, dass der kognitiven Klarheit des Selbstverhältnisses, das bei Descartes als explizites cogitare gefasst ist; dass das als „ich denke“, das alle meine Anschauungen begleiten können muss, damit sie meine heißen können, so Kant; dass dieser kognitiven Klarheit des Selbstbewusstseins, das als Selbsterfassung und Selbstbestimmung ausgelegt wird, geistesund mentalitätsgeschichtlich das im Bußsakrament gepflegte emotionale Selbstverhältnis der contritio zugrunde liegt, d. h. das als passives Widerfahrnis erlebte, wertende Erfassen seiner selbst, das in den kirchlichen Medien hervorgerufen wird und den Menschen fremdbestimmt überfällt. Dass die Frage, wer wir sind, dass die Aufgabe der Selbsterkenntnis, dass die Frage, wie wir – im Gewirr der vielfältigen Urteile anderer über uns und unserer selbst von uns – uns selbst in Wahrheit sehen – dass diese Frage uns beständig begleitet, ist eine Kulturwirkung des Christentums, genauer : des Bußsakraments, das eben ganz darauf gerichtet ist, das Beichtkind zur unvertretbaren Aufmerksamkeit auf sich selbst anzuleiten. Es wäre ein eigener Abschnitt des Beitrags – der den Titel gerechtfertigt hätte, den ich jedoch aus Gründen des Umfangs gestrichen habe –, im Rückgriff auf die Hermeneutik der Existenz und im Gefolge Heideggers, Merleau-Pontys oder Ricoeurs zu zeigen, dass nicht nur historisch, sondern
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auch phänomenologisch der expliziten Klarheit des Wissens um sich selbst ein nicht-gegenständliches, emotionales Gewahrsein seiner selbst zugrundeliegt. Dies lässt sich bei Heidegger beispielsweise in der Gestimmtheit der Angst greifen und beschreiben, oder bei Sartre beispielsweise in den sozialen Emotionen der Scham als Grundlage der ursprünglichen, aber konflikthaltigen Sozialität der menschlichen Existenz. Die christliche Religion, in deren Zentrum das Verhältnis des Menschen zu dem richtenden Gott steht, nimmt dieses vorthematische Selbstverhältnis als Zentrum menschlicher Existenz ernst und geht mit ihm um. Alle gegenständlichen Aussagen der christlichen Religion und alle ihre Institutionen sind Anleitung zur Deutung und Bewältigung der Problematik dieses Selbstverhältnisses, und es ist eine Aufgabe, der beispielsweise Ricoeur, aber eben auch Heidegger in den Vorlesungen seiner Frühphase sich gestellt haben, diesen existentialen Sinn der gegenständlichen christlich-religiöser Aussagen herauszustellen: Die gegenständlichen Aussagen des christlichen Glaubens – alle, auch die Rede von einem Gott – sind, recht verstanden, übersetzbar in eine Phänomenologie des vorrationalen Selbstverständnisses.
4. Fazit Ich hebe abschließend nur eine mögliche Implikation des Gedankens heraus und stelle sie zur Diskussion. Die europäische Idee der ursprünglichen Unantastbarkeit des Individuums und der individuellen Selbstbestimmung hat ihren Grund in der Entdeckung des Privaten, der Privilegierung des Blickes auf sich selbst, der jedem anderen Blick entzogen ist und nur dem Individuum selbst sich entdeckt. Das Siegel des Schweigens, das das Bußsakrament umgibt, ist getragen von diesem Wissen: Der Beichtvater ist eben nach dem Verständnis der mittelalterlichen Theologen nicht ein zur Öffentlichkeit verpflichteter Staatsanwalt oder Richter, sondern ein Helfer zur Selbsterkenntnis – und nicht nur zur Erkenntnis, sondern eben zur contritio, zu diesem emotionalen negativen Selbstverhältnis, das die Tradition mit „Gewissen“ bezeichnet. Die genealogische These, die ich markiert habe und die als systematische These einholbar ist, wäre demnach diese: Die Entdeckung des Selbstbewusstseins ist fundiert im Phänomen des Gewissens und damit in einer religiösen Kultur der Selbsterforschung, die geleitet ist von der Frage nach der Wahrheit meiner selbst. Nun könnte man die philosophische Entdeckung der Privilegierung des Selbstbewusstseins und dessen von Hegel beschriebene kulturelle Funktion etwas primitiv als einen Vorgang der Säkularisierung eines ursprünglich religiösen Gedankens lesen: Dieser religiöse Ursprung ist die Leiter, derer man nicht mehr bedarf, wenn man den gewünschten Stand in der Helle des Selbstbewusstseins erreicht hat. Man könnte diesen Gedanken – dass das Helle im Halbdunkel der Emotion fundiert ist – aber auch so fassen: Könnte es nicht sein, dass die Klarheit einer
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Idee eines kulturellen Untergrundes bedarf – nicht um zu entstehen, sondern um zu bleiben? Bedarf eine Kultur der Individualität nicht der Institutionen, in denen diese reflexive Individualität am Leitfaden der Frage nach sich selbst nicht nur gedacht, sondern elementar gelebt und erfahren wird? Sind nicht Religionen solche Institutionen, in denen zur Frage nach sich selbst im Angesicht des beständigen Verdachtes, sich zu seinem ewigen Schaden über sich selbst zu täuschen, angeleitet wird?
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Mario Ruggenini
Das Wesen des Gesprächs
1. Die Wahrheit des Gesprächs und die Dichtung Mit dem Wort, an seinem Ursprung, eröffnen sich die Grenzen der Existenz und die Sprache selbst offenbart sich als die Alterität, welche die Existenz hervorruft und sie zu sprechen auffordert; die Alterität, von der also die Existenz abhängt und über die die Existenz nicht verfügt. Aber die Alterität der Sprache liegt ihrerseits nicht anderswo im Hinblick auf das Verhältnis, das die Existenz bei den Dingen innehat sondern erschließt und lenkt dieses Verhältnis. Das bedeutet, dass Sprache als Alterität sich nur im menschlichen Sprechen ereignet, welches die Welt offenbart, ohne sich jedoch nur auf die Fähigkeit zu beschränken, die menschliche Existenz einfach nur zu steigern oder zu vollenden. Es ist also zu bedenken, dass es keine Existenz ohne Sprache gibt, um zu verstehen, dass umgekehrt Sprache Welt nur in den Worten eröffnet, dank deren die Menschen existieren. Die Sprache ist so Grund des Menschseinkönnens, aber nur insofern die Sprache das Ereignis der Welt ist. „Nur wo Sprache ist, da ist Welt“, sagt Martin Heidegger. Das aber bringt mit sich, dass Welt nur ist, wo es existierende Menschen gibt, wo Menschen über die Dinge sprechen, denen jeder nur durch die Worte begegnen kann.1 Der Grund meiner Überlegungen ist der Gedanke einer hermeneutischen Erfahrung der Sprache als Offenheit der Welt, die die Existenzen aufruft, das Sein der Dinge zu interpretieren. Diese Erfahrung aber setzt kein „natürliches“, optimistisches Vertrauen auf einen endgültigen Offenbarungscharakter der Worte, im Sinne des alten Spruchs, nach dem die Natur nicht lüge. Im Gegenteil können wir, einem Wort Hölderlins folgend, auf den tiefen Grund der Tragik der Sprache gehen. Dieses Wort erreicht uns von seiner tragischen Erfahrung der Dichtung her. Tatsächlich ist Hölderlin der Dichter des Zerschellens der Worte an der Erfahrung des Geheimnisses der Welt, sofern es für ihn als Dichter notwendig wurde, die Endlichkeit des Menschen gerade aufgrund dessen zu denken, was den Menschen gegenüber jedem anderen Lebewesen auszeichnet. Auf diesem Weg seines dichterischen Denkens enthüllte sich ihm das ausgezeichnete Gut der Sprache als „der Güter aller Gefährlichstes“, das, während es die Existenz zu sich selbst ruft, droht, sie zu ver1 Vgl. a) Aristoteles: das „natürliche“ Vertrauen zur Sprache; b) Nietzsche: Sprache als Gewalt.
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lieren. So wird auch für uns das vielfache In-der-Welt-einander-begegnen der Menschen – insofern sie sich miteinander im „Ge-spräch“ befinden – zu dem, was es aufgrund des rätselhaften Sagens der Dichtung zu bedenken gilt. Wie man weiß, ist „Gespräch“ ein weiteres Wort Hölderlins, auf das sich Heidegger mehrmals bezogen hat.2 Dichtung teilt ihre Fremdheit gegenüber gängiger Kommunikation mit dem Sprechen von Philosophie und religiöser Erfahrung; was die Dichtung hervorruft, ist deswegen nicht so sehr eine Verständigung, in der das Fragen sich beruhigt, als das Staunen und daher Bedrängtwerden von immer neuen Rätseln. Dieses Bedrängnis aber eröffnet das Gespräch von neuem, wandelt es manchmal in einen Konflikt um, in dem die Sprechenden in die dramatische Erfahrung der Schwierigkeit, einander zu verstehen, verwickelt werden, bis hin zur unerträglichen, oft unüberwindbaren Grenze der Verständnislosigkeit. Das Gespräch erscheint dann nicht als der Schauplatz der Versöhnung, in dem die wechselseitige Mitteilung jeden über die Grenze seines endlichen Seins hinaushebt und allen, weil sie verbunden sind, ermöglicht, über jene Realität, die dem einzelnen entschwindet, zu verfügen. Aber es darf auch nicht als eine Gesprächssituation idealisiert werden, in der der „gute Wille“, die eigenen Gesichtspunkte zu vergleichen, den Gesprächspartnern erlaubt, den Argumenten des anderen auf den Grund zu kommen.3 Das Gespräch ist vielmehr die Dimension, in der sich jedes Mal die Erfahrung einer endlichen Wahrheit auftut und den Teilnehmern widerfährt. Diese Wahrheit ereignet sich in Worten, und zwar in Rätseln, durch die den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, zwischen den Dingen herumzuirren, indem diese ihnen begegnen, ohne dass die Menschen als Sprechende sie je besitzen; ja sie verlieren das, wovon sie sprechen, und bleiben dennoch auf dessen Spuren, die kein Gespräch, keine gemeinsame Suche je zu verfolgen aufhören wird.
2. Das Gespräch und die Verständigung Es ist also nicht die Verständigung der Grund für das Gespräch zwischen Menschen, nicht einmal in der Form der idealen Projektion einer unbeschränkten Kommunikationsmöglichkeit. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Projektion nur das „metaphysische“ Bedürfnis, die Endlichkeit der 2 Vgl. Hölderlins Fragment Versöhnender, der du nimmergeglaubt und die Hymne Friedensfeier, sowie Heideggers Freiburger Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 Hölderlins Hymnen ,Germanien‘ und ,Der Rhein‘ in Martin Heidegger 1980, sowie seine Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Dieselben Hinweise gelten auch für das Wort über die Sprache als „der Güter aller Gefährlichstes“. Die Verse im Text werden aus der Elegie Heimkunft. An die Verwandten, V. Strophe, zitiert. 3 Vgl. die Debatte zwischen Gadamer und Derrida über den guten Willen und das Bestreben nach Verständigung in Philippe Forget (Hg.) 1984.
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Existenz und den zugehörigen Mangel an Kommunikation zu rechtfertigen, gemäß der (eschatologischen) Perspektive eines endlichen Zustands, in dem alles von allen und zu allen ein für alle Mal gesagt werden konnte. Wohlbemerkt, die Vorsicht, mit der man dieses Telos als ein solches anführt, das man bis ins Unendliche verfolgen muss, mildert nicht den Fluchtcharakter dieser Begründung des Gesprächs zwischen den Menschen: eine Begründung nicht bezüglich dem, was sie sind – endliche Existenzen, weil Sprechende und Sprechende, weil endlich –, sondern bezüglich dem, was sie absurderweise sein wollen. Darum verführt die Idealisierung der Kommunikationsgemeinschaft die Sprechenden nur mit dem Traum einer völlig durchsichtigen, wechselseitigen Mitteilbarkeit, die sie als unbegrenzte Vermittler einer Totalität eines endlich offenbarten Sinnes rechtfertigt. Dank dieses Traumes kann jeder sich selbst jenen Sinn der Dinge versprechen, der ihm unentwegt abhandenkommt.4 In Wirklichkeit spricht man miteinander im Gespräch, das das sprachliche Existieren des Menschen begründet, gerade weil man nie aufhört, einander zu verstehen – und somit auch einander misszuverstehen. In der Tat ist die Verständigung im Gespräch immer nur situativ ; sie ist umso beständiger, je begrenzter sie ist: also immer provisorisch und unsicher, gewiss nicht der letzte Grund, der es rechtfertigt. Dies ist das Geheimnis, das die Menschen zum Gespräch bestimmt: das Faktum, dass sich in ihren Worten die Welt nicht dank ihrer Initiative öffnet, sondern aufgrund eines Rufes, auf den sie schon immer dadurch, dass sie existieren, geantwortet haben. Man spricht, weil man schon bei den Dingen ist, bzw. die Dinge lassen sich von uns aussprechen, aber so, dass sie das, was sie sein können, nur werden, sofern sie sich selbst kraft der linguistischen Praxis im Gespräch, an dem jeder Sprechende teilhat, bestimmen. Die Dinge werden also auf dem Grunde eines Einvernehmens der Gesprächspartner, das immer besteht, aber trotzdem nie genügt, nur interpretiert, nie definiert. Gerade weil wir sprechen und sprechend Dinge sagen, aber immer auf rätselhafte Art, sind wir immer verpflichtet (und genötigt), jedes Mal mit Rücksicht auf sie, das, was ist und das, was nicht ist, das Wahre und das Falsche zu bestimmen, ohne ein für alle Mal den Sinn ihrer mehrdeutigen Erscheinung in der endlichen Wahrheit der Ek-sistenz entscheiden zu können. 4 „Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne“, so hat Habermas endgültig festgestellt, 1981, Bd. 1, 387. Und Apel hat seinerseits erklärt, „dass bereits auf der Ebene der Verständigung über den Sinn unserer sprachlichen Äusserungen ein Sinn-Geltungsanspruch vorausgesetzt werden muss, der – wenn überhaupt – nur durch den möglichen Konsens einer unbegrenzten, idealen Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft (Peirce bzw. Royce) definitiv eingelöst werden kann. […] Unter der Voraussetzung des definitiven Konsenses der Interpretationsgemeinschaft – dem natürlich kein empirisches Faktum jemals entsprechen kann – würde zunächst einmal die universal gültige Einlösung der rechtfertigbaren Sinn-Geltungsansprüche mit der Welt-Sinnkonstitution zur Deckung kommen (das heisst jeder würde jeden zumindest verstehen können.“, siehe Apel 1989, 165–166. Was fraglich ist, ist eben der Sinn der (vermeintlichen) Notwendigkeit der „Voraussetzung des definitiven Konsenses der Interpretationsgemeinschaft“. Die Sehnsucht nach dem Definitiven habe ich hervorgehoben.
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Es geschieht also, dass wir uns gegenseitig Rechenschaft ablegen über das, was wir sagen, wenn wir im Gespräch bleiben und weitersprechen wollen, während wir nicht sprechen, um uns gegenseitig Rechenschaft über den Sinn unseres Engagements im Gespräch abzulegen und dadurch dessen Rechtfertigung zu gewinnen. Unser Sprechen dient nicht dazu, uns, nach „dem Ideal der konsensualen Geltungsrechtfertigung“ Apels5, ins Einvernehmen zu setzen. Es besitzt also keinen Grund, nicht weil es unsinnig ist, sondern weil es nicht eine der Tatsachen ist, zu denen wir sprechend eine Erklärung hinsichtlich der jeweiligen praktischen oder theoretischen Zielsetzungen suchen. Wir sprechen vor jeder Forderung nach Grund und jenseits jeden Einverständnisses, aber wir sprechen (auch, nicht nur), indem wir uns von dem, was wir sagen, Rechenschaft geben. Wir sprechen, weil wir existieren, so wie wir auch existieren, weil wir sprechen und so die Welt sich in unserem Existieren als Sprechende offenbart. Aber dies ist nicht die Rechtfertigung unseres Sprechens, es ist das unwiderrufliche Faktum, dass wir da sind, und zwar dass wir in der Sprache sind, seit wir in der Welt sind. Dieses Ur-Faktum liegt jenseits jeder Rechenschaft. Es entsteht als un-vermittelbare Stiftung unserer Endlichkeit. Wenn es also wahr ist, dass wir durch das Sprechen im Gespräch bleiben, indem wir direkt oder indirekt für dasjenige verantwortlich bleiben, was wir sagen oder was gesagt wurde, so ist es ebenfalls wahr, dass wir nicht trotz, sondern aufgrund der Unverfügbarkeit der Verständigung und der unvermeidbaren Missverständnisse fortfahren, miteinander zu sprechen. Wenn wir meinen, einander vollkommen verstanden zu haben (was jedoch ein Trugschluss ist, der aus Eile, aus Angst oder generell aus dem Bedürfnis heraus entsteht, das Gespräch zu unterbrechen), haben wir in der Tat kein Interesse mehr, das Gespräch fortzusetzen. Die Verständigung ist also immer und ausschließlich nur eine Phase, die man im Gespräch durchläuft und die man nur annähernd abgrenzen kann. Trotzdem ist sie wertvoll, weil sie das Gespräch lenkt und es erlaubt, nie definitive, aber doch wichtige Anhaltspunkte zu bestimmen (das Gespräch hat also seine Ökonomie, von der man nicht absehen kann); man kann allerdings nicht bei ihr verweilen, weil es sie im eigentlichen und vollkommenen Sinn niemals gibt. 5 Vgl. K.O. Apel 1989, 166, wo er weiter erklärt: „Diese kontrafaktische Unterstellung des Ideals der konsensualen Geltungsrechtfertigung steht ersichtlich nicht im Widerspruch zur faktischen Abhängigkeit unseres Fragenkönnens […] von der zeitlich-geschichtlichen Welt-Sinnkonstitution im Medium der Sprachen. Doch sie muss darauf insistieren, dass aus der von Heidegger aufgezeigten Abhängigkeit keine einseitige Bedingtheit der Geltungsrechtfertigung durch die vorauszusetzende begrenzte Sinnkonstitution folgt.“ Hinsichtlich der Einseitigkeit würde ich ihm vielleicht zustimmen, aber das, was Apel eigentlich aufheben möchte, ist die einfache Bedingtheit der Geltungsrechtfertigung. Und Habermas bringt seinen Traum auf folgende Weise zum Ausdruck: „Ziel der Verständigung ist die Herbeiführung eines Einverständnisses, welches in der intersubjektiven Gemeinsemkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens terminiert.“, siehe 1976, 176.
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3. Die Gewalt der Metaphysik und die strittige Wahrheit des Gesprächs Gesagtes ist umso wahrer, je weniger der Sinn des Anrufes, der uns zum Sprechen bewegt und im Gespräch vereint, abgrenzbar ist. Der Zusammenruf fordert von den Sprechenden nicht, dass sie dasselbe über dieselben Sachen sagen (ein Ideal, das nur jene verfolgen, die eine berechenbare Beschränkung der semantischen Felder ausarbeiten wollen); im Gegenteil – und paradoxerweise – bietet er die Möglichkeit, die Worte zu finden, die die Sprechenden zu wirklichen Gesprächspartnern machen, einen jeden zum anderen und für die anderen. Das ist die Herausforderung, die im Anruf zum Gespräch für jeden in dem Maße besteht, in dem jeder diesen Anruf aufnimmt. Das dramatische Schicksal jedes Miteinandersprechens beruht auf dem Faktum, dass von jedem nur im Sprechen mit dem anderen die Antwort gefordert werden kann, welche ihn im selben Moment von den anderen unterscheidet, in dem sie ihn gebunden hält. In jedem Fall wird das gemeinsame Gespräch von niemanden angefangen, jeder entspricht der günstigen Gelegenheit, die ihm selbst geboten wird, zu sprechen, auch jener, der in einer bestimmten Situation als erster das Wort ergreift. Das Gespräch ist immer schon im Lauf und erteilt von Mal zu Mal jedem das Wort, indem es jeden aufruft, er selbst zu werden. Das Paradox des Selbst ist an die Tatsache gebunden, dass es nie eine Gegebenheit oder ein ursprünglicher Zustand ist, sondern ein Geschick, das aus einem Anruf entsteht und auf jene Antwort wartet, zu der jeder von den Mitredenden im Gespräch aufgefordert wird. Was die anderen sagen, kommt dennoch aus einer Entfernung, die sie als Mitredenden übersteigt und die niemand abschätzen kann. Die Alterität jenes anderen, der jeder für jeden der Mitsprechenden ist, offenbart sich in der Unberechenbarkeit der Aufforderung oder der Herausforderung, mit denen er uns bisweilen überrascht und die weit jenseits seiner Absichten liegen. Im Gespräch, das die Sprechenden vereint, ist jeder für den anderen der andere und als solcher nur dann ein notwendiger Gesprächspartner, sofern er für sich selbst der Alterität der Sprache gegenüber, die ihn mit den anderen existieren lässt, verantwortlich ist. Das Problem liegt also, anders als in den solipsistischen Bewusstseinsphilosophien, nicht darin, sich zu vergewissern, dass sich in den Worten des anderen in der Tat ein anderes Bewusstsein ausdrückt, sondern darin, dass jeder der Sprechenden die Alterität des anderen, d. h. die Differenz, vertragen können muss. Diese ruft, indem sie die Welt durch die Sprache erschließt, einen jeden auf, er selbst zu werden und also für die anderen als anderer zu existieren. Gerade das fesselt uns: die Alterität des ungreifbaren Ungedachten, das sich sagen lässt und das stets doch noch zu sagen bleibt, weil es immer noch über
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das hinaus, was wir zu verstehen glauben, zu denken bleibt. Es begegnet uns als das, was unsere Gesprächspartner uns jenseits ihrer Absichten offenbaren – und darum als das, was nur uns anspricht. Da wir von der griechischchristlichen metaphysischen Vorstellung einer in sich ruhenden, für alle gleichen Wahrheit (und wenn sie das nicht ist, welche Wahrheit ist sie sonst?) geprägt sind, haben wir nicht genügend darüber nachgedacht, dass das Gespräch zwischen den Menschen – die einzig denkbare Offenheit jeglicher Wahrheit – sich von etwas nährt, das es dramatisch entflammt und seine tiefsten Gründe in Frage stellt, d. h. von der Unmöglichkeit, alles zu sagen, von der Notwendigkeit, dass für die Sprechenden die Wahrheit der Rede immer eine endliche Wahrheit ist. Jenseits dieser Wahrheit bleibt immer anderes zu sagen und zu fragen, weil man sich ihm, dem ungreifbaren Ungedachten, in seiner Differenz nicht einmal annähern kann, sondern dieses sich nur in endlicher Weise ausdrücken lässt, indem es sich als anderes enthalten lässt. Es bleibt immer etwas anderes, solange wir sprechen, weil es das Ereignis der Sprache im menschlichen Gespräch ist, das uns anruft, die Dinge der Welt zu interpretieren. Ist nicht in dieser unvorstellbaren Alterität der Sprache der verdeckte Grund geborgen, dem die Gewaltsamkeit des Gesprächs entquillt? Die Undurchsichtigkeit jedes Miteinanderredens macht jeden der Mitsprechenden für jeden anderen verdächtig, ja beinah zu einem möglichen Feind. Aus demselben Grund aber geht die tiefe Not, mit den anderen Diskussionsteilnehmern weitersprechen zu müssen hervor. Das bedeutet, dass das notwendige Gespräch, das das endliche Mitsein der Menschen stiftet, dramatisch ambivalent ist. Einerseits verbindet es die Existenzen, die dem Anspruch der endlichen Wahrheit folgen, sofern jeder weiß, dass das Wahre kein privater Besitz ist, sondern jeder braucht das Wort jedes anderen, um seine eigene Wahrheit zu finden. Andererseits aber bringt das Dunkle, das jedes Wort enthält, die am Gespräch Beteiligten auseinander. Dann liegt das Gewaltsame im Gespräch nicht in der Endlichkeit, die die Existenzen zusammen sprechen lässt, sondern in der Ungeduld der Endlichkeit, von der sich der eine vom anderen Teilnehmer hetzen lässt. Im Allgemeinen möchte ich sagen, dass die Ungeduld des Gesprächs als solches sich als das Verhängnis des metaphysischen Denkens erweist, aufgrund einer absoluten Idee der Wahrheit, die nur die Verweigerung verrät, das endliche Dasein der Existenz wirklich zu denken. Das Gewaltsame besteht hier in dem Entschluss, das Gespräch nicht in bedachtsamer, aber ungezwungener Freiheit weiter zu treiben, sondern einseitig zu beschränken, um sich der Möglichkeit zu versichern, auf einer verlässlichen Wahrheit zu ruhen. Die Gewalt der Metaphysik besteht in ihrer Unduldsamkeit der Differenzen, die das Gespräch entspringen lassen muss. Das Miteinandersprechen der Existenzen ist nur dann gelungen, wenn jede einzelne seine Wahrheit gefunden hat: die Wahrheit, die jeder Gesprächspartner verantworten muss, und für die jeder als verantwortlich eintritt. Diese notwendig vielseitige Wahrheit ist
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die Wahrheit des pjlemos, d. h. nicht die Wahrheit der metaphysischen Versöhnung, sondern eines unvermeidlichen Streits. Die Wahrheit der Versöhnung ist beruhigend, weil sie die Einheit des Wahren und die des Rechts wegen unausbleiblicher Einhelligkeit der Teilnehmer an der Diskussion verspricht. In Wirklichkeit jedoch ist sie notwendig gewaltsam, weil sie die Differenzen aufhebt. Die Metaphysik will zu schnell „eins machen“, gegen Platons Mahnung im Ph&lebos, 17a. Sie will den einheitlichen Grund, der über die unermessliche Vielfalt der Bestimmungen verfügt, schon begreifen und teilt diese Funktion Gott zu. So ist der metaphysische Gott der Funktionär einer erzwungenen Einheit. Im Gegenteil hierzu ist die Wahrheit des pjlemos als unbegreifbare Einheit zu verstehen, die die Vielfalt der Differenzen sein lässt, ohne irgendeinen Anspruch auf ihre letzte Rechtfertigung zu erheben. Sie hält die unvermeidliche Spannung der widerstreitenden Bestimmungen mit der notwendigen Geduld aus, ohne irgendeine prästabilierte Aufhebung zu erzwingen. In diesem Sinn ist sie als die Einheit eines unendlichen Gesprächs zu denken, das sich kein bestimmtes Endergebnis im Voraus verspricht, sondern den Platz für die jeweilige Bestimmung der Differenzen offen und frei hält. Dass diese Freiheit der gegenseitigen Bestimmung widerstreitig sein kann, weswegen sie sich im Schmerz und in der Trauer verwirklichen muss, bedeutet nicht notwendig, dass sie als die schlechte Frucht der bösen Gewalt anzusehen ist. Es bedeutet vielmehr, dass Gewalt zum Schicksal der Endlichkeit gehört. Darum muss man sorgfältig zwischen der unvermeidbaren und der bösen Gewalt zu unterscheiden versuchen, was nur im Gespräch der Existenzen geschehen kann. Das Gespräch ist dann, wie am Anfang schon gesagt, der paradoxe Platz, wo die Menschen zwischen Gut und Böse jeweils zu unterscheiden haben, um zusammen existieren zu können.
4. Die Philosophie im Gespräch Aufgabe der Hermeneutik ist nun die Gründung des endlichen Existierens des Menschen, nicht in der Weise einer Flucht oder eines Ausweichens, die sich kraft der vielfältigen theologisch-metaphysischen Rechtfertigungsversuche unweigerlich ereignen, sondern in der Anerkennung und in der Übernahme dessen, was wir sind. Wir sind nicht die Gefangenen unserer Endlichkeit, sondern dank ihr sind wir offen für das Geheimnis der Alterität, das uns endlich macht und uns gerade deshalb befähigt, den anderen und den Dingen in der Welt, in der wir existieren, zu begegnen. Von diesem Geheimnis müssen wir sprechen, um das Schweigen, das sich geziemt, zu lernen. Die Hermeneutik wird auf diese Weise zur Erfahrung eines Findens, das zugleich Verlieren ist, aber eines Verlierens, das auch ein Finden ist. Nichts ist uns ein für alle Mal gegeben, und der Wert jeder Aneignung ist von der Melancholie (oder dem Schmerz) um das gezeichnet, worauf wir verzichten mussten. Wir selbst
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finden uns nur, indem wir uns verlieren – außerhalb von uns, um der unerreichbaren Alterität zu begegnen, die uns aufruft zu ek-sistieren. Im Gegenteil verlieren wir uns, sooft wir uns der Illusion hingeben, den Sinn unseres Inder-Welt-seins, unseres Gewordenseins, was wir aus uns machen könnten und wollten, gefunden zu haben. Die hermeneutische Gründung der Ek-sistenz in der Sprache, die die Welt in menschlichen Worten erschließt, setzt das Da-sein aus, das Geheimnis der Differenz zu ertragen, die nur den Menschen als Sprechenden existieren lässt – nicht in humanistischer Einsamkeit (und Überheblichkeit), sondern im Verhältnis zur Alterität, der er es verdankt, zu sein. Die Hermeneutik der Endlichkeit bringt daher die Existenz nicht dazu, dass diese auf sich selbst besteht, indem sie stolz auf eine Autonomie wäre, die dem Sterblichen nicht zusteht. Sie veranlasst die Existenz vielmehr, von sich aus auf das Geheimnis zu antworten, dem sie angehört und das sie bewahren soll. Existenz findet sich selbst nur wieder, wenn sie begreift, dass sie sich nie erreichen kann, dass sie darum vor dem Erscheinen der Alterität, deren Abwesenheit sie nicht ertragen könnte, sterben würde. Das Existieren des Menschen ist von der Abwesenheit umgeben, die uns die Dinge begegnen und ebenso vermissen lässt. Eine solche Abwesenheit aber ist nicht das Nichts. Von ihr kommt der alte Aufruf, die Erfahrung der eigenen Endlichkeit auszuhalten: gnithi seautjn, „erkenne dich selbst“, dem – wie Plutarch reflektiert – das mysteriöse E (tk e%) des delphischen Tempels nicht widerspricht, weil es ihn im Gegenteil mit dem notwendigen Verweis auf die Alterität ergänzt. Verkündigt die Geheimschrift die Ewigkeit Gottes nach Plutarchs Entzifferung, so ruft sie uns aber nicht anderswohin, sondern lässt uns hingegen in der Welt sein, der wir angehören, weil wir endlich sind. Für das antike Denken – Platon ist noch einer der aufschlussreichsten Zeugen dafür – ist der Mensch ein solcher nur im Verhältnis zu Gott, oder vielmehr zum Göttlichen (tk theiin).6 Wenn aber die Abwesenheit die Möglichkeit der Erfahrung des Göttlichen in der Welt bewahrt, verbirgt sie nicht auch das Geheimnis eines Gottes, von dem man die Rechtfertigung, also den Ersatz unserer Endlichkeit, erhoffen könnte? Im Gegenteil lässt uns gerade die Abwesenheit, die Alterität, der wir als solcher nie begegnen (weil sie weder ein Ding noch ein Vorkommnis in der Welt ist), als Sterbliche existieren, weil nur der Mensch spricht, also nur er die Erde bewohnt, auf der er allein stirbt. In der Unvermeidbarkeit des Todes, wenn die Worte fehlen („es fehlen heilige Namen“), begegnet jeder endlich dem Geheimnis seiner eigenen Endlichkeit, dem Geheimnis, das sich nicht ausspre6 Zum Verhältnis zwischen Götter-Göttliches in Platons Denken siehe die Studien von A.DiHs, „Le Dieu de Platon und La religion de Platon“, in: Autour de Platon, Livre III, Chapitre III u. IV, Les Belles Lettres, Paris, 1972; sowie G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Klostermann, Frankfurt a.M., 1939; und K. Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie, Meiner, Hamburg, 1980. Die Stellen aus Plutarch schließen den Dialog „De E apud Delphos“ ab.
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chen lässt und das trotzdem nur unser Gespräch bewahren kann. So paradox ist es, als endliches Wesen zu ek-sistieren.
Bibliographie Apel Karl Otto (Hg.), 1976, Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Apel Karl Otto, 1989, Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung. Heidegger und das Problem der Transzendentalphilosophie, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Martin Heidegger : Innen- und Aussenansichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas Jürgen, 1976, Was heißt Universalpragmatik?, in: K.O. Apel (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas Jürgen, 1981, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heidegger Martin, 1980, 2. Aufl. 1989, 3. Aufl. 1999, Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein (Wintersemester 1934/35), S. Ziegler (Hg.), in: Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 39, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Hçlderlin Friedrich, Heimkunft. An die Verwandten, 1802: http://www.hs-augs burg.de/~harsch/germanica/Chronologie/19Jh/Hoelderlin/hoe_0140. html (24. 09. 2015). Forget Philippe (Hg.), 1984, Text und Interpretation, München: Fink.
Andreas Feldtkeller
Religionswissenschaft als säkularer Wissensdiskurs über Religion
Der folgende Beitrag fasst einige Gesichtspunkte aus einem umfangreicheren Buch zusammen, das im Sommer 2014 erschien.1 An den Anfang seien drei Thesen, gestellt, die daran anschließend erläutert und diskutiert werden: 1. Religionswissenschaft ist bereits seit dem 19. Jahrhundert eine programmatische Säkularisierung der Befassung mit Religion innerhalb der Wissenssysteme westlich geprägter Kulturen gewesen. 2. Vor allem in der Zeit nach 1960 ist Religionswissenschaft nicht nur Ausdruck von Säkularisierung, sondern auch Agentin der Säkularisierungstheorie geworden. 3. In der jüngsten Vergangenheit war Religionswissenschaft intensiv mit der Frage der eurozentrischen Prägung ihres Religionsbegriffs beschäftigt. Wichtiger noch wäre eine kritische Wissenspraxis in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Vorverständnis von Säkularität.
1. Religionswissenschaft als Säkularisierung der Befassung mit Religion Die Arbeit der Religionswissenschaft kann während des gesamten Zeitraums ihres bisherigen Bestehens als ein Ausdruck von Säkularisierung beschrieben werden: sie ist die programmatische Verwirklichung einer Säkularisierung der Befassung mit Religion innerhalb der Wissenssysteme westlicher oder westlich geprägter Kulturen. Eine von den Regeln der Religionsgemeinschaften zunehmend befreite Wissenschaft gewinnt für sich selbst einen säkularen Standpunkt, von dem aus Religion beschrieben werden kann. Institutionell wird dies am deutlichsten in Frankreich fassbar : 1886 wurden an der Pcole Pratique des Hautes Ptudes in Paris die bisher vier Sektionen um eine fünfte für „sciences religieuses“ ergänzt. Im selben Jahr wurde die Theologische Fakultät an der Sorbonne abgeschafft und die dadurch freiwerdenden Finanzmittel wurden durch das französische Parlament der Pcole 1 Andreas Feldtkeller 2014. Wörtliche Übereinstimmungen mit dem Buchmanuskript sind nicht gesondert gekennzeichnet.
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Pratique des Hautes Ptudes zugesprochen.2 Die fünfte Sektion der Pcole Pratique des Hautes Ptudes wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts breit ausgebaut und konnte dadurch ihren Rang als die größte religionswissenschaftliche Einrichtung in Europa behaupten.3 Auch wo Religionswissenschaft und Theologie nebeneinander bestehen blieben, kann die Selbstbeschreibung der Religionswissenschaft in Abgrenzung gegenüber den Theologien4 als Teil eines Säkularisierungsprozesses in der Wissenschaft von der Religion aufgefasst werden. Dabei würde es jedoch zu kurz greifen, wenn man die Beziehung zwischen Religionswissenschaft und Theologien als die Beziehung zwischen einer säkularisierten und einer bleibend nicht säkularisierten Wissenschaft von der Religion verstehen wollte. Parallel zur Entstehung der Religionswissenschaft haben auch die Theologien einen Prozess der Säkularisierung ihrer Befassung mit Religion durchlaufen, und für einen Teil der protestantischen Theologien in Europa lässt sich sogar sagen, dass die Säkularisierung ihrer Methoden der Erforschung von Religion begonnen hat, bevor sich von Religionswissenschaft als einer eigenständigen Wissenschaft sprechen lässt. Die genau hier im Raum der Theologie errungene Befreiung der Religionsforschung von religiösen Vorgaben war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass darauf aufbauend eine säkulare Religionswissenschaft entstehen konnte. Dennoch lässt sich zumindest so viel sagen, dass die Trennung von Wissenschaft und religiösen Institutionen in der Religionswissenschaft konsequenter durchgeführt ist als in den Theologien. In Bezug auf die imaginäre Trennlinie zwischen den weiterhin religiös bestimmten und den nicht religiös bestimmten Bereichen der Gesellschaft gehört die Religionswissenschaft klar auf die Seite der Säkularität, während die Theologien durch die Ausbildung von künftigen Akteuren der Religionsgemeinschaften eine enge Verbindung zum religiösen Bereich der Gesellschaft behalten haben. Für den deutschsprachigen Kontext hat Kurt Rudolph wiederholt die Aufklärung als weltanschaulichen Hintergrund der Religionswissenschaft identifiziert – verbunden mit der Annahme, dass in dieser Prägung eine Gewähr für Objektivität zu finden sei: Die Herkunft der Religionswissenschaft aus einer ganz spezifischen Epoche abendländischer Geistesgeschichte, der der Aufklärung, hat m. E. bis heute ihr Wesen entscheidend geprägt… Es ist der Geist der ,vernünftigen‘ Weltauffassung, des unbeschränkten Forscherdranges, des Erschließens fremder Kulturen, des toleranten Umgangs mit Andersgläubigen, des kritischen Hinterfragens der eigenen Tradition… dem Rückgang auf die Wurzeln des Menschseins, sei es im freireligiösen (naturreligiösen) oder a-religiösen, a-theistischen Sinne.5 2 3 4 5
Hans G. Kippenberg/Kocku von Stuckrad 2003, 18; Dario Sabbatucci 1988, 43–58, hier 46. Gregory Alles 2010, 39–55, hier 41 f. Donald Wiebe 1999. Kurt Rudolph 1992, unveröffentlichte deutsche Fassung von 1981, 67–80, hier 67. In einem 1989
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Kritischer im Blick auf das Verhältnis von Religionswissenschaft und Aufklärung äußert sich Karl-Heinz Kohl. Er bezieht sich auf die Charakterisierung der Religionswissenschaft bei Kurt Rudolph als „eine objektiv arbeitende philologisch-historische und systematisch-vergleichende Disziplin der Geisteswissenschaften“, die „an kein religiöses Weltbild oder Urteil gebunden“ ist.6 Kohl stellt dann fest: Daß es einer so definierten Religionswissenschaft zunächst nur in wenigen Fällen gelungen ist, einen autonomen Status zu erhalten bzw. zu bewahren, hängt zweifellos damit zusammen, daß Religion und Wissenschaft spätestens seit der Aufklärung als zwei konkurrierende Mächte mit im übrigen durchaus ähnlichen Heilsversprechen aufgetreten sind. Die Geschichte der Religionswissenschaft ist daher bis in die Gegenwart hinein durch eine doppelte Inanspruchnahme bestimmt. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Religion und den Religionen ist, historisch gesehen, fast ebenso oft in den Dienst antireligiöser Religionskritik gestellt worden, wie man mit Hilfe der Religionswissenschaft versucht hat, den Wahrheitsanspruch der eigenen Religion oder von Religionen überhaupt zu beweisen.7
2. Religionswissenschaft als Agentin der Säkularisierungstheorie Die am stärksten einschneidende Zäsur im Selbstverständnis der Religionswissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich ziemlich genau datieren auf den Kongress der International Association for the History of Religion 1960 in Marburg. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wäre die zweite These geltend zu machen, dass nämlich die Religionswissenschaft nicht nur zum Ausdruck von Säkularisierung, sondern auch zur Agentin der Säkularisierungstheorie geworden ist. Unter der klassischen Säkularisierungstheorie verstehe ich nach Hans Joas die Annahme, dass Modernisierung im Sinne von wirtschaftlichem Wachstum und wissenschaftlich-technischem Fortschritt zu einer Abnahme der Bedeutung von Religion führt, und zwar nicht nur gelegentlich oder phasenweise, sondern mit einer inneren Notwendigkeit und als ein unumkehrbarer Prozess, der schließlich zum Verschwinden von Religion führt.8 gehaltenen und 1991 publizierten Vortrag ergänzt Rudolph die Romantik als eine Zeitströmung, welche die Entstehung der Religionswissenschaft geprägt und bis weit ins 20. Jahrhundert begleitet hat: Kurt Rudolph 1991, 149–156, hier 151 f. 6 Karl-Heinz Kohl 1988, 217–262, hier 217, mit Verweis auf Kurt Rudolph 1978, 17–39, hier 26. 7 Kohl 1988, 217. 8 Hans Joas 2012, 23–42, hier 28. Joas spricht lieber von „Säkularisierungsthese“ als von „Säkularisierungstheorie“, um die Fragwürdigkeit ihrer Geltung zum Ausdruck zu bringen. Dagegen wendet sich Detlef Pollack und tritt für die bleibende Geltung einer abgeschwächten Variante der Säkularisierungstheorie ein, die weder von einer Notwendigkeit noch von einer Unumkehrbar-
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Es gibt heute keine anerkannte wissenschaftliche Methode mehr, nach der eine solche Unterstellung von innerer Notwendigkeit in einem historischen Prozess wissenschaftlich begründet werden könnte. Darüber hinaus widerlegen die inzwischen vorhandenen empirischen Daten sehr klar die Annahme, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung bestünde.9 So ist festzuhalten, dass die Säkularisierungstheorie in ihrer klassischen Form – wie viele andere wissenschaftliche Theorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – aus der Sicht gegenwärtiger Sozial- und Kulturwissenschaften als ein ideologisches Konstrukt zu betrachten ist. Der Begriff einer „Agentin“ in der Formulierung der zweiten These orientiert sich am Konzept von „Agency“, wie es in der postkolonialen Theorie entwickelt wurde. Mit diesem Begriff wird im kolonialen Kontext der Sachverhalt bezeichnet, dass Menschen in kolonisierten Gebieten nicht einfach nur Opfer einer sie unterwerfenden Kolonialmacht sind, sondern immer auch einen eigenen Beitrag zur Gestaltung ihrer Situation leisten – sei es durch Widerstand oder sei es durch Kooperation. Analog dazu sei hier vorausgesetzt, dass die Religionswissenschaft im Prozess der Säkularisierung über „Agency“ verfügt: sie ist nicht nur einfach einer Säkularisierung unterworfen, die von woanders her gesteuert wird, sondern sie erfüllt selbst aktiv eine besondere Aufgabe innerhalb des Gesamtprozesses der Säkularisierung. Für die sich selbst als „säkular“ definierenden Bereiche der Gesellschaft trägt die Religionswissenschaft einen erheblichen Teil dazu bei, Wissensbestände über Religion zu erzeugen und fortzuschreiben und damit der für die Säkularisierung konstitutiven Grenzziehung zwischen Religion und Nicht-Religion ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Auf dem genannten Kongress der International Association for the History of Religion in Marburg stellte der israelische Religionswissenschaftler Zwi Werblowsky ein Statement zur Diskussion, das er überschrieb mit dem Titel „Basic minimum conditions for the study of the history of religions”. Darin vertrat Werblowsky den Standpunkt, dass Religionswissenschaft als ein Zweig der „Humanities“ zu verstehen sei: „[…] Sie ist eine anthropologische Disziplin und untersucht das religiöse Phänomen als Erzeugnis (creation), Eigenschaft und Aspekt menschlicher Kultur…“ Einen vorangegangenen Vortrag zitierend stellt Werblowsky weiter fest: Die Aussage, der Wert der religiösen Phänomene kann nur verstanden werden, wenn wir im Blick behalten, dass Religion letztendlich die Verwirklichung einer transzendenten Wahrheit ist‘, muss als Teil der Grundlegung (foundations) von Religionswissenschaft verworfen werden. Die Fakten und Analysen der Religionswissenkeit ausgeht, sondern nur davon, dass der Bedeutungsrückgang von Religion unter den Bedingungen der Moderne wahrscheinlich sei. So Detlef Pollack 2007, 73–103, 73. 9 David Martin 2005, 123–140 sowie weitere Aufsätze in demselben Band.
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schaft können das Rohmaterial für eine theologia naturalis werden oder für irgendein anderes philosophisches oder religiöses System. Aber dies liegt bereits außerhalb des Bezugsrahmens (terms of reference) von Religionswissenschaft und ist deshalb nicht mehr die Angelegenheit (concern) des Religionswissenschaftlers (student of religion).10
Werblowsky hatte bereits vor der Diskussion sein statement mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt und dabei die grundsätzliche Zustimmung von sechzehn weiteren Kollegen aus drei Kontinenten und unterschiedlichen Richtungen der Religionswissenschaft eingeholt.11 Während der Plenumsdiskussion schloss sich die große Mehrzahl der anwesenden Mitglieder der Auffassung an, dass das Papier von Werblowsky als Grundlage für die künftige Arbeit der Religionswissenschaft gelten sollte. Für die von der International Association for the History of Religion herausgegebene Zeitschrift „Numen“ schrieb Werblowsky einen Konferenzrückblick. Darin fasst er den Unterschied zwischen dem, was bisher noch als legitime Religionswissenschaft gegolten hatte, und dem, was zukünftig gelten sollte, in eine überraschend klare Sprache von „richtig“ und „falsch“. Einer der Abschnitte, an denen das deutlich wird, bezieht sich gleichzeitig auf die Wahrnehmung eines Unterschied zwischen „Ost“ und „West“, deshalb sei er hier im Zusammenhang des vorliegenden Bandes zum Thema Mythos und Logos zitiert: Tokyo und noch mehr Marburg haben gezeigt, dass es ein hohes Maß an Missverstehen des Gegenstandes bei einigen östlichen Kollegen gibt, wobei vieles davon auf fehlender Vertrautheit mit der Geschichte westlicher Wissenschaft beruht. So haben einige von Ihnen der Überzeugung (belief) Ausdruck verliehen, dass der westliche Zugang zu Religion zu streng interessenfrei, analytisch und deshalb ,wissenschaftlich‘ unreligiös sei. Indem sie nicht genügend unterschieden zwischen ,Zugang zu Religion‘ und ,Zugang zum Studium der Religion‘, war es für sie nur natürlich zu empfinden, dass ihre eigene Tradition des Philosophierens über Religion und des Studiums der Religion als Teil einer spirituellen Disziplin im Westen breiter bekannt gemacht werden sollte und dass die IAHR als Plattform (medium) für die Verbreitung dieses Wissens dienen sollte. Der Irrtum entspringt selbstverständlich der Tatsache, dass der Osten mit dem, was wir ,westliche Zivilisation‘ nennen, nur in ihrer jüngsten, modernen und weithin säkularen Phase in Berührung gekommen ist und sie aufgenommen hat.12 10 Zwi Werblowski 1960, 236 f. 11 Das Protokoll nennt als Unterzeichner „Abel (Bruxelles), Brandon (Manchester), Brelich (Rome), Brezzi (Rome), Duchesne-Guillemin (Liege), Eliade (Chicago), Goodenough (Yale), Hidding (Leiden), Hoffmann (München), Kishimoto (Tokyo), Kitagawa (Chicago), Lanternari (Rome), Long (Chicago), Pincherle (Rome), Simon (Strasbourg), Werblowsky (Jerusalem), Zaehner (Oxford).“ Schimmel, Summary, 236. 12 Werblowsky 1960, 219.
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3. Die Frage nach der eurozentrischen Prägung des Religionsbegriffs In Mitteleuropa wurde die Entscheidung von Marburg zur Einordnung der Religionswissenschaft unter die „humanities“ in den folgenden Jahrzehnten zunehmend so interpretiert, dass die Kulturwissenschaft die maßgebliche Leitwissenschaft für die Religionswissenschaft sei und dass die Religionswissenschaft deshalb ihre Methoden ausschließlich aus dem Bereich der Kulturwissenschaft zu beziehen habe. In der mitteleuropäischen Kulturwissenschaft ging die Entwicklung spätestens seit den 1980er Jahren deutlich in die Richtung, dass die diskursanalytische Methode nach Michel Foucault zum leitenden und annähernd obligatorischen Paradigma wurde – im weiteren Verlauf ergänzt durch die damit eng verwandten postkolonialen Theorien. Nachdem die Religionswissenschaft ihre Methodendiskussion quasi an die Kulturwissenschaft delegiert hatte, war die Übernahme dieser Methoden in die Religionswissenschaft die unvermeidliche Konsequenz daraus. In der Anwendung auf den Begriff der „Religion“ ist die diskursanalytische Methode relativ zügig von der Religionswissenschaft aufgegriffen worden.13 „Religion“ gibt es aus diskursanalytischer Sicht nicht „als solche“, sondern was als Religion gilt, wird zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten aus jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen heraus in unterschiedlicher Weise ausgehandelt und definiert.14 In den davon ausgehenden religionswissenschaftlichen Überlegungen spielte die Beobachtung eine wichtige Rolle, dass viele Sprachen der Welt gar keinen Begriff haben, der ein unmittelbares Äquivalent zum Begriff der „Religion“ bilden würde bzw. sich in diesen Sprachen ein solcher Begriff erst in Auseinandersetzung mit dem europäischen Religionsbegriff herausgebildet hat. So ist in der Religionswissenschaft eine Überzeugung gewachsen, wonach „Religion“ ein von europäischen Voraussetzungen her geprägter Begriff ist, der nur mit großer Vorsicht auch auf Verhältnisse außerhalb Europas angewandt werden kann.15 Im Zusammenhang damit wurde die These stark gemacht, dass der europäisch geprägte Begriff von „Religion“ sich in enger Verbindung zum Prozess der Säkularisierung herausgebildet habe. Die Verwendung des Religionsbegriffs in dem Sinne, wie er heute in Europa verstanden wird, sei begriffsge13 Michael Stausberg 2012, 1–30, hier 15 f. 14 Michael Stausberg 2012, Religion: Begriff, Definitionen, Theorien, in: Ders. (Hg.): Religionswissenschaft, 33–47, hier 35 f. 15 Für einen Überblick vgl. Hans-Michael Haussig: Einleitung, in: Hans-Michael Haußig / Bernd Scherer (Hg.): Religion – eine europäisch-christliche Erfindung? Beiträge eines Symposiums am Haus der Kulturen der Welt in Berlin, Berlin/Wien 2003, 13–33.
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schichtlich eingegrenzt auf denselben Zeitraum, der auch vom fortschreitenden Prozess der Säkularisierung geprägt ist – im weiteren Sinne die europäische Neuzeit und im engeren Sinne die Moderne.16 Dadurch ist es möglich geworden, Religion geradezu als das Andere der Säkularisierung zu definieren: Religion im Sinne des europäischen Begriffs entstand im gleichen Maße, in dem auch ein säkularer, von Religion getrennter Raum erschaffen wurde. Ein in diesem Sinne zugespitzter Religionsbegriff läuft darauf hinaus, dass es ohne das Gegenüber der Säkularität keine Religion gibt.17 Nun sind jedoch die Konsequenzen des Theorierahmens von Michel Foucault nur allenfalls zur Hälfte erfasst, solange man sie nur auf den Gegenstand der Religionswissenschaft bezieht, aber nicht auf die Religionswissenschaft selbst. Sobald man dies tut und die Arbeit der Religionswissenschaft zur kritischen Wissenspraxis macht, sollte sich daraus auch eine kritische, neue Lektüre der Vorgänge auf dem internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Marburg 1960 ergeben. Es wird dann sichtbar, dass der Zeitpunkt, zu dem die Selbstverpflichtung der Religionswissenschaft auf Methoden der Kulturwissenschaft geschah, keineswegs zufällig war. Vielmehr entspricht er ziemlich genau dem Zeitpunkt, ab dem es in weiten Teilen der westlichen Wissenschaftssysteme als die aussichtsreichere Strategie gelten musste, auf eine streng säkulare Option der Verhältnisbestimmung zwischen „Religion“ und „Wissen“ zu setzen.18 Spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts verlangte ein Selbstverständnis als säkulare Wissenschaft nicht nur ein Bekenntnis zu den Werten einer säkularen Wissenskultur, sondern auch ein positives Verhältnis zur Säkularisierungstheorie, die in ihrer damaligen Form Säkularisierung als einen stetig voranschreitenden, unumkehrbaren und weltweiten gesellschaftlichen Prozess beschrieb.19 Die Veränderungen in der gesellschaftlich privilegierten Beziehung zwischen „Religion“ und „Wissen“ sind dabei weder Zufall noch Ausdruck eines Erkenntnisfortschritts, sondern sie sind in erster Linie das Ergebnis einer Veränderung von Machtverhältnissen. Es war Ausdruck von Machtverhältnissen, dass im frühneuzeitlichen Europa alles in den Rahmen der jeweils geltenden Religion passen musste, was als „Wissen“ anerkannt werden wollte – und es war ebenso Ausdruck von Machtverhältnissen, dass im 20. Jahrhundert für weite Kreise innerhalb der westlichen Gesellschaften und insbe16 Dario Sabbatucci entwickelt einen frühen Beitrag zu diesem Diskurs aus dem Gegenüber der Religion zu dem Bereich, der auf Italienisch als „civico“ (staatsbürgerlich) bezeichnet wird: Dario Sabbatucci: Kultur und Religion, 46. 17 Reinhard Schulze: Die Dritte Unterscheidung: Islam, Religion und Säkularität, in: Wolfgang Lienemann, Walter Dietrich (Hg.): Religionen – Wahrheitsansprüche – Konflikte. Theologische Perspektiven. Zürich 2010, 147–205, hier 176. 18 Vgl. Richard King 1999, 41 f. 19 So z. B. Anthony F. C. Wallace 1966, 264 f.
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sondere innerhalb der Wissenschaftssysteme die Unvereinbarkeit von „Wissen“ und „Religion“ als ausgemacht galt. Aus der Perspektive einer an Michel Foucault geschulten kritischen Wissenspraxis wären die Ereignisse von Marburg demnach so zu deuten, dass hier ein neuer dominanter Diskurs zur Disziplinierung einer Wissenschaftsdisziplin etabliert worden ist. Die bis dahin in der europäischen Religionswissenschaft noch vorherrschende Methode der Religionsphänomenologie wurde zusammen mit der Möglichkeit, dass Religionswissenschaftler als solche religiös engagiert sein könnten, in das von Foucault so genannte „Wilde Außen“20 verbannt, und es wurden neue Diskursregeln formuliert, von deren Beachtung die künftige Anerkennung einer Zugehörigkeit zur Religionswissenschaft abhängen sollte. Was solche Diskursregeln als akzeptabel und inakzeptabel definieren, ist nur innerhalb des herrschenden Diskurses „wahr“ und „falsch“ (wie Werblowsky es bereits mit klaren Vokabeln zum Ausdruck bringt). Diskursanalytisch von außen betrachtet ist es dagegen in erster Linie der Ausdruck einer neuen Machtkonstellation – der Ermächtigung einer Position nämlich, die sich den Rückenwind des säkularistischen Zeitgeistes zunutze machte. Fügt man dem noch die Perspektive postkolonialer Kritik hinzu, dann wird außerdem deutlich, dass in den Beschlüssen von Marburg ein unverhohlener westlich-europäischer Überlegenheitsanspruch impliziert ist. Die klassische Säkularisierungstheorie enthält in sich implizit oder explizit den Anspruch auf globale Hegemonie für eine antireligiöse Weltanschauung, die schon darin spezifisch europäisch ist, dass sie das europäische Christentum vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ablehnt, ohne dass sie sich zur Zeit ihrer Entstehung mit der Religionsgeschichte anderer Regionen der Welt überhaupt tiefergehend auseinandergesetzt hätte. Die Säkularisierungstheorie als Theorie weltweiter Expansion von Säkularität entstand im Zeitalter des Hochimperialismus und blieb auch im Verlauf ihrer weiteren Diskursgeschichte geprägt von kolonialem Denken. In Europa wurde der Bewertungsmaßstab formuliert, anhand dessen Fragen von „gelungener“ oder „gescheiterter“ Moderne in anderen Teilen der Welt gemessen wurden.21 Es gilt demnach nicht nur für den Begriff der „Religion“, sondern ebenso auch für den Begriff der „Säkularisierung“ bzw. „Säkularität“, dass er von Europa aus zunächst unter kolonialen Vorzeichen auf andere Regionen der Welt angewandt wurde, dort aber inzwischen auch Rezeptionsprozesse erfahren hat. Das eigentliche Problem eines drohenden Eurozentrismus liegt dabei weniger im Begriff der „Religion“ oder im Begriff der „Säkularität“ als solchem, sondern in der Annahme, dass die Grenze zwischen beiden Begriffen eine feststehende Größe sei und daher unhinterfragt von Europa auf andere 20 Michel Foucault 2012 (12), 25. 21 Vgl. Jos8 Casanova 2010, 1–16, hier 3.
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geografische Kontexte übertragen werden könne. Die Religionswissenschaft hält mit der Wende zum diskursanalytischen Paradigma alle Mittel dafür in der Hand, die Unterscheidung zwischen dem „Religiösen“ und dem „Säkularen“ als solche zum Gegenstand kritischer Wissenspraxis zu machen und aufzudecken, dass hinter dieser Unterscheidung ein Diskurs steht, der – wie jeder andere Diskurs auch – von Interessen geleitet ist. Der erstaunliche Befund ist jedoch, dass zwar im Rahmen der Kritik des Religionsbegriffs als eine europäische Kategorie gelegentlich auf das Verständnis von Religion als das Andere des Säkularen hingewiesen wird, aber bisher kaum ein religionswissenschaftlicher Debattenbeitrag den Begriff des „Säkularen“ gemeinsam mit dem Begriff der „Religion“ diskursanalytisch problematisiert hat. Die Gefahr einer Verzeichnung von außereuropäischen, menschlichen Überzeugungen und Praktiken durch die Anwendung des Begriffs „Religion“ auf sie besteht jedoch nicht nur wegen der möglicherweise darin enthaltenen inhaltlichen Zuschreibungen nach Modellen aus Christentum oder Aufklärung. Mindestens ebenso sehr droht die Gefahr einer Verzeichnung außereuropäischer Überzeugungen und Praktiken durch die Zuschreibung der Grenzen, die nach europäischer Lesart der Religion gesetzt sind, indem sie als ein bestimmtes gesellschaftliches Funktionssystem neben anderen verstanden wird oder indem sie als „Privatsache“ interpretiert wird. Eine Streichung allein des Religionsbegriffs für die Anwendung auf Regionen außerhalb Europas könnte daher genau das Gegenteil von dem bewirken, was die Befürworter einer solchen Option eigentlich zu bezwecken vorgeben. Es wäre nicht zu vermeiden, dass eine solche Streichung von vielen Menschen in Europa – insbesondere außerhalb der unmittelbar zuständigen akademischen Fachkreise – als eine wunderbare Ausweitung des Bereiches der Nicht-Religion verstanden würde und sich deshalb auf unkontrollierbare Weise alle möglichen säkularen und säkularistischen Vorurteile in einer solchen Maßnahme bestätigt sehen würden. Die in Europa verbreiteten Vorstellungen von „Nicht-Religion“ sind jedoch den Lebenswelten eines Großteils der Weltbevölkerung allemal fremder als die in Europa verbreiteten Vorstellungen von „Religion“. Aus diesem Grund ist es m. E. unverzichtbar, dass die Religionswissenschaft es weiterhin als ihre Aufgabe wahrnimmt, innerhalb von akademischen Wissensdiskursen zu erforschen und darzustellen, was sich nicht nur in Europa, sondern erst recht auch überall sonst auf der Welt von europäischen Vorstellungen über „NichtReligion“ unterscheidet.
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Sektion II Glauben und Wissen vor der Herausforderung des Pluralismus
Adriano Fabris
Das Christentum – eine unmögliche Religion?
1. Schon wieder Religionen? Der Titel meines Aufsatzes erscheint bestimmt seltsam. Was soll das heißen, das Christentum sei eine unmögliche Religion? Vielleicht, dass es eine unmöglich zu praktizierende Religion ist, weil sie zu hohe Anforderungen stellt? Oder dass das Christentum widersprüchlich ist in seinen Inhalten, in dem, was ein Christ glauben muss, um sich – eben – Christ nennen zu können? Oder vielleicht beides? Tatsächlich ist das Christentum für gewöhnliche Menschen voll mit schwer verständlichen Diskursen und Geboten, die nur unter großen Anstrengungen, wenn nicht sogar unmöglich verwirklicht werden können. Das wurde in der Vergangenheit festgestellt und wird auch heute noch so erlebt. Denken wir zum Beispiel an die Bergpredigt (Matthäus 5), in der Jesus Christus spricht: Selig sind die geistlich Armen und die Sanftmütigen. Oder denken wir an das – zweifellos nur schwer zu befolgende – Gebot, die „andere Wange“ hinzuhalten (Lukas 6, 29). Und das ist noch gar nichts. Ist es nicht heutzutage überhaupt sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, irgendeine Religion zu praktizieren? Damit meine ich: eine Religion wirklich zu praktizieren, an das zu glauben, was sie erklärt, es in die Tat umzusetzen. Denn wir leben heute, zumindest in der westlichen Welt, in einer Epoche, in der es für Religionen keinen Raum, keine Legitimität mehr zu geben scheint, und zwar auf der kognitiven wie auch auf der moralischen Ebene. Die Wissenschaften überzeugen uns, dass die Religionen nur Aberglaube sind. Oft erscheint uns dieser Aberglaube auch keineswegs harmlos, angesichts der Tatsache, dass die Religionen in ihrer fundamentalistischen Ausprägung häufig Gewalt generieren. Ist es also nicht besser, auf jede religiöse Perspektive zu verzichten, wo sie doch heutzutage weder wissenschaftlich noch moralisch vertretbar ist? Wie man sehen kann, habe ich mit den letzten Fragen den Diskursrahmen erweitert. Nicht nur das Christentum wird heute als etwas Unmögliches, wenn nicht sogar Unnützes wahrgenommen. Es ist die Religiosität im Allgemeinen, die von den emanzipierten Menschen in der westlichen Welt unvermeidlich als überholt angesehen wird. Und auch, wer sich heute noch über die Religion definiert, d. h. Männer und Frauen, die in einer religiösen Dimension leben, haben große Mühe, ihre Denkweise radikal und kohärent im Alltag umzu-
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setzen. Häufig legen sie sich lieber maßgeschneiderte Überzeugungen zurecht. Denn vollumfänglich, bis ins Letzte und kompromisslos all das zu befolgen, was eine Religion verlangt, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Warum beende ich also meinen Vortrag nicht hier? Warum wechsle ich nicht das Thema? Weil in unserer zeitgenössischen Welt die Religiosität trotz allem immer noch eine große Anziehungskraft besitzt und weit verbreitet ist. Es gibt zwar eine säkularisierte, westliche Welt, in der weitgehend Gleichgültigkeit den Religionen gegenüber herrscht, aber es gibt auch andere Teile der Welt, in denen die Religion ein grundlegender Aspekt des Lebens und der Sitten der Gemeinschaft ist. Und selbst im – multikulturellen und multireligiösen – Westen sind die Religionen keineswegs verschwunden. Sie haben im Gegenteil eine wichtige, wenngleich oft umstrittene Rolle inne, sowohl für die Gesellschaft als Ganzes als auch für die einzelnen Menschen. Das Problem ist vielmehr, dass wir nicht immer eine klare Vorstellung davon haben, was Religion eigentlich ist. Warum spielen die Religionen trotz allem heute noch eine Rolle? Warum sind sie wichtige Objekte der Philosophie und der Theologie? Ich versuche, eine kurze Antwort auf diese Fragen zu umreißen. Die Religionen haben heute noch einen Platz in unserer Gesellschaft und erwecken immer noch unser Interesse, weil sie etwas bieten, was der Fortschritt der Wissenschaften und die Macht der Technologie nicht zu geben vermögen: ein Warum der Dinge. Damit wir uns richtig verstehen: Das Wort „warum“ hat viele Bedeutungen, von denen wir jedoch vorwiegend zwei benutzen. Mit „warum“ fragen wir nach Erklärungen, bitten um Rechenschaft bezüglich dessen, was uns hilft, die Welt besser zu verstehen und vielleicht auch verstärkt zu kontrollieren. Wir können mit „warum“ aber auch nach dem Sinn fragen, nach der Bedeutung der Welt. Wir können dieses „warum“ benutzen, um uns über die globale Perspektive zu befragen, unseren Standort zu bestimmen, um uns in unserem Leben zu orientieren. Wenn ich zum Beispiel weiß, warum ich mich unwohl fühle – weil der Arzt mir erklärt hat, dass ich zu viel arbeite –, bedeutet das nicht, dass ich gleichzeitig auch eine Antwort auf die Frage habe, warum unter all den Menschen, die zu viel arbeiten, gerade ich mich unwohl fühle. Kurzum, die Religionen wollen uns den Sinn des Lebens bieten; eine globale Perspektive, in der wir uns in allen unseren Beziehungen orientieren können. Sie stellen verschiedene Arten bereit, mit der Realität umzugehen, die wir trotz allem, trotz aller großen technologischen Fortschritte, nicht zu kontrollieren vermögen. Natürlich könnten wir darauf verzichten, nach dem Sinn der Dinge zu fragen. Wir könnten uns darauf beschränken, ihre Prozesse dank immer raffinierterer Instrumente, die uns die Technologie zur Verfügung stellt, soweit wie möglich zu kontrollieren. Aber wir können nicht verhindern, dass diese zentrale Frage, nämlich die Frage nach dem Sinn, gestellt wird. Und dass die Menschen, die religiösen Männer und Frauen, ihre Antwort darauf zum Ausdruck bringen.
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2. Einfachheit der Fundamentalismen Wie ich weiter oben sagte, muss diese Antwort jedoch korrekt sein. Nicht korrekt – nicht richtig, nicht gut – ist der intolerante und gewalttätige Antwortmodus der Fundamentalismen. Er entspricht nicht der Erfahrung der Menschen, die in einer religiösen Dimension leben. Die religiöse Erfahrung ist nämlich eine Beziehungserfahrung: Die Erfahrung einer Beziehung zwischen Menschen und Gott, einer Beziehung der Menschen mit den Dingen der Welt, einer Beziehung der Menschen untereinander. Das besagt bereits das Wort „Religion“ in seiner lateinischen Etymologie, das – wie Lactantius1 ausführte – auf ein religamen, das heißt eine „Beziehung“, verweist. Die Fundamentalismen dagegen sind eine Verzerrung dieser religiösen Beziehung.2 In ihrem Fall produziert diese Beziehung keine weiteren Beziehungen, d. h. sie ist nicht fruchtbar und öffnet sich keinen neuen Erfahrungen, sondern gebietet ihnen ganz im Gegenteil Einhalt und blockiert sie. Die religiöse Erfahrung der Fundamentalismen ist vereinfacht und arm. Der Fundamentalist bleibt in sich geschlossen; gleichsam ein eifersüchtiger Hüter der Inhalte seines Glaubens. Doch auf diese Weise verletzt er das Gebot jeder Religion, dass Beziehungen verwirklicht werden sollen; gute Beziehungen, zwischen den Menschen, der Welt und der göttlichen Sphäre. Der Fundamentalist ist also kein wirklich religiöser Mensch. Kurz gesagt, die Fundamentalismen vereinfachen die Komplexität der religiösen Beziehung. Oder mit anderen Worten: Sie blenden den Aspekt der Unmöglichkeit jeder Religion aus. Jede wahrhaftig gelebte Religion – das ist meine These – verlangt etwas Unmögliches von den Menschen. Ich werde ganz am Schluss auf diesen Punkt zurückkommen, um ihn besser zu erklären. Im Folgenden möchte ich zunächst über das Christentum sprechen. Warum gerade das Christentum? Die Antwort ist in Wahrheit eine doppelte, gleichzeitig soziologisch und philosophisch. Einerseits ist das Christentum die uns am nächsten liegende Religion; die Religion, die unsere Kultur geprägt hat und weiterhin prägt. Denken wir nur an die vielen christlichen Symbole, denen wir im öffentlichen Raum begegnen, zumindest hier in der westlichen Welt. Wir kommen also nicht umhin, uns mit dem Christentum auseinanderzusetzen, müssen ihm Rechnung tragen und können uns nicht einfach so von ihm befreien. Andererseits ist das Christentum unter den Weltreligionen vielleicht die am schwierigsten zu akzeptierende Religion, die komplexeste zu begreifen und die problematischste zu praktizieren. Und dies sowohl in Bezug auf ihre Doktrin als auch auf die praktische Umsetzung. Kurzum, das Christentum ist im Vergleich mit anderen Religionen vielleicht die – wenn wir diesen Ausdruck verwenden wollen – unmöglichste Religion. 1 Lactantius 1973, IV, 28. 2 Vgl. Martin Riesebrodt 2001.
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Was will ich damit sagen? Zur Erklärung möchte ich eine kleine Geschichte der Unmöglichkeit des Christentums auf einem philosophischen Standpunkt vorbringen, sowohl was die Inhalte als auch die praktische Umsetzung betrifft.
3. Unmöglichkeit des Christentums Beginnen wir mit den Predigten Jesu: Jesus von Nazareth benutzt in seinen Predigten sehr viele Ausdrücke, die auf die Unmöglichkeit verweisen, wahrhaftig religiös zu sein, zumindest in der Bedeutung, die der Begriff „Religion“ in seiner Epoche hatte. Diese Unmöglichkeit bringt er durch Sätze, Erzählungen und Ermahnungen zum Ausdruck, die paradox klingen. Damit will er die bestehende Religion, mit der er sich konfrontiert, d. h. die jüdische, insbesondere in ihrer rabbinischen Ausprägung, in Frage stellen. Seine Sätze, Erzählungen und Ermahnungen sollen seine Zuhörer dazu bringen, ihre Mentalität zu ändern, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten und ihre Art zu handeln zu ändern. Der Begriff „Paradox“ meint genau das: etwas, das die zur Gewohnheit gewordenen Überzeugungen in Theorie und Praxis ins Wanken bringt. Ich habe bereits von der Bergpredigt gesprochen, in der Menschen selig genannt und gepriesen werden, die gemäß der normalen Auffassung nicht gerade zu den glücklichsten zählen. Aber ich könnte auch viele Gleichnisse mit einer überraschenden Schlussfolgerung anführen, viele Gesten und bedeutende Taten, die mit dem brechen, was als Normalität gilt. Jesus wendet sich den Schwachen zu und lässt die Mächtigen beiseite; er erhebt den barmherzigen Samariter zum Modell und stürzt den jungen Reichen in die Krise; er umgibt sich mit Frauen, auch mit Prostituierten, und zieht sie dabei oft den Männern vor, wodurch er die zeitgenössische Mentalität umstürzt. Er verkündigt ein Reich Gottes, das bereits da ist. Mehr noch: Denken wir an das Paradox im Vaterunser, dem christlichen Gebet, für das Jesus auf den Kaddisch zurückgreift und dieses traditionelle jüdische Gebet radikal verändert.3 Im Vaterunser ist alles, worum Gott gebeten wird – und auch hier ist Gott überraschenderweise „Vater“ und nicht „Herr“ – der Bedingung unterstellt, dass „dein Wille geschehe“ (Matthäus 6,10). Mit anderen Worten: Das, worum wir Gott willentlich bitten, ist etwas, auf das wir, um es zu erhalten, zu verzichten bereit sind, indem wir unseren Willen demjenigen Gottes unterwerfen. Und denken wir schließlich an das Gebot, unsere Feinde zu lieben (Lukas 6, 35): ein Gebot, das in einer politischen Dimension sogar eine Gefahr bildet. Damit all das sich ausbreiten und in der Welt Wurzeln schlagen kann, muss der Logik dieser Welt Rechnung getragen werden. Es muss sich verwandeln und mit dieser Logik Kompromisse eingehen. Die Predigt von Jesus, seine Art 3 Vgl. Milena Beux Jäger 2013.
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zu sein und zu handeln, wird so zu einer Religion: das Christentum. Jesus wird vom Verkünder des Reichs Gottes zum verkündeten Christ, dem Messias. Er wird zum Sohn Gottes erklärt, der den Tod am Kreuz stirbt, aber auch den Tod in der Auferstehung besiegt. Für den Christen hat der Tod deshalb nicht das letzte Wort. Und auch das ist etwas Unmögliches in Anbetracht dessen, was heutzutage gängige Meinung ist. Wer diesen Gedankengang ganz radikal weiterdachte und aufzeigte, wie man ihn sich im konkreten Alltag zu eigen machen kann, war Paulus von Tarsus. Mit Paulus haben wir einen ersten Hinweis darauf, wie man die paradoxen Inhalte des Christentums in der alltäglichen Erfahrung leben kann, d. h. wie man im Alltag mit der radikalen Unmöglichkeit umgehen kann, die diese Verkündigung kennzeichnet. Das Geheimnis besteht darin, die Kenntnisse durch das Bekenntnis zu ersetzen. Das Glaubensbekenntnis, d. h. die vorgängige Annahme eines göttlichen Bezugs, die Erklärung der Ursprünglichkeit der Beziehung mit Gott, wird so zur Leitfigur, die jeden weiteren Ausdruck des Menschseins lenkt und sich ihr unterordnet. Man denke dabei nur an das, was Paulus zu Beginn des Ersten Korintherbriefs schreibt. Der Glaube ist nämlich nicht einfach eine Überzeugung, er bietet keine Möglichkeit, Kenntnisse auf eine andere Art zu gewinnen als Wissen. Er besteht indes in einer Annahme dessen, was man nicht begreift, einer vorgängigen Einwilligung in das, was offenbart wird, insofern als es dazu dient, die Probleme des Lebens zu lösen. Dieser Prozess ist analog zu demjenigen, wonach uns zum Beispiel die Präsenz eines X in einer Gleichung hilft, diese zu lösen, ohne dass wir notwendigerweise wissen, wofür dieses X steht.4 In dieser Perspektive versteht man nun, wie eine ganze Reihe paradoxer Behauptungen, wenn nicht sogar unmöglich zu denkender Ideen, definiert und in etwas verwandelt werden, das einfach angenommen und geglaubt werden muss, wenn man sich Christ nennt. Auch oder gerade, wenn man die Behauptungen nicht begreift. Das ist die Bedeutung des Ausdrucks: credo quia absurdum. Es handelt sich dabei um Dogmen, die in den verschiedenen Konzilen theologisch erörtert und entschieden wurden. Dem Ersten Konzil von Nicäa zum Beispiel verdanken wir die Formulierung des Nicänischen Glaubensbekenntnisses, d. h. dessen, was im Credo bekennt wird. Beim Konzil von Chalkedon wurde bestimmt, dass Jesus Christus gleichzeitig Gott und Mensch ist, und im Ersten Vatikanischen Konzil wurde die Unfehlbarkeit des Papstes in Bezug auf die Doktrin festgehalten und dabei nachträglich die Wahrheit der vorhergehenden dogmatischen Behauptungen legitimiert. Es geht also um die Idee des Mensch- und Gottseins von Jesus Christus, d. h. um den Begriff der Dreifaltigkeit. Für den Christen wirft all dies keine Probleme auf: Die Unmöglichkeit dieser Behauptungen und die Unbegreiflichkeit dieser Ideen (zumindest in der 4 Vgl. Paul Evdokimov 1992, 182.
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Perspektive einer Kenntnis, die auf dem Widerspruchsprinzip beruht) werden überwunden durch die vorgängige Annahme einer Glaubenshaltung. Ich kann ohne weiteres Inhalte glauben und annehmen, die mir unbegreiflich sind. Insofern ist der Glaube ein Gegenmittel gegen die Unmöglichkeit des Christentums. All das, was ich bisher ausgeführt habe, gilt allerdings vor allem für die Doktrin, d. h. im Christentum wird die theoretische Unmöglichkeit durch die Annahme einer Glaubenshaltung überwunden. Diese Lösung gilt nicht für die tägliche Praxis, die konkreten Taten, zu denen ein Christ aufgerufen ist. Hier stellen sich dem Christentum nach wie vor alle Probleme, alle Schwierigkeiten, alle skandalösen Aspekte, die aus den anspruchsvollen Predigten Jesu’ hervorgehen. Um Christ zu sein, ist es nicht ausreichend, nur zu glauben, und es ist auch nicht ausreichend, die Taten dem Glauben unterzuordnen. Jesus hat von seinen Anhängern explizit die Umsetzung seiner Worte in ihrem Alltagsleben, in einer angemessenen Praxis verlangt. Und auch hier handelt es sich um eine extrem schwierige, wenn nicht sogar unmögliche Aufgabe. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet gestaltet sich das Christentum als antikonformistisch; es ist strukturell regelwidrig. Was will ich damit sagen? Ich denke dabei nicht nur an Vertreter eines intensiv gelebten Christentums, die im Laufe der Geschichte versucht haben, der Lehre Jesu wahrhaftig und authentisch Rechnung zu tragen, wie zum Beispiel der Heilige Franz von Assisi oder Mutter Theresa von Kalkutta. Ich beziehe mich vielmehr auf die Tatsache, dass im Christentum, wie in jeder anderen Religion, der Mensch über sich hinausgehen und den eigenen Glauben in die Welt tragen soll. Die – in unserem Fall die christliche – Doktrin muss, um eine solche zu sein, im Alltag umgesetzt werden. Wenn sie nicht gelebt wird, bleibt eine Doktrin leere Worte; erst in der praktischen Umsetzung kann sie sich behaupten. Doch wenn die Doktrin in die Praxis übergeht, wird sie durch eben diese Praxis in Frage gestellt. Was bedeutet es wirklich, Christ zu sein? Glaube ist nicht nur Zustimmung zu einer Doktrin; er impliziert ihre Umsetzung im täglichen Leben und verlangt eine Verwirklichung dieser Doktrin (besser gesagt, seines glaubensstiftenden Prinzips). Die Wahrheit ist für den Christen nicht nur durch eine Anzahl Dogmen gegeben, sondern besteht in einer Offenbarung. Das heißt, es kommt dynamisch zum Ausdruck, bezieht mit ein, wer bereit ist, den Glauben anzunehmen und beseelt jedes Tun und Handeln des Gläubigen. Deshalb ist die Wahrheit des Christen nicht nur etwas, das er kennt, sondern vor allem etwas, das er in die Praxis umsetzt. Der Glaube ist für den Christen nicht ein Besitz, sondern eine Aufgabe. Mit anderen Worten, niemand kann ein für alle Male sagen: ich habe den Glauben. Der Glaube ist etwas, das bestätigt, weitergeführt, im Alltag verwirklicht werden muss. In jedem Moment. Mittels dieser praktischen Umsetzung offenbart das Christentum seinen grundlegenden Verweis auf die Beziehungsdimension. Und es sind Beziehungen einer ganz bestimmten Art – nämlich Liebesbeziehungen. Diese Liebe
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wird allerdings als Agape verstanden, als Fähigkeit zu geben, und nicht als Ausdruck eines Verlangens oder eines Besitzwunsches im Sinne des Eros. Diese Beziehung betrifft den anderen – „der Nächste“ genannt – und mittels dieser Verbindung mit dem anderen wird die Beziehung mit Gott gefördert und verwirklicht. All dies hat ganz konkrete Auswirkungen. Das Christentum ist nicht nur eine Religion, der man zugehört, nicht nur Ausdruck einer Identität und einer Tradition, sondern es ist etwas – ich wiederhole –, das in die Tat umgesetzt werden muss, immer wieder von Neuem, um als wahrhaftig erlebt zu werden, um den Glauben zu verwirklichen. Und daraus ergibt sich ein weiteres Merkmal, das den Christen kennzeichnet. Jemand ist Christ, weil er christlich handelt, und nicht, weil er einer christlichen Institution, zum Beispiel einer Kirche, angehört. Die Zugehörigkeit ist nur ein äußeres Zeichen, das von einem soziologischen Gesichtspunkt aus interessant sein kann. Aber es hebt die Aufgabe nicht auf, den eigenen Glauben konkret auf die Probe zu stellen, unter Umständen sogar, indem gegen etwas gehandelt wird, das die eigene Institution in einem bestimmten historischen Moment von ihren Angehörigen verlangt. Jede Beziehung birgt immer auch ein Risiko. Es handelt sich dabei – um in einem generellen Rahmen zu bleiben – um das Risiko, sich zu verlieren in dem Moment, in dem man sich mit etwas anderem in Beziehung setzt, das Risiko, den verschiedenen Formen, in denen diese Beziehung normalerweise zustande kommt, zuwider zu handeln. Und erneut zeichnen sich damit weitere Formen der Unmöglichkeit ab: Die Unmöglichkeit, den eigenen Glauben wahrhaftig zu leben, weshalb man sich in einfachen Gepflogenheiten verliert (zum Beispiel wenn die Religion sich in Politik verwandelt); die Unmöglichkeit, den Glauben nicht umsetzen zu können, wie man es gerne tun würde, weil institutionelle Verpflichtungen einen daran hindern. All dies zeigt sich mit großer Klarheit gerade im Christentum, wo – wie wir gesehen haben – alles zum Äußersten getrieben wird. Es geht nicht nur um das Risiko, eine Beziehung mit dem Nächsten und mit Gott auch in Formen zu leben, die in einer bestimmten Epoche institutionell nicht akzeptiert sind. Das hauptsächliche Risiko, das der Christ eingeht – ein Risiko, das nur die großen Heiligen auszuhalten vermögen – besteht im Verlust seiner selbst in den Erfahrungen und Handlungen, durch die der eigene Glaube bezeugt wird. Im christlichen Zeugnis ist es in der Tat möglich – oder in gewissem Maß sogar unvermeidbar –, sich zu verlieren. Doch wie ein Wort Jesu Christi besagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Johannes 12, 24). Genau dies geschieht dem Christen. Er glaubt, dass das Risiko des Todes – nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele – mit seiner religiösen Erfahrung zusammenhängt. Denn ohne Tod gibt es keine Auferstehung.
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4. Unmöglichkeit der Religionen Was ich bisher ausgeführt habe, zeichnet vielleicht ein etwas ungewöhnliches und in der allgemeinen Auffassung befremdliches Bild des Christentums. Es ist vielleicht zu philosophisch. Die Theologie hätte vielleicht etwas anderes zu sagen. Das Christentum, das wir täglich vor Augen haben, hat Geschichte geschrieben, verkörpert sich in einer Reihe ganz bestimmter Institutionen (den Kirchen) und verlangt von seinen Anhängern, bestimmten Dogmen treu zu sein. Doch genau diese Auffassung des Christentums erlebt heute eine Krise. Und das ist kein Zufall, denn es handelt sich um eine konformistische und statische Auffassung, die auf der öffentlichen Ebene an eine bestimmte Zugehörigkeit gebunden ist. Vielleicht hat diese Idee des Christentums seine Anziehungskraft verloren. Im Gegensatz dazu ist das, was ich – wenngleich in sehr kurzer Form – aufgezeigt habe, ein Christentum, das sich ausgehend von den Predigten Jesu’ auf widersprüchliche Weise zum Ausdruck bringt, das eine vorgängige Glaubensannahme verlangt, das fähig ist, sich über das Begreifbare hinwegzusetzen und das Taten befürwortet, die gegen den gesunden Menschenverstand verstoßen. Aus diesem Grund sagte ich, dass das Christentum eine unmögliche Religion ist. Mehr noch, es ist vielleicht die unmöglichste aller Religionen, insofern als – aus diesem Blickwinkel betrachtet – das Christentum die antikonformistische Religion schlechthin ist. Antikonformistisch in dem Sinne, dass sie über alle Grenzen hinausgeht, die sie einengen und beschränken wollen. Auf diese Weise habe ich also versucht auszuführen, was im Titel meines Aufsatzes angekündigt war. Das Christentum ist nicht so sehr eine unmögliche Religion, weil es von der heutigen Wissenschaftsmentalität bedroht ist, die jede Lösung religiöser Machart verwirft, und auch nicht nur, weil es wie jede andere Religion verurteilt werden muss, wenn es sich in Fundamentalismus verwandelt. Das Christentum ist eine unmögliche Religion aufgrund der ihm innewohnenden Struktur ; aufgrund dessen, was es verlangt, und der Art, in der es das vom Gläubigen verlangt. In der Theorie und in der Praxis. Unter diesem Aspekt, wie ich bereits erwähnt habe, zeigt das Christentum eine gewisse Analogie mit anderen Religionen. Letztere erscheinen in bestimmter Hinsicht ebenfalls als unmöglich. Weil sie, gerade als Religionen, über die Grenzen des Menschenmöglichen hinausgehen. Was verlangt denn das Christentum auf so bestimmte und vielleicht übertriebene Art? Was verlangen die anderen Religionen? Sie verlangen alle das Transzendieren einer bestimmten Situation. Sie verlangen vom Menschen, über sich hinauszugehen, den Horizont seiner Welt und der möglichen Welterfahrung zu überschreiten, sogar das Bildnis Gottes hinter sich zu lassen. Alle Religionen stehen deshalb im Zeichen des Übermaßes und der Übertretung. Und gerade darin liegt ihre Unmöglichkeit.
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Warum ist das so? Es ist so, weil die Aufgabe jeder Religion darin besteht, richtige, korrekte, gute Beziehungen einzugehen. Das besagt schon das Wort selbst, wie ich zu Beginn erklärte. Der Begriff religio verweist auf Verbindungen, ein Band, ein religamen, zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Welt. Es muss eine richtige, korrekte, gute Bindung sein. Es handelt sich um die Verbindung mit dem, was über unsere menschlichen Bedingungen hinausgeht; dessen, was allein fähig ist, dem Leben der Gläubigen einen Sinn zu verleihen. In dieser Verbindung sind die religiösen Menschen gezwungen, sie selbst zu sein und gleichzeitig über sich hinauszugehen. Und das ist natürlich unmöglich. Ebenso wie es – ungeachtet dessen, was die Mystiker denken – unmöglich ist, bereits in diesem Leben in einer total anderen Seinsdimension aufgenommen zu werden und auf die vorliegende Welt zu verzichten. Und was bieten die Religionen angesichts dieser Erfahrung der Unmöglichkeit? Sie bieten ihren Anhängern eine Heilsperspektive. Der Wunsch, über sich hinauszugehen, erlaubt in der Tat, sich selbst, das tägliche Leben in all seinen Aspekten, im Guten und im Schlechten, in Gesundheit und Krankheit, im Glück und im Unglück zu erfahren. Es erlaubt, all dies zu erleben, als würde man es nicht leben. Denn es ist zwar Realität, aber nicht die einzige Realität.5 Gewiss, was die Religionen empfehlen, ist ein schwieriger Weg, denn um das eigene Ich zu gewinnen, muss man es verlieren. Da ist es doch einfacher, in der kontingenten Alltagsdimension zu verbleiben. Es ist einfacher, sich mit Erklärungen zufrieden zu geben. Es ist einfacher, die Religion mit der Institution zu verwechseln, die sie repräsentiert. Es ist einfacher, das Gebot, über sich hinauszugehen, zu ersetzen durch die Bestätigung einer in sich geschlossenen, ein für alle Male festgelegten Identität, wie sie für die Fundamentalismen kennzeichnend ist. All dies ist zweifellos einfacher. Aber warum sollte man dieser riskanten und unbequemen Situation, d. h. der konkreten Erfahrung der Unmöglichkeit der Religion nicht ausweichen? Und warum nicht, wo doch gerade das Christentum diese Unmöglichkeit zum Äußersten treibt? Ich kann dazu nur von meinem persönlichen Standpunkt, dem Standpunkt eines Religionsphilosophen, aus antworten. Meine Antwort lautet: Man sollte es nicht tun, weil auf die religiöse Erfahrung zu verzichten bedeutet, auf eine zentrale Erfahrung des Menschseins zu verzichten. Man sollte es nicht tun, weil das bedeuten würde, auf eine Perspektive zu verzichten, die dem Leben einen Sinn geben kann. Auch wenn man sich dazu, wie gesagt, gründlich auf die Unmöglichkeit der Religion einlassen muss – und zwar sowohl darin, wie man sie denkt, als auch darin, wie man sie lebt.6
5 Vgl. Martin Riesebrodt 2010. 6 Ich habe diese These in Adriano Fabris 2012 weiterentwickelt.
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Bibliographie Beux J-ger Milena, 2013, Padre nostro. Una preghiera ebraica, Torino: Zamorani. Evdokimov Paul, 1992, L’orthodoxie, Paris: Desclee de Brouwer. Fabris Adriano, 2012, Filosofia delle religioni. Come orientarsi nell’epoca dell’indifferenza e dei fondamentalismi, Roma: Carocci. Lactantius Cecilius Firmianus, 1973, Divinae Institutiones, introduction, texte critique, übers. von Pierre Monat, Institutions divines, Paris: Cerf. Riesebrodt Martin, 2001, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München: Beck. Riesebrodt Martin, 2010, The Promise of Salvation. ATheory of Religion, übers. von S. Rendall, Chicago-London: Chicago U.P.
Maurizio Pagano
Pluralismus und Religionsfrage
Wie können wir heute, im Rahmen des Pluralismus, Religion neu denken? Zu dieser für die heutige Philosophie und Theologie zweifellos zentralen Frage möchte ich zwei Denkwege vorschlagen. Der erste betrifft die mögliche Fragestellung einer philosophischen Perspektive, die von unserer abendländischen Erfahrung ausgeht. Der zweite macht den Vorschlag sich mit einer bestimmten Erfahrung des interkulturellen Dialogs zu befassen, die außerhalb unserer europäischen Welt entstanden ist, um darin vielleicht mögliche Vorschläge zu den Problemfragen des ersten Gedankengangs zu erkennen. Ich nehme eine Betrachtung zum Pluralismus vorweg: die Beachtung des Phänomens des Pluralismus ist, zusammen mit dem Bewusstsein, dass es unser Selbstverständnis und unser Dasein auf dieser Welt auf direkte Weise betrifft – zumindest in Italien und Deutschland – erst in den letzten 25 Jahren herangereift, während der Pluralismus in anderen Ländern, wie etwa den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Japan schon Jahrzehnte zuvor Interesse und wissenschaftliche Überlegung geweckt hat. In jedem Fall ist das Bewusstsein der Relevanz des Pluralismus für die gegenwärtige Kultur eine erworbene Tatsache. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass das Phänomen der interkulturellen Beziehungen keine auf die heutige Welt begrenzte Eigenschaft ist. Der Pluralismus durchzieht die gesamte menschliche Erfahrung, die Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen existierte schon in der längst vergangenen Antike; nur dass nun durch die großen Migrationen und die Zustände der globalisierten Welt diese Erfahrung besonders eindringlich und im Leben des einzelnen wichtig geworden ist. Jede Kultur ist prinzipiell Interkultur. In dem Moment in dem unser philosophisches, im Westen verankertes Denken, die Frage des kulturellen und religiösen Pluralismus berührt, tut es dies nicht auf Grund eines sicheren Bodens oder eines schon feststehenden Ausgangspunktes. Wollen wir die Frage der Religion im Rahmen des Pluralismus betrachten, so können wir nicht von der weitgreifenden und intensiven Debatte absehen, die schon innerhalb unseres eigenen Milieus das Thema der Religion betrifft: Auch wenn wir vom Pluralismus absehen, müssen wir erkennen, dass die Bedeutung und Perspektiven der religiösen Erfahrung heute radikal in Frage gestellt sind, und dass wir nicht über einheitliche Antworten zu den uns heute bewegenden Fragen zum Thema verfügen. In dem Moment in dem wir die Reise zur Begegnung mit den anderen Kulturen beginnen,
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tragen wir unsere eigenen Fragen mit uns, so wie unsere Ansätze zu möglichen Antworten auf die zentralen Fragen der Bedeutung der Säkularisierung und dessen Verhältnis zur Modernität, die Frage der so genannten Wiederkehr des Heiligen, den behaupteten Anspruch einer postmodernen Kultur, die Verbreitung des Nihilismus, den wohl erst kürzlich besonders verbreiteten Hang zum Relativismus sowie die Neigung zum Reduktionismus. Dies ist mit Sicherheit unser Ausgangspunkt, angefangen beim Bewusstsein der Probleme die den Horizont des gegenwärtigen Abendlandes in Hinsicht auf die Frage der Religion bewegen. Zur gleichen Zeit müssen wir aber feststellen, dass die Berücksichtigung des Pluralismus schon Teil unserer heutigen Debatte ist und mit vollem Recht zumindest in einige Diagnosen und Lösungsvorschläge derselben eingezogen ist. Ich denke dabei zum Beispiel an die zentrale Rolle des Pluralismus im Gedanken Charles Taylors zum optionalen Charakter der Glaubensfrage, an die Betrachtungen von Ulrich Beck zum Thema des eigenen Gottes und an die Thematisierung der verschiedenen Interpretationen der von Hans Joas vorgeschlagenen Erfahrung der Selbsttranszendenz. Die heute so intensive Erfahrung des Pluralismus weist darüber hinaus auch auf den allgemeinen Zustand der globalisierten Welt hin: die Frage der Beziehung zu anderen Kulturen und Religionen war anfänglich vor allem eine Frage der Theologen, die sie als Herausforderung an den Anspruch auf die Absolutheit des Christentums verstanden haben; erst nachträglich wurde sie auch von den Philosophen als zentral erfasst. Heute sehen wir, dass die Frage noch allgemeiner ist, dass sie als eine der grundlegenden Eigenschaften der Globalisierung verstanden werden muss. Sehen wir aus dieser Perspektive auf unser Thema, müssen wir erkennen, dass unsere Bedenken sich erweitern und verschlimmern. Der Horizont der heutigen Menschheit ist dunkel. Zur Zeit der ersten Untersuchungen zur Globalisierung in den neunziger Jahren hob die Kritik des Phänomens zwar viele negative Aspekte hervor, insbesondere bezüglich einer sich ausbreitenden Ungleichheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten, zeigte jedoch auch einige positive Seiten auf, in Anbetracht der Entwicklung einiger Teile der Welt. Heute jedoch – nach der 2007 begonnenen finanziellen Krise – steht die negative Komponente eindeutig im Vordergrund. In Anbetracht des maßlosen Einflusses, das die finanzielle Macht erreicht hat, stellen wir eine schwere Krise der Politik fest und, allgemeiner noch, eine Unzulänglichkeit menschlicher Fähigkeit einen Prozess zu leiten, der vom Menschen selbst eingeleitet worden ist. Dazu kommt noch ein Hang zum Misstrauen, zur Gleichgültigkeit und zur Oberflächlichkeit im Umgang mit allgemeinen Problemen sowohl in der zumeist verbreiteten Mentalität als in der persönlichen Handlung. Stimmt es, dass die Globalisierung, wie viele Wissenschaftler hervorheben, die Verantwortung für die ausschlaggebenden Entscheidungen unseres Lebens eher auf die Individuen als auf soziale Klassen oder organisierte Gruppen verlagert, so macht sich auch eine tendenziell negative Deklination des Individualismus bemerkbar und
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eine umgekehrte Erfüllung der Freiheit, die viel eher auf eine egoistische Willkür hinausläuft, anstatt auf die Beziehung mit den Andern als orientierte Verantwortung. Versuchen wir eine Erweiterung des Blickwinkels, d. h. betrachten wir unsere Epoche in Verbindung mit den Prozessen die ihr in den letzten Jahrhunderten vorangegangen sind und sie vorbereitet haben, lassen sich manche große Tendenzen erkennen, die im ihr vorangegangenen Prozess wurzeln und gerade heute besonders entscheidend und relevant erscheinen. Ich denke dabei in erster Linie an eine verbreitete Tendenz die – wiewohl in verschiedenen Formen – auf eine Reduktion und Herabsetzung abzielt, d. h. die versucht, theoretische Prinzipien und praktische Auffassungen auf eine niedrigere und der gemeinen Erfahrung näheren Ebene herab zu weisen, welche vorher sehr – vielleicht zu – hoch gestellt waren. Auf theoretischer Ebene zeigt sich diese Orientierung auf eindeutige Weise im Verdachtsdenken, das zur Demystifizierung tendiert, so wie zur Entdeckung der wahren, konkreten „allzu menschlichen“ Begründungen für die komplexen und differenzierten Ausdrucksformen der Zivilisation. Diese Tendenz geht im Gleichschritt mit der Kritik der Metaphysik und der Religion, die sich im Zeitalter des Positivismus entfalten. Ähnliches lässt sich auch auf dem Gebiet der Erfahrung der Moral und der sie lenkenden Auffassungen erkennen: Lässt sich in unserer Epoche eine Krise der Moral registrieren, so hat dies mit Sicherheit mit dem Verschleiß des Vorschriftcharakters der Normen zu tun. Dahinter aber ist deutlich der sehr bestimmte Drang zur Selbstbehauptung des Prinzips der unmittelbaren Befriedigung erkennbar, das zum Wegweiser und zur Stütze des Verhaltens des Einzelnen wird. Beide Tendenzen – Theorie und Praxis – bestärken sich gegenseitig: der Anstoß dazu, die Schale der praktischen Normen der Tradition oder der Erziehung zu durchbrechen ist offensichtlich unterstützt von der ausreifenden Weltanschauung welche die Prinzipien, seien sie theoretisch oder praktisch, als etwas relatives, unnützes oder gar trügerisches betrachtet. Diese Neigung zur Reduktion ist an sich überhaupt nichts negatives oder tadelswürdiges, sie ist in erster Instanz sogar eine produktive und bereichernde Einstellung, da sie darauf abzielt, die Theorie der Wirklichkeit anzunähern und sie der Komplexität des Realen bewusster zu machen. Sie wird aber meines Erachtens dann negativ, wenn sie direkt nach Unten zielt, einen rein linearen Weg einschlägt und somit, die Komplexität die es beschwören wollte vergessend, jedes Prinzip oder jegliche Norm auf null reduziert. Die dekonstruktive Seite der Reduktionsbewegung zielt auch und vor allem auf die Herabsetzung oder Abschaffung der Regeln, des Universellen: im Universellen der Regeln oder der Ideen haben sich die Menschen begriffen und sind übereingekommen; die Reduktion des Universalen solidarisiert mit der Behauptung einer Weltanschauung in der jeder Einzelne seinen eigenen Weg geht und den Wert des Einvernehmens und der Kooperation mit den anderen herabsetzt.
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Ein weiteres Phänomen, das sich vor allem in der wirtschaftlichen Sphäre entwickelt, aber noch viel weitere Gebiete der Erfahrung beeinflusst, ist die Neigung zur Abstraktion. Diese Erscheinung wurzelt, wie bekannt, in der Notwendigkeit des Güteraustauschs: In dem Moment in dem die zum Tausch angebotenen Güter verglichen werden müssen, produziert der Übergang vom Nutzungswert zum Tauschwert auch einen Übergang von der unvermittelten Dimension der Qualität zur vermittelten Dimension der Quantität, also eine Neigung zur Abstraktion, die notwendig in den Bedürfnissen menschlichen Lebens wurzelt. Auch wenn diese Betrachtung weiterer Erörterung bedürfte, scheint es mir so, dass die Tendenz zur Behauptung der Abstraktion sich mit einer Bewegung entwickelt, die dem Lauf der menschlichen Erfahrung irgendwie unausweichlich folgt, die in der von Marx beschriebenen Entwicklung des Kapitalismus einen evidenten Erfolg erfährt und in der aktuellen Phase der Vormacht der finanziellen Wirtschaft ihre Triumphe feiert. Aus dieser Perspektive erscheint die Herrschaft der Finanzsphäre in der heutigen Welt, sei sie auch von übereiltem politischen Handeln begünstigt, mit einer den Dingen irgendwie einwohnenden Tendenz übereinzustimmen. Ich erkenne außerdem auch eine paradoxe Konvergenz zwischen der Tendenz zur Reduktion und der zur Abstraktion, mit denen wir heute abrechnen müssen: Auf den ersten Blick erscheinen sie als entgegen gesetzte Bewegungen, weil die Reduktion aus der Höhe der Prinzipien und Normen hinab gleitet zu einer konkreten und fassbaren Wirklichkeit, während die Abstraktion aus dieser konkreten Wirklichkeit zu einer unfassbaren und höchst mittelbaren Sphäre führt. Der paradoxe Aspekt besteht darin, dass die zwei Bewegungen letztendlich zu einem gemeinsamen Ergebnis der Erosion der Sphäre der Prinzipien, der Normen und, soweit es unser Interesse betrifft, der Inhalte religiöser Erfahrung führt. Dies lässt sich vielleicht daraus erklären, dass die „hohe“ Dimension der Abstraktion doch nicht so hoch und noch viel weniger spirituell ist, sondern konstitutiv an das „niedere“ gebunden ist, dem sie entspringt und in dessen Funktion sie die eigene Herrschaft ausspielt. Es gibt noch weitere wichtige Tendenzen der gegenwärtigen Epoche, die eine umfassende Analyse berücksichtigen sollte. Ich denke dabei insbesondere an die Neigung zum Extremen oder an die damit verbundene Neigung zum grenzen- und regellosen Gewaltausbruch in der öffentlichen Sphäre. Trotzdem meine ich, dass die bisher erörterten Themen ausreichen, den Kontext darzustellen, innerhalb dessen einige Knotenpunkte der heutigen Diskussion der religiösen Sphäre Form finden. Ich werde mich vor allem auf zwei Themen konzentrieren, die miteinander verbunden sind und meines Erachtens für das heute stattfindende Überdenken sowohl der Theologie als auch der Philosophie entscheidend sind. Das erste betrifft die Dimension der Transzendenz und dessen Beziehung zur Immanenz, das zweite betrifft die Frage nach dem Sinn. Zum ersten muss gesagt werden, dass es heute immer schwieriger scheint, im Kontext einer zerrissenen und leidenden Welt, die sich aber als sich selbst genügend erfährt
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und bestimmt, die traditionelle Auffassung einer getrennten Transzendenz vorzuschlagen, d. h. einer in sich verschlossenen Sphäre die aus ihrer Vollkommenheit heraus mit unserer Welt in Beziehung tritt. Wie vor allem Giovanni Ferretti in Italien kürzlich mit besonderem Nachdruck gezeigt hat, richtet sich die Kritik hier in erster Linie gegen die Auffassung einer heteronomen Transzendenz, die sich dem Menschen von außen aufzwingt.1 Es handelt sich nicht um ein neues Thema; die heutige Problemstellung erinnert mich an den Kampf des jungen Hegels gegen die Positivität. Der damals auf dem Gebiet der Religion entwickelte Gedanke hat mit Sicherheit die Kritik des reiferen Philosophen gegen die Vorstellung des schlechten Unendlichen, das vom Endlichen getrennt bleibt, beeinflusst, sowie die Erarbeitung der Theorie des wahren Unendlichen, dass das Endliche in sich beinhaltet, da dieses in seiner Selbständigkeit verneint ist. Die getrennte Transzendenz ist radikal zur Diskussion gestellt. Trotzdem kann die Reflexion, die man heute zu diesem Thema führt, nicht verfehlen, einige Aspekte der Erfahrung zu beleuchten, welche die nihilistische und reduktive Lösung, die zur Auffassung einer in sich verschlossenen Immanenz führt, problematisch machen. Um bei einigen Beispielen aus der gegenwärtigen Debatte zu bleiben, scheint mir die Betrachtung von Hans Joas zu den Erlebnissen der Selbstranszendenz relevant, die in unserer Erfahrung erscheinen und verschiedene Interpretationen erhalten können, sowohl immanente als auch transzendente. Diese Auffassung kann, meines Erachtens, mit den Betrachtungen von John Hick zur goldenen Regel aller verbreiteten Religionen in Verbindung gebracht werden, die er als Übergang interpretiert hat von einer selbst zentrierten Existenz (self-centeredness) zu einer Existenz außerhalb der Grenzen des Egoismus, deren Zentrum die letzte Wirklichkeit ist (Reality-centeredness).2 Ein italienischer Philosoph, Salvatore Natoli, der sich bewusst außerhalb einer christlichen Perspektive setzt, spricht vom göttlichen als von der Erfahrung eines „Über“ (oltre), das unsere Endlichkeit misst.3 Aldo Magris (um im italienischen Bereich zu bleiben), ein großer Gelehrter zum Thema des Schicksals im antiken Denken und der Logik des gnostischen Denkens, spricht von Gott als von der Chiffre der abgründigen Dimension, die sich unter unserer Erfahrung öffnet wenn diese radikal aufs Spiel gesetzt wird.4 Es gäbe noch viel mehr Beispiele, deren Resultate, wie mir scheint, mit den Ergebnissen meiner eigenen Untersuchungen zum Begriff des Geistes in interkultureller Sicht konvergieren: Sowohl im abendländischen Denken wie auch in anderen Kulturen ist diejenige Auffassung besonders bedeutungsvoll, die im Geist die Verflechtung von Göttlichem und Mensch-
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Giovanni Ferretti, 2011, 69–73. John Hick 1989, 21–55. Salvatore Natoli 2012, 185. Aldo Magris 1999, 49–68.
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lichem erkennt und damit gleichzeitig das für den Menschen wesentliche Element hervorhebt, das ihm trotzdem nicht zur Verfügung steht.5 Aus diesen Betrachtungen heraus erscheint die Auffassung einer in sich verschlossenen Immanenz an sich recht diskutabel; doch sie führen trotzdem nicht zu einer sicheren Lösung und unterliegen verschiedenen Interpretationen bezüglich des letzten Sinns, den wir ihnen zuschreiben sollen. Wie können wir dann den Sinn erfassen? Die Religion will der Erfahrung einen umfassenden Sinn bieten, doch wie wird dieser erfasst und wie wird er gedacht? Mit Sicherheit ist der Sinn nicht etwas von mir produziertes; er ist nicht von mir geschaffen. Doch bedeutet dies, dass er als etwas gedacht werden muss, das sich mir von außen aufzwingt? Der Sinn beinhaltet eine gewisse Form der Einheit der Erfahrung; doch kann man einen Sinn denken, ohne dass dieser von einem einheitlichen dominanten Prinzip aufrechterhalten werden muss? Diese Fragen haben zu dem Gedanken geführt, dass der dem Menschen zugängliche Sinn nicht im Ganzen erreicht werden kann und sich nicht in einer einheitlichen Wirklichkeitsauffassung entwickelt, dass er aber vielleicht in der Einzelheit erfasst werden kann, wie ein Ganzes im Fragment. Einen Gedanken weiterführend, den ich bei Ugo Perone gefunden habe,6 meine ich, dass der Sinn besser in der Beziehung verschiedener, konsistenter Kerne der endlichen Erfahrung erkannt werden kann: In ihrer gegenseitigen Beziehung kann etwas erfasst werden, das größer ist als wir selbst, etwas, das keine Totalität des Sinns darstellt dessen wir uns bemächtigen, sondern auf eine weitere und tiefere Dimension hinweist, die durch Symbole erfasst werden kann und die eine Geste des sich ihr Anvertrauens plausibel macht. In dieser Perspektive erwerben die immer wieder vorgebrachten Erfahrungen der Liebe, der Gabe und der Vergebung besondere Bedeutung, da sie vom Einzelnen gänzlich auf der Ebene der Immanenz erlebt werden, aber ihn schon auf dieser Ebene über sich hinaus verweisen, da sie ihn mit anderen Subjekten in Verbindung bringen und gleichzeitig auf eine Erfahrung anspielen, die nicht willkürlich geschaffen werden kann – nicht einmal aus einer gemeinsamen Entscheidung der Subjekte heraus. Zu diesen Themen schlage ich einen Beitrag aus dem Orient vor; ich beziehe mich hierbei auf die wichtigsten Vertreter der Kyoto-Schule: Kitaro Nishida (1870–1945) und seinen Schüler Keiji Nishitani (1900–1990). Diese Autoren entwickeln einen eigenständigen Gedanken, der sich entschieden auf dem Grund der Philosophie ansiedelt, sich aber gleichzeitig weitläufig auf die Quellen der morgenländischen Spiritualität bezieht, in erster Linie auf den Zen-Buddhismus, aber auch auf andere Strömungen des Mahayana Buddhismus, auf den Konfuzianismus und den Taoismus. Von diesen ausgehend erarbeiten sie einen umfassenden Vergleich mit der westlichen Philosophie und bezeugen ein besonderes Interesse für das Christentum. So gehen sie 5 Maurizio Pagano 2011, 58–60. 6 Vgl. Ugo Perone 2012, 128.
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einen meditativen Weg, der die Beiträge von westlichem und östlichem Denken vereint und ein Beispiel interkulturell orientierten Denkens bietet, der ähnlichen Versuchen im Westen weit vorausgeeilt ist. In seinem ersten Werk, Über das Gute (1911), konzentriert sich Nishida auf das Thema der reinen Erfahrung. Mit diesem Begriff bezeichnet Nishida einen ursprünglichen Zustand in dem es uns gegeben ist „das Tatsächliche als solches zu erkennen“.7 Diese Ebene der Erfahrung erfolgt vor der Trennung von Subjekt und Objekt. So gesehen ist die reine Erfahrung ein einheitlicher Zustand; unser individuelles Bewusstsein wurzelt darin. Der weitere fundamentale Aspekt liegt im dynamischen Charakter der Erfahrung, die von einem ununterbrochenen Prozess gekennzeichnet ist, so dass das anfängliche Ganze differenziert wird, in Widerspruch gerät und anschließend eine höhere Einheit erreicht. In seinem späteren Gedanken lässt Nishida von seinem besonderen Interesse an der Sphäre des Bewusstseins ab und betont energisch den systematischen Aspekt seines Denkens: Die Wirklichkeit ist ein einheitlicher Prozess der, eine Reihe von Widersprüchen durchlaufend, zu immer weiteren Formen der Vereinheitlichung findet. Es gibt also eine Einheit der Erfahrung und ein Fundament dieser Einheit. Um diesen Charakter des Realen angemessen zu erfassen, muss eine dialektische Logik entwickelt werden, welche die Widersprüche und die Gegenwart des Universalen im konkreten Einzelnen, in dem es sich offenbart, zu denken vermag. Der Denkweg Nishidas ist mit dem Hegels zu vergleichen, jedoch entfernt er sich davon auch in einem entscheidenden Punkt: Am Gipfel des Systems kann nicht das Absolute in Form des Hegelschen Subjektes verbleiben, ein Absolutes in dem letztendlich nach Nishida das Positive über dem Negativen steht und ihm vorausgeht. Am Gipfel des Gedankens wird keine affirmative Realität zugelassen, sondern die Negation selbst, d. h. im Kern des Realen begegnen wir einer völlig widersprüchlichen Identität. In seinem Meisterwerk Die Religion und das Nichts8 richtet Nishitani seine Aufmerksamkeit auf die Frage des Nihilismus. Ausgehend von einer Kritik am Begriff des Subjektes, wie er sich im modernen westlichen Denken behauptet hat, gelangt er zu einer Betrachtung des Begriffs der Leere (s´unyata), die er gleichzeitig als Vertiefung und Antwort auf das Nichts des Nihilismus präsentiert. Ein erster Punkt, der berücksichtigt werden sollte, ist das erweiterte Verständnis der religiösen Erfahrung, das beide Denker entwickeln. Ist unsere Erfahrung ein komplexer Weg auf immer weitere Vereinheitlichungen hin, so muss man – laut Nishida – erkennen, dass des Menschen letztes Bedürfnis das der größten Einheit ist, die den gesamten Sinn der Realität umfasst. Es ist dies
7 Kitaro Nishida 1911, S. 29; vgl. auch ebd., S. 36: „Die Reine Erfahrung ist die unmittelbare Erfahrung des Tatsächlichen-wie-es-ist.“ 8 Keiji Nishitani 1961.
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das religiöse Bedürfnis des Menschen, das in Gott den Ursprung und Fundament des Universums erkennt: Somit ist das religiöse Bedürfnis das tiefste Bedürfnis der Menschenseele. […] Es gibt keine Religion außerhalb des Lebens des Selbst, und die religiösen Bedürfnisse sind die des Lebens selbst.9
In seinem letzten Werk, das er kurz vor seinem Tode abschließen konnte, kommt Nishida noch einmal auf das Thema der Religion zurück.10 Zunächst erklärt er den unumgänglichen Charakter der religiösen Erfahrung. Die Religion gründet nicht auf der Moral, wie Kant gerne wollte, sondern sie ist die wesentliche und letzte Dimension der Erfahrung die dann erscheint, wenn unsere Existenz in Frage gestellt wird; während die Moral universell ist, hat die Religion mit dem Individuum zu tun und betrifft es gerade in seinem gewöhnlichen, alltäglichen Leben: Hier entdeckt der Mensch die Negativität die seine Existenz durchströmt, hier erfährt er das Böse und wird sich des „ewigen Todes“ bewusst, das ihn seit jeher begleitet und jeden Moment des Lebens durchströmt. So sieht der Mensch am Grund seines Seins das Fundament seines Nichts und erkennt sich in seiner Einheit mit Gott: „Im Grunde unser selbst liegt etwas, das unser Ich durchaus transzendiert, wobei es sich hier nicht um ein bloß Anderes dem Ich gegenüber oder ein dem Ich äußerliches handelt.“11 Im Vorwort seines Buches erklärt Nishitani, dass es seine Absicht ist, im Grund der menschlichen Existenz nach dem „Quellgrund“ der Religion zu suchen, „wo Religion aus dem Menschen selbst, als einem Subjekt, das in der Gegenwart lebt, entspringt.“ Indem ich das tue, stelle ich mich geradewegs in ein Niemandsland, gleichsam mit einem Bein in den religiösen, mit dem anderen Bein in den anti- oder areligiösen Bereich – denn ohne Beziehung zu Religion sein, ist hier als bereits in einer Art Beziehung zur Religion Stehen zu betrachten.12
Die Religion betrifft jeden, auch und gerade den der glaubt ihrer nicht zu bedürfen; sie ist gerade „ein Problem, das für das Leben selbst lebenswichtig ist“, ein Problem das dann aufgeht, wenn alles seine Notwendigkeit und seinen Nutzen verliert, wenn alles im Bedeutungslosen versinkt und die entscheidende Frage erscheint: „Wozu existieren wir?“.13 Was das Thema der Transzendenz betrifft, behauptet Nishida, dass das Absolute nicht im Sinn einer getrennten Transzendenz verstanden werden muss, denn in diesem Fall würde es etwas außerhalb sich selbst belassen; das 9 10 11 12 13
Kitaro Nishida 1911, 194. Kitaro Nishida, 1945. Kitaro Nishida 1945, 244. Keiji Nishitani 1961, 8. Keiji Nishitani, 1961, 39–41.
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Absolute kann auch nicht rein vom Bösen getrennt sein, da es sich gerade durch die Inklusion seiner Selbstverneinung als Absolutes verwirklicht. So entdeckt der Mensch im Bewusstsein der Selbstverneinung seine Einheit mit Gott; Gott ist seinerseits im Leben des Menschen anwesend und lässt ihn gleichzeitig sein, genau weil er dieses Absolute ist, das sich selbst verneint: Wir alle müssen in die Richtung voranschreiten, in der wir in der Selbstnegation Gottes stehen. Schreiten wir aber nur in immanenter Richtung fort, verliert die Welt sich selbst und der Mensch verneint sich. Wir müssen uns durchaus nach Innen übersteigen. Gerade die immanente Transzendenz ist ein Weg zu einer neuen Kultur. […] ich bin davon überzeugt, dass die Religion der Zukunft mehr in Richtung immanenter Transzendenz zu finden sein wird als in der transzendenten Immanenz.14
Nishitani rekonstruiert den Prozess nach dem im westlichen Denken und in westlicher Erfahrung von der Behauptung des Subjektes und aus der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung heraus die Erfahrung des Nihilismus herangereift ist. Der Abgrund des nihilum, der sich hier dem europäischen Menschen auftut, war der morgenländischen Spiritualität schon lange bekannt; in diesem Abgrund bricht jeder positive Aspekt der Erfahrung auseinander, die Wirklichkeit Gottes und die des Menschen. Nishitani besteht vor allem auf der Tatsache, dass das nihilum die affirmativen Aspekte des Verhaltens und des Gedankens die wir kennen verneint und auflöst: den Egozentrismus, das Verhaftetsein, ein Denken das sich und die Welt auf einfältig affirmative Weise versteht. Die Grenze dieser Erfahrung, die deutlich erscheint in der Art, wie sie vom europäischen Nihilismus behandelt wird, ist, dass hier das Nichts immer noch als das Gegenteil des Seins gedacht wird; es behält daher eine Spur von der dinglichen Berücksichtigung der Realität, ist ein „relatives Nichts“. Es muss deshalb ein weiterer Schritt getan werden, um dieser ausweglosen Situation zu entgehen: Ist das nihilum auch der Abgrund des Seins, bleibt es dennoch relativ und es gibt es einen Abgrund des Abgrunds – die Leere. Während das nihilum, als das dem Sein Gegenübergesetzte, noch als etwas betrachtet wird, das außerhalb von uns verbleibt, vielleicht als der Abgrund auf den wir an den Grenzen unserer Existenz herab schauen, verschwindet diese Spur der Dingheit auf der Ebene der Leere, die die „Vollendung der Richtung der Negation“ ist.15 Nur in der absoluten Leere kann es eine neue Behauptung geben, die der Dinglichen, für uns gewöhnlichen, fern ist: Hier ist jedes Seiende, wie auch wir selbst, gänzlich befreit von jedem Verhaftetsein, von jeder Permanenz, und somit frei, sich selbst zu sein in seiner quellenhaften Modalität, die sich auch auf die Beziehung zwischen den Seienden und den Subjekten erstreckt. Ist der Hintergrund das Sein, so ist der Horizont der 14 Kitaro Nishida 1945, 281–282. 15 Keiji Nishitani 1961, 171.
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Beziehung etwas Volles; hier dagegen ist der Horizont völlig leer und ermöglicht es hiermit der Beziehung sich in ihrer reinsten Dimension zu verwirklichen. Die Erfahrung, die sich hier offenbart, ist die des „Lebens ohne Fundament“, das die unendlichen Bindungen der Abhängigkeit getrennt hat; sie kann mit der Leichtigkeit des Spiels erlebt werden, die wiederum mit der Ernsthaftigkeit der Arbeit übereinstimmt. Es ist eine Tätigkeit die ihr eigener Zweck ist und die sich gleichzeitig frei auf die Bedürfnisse aller empfindenden Wesen bezieht. Im Gebiet der Leere gibt es kein Zentrum, denn das Zentrum ist überall: In dieser gegenseitigen Durchdringung ist jedes Wesen ein Zentrum und gleichzeitig im Dienst jedes anderen, es ist gleichzeitig Herr seiner selbst und Diener eines Jeden.16 Dieser Weg, der an der traditionellen buddhistischen Kritik der Themen des Subjektes und des Verhaftetseins anknüpft, scheint also auf einen gewissermaßen positiven Vorschlag hinaus zu gehen, der einen Dialog mit unserer philosophischen und theologischen Tradition ermöglicht. Zusammenfassend würde ich sagen, dass die erweiterte Auffassung der religiösen Erfahrung von besonderem Interesse ist: Für diese Autoren ist die Religion die grundlegende Dimension der Erfahrung, die verbunden ist mit allen radikalen Fragen die das Leben von jedem sowie seinen Sinn betreffen. In diesem – unverkennbar morgenländischen und buddhistischen – Entwurf werden schlagartig die westlichen Brüche und Gegensätze zwischen religiösem und säkularem Denken übersprungen. Dies ist Nishitani möglich, weil er die egozentrische und selbstbejahende Tendenz, die er als Teilkomponente der biblischen Religion erkennt, aus der echten religiösen Haltung verweist: Dieser Vorschlag kann aus diesem Grund nicht so leicht in unseren Kontext aufgenommen werden. Die Betrachtung des Absoluten ist dank ihrer Vorschläge bezüglich der immanenten Transzendenz kostbar. Zwei Punkte weisen beträchtliche Schwierigkeiten auf und bieten gleichzeitig wichtige Anregungen: In erster Linie hat Nishitanis Absolutes eine starke unpersönliche Komponente; es annulliert die persönliche Dimension in Gott und dem Menschen nicht, nimmt sie aber wieder auf und relativiert sie in einem weiteren Horizont, der sowohl die unpersönlichen Aspekte der Welt berücksichtigen will, als auch die Kritik an den egozentrischen Aspekten des tradierten Persönlichkeitsbegriffs. Zudem trifft der letzte Vorrang der negativen Dimension des Absoluten zusammen mit der westlichen Kritik an der metaphysischen Auffassung der Transzendenz; dieser Gedanke kann aber nicht ohne weiteres auf das Gebiet des christlich orientierten Denkens übertragen werden. Die Frage des Subjektes bleibt für uns offen, doch letzten Endes tritt sie auch bei den japanischen Denkern erneut auf gerade da, wo sie auf das 16 Keiji Nishitani 1961, 231–239; 411–413.
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Selbstbewusstsein der „quellenhaften Subjektivität“ bestehen, wie Heisig17 mit Finesse erkannt hat. Zudem hat die westliche Beharrung auf diesem Punkt die Aufmerksamkeit und ein Engagement zum Thema der ethischen Verantwortung und der sozialen Gerechtigkeit zur Folge gehabt, nach dem man im Denken Kyotos, wie allgemein im östlichen Denken, vergeblich suchen würde. Ein wichtiges Element der Übereinstimmung entspringt letztendlich der besonderen Aufmerksamkeit die diese Autoren dem Thema der kenosis und dem Leiden Gottes schenken. Zweifellos hat diese Orientierung ihre Wurzeln in einem von uns unterschiedlichen Hintergrund, da sie mit der Kritik der Persönlichkeit in Verbindung steht, die wiederum auf der typisch buddhistischen Kritik des Verhaftetseins gründet. Trotzdem lässt sich erkennen, dass die Aufmerksamkeit für dieses Thema, das im Westen von verschiedenen Theologen und einigen Philosophen, wie Luigi Pareyson, entwickelt wurde, weiterhin wichtige Anstöße zu einem neuen Denken der religiösen Erfahrung bietet, ein Denken, das unter diesem Aspekt einen fruchtbaren Dialog mit dem morgenländischen Gedanken einleiten kann.
Bibliographie Ferretti Giovanni, 2011, Essere cristiani oggi, Elledici, Torino: Leumann Heisig James W., 2002, Filjsofos de la nada, Barcelona: Herder. Hick John, 1989, An interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, London: Macmillan. Magris Aldo, 1999, L’invenzione di Dio, in: Rivista di estetica, n. s. 10, n. 1, 49–68. Natoli Salvatore, 2012, Quel che resta di Dio, in: Annuario Filosofico, 28, 173–187. Nishida Kitaro, 1911, 1989 dt. Übers., Über das Gute. Eine Philosophie der reinen Erfahrung, übers. v. Peter Pörtner, Frankfurt am Main: Insel. Nishida Kitaro, 1945, 1999 dt. Übers., Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übers. u. hg. v. Rolf Elberfeld, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Nishitani Keiji 1961, 1982 dt. Übers., Was ist Religion?, übers. v. Dora FischerBarnicol, Frankfurt am Main: Insel. Pagano Maurizio, 2011, Lo spirito: un percorso tra le culture e nella filosofia, in: Lo spirito. Percorsi nella filosofia e nelle culture, hg. v. M. Pagano, Milano-Udine: Mimesis Perone Ugo, 2012, La secolarizzazione: un bilancio, in: Annuario Filosofico, 28, 107–131.
17 J. W. Heisig 2002.
Silvia Richter
Franz Rosenzweigs „Neues Denken“: Perspektiven für ein neues interreligiöses Verhältnis
1. Einleitung Mein Beitrag möchte vor dem Hintergrund der Fragestellung nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie diese Perspektive um eine interreligiöse Sichtweise erweitern. Im Mittelpunkt meiner Reflexionen steht dabei der deutsch-jüdische Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929), der mit seinem Lebensweg exemplarisch Zeugnis ablegte für ein existentielles Ringen um religiöse Erfahrung. Jedoch kann man zu Recht fragen: Warum Franz Rosenzweig? Welche Relevanz hat Rosenzweig für uns heute und inwieweit kann sein Denken fruchtbar gemacht werden für einen interreligiösen Dialog? Zunächst ist zu sagen, dass, wie bei kaum einem anderen jüdischen Denker der Moderne, Leben und Werk Rosenzweigs sehr eng miteinander verknüpft sind.1 Die Auseinandersetzung mit dem Christentum ist für Rosenzweigs Leben von zentraler Bedeutung. Zugleich lässt sich sein philosophisches Denken, insbesondere sein Hauptwerk Der Stern der Erlösung (1921), als eine Inspiration seiner religiösen Erfahrung lesen. In diesem Sinne kann Rosenzweigs Werk für die Problematik des Spannungsverhältnisses von Theologie und Philosophie auch heute noch interessante Impulse geben.2 Einleitend möchte ich zunächst kurz den Lebensweg Rosenzweigs skizzieren, damit verständlich wird, warum sich dieser Philosoph so eindringlich mit dem Christentum auseinandergesetzt hat. Anschließend werde ich zwei Wegmarken dieses Denkweges herausgreifen, um anhand dieser Brennpunkte Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem Christentum im Einzelnen näher darzulegen. Abschließend soll in einem Resümee gezeigt werden, worin die Relevanz des Denkens Rosenzweigs für uns heute liegt und welche Anknüpfungspunkte für den interreligiösen Dialog sich konkret daraus ziehen lassen. Zunächst jedoch einige Stichworte zur Biographie: Rosenzweig wurde 1886 in Kassel geboren. Das Milieu in dem er aufwuchs, war das assimilierte, gehobene jüdische Bürgertum. Rosenzweigs Eltern hatten sich bereits von der Religion entfernt; lediglich durch seinen Großonkel Adam, der ebenfalls im Elternhaus wohnte, wurde ihm ein authentischer Zugang zum Judentum na1 Zur Biographie Rosenzweigs im Kontext des werkgeschichtlichen Zusammenhangs vgl. Eva Schulz-Jander/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik 2011. 2 Vgl. hierzu Adriano Fabris1990, siehe insbesondere 95–131.
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hegebracht.3 Von 1908 bis 1912 studierte Rosenzweig Geschichte und Philosophie an der Universität Freiburg, insbesondere bei dem Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954), dessen 1907 erschienenes Werk Weltbürgertum und Nationalstaat ihn tief beeindruckte. Eines der Kapitel dieser Studie war der Staatslehre Hegels gewidmet und diente Rosenzweig zum Ausgangspunkt seiner Dissertation über Hegel und der Staat (1912 verfasst, kriegsbedingt jedoch erst 1920 publiziert).4 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an dem Rosenzweig als Frontkämpfer teilnahm, prägte sein Denken nachhaltig. Nicht nur das Vertrauen in den Nationalstaat mitsamt seiner kriegsführenden Ideologie wurde dadurch tief erschüttert, auch der Wunsch nach bürgerlicher Anerkennung, die sich viele jüdische Soldaten durch den gemeinsamen Kampf im Felde erhofft hatten, wurde bitter enttäuscht. Stattdessen entlarvte die sogenannte „Judenzählung“ im deutschen Heer 1916 die Illusionen der jüdischen Assimilation.5 Darüber hinaus brachte die Begegnung mit Hermann Cohen (1842–1918), den Rosenzweig im Herbst 1913 kennenlernte und dessen Vorlesungen an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums er besuchte, für ihn zum ersten Mal die Bekanntschaft mit einem jüdischen Denker, für den deutsche Philosophie und jüdisches Denken keinen Widerspruch darstellten. Es ist daher nicht so sehr Cohens Neukantianismus, als vielmehr seine späte Religionsphilosophie, insbesondere Cohens posthum erschienenes Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919), die Rosenzweig tief beeindruckte. Im Sommer 1913 fand zudem, eine für Rosenzweigs weitere Entwicklung entscheidende Auseinandersetzung mit seinem christlichen Freund Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) statt. Rosenzweig und Rosenstock kannten sich aus ihren Studienjahren in Freiburg und Heidelberg. Dabei war Rosenstock, obwohl zwei Jahre nach Rosenzweig geboren, der sozusagen „ältere“ von beiden: 1913 war er bereits habilitiert, Rosenzweig war gerade ein Jahr zuvor promoviert worden und besuchte Rosenstocks Vorlesung. Rosenstock, der als Denker tiefen Einfluss auf Rosenzweig ausübte, war Christ und im Alter von 17 Jahren vom Judentum zum Protestantismus konvertiert. Diese unterschiedlichen Glaubensauffassungen waren für Rosenzweig eine Herausforderung sein eigenes Verhältnis zur Religion neu zu überdenken. In einer langen Auseinandersetzung im Juli 1913 überzeugte Rosenstock schließlich seinen Freund davon, auch zum Christentum überzutreten. Nachdem er sich zur Konversion entschieden hatte, schien für Rosenzweig das Christentum zunächst die vorrangige Religion zu sein und er war überzeugt, dass „in dieser Welt […] für das Judentum kein Platz“ sei.6 Allerdings wollte er nicht als 3 Siehe Rosenzweigs Porträt seines Großonkels Adam in seinem Brief an Helene Sommer,16. 01. 1918, in: Franz Rosenzweig 1979, 506–507. 4 Siehe die Neuauflage Franz Rosenzweig 2010. 5 Vgl. Jacob Rosenthal 2007. 6 Franz Rosenzweig 1979, 134.
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Heide, sondern als Jude zur neuen Religion übertreten und entschloss sich daher, noch einmal an einem Jom Kippur Gottesdienst teilzunehmen.7 Dieses Erlebnis, in einer orthodoxen Synagoge in Berlin, markierte einen Wendepunkt in seiner geistigen Entwicklung. Denn nach dieser religiösen Erfahrung war es ihm nicht mehr möglich zum Christentum zu konvertieren. So fasste Rosenzweig den für sein Leben und Werk folgenreichen Entschluss Jude zu bleiben, den er seinem christlichen Vetter und Freund Rudolf Ehrenberg (1884–1969), der sein Taufpate hätte sein sollen, mit den Worten mitteilte: Lieber Rudi, ich muß dir mitteilen, was dich bekümmern und, zunächst mindestens, dir unbegreiflich sein wird: ich bin in langer und, wie ich meine, gründlicher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen. Er scheint mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr möglich. Ich bleibe also Jude.8
In diesem lapidaren Satz „Ich bleibe also Jude“ kann man in nuce den ganzen weiteren Verlauf von Rosenzweigs intellektuellem Leben wie durch ein Brennglas konzentriert sehen. In diesem Zusammenhang muss auch der Brief an seinen Doktorvater Friedrich Meinecke gelesen werden, dessen Angebot einer Habilitation Rosenzweig ablehnte, um stattdessen nach dem Krieg 1920 in Frankfurt a.M. das Freie Jüdische Lehrhaus zu gründen. Als Grund für seine Entscheidung erklärte Rosenzweig gegenüber Meinecke: „Mir ist im Jahre 1913 etwas geschehen, was ich, wenn ich einmal davon reden soll, nicht anders bezeichnen kann als mit dem Namen: Zusammenbruch.“9 Bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1913, war Rosenzweig also in eine tiefe, existentielle Sinnkrise geraten, die sich durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs nur noch intensivierte. Die Kriegsjahre können dabei wie eine Inkubationszeit angesehen werden an dessen Ende Rosenzweig, von August 1918 bis Februar 1919, schließlich sein Hauptwerk Der Stern der Erlösung, niederschrieb. Ich werde auf dieses Werk später noch detaillierter eingehen. Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zum Leben Rosenzweigs nach dem Krieg anfügen: Die Gründung des Freien Jüdische Lehrhauses im Oktober 1920 und die Übersetzung der Bibel gemeinsam mit Martin Buber ab 1925 können hier als wichtigste Stichpunkte genannt werden. Rosenzweig war nach dem Krieg bestrebt, eine Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland herbeizuführen. Sein Lehrhaus, dessen Dozentenliste sich liest wie ein Who-is-who der jüdischen Denker der Moderne – es lehrten dort Martin Buber, Erich Fromm, Siegfried Kracauer, Gershom Scholem, u. a. – war wegweisend für die jüdische Erwachsenenbildung in Deutschland und im 7 Ebd., 134: „[…] ich erklärte, nur als Jude Christ werden zu können, nicht durch die Zwischenstufe des Heidentums hindurch.“ 8 Ebd., 132–133, vgl. zur Analyse der Hintergründe für diese Entscheidung Rivka Horwitz 1988, 79–96, und Benjamin Pollock, 2014. 9 Franz Rosenzweig 1979, 679.
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Ausland. Die schwere Erkrankung (amyotrophe Lateralsklerose), die Rosenzweig ab 1923 ans Bett fesselte und ihn fortschreitend paralysierte, hinderte ihn daran, sein Lebenswerk in der Praxis weiter fortzuführen.10 Er musste 1922 die Leitung des Lehrhauses abgeben und nur durch die Hilfe seiner Frau konnte er in den Jahren seiner Krankheit weiterhin schreibend aktiv sein. Mittels des Blinzeln eines Augenlides oder der winzigen Bewegung seines kleinen Fingers – die einzigen Regungen, die sein ansonsten vollständig gelähmter Körper zuließen – wies er seiner Frau jeweils einen Buchstaben auf einer Tafel an, die diese dann in ein Heft übertrug. Die umfangreiche Korrespondenz und die zahlreichen Artikel, die Rosenzweig auf diese Art verfasste, ließen ihn während seiner letzten Lebensjahre – Rosenzweig starb 1929 in Frankfurt a.M. – zu einer wichtigen Identifikationsfigur einer jungen Generation jüdischer Intellektueller werden, die wenige Jahre später, durch Krieg und Exil in die ganze Welt verstreut wurden.11
2. Judentum und Christentum im „Stern der Erlösung“ (1921) Im Folgenden möchte ich zwei Stationen aus dem Leben Rosenzweigs herausgreifen, um anhand dieser Brennpunkte wesentliche Aspekte seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum aufzuzeigen. Wie ich bereits erwähnte, stellte die Begegnung mit Eugen Rosenstock-Huessy einen entscheidenden Wendepunkt für Rosenzweig dar.12 Rosenstock hatte jedoch von der Entscheidung seines Freundes, Jude zu bleiben, im Jahr 1913 zunächst nichts erfahren. Umso erstaunter war er, als er im Mai 1916 durch einen gemeinsamen Bekannten erfuhr, dass Rosenzweig das Judentum zum Zentrum seines Lebens gemacht hatte. Daran schloss sich von Mai bis Dezember 1916 eine intensive Korrespondenz der beiden Freunde an, die bis heute ein ergreifendes, authentisches Zeugnis darstellt für ein existentielles Ringen um Glauben und religiöse Überzeugung.13 Aber auch die Begegnung mit Margrit (genannt Gritli) Rosenstock-Huessy 10 Zur Krankheitsphase und -verlauf vgl. die Aufzeichnungen des Arztes Rosenzweigs, Richard Koch (1882–1949), der ebenfalls als Dozent am Lehrhaus wirkte, in: Frank Töpfer/Urban Wiesing (Hg.) 2000. 11 Zur Rezeption Rosenzweigs nach seinem Tode vgl. Thomas Meyer 2008, 131–171, siehe besonders 139 ff. 12 Zur Beziehung zwischen Rosenzweig und Rosenstock insgesamt siehe Wayne Cristaudo 2012. 13 Der Briefwechsel wurde zum ersten Mal Mitte der dreißiger Jahre unter dem Titel „Judentum und Christentum“ veröffentlicht, als Anhang in der Ausgabe Franz Rosenzweig 1935, 627–720. Vgl. auch die englische Übersetzung des Briefwechsels hrsg. v. Eugen Rosenstock-Huessy 1969. Zum Hintergrund des Briefwechsels siehe Harold Stahmer 1984, 57–82. (Der Aufsatz ist in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „‘Sprachbriefe’ und ,Sprachdenken‘. Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy“, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 1986, 307–329).
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(1893–1959), der Frau Eugen Rosenstock-Huessys, veränderte Rosenzweigs Leben und seine Sichtweise auf das Christentum fundamental. Während eines Fronturlaubs in Kassel im Sommer 1917 traf Rosenzweig zum ersten Mal im Beisein seines Freundes auf dessen Frau. Daraus entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die von 1918 bis 1920 anhielt und von deren wahrem Ausmaß man sich erst durch die Publikation der umfangreichen Gritli-Briefe Rosenzweigs im Jahr 2002 ein genaueres Bild machen konnte.14 Die Briefe können gelesen werden als eine Art fortlaufender Kommentar zu Rosenzweigs Hauptwerk Der Stern der Erlösung, in denen er beinah täglich Nachrichten über die Entstehungsgeschichte des Buchs erstattet – und dem heutigen Leser somit einen aufschlussreichen Einblick in seine philosophische Werkstatt erlaubt. Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich auf das ganze Werk des Sterns der Erlösung einzugehen. Der Fokus meiner Analyse liegt daher auf Passagen des dritten Teils des Sterns. Nur um auch den Gesamtzusammenhang anzudeuten, seien hier in wenigen Worten die beiden ersten Teile kurz umrissen. Im ersten beabsichtigt Rosenzweig ein vehementes Aufbrechen der idealistischen Philosophie, insbesondere der Hegelschen, um so Raum zu schaffen für ein „Neues Denken“, ein existentielles Denken.15 Dieses selbst kommt dann im zweiten Teil zum Ausdruck und entfaltet sich anhand dreier Erfahrungen: Das Wunder der Schöpfung, dass wir uns immer schon ins Dasein gestellt vorfinden; das Wunder der Offenbarung, dass wir uns immer schon existentiell durch das Wort, durch die Sprache als Ich von einem Du angerufen erfahren; und das Wunder der Erlösung, dass wir durch unser Handeln in tätiger Nächstenliebe auf ein Kommen des Reichs der Versöhnung hoffen dürfen. Im dritten Teil schließlich wird die Differenz zwischen Juden und Christen anhand ihrer jeweiligen Glaubenslehren und der Liturgie ihrer heiligen Feste dargelegt. Im ersten Kapitel des dritten Teils, betitelt Das Feuer oder das ewige Leben, geht Rosenzweig auf das durch die Zwiesprache mit Gott bestimmte Leben der Juden ein. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart, dass es ewig sein Volk ist. So ist auch der Kreislauf der religiösen Feste bestimmt und durchdrungen von der Verheißung, das eine, „ewige Volk“ zu sein. Dieses Herausgehobensein aus dem geschichtlichen Weltlauf drückt sich für Rosenzweig in der Liturgie der jüdischen Jahresfeste aus, die im Jom Kippur, dem Fest des Erlösungstages, gipfeln. Sie alle verweisen auf Offenbarungsereignisse des Volkes Israel, die in ihrer Folge den Bund Gottes mit seinem Volk bezeugen und damit als ewigen Bund immer wieder neu besiegeln. Im Gegensatz dazu interpretiert Rosenzweig im zweiten Kapitel des dritten Teils 14 Franz Rosenzweig 2002. Die Briefe von Margrit Rosenstock-Huessy an Rosenzweig sind verloren gegangen, so dass die Edition leider nur ein einseitiges Bild der Korrespondenz widerspiegelt. Zum Hintergrund des Briefwechsels vgl. Michael Zank 2003, 74–98. Siehe auch Ephraim Meir 2006 und, aus der neuesten Forschungsliteratur, Sonia Goldblum 2014. 15 Für eine Kritik an Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem Idealismus, insbesondere im ersten Teil des Sterns der Erlösung, siehe die Studie von Katrin Neuhold 2014.
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(Die Strahlen oder der ewige Weg) das Christentum als eine über alle Völker ausgreifende Gemeinschaft der Glaubenden, vereint im Glauben an Christus und beauftragt mit der christlichen Mission in der Welt. In diesem Sinne ist das folgende Zitat Rosenzweigs im Hinblick auf die verschiedene religiöse Charakteristik von Christentum und Judentum zu verstehen: Aus dem feurigen Kern des Sterns schießen die Strahlen. Sie suchen sich ihren Weg durch die lange Nacht der Zeiten. Es muß ein ewiger Weg sein, kein zeitlicher, ob er gleich durch die Zeit führt. […] Ewiges Leben [Judentum, S.R.] und ewiger Weg [Christentum, S.R.] – das ist verschieden wie die Unendlichkeit eines Punkts und einer Linie. […] Das Christentum als ewiger Weg muß sich immer weiter ausbreiten. Bloße Erhaltung seines Bestandes bedeutete ihm den Verzicht auf seine Ewigkeit und damit den Tod. Die Christenheit muß missionieren. Das ist ihr so notwendig wie dem ewigen Volk seine Selbsterhaltung […].16
Die Symbolik, die Rosenzweig hier benutzt – feuriger Kern, Strahlen, etc. – bezieht sich direkt auf das Zeichen, welches er nicht nur auf das Cover seines Buches drucken ließ, sondern das insgesamt das Denkgebäude des Sterns prägt: den Magen David, auch genannt Davidstern.17 Diese graphische Struktur zieht sich gedanklich wie ein roter Leitfaden durch das Konstruktionsgerüst seines Buches. Auch hier zeigt sich der Einfluss Eugen RosenstockHuessys: ebenso wie dieser sein Werk unter der Symbolik des „Kreuzes der Wirklichkeit“18 entwickelte, orientierte sich Rosenzweig im Stern der Erlösung am Davidstern – und dies sicherlich nicht zufällig. „Das, was Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig zu sagen haben, gestalten sie ,in graphischen Gebilden‘, im ,Kreuz der Wirklichkeit‘ und im ,Stern der Erlösung‘.“19 Bei beiden Denkern ist das gewählte Symbol mehr als eine graphische Illustration und mehr als ein historisch zufälliges Symbol: „Kreuz und Stern […] repräsentieren eine graphische Metaphysik.“20 Eine „Glaubens-Metaphysik“,21 die Ausdruck einer existentiellen, religiösen Erfahrung ist, die beide Denker auf ihre Weise, unter christlichen bzw. jüdischen Vorzeichen, ausformulierten. Nach der Darlegung der Gegensätze zwischen Judentum und Christentum, bringt Rosenzweig jedoch das für sein Werk Entscheidende: die Möglichkeit einer jüdisch-christlichen Partnerschaft über alles Trennende hinweg. Weder im jüdischen Glauben, der im verheißenen ewigen Leben des jüdischen Volkes wurzelt, noch im christlichen Glauben, dem die Erlösung aus der Nachfolge des ewigen Weges verheißen wird, liegt bereits die ganze Wahrheit für Ro16 Franz Rosenzweig 1976, 374 und 379. 17 Siehe die Abbildung des Titelblatts der Erstausgabe des Stern der Erlösung, 1921 (Verlag Kauffmann). Vgl. hierzu meinen Artikel 2014. 18 Vgl. die Neuedition von Eugen Rosenstock 2009. 19 Heinz-Jürgen Görtz 2010, 31. 20 Hartwig Wiedebach, Einführung, in ebd., 13. 21 Ebd., 12.
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senzweig – dies ist das Fazit des dritten und letzten Kapitels des Sterns, betitelt Der Stern oder die ewige Wahrheit. Beide Religionen können aneinander ihre Grenzen und ihren Halt erfahren, denn auch nach jüdischer Lehre kann das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle Völker zurückgekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche Lehre bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. So sind beide, Juden wie Christen, getrennt in der Erfüllung ihres Auftrages und doch gegenseitig aufeinander angewiesen, damit sich der Auftrag erfülle. Rosenzweig kommt somit zu folgendem Fazit im Hinblick auf das Verhältnis von Judentum und Christentum: Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden. Uns gab er ewiges Leben, indem er uns das Feuer des Sterns seiner Wahrheit in unserm Herzen entzündete. Jene stellte er auf den ewigen Weg, indem er sie den Strahlen jenes Sterns seiner Wahrheit nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende. […] Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns.22
Ich werde auf diesen Aspekt der beiderseitigen Ergänzung bzw. Komplementarität der Religionen in meinem Fazit noch näher eingehen, da ich denke, dass hier ein wichtiger Impuls für den interreligiösen Dialog heute liegt.
3. „Vom Leben des anderen leben“ – Rosenzweigs „Neues Denken“ Rosenzweigs Stern endet mit den Worten: „Ins Leben.“23 In der Tat sah sich Rosenzweig nach Abschluss seines Buchs mit seinem Werk in gewisser Weise am Ende. Nicht mehr in der Wissenschaft oder im weiteren Bücherschreiben sah er seine Zukunft, sondern in der praktischen jüdischen Bildungsarbeit. So gründete er 1920 das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt a.M.. Dennoch beschäftigte ihn die Rezeptionsgeschichte des Sterns weiter und es ärgerte ihn, dass das Buch zunächst nicht die Aufnahme gefunden hatte, wie er es sich vorgestellt hatte. So ließ er 1925 den Artikel Das Neue Denken nachfolgen, in welchem er einige wichtige nachträgliche Anmerkungen zum Stern dargelegte: Rosenzweig entwarf darin sein Konzept eines „Neuen Denkens“ mit dessen praktischer Umsetzung er sich in seiner täglichen Arbeit im Lehrhaus konfrontiert sah. Aber was heißt das konkret: ein „neues“ Denken? Und wie grenzt es sich zu dem alten ab? Rosenzweig legt im Stern besonderen Akzent auf zwei Kernbegriffe: Offenbarung und Sprache. Verkürzt gesagt stellt sich das Offenbarungsgeschehen für Rosenzweig im Stern als ein Sprachgeschehen dar, das das „stumme 22 Franz Rosenzweig 1976, 462. 23 Ebd., 472.
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Selbst“24 zu einer „sprechenden Seele“25 werden lässt. Diesen Fokus auf die Sprache erweitert Rosenzweig im Aufsatz Das neue Denken zu einer Methode des Sprach-Denkens – ein Denken, dass sich der Sprache nicht bloß als eines Mediums bedient, sondern das mit und durch die Sprache denkt.26 Rosenzweig sieht dies insofern als ein neues Denken, da es für ihn in der Tat eine radikal neue Form des Denkens darstellt – eben des Sprach-Denkens. Jedoch wäre es zu kurz gegriffen, in dieser neuen Form des Denkens lediglich ein Art lautes Aussprechen der vorher stillen Gedanken zu sehen. Da Sprache sich immer an ein konkretes Gegenüber wendet, braucht das neue Denken notwendig den anderen Menschen, der nicht bloß ein Ohr hat und mir zuhört, sondern auch einen Mund und mit mir durch Rede und Antwort verbunden ist in einem kreativen Erkenntnisprozess, dessen Ausgang – wie jedes echte Gespräch – stets offen ist, unvorhersehbar und voller Überraschungen. Hierin sieht Rosenzweig eine wesentliche Abgrenzung des Sprachdenkers vom Denker an sich: Der Denker weiß […] seine Gedanken im Voraus; daß er sie ,ausspricht‘, ist nur eine Konzession an die Mangelhaftigkeit unsrer, wie er es nennt, Verständigungsmittel; die nicht darin besteht, daß wir Sprache, sondern darin, daß wir Zeit brauchen. Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein. […] natürlich ist auch das neue, das sprechende Denken ein Denken, so gut wie das alte, das denkende Denken nicht ohne inneres Sprechen geschah; der Unterschied zwischen altem und neuem […] Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit […].27
Ich möchte hier vor allem auf die Worte „was dasselbe ist“ hinweisen: Was heißt es, wenn Rosenzweig davon spricht, man müsse die Zeit ernstnehmen und – was dasselbe sei – man brauche den Anderen? Wozu braucht man beim Denken den Anderen, wo Denken doch ein vorrangig innerlicher Prozess ist, den jeder für sich selbst vollzieht? Ich denke, dass der Schlüssel für die Interpretation dieser Stelle in einer neuen Form von Erkenntnis liegt, die Rosenzweig vorschwebt und die er radikal abgrenzt von der rein wissenschaftlichen Erkenntnis, als eines Denkens um des Denkens willen. Für Rosenzweig ist wahre Erkenntnis immer an die zeitliche Bewährung in der Welt gebunden: Wahrheit be-währt sich nur in der Zeit und – indem wir uns auf sie einlassen und sie ernstnehmen – in der Begegnung mit dem anderen Menschen.28 Rosenzweig spitzt diesen Gedanken noch weiter zu, wenn er sagt: 24 25 26 27 28
Ebd., 186. Ebd., 87. Siehe hierzu Donatella Di Cesare 2001, 51–69. Franz Rosenzweig 1984, 151–152. Franz Rosenzweig 1976, 422.
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Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es läßt sich seine Stichworte vom andern geben. Es lebt überhaupt vom Leben des anderen, […].29
Vom Leben des anderen leben heißt Erkenntnisse machen, die nicht aus mir selbst kommen, sondern die ich mittels des Sprechens mit dem Anderen erst erlange. Denn letztlich vollzieht sich Sprechen immer, wie Bernhard Casper es ausdrückt, „als ein Mich-Überschreiten auf den Anderen hin“ in Form einer „Darreichung des Sagens in der Gabe des Gesagten“.30 Es verweist somit auf einen Moment der radikalen Passivität und der Öffnung. Im Sprechen setze ich mich dem Anderen aus, ich mache mich verletzlich. Das Sprachdenken Rosenzweigs erfordert diese radikale Offenheit. Und es erfordert zudem noch etwas anderes, was für den modernen Menschen von heute vielleicht am schwersten zu realisieren ist: es erfordert, dem Anderen zu zuhören. Es ist genau genommen an der Wurzel dieses modernen Problems, was Hans-Georg Gadamer einmal sehr treffend diagnostizierte als „die Unfähigkeit zum Gespräch“ – wobei er gleichzeitig das grundlegend Positive, aber auch Schwierige dieser spezifischen conditio humana hervorhob: „Trotzdem immer wieder zum Gespräch fähig zu werden, d. h. auf den anderen zu hören, scheint mir die eigentliche Erhebung des Menschen zur Humanität.“31
4. Fazit – Warum Rosenzweig heute? Rosenzweigs Denken trifft mit seinem Konzept des neuen Denkens als eines Sprachdenkens, wie mir scheint, einen Nerv der Zeit, der bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Dies gilt gerade und im Besonderen für das Feld des interreligiösen Gesprächs.32 Das Bedürfen des anderen, von dem Rosenzweig spricht, realisiert sich auch in seinem Wahrheitsbegriff der Religion, der kein exklusiver oder singulärer ist, sondern komplementär und partizipativ. Ich habe bereits erwähnt, das für Rosenzweig Juden wie Christen beide „vor Gott […] Arbeiter am gleichen Werk“33 sind. Er weist Judentum und Christentum somit zwei unterschiedliche und dennoch sich einander ergänzende Funktionen im Prozess der Erlösung zu. Konkret gestaltet sich dies so, dass das Judentum „ein Modell der Erlösung“ offenbart „mit dessen Verwirklichung in Welt und Geschichte das Christentum beauftragt wurde.“34 Anstatt sich also als antagonistische Kräfte zu sehen, sollten die beiden Reli29 30 31 32 33 34
Franz Rosenzweig 1984, 151, kursiv gesetzt vom Verf., S.R. Bernhard Casper 2004, 146, kursiv gesetzt von mir. Hans-Georg Gadamer 1993, 214. Vgl. hierzu Myriam Bienenstock/Pierre Bühler 2011. Franz Rosenzweig 1976, 462. St8phane MosHs 2006, 674.
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gionen ihren heilsgeschichtlichen Auftrag im Sinne Rosenzweigs als komplementär verstehen. Rosenzweig eröffnet somit einen Weg, die Universalität der Religion zu denken, ohne deren Dominanz zu beanspruchen. Mit einer solchen Haltung gilt es, in ein heute mehr denn je dringendes Gespräch der Kulturen und Religionen einzutreten. St8phane MosHs weist zu Recht darauf hin, dass durch Rosenzweig dieser Aspekt einer doppelten bzw. pluralen Wahrheit zum ersten Mal theologisch ausformuliert wurde: „Mit Rosenzweig tritt zum ersten Mal in der Geschichte der westlichen Theologie ein Denker auf, der behauptete, dass die letzte Erfahrung der Wahrheit nicht eine einzige, sondern eine doppelte ist.“35 Hierin liegt meines Erachtens die ungebrochene Aktualität Rosenweigs, um den zwischen Indifferenz und religiösen Fundamentalismus schwankenden theologischen Diskurs der Moderne eine zukunftsweisende und tragfähige Dimension zu geben.36 Denn für die Menschen erscheint „die“ Wahrheit der Religion seit jeher in vielfachen Formen. Die höchsten Formen dieser Wahrheit sah Rosenzweig zweifelsohne in Judentum und Christentum verwirklicht, was jedoch nicht heißt, dass sein komplementäres Religionsmodell, wie er es im Stern der Erlösung bezüglich Judentum und Christentum entwirft, nicht anschlussfähig wäre für den interreligiösen Dialog heute. Denn was für Rosenzweigs Modell von Judentum und Christentum im Kleinen gilt, lässt sich meines Erachtens in einer größeren Perspektive (und in Erweiterung der zitierten These St8phane MosHs’) auch für den Dialog der Religionen insgesamt fruchtbar machen: Sie zeugen jeweils „von jenem Teil der Wahrheit, den von sich zu erfassen ihnen gegeben ist. Doch die eine Wahrheit transzendiert sie“37 alle.
Bibliographie Bienenstock Myriam/Behler Pierre, 2011, Religiöse Toleranz heute – und gestern, Freiburg/München: Verlag Karl Alber. Casper Bernhard, 2004, Die Genese des Sprechens im Übersetzen und das religiöse Verhältnis. Rosenzweig und Levinas, in Id., Religion der Erfahrung. Einführungen in das Denken Franz Rosenzweigs, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 143–147. Cristaudo Wayne, 2012, Religion, Redemption, and Revolution. The New Speech Thinking of Franz Rosenzweig and Eugen Rosenstock-Huessy, Toronto.
35 Ebd., 676. 36 Vgl. hierzu Adriano Fabris 2012, 499–507. Für eine neue philosophische Interpretation des Dialogs und der Beziehung vor dem Hintergrund des interreligiösen Gesprächs heute vgl. ebenso Adriano Fabris 2010. 37 St8phane MosHs 2006, 676. Vgl. ferner Jörg Kohr 2008, 306 ff.
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Silvia Richter
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Paolo Gamberini SJ
Dialogische Identität des Christseins
Das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ setzt sich aus dem Zeichen wei für „Gefahr“ und dem Zeichen ji für „Chance“ zusammen. Es handelt sich dabei um eine zutreffende Beschreibung der Situation, in der religiöse und konfessionelle Identitäten zusammenleben und sich neu aufstellen. Wir befinden uns gefährlich nah an dem Punkt, über den hinaus es nicht mehr möglich sein wird, das schöne christianitas wiederherzustellen. Gleichzeitig versetzt uns unsere gewachsene Fähigkeit der Kommunikation und des Umgangs mit den anderen Kulturen und Religionen in eine bessere Lage, um bisher noch unentdeckte Möglichkeiten in unsere Identitäten zu integrieren. Die ethnisch-kulturelle Zusammensetzung Europas hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Das Zusammenleben mit Migranten, die vor allem aus Nordafrika und Asien stammen, ist dabei, Wahrnehmung und Verständnis der europäischen Identität sehr rasch zu verwandeln. Die religiöse Identität Europas hat sich stark verändert. Man gehört der Kirche nominell an, aber ohne wirklich an sie zu glauben. Eine Zugehörigkeit, ohne Glaubensbekenntnis. Mehr und mehr findet eine Ablösung der Lebens- und Denkweise vieler Menschen von der religiösen Zugehörigkeit statt. Die Grenze zwischen Gläubigern und Nicht-Gläubigern sind nicht mehr, wie in der Vergangenheit, eindeutig und klar. Viele Katholiken, zum Beispiel, haben nunmehr eine pluralistische und tolerante Einstellung in Bezug auf Bioethik, Euthanasie, Lebensgemeinschaften und den homosexuellen Lebensstil angenommen; ganz zu schweigen von Wirtschaft und Politik. Diese Situation ist noch brisanter, wenn man an Italien denkt. Der Islam ist dort die zweite Religion nach dem Christentum. Die katholische Kirche ist keine Staatsreligion mehr, obwohl die Mehrheit der Italiener sich ihr vermutlich zugehörig fühlt. Die anderen Glaubensgemeinschaften und Religionen werden auf jeden Fall nicht nur toleriert oder als Minderheiten akzeptiert, sondern sind von den rechtlichen Institutionen anerkannt. In diesem von Komplexität und Fluidität der religiösen Identitäten geprägten Kontext werden die Anträge auf Austritt aus der katholischen Kirche immer verbreiteter. Als Begründung für einen solchen Austritt wird unter anderem die ausdrückliche Ablehnung der offiziellen Moral der katholischen Kirche angegeben (gegen Homosexuelle, Frauen, in Lebensgemeinschaften Zusammenlebende, Bio-Forscher).
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1. Bastelidentität Im nachsynodalen apostolischen Schreiben Ecclesia in Europa aus dem Jahr 2003 warnte Papst Johannes Paul II. vor dem, was er „stille Apostasie“ (vgl. Nr. 16) nannte. So sprach der Papst in seiner Rede an die vor ihm versammelten Religionslehrer von der Einstellung vieler Gläubiger, die, wahrscheinlich unter dem Einfluss der vorherrschenden Mentalität, aus dem unveränderlichen Gesamtgut des Glaubens subjektiv ausgewählte Elemente herausnehmen und vom geraden Pfad der evangelischen Spiritualität abweichen. Diese Art und Weise, die eigene religiöse und konfessionelle Identität ganz nach dem eigenen Geschmack zu bilden, wird verschiedenartig benannt: r8ligion / la carte, salad-bar religion, Cafeteria-Religion oder religiöse Identität mit Bindestrich (katholisch-muslimisch, katholisch-waldensisch, katholisch-buddhistisch, usw.). Es handelt sich jedenfalls um ein Religionsbasteln, bei dem jeder wie in einem Religionssupermarkt ganz nach persönlichen Vorlieben die eigenen Glaubensinhalte in seinen Einkaufswagen legt. Es besteht keinerlei Zweifel, dass die mehrfache Religionszugehörigkeit kein seltenes Phänomen mehr in der westlichen Welt ist. Sie birgt große Herausforderungen in sich und kann auch eine bereichernde Möglichkeit für die christliche Identität sowie für den interreligiösen Dialog und die christliche Mission im Allgemeinen darstellen.1
Bei einem solchen Ansatz wird, was Lehren, Glaubensinhalte und religiöse Praktiken betrifft, ein wenig vom Buddhismus und ein wenig vom Christentum genommen – nur um ein Beispiel zu nennen – und alles je nach den eigenen Neigungen und dem eigenen Sicherheitsbedürfnis zusammengemischt. Es gibt Christen, die glauben, es sei möglich, ja sogar notwendig, nicht nur theoretisch einige Lehren und Praktiken anderer Religionen anzunehmen und sie vielleicht auch in veränderter Form dem Christentum einzuverleiben, sondern auch Glauben, Moralnormen, Riten und monastische Praktiken aus religiösen Traditionen, die sich vom Christentum unterscheiden, anzunehmen und zu leben, und so Mitglied einer anderen Gemeinschaft zu werden, ohne aber die eigene zu verlassen.2
Diese Art und Weise die Identität zu leben und zu verstehen kann teilweise mit der Spiritualität des New Age verglichen werden, dessen Grundüberzeugung darin besteht zu glauben, ohne anzugehören. Hinter diesem Zusammenschmieden der religiösen Identität verbirgt sich ein Bedürfnis nach Verinnerlichung und Subjektivierung der eigenen Identität. Es mag eigenartig erscheinen, aber das Motu proprio des früheren 1 P. C. Phan 2004, 60. 2 P. C. Phan, ebd., 61.
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Papstes Benedikt XVI. Summorum Pontificum für die Wiedereinführung der tridentinischen Messe ist gewiss auf dieses subjektive Bedürfnis eingegangen, und ist den Forderungen jener Gläubiger entgegengekommen, die den Vetus dem Novus Ordo des Zweiten Vatikanischen Konzils vorziehen. Für die Entscheidung, ob neuer oder alter Ritus, ist nicht mehr ausschließlich die kirchliche Autorität (Bischöfe oder Konzil) zuständig. Sie ist dem Ermessen des einzelnen Gläubigen überlassen. In Anbetracht der sozialen Mobilität und dem kulturellen Relativismus – Phänomene, von denen die westlichen Gesellschaften betroffen sind – ist dies ein klares Zeichen für das Bedürfnis nach einem Orientierungsmittelpunkt, der nicht mehr die kirchliche Einrichtung, sondern die eigene Individualität ist. Von mehreren Seiten wird behauptet, dass die religiöse Identität von der Säkularisierung gefährdet wird: Ein mit dem christlichen Glauben begonnener Prozess, auf den Gianni Vattimo in seinem Credere di credere (Glauben zu glauben) hingewiesen hat. Dieser Prozess überwältigt jetzt allerdings das westliche Christentum von innen her, oder besser gesagt höhlt ihn aus. Gleichwohl muss zwischen Säkularisierung und Säkularismus unterschieden werden. Die Säkularisierung (nicht den Säkularismus) einseitig zu verurteilen, um den Primat Gottes über die postmodernen Gesellschaften wieder herzustellen, könnte dem islamischen Fundamentalismus in die Hände spielen. Auf dem Kreuzungspunkt zwischen Säkularismus und Fundamentalismus, zwischen Eklektizismus und Konfessionalismus, gerät die religiöse Identität gewiss in eine Krise. Sie hat aber die Möglichkeit und die Gelegenheit, das Problem der gefährdeten Identitäten anzupacken, wenn sie dabei die zweifache Versuchung überwindet, die eigenen Grenzen undurchlässiger zu machen oder sie derart durchlässig werden zu lassen, dass sie aufgehoben werden. Von einer gefährdeten Identität ist auch in dem Buch Die Schiffbrüche des spanischen Seefahrers Alvar NuÇez Cabeza de Vaca die Rede. Nach einem plötzlichen Sturm erreicht sein Boot die Küste von Mexiko. Hier ist Cabeza de Vaca gezwungen, seine Kleidung abzulegen, und beim Zusammentreffen auf die einheimischen Indianerstämme jeweils die des Schamanen, des Königs oder des Sklaven anzuziehen. Aufgrund dieses Scheiterns ist El conquistador gezwungen Identitäten und Merkmale anzunehmen, die nicht denen entsprechen, die die spanische Krone ihm zugewiesen hatte. Am Ende einer sieben Jahre dauernden Umschiffung erreicht er die von der spanischen Krone kontrollierten Gebiete und kleidet sich wieder mit den Gewändern seiner Kultur. Cabeza de Vaca durchläuft einen kulturellen und religiösen Transformationsprozess seiner Identität. Einen Entkolonisierungsprozess, in dem er seinen Überbau als Kolonialist abgelegt, und zu jemanden wird, der sich auf die gleiche Ebene der Völker begibt, mit denen er zusammentrifft. Anstatt zu erobern, wird er von dem erobert, was er um sich herum sieht und hört.
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Aber was bei dieser fantastischen, fast unglaublichen Geschichte besonders fasziniert, ist die kulturelle Haltung des Autors, der den kanonischen Formen der spanischen Kolonialisierung das Problem der Kenntnis und des Verständnis der fremden Welt entgegensetzt.3
Jeder, der eine Reise in das Gelobte Land der eigenen Identität unternimmt, egal welcher, auch der religiösen und/oder konfessionellen Identität, wird sich mit dieser Alternative auseinandersetzen müssen: Sich gegen oder über den Anderen hinweg behaupten, oder sich behaupten und sich dabei selbst verlieren, um sich dann anders zurückzugewinnen? Am Ende seiner Reise trägt Cabeza de Vaca erneut seine Kleider, aber eben anders. Er ist derselbe (Identität), sich selbst zurückgegeben durch den Blick anderer. Die Identität besagt in der Tat, Position des Anderen: Eines Anderen, der sich außerhalb unserer selbst befindet, der aber auch derjenige ist, mit/durch/in dem sich unsere Identität realisiert. Wenn wir uns mit dem Anderen auseinandersetzen, nehmen wir den bestehenden Unterschied und die Grenze, finis, wahr, durch die wir getrennt werden, die uns aber gleichzeitig dem Anderen auch näher bringt. Durch Differenzierungen, Trennungen und Annäherungen bilden wir uns eine Identität. Dies erfolgt durch zwei Modalitäten.
2. Identität ohne den Anderen Die erste Modalität, in der sich die religiöse/konfessionelle Identität realisiert, kann als substantialistisch oder fixiert definiert werden. Das Authentische ist a-priori gegeben und ist schon in sich selbst enthalten: Die Anderen, die da draußen, können nur verunreinigen oder von der Reinheit der Identität ablenken. Die religiöse Identität wird somit mittels strenger und ausschließlicher Grenzen gebildet. Man verschließt sich dem Anderen gegenüber, oder es kommt, im äußersten Fall, zur Säuberung des Anderen (Verbannung). In den heiligen Schriften der Religionen findet man diese erste Modalität. Aus der Bibel und dem Koran stammen folgende Stellen: Wenn eine Mann oder auch eine Frau anderen Göttern dient und sich vor ihnen niederwirft, dann sollst du diesen Mann oder diese Frau, die den Frevel begangen haben, zu einem deiner Stadttore führen und steinigen und sie sollen sterben (vgl. Deuteronomium 17,2). So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen (Deuteronomium 7,5). 3 L. Pranzetti 1989, 147.
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Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen – von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde – bis sie kleinlaut aus der Hand Tribut entrichten und gefügig sind (Koran IX, 29). ,Was sind das für Bildwerke, deren Andacht ihr euch hingebt?‘. Sie sagten: ,Wir haben (schon) unsere Väter (vor)gefunden, wie sie ihnen dienten‘. Und bei Allah, ich werde ganz gewiss gegen eure Götzen eine List anwenden, nachdem ihr den Rücken gekehrt habt. Da schlug er sie in Stücke (Koran XXI, 52–53–57–58).
Dadurch, dass die Kirche zur Religion der Macht wurde, hat sie mit dem Mailänder Toleranzedikt aus dem Jahr 313 das Andere der eigenen religiösen Identität unterworfen: durch die Zerstörung von heidnischen Tempeln und die Errichtung neuer Kirchen an ihrer Stelle (vgl. Pantheon in Rom). Die Konstruktion der Identität erfolgt mittels Unterdrückung und Beseitigung des Anderen, d. h. mit Gewalt. Es ist emblematisch, was Augustin über die Verfolgung sagt: „Die Kirche verfolgt aus Liebe, die Gottlosen aus Grausamkeit.“ Man hat sich schon vom Geist des Briefes an Diognet entfernt, in dem gesagt wird, dass Gott seinen Sohn in Milde und Sanftmut sandte, zum Überzeugen, nicht zum Erzwingen. „Bei Gott gibt es keine Gewalt. Er sandte ihn als Rufer, nicht als Verfolger ; sandte ihn aus Liebe, nicht zum Gericht.“ Religionsidentität und Inquisition gehören mit der Bulle Ad Abolendam von Iulius III. (1184) offiziell zusammen. In dieser Bulle wird die Häresie zum Majestätsverbrechen erklärt (vgl. Bekämpfung der Albigenser, Katharer und der Waldenser). Selbst Thomas von Aquin sagt, dass die Entstellung des Glaubens, die die Seele zugrunde richtet, gewiss kein geringeres Vergehen darstellt als die Fälschung von Geld (vgl. Summa Theologiae II–II, q.11, a.3). Eben das geschieht in den Ländern, in denen das islamische Gesetz angewendet wird (Shari’a). Das entsprach der Haltung nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch der Reformierten, besonders Luthers und Calvins Haltung. Obgleich Martin Luther behauptet hatte, dass das Verbrennen der Ketzer gegen den Willen des Heiligen Geistes ist (durch die Bulle Leon X. Exurge Domine verurteilte Proposition vgl. Denzinger-Hünermann 1483), ist er selbst es jetzt – und mit ihm auch Calvin – der Gewalt, Verfolgung und Einschränkung der Gewissensfreiheit des Einzelnen gegen diejenigen anwendet, die sich nicht dem wahren Glaubensbekenntnis anpassen. Luther verlangt die buchstäbliche Umsetzung dessen, was unter Leviticus 24,16 zu lesen ist: „Wer den Namen des Herren lästert, soll mit dem Tod bestraft werden“. Die schlimmste gotteslästerliche Praxis war für Luther die katholische Messe. Die Gewalt ist lediglich der äußere Ausdruck dessen, was sich auf der Ebene der religiösen Identität durch die Beseitigung des Anderen strukturiert. Nulla salus extra ecclesiam. Von der Dogmatik her war jeder, der nicht katholisch war, zum ewigen Feuer verdammt, wenn er sich nicht vor seinem Lebensende der Kirche anschloss (Konzil von Florenz, 1442). Eine Meinung, die in der
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Neuzeit durch den Syllabus und durch die Singulari quadam von Pius IX. Bekräftigung findet. Die Aufforderung, die Rechte der Anderen in der Beschaffenheit der eigenen religiösen Identität zu überdenken, kommt von außerhalb der Kirche. Es waren Denker christlicher Eingebung, die sich aber als Laien sahen und darauf achteten, das Religiöse vom Politischen wohl zu unterscheiden. John Locke bekennt in seinem Brief über die Toleranz (1689), dass der Staat tolerant gegenüber allen Religionen sein muss. Das Zweite Vatikanische Konzil treibt mit der Erklärung Dignitatis humanae die Kirche dazu an, die Rechte, nicht nur des rechtschaffenen Gewissens, anzuerkennen, sondern eines jeden Gewissens, also auch des irrenden Gewissens. Damit wird Thomas von Aquins Gewissenslehre über die Würde des Gewissens, auch des irrenden Gewissens (vgl. Summa Theologiae I–II, q.19, a.5), wieder aufgenommen.
3. Inklusivistische Identität Das Zweite Vatikanische Konzil hat der Kirche ermöglicht, im Schiffbruch, in dem sie sich in der Kultur der Nachkriegszeit befand, ihr Identitätsverständnis zu überdenken und zu aktualisieren. Die Ketzer werden nicht länger als Feinde und weit entfernt betrachtet, sondern zuallererst als Gesprächspartner. Das Konzil war eine großartige Gelegenheit, um dem Anderen zuzuhören. Ökumenische Beobachter aus den anderen christlichen Kirchen wurden zur Teilnahme an den Arbeiten der Konzilsväter eingeladen. Es handelte sich dabei um eine Revolution, obwohl man heute versucht, die Kontinuität dieses Konzils mit der Tradition hervorzuheben. Zu bemerken ist eine Analogie mit dem ersten Konzil der Kirche, in Jerusalem. Damals entdeckten die Apostel im Geist, dass die Beschneidung nicht mehr erforderlich war, um zum erwählten Volk zu gehören; jetzt erkennen die Nachfolger der Apostel im Zweiten Vatikanischen Konzil an, dass das Heil Christi sich weit über die sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche erstreckt. Insbesondere mit dem Dokument Nostra aetate erklärt die katholische Kirche feierlich, dass sie nichts von alldem ablehnt, was in den anderen Religionen wahr und heilig ist (vgl. Nr. 1). Es wird somit anerkannt, dass die Gläubigen anderer Religionen aufrichtig Gott suchen und sich bemühen, Gottes Wille zu tun: Es ist keine teuflische Täuschung, die sie bewegt, sondern der Heilige Geist. Das Dokument Nostra aetate und das Pontifikat Johannes Paul II. haben es möglich gemacht, die christliche Identität anders zu definieren. Die Zusammenkünfte und die Gesten Johannes Paul II. in Casablanca und Yaound8 (1985) und in Damaskus (2001), bei denen er sich die Schuhe auszog und als erster Papst eine Moschee betrat, und ein Exemplar des Heiligen Korans küsste, haben gezeigt, wie wichtig der Andere für die Definition der eigenen
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Identität ist. Ereignisse in Assisi 1986 und 2002, bei denen Johannes Paul II. die Vertreter anderer Kirchen und anderer Religionen zusammenrief, um gemeinsam für den Frieden zu beten, bezeugen den Weg der Bekehrung und Reinigung der katholischen Kirche im Zeichen des Dialogs. „Jedes authentische Gebet wird vom Heiligen Geist hervorgerufen“: so Johannes Paul II. am Tag nach dem Gebetstreffen in Assisi zu den Kardinalen der römischen Kurie. Gesten und Worte, die auch von seinem Nachfolger Benedikt XVI. in der Blauen Moschee in Istanbul (2006) und bei seinem Besuch in Damaskus und Jerusalem (2009) wiederholt wurden.4 In den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie in den lehramtlichen Reden der letzten zwei Päpste ist eine andere Art der Behauptung der religiösen/konfessionellen Identität nicht zu übersehen; nicht länger gegen die Anderen, sondern mit den Anderen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche aus dem Konzil hervorgehende Version der Identität wirklich eine Überwindung der als substanzialistisch oder fixiert bezeichneten Identität darstellt, oder lediglich eine ihre Varianten ist. In der Enzyklika Redemptoris Missio (1990) ist unter Punkt 5 von der Rolle der Religionen im Heilsplan Jesu Christi die Rede. Johannes Paul II. schreibt, dass Christus der einzige Mittler ist, und dass in seiner Mittlerschaft andere Mittlertätigkeiten verschiedener Art teilhaben, eben die Religionen, die an der Gnade und dem Geist Jesu Christi teilhaben5. Im Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre Dominus Iesus bekräftigte der damalige Präfekt Kardinal Ratzinger, es sei gegen den Glauben der Kirche zu behaupten, dass „die Offenbarung Jesu Christi begrenzt, unvollständig, unvollkommen und komplementär zu den anderen Religionen ist“ (Punkt 6). Obwohl die Anderen nun nicht mehr die identitäre Reinheit beflecken, und es somit nicht mehr erforderlich ist, sie mit Gewalt zu beseitigen, bleibt dennoch das Verständnis des Authentischen, d. h. der eigenen Identität als etwas schon Bestehendes, gültig. Die Anderen, so es sie gibt, sind analytisch schon enthalten und vorhanden in dem, was wir sind. Mit anderen Worten: Die Anderen sind noch nicht das, was wir sind, werden es aber. Die Anerkennung des Heilscharakters der anderen Religionen wird als möglich und provisorisch angenommen und wird schließlich in der Einzigkeit und Universalität Jesu Christi und der Kirche aufgenommen. Der Identitätsansatz ist in diesem Verständnis, das ich als inklusivistisch bezeichnen würde, nicht
4 In diesen Rahmen des Dialogs zwischen den Identitäten sind die Reaktionen auf die von Papst Benedikt XVI. an der Universität Regensburg gehaltene Rede (12. September 2006) und auch die spätere Stellungnahme des Vatikans einzuordnen, die die offizielle Position der katholischen Kirche zum interreligiösen Dialog, insbesondere mit dem Islam, weiterführend geklärt hat. Die Absicht des Papstes war es, einen offenen und ehrlichen Dialog mit den anderen Religionen zu ermutigen, vorausgesetzt, dass dieser mit großem gegenseitigen Respekt erfolgt, unter eindeutiger und radikaler Ablehnung der religiösen Motivierung der Gewalt. 5 Johannes Paul II. 1990.
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länger dialektisch (richtig/falsch; alles/nichts), sondern graduell (mehr/weniger ; unvollkommen/vollkommen). Dieser Inklusivismus ist in einem der fortschrittlichsten Dokumente des Heiligen Stuhls zum Thema Dialog wiederzufinden. Es handelt sich um das Dokument Dialog und Verkündigung (1991), das vom Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog und der Kongregation für die Evangelisierung der Völker verfasst wurde.6 Hierin wird vor allem anerkannt, dass „die Christen sich auch daran erinnern müssen, dass sich Gott in gewisser Weise auch den Anhängern anderer religiöser Traditionen gezeigt hat“ (48). Nur in gegenseitiger Achtung der Unterschiede ist es möglich, dass jeder Einzelne nicht nur dem Anderen seine Wahrheit offenbart, sondern auch vom Anderen lernt und annimmt. „Ungeachtet der Erfüllung von Gottes Offenbarung in Jesus Christus mag die Art und Weise, wie Christen manchmal ihre Religion verstehen und praktizieren, der Läuterung bedürfen“ (32); „Ohne ihre Identität zu verlieren, müssen Christen dazu bereit sein, von und durch andere Menschen die positiven Werte ihrer Tradition kennenzulernen und zu empfangen“ (49). Aus diesem Text geht deutlich hervor, dass die religiöse Identität im Horizont des Anderen formuliert wird, und zwar in der Überzeugung, dass der Andere Bild unserer selbst ist.
4. Identität im Plural Eine weitere Modalität zum Verständnis der Identität ist die relativistische und pluralistische Identität. Es handelt sich dabei um eine nicht länger versiegelte und monadische Identität, sondern um eine gegenüber dem Austausch mit der Außenwelt poröse und durchlässige Identität. Raimon Panikkar, der 1918 in Barcelona geboren wurde und eine katholische Spanierin zur Mutter und einen hinduistischen Inder zum Vater hatte, fühlte sich einer Pluralität von Traditionen zugehörig: Der indischen und europäischen, der hinduistischen und christlichen und der wissenschaftlichen und humanistischen. Er definierte seine Identitätsreise auf folgende Weise: „Ich bin als Christ gegangen, ich habe mich als Hindu gefunden und ich kehre als Buddhist zurück, ohne doch aufgehört zu haben, ein Christ zu sein.“ Auch andere, wie die Benediktiner J. Monchanin, H. Le Saux, B. Griffiths und die Jesuiten Hugo M. Enomiya-Lassalle und Aloysius Pieris, würden Panikkars Aussage bestätigen. Es handelt sich darum, auf interreligiöse Weise religiös zu sein (religious interreligiously). „Immer mehr Menschen erklären, gleichzeitig teils jüdisch und teils buddhistisch, teils Christen und teils Hindu, oder ganz Christen oder 6 Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog – Kongregation für die Evangelisierung der Völker, 1991.
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ganz Buddhisten zu sein.“7 In diesen Fällen kann die Doppelzugehörigkeit auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein: Die Interpretation der doppelten Zugehörigkeit reicht von einer einfachen Empathie für eine andere Religion, über eine Bevorzugung einer der zwei Religionen gegenüber der anderen, bis hin zu einer Konversion.8 Emblematisch waren jüngst zwei Fälle in der Episkopalkirche (Anglikanische Kirche) in den Vereinigten Staaten. Rev. Ann Holmes Redding, Priesterin und Rektorin der St. Markus-Kathedrale in Seattle, verkündete ihrer Kirche, sich gleichzeitig Christin und Muslima zu fühlen. Der Episkopalbischof Rev. Kevin Thew Forrester erklärte, sowohl Christ als auch Buddhist zu sein, und Zen-Praktiken in die traditionelle anglikanische Liturgie eingefügt zu haben. Diese Art der religiösen Identitätsbildung bleibt nicht ohne Leiden und Verwirrung, da jeder Glaube von Natur aus eine absolute und ausschließliche Zugehörigkeit zu einem Glaubensbekenntnis und einer genauen Wahrheit bedingt. Es werden dabei nicht nur der Verstand, sondern auch das Herz und der Wille mit einbezogen. Bei einer Doppel- oder Mehrfachbindung (re-ligio) gerät man in einen Gewissenskonflikt, wie auch bei emotionalen Bindungen. So wie man nicht hundertprozentig zwei Personen angehören kann, so kann man nicht zwei Religionen gleichzeitig angehören. Die theoretische Grundlage für diese Doppel-/Mehrfachzugehörigkeit besteht in der Anerkennung der Undefinierbarkeit und des Unaussprechlichen des Mysteriums. Der einzige Weg, diesem unaussprechlichen Göttlichen zu entsprechen, ist es, all seinen Erscheinungsformen, zumindest virtuell, anzugehören. Diese Art, die religiöse Identität zu leben, bringt deutlich das Phänomen der „flüssigen Moderne“ zum Ausdruck, von dem Zygmunt Bauman spricht.9 Wie auch in der Welt der emotionalen Bindungen, so wird auch in der Welt der Religionen die Identität durch das nie befriedigte Bedürfnis gepeinigt, die Bezugsperson zu konsumieren, in unserem Fall „das Heilige“, und gleichzeitig mit Hingabe und Treue von ihr Gebrauch zu machen. Man will „keine Bindungen und definitive Verpflichtungen“, man will frei von jeglicher Form von „für-immer“ und gleichzeitig „stabil“ und „sicher“ sein, d. h. sine cura, ohne die Sorge, ständig alles erneut aufs Spiel setzen zu müssen. Die derart flüchtig konzipierte religiöse Identität folgt einer hegemonialen Logik mit einem religiös globalisierenden Stil. Die Unterschiede zwischen den Religionen werden aufgehoben und dem Willen des Subjektes unterstellt, das sich von jeglicher Form von definitiver Verpflichtung entfernt. Die religiöse Identität wird auf diese Weise zu etwas Flüssigem, bei dem es keine Grenzen zwischen den verschiedenen Identitäten gibt. 7 Peter C. Phan 2004, 62. 8 Es gibt Menschen, die eine Doppelidentität angeben (z. B. katholisch-hinduistisch, Jews for Jesus), andere eine Mehrfachidentität (katholisch-buddhistisch-hinduistisch-moslemisch). In vielen asiatischen Ländern ist diese Art und Weise, die religiöse Identität zu leben, normal: China, Japan, Korea, Vietnam, Nepal und Sri Lanka. 9 Vgl. Zygmunt Bauman 2008.
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Diese vom Anschein her pluralistische und offene religiöse Identität, die von jeglicher Zugehörigkeit, Glaubensbekenntnis und Institution losgelöst und entbunden ist, wird auf ab-solute Art und Weise gebildet. Der, der als Anderer begriffen wird, wird durch das eigene Bedürfnis, den Anderen zu konsumieren, relativiert, wobei allein das, was mir schon entspricht, als der Andere anerkannt und geschätzt wird.10 Man läuft allerdings so Gefahr den Anderen in der Hegemonie der eigenen Identität aufzulösen. Unter den pluralistischen Theologen besteht die Tendenz, aus dem interreligiösen Dialog all diejenigen auszuschließen, die nicht ihren Anspruch akzeptieren, dass keine Religion einen Absolutheitsanspruch erheben darf! Anders ausgedrückt, entweder ich halte an meinem Standpunkt fest und betrachte ihn als absolut, oder ich sprenge die Grenzen meiner Perspektive und behaupte großzügigerweise, dass jede Tradition gleichwertige Elemente besitzt. Dann kann ich nicht mehr unterscheiden und komme zum Schluss, dass, relativ zu ihrem Kontext gesehen, alle gleichgut sind.11
In beiden Modalitäten besteht der einzige Ausweg aus dieser identitären Hegemonie darin, erneut Einzigartigkeit und Besonderheit aller Religionen zu berücksichtigen und zu respektieren. Man muss weg von einer Ontologie des Identischen, in der die Identität des Anderen entweder geleugnet/assimiliert oder neutralisiert/entschärft wird. Der Dialog zwischen den Identitäten ist nicht bedroht, sondern wird durch die Behauptung der eigenen religiösen Identität möglich gemacht. Alle Religionen bestehen aus besonderen Glaubensvorstellungen und Praktiken, die auf gewissen Ebenen nicht kompatibel sind. Gerade wenn die Konfrontation die grundlegenden Glaubensvorstellungen betrifft, die häufig Ursache für einen Konflikt sind, kommt die eigene, primäre Zugehörigkeit und die Verantwortung gegenüber einer bestimmten Religion zum Vorschein.12
Von all dem abzusehen, hieße, den interreligiösen Dialog unmöglich zu machen, denn es würde zum Beispiel bedeuten, dass der Christ ohne eine eigene Identität am Dialog teilnähme. Vom eigenen Glauben abzusehen, um den Dialog mit dem Anderen zu ermöglichen, hieße, den Dialog in einen Monolog zu verwandeln. Und das ist Hegemonie! Jede Religion hingegen steht mit den eigenen Voraussetzungen im Dialog; nur im Laufe des Dialogs versteht jeder sich selbst in Bezug auf die Anderen, und nicht ohne die Anderen.
10 Vgl. Catherine Cornhille 2003, 45. 11 Maurizio Pagano 2009, 19–20. 12 Catherine Cornhille 2003, 45.
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5. Identität als Neuschöpfung Die Frage der Identität ist eine kulturelle Frage und verweist im Wesentlichen auf die Grenzsetzung. Jedes Identitätsprojekt schafft Grenzen und diese wiederum Identität. Wie Zygmunt Bauman treffend formulierte, „die Kultur, und somit die (besondere) menschliche Seinsart, beginnt damit, eine Grenze zu ziehen, die davor nicht existierte.“13 Grenzen werden zur Schaffung und Beibehaltung von Ordnung errichtet: im Raum, in der Zeit und im Menschlichen. Auch die biblische Schöpfungsgeschichte berichtet davon: Schöpfung als Grenzsetzung. In der priesterlichen Erzählung (Genesis 1,1–2,4a) entsteht die Identität von Tag und Nacht durch Grenzsetzung. „Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.“ (Genesis 1,4–5). Gott schafft die Realität, „indem er dem Chaos eine fundamentale Grenze setzt und auferlegt“.14 Die Schöpfung entsteht aus einer Unterscheidung „im Hinblick auf ein mögliches Zusammentreffen, ein Bündnis, einen Dialog und eine Geschichte. Die Unterscheidung ist weder zum Selbstzweck noch ist sie unendlich noch unbestimmt“.15 Der ontologischen Differenz zwischen Gott und Schöpfung entspricht ein globaler und differenzierter Raum, d. h. eine relative und geordnete Wirklichkeit. Die Jahwistische Erzählung von der Schöpfung des Menschen (Genesis 2,4b–26) weitet diese Dynamik von Abgrenzung-Grenze auf das Verständnis der anthropologischen Identität (Adam) aus. Der Mensch ist keine in sich geschlossene Monade. Adam ist Mann und Frau. In diesem „und“ besteht die anthropologische Identität. „So steht es in unserem Fleisch geschrieben, dass wir nicht über eine ganze, vollkommene Identität verfügen, die für sich selbst besteht.“16 Es besteht ein wesentliches Bedürfnis, das die Identität de-finiert: Nie ohne den Anderen. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt“ (Genesis 2,18). Die Beziehung macht aus dem Menschen ein Geschöpf, ein fertiges Wesen. Die Abschaffung von Beziehungen wird von hegemonialen und absoluten Absichten geleitet. Wenn wir diese Überlegungen auf unsere Identitätsfrage anwenden, können wir sagen, dass eine undifferenzierte und flüssige Identität zum Chaos tendiert. Das heißt, das Nichts selbst ersetzt das, was am Anfang ist – die 13 14 15 16
Zygmunt Bauman 2009, 35–36. Pierre Gisel 1986, 671. Pierre Gisel, ebd., 653. „Man lebt nicht ohne die Anderen. Das bedeutet, dass man nicht lebt, ohne mit ihnen zu kämpfen. Man muss also, nicht einmal nur sondern täglich, auf die bequeme Überzeugung verzichten, dass ,man immer miteinander auskommen kann‘, und herausfinden aus den Irrwegen der Gefühle, dank derer man hoffte, vor den Anderen die Wirklichkeit hinter bestimmten Sätzen und gewissen Vorsichtsmaßnahmen zu verbergen“ (M. De Certeau 1993, 41).
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Beziehung. „Am Anfang war Beziehung“ (Martin Buber). Aber dieses verschwommene und undifferenzierte Nichts, in das man mit der Abschaffung von Beziehungen gerät, ist Anrufung des Nichts. „Alle Götter der Heiden sind nichtig“ (Psalm 96). Die Identität entsteht aus der Beziehung und besteht in der Beziehung mit dem Anderen, ohne die es keine Identität gibt. Diesbezüglich können die Überlegungen von Paul Ricoeur zu der Doppeldeutigkeit des Begriffs Identität hilfreich sein: Identität als idem, die auf die Selbigkeit verweist, und Identität als ipse. In der ersten Bedeutung (Identität als idem) wird die Alterität als die Selbigkeit thematisiert. Es handelt sich um eine Identität oder numerische Gleichheit (1=1). In der zweiten Bedeutung hingegen ist die Alterität konstitutiv für die Identität. Ricoeur interpretiert diese Dimension der Identität (ipse) als Dialektik des Selbst und des Anderen. [Die] Ipse-Identität bringt eine Dialektik mit ins Spiel, die sich als komplementär zu der Ipseität und der Selbigkeit erweist, d. h. die Dialektik des Selbst und des Anderen als man selbst. Solange man im Zirkel der Identität-Selbigkeit verbleibt, stellt die Andersheit des Anderen als man selbst keine Originalität dar. […] Die Dinge liegen allerdings völlig anders, wenn man die Alterität mit der Ipseität verbindet. […] Der Andere als man selbst bedeutet, dass die Ipseität des Selbst eine derart eng verbundene Alterität impliziert, dass die eine ohne die andere nicht denkbar ist, dass die eine in die andere übergeht – wie wir es mit Hegels Worten ausdrücken würden.17
Diese Dimension der Alterität kann in der Identität verbleiben, falls die ursprüngliche Differenz nicht verschwindet, sondern unvermischt und unverändert weiterbesteht, wie das Konzil von Chalcedon (451) in Bezug auf das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus Christus erklärt.
6. Die christliche Identität Wenn man die ursprüngliche Struktur der christlichen Identität betrachtet, stellt man fest, dass sie im Wesentlichen von Beziehungen durchzogen ist. Besonders die christlichen Schriften, d. h. die Bibel, entstehen aus der Anerkennung der Autorität der Texten einer anderen Religion, nämlich des Judentums. Die Schriften des Neuen Testamentes geben sich an keiner Stelle als etwas grundlegend Neues aus. Sie erweisen sich vielmehr als tief in der langen Glaubenserfahrung Israels verwurzelt. Diese spiegelt sich in unterschiedlicher Form in den Heiligen Büchern, in der Schrift des jüdischen Volks, wider. Das Neue Testament erkennt diesen eine göttliche Autorität zu. Die Anerkennung der Autorität der Heiligen 17 Paul Ricoeur 1990, 13–14.
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Schriften Israels kommt in unterschiedlicher Weise – teils ausdrücklich, teils eher implizit – zum Ausdruck.18
Die Pluralität der Schriften des Neuen Testaments, in denen vier verschiedene Darstellungen und Beschreibungen der Person Jesu Christi dargeboten werden, d. h. die Evangelien, offenbaren, dass die Identität eines bestimmten Antlitzes Jesu Christi nicht von einem anderen absehen kann. Die interkulturelle und interreligiöse Pluralität liegt dem Entstehen des Christentums zugrunde. „Das Christentum entstammt seiner jüdischen Matrix und wurde in die griechisch-hellenistische und römische Welt verpflanzt, so wie auch in die germanische, oder in die Welt, die man gemeinhin als Westen bezeichnet.“19 Diese vom Ursprung (aus dem Judentum) wegführende Bewegung und die des Eingefügtseins (in die griechisch-römischen-germanische Welt) setzt eine gewisse Homogenität zwischen der christlichen Identität und den Identitäten, mit denen sie in Kontakt gekommen ist, voraus. Anderenfalls wäre es zu einer Abstoßung gekommen. Gleichzeitig allerdings wurde diese Homogenität nie erlitten, sondern wurde mit Verantwortungsgefühl und Urteilsvermögen übernommen.20 Ein deutliches Beispiel dieses Eingefügtseins wird deutlich im Leben des revolutionärsten und typischsten Apostel des Urchristentums: Dem Apostel Paulus. Ein Jude, vermutlich Pharisäer und auch Essener, der aufgewachsen ist in einem Kulturkreis (Tarsen), in dem das Judentum eine Hellenisierung in verschiedenen Punkten erfahren hatte; mit auch griechisch-römischen Einflüssen (civis romanus).21 Judentum, Hellenismus und Römertum fließen in Saulus zusammen und verwandeln ihn in einen Paulus, nicht mehr in sich selbst ruhend, in einer fixierten oder porösen Identität, aber auch nicht in einer vagen, religiös-rationalen Zugehörigkeit, wie der Stoizismus und der Epikureismus es lehrten. Die Identität Paulus’ ruht in Jesus Christus, der nicht
18 Pontificia Commissione Biblica 2001, 9. 19 Peter C. Phan, Being Religious Interreligiously, 60. 20 Die Kirchenväter waren immer bereit, die Grenzen der Philosophien der damaligen Zeit anzuerkennen und nutzten diese, soweit sie hilfreich waren, um das depositum fidei besser zum Ausdruck zu bringen. Man denke an die Vision der Ewigkeit des Kosmos, wie von den Stoikern konzipiert, unvereinbar mit der biblischen Schöpfungslehre. Man denke an die kosmologische Funktion des Ljgos der stoischen und neuplatonischen Philosophie, die nur zum Teil dazu dienen konnte, die Heilsbedeutung des Wort Gottes auszudrücken. Man denke an die Substanzkonzeption (Ousia), die aus ihrem monadischen und undifferenzierten Verständnis von dem fruchtbaren Kontakt mit dem christlichen Glauben aus trinitarischer Perspektive, d. h. differenziert, verstanden wurde, um die Homousie des Sohnes gegenüber dem Vater anzuerkennen. Man denke an das Verständnis der Transzendenz des Göttlichen nicht mehr als absolute Distanz und Alterität, sondern im Licht der Inkarnation als Transzendenz-in-Beziehung. Man denke ferner an die unglaubliche Operation der Kirchenväter, Sarx mit Logos zu verbinden, und zwar in der Anerkennung der Göttlichkeit des Wortes und die des vollkommenen Heils für den Menschen (omne quod non est assumptum non sanatum). 21 Romano Penna 2009, 5.
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nur den Inhalt seiner Identität, sondern auch seine Weise des Zugehörens radikal verändert hat. Ich, der ich früher ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war ; aber mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden, weil ich es unwissend im Unglauben getan hatte; überströmend aber war die Gnade unseres Herrn mit Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind (Der 1. Brief des Paulus an Timotheus 1,3–4).
Die gewaltsame Weise der Identitätskonstruktion verschwindet nur schwer, im Übergang von der Tora zu Christus. Es ist der Verlust der Ichbezogenheit (k8nosis), der Paulus in einen alten Christus verwandelt. Es handelt sich nicht so sehr um einen Verlust der Identität, und somit um eine Rückkehr in das Chaos, als um eine Neuschöpfung. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ,einer‘ in Christus Jesus.“ (Der Brief des Paulus an die Galater 3,28). Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser – nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi –, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich, um des Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben (Der 1. Brief des Paulus an die Korinther 9,19–23).
Dieser Selbstverlust, den wir bei Paulus erwähnten, verweist auf das, was Cabeza de Vaca über den von ihm erlittenen „Schiffsbruch“ sagt. D. h., sich seiner jüdischen Identität zu entledigen – „Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt.“ (Der Brief des Paulus an die Philipper 3,5–6) – und diese nunmehr als einen Verlust, ja sogar als Unrat (skubala) zu betrachten, wird zu Modalität und Weg für eine Neuschöpfung. Nur indem er sich seiner Selbst entledigt, kann Paulus alles für alle werden. Jude und Heide werden, um das Evangelium umzusetzen und eins in Christus zu werden. Auf diese Weise wird Paulus identitäre Gewalt zur agapischen Fähigkeit, die eigene Identität zu bilden. [Paulus] begegnet denen, die unter dem Gesetz leben, nicht wie derjenige, der ohne dieses Gesetz lebt, welches verbindlich ist für die vom Gesetz aufgezeigten Probleme. Er begegnet den Schwachen nicht aus der Position des Starken, der sie das durch ihre Schwäche verursachte Leiden zweifach spüren lässt. Er setzt sich mit den Juden nicht als Christ auseinander, der die Legitimität ihres spezifischen Weges zu Gott abstreitet. Er begegnet hingegen allen, ausgestattet mit all dem, was den Einzelnen gegenüber den Menschen und Gott kennzeichnet. Er macht sich ein Ego zu eigen und formt sich dank der
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Konfrontation mit den menschlichen und religiösen Stärken des Anderen. Es sind diese Stärken, die ihn zu einer Identität im Plural befähigen. Er benötigt im Gegenteil die durch diese Stärken entstandene Herausforderung, um seinen eigenen Weg zu Gott zu finden und auf diese Weise die eigenen Schwächen und die eigene Gewaltbereitschaft zu überwinden.22 Die Identität Paulus wird Imitation der Identität Gottes, der ein Anderer als sich selbst (Mensch) kraft seines Andersseins (Vater, Sohn und Heiliger Geist) geworden ist. In diesem Anderswerden offenbart sich jene Gewaltlosigkeit Gottes, von der der Brief an Diognet spricht, und die in der Praxis Jesu von Nazareth in Erscheinung tritt. Indem er sich mit den Geringsten, den Hungrigen, den Durstigen, den Gefangenen und den Fremden identifiziert (vgl. Matthäus 25,35) offenbart Jesus ein Identitätsverständnis, das weder fixiert noch flüssig ist. Jesus bestimmt sich selbst durch jene, die von Kultur und Religion her anders sind. Das wird deutlich in den Begegnungen (vgl. Markus 5,1–20; Markus 7,24–30; Lukas 17, 11–19), in denen Jesus „sich als jemand erweist, der fähig ist, Grenzen zu überschreiten und Brücken zu bauen“.23 Interessant ist diesbezüglich die Rolle der Samariter bei der Offenbarung der Identität Jesu. Im Gleichnis von Lukas 10, 30–37 definiert Jesus seine Identität durch den Anderen: den Samariter. Indem Jesus seine konfessionelle und missionarische (nicht-jüdische) Grenze überschreitet und sich im Verständnis des Reiches Gottes von dem führen lässt, der außerhalb des Volkes Gottes steht, streicht Jesus die Unterschiede nicht durch und führt sie nicht ins Chaos oder ins Nichts zurück, sondern offenbart eine neue Art die Identität zu verstehen und zu leben. Jesus wird zum Anderen, nicht um die Unterschiede aufzuheben, und die Identitäten zu vermischen und zu verändern. Nein, er will Liebesbeziehungen (agape) zwischen den Identitäten erzeugen. Diese Neuschöpfung drückt sich durch den Prozess der Bildung neuer Beziehungen zwischen den sich im Konflikt befindenden Identitäten aus, die wahrhafte Beziehungen verloren oder zerstört haben. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. Er kam und verkündete den Frieden: euch den Fernen, und uns, den Nahen. Durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater. Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes (Der Brief des Paulus an die Epheser 2,14–19).
22 Hans-Joachim Sander 2005, 23. 23 Wiel Logister 2001, 31.
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7. Die paradoxe Identität Die theologische und christologische Weise der Identität gestaltet die Identität der Christen. Mit einer Umschreibung der Worte des Apostel Paulus kann man sagen, das der Christ dazu berufen ist, auch er ein Anderer zu werden, „um mit den Anderen an seiner Verheißung teilzuhaben“ (vgl. Der 1 Brief des Paulus an die Korinther 9, 23). Es geht nicht nur um Toleranz und Respekt für die Würde des Anderen. So wie Gott Mensch geworden und Gott geblieben ist, so ist der Christ dazu berufen, den Anderen, seine spirituelle Tradition, kennenzulernen und dennoch er selbst zu bleiben. „Die christliche Identität besteht in der Identifizierung mit Christus in seiner agapischen Ergebenheit und somit im Vermitteln/Realisieren der eigenen Identität in radikaler Relationalität und völliger Hingabe.“24 Oder mit den Worten F. Whalings: „Die Religion des Anderen kennenzulernen impliziert, sich in die Haut des Anderen zu versetzen, die Welt zu sehen, so wie sie der Andere sieht.“25 Die Konstruktion der eigenen Identität muss daher der Dynamik der Nachfolge entsprechen. Denn wer sein Leben (Identität) retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen (Beziehung), wird es finden. Wenn es also so ist, dann erweist sich das Christentum den eigenen grundlegenden Motivationen umso getreuer, desto mehr es die Notwendigkeit übersteigt, dass auch in seinem Fall Identifizierungsprozesse stattfinden, desto mehr also es sich ohne Gegenleistungen demgegenüber öffnet, das sich als Anderer als man selbst erweist. Im Gegenteil, wenn wir uns mit einer anderen paradoxen Formulierung ausdrücken wollen, scheint das Christentum sich als die Religion zu konfigurieren, die die Möglichkeit besitzt, sich selbst zu leugnen, eben weil sie Religion ist, und dass sie dies sogar tun muss, wenn sie ihrer Verkündigung und deren Erfüllungsart treu bleiben will. Das sich als bestimmte Religion behaupten scheint sich, anders gesagt, vor allem in einer effektiven Hingabe für den Anderen auszudrücken.26
Durch die Kenntnis der Religion des Anderen und den Zugang zu seiner spirituellen Tradition verbessert sich das Verständnis des Christen für seinen eigenen Glauben. Er bereinigt ihn von dem, was den Dialogpartner daran hindert, ihn wahrhaftig zu verstehen. In diesem agapischen Prozess versöhnen sich die religiösen Identitäten und lassen vom ursprünglichen Kampf und der Verwirrung um die Grenzen ab und ziehen neue Grenzen, die keine feindlichen, sondern die des Dialogs sind. Die christliche Identität „kann bereichert und verändert werden aus der Konfrontation mit den anderen Religionen, und genauer gesagt, aus dem konkreten Dialog mit einer bestimmten Tradition“.27 24 25 26 27
Alberto Cozzi 2002, 94. Frank Whaling 1986, 130–131. Adriano Fabris 1998, 140. Maurizio Pagano 2009, 42.
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Diese Umwandlung der eigenen religiösen Identität findet im Dialog zwischen dem Christentum und dem Judentum statt. Nach der Tragödie des Holocausts, in dem die jüdische Identität nicht ohne religiöse Motivationen vernichtet wurde (vgl. Gottesmord-Anklage der Christen gegen die Juden), bahnte sich ein Prozess an, in dem die christliche Identität sich nicht mehr ohne die jüdische Identität verstehen kann. Zwei ganz wesentliche Akteure dieser Neudefinierung der religiösen Identität sind Kardinal Agostino Bea und der Rabbiner Abraham Joshua Heschel. Wenn es stimmt, dass das Judentum preparatio evangelica ist, dann stimmt es ebenso, dass das Christentum preparatio messianica ist.28 Für Kardinal Roger Etchegaray kann „das Christentum sich nicht ohne das Judentum denken“.29 Christentum und Judentum haben beide jeweils eine präzise Rolle im göttlichen Plan der Erlösung inne: „Wenn wir Christen uns des Jetzt schon erfreuen, erinnern uns die Juden an das Noch nicht, und diese fruchtbare Spannung lebt im Herzen des ganzen Lebens der Kirche.“30 Das jüngste Dokument der Päpstlichen Bibelkommission über die jüdische Interpretation der Heiligen Schrift erkennt die jüdische Lesart der Heiligen Schrift als möglich und legitim an und erklärt, dass die jüdische Messiaserwartung nicht gegenstandslos ist. In seiner im November 2001 in Jerusalem gehaltenen Rede hat Kardinal Walter Kasper, Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen und der Päpstlichen Kommission für religiöse Beziehungen zum Judentum, die katholische Identität mit folgenden Worten neudefiniert: Der Begriff Mission, im eigentlichen Sinne, bezieht sich auf die Bekehrung von den Götzen zum wahren und einzigen Gott, zu dem Gott, der sich in der Heilsgeschichte seinem Volk offenbart hat […]; von daher kann man nicht von Judenmission sprechen, da diese schon an den wahren und einzigen Gott glauben. Es gibt darum Dialog und keine katholische Judenmission.31
Die Versöhnung der Identitäten treibt jeden dazu, die eigene religiöse Identität, nicht mehr auf exklusivistische oder inklusivistische Weise zu verstehen, d. h. über die Negation der Identität des Anderen, sondern In-Beziehung-mitdem-Anderen. Wenn man die eigene christliche Identität in einer leidenschaftlichen und großzügigen Beziehung mit dem Anderen entdeckt, und lernt, ,sich selbst wie anderen‘ zu sehen, dann wird durch das Vertrauen in den Geist die ständige Bekehrung möglich. Glauben, Hoffnung und Barmherzigkeit sind gegenseitige Dimensionen des christlichen Glaubens, Zeichen Gottes Gabe seiner selbst, Gnade für ein beziehungsreiches Leben.32 28 29 30 31 32
Abraham Joshua Heschel 1996, 248. Roger Etchegaray 2000, 24. Ebd., 26. Walter Kasper 2010. Michael Barnes 2002, 228.
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Piero Coda weist darauf hin, dass „man heute etwas Neues zu erleben scheint, das in der Zukunft vielleicht als Anfang eines neuen Zeitalters begriffen werden kann“.33 Die religiösen Identitäten treten in Beziehung miteinander. Sie gehen von einer exklusivistischen Auffassung zu einer offeneren Konzeption der Beziehungen. Auf diese Weise durchlaufen die Identitäten eine zweifache Bewegung: Eine Rückwärtsbewegung, um die Inspiration von Gott, der am Anfang steht, wiederzufinden; und eine Vorwärtsbewegung, um sich für ein neues Kommen Gottes zu öffnen.
Schlussfolgerungen In seiner Abhandlung über die Entwicklungsgeschichte spricht Karl Jaspers von „einer Achsenzeit“: Ein Zeitalter, in dem die Völker der Erde eine besondere Form des Selbstbewusstseins erreichen. Laut Jaspers ist diese Achse der Weltgeschichte um 500 vor Christus anzusiedeln. Zur gleichen Zeit lebten in verschiedenen Ländern der Welt Denker, Mystiker und Religionsgründer : Laotse und Kun Fu Tzu (Konfuzius) in China; die Meister der Upanishaden und Buddha in Indien; Zarathustra in Persien; die Propheten in Israel; Homer, Hesiod, Sokrates und Platon in Griechenland.34 Etwas Ähnliches findet auch im 21. Jahrhundert aufgrund der Globalisierung und dem zunehmenden Austausch unter den Kulturen und Religionen, und aufgrund der Medien und des Migrationsphänomens statt: Eine Transformation des Bewusstseins der Menschheit und der Art, Religion zu leben. Es handelt sich dabei um eine „zweite Achsenzeit“. Wie bei der ersten von Jaspers beschriebenen Achsenzeit, findet auch diese zweite an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig statt, und wie die erste bildet sie den transzendentalen Horizont des Bewusstseins für die zukünftigen Jahrhunderte. Im Unterschied zu der vorherigen Achsenzeit, die sich auf individueller Basis verwirklichte, besitzt dieses zweite Zeitalter weltweite Ausmaße.35 Die religiösen Identitäten sind nicht so sehr berufen, sich den anderen gegenüber zu verleugnen (vager Pluralismus) oder sich gegenüber den anderen durchzusetzen (Exklusivismus-Inklusivismus), sondern zu einem gegenseitigen Verständnis. Die eigenen Ideen werden in Bezug auf die Identität des Anderen verändert und die Werte des Anderen wertgeschätzt. Auf diese Weise werden die Ausgangsidentitäten in eine Neuschöpfung verwandelt, die durch ein nicht nur individuelles, sondern weltweites dialogisches Bewusstsein möglich gemacht wird. Das bedeutet zuallererst, die negativen Einstellungen den anderen Religionen gegenüber zu beschränken, ohne der Versu33 Piero Coda 2004, 51–52. 34 Vgl. Karl Jaspers 1949, 19–43. 35 Vgl. Ewert H. Cousins 1985.
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chung zu erliegen, Mauern zu errichten (Fundamentalismus) oder jegliche Zugehörigkeit auflösen zu lassen (schwacher Universalismus). In dieser zweiten Achsenzeit besteht die Möglichkeit ein für allemal die Identifizierung zwischen Gewalt und Religion zu überwinden. Je mehr die Beziehung zum Anderen die religiöse/konfessionelle Identität definiert, umso stärker wird die Gewalt in den Hintergrund gedrängt. Je besser die religiöse Identität in der Lage ist, sich selbst zu verlieren, um ihrer Spiritualität zu entsprechen, umso leichter erschließt sich der religiösen Identität eine Neuschöpfung. Abschließend möchte ich noch einen Blick auf das Mittelmeer werfen. Im Mittelmeerraum sind drei große religiöse Identitäten aufeinander getroffen und haben sich oft bekämpft: Judentum, Islam und Christentum. In den heiligen Schriften dieser Religionen ist häufig von der Metapher des Mittelmeers, seiner herrlichen Weite sowie der Gewalt seiner Wassermassen die Rede. Oftmals nehmen die Psalmen, die in der jüdischen und christlichen Tradition gebetet werden, Bezug auf die „Stimme über den Wassern, über gewaltigen Wassermassen“ (Psalm 92). Das Meer ist eine Metapher der Gemeinschaft: Ort der Kommunikation, des Kontaktes und des Austausches. Im Meer aber leben furchterregende Meeresungeheuer, der Leviathan, der die Kommunikation zwischen den am Mittelmeer lebenden Völkern bedroht. Es kann keinen Dialog und keine ehrliche Kommunikation geben, wenn sich jede Identität, den Anderen a priori ausschließend, definiert. Sollte der Dialog auf diese Weise fortgeführt werden, wird nichts anderes getan, als die Seeungeheuer zu wecken, die in den Tiefen des Mittelmeers leben: Der Leviathan im Zusammenstoß der Kulturen und Religionen innerhalb und außerhalb unserer Gesellschaften. Es ist aber so, dass jede Religion im Wesentlichen die andere braucht, um ursprungsgetreu zu sein und sich dem Novum zu öffnen. Nur so wird das gefahrdrohende Meer befriedet werden und der Konflikt sich in Kommunikation verwandeln. An jenem Tag wird eine Straße von Ägypten nach Assur führen, sodass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assur ziehen können. Und Ägypten wird zusammen mit Assur dem Herrn dienen. An jenem Tag wird Israel als Drittes dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde. Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: ,Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände und Israel, mein Erbbesitz‘ (Der Prophet Jesaja 19, 23–25).
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Sektion III Religion und öffentliche Sphäre
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Resignieren Philosophie und Theologie angesichts des Pluralismus der Vernunftmodelle? Ein philosophisch-theologisches Plädoyer für eine vernünftige Religion der Menschenrechte 1. Säkularisierung und Religion: Charles Taylor, Jürgen Habermas, Hans Joas Ist der religiöse Glaube zu einer Option neben anderen geworden? Ist die Religion eine Möglichkeit, sein Leben zu verstehen und auszurichten, neben der es genauso die Möglichkeit gibt, nicht zu glauben, sein Leben rein immanent zu verstehen, ohne religiöse Bezüge? Den Diskurs dominanter Intellektueller beobachtend, könnte man meinen, es sei so. Es gibt, so heißt es, die Gläubigen. Es gibt sie in einer Vielfalt von Religionen bzw. Glaubensoptionen und es gibt die Nicht-Gläubigen, ebenfalls sehr verschieden. Die Lage ist unübersichtlich angesichts des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus. Ebenso scheint die säkulare Unterscheidung attraktiv zu sein, die Unterscheidung zwischen den Religiösen, welcher Ausrichtung auch immer, auf der einen Seite, und den Säkularen, welcher Ausrichtung auch immer, auf der anderen Seite. Prominente Diagnostiker des Zeitgeistes praktizieren diese säkulare Unterscheidung mit großer Resonanz. Sei es, dass sie das „säkulare Zeitalter“1 ausrufen, wie es der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor tut. Sei es, dass sie von der postsäkularen Gesellschaft reden, wie es Jürgen Habermas2 tut. Oder sei es eben, dass sie den religiösen Glauben als eine mögliche Option, sein Leben zu deuten, verstehen, wie es zuletzt in engem Anschluss an Charles Taylor Hans Joas in seinem Buch über die „Zukunftsmöglichkeiten des Christentums“3 getan hat. Diese Religionsdeutungen verfolgen zwar sehr unterschiedliche Intentionen. Die Habermas’sche Rede von der postsäkularen Spätmoderne will die Religionen wieder in den Blick rücken als mögliche Ressource für die Ausbildung moralischer Motivkräfte. Die Taylor’sche Rede vom säkularen Zeitalter macht den modernen Menschen, sofern sie ihre Kirchen und Religionen verlassen und allenfalls noch einen religiös-weltanschaulichen Individualismus praktizieren, die moralische Verlustrechnung auf. Joas zielt demgegenüber darauf, den Gläubigen zu versichern, dass sie weder vor der Vielfalt möglicher anderer religiöser Orientierungen noch auch vor der säkularen Alternative Angst haben müssen. Seine These ist, dass der 1 Charles Taylor 2007. 2 Vgl. Jürgen Habermas 2012. 3 Hans Joas 2012.
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optionale Charakter des Glaubens und die von sozialem Anpassungsdruck befreite Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft die persönliche Glaubensgewissheit eher stärken können. Er redet von der kontingenten Gewissheit des Glaubens, einer Glaubensgewissheit, die sich nicht mehr auf absolute Wahrheiten oder kommunale, mehrheitsgesellschaftliche Plausibilitäten abstützen kann, aber dafür umso stärker in persönlichen Überzeugungen und im persönlichen Bekenntnis Stabilität gewinnt. Trotz der unterschiedlichen Thesen und Interessen, die diese prominenten Zeitdiagnostiker mit ihren Reden über die Religion vertreten und verfolgen, ist ihnen eines gemeinsam. Für sie alle ist die moderne Weltgesellschaft eine solche, die die Religion bzw. die Religionen in eine prekäre Lage versetzt hat. Die durch die Aufklärung freigesetzten Triebkräfte der Moderne, die Trennung von Religion und Politik, die alles bestimmende Macht der Ökonomie und der Medien, die unaufhaltsamen Fortschritte der Wissenschaft und der Biotechnologie, vor allem aber die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen und Vernunftkonzepte haben die Religion, so heißt es, ins Private gedrängt, subjektiven Autonomieanmutungen überlassen und zu einer Sache persönlicher Entscheidens gemacht. Sofern die verfassten Religionen gleichwohl in die Öffentlichkeit drängen, geraten sie sofort unter den Verdacht theokratischer Ambitionen und werden als Phänomene einer antimodernen Moderne der säkularen Unterscheidung zugeordnet. Sie werden als Protestbewegungen aufgefasst, die die Errungenschaften der Moderne rückgängig machen wollen und damit auch die Freiheitsgewinne, die sie gegenüber autoritären Gesellschaftsformationen erbracht hat, wieder verspielen. Ein konstitutiv zur Moderne gehöriger und ihre humane Weiterentwicklung kreativ beeinflussender Faktor ist die Religion in den prominenten Zeitdiagnosen samt und sonders nicht – auch wenn ihre Bewertung sehr unterschiedlich ausfällt. Taylor beklagt die Säkularisierung, Habermas weiß nicht recht, was er von ihr halten soll und Joas freut sich über sie. Das Nicht-Glauben ist für die genannten Zeitdiagnostiker freilich die am meisten verbreitete Option in den modernen Gegenwartsgesellschaften geworden. Und das soll nicht nur die Feststellung eines soziologischen Faktums sein, sondern sich mit der Anerkennung guter Gründe auch für das NichtGlauben verbinden. Ohne Religion zu leben, ist zu einer Lebensoption geworden, die angeblich durchaus vernünftige Motive auf ihrer Seite hat. So schreiben die prominenten Zeitdiagnostiker, wie Taylor, Habermas und Joas die Säkularisierungsthese fort, auch wenn sie von Postsäkularismus, von der Optionalisierung des Glaubens oder auch den neuen Formen des Religiösen sprechen. Sie verstehen dabei unter Säkularisierung gerade nicht nur den gesellschaftlichen Machtverlust der Kirchen, die Trennung von Politik und Religion, sondern eben den verbreiteten Abfall von den Kirchen und Religionen, den sie mit dem Verlust religiösen Glaubens in der Gesellschaft gleichsetzen. Die Belege für die so verstandene Säkularisierungsthese werden in Form von so-
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ziologischen Daten beigebracht, die den Rückgang bei den Gottesdienstbesuchern oder den kirchlichen Mitgliedschaftszahlen belegen sollen. Es wird, insbesondere von Charles Taylor, zwar auch registriert, dass sich im Zeichen des modernen Individualismus und Pluralismus eine Vielfalt neuer Formen des Religiösen ausgebildet haben und es keineswegs mehr allein die großen verfassten Religionen sind, die Menschen einen Raum religiöser Erfahrung und Kommunikation eröffnen. Diese neuen, kirchlich und religionsgemeinschaftlich ungebundenen Formen gelebter Religion werden dann jedoch pauschal mit dem Verdikt versehen, einem asozialen Individualismus, sowie einer oberflächlichen Kultur der Authentizität zu huldigen. Die „neuen Formen des Religiösen“4 werden von Charles Taylor in schroffer und disqualifizierender Weise dem alten, kirchlich gebundenen, katholischen Glauben entgegen gesetzt. Was sich neben dem säkularen Religionsverfall zeige und zu neuen Religionsbewegen sich entwickelt habe, sei ein ästhetischer Expressionismus, eine Emphase individueller Subjektivität, die den religiösen Entscheidungsernst und den Unbedingtheitsanspruch des Göttlichen und auch die Vernunft des Glaubens aus dem Auge verloren habe. Die Ausrufung des säkularen Zeitalters und die Optionalisierung des Glaubens gehen mit der Herabstufung des religiösen Glaubens zu einer partikularen Angelegenheit einher. Die säkulare Unterscheidung macht die Religion zu einer Sache, die nur die gläubigen Religionspraktikanten angeht. Sie missachtet den aus den Großkirchen ausgewanderten Glauben, die dynamisierten Formen soziologisch nur schwer greifbarer Formen souveränen Glaubens.
2. Eine verschiedene Perspektive Dieser Rede von der Optionalisierung des Glaubens und der Säkularisierung der Gesellschaft möchte ich in diesem Beitrag eine andere Sicht auf die religiöse Entwicklung in der Moderne entgegensetzen.5 Ich will am Menschenrechtsdiskurs zeigen, dass die säkulare Unterscheidung nicht haltbar ist und die Moderne keineswegs zu einem Verfall der Religion geführt hat und auch nicht führen musste. Im Gegenteil, die Triebkräfte der Moderne, die Trennung von Religion und Politik, die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die alles bestimmende Macht der Ökonomie und der Medien, die allseits angemeldeten Ansprüche auf Selbstbestimmung, auf einen eigenen Glauben und ein eigenes Leben haben die Religion als Kommunikation über den Sinn des Ganzen nicht verdrängt, sondern zur Angelegenheit der einzelnen Menschen gemacht. Um dies zu erkennen muss freilich der Schritt getan werden, auch die 4 Vgl. Charles Taylor 2003. 5 Vgl. Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.) 2009; Wilhelm Gräb 2010, 113–131; Wilhelm Gräb 2011, 35–50.
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Religion im Kontext der Moderne aufzufassen, die Transformationen in den Blick zu nehmen, die sie mit dieser selbst durchlaufen hat. Ihre gesellschaftliche Präsenz und Lebendigkeit, ihre auch heute notwendige Zugehörigkeit zu einer humanen Kultur, ja, ihre normative Kraft zur Verteidigung und Sicherung der Menschlichkeit des Menschen können wahrgenommen werden, sofern man nur die neuen Gesichter der Religion erkennt. Ein besonders eindrückliches scheint mir im Menschenrechtdiskurs hervorzutreten. Von einem „säkularen Zeitalter“ zu reden, will mir im Blick auf die moderne Weltgesellschaft jedenfalls gänzlich abwegig vorkommen. Die Aufklärung hat ein solches nicht heraufgeführt. Auch wer lediglich davon meint reden zu müssen, dass mit der Moderne dem Glauben eine säkulare Alternative erwachsen sei, der übersieht völlig, dass mitten in dieser angeblich so säkularen, vom Glauben abfallenden Moderne, der Religion ganz neue Kräfte zugewachsen sind. Rückzugstendenz und Verfallserscheinungen lassen sich allenfalls am nordatlantischen Kirchentypus des Christentums feststellen, gleichermaßen in seiner römisch-katholischen wie in seiner protestantischen Spielart. Die Ausrufung des säkularen Zeitalters lebt denn auch ganz und gar von der Gleichsetzung der Religion mit der Kirche und ihren Glaubensregeln. Aber auch die Rede von postsäkularen Verhältnissen gesteht der Religion in der sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung zu. In der Rede von der postsäkularen Gesellschaft verdient der Glaube die Anerkennung der Säkularen, weil er angeblich über lebensführungspraktisch relevante Motivationspotentiale verfügt, die den säkularen Bürgern nicht zur Verfügung stehen. Den Säkularen wird aber zugleich versichert, dass sie die religiöse Rede etwa von der Welt als Gottes Schöpfung nur dann etwas angehe, wenn es den Religiösen gelingen sollte, die religiöse Rede in ihrem vernünftigen Gehalt explizieren zu können. Es bleibt dabei, der Glaube ist für die heutigen Hüter der Vernunft zumeist nur eine Angelegenheit für die Gläubigen. Den Säkularen ist keinesfalls die Einsicht zuzumuten, dass der Glaube auch etwas sie selbst Angehendes sein könnte. Die Säkularen haben vielmehr weiterhin die Vernunft auf ihrer Seite, auch wenn mit der Postsäkularismusthese das Empfinden sich bemerkbar macht, dass die Vernunft möglicherweise nicht mit sich allein sein könnte, sondern selbst auch einen Glauben bei sich hat. Die heutigen Wortführer in Fragen der Religionsdeutung schreiben die Säkularisierungsthese fort, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Denn der Glaube ist für sie alle keine Angelegenheit des Menschen, sondern eine Angelegenheit der Religiösen, der Glaubenden, derer, die, aus welchen Gründen auch immer, einer Kirche bzw. einer der verfassten, großen oder kleinen, alten oder neuen Religionsgemeinschaften angehören. Keine Aufmerksamkeit findet demgegenüber der Sachverhalt, dass sich gerade im Zusammenhang der europäischen Aufklärung ein Religionsdenken entwickelt hat, das die Religion am Ort der individuellen Menschen und der jedem einzelnen unbedingt zukommenden Würde festgemacht hat. Die Menschenrechte wurden und wer-
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den jedoch genau mit der unveräußerlichen Menschenwürde begründet. Sie basieren gewissermaßen auf der Sakralisierung der Person, wie Joas das ausgedrückt hat, freilich ohne dabei auf die Entstehung einer allgemeinen Religion der Menschenrechte zu reflektieren. Doch dieser Glaube an die Heiligkeit des Menschen, jedes Menschen, sollte im Geist der Aufklärung auch jedem Menschen angesonnen werden können. Es war mit dem aufgeklärten Religionsdenken, wie es sich exemplarisch in der Achtung vor der unveräußerlichen Würde jedes Menschen aussprach, ein ganz neuer Ansatzpunkt in der Frage des Allgemeinheitsanspruchs der Religion gegeben. Es war ein Standpunkt über den Religionen und Kirchen gewonnen, von dem aus diese nun selbst in einen kritischen Transformationsprozess hineingezogen werden konnten, wobei dieser eben darauf zielen sollte, das allgemeine, human verbindliche Wesen der Religion in ihren geschichtlichen Realisationsgestalten zur Durchsetzung zu bringen. Zweifellos ist es dabei immer wieder passiert, dass das Christentum schließlich als die absolute, Höchstgeltung beanspruchende Religion aufgefasst wurde, weil man in ihm das Wesen der Religion meinte realisiert finden zu können. Darauf schauen wir heute unsererseits kritisch zurück. Das muss aber keineswegs bedeuten, dass wir nicht die aktuelle Bedeutung stark machen könnten, die das aufgeklärte Religionsdenken bis heute besitzt. Sie tritt vor allem im Menschenrechtsdiskurs hervor. Dieser spielt heute mit enormer Wucht auch in die Selbstauffassungen der positiven Religionen hinein. Das müsste man zwar jetzt auch wieder an den verschiedenen Religionen zeigen und dabei herausarbeiten, dass dies auf sehr verschiedene, auch auf kritisch abwehrende Weise geschieht. Ich kann es nur mit Bezug auf das Christentum tun. Dabei ist von den Kirchen und der kirchlichen Theologie allerdings gleich zu sagen, dass sie sich wie dem aufgeklärten Religionsdenken, so auch der Anerkennung der Menschenrechte lange verweigert haben. Im Blick auf das Christentum wird es im Folgenden ebenfalls darum gehen müssen, auf diejenige Umformung aufmerksam zu machen, die das aufgeklärte Menschenrechtsdenken ausgelöst hat und heute mit großer Dynamik weiter in Gang hält. Von einem säkularen Zeitalter wäre dann aber in gar keiner Weise mehr zu sprechen, sondern vom religionsgeschichtlichen Fortschritt im Zeichen einer die positiven Religionen umformenden wie dann auch von ihnen mitgeprägten, in unserem Fall also christlich geprägten Humanitätsreligion. Die Menschenrechte sind bekanntlich in den politischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts formuliert worden. Sie gehen auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung sowie die Französische Revolution zurück und haben schließlich in der UN-Charta von 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ihre völkerrechtliche Anerkennung gefunden. Die Präambeln dieser drei Menschenrechtserklärungen stellen keinen Bezug zu einer besonderen, konkreten Religion her, auch nicht zum Christentum. Dennoch kann man von einer religiösen Begründung sprechen. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 besteht darauf, dass „alle Menschen
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gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“, und die französische Nationalversammlung hat ausdrücklich behauptet, dass sie die Menschen- und Bürgerrechte „in Gegenwart und unter dem Schutz des Allerhöchsten erkennt und erklärt“. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 fehlt dann zwar der explizite Gottesbezug. Dass dem Menschen unveräußerliche Rechte zukommen, wird nicht mehr erklärtermaßen an die Autorität und den Willen eines Gottes zurückgebunden. Stattdessen wird aber von der „angeborenen Würde“ gesprochen und gesagt, dass sie jedem Menschen zukomme und weil sie „alle(n) Mitglieder(n) der Gemeinschaft der Menschen“ zukomme, stünden auch allen die „gleichen und unveräußerlichen Rechte“6 zu. Es ist ganz offensichtlich, dass die Rede von der „angeborenen Würde“ die sich erst in der AEMR von 1948 findet, dem Gottesbezug, den noch die Menschenrechtserklärungen vom Ende des 18. Jahrhunderts aufmachen, entspricht.7 Es wird auf eine dem menschlichen Verfügen entzogene, den Menschen in seinem Dasein unbedingt qualifizierende, somit transzendente Größe rekurriert. Der Wegfall des Gottesbezuges in der Menschenrechtserklärung von 1948 dürfte bereits dem Sachverhalt geschuldet sein, dass Nationen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen dieser Erklärung sollten zustimmen können. Eine religiöse Sinnbedeutung lässt sich dennoch in der Rede von der „angeborenen Würde“ erkennen. Denn damit werden die Menschenrechte auf Voraussetzungen gestellt, die unhintergehbar jedem Menschen mitgegeben sind und gerade nicht zur Disposition der Menschenund Rechtsgemeinschaft stehen, der er oder sie angehören. Die Menschenwürde ist jedem Menschen auf unbedingte Weise eigen, auch den Menschen, die keiner Menschen- und Rechtsgemeinschaft zugehören, auch den Flüchtlingen und Migranten, den Staatenlosen und politisch Verfolgten. Den Menschen so zu sehen, als einen solchen, dem auf menschlich bedingungslose Weise Würde zukommt, der insofern in seinem Recht auf Leben unbedingte Anerkennung verdient, bedeutet aber doch, ihn mit den Augen des Glaubens zu sehen. Ende des 18. Jahrhunderts konnte dieser Glaube sich noch unschwer als Glaube an Gott den Schöpfer aussprechen. In der Charta der Vereinten Nationen von 1948 musste die religiöse Fundierung des universalen Anspruchs der Menschenrechte hingegen eine anthropologische, auf die Natur des Menschen rekurrierende Semantik annehmen. Nur dann bestand noch die Chance, dass sie von unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen aufgenommen und angeeignet werden würde. Das ist dann ja auch von Anfang an geschehen. Es setzte der Prozess der Vermittlung der AEMR in die unterschiedlichsten kulturellen und religiösen 6 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte/Universal Declaration of Human Rights. 7 Vgl. The Declaration of Independence, July 4, 1776; The French Declaration of the Rights of Man and the Citizen, August, 1789
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Traditionen ein. Ein Prozess, der noch längst nicht abgeschlossen ist, von dem es aber auch, gerade was die Rolle der Religion anbelangt, ganz unterschiedliche Meinungen gibt. Denn zumeist wird die Rolle der Religion in den Angelegenheiten der Menschenrechte eben allzu eng an die verfassten Religionen und ihre Lehren gebunden. Dabei sieht man sich dann schnell in eine ganz ambivalente Geschichte verwickelt. Dann muss man davon erzählen, dass die christlichen Kirchen spät erst zu ihrer Anerkennung gefunden haben und bis heute sich immer wieder dem Vorwurf aussetzen, es mit den Menschenrechten selbst nicht so genau zu nehmen. Verfasste Religionen unterhalten eigene Rechtsordnungen, die zu Konflikten mit staatlichem Recht und eben auch mit den Menschenrechten führen können, besonders dann wenn diese als Grundrechte in staatliche verfasste Rechtsordnungen Eingang gefunden haben. Dem kulturübergreifenden Universalitätsanspruch der Menschenrechte steht die Pluralität und Kulturalität der Religionen entgegen, die Eingrenzung der Religion auf die Religionen, auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Allerdings gab es schon in der Zeit der französischen Revolution Versuche, gewissermaßen auf der Basis der Menschenrechtserklärung auch die Praxis eines neuen, in der Lehre liberalen, humanitären Christentums zu begründen. Ich möchte nur an die „Theophilanthropen“ erinnern, eine humanistische Glaubensrichtung, die von 1794 bis ca. 1810 in Frankreich ihre Gottesdienste hielten, oft in katholischen Kirchen, die dann zur einen Hälfte für theophilanthropische Gottesdienste genutzt wurden, und zur anderen Hälfte für katholische. Eine dieser Kirchen war die Kirche Saint-Merry im Zentrum von Paris. Die erbaulichen, ethisch-nüchtern ausgerichteten Gottesdienste der Theophilanthropen wurden in Paris und in der Provinz gut besucht, aber dann von Napoleon verboten. Längst lassen sich solche religiösen Bewegungen nicht mehr verbieten, weder von Seiten der Politik, noch von Seiten der verfassten Religionen. Überall auf der Welt werden die traditionellen Religionskulturen im Zeichen der universalen Normen des Humanen wie sie die Menschenrechte formulieren, unterwandert. Es setzten sich neue, individuelle expressive Formen des Religiösen durch. Vor allem aber, überall dort, wo das Menschenrechtsdenken in die verfassten Religionen einwandert, formt es diese um. Das Menschenrechtsdenken kann sogar selbst zur religiös-spirituellen Bewegung werden. Dann artikuliert es sich als das, was es in Wahrheit ist, ein Glaube an den Menschen, ein Glaube an die transzendente, göttliche Bestimmung des Menschen, an seine schöpferische Kreativität, und eben damit an seine unantastbare Würde. Diese universale Religion, die an den unendlichen Wert des Menschen glaubt, also seine Sakralisierung betreibt, wurde in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf den Weg gebracht. Es war die Epoche einer aufgeklärten Theologie, die, um vom revolutionären Frankreich nach dem damaligen Berlin zu wechseln, mit dem Berliner Pfarrer an St. Nicolai, Johann Spalding, die Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ ins Zentrum eines neu ver-
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standenen, liberalen Christentums rückte. Ebenso können wir sehen, dass Spalding im damaligen Berlin die Religion als eine „Angelegenheit des Menschen“ erklärte und zeitgleich der junge Schleiermacher eine lange Abhandlung über den Wert des Lebens schrieb. Die aufgeklärte Theologie vollzog eine anthropologische Wende und ihre Rede von einer natürlichen Religion des Menschen sollte dazu dienen, dasjenige am Christentum vor der ansonsten durchaus berechtigten Religionskritik zu retten, was zum human Verbindlichen an ihm gehört. Nicht um Gottes willen ist die Religion wichtig, so lautete die Devise, sondern um der Menschlichkeit des Menschen willen. Denn nur wer den Menschen religiös auffasst, heiligt ihn und erkennt ihn in seinem unendlichen Wert. Die im späten 18. Jahrhundert aufkommende Humanitätsreligion war ebenso christlich geprägt, wie sie sich einem idealistischen Fortschrittsdenken anzupassen suchte. Die den Menschen adelnde Größe sollte auf die Vernunft, auf Verfeinerung seiner Kultur, seine moralische Einsicht und seine künstlerische Schöpferkraft gegründet sein. Dieser Optimismus ist in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und dann erst recht in den Vernichtungslagern von Auschwitz und auf dem Archipel Gulag vergangen. Seiher gilt das Wort ,Mensch‘ gar nicht mehr automatisch als Ehrentitel. Statt für Humanität steht es dafür, „wozu Menschen fähig sind“. Angesichts der totalitären „Akte der Barbarei“8 ist die Menschenwürde denn auch erst nach dem 2. Weltkrieg explizit zur Basis der Menschenrechte erklärt worden. Ebenso stellt das deutsche Grundgesetz von 1949 in seinem ersten Artikel die Würde des Menschen als „unantastbar“ heraus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“9 Die Verknüpfung von unveräußerlichen Menschenrechten und unantastbarer Menschenwürde ist in den Jahrzehnten seither wie selbstverständlich zur Grundlage des weltweiten Menschenrechtsregimes geworden. In die Verfassung der Republik Südafrika von 1992 sind die Grundrechtsartikel der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von 1949 nahezu wörtlich übernommen worden. Die implizit religiöse Begründung, die mit dem Rekurs auf die „angeborene Würde“ des Menschen vollzogen wird, bleibt allerdings oft unbedacht. Es kann jedoch nur die religiöse Deutung der Menschenwürde ausdrücklich machen, dass die Menschenwürde und damit dasjenige, was den Menschen zum Träger der Menschenrechte macht, ihm deshalb zukommt, weil er als Mensch im Vorfindlichen nicht aufgeht, nicht in seinen Leistungen und nicht in seinen Taten, dass die Menschenwürde ihm deshalb weder durch sein Versagen noch durch seine Untaten abhandenkommen können. Nur wenn sie religiös verstanden wird, meint die die Menschrechte begründende Menschenwürde keine Errungenschaft des Menschen, kein Werturteil, das er sich 8 Universal Declaration of Human Rights, Preamble. 9 Universal Declaration of Human Rights, Art. 1.
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anmaßt oder das andere über ihm auszusprechen bzw. ihm zu verweigern das Recht hätten. Nur religiös verstanden bezieht sich die Anerkennung der Menschenwürde auf ein unbedingtes, göttliches „Faktum“. Die Anerkennung der auf der Menschenwürde basierenden Menschenrechte lebt im Grunde von einer Spiritualität des Humanen, von einer die Sakralisierung der Person vollziehenden Humanitätsreligion.
3. Auf dem Weg zu einer universalen Religion der Menschenrechte? Die Kirchen und Theologien und mit ihnen die traditionellen Religionskulturen haben die Menschenrechte zunächst nicht anerkannt. Sie sahen in der Erklärung der Menschenrechte einen Aufstand des sich Autonomie und Selbstgesetzgebung anmaßenden modernen Menschen und meinten sich stattdessen auf das Gottesrecht und auf Gottes Gebot berufen zu müssen. Inzwischen ist das anders geworden. Die Kirchen und die kirchlichen Theologien haben sich unter dem Eindruck des Regimes der Menschenrechte aber inzwischen mehr und mehr umgeformt. Das kann man sehr gut daran sehen, dass die Theologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Menschenwürde als Ausdruck, ja sogar als eine Folge der biblischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu verstehen unternommen hat. Im Prozess der theologischen Aneignung der Idee der unantastbaren Menschenwürde und der auf sie begründeten unveräußerlichen Menschenrechte sind umgekehrt aber auch dem aufgeklärten, oft allzu idealistischen, humanreligiösen Verständnis der Menschenwürde wichtige Deutungsaspekte zugewachsen. Es ist heute durchaus von einem fruchtbaren Wechselverhältnis zwischen der Theologie und den Kirchen auf der einen Seite und den implizit religiösen, philosophisch begründeten Motiven im Menschenrechtdiskurs auf der anderen Seite zu reden. Ähnliche Transformationen und das Weiterführen der Religion der Menschenrechte im Prozess ihrer Reformulierung durch traditionelle Religionskulturen und Theologien wie sie der Islam und der Konfuzianismus repräsentieren, sind ebenfalls in Gang und werden uns in Zukunft noch enorm beschäftigen. Klar ist, dass sie der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte und damit auch die ihnen impliziten religiösen Motive mit den traditionellen Religionskulturen vermitteln müssen. Dass das geht, auch dafür gibt es bereits Beispiele. Für unseren, nach wie vor von der Säkularisierungsthese beherrschten kulturellen Kontext freilich muss der, der heute für die Religion das Wort ergreift, sie in ihrem humanen Wert plausibel machen, in dem, was sie zur „Verteidigung des Menschen“ zu leisten vermag. Das hat vor kurzem auf eindrückliche Weise der Zeit-Redakteur Jan Ross getan, in seinem Buch, das
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den Titel trägt: Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird.10 Er geht in diesem Buch so vor, dass er deutlich zu machen versucht, dass Gott bzw. der Glaube um der Menschlichkeit des Menschen willen gebraucht wird. Da können dann biblische Vorstellungen, wie gerade die von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, ganz neu wichtig werden. Aber eben nicht in ihrem alten, gegenständlichen Sinn, als Vorstellungen von einem Handeln Gottes am Menschen, denn wer versteht schon, was gemeint ist, wenn von einem Handeln Gottes die Rede ist? Nein, es geht darum, wie Ross sagt, die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen als „hermeneutisches Prinzip“ zur Selbstverständigung des Menschen einzusetzen. Die Gottebenbildlichkeit lässt sich nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss.11
Jan Ross tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich. Jan Ross weiß, dass die Sprache der Religion kaum noch jemandem verständlich ist. Dennoch hat er dieses Buch über Gott geschrieben, eben weil ihm klar geworden ist, dass die Verteidigung des Menschen die Religion braucht. Aber diese Religion muss sich in einer neuen Sprache, in der Sprache der Menschlichkeit zur Sprache bringen. Deshalb fängt Jan Ross an, die biblische Rede von der Gottebenbildlichkeit zu übersetzen und sagt, im Menschen Gottes Ebenbild zu sehen, heißt, sein Geheimnis zu respektieren, seine Unauslotbarkeit. Der Mensch, so sagt Ross, gerät, indem ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus“. Und genau das, meint er, ist heute so unendlich wichtig. Denn ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funktion der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dressieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.12
Und er fügt hinzu, ziemlich erstaunt, dass gerade da die religiöse Rede scheinbar doch noch funktioniert: Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person als Grundlage der Menschrechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die 10 Jan Ross 2012. 11 Ebd. 37. 12 Ebd. 38 f.
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Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Allerwichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens.13
Die konkreten Religionen, das Christentum, aber auch die anderen Religionen, die jeweils die Sprache ihres Glaubens sprechen, haben die Chance, an die implizit religiöse Dimension der Menschenrechte anzuknüpfen. Sie können mit einer ihnen entsprechenden Neuinterpretation ihrer eigenen Tradition und ihres eigenen Selbstverständnisses der universalen Religion der Menschenrechte sogar in ihrer je eigenen Religion zum Zuge verhelfen. Die Erklärung der Menschenrechte ist ja aus keiner der konkreten Religionen direkt hervorgegangen, auch aus dem Christentum und seinen Kirchen nicht. Sie müsste sich also mit allen vermitteln können. Natürlich, es war der historische Kontext der vom Christentum bestimmten Kultur, in dem die Menschenrechte zunächst vorgetragen worden sind. Aber der sie inhaltlich und intentional bestimmende Ausgangspunkt waren Erfahrungen von Verletzung und Leid, die Erfahrung ihrer brutalen Nichtanerkennung, „Akte der Barbarei“, wie es in der Präambel der UN-Charta von 1948 heißt. Im Hintergrund der Erklärung von 1948 hören wir den Aufschrei derer, denen durch die totalitäre Regime des Nationalsozialismus und Stalinismus ihr Lebensrecht verweigert wurde, die aus rassischen, völkischen, politischen und religiösen Gründen oder auch solchen ihrer sexuellen Orientierung gequält, gefoltert und ermordet wurden. Bis heute ist es so, dass es Erfahrungen der Verletzung der Menschenrechte sind, die den Appell an ihre Einhaltung und Durchsetzung provozieren. Keine Frage, die universale Geltung der Menschenrechte muss mit dem Selbstverständnis der immer partikularen und regionalen Religionskulturen vermittelt werden. Die Menschenrechte müssen sich gewissermaßen auf dem Wege ihrer Aneignung durch die verschiedenen Kulturen und Religionen in den Köpfen und Herzen der Menschen inkarnieren. Man spricht deshalb im Menschenrechtsdiskurs auch von notwendigen Kultursynthesen und Wertegeneralisierungen. Es bleibt in dieser Richtung unendlich viel zu tun. Aber hinter all diesen Bemühungen steht der universale Glaube an die Heiligkeit des Menschen. Dieser Glaube an die Heiligkeit des Menschen letztendlich ist es, der Menschen antreibt, sich für die Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen, ob sie nun einer religiösen Gemeinschaft zugehören oder nicht. Die auf dem Glauben an die Würde jedes Menschen gründenden Menschenrechte leben letztlich von diesem Glauben. Sie verlangen eine spirituelle Einstellung und diese ist es, die uns Menschen über alle sozialen Zugehörigkeiten und auch alle religiösen Zugehörigkeiten miteinander verbindet. Die Religionen trennen die Menschen sehr oft voneinander. Sie produzieren Konflikte, führen manchmal sogar mörderische Auseinandersetzungen. Die 13 Ebd. 39 f.
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Religion der Menschenrechte hingegen könnte zu einer die Religionen bei aller bleibenden Verschiedenheit auch verbindenden Religion der Religionen werden. Die Religion der Religionen wäre dann in den verschiedenen Religionen lebendig. Sie wäre genauso aber auch von denjenigen als die ihnen eigene anzuerkennen, die bislang noch meinen, die Religion sei nur für diejenigen da, die einer der Religionen angehören. Die Religion der Religionen würde die säkulare Unterscheidung in sich aufheben. Sie bestünde auf nichts anderem, als dass es der Religion im Entscheidenden darum geht, uns Menschen, ungeachtet aller kulturellen und religiösen Verschiedenheit, als Menschen zu verstehen zu geben. Als Menschen erkennen wir uns in ihr, in unserer Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, in unserer Angewiesenheit aufeinander, in dem unendlichen Wert, der jedem einzelnen Menschen zukommt.
Bibliographie Gr-b Wilhelm/Charbonnier Lars (Hg.), 2009, Secularization Theories, Religious Identity and Practical Theology : Developing International Practical Theology for the 21st Century, International Academy of Practical Theology Berlin, Wien/Berlin: Lit Verlag. Gr-b Wilhelm, 2010, The Transformation of Religious Culture within Modern Societies: From Secularization to Post secularism, in: Arie L. Molendijk/Justin Beaumont/Christoph Jedan (Hg.), Exploring the Postsecular : The Religious, the Political and the Urban, Leiden/Boston: Brill, 113–131. Gr-b Wilhelm, 2011, Each One Is a Particular Case: Aspects of the Transformation of Christianity in Global Modernity, in: Tadeusz Buksinski (Hg.), Religions in the Public Spheres, Frankfurt a. M./Berlin u. a.: Peter Lang, 35–50. Habermas Jürgen, 2012, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin: Suhrkamp. Joas Hans, 2012, Glaube als Option: Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i.Br.: Herder. Ross Jan, 2012, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin: Rowohlt. Taylor Charles, 2003, Varieties of Religion Today : William James Revisited, Cambridge: Harvard University Press. Taylor Charles, 2007, A Secular Age, Cambridge: Harvard University Press. United Nations Organization, Universal Declaration of Human Rights, http:// www.ohchr.org/EN/UDHR/Documents/UDHR_Translations/eng.pdf (24. 09. 2015); United Stated Declaration of Independence, July 4 1776, http://www.archi ves.gov/exhibits/charters/declaration_transcript.html (24. 09. 2015); The French Declaration of the Rights of Man and the Citizen, August 1789, http://www.histo ryguide.org/intellect/declaration.html (24. 09. 2015).
Rolf Schieder
Religion in einer säkularisierten Gesellschaft. Das deutsche Beispiel
Mitte Oktober 2013 nahm ich an einer Tagung in Stuttgart teil, die von der Staatskanzlei des Ministerpräsidenten mitorganisiert wurde und bei der Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen Vortrag hielt. Er begann seinen Vortrag mit folgendem Zitat: Religion ist, wie Sex, Privatsache. Daheim in den eigenen vier Wänden, können die Menschen machen, wozu sie Lust haben. Aber sie möchten bitte die Gardinen zuziehen, um die Nachbarn nicht zu belästigen. Denn zur Religionsfreiheit gehört auch, von religiösen Exerzitien aller Art verschont zu werden.
Kretschmann kommentierte das Zitat, das aus der Feder Hendrik Broders stammt (Die Welt vom 15. 4. 2011), nicht weiter, sondern verteidigte die aktuellen religionsrechtlichen Regelungen in Deutschland mit dem Argument, dass man ihn als Landesvater und Parteivorsitzenden der Grünen in BadenWürttemberg nur dann für eine Änderung des Religionsrechts gewinnen könne, wenn dadurch der gegenwärtige Zustand auch tatsächlich verbessert werde. Weder bei der Kirchensteuer noch bei der Position des Landes im Blick auf die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in staatlicher Verantwortung sehe er Handlungsbedarf. Die Position des Ministerpräsidenten ist repräsentativ für die Haltung der Mehrheit der Politikerinnen und Politiker im Land: Auf dem Gebiet der Religionspolitik halten sie zwar einige Anpassungen an neue Herausforderungen für nötig – das religionspolitische System wird jedoch nicht in Frage gestellt. Verglichen mit der Aufregung, die die Medien bei religionspolitischen Themen entfachen, agiert die Politik unaufgeregt und pragmatisch. Nun zeigt aber gerade der Vergleich zwischen Sex und Religion, den Hendrik Broder vorgenommen hat, dass vielen die Rahmenbedingungen des deutschen Religionsrechts nicht vertraut sind. Sonst hätte Broder nicht die absurde Behauptung aufstellen könne, er habe als Agnostiker ein Recht darauf, von der religiösen Praxis anderer in der Öffentlichkeit „verschont“ zu werden.
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Rolf Schieder
1. Die Öffentlichkeit der Religion und die Öffentlichkeit der Sexualität Broders Behauptung „Religion ist, wie Sex, Privatsache“ stimmt weder für die Religion noch für den Sex. Beide der Menschheit seit ihren Anfängen bis heute geläufigen Praktiken waren nie Privatsache. Die Aussage „Religion ist Privatsache!“ war eine Forderung aufgeklärter Geister, die einen Unterschied zwischen den öffentlich praktizierten Kulten und den je individuellen religiösen Überzeugungen markieren wollten. Es handelt sich aber bis heute nicht um die Beschreibung eines gesellschaftlichen Sachverhaltes, sondern um eine Mahnung zur Wahrung der Gewissensfreiheit – bei gleichzeitiger Anerkennung des Rechts anderer auf öffentliche Ausübung ihrer Religion – Missionstätigkeit eingeschlossen. Hendrik Broder will mit seinem Vergleich zwischen Sex und Religion dadurch Zustimmungsfähigkeit herstellen, dass er die Privatheit sexueller Praktiken für eine von allen geteilte Selbstverständlichkeit erachtet. Ist aber Sex wirklich Privatsache? Selbstverständlich nicht! Keine Gesellschaft hat es sich je erlaubt, Sex zur Privatsache zu erklären. Selbstverständlich sind Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und Menschenhandel keine Privatsachen. Aber nicht nur das Strafrecht, auch das Zivilrecht regelt das Verhältnis der Geschlechter mit zunehmender Detailfreude. Und auch im öffentlichen Recht bedarf das sich zunehmend pluralisierende Verhältnis der Geschlechter öffentlich-rechtlicher Regelung. Nicht nur die Rechtsgelehrten, vielmehr alle gesellschaftlichen Gruppen legen Wert darauf, die individuelle Sexualität kulturell zu formen und sozial zu kontrollieren. Insofern ist der Streit über einen neuen Lehrplan in Baden-Württemberg, der zur Akzeptanz sexueller Diversität erziehen soll, in der Tat eine Angelegenheit von höchstem öffentlichem Interesse. Die Parole „Das Private ist politisch !“, mit der die Frauenbewegung in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts angetreten ist, war enorm erfolgreich – so erfolgreich, dass einige ihrer Protagonistinnen sich heute darüber erstaunt zeigen, dass selbst jene Teile ihres Privatlebens – beispielsweise ihre Steuerehrlichkeit – , die sie nicht gerne öffentlich gemacht sähen, öffentliches Interesse auf sich ziehen. Notiert sei an dieser Stelle auch, dass immer dann, wenn Privates öffentlich wird, auf religiöse Semantik zurückgegriffen wird. Da ist von „Steuers ündern“ und „Verkehrssündern“ ebenso die Rede, wie von der Sünde gegenüber selbst auferlegten Diätregeln. Glaubte die Soziologie der Nachkriegszeit noch, dass man gesellschaftliche Prozesse mit dem Begriff der „Privatisierung“ nicht nur der Religion, sondern auch vieler anderer Lebenspraktiken angemessen beschreiben könne, so muss man heute feststellen, dass diese Diagnose aus einer Zeit stammt, in der die technologische Revolution der elektro-
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nischen Medien noch nicht stattgefunden hatte. Im Zeitalter des Internets gilt : „Alles Private ist potentiell öffentlich !“ Gleichwohl lässt sich der gewandelte Umgang der Gesellschaft mit der Religion wie mit der Sexualität als ein Prozess der Pluralisierung und als ein Prozess der Individualisierung beschreiben. Sowohl die Sexualität als auch die Religiosität der Bürgerinnen und Bürger in der westlichen Welt sind pluralisiert und individualisiert worden. Das heißt zuvörderst, dass die Institutionen, die bislang für die kulturelle Kontrolle von Sex und Religion zuständig waren, nämlich die Institution der Ehe einerseits und die Kirchen andererseits, keine Monopolstellung mehr besitzen. Viele Paare glauben, dass ihre Beziehung ohne Trauschein lebendiger bleibt – und viele religiöse Menschen glauben, dass die Kirchen das religiöse Leben nur noch verwalten, aber nicht mehr inspirieren. Religion und Sex sind keine Privatsache, aber die institutionellen Formen ihrer Kontrolle haben sich gewandelt. Das heißt aber nicht, dass – wie viele konservative Kulturkritiker glauben – die öffentliche Kontrolle von Sex und Religion verschwunden sei und chaotische Zustände deshalb drohten, weil nun „jeder machen dürfe, was er wolle“. Genau das soll mit dem Begriff der Individualisierung nicht beschrieben sein. Vielmehr meint „Individualisierung“ in soziologischer Perspektive, dass sich das Individuum in der Gegenwart einer ganzen Reihe von Selbstwahl- und Selbstregulierungszumutungen ausgesetzt sieht. Der Zwang, sich selbst zum Projekt zu machen und dabei nahezu alle Risiken allein tragen zu müssen, zugleich aber einer Fülle von subtilen Normalisierungserwartungen ausgesetzt zu sein, stellt die heute heranwachsende Generation vor nicht geringe Probleme. Mit dem Begriff der Individualisierung ist also nicht eine hemmungslose Befreiung des Individuums zum Ausleben asozialer Triebe gemeint, sondern – ganz im Sinne Michel Foucaults – die gesellschaftliche und öffentliche Etablierung der Erwartung an das Individuum ein selbstbestimmtes, autonomes und autopoietisches Subjekt zu sein. In einer Gesellschaft mit so hohen Möglichkeitsüberschüssen wird die Aufgabe der Selbstverendlichung, soll heißen: die Einsicht in die Endlichkeit eigener Möglichkeiten, dringlich. Selbst wenn jedem die Möglichkeit eingeräumt wird, homosexuell oder heterosexuell, beides oder keines von beidem zu sein, so bleibt der Zwang zur Wahl, vor allem aber die Einsicht, dass mit einer Wahl andere Wahlmöglichkeiten nicht mehr vorhanden sind, doch aufrechterhalten. Gleiches gilt für die Religionswahl: auch hier kann man nicht gleichzeitig Jude, Christ und Buddhist sein, wenn auch Konversionen und Hybridisierungen möglich sind. Hendrik Broders Religionsverständnis wird in einem bedenklichen Ausmaß religionspluralen Verhältnissen nicht gerecht. Seine ironische Empfehlung, bei der Praxis von Religion „ doch bitte die Gardinen zuzuziehen“, würde – auf sexuelle Praktiken angewandt – zu einem Sturm öffentlicher Entrüstung führen. Würde beispielsweise am „Christopher Street Day“ in Berlin jemand die Forderung erheben, die Öffentlichkeit mit der Zurschaustellung der ei-
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genen sexuellen Vorlieben zu verschonen, dann könnte man dem Vorwurf der „Homophobie“ kaum entkommen. Die Garantie der Religionsfreiheit mutet allen Bürgerinnen und Bürgern zu, auch jene religiösen Praktiken zu ertragen, die ihnen fremd sind. Der Begriff der „negativen Religionsfreiheit“ meint lediglich, dass mich niemand zu einer religiösen Praxis zwingen darf. Sie heißt aber nicht, dass andere ein Recht darauf haben, vor der religiösen Praxis anderer verschont zu werden. Mit der „negativen Religionsfreiheit“ verhält es sich wie mit der „negativen Meinungsfreiheit“: niemand kann mich zwingen, die BILD-Zeitung zu lesen. Sehr wohl garantiert aber die „positive Meinungsfreiheit“ dem Springer-Verlag, das Recht, seine Zeitung öffentlich anzubieten. Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen religiöser und sexueller Praxis auch auf dem Bildungssektor. Ein staatlich verantworteter Religionsunterricht zielt ebenso wie ein Sexualkundeunterricht darauf, Heranwachsende aufzuklären. Diese Aufklärung hat das Ziel, die Jugendlichen dabei zu unterstützen, verantwortlich mit solchen Mächten und Kräften umzugehen, die den Menschen zutiefst ergreifen können. Damit soll nicht unterstellt werden, dass es so etwas wie einen „religiösen Trieb“ im Menschen gibt. Unabweisbar ist aber die Feststellung, dass jeder Mensch vor der Aufgabe steht, sich einen Reim auf sein Leben zu machen, dessen Dauer, Verlauf und Qualität er nur zum Teil kontrollieren kann. Individuelle sexuelle Orientierungen ebenso wie individuelle religiöse Orientierungen sind immer eingebettet in ein System gesellschaftlicher Formierungen, diskursiver Rahmungen und rechtlicher Kontrollen. Diese bekommt man umso besser in den Blick, je präziser man zwischen individueller Religiosität und institutionalisierter Religion unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen institutionalisierten Religionen als sozialen Sachverhalten und individueller Religiosität als persönlicher Sinnfindung ist für die Religionstheorie Pmile Durkheims fundamental. Seine Diagnose des Schicksals der Religion in der Moderne ruht auf der strikten Differenz zwischen wechselnden Ansichten der Individuen in religiösen Angelegenheiten und der Praxis von Religionsgemeinschaften als sozialen Akteuren. Eine Religionsforschung, die sich also nur für die Ansichten von Individuen interessiert, übersieht konzeptionell und methodisch, dass die Wirkung der Religion auf die Gesellschaft an deren institutioneller Form hängt. Nur Institutionen können religiöse Überzeugungen und Praktiken generationenübergreifend garantieren und generieren. Die Religiosität eines Individuums verlischt mit dessen Tod – es sei denn, eine Institution sorgt dafür, dass Leben und Glauben dieses Individuums über seinen Tod hinaus exemplarisch weitererzählt werden: Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und Nelson Mandela sind dafür anschauliche Beispiele. Ohne ein institutionell generiertes und tradiertes Narrativ können machtvolle religiöse Bewegungen weder entstehen noch überleben. Wer sich mithin über die Rolle der Religion unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen Rechenschaft ablegen will, der darf zum einen den
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in vielen „Meinungsumfragen“ überhaupt nicht thematisierten institutionellen Faktor nicht übersehen, muss zum anderen aber damit rechnen, dass Individuen über ihre eigene Religiosität nur ungern öffentlich Auskunft geben. An dieser Stelle macht Hendrik Broders Vergleich zwischen Sex und Religion dann doch einigen Sinn: In beiden Bereichen gibt es eine höchst intime Dimension, die dem öffentlichen Diskurs nicht unmittelbar zugänglich ist. Das Gespräch über eigene Gebetspraktiken ist ebenso tabu wie das Gespräch über eigene sexuelle Handlungen. Der vom eigenen Schlafzimmer aus angerufene Gott ist weitaus weniger gut zu beschreiben wie der in öffentlichen Gottesdiensten adressierte. Die Zurückhaltung in religiösen Angelegenheiten lässt sich beispielsweise auch bei einem Vergleich der Konfessionsstatistik der Mitglieder des 18. Deutschen Bundestages mit den Biographien auf den Homepages der Abgeordneten zeigen: Fast ein Drittel der statistisch als evangelisch geführten Abgeordneten gibt seine Konfessionszugehörigkeit in der eigenen Biographie nicht an. Katholische Abgeordnete sind bekenntnisfreudiger – dort halten vier von fünf Abgeordneten die Angabe ihrer Konfessionszugehörigkeit auch auf ihrer Homepage für angebracht. Bei den Konfessionslosen ergibt sich folgendes Bild. Die Statistik weist 85 Konfessionslose aus, aber nur 19 von ihnen bekennen sich ausdrücklich zu ihrer Konfessionslosigkeit auf ihrer Homepage. Mehr als ein Drittel der Abgeordneten zieht es vor, keine Angaben zur eigenen Konfessionszugehörigkeit zu machen.
2. Gibt es eine spezifisch europäische Antwort auf die Prozesse der Individualisierung und der Pluralisierung von Religion, mithin auf den Prozess der religiösen Modernisierung? Ein transatlantischer Vergleich ist aufschlussreich. Die frühe Neuzeit nahm in den Vereinigten Staaten von Amerika einen distinkt anderen Verlauf als in Europa. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung religionspolitischer und religionskultureller Diskurse. Allerdings muss man sich davor hüten, dem Klischee von einem religionslosen Europa und einem religionsfreundlichen Amerika zu folgen. Sowohl in den USA als auch in Europa spielte die Religion eine wichtige politische Rolle. Es ist Eric Nelson zu danken, dass er in seiner 2010 erschienenen Untersuchung The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought zeigen konnte, dass für die frühneuzeitlichen politischen Philosophen wie Hobbes, Grotius, Pufendorf, Locke und viele andere die biblische Exoduserzählung – vor allem aber die rabbinischen Kommentare dazu – enorm inspirierend waren. Dort fanden sie das Volk in einer zentralen Position und eine fundamentale Kritik an der Monarchie. Das Gesetz und ein Bundesschluss standen im Mittelpunkt – ein
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Bund, der insofern über einen Gesellschaftsvertrag hinausging, als er die nicht-kontraktuellen Momente eines Vertrages im Blick hat. Erstmals schien hier auch dem Staat die Aufgabe der Redistribution von Gütern in einem commonwealth zuzukommen. Nicht das Ausmaß der Gleichgültigkeit gegenüber der Religion macht also den Unterschied zwischen Europa und den USA aus. Der Unterschied besteht vielmehr in der ganz anderen gesellschaftlichen Einbettung des Religiösen. Alexis de Tocqueville hat diesen Unterschied präzise erfasst, wenn er darauf hinweist, dass in Europa Religion stets die Religion der Herrschenden war, während Religion in den USA immer eine Angelegenheit des Volkes war. Volksfrömmigkeit dort – Staatsfrömmigkeit hier. Das klingt auf den ersten Blick allzu holzschnittartig. Macht man sich aber auf die Suche nach Mentalitäten, die den gesellschaftlichen Umgang mit Religion auch heute noch beeinflussen, dann gibt es eine ganze Reihe von Auffälligkeiten, die diese Unterscheidung als heuristisches Instrument nicht ganz nutzlos erscheinen lassen. Bereits das scheinbar allen westlichen Gesellschaften gemeinsame Prinzip der „Trennung von Kirche und Staat“ wird diesseits und jenseits des Atlantiks sehr verschieden ausgelegt. Gemäß dem ersten Verfassungszusatz, der dem Staat ein „establishment of religion“ untersagt, haben die USA strikt darauf geachtet, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften sich unabhängig von staatlicher Beeinflussung frei entfalten konnten – als eine Angelegenheit des Volkes, nicht des Staates. Gerade der Mangel an staatlicher Steuerung bescherte den USA ein mit Europa unvergleichlich fruchtbares religiöses Wachstum. Demgegenüber kann in Deutschland bis heute von einer tatsächlich vollzogenen „Trennung von Staat und Kirche“ nicht gesprochen werden. Wie auch? Nach der Reformation galt das Prinzip „cuius regio – eius religio“. Der jeweilige „Landesherr“ definierte die Konfessionszugehörigkeit seiner Untertanen. Nonkonformisten waren zur Auswanderung gezwungen. Das Zeitalter des Absolutismus verstärkte und verfestigte das „landesherrliche Kirchenregiment“. Bis 1919 existierte in Deutschland eine Staatskirche – und als Hitler 1933 die Macht übernahm, gab es Stimmen im Protestantismus, die empfahlen, dem Führer das „Summepiskopat“ erneut anzutragen. Die Vorstellung, als Kirche unabhängig von staatlicher Unterstützung die eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln, war auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehrheitsfähig. Die politischen Eliten Westdeutschlands boten den Kirchen eine umfassende Unterstützung an, die die Kirchen gerne annahmen. Die Berlin-Brandenburgische Landeskirche, die sich nach dem Krieg bewusst von staatlicher Unterstützung etwa auf dem Bildungssektor frei machen wollte, suchte – wie die Kampagne „Pro Reli“ aus dem Jahr 2008 zeigt – ebenfalls um staatlichen Beistand bei der religiösen Erziehung nach. In den USA hingegen ist bereits die Unterscheidung zwischen staatliche geförderten „Kirchen“ und kritisch beäugten „Sekte“ sinnlos, weil letztlich alle Denominationen prinzipiell „Sekten“ sind. In Deutschland, mehr noch in
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Frankreich ist der Begriff „Sekte“ höchst negativ konnotiert. „Sekten“ sollen angeblich den gesellschaftlichen Konsens gefährden, ein Sonderbewusstsein und sogenannte „Parallelgesellschaften“ etablieren – als ob der Begriff „Gesellschaft“ im Unterschied zur „Gemeinschaft“ nicht immer schon implizierte, dass es eine Pluralität von Überzeugungen, Lebensformen und Handlungsoptionen gibt. Während Frankreichs Regierung im Jahre 1996 einen interministeriellen Kampf gegen die Sekten (Mission interminist8rielle de lutte contre les sectes) eröffnete, empfahl die EnquÞte-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages im Jahre 1997, den Begriff „Sekte“ in Verlautbarungen staatlicher Stellen in Zukunft nicht mehr zu verwenden. Das Bundesverfassungsgericht stellte in einem Urteil aus dem Jahre 2002 fest, dass es dem Staat zwar erlaubt sei, sich auch kritisch mit den Lehren von Religionsgemeinschaften auseinanderzusetzen, allerdings seien diffamierende, diskriminierende und verfälschende Darstellungen einer religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaft dem Staat untersagt. Das Misstrauen in Europa staatsfernen Religionsgemeinschaften gegenüber ist groß, und so bemühen sich viele um eine staatliche Approbation, also um die Verleihung des Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Dies tut selbst eine Religionsgemeinschaft wie die „Zeugen Jehovas“, die in ihren Lehren die vorfindliche staatliche Ordnung für widergöttlich hält und ihren Mitgliedern von einem politischen Engagement abrät. Das Beziehungsnetz zwischen Staat und Kirche in Deutschland wie auch in vielen anderen europäischen Ländern ist so eng, dass eine „Trennung“, wie sie etwa in den USA praktiziert wird, aufgrund der Pfadabhängigkeit von politischen Entscheidungen in nächster Zukunft unwahrscheinlich ist. Beide religionspolitischen Systeme – das zivilgesellschaftlich-amerikanische und das etatistisch-europäische – haben ihre Vor- und Nachteile. Nimmt man die religiöse Bildung der Bevölkerung als Maßstab, dann kann sich das deutsche Staatskirchensystem rühmen, einen außerordentlich erfolgreichen Beitrag zum religiösen Frieden im Land dadurch geleistet zu haben, dass der Staat an seinen Theologischen Fakultäten das kirchliche Führungspersonal so ausbildet, dass eine liberale Vermittlungstheologie gestärkt und fundamentalistische Positionen geschwächt werden. Gleiches gilt für den staatlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, der in Übereinstimmung und in Absprache mit den Religionsgemeinschaften erteilt wird. Schülerinnen und Schülern wird nicht nur durch die Lehrinhalte, sondern bereits durch das bloße Faktum des konfessionellen Religionsunterrichts an einer öffentlichen Schule eine grundsätzliche Kompatibilität zwischen staatlichen und kirchlichen Erziehungszielen suggeriert. Ganz anders in den USA: religiöse Bildung an öffentlichen Schulen gibt es dort nicht. Das wir von US-amerikanischen Erziehungswissenschaftlern bedauert. Die religiöse Sozialisation findet in den kirchlichen Sonntagsschulen statt – zum Teil mit bedenklichen Folgen. So ist der sogenannte „Kreationismus“ immer wieder Streitthema in den USA, während in Deutschland der staatlich verantwortete Religionsunterricht
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Schülerinnen und Schüler nachhaltig darüber aufklärt, dass die biblische Schöpfungsgeschichte keine naturwissenschaftliche Theorie über die Entstehung der Welt sein will, sondern ein literarisches Schöpferlob. Die Vernetzung von Staat und Kirche in Deutschland wird schließlich an den staatlichen Feiertagen und am staatlichen Sonntagsschutz deutlich. Die Mehrzahl der staatlich geschützten Feiertage sind religiöser, genauer christlicher Herkunft. Muslime fordern zuweilen einen staatlich geschützten muslimischen Feiertag. Als die Bevölkerung Ostdeutschlands, die zu 75 Prozent konfessionslos und kirchenfern ist, befragt wurde, ob sie bereit wäre, auf einen christlichen Feiertag zugunsten eines islamischen Feiertages zu verzichten, lehnten dies 93 Prozent der Bevölkerung ab. In den USA stellt sich dieses Problem gar nicht. Der Staat hat seine eigenen zivilreligiösen Feiertage – die Feiertage der Religionsgemeinschaften sind keine Angelegenheit von staatlichem Interesse.
3. Die Deutungsbedürftigkeit empirischer Untersuchungen am Beispiel der Ergebnisse des „Religionsmonitor 2013. Verstehen, was verbindet“ der Bertelsmann Stiftung Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung ihren sogenannten Religionsmonitor 2013, für den 14.000 Personen in 13 Ländern befragt wurden, darunter in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Schweiz und Spanien. Für die religiöse Lage in Deutschland wurden die folgenden Ergebnisse für besonders bemerkenswert gehalten: 1. Es gebe eine grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Religionen, aber große Vorbehalte dem Islam gegenüber. 2. Die „Trennung von Religion und Politik“ sei als „hohes Gut“ akzeptiert. 3. Religion habe in Europa im Vergleich mit anderen Erdteilen eine nur geringe Bedeutung. 4. Jüngere Menschen seien weniger religiös als ältere. 5. Familie, Schulen und Freunde seien für die Wertevermittlung wichtiger als die Kirchen. 6. Der Beitrag der Religion zum Sozialkapital sei gering. Bei der Frage nach der Relevanz von Religion für die eigene Lebensführung rangiert Deutschland (West) im internationalen Vergleich noch vor Spanien, Großbritannien, Frankreich und Schweden, während Deutschland (Ost) das Schlusslicht bildet. Nur ein Drittel der Bevölkerung misst dort der Religion eine Bedeutung für das eigene Leben zu, in Westdeutschland sind es 75 Prozent. Die Unterscheidung zwischen „Spiritualität“ und „Religion“ erwies sich bei dieser Befragung als wenig hilfreich. Die Werte waren nahezu identisch.
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Aber auch der Blick ins europäische Ausland ist aufschlussreich: 70 Prozent der Schweden etwa schätzen sich bei der Frage „Als wie religiös würden Sie sich selbst bezeichnen?“ als „nicht religiös“ ein. Nun könnte man die theologische Überlegung anstellen, dass möglicherweise gerade das Bekenntnis zum eigenen Unglauben ein Zeichen von christlicher Demut, mithin also von Religiosität ist. Da aber Schweden auch beim Gebetshäufigkeitsindex weit abgeschlagen auf dem letzten Platz mit weniger als 50 Gebeten im Jahr landet, kann diese Interpretation ausgeschlossen werden. Ist also Schweden so stark „säkularisiert“, dass Religion im öffentlichen Leben keine Rolle mehr spielt? Dagegen sprechen Daten, die nicht in den Religionsmonitor eingeflossen sind. So liegt in Schweden die Kirchenmitgliedschaft bei 70 Prozent, damit um fast 10 Prozent höher als in Deutschland. Aber auch die Beteiligung am kirchlichen Leben ist sehr hoch. 62 Prozent aller schwedischen Eltern lassen ihr Kind taufen, 46 Prozent aller Paare begehren die kirchliche Trauung und 83 Prozent aller Verstorbenen werden kirchlich beerdigt. Die protestantischen Kirchen in Deutschland stellen folgende Zahlen zur Verfügung: 26 Prozent aller Neugeborenen werden in einer protestantischen Kirche getauft, 13 Prozent aller Paare lassen sich kirchlich trauen und 33 Prozent kirchlich beerdigen. Bedenkt man ferner, dass für das schwedische Königshaus eine Kirchenzugehörigkeitspflicht besteht, dass bis 1991 alle schwedischen Pfarrämter zugleich Standesämter waren und dass auf schwedischen Tourismusseiten darauf hingewiesen wird, dass Schwedens Kirchen die beste Aussicht bieten, dann bekommt man einen Eindruck davon, dass durch die Frage nach den individuellen Einstellungen und Meinungen der Bevölkerung zu religiösen Fragen noch kein klares Bild über die Präsenz des Religiösen in einem Land gewonnen werden kann. Gerade die lange und nachhaltige lutherisch-staatskirchliche Tradition in Skandinavien mag ja dazu beigetragen haben, dass man selbst auf das Beten verzichtet, weil man weiß, dass für einen in den Kirchen gebetet wird. Die religiöse Versorgung ist auch ohne eigenes Engagement gesichert. Die britische Religionssoziologin Grace Davie bezeichnet diese Haltung als vicarious religion. Die Institution ersetzt die individuelle Praxis. Da passt es gut ins Bild, dass die Bereitschaft der Schweden, Opfer für die eigenen religiöse Überzeugung zu bringen mit unter 20 Prozent am geringsten entwickelt ist. Aber auch in Deutschland sind dazu nur etwas mehr als ein Fünftel der Befragten bereit. Aufschlussreich sind die Ergebnisse des Religionsmonitors im Blick auf den Umgang der Bevölkerung mit religiöser Pluralität. Der Religionsmonitor bestätigt die schon häufig gemachte Beobachtung, dass das Gefühl der Bedrohung durch fremde Religionen umso größer ist, je weniger Kontakt Menschen mit Menschen anderen Glaubens haben. Deutlich mehr als die Hälfte der Ostdeutschen und etwas weniger als die Hälfte der Westdeutschen fühlen sich vom Islam bedroht. Weltweit ist die Islamophobie in Spanien, Deutschland und der Schweiz am größten. Großbritannien hat gegenüber dem Islam im europäischen Vergleich die größte Toleranz. Erstaunlicherweise wird in Eu-
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ropa der Atheismus nicht als Bedrohung wahrgenommen – offenbar werden die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts nicht mehr als atheistische Diktaturen gedeutet. Der Aussage „Religionen sind eher schädlich“ stimmen in Deutschland nur 15 Prozent zu, das ist der niedrigste Wert in Europa. Das weist darauf hin, dass es nur eine geringe Lust auf einen Kulturkampf gibt. Allerdings weist die Beschneidungsdebatte im Jahre 2012 darauf hin, dass sich das Klima schnell ändern kann. Auch der Zusammenhang zwischen Religiosität und zivilgesellschaftlichem Engagement wurde vom Religionsmonitor erhoben. Die Schweden und die Schweizer sind ehrenamtlich am aktivsten. Auch bei der Zustimmung zur Demokratie als einer guten Regierungsform führen diese beiden den Ländervergleich an. Am deutschen Ergebnis ist bemerkenswert, dass knapp 60 Prozent der religiösen, aber nur knapp 50 Prozent der Nicht-Religiösen die Demokratie gutheißen. Auch bei der Einstellung gegenüber Zuwanderern zeigt sich ein Unterschied. Dem Satz „Es gibt zu viele Zuwanderer im Land.“ stimmen mehr Nichtreligiöse (52 Prozent) als Religiöse (48 Prozent) zu.
4. Welche Konsequenzen sollen Kirchen aus solchen Analysen ziehen? Wer regelmäßig kirchliche Synoden und Tagungen besucht, der begegnet dort einer merkwürdigen Mischung aus binnenorientierter Geschäftigkeit, Sarkasmus und einer „großen Traurigkeit über einen gefühlten Verlust“, so eine treffende Formulierung des Leiters der Evangelischen Akademie in Berlin, Rüdiger Sachau. Dabei muss die Betonung auf das Adjektiv „gefühlt“ gelegt werden. Denn die religionspolitischen Rahmenbedingungen waren für die Kirchen in Deutschland noch nie so gut wie heute. Bis 1919 waren die protestantischen Kirchen der staatlichen Aufsicht unmittelbar unterstellt und die katholische Kirche hatte den preußischen Kulturkampf zu erleiden. In den Jahren der Weimarer Republik waren die Kirchen in die politischen Weltanschauungskämpfe verstrickt. Der Nationalsozialismus bekämpfte die Kirchen nach dem gescheiterten Versuch der Gleichschaltung. Unter der sozialistischen Herrschaft im Osten Deutschlands waren die Kirchen vielfältigen Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt. Erst seit 1989 – seit 25 Jahren also – genießen alle Christen in Deutschland erstmals uneingeschränkte Religionsfreiheit. Aber nicht nur das: der heutige deutsche Staat unterstützt die Kirchen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben in beeindruckender Weise. Die Kirchen können sich aufwendige Kampagnen zum Eintreiben ihrer Mitgliedsbeiträge sparen, weil die staatlichen Steuerämter bei der gerechten Berechnung und beim Einsammeln der Gelder behilflich sind. Der Staat übernimmt die Kosten für die Ausbildung der Pfar-
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rerinnen und Pfarrer und der Religionslehrkräfte. Er organisiert und finanziert die religiöse Unterweisung der Kinder und Jugendlichen. Auch bei den diakonischen Aktivitäten der Kirchen zeigt der Staat Entgegenkommen und ist dankbar für das kirchliche Engagement. Auch religionskulturell könnte es den Kirchen nicht besser gehen: Die großen weltanschaulichen Gegner des 19. und den 20. Jahrhunderts – ein antiklerikaler Sozialismus und ein rassistischer Sozialdarwinismus – spielen heute nur noch eine marginale Rolle. Zivilgesellschaftliche Opponenten, die sich in Größe und Wirkung mit den Kirchen messen könnten, gibt es nicht – auch wenn zuweilen Vertreter humanistischer Verbände behaupten, sie repräsentierten insofern die Mehrheit der Bevölkerung, als die meisten Kirchenmitglieder doch gar nicht mehr an Gott glaubten. Im Osten Deutschland gehöre nur noch ein Viertel der Bevölkerung einer Kirche an, die Konfessionslosen seien mithin in der Mehrheit. Hier liegt freilich ein Kategorienfehler vor: es würde sich nur dann so verhalten, wenn sich die Konfessionslosen als solche organisiert hätten. Gerade das ist aber nicht der Fall. Sie können deshalb nicht als eine Gruppe zählen, die der Kirche als Institution gegenübersteht, sie sind vielmehr derjenige Bevölkerungsanteil, um den die Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften werben. Nach wie vor bilden die Kirchen das dichteste und produktivste Netz zivilgesellschaftlichen Engagements im Osten Deutschlands. Die Tatsache, dass nicht einmal zwei Prozent der erwachsenen Deutschen einer politischen Partei angehören, zeigt, wie gewaltig die Aufgabe der Aktivierung der Mehrheit der Bevölkerung ist. Galt in den vergangenen Jahrzehnten Religionslosigkeit als der Normalfall und war man als religiöser Mensch rechtfertigungspflichtig, so zeichnet sich heute eine Trendwende ab. Religiös zu sein ist nicht mehr die rechtfertigungspflichtige Ausnahme, religiös zu sein gilt – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Globalisierung – zunehmend als normal. Die Zahl humanwissenschaftlicher Untersuchungen, denen zufolge Religion und Resilienz positiv korrelieren, steigt. Der positive Zusammenhang von zivilgesellschaftlichem Engagement und Religiosität ist in einer ganzen Reihe von politikwissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen worden. Auf der eingangs erwähnten Tagung der württembergischen Landesregierung im Oktober 2013 sagte der Philosoph Peter Sloterdijk: „Wir leben religionspolitisch und religionskulturell in einem goldenen Zeitalter.“ Die Kirchen seien von zivilreligiösen Zumutungen und Überforderungen entlastet und könnten in aller Freiheit mit der Kunst, der Literatur und der Philosophie in einen Wettstreit um die Deutung des Daseins eintreten. Ich stimme nicht immer mit Peter Sloterdijk überein, an diesem Punkt aber durchaus.
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Bibliographie Broder Hendrik, 2011, Religion ist Privatsache, in: Die Welt, 15. April. Nelson Erik, 2010, The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformations of European Political Thought, Cambridge MA.: Harvard University Press. Bertelsmann Stiftung, 2013, Religionsmonitor, https://www.bertelsmann-stif tung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/ (24. 09. 2015).
Carla Danani
Religion und Öffentlichkeit: Wie ein Raum sich bildet
1. Gerechtigkeitstheorien: Religionen im öffentlichen Raum Die Berücksichtigung der religiösen Ebene ist heute explizit Teil der Debatte über die Legitimität der sozialen Verpflichtungen und der politischen Einrichtungen. Die Rolle der Religion im öffentlichen Raum1 wurde nie wirklich aus den Büchern der Gelehrten verbannt, sondern vielmehr stets thematisiert. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Debatte über die Säkularisierung eingehen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Marx, Weber, Durkheim und Simmel nicht als Theoretiker bestimmter Ansichten dargestellt werden können, nach denen die Religion in der Moderne so sehr an Bedeutung verloren hat, dass diese aus Gründen der Vernunft weichen müsse. Massimo Rosati hat dementsprechend beobachtet,2 dass mit Ausnahme von Marx, der in der Religion Opium fürs Volk und das Herz einer Menschheit ohne Mensch fand, eine falsche Antwort auf reelle Probleme, auf einen Wahn, der nicht ganz ohne eigene Grundlage existiert,3 alle anderen Klassiker in der Religion eine Kraft von absoluter Relevanz sahen – und zwar nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart der Moderne; einige von ihnen sahen sie sogar für die Zukunft. Die Moderne kennzeichnet für keinen von ihnen den Anfang vom Ende der Bedeutung der Religion innerhalb der Gesellschaft – die Problematik stellt sich vielmehr im Hinblick auf die Beziehung mit den Religionen. Heute scheint es so, dass der Kompromiss, den die Moderne in vielen Teilen der Welt nach dem 17. Jahrhundert mit der Religion eingegangen ist, aufgrund der strikten Trennung und Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sowie dem Guten und dem Bösen, in Frage gestellt wird.4 Da zur Moderne auch die Englische und Amerikanische Revolution gehören, sollte laut Rosati eine religiöse Komponente anerkannt werden, die klar ersichtlich ist und nie zuvor verleugnet wurde. Dasselbe gilt teilweise für die Französische Revolution, auch wenn man sich zugestehen muss, dass hier später ein antireligiöser Rationalismus Fuß fasste. Um auch unsere heutige Zeit und das, was 1 2 3 4
Unter anderem vgl. Eduardo Mendieta und Jonathan Vanantwerpen (Hg.) 2011. Massimo Rosati 2007. Karl Marx 1973. Adam B. Seligman 2000.
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Menschen anscheinend überrascht und was unter die Rubrik Postsäkular fällt, verstehen zu können, sollte man das Ablegen einer aprioristischen, oppositionellen Logik erwägen. Das bedeutet nicht, dass man vollkommen auf eine Unterscheidung verzichten muss, doch es impliziert, dass der religiöse Glauben nicht auf den Bereich des privaten Bewusstseins reduziert werden kann, da dieser sich in gesellschaftlichen und sozialen Formen äußert.5 Auch bietet der öffentliche Raum keine leere Form, sondern vielmehr eine „Ordnung des Zusammenlebens“, in der es vielerlei Werte, Lebensstile und Beziehungsmodi gibt. Es ist somit hilfreich auf die grundlegenden Argumente der Debatte über das Öffentliche im „öffentlichen Raum“ zurückzukommen.6 Wir finden das Referenzparadigma in Kants Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“. Kant versteht „unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“,7 das heißt „das gesamte Publikum“ ist „die Welt“. Den Privatgebrauch nennt Kant denjenigen, den er beispielsweise in einem ihm anvertrauten bürgerlichen Amt von seiner Vernunft machen darf. Somit kann man eine qualitative Unterscheidung zwischen der Argumentationsweise vornehmen, die innerhalb eines engen Fachkreises gilt, also dort, wo ein bestimmtes Wissen von Menschen geteilt und eine Interpretation gewissermaßen erwartet wird und der Argumentationsweise, die man hervorbringt, wenn man verstanden werden möchte, ohne davon ausgehen zu können, dass Menschen denselben Interpretationskodex teilen. Über jeglichen Diskurs über die Identität des Agenten, des Anwendungsbereichs der Argumentation sowie des Ziels hinaus richtet Kant das Augenmerk, mit einer beinahe transzendentalen Geste, auf die Möglichkeitsbedingung, dass das Verständnis jedenfalls von vornherein bestehen kann, d. h. auf das kommunikative Handeln abzielt. Innerhalb der Kantischen Philosophie geht man von dieser möglichen Voraussetzung aus, weil gerade der Verstand diese Fähigkeit inne hat, er gebührt jedem rationalen Wesen im Namen des gegenseitigen Respekts; er ist von Vorteil, wenn es darum geht, eine Einigung zu finden, auch mit denjenigen, mit denen es noch Uneinigkeit gibt.8 5 Massimo Rosati 2002. Simmel stellte fest (vgl. Georg Simmel 1908, 460–526), dass diese Formen überräumlich sind: D. h., eine Religion deckt sich nicht mit, besteht nicht im Wesentlichen aus, bezieht sich nicht auf einen Ort. Dies trifft jedoch auf den Staat zu, der einen unmittelbaren Bezug auf ein Gebiet hat. Die überräumlichen Formen haben eine einheitliche Beziehung zu ihren Bezugspunkten und können sie über den Raum hinaus erweitern, ohne dass jemand ausgeschlossen wird. 6 Zum Thema der öffentlichen Meinung vgl. Jürgen Habermas 1990. Ich betrachte trotz allem die Diskussion über die öffentliche Meinung und die über den öffentlichen Raum nicht als superponierbar. 7 Immanuel Kant 1784, 485. 8 Und, anders herum, hemmt das Werbeverbot den Fortschritt eines Volkes zum Besseren, Immanuel Kant 2005.
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Laut Kant ist die Öffentlichkeit somit weniger eine mögliche Form der Kommunikation, sondern vielmehr ein transzendentales Merkmal der Vernunft, ein Wesenszustand. Dabei passt das öffentliche Wesen nicht mit dem institutionellen Wesen zusammen, genauso wenig wie mit dem staatlichen. Es passt besser in das universelle und kosmopolitische Umfeld.9 Man könnte sagen, dass das „Öffentliche“ simpel die „politische“ Ebene darstellt, wenn bloß das Risiko der Ambiguität aufgrund des gängigen Gebrauchs der Termini nicht zu groß wäre. Das Politische ist hier der Bereich des Dritten, eines jeden, aller. Er schließt die verschiedensten Gemeinschaften ein. Universalität, Vermittelbarkeit und Intersubjektivität sind Merkmale jener Vernunft, die man im öffentlichen Bereich geltend machen kann. Der Kantische Diskurs wurde erfolgreich von John Rawls aufgegriffen,10 der sich jedoch in seiner eigenen Theorie nicht nur auf die Unterscheidung des Gebrauchs des Verstandes bezieht, sondern auch auf den Unterschied zwischen öffentlichem und nicht öffentlichem Verstand. Diese Verschiebung eröffnet die Möglichkeit, über die öffentliche Vernunft als Bereich der (von Mal zu Mal) durch Argumente erzielten Einigung sagen zu können, dass sie durch die öffentliche Verwendung der Vernunft erreicht werden kann. Man darf die „öffentliche Vernunft“ nicht als Gegenstück zur „privaten Vernunft“ sehen, sondern als Sammelplatz der Einigung, den es dank der öffentlichen Verwendung des Verstandes gibt und der für alle im Raum stehenden Fragen zur Verfügung steht. Die öffentliche Vernunft ist laut Rawls nicht die Gesamtheit der öffentlichen Debatte – es existieren andere gültige und legitime Argumentationsweisen, die öffentlich genutzt werden können (öffentlich genutzt, weil ich von jedem verstanden werden möchte, auch wenn man nicht immer zu einer Einigung gelangt), so z. B. bei einer Erklärung, Aussage, Vermutung (oder bei hypothetischen Argumenten).11 Die öffentliche Vernunft als Sammelplatz, in dem sich alle wieder erkennen können, ist ein Bereich, der nicht von außen abgegrenzt ist, sondern der seine Grenzen im Inneren findet, genauso wie bei einer Selbsteinschränkung der Vernunft im öffentlichen Gebrauch. Diese Art von Vernunft beinhaltet lediglich die Elemente, die von – nicht nur verständlichen –, sondern auch von akzeptablen Grundsätzen und Idealen stammen, die für alle „vernünftigen und rationalen“ Menschen nachvollziehbar sind. Sie stützt sich auf die Gegenseitigkeit, die den öffentlichen Gebrauch bestätigt und umsetzt. In diesem Sinne kann festgehalten werden, dass hier darauf verzichtet wird, die gesamte Wahrheit „geltend zu machen“: Es geht nicht darum, darauf zu verzichten, sie auszusprechen oder 9 Onora O’Neill 1989, 29, zeigt die enge Verbindung zwischen politischen Kurzaufsätzen und den wesentlichen kritischen Aufsätzen Kants und unterstreicht, wie die Metaphern, die der Kritik der reinen Vernunft dienen, eigentlich politische Metaphern sind. Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. 10 Ich beziehe mich vor allen Dingen auf John Rawls 2002, 165–218. 11 Vgl. ebd, 191–192.
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sie allen verständlich darzulegen, sondern sie „geltend zu machen“, sodass sie Konsequenzen für jeden von uns mit sich bringt.12 Auch Jürgen Habermas,13 der einen großen Beitrag zur Berücksichtigung der Rolle der Religion im Bereich der postsäkularen Gesellschaft leistete, hat trotz Meinungsverschiedenheiten mit Rawls darauf hingewiesen, dass Einwände gegen den amerikanischen Philosophen erhoben werden müssen, da dieser die Intention hatte, Gläubige um eine „Aufspaltung“ zu bitten, die ihr Dasein als Fromme infrage stellt. Seines Erachtens schränkt die Rawlssche Idee den öffentlichen Bereich, der als polyphoner Raum des Dialogs verstanden werden sollte, zu stark ein. Die öffentliche Vernunft nach Rawls soll die Forderung von Vorbehalten der Gläubigen darstellen. Einerseits würde dies zu einer zu raschen Abnahme dieser polyphonen Vielschichtigkeit führen, was wiederum eine Verelendung der Gesellschaft mit sich ziehen würde, andererseits wäre das ein überaus großer Verzicht für die Gläubigen. Aus diesem Grund erklärt Habermas die Nichtdurchführbarkeit der Rawlsschen Proviso. Die verborgene Sorge dieses Einwands bezieht sich einerseits auf die Annahme, dass auch Gläubige sich in dem wiedererkennen könnten, was für alle Bürger gilt, sodass die Gemeinschaft möglicherweise positiv auf die Frage der Legitimität reagieren könnte. Andererseits herrscht Besorgnis in Bezug auf die Möglichkeit der Gesellschaft, sich vom Sinnschöpfungspotential nähren zu können, von den „Ressourcen der Sinnstiftung“,14 die von den Religionen geschützt werden. Habermas ist der Auffassung, dass anerkannt werden muss, dass diese religiösen Beiträge nicht vollständig umsetzbar sind und dass ein unwiderruflich „opaker Kern“ zurückbleibt.15 Daraus folgt einerseits die Enthaltung der Post-Metaphysik in Hinblick auf eine Beurteilung der religiösen Wahrheiten. Andererseits gestaltet sich jedoch die Aufrechterhaltung der Bedingungen über institutionelle Schwellen hinaus als eher schwierig. Die Lösung ist wahrhaftig problematisch. Die positive Anerkennung, die Habermas den religiösen Auffassungen seit Beginn des 21. Jahrhunderts beimisst, ist dabei von großer Bedeutung. Die Kohärenz zum Vernunftmodell, welches Habermas immer wieder unterstreicht, ist jedoch nicht klar ersichtlich. Darüber hinaus muss man sich einerseits fragen, ob die Kritik an der Rawlsschen Konzeption tatsächlich den Kern trifft. Andererseits stellt sich die Frage, ob damit nicht der nährhafte Boden einer stetigen Arbeit über die Beziehung zwischen den politischen und den „umfassenden Werten“ vernachlässigt wurde, sozusagen als innewohnende Unterscheidung und Verbindung aller Auffassungen der Bürger, ungeachtet ihrer gläubigen oder ungläubigen Haltung. 12 Vgl. ebd, 166. 13 Jürgen Habermas 2005, 119–154. Nach Habermas bestimmt die Philosophie die Grenze zwischen Glaube und Wissen, jedoch hält sie sich davon fern, die Wahrheit des Glaubens zu beurteilen. 14 Vgl. Jürgen Habermas 2002, 71. 15 Jürgen Habermas 2005, 150.
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Der kantische „öffentliche Gebrauch der Vernunft“, Habermas „öffentliche Sphäre“ und die Rawlssche „öffentliche Vernunft“ sind Begriffe, die sich nicht überschneiden lassen.16 In der breitgefächerten Dialektik der verschiedenen theoretischen Standpunkte wäre es meines Erachtens von großem Interesse, sei es durch eine innere Überlegung der Religionen oder durch die Philosophie, das Augenmerk auf die Möglichkeit einer Erarbeitung von etwas Gemeinsamen zu richten, das nicht von den Spezifika dieser verschiedenen Auffassungen „absieht“, sondern von ihrem „Inneren“ heraus im eigentlichen Sinne wirkt. Verpflichtungen, Werte, politische Inhalte können dank der öffentlichen Debatte in Betracht gezogen werden und fungieren als gemeinsames Gut und Sammelstätte. Diese Sammelstätte sollte dann als Ort verstanden werden, an dem verschiedene Formen der Institutionalisierung möglich sind, die, im Vergleich zu der gesamten Wahrheit, über die man entschieden hat, dass sie nicht gelten solle, weder instrumentell noch defizitär sind und auch nicht unvollendet. Man kann festhalten, dass sich die Debatte zwischen den Gerechtigkeitstheorien zu Beginn der Neunziger Jahre auf die Alternative zwischen Umverteilung und Anerkennung konzentriert hatte. In den letzten Jahren hat sich das Gewicht im Allgemeinen von den Umverteilungsschemata auf die Beratungs- und Entscheidungsverfahren verschoben. Dies ist gewiss eine vielversprechende Perspektive. Des Weiteren wurden die Überlegungen darüber vertieft, wie ein Abrutschen in einen Nihilismus der Postmoderne verhindert werden kann, bei dem die Vielfalt durch Atomisierung und Zerstörung auf dem Spiel steht und in keinster Weise das politische Handeln bereichert. All diese Auffassungen der Gerechtigkeit gehören jedoch, laut Edward Soja, zu einer intellektuellen Tradition, die durch eine Perspektive der space-blinkered Analyse von sozialen Phänomenen charakterisiert wird. Ohne in die Falle des räumlichen Fetischismus zu laufen (also unter der Annahme, dass die räumlichen Prozesse in jedem Falle bei der Realitätsschaffung im Vergleich zu den sozialen Prozessen vorrangig sind), weist dieser darauf hin, dass „social and spatial relationships are dialectically interactive, interdependent; social relations of production are both space forming and space contingent“.17
16 Die interessante Diskussion zwischen Habermas und Rawls kann hier nicht rekonstruiert werden, vgl. hierzu Journal of Philosphy (92), 1995, 109–180. 17 Edward Soja 1989, 211. Vgl. auch Edward Soja 1996, und ders. 2010. Vielleicht ist der erste, der über die räumliche Gerechtigkeit im Sinne einer nicht nur „sozialen Gerechtigkeit im Raum“ (so wie bei allen Studien, bei denen Gebiete auf verschiedenen Ebenen verglichen werden) Gordon Pirie gewesen, südafrikanischer Geograph, vgl. ders., On Spatial Justice von 1983.
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2. Gerechtigkeitsfragen: Raum als Kontext und Inhalt Soja behauptet, dass das Leben der Menschen immer etwas mit dem zu tun hat, was sozial-räumliche Dialektik genannt werden kann, zusammen mit Prozessen, die gemeinsam temporal, sozial, aber auch räumlich sind. Das Adjektiv „räumlich“ wird hier als ein Begriff aufgefasst, der nicht nur Kontext, sondern auch Inhalt liefert. Es geht also nicht nur darum, bestimmte Situationen wahrzunehmen, die sich an verschiedenen Orten abspielen und somit die Kontextbedingungen hervorheben, die gerade dort gewisse Phänomene begünstigen und bestehende Unterschiede erkenntlich machen. Der Raum wird nicht lediglich als eine grundlegende Komplikation der Analyse oder als bloße Erweiterung angesehen. Vielmehr geht es um die Frage des Inhalts, das heißt, der Raum ist einer der wesentlichen Faktoren, die den Stoff der sozialen Phänomene bilden. Deswegen ist er ein grundlegendes Element für die Schaffung von gerechten und ungerechten Situationen. Es gibt drei wesentliche Grundsätze des critical spatial thinking, die Soja vorgestellt hat.18 Erstens, die Anerkennung der räumlichen Ontologie aller Lebewesen: Alle Menschen erleben im Wesentlichen außer der sozialen und zeitlichen, auch eine räumliche Dimension. Dieser erste Grundsatz ist unseres Erachtens von größter Bedeutung, da er aus der Räumlichkeit einen „internen“ menschlichen Faktor macht und dem gesamten Diskurs eine transzendentale Grundlage verleiht.19 Der zweite Grundsatz Sojas besagt, dass der Raum ein soziales Erzeugnis ist und sich deswegen wandelt; er verändert sich. Demnach soll der Raum weder als eine Art fest definierte kohärente Substanz verstanden werden, noch als ein unbeschriebenes Blatt. Drittens ist die Rede von einer sozial-räumlichen Dialektik, bei der die sozialen Phänomene die räumlichen genauso beeinflussen, wie diese die sozialen beeinflussen. Mit direktem Bezug auf die Überlegung Foucaults über die Schnittstellen zwischen Raum, Wissen und Macht kann man schließen, dass das Gebiet, in dem man 18 Edward Soja 2010, 3: „Critical spatial thinking today hinges around three principles: a) The ontological spatiality of being (we are all spatial as well as social and temporal beings); b) The social production of spatiality (space is socially produced and can therefore be socially changed); c) The socio-spatial dialectic (the spatial shapes the social as much as the social shapes the spatial). Taking the socio-spatial dialectic seriously means that we recognize that the geographies in which we live can have negative as well as positive consequences on practically everything we do. Foucault captured this by showing how the intersection of space, knowledge, and power can be both oppressive and enabling. Building on Foucault, Edward Said states the following: ,Just as none of us are beyond geography, none of us is completely free from the struggle over geography. That struggle is complex and interesting because it is not only about soldiers and cannons but also about ideas, about forms, about images and imaginings.‘“ 19 Unsererseits haben wir versucht, gemäß dieser ontologischen Perspektive über die Reflexionen von Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl und Virgilio Melchiorre (der darüber eine metaphysische Anthropologie erarbeitet hat) einige Überlegungen zu führen. Ich erlaube es mir auf Carla Danani 2013 zu verweisen; hier wird großzügig Bezug auf die Bibliographie genommen.
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wohnt, einen genauso positiven wie auch negativen Einfluss auf jegliche Handlungen haben kann. Es geht somit nicht nur darum, allein über die soziale Gerechtigkeit im Raum zu sprechen, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Es geht vielmehr darum, dass der Raum unmittelbar in die Schaffung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eindringt: Nun ist es erforderlich die entsprechenden Mittel zu finden und zu verstehen. Darüber hinaus sollte man sich auch dessen bewusst sein, wie der Raum seinerseits das Ergebnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beeinflusst. Soja greift die Überlegungen von Henry Lefebvre auf,20 wonach man sieben Dimensionen der Räumlichkeit darstellen und begegnen kann. Zunächst gibt es die physische Dimension der Interaktionen und der Übertragungen, die im Raum und durch den Raum stattfinden: Das ist das, was die materielle Erfahrung des Raums, also den „wahrgenommenen Raum“ ausmacht. Dann gibt es die darstellende Dimension, sie beinhaltet alle Symbole und Bedeutungen, die es den materiellen Praktiken ermöglicht, erzählt, diskutiert und verstanden zu werden (sowohl im Alltag, als auch unter Fachleuten): Dies ist die Raumrepräsentation, also der „konzipierte Raum“. Von Bedeutung ist darüber hinaus auch die Dimension der Vorstellung einer geistigen Erfindungen, die den räumlichen Prozessen neue Möglichkeiten eröffnet: Sie ist die Dimension der Repräsentationsräume, also der „gelebte Raum“. Aus dieser Triade soll keine Typologie hervorgehen, die drei mögliche Konfigurationen des Raums darbietet. Es handelt sich vielmehr um drei Aspekte, die auf dialektische Weise miteinander verbunden werden,21 die eine Beziehung zueinander haben und die auch größter Spannung ausgesetzt sein können, wenn man auf unterschiedlichste Art in die Schaffung des Raumes, je nach geschichtlicher Epoche und unterschiedlichen Gesellschaftsmerkmalen, interveniert. Diese Elemente beugen sich anderen eher konventionellen Aspekten, die man anhand von Zugänglichkeit und Entfernung (die Entfernung ist gleichzeitig Hindernis und Verteidigung in Bezug auf menschliche Interaktion), Aneignung und Verwendung, Beherrschung und schließlich Schaffung des Raumes bestimmen kann. 20 Vgl. Henry Lefebvre, 1974. Auf Deutsch haben wir nur eine partielle Übersetzung gefunden in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.) 2006, 330–342. 21 Vgl. Henry Lefebvre 1974; für eine Veranschaulichung kann man sich vorstellen, dass im Mittelalter die Räumlichkeit sowohl ein Netz von Pfaden war zwischen den bäuerlichen Gemeinden, den Klöstern und den Schlössen als auch die Straßen umfasste, die die Städte miteinander verbanden, die breiten Pilgerwege und die der Kreuzzüge. Für die Darstellungen des Raumes dienten die Auffassungen des Aristoteles und der Ptolemäer, die vom Christentum modifiziert wurden: Die Welt, die unterirdische Welt und der helle von Gott Vater bewohnte Kosmos, ein fixer Erdball in einem unendlichen Raum. Die Repräsentationsräume stellten die Ortskirche, den Friedhof, das Gemeindehaus und die Felder oder den Ortsplatz mit dazugehörigem Turm in den Mittelpunkt. Es wäre interessant die Bemühungen genauer zu betrachten, die Harvey in Bezug auf die Triade von Lefebvre unternommen hat, um den Times Square zu verstehen und die, die Edward Soja unternommen hat, um Los Angeles zu begreifen. Vgl. Christian Schmid 2005.
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Für eine Rekonstruktion des theoretischen Rahmens, der „räumliche Gerechtigkeit“ genannt wird, sollte man auch die Arbeit von David Harvey in Betracht ziehen. Anders als Soja hat dieser eine Perspektive des Raumes herausgearbeitet, die den Fokus auf soziale Phänomene legt. Zunächst hatte er eine Dreier-Typologie vorgeschlagen: Der absolute Raum, also der Raum von Newton und Descartes, der im Allgemeinen als unveränderlich und vorbestehend dargestellt wird, der relative Raum, mit dem der Name Einsteins und die nichteuklidische Geometrie in Verbindung gebracht werden und der relationale Raum, bei dem Leibnitz eine große Rolle spielt. Die Bedeutung dieser hermeneutischen Schlüssel kann vereinfacht dargestellt werden, indem man davon ausgeht, dass die Darstellung der menschlichen Mobilität mithilfe des Transportnetzes (relativer Raum) etwas ganz anderes ist als die Darstellung durch metrische Termini (absoluter Raum) oder als das, was ringsherum geschieht (relationaler Raum). Um zu einem eher „operativen“ Konzept22 zu gelangen, verknüpft Harvey mit dieser Triade die Trialektik von Lefebvre des wahrgenommenen, erdachten und gelebten Raumes, indem er auch die Problematik der politischen Macht einführt, die den Raum herstellt und wiederherstellt und dabei Wahrnehmung, Nutzung und Verwendung beeinflusst. Harvey erkennt die Schwierigkeit der methodologischen Übertragung und der Sorge um die räumliche Gerechtigkeit an. Es ist interessant, seinen Analysevorschlag von Ground Zero wiederaufzugreifen.23 Dieser Raum ist vor allem ein physischer Raum. Daher haben Architekten und Ingenieure einen Wiederaufbau der ehemaligen Zwillingstürme geplant. Es handelt sich um einen Raum, für den sich Investoren eine Rentabilität wünschen, die mit der Zeit bleibt. Um das zu erreichen, muss dieser Raum mit anderen strategischen Orten verbunden werden, wie z. B. Flughäfen oder einem funktionierenden Transportnetz. Bei Ground Zero spielen selbstverständlich auch ethische und emotionale Faktoren eine Rolle, sowie Überlegungen nationaler und internationaler politischer Ordnung: Die Gefühle der Familien der Opfer und der Ausdruck des Nationalgefühls sowie die Verpflichtung an den Terrorismus zu erinnern und auf ihn zu reagieren, machen aus diesem Ort einen stark relationalen Raum. Um Ground Zero verstehen zu können, muss man all diese Dimensionen berücksichtigen ohne zu vergessen, dass er auch ein physischer Ort ist, in dessen Mitte sich die anderen Dimensionen beim Wiederaufbau einfügen werden. An Orten äußern, festigen und zeigen sich soziale Beziehungen. Der Ort selbst begünstigt und nährt dabei die Konfiguration derselben Beziehungen, die vielseitig und unterschiedlich sind und je nach Heterogenität der Macht ausgelebt werden. Für eine umfassende Darstellung sollten wir auch an die Überlegungen von Doreen Massey erinnern. Diese hat die Vielschichtigkeit und die Dynamik der 22 Harvey unterstreicht, hier einen „spekulativen Sprung“ zu machen, einen „speculative leap“, David Harvey 2006, 152. 23 Vgl. David Harvey 2006, 125–126, 138–139.
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verschiedenen Aspekte der Räumlichkeit ins Licht gerückt. Dabei wurde besonders berücksichtigt, dass es immer eine Verbindung zur Zeit gibt, dass das Globale mit dem Lokalen in Zusammenhang steht und dass neue Fragestellungen aufgrund des Phänomens der Migration aufkommen. Ihres Erachtens kann eine Sichtweise als „räumlich“ betrachtet werden, wenn der Aspekt der Gleichzeitigkeit der sozialen Beziehungen wahrgenommen wird: Eine Gleichzeitigkeit, die nicht als statisch vernommen werden kann und bei der es Erweiterung und Konfiguration gibt. Der Raum darf nicht als „flach“ angesehen werden, weil die sozialen Beziehungen, die sich in ihm abspielen, eine dynamische Natur aufweisen. Genau aus diesem Grund ist der Raum von Natur aus reich an Macht und Symbolik und hat ein komplexes Beziehungsnetz aus Über- und Unterordnung, Solidarität und Zusammenarbeit.24 Der Raum muss folglich ernst genommen werden: Er ist stets materiell und metaphorisch, physisch und imaginär, er ist ein unvermeidbares Medium, er hat grundlegende Bedeutung und er ist in seinen Formen ein Werk der menschlichen Lebewesen in der Welt. Im und durch den Raum leben und bringen Mensch und Gesellschaft sich selbst und ihre Beziehungen zum Ausdruck, sie üben im Raum, nennen und festigen Gründe, ihre Glaubensansichten und Überzeugungen. Das gilt ebenso für die Religion: Der Raum darf nicht lediglich als Sammelbecken religiöser Praktiken angesehen werden oder als Hintergrund, vor dem sich religiöse Phänomene hervorheben. Die Religion ist auch ein sozialer Faktor, sie existiert und zeigt sich durch den Raum, sie spielt bei der Raumstruktur eine eigene, wesentliche Rolle. Es ist wichtig, dass der Diskurs rund um das Thema Religion im öffentlichen Raum sich dieser Dimension gegenüber „unverblümt“ zeigt: Diese Sichtweise eröffnet nämlich die Möglichkeit, eine Vielzahl relevanter Aspekte zu erkennen, denen man normalerweise blind gegenüber stehen würde. Bei dieser Überlegung muss das Augenmerk sowohl auf die Faktoren gerichtet werden, die eine „Räumlichkeit der Ungerechtigkeit“ darstellen, also eine Distribution der Ungerechtigkeit im Raum, als auch auf die Phänomene und Gründe, die dafür zuständig sind, dass man von einer „Ungerechtigkeit der Räumlichkeit“ reden muss, wenn erkannt wird, dass die bestehenden Strukturen in der Lage sind „mittels Raum“ Ungerechtigkeit zu schaffen und wieder neu zu erschaffen. Dies ist die Anstrengung einer theoretischen Ausarbeitung wert, die mir noch immer und vor allen Dingen eine große Aufgabe erscheint. Lefebvre, Soja und Massey, postmoderne Theoretiker der Räumlichkeit, interessieren sich nicht für das Thema Religion und so findet dieses in ihren Überlegungen kaum Anklang. Kim Knott ist jedoch eine relevante Studie der Räumlichkeit religiöser Phänomene zu verdanken.25 Sie knüpft an Massey an und versucht deren Kategorien der Konfiguration, Gleichzeitigkeit, Erweite24 Doreen Massey 1992, 155–156. 25 Kim Knott 2005, 20–26, auch mit Bezug auf Foucault und de Certeau.
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rung und Macht anzuwenden. In besonderem Maße stellt Knott heraus, dass z. B. die Räume der Religion dynamisch-synchron sind, weil sie immer Schnittstellen aufweisen, die parallel zu anderen Räumen koexistieren und sie aus einer inneren Spannung von vielen Orten und Beziehungen bestehen, die reell sind, die man sich vorstellen kann und die in einen bestimmten Kontext gebracht werden können. Sie schließen darüber hinaus die Vergangenheit mit ein, in der eine Vielschichtigkeit erkannt werden kann.26 Drittens muss es sich immer um Orte handeln, die ein- und ausschließen, Orte, an denen Macht ausgeübt wird und von denen Macht ausgeht: Hierbei ist jedoch nicht nur die hegemoniale, sondern auch die Macht der Ironie, des Widerstandes und der Störung gemeint.
3. Räumlichkeit der Religion? Als erstes muss das komplexe und innewohnende Band zwischen Räumlichkeit und Religion hervorgehoben werden, um der allgemeinen Vorstellung der Gerechtigkeit entkommen zu können und einen Diskurs anzustoßen, der reich an phänomenologischen Aspekten, kritischen Beiträgen und normierenden Perspektiven ist. Laut Kim Knott, die diesen Weg eingeschlagen hat, kann man versuchen, die Verbindung zwischen Religion und Räumlichkeit durch den hermeneutischen Schlüssel der Triade von Lefebvre aufzuspüren. Zunächst sollte man demnach den religiösen Raum als einen Raum betrachten, der zur Ausübung bestimmter Praktiken genutzt wird. Man kann im Allgemeinen von Kultstätten sprechen: Das sind nicht nur Orte mit einer eigenen Tradition oder Gemeinde, die regelmäßig Riten und Liturgiefeiern abhalten, sondern auch Orte, die eher formlos zu solchen Stätten werden, wie Ädikula und Rückzugsorte zum Beten, z. B. in einer Flughafenkappelle. Im Mittelpunkt steht das Ritual, wie Knott unterstreicht: „ritual takes place, and makes place in this sense“.27 Andererseits gibt es Orte, die mit der religiösen Dimension verbunden sind, jedoch nicht als Kultstätten bestimmt sind, z. B. Lehr- und Betreuungsräume, Räume des kulturellen Austauschs und Freizeiträume. Das religiöse Leben als Teil der sozialen Ordnung und der kulturellen Form ist ebenso ein räumliches Handeln. Es ist die Bedeutungszuweisung, die diesem Handeln seinen „religiösen“ Charakter verleiht. Im Hinblick auf das Mittelalter in Europa wird man sich bewusst, welche Relevanz der Religion in Bezug auf den „mentalen Raum“ zugeschrieben wurde. Die materiellen Überreste dieser Denkweise sind die mittelalterlichen 26 Vgl. Michael de Certeau 1988, 350–351. Der Unterschied, der jeden Raum definiert, besteht nicht in einer Nebeneinanderstellung, sondern nimmt die Form aufeinander lagernder Schichten an. Das heißt, dass die Oberfläche dieses Raumes wie eine Collage aussieht. Doch in Wirklichkeit handelt es sich um die Allgegenwart der Dicke und Vielschichtigkeit, d. h. eine Sedimentation heterogener Schichten. 27 Kim Knott 2005, 43.
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Kathedralen und Kirchen, die noch immer unsere Städte prägen, auch wenn einige Charakterzüge eher hervorgehoben wurden als andere. Höhe und Stil der neugotischen Bauwerke standen beispielsweise bis zum 19. Jahrhundert im Vordergrund und wurden bei dem Bau industrieller, gewerblicher und öffentlicher Gebäude berücksichtigt, die aus dem Erfolg des Kapitalismus im Laufe der Industrialisierung hervorgegangen sind. Diese Elemente wurden dann von Architekten im 20. Jahrhundert gemieden, gerade weil man einen Raum schaffen wollte der abstrakt, säkular und funktionell sein sollte. Da die Spuren der Vergangenheit nicht eliminiert werden konnten, begann man, um sie herum und in deren Mitte zu bauen; dabei gab es einen regen Wettbewerb um Größe, Höhe, Wirkung und Ansehen der Bauwerke.28 Doch der abstrakte und oft widersprüchliche Raum der Moderne wurde dann von der Heterogenität, der Verschiedenheit und der Bricolage in Frage gestellt. Gewissermaßen gelangt die Religion auf diese Weise unmittelbar in den Fokus: Zwischen den „Unterschieden“, die es verlangen, anerkannt zu werden und die weder unterdrückt noch isoliert werden wollen. Somit ist es dazu gekommen, dass Gebäude, die früher zu nicht religiösen Zwecken genutzt wurden, nicht nur für den Kult verwendet wurden, sondern auch dass deren Verwendung zu diesem Zweck normativ festgelegt wurde. Solche Forderungen für neue Räume kamen sowohl aus Europa als auch aus Nordamerika: von Juden, Moslems, Hindus und Sikhs. Simmel würde hier von „Rotationszentren“ einer „über-räumlichen“ Ordnung sprechen.29 Gewiss drückt die offizielle Anerkennung eine Form des Rechtsschutzes aus sowie die Forderung bzw. Notwendigkeit einer entsprechenden Garantie, jedoch auch das Verständnis einer nicht auf eine rein persönliche und private Sphäre reduzierbaren Religion. Im Inneren einer Religion oder einer Gemeinschaft hat die räumliche Ausprägung und ihre Entfaltung im räumlichen Handeln eine wesentliche Bedeutung, um die herrschende Ordnung aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus existieren stets Konflikte. Es ist beispielsweise interessant, die Forderung der Frauen nach anerkannten Räumen innerhalb der Religion genauer zu betrachten. In den Bereichen, in denen Frauen eine zunehmende Rolle spielen, hat sich auch der physische Raum des Kultes, der Liturgie, des Rituals entsprechend verändert und angepasst. Vorstellungen, Darstellungen und Werte prägen den Raum und führen eine Morphologie herbei. Knott hat erkannt, dass sich Lefebvre diesem Problem nicht gestellt hat. Deswegen wäre es von Interesse, die Modi herauszufinden, durch die eine Einbettung (embeddedness) einer theologischen, doktrinistischen, philoso28 Ebd. 46. Knott teilt die Überzeugung von Lefebvre, dass die Darstellung des Raums in jedem Fall chauvinistisch-phallozentrisch bleibt: Am Ende der 1960er Jahre zählt man allein in London ca. vierhundert Turm-Wohnblöcke; siehe Henry Lefebvre 1991, 261–262, 286–287. Es sei an dieser Stelle auch verwiesen auf die Überlegung Elizabeth Groszs in Bezug auf die Schaffung eines männlichen Raums und die damit einhergehende Eliminierung der Frau, des weiblichen und mütterlichen Elements; vgl. Elizabeth Grosz 1995, 47 ff. 29 Georg Simmel 1908.
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phischen und kosmologischen Konfiguration (die auch immer ein/e soziale, geschlechterspezifische Hierarchie, Ritual, Ethik und Lebensstil ist) entsteht und als wesentlicher Faktor für die Erhaltung einer bestimmten, festgelegten Ordnung agiert. Der Raum wird schließlich nicht nur wahrgenommen (perÅu) und konzipiert (conÅu), sondern auch durch Symbole und Bilder gelebt (v8cu). Die „Bewohner“ nutzen den physischen Raum, indem sie symbolisch dessen Gegenstände verwenden30 ; und sie beherrschen und modifizieren ihn durch ihre Vorstellungen, sodass er auch immer ein „Repräsentationsraum“ ist. Es geht um Orte, an denen man handelt und an denen sich Leidenschaft abspielt und dies ist im Wesentlichen immer kostbar, aber auch unbeständig und dynamisch.31 Somit erlangt der Raum ebenso einen gefühlsbetonten Mittelpunkt. Dieser kann das Ego sein, das Bett, das Zimmer, die Unterkunft, das Haus, vielleicht der Ortsplatz, die Kirche oder der Friedhof. Für ein tiefergehenderes Verständnis muss man die Verbindungen zwischen dem Praktizieren, der Ideologien und der Symbolisierungen berücksichtigen, jedoch auch die Geschichte mit den Darstellungen, Verbindungen, Verzerrungen, Verschiebungen und Interferenzen zwischen vielen Dimensionen und sozialen Räumen, die sich durchdringen und überlappen. Angesichts dieser Komplexität muss anerkannt werden, dass auch Religionen in ihrer Ausübung als Raum fungieren und Raum schaffen. Man muss eine Art doppelte Dynamik hier in Betracht ziehen: Den Raum der Ausübung, d. h. den gelebten und erdachten Raum und die Religionen, die in ihm ausgeübt, gelebt und erdacht werden und sich gegenseitig beeinflussen.32 Denn Religionen sind „raumgestaltende“ Kräfte. Unabhängig vom soziokulturellen Bereich, in dem Glaube und religiöse Ausübung im historischen Sinne ihre Gestalt einnehmen, herrscht eher ein räumliches Gewirr. Die religiöse Praxis ist ein Faktor, der Räume schafft, die wiederum ihrerseits die religiöse Erfahrung verändern. Bedeutende Modi der Gestaltannahme dieses Gewirrs sind die Orte, die sich von anderen im alltäglichen, sozialen Leben unterscheiden, gerade weil sie entsprechendes religiöses Handeln vorsehen; Orte, die durch spezifische Indikatoren wie Statuen oder Bäume, Wände oder Steine gekennzeichnet werden und deren symbolischer Wert themenorientiert ist. Die Bedeutung dieser Indikatoren wird durch Erzählungen vermittelt, die unter anderem, auf explizite und implizite Weise, Verhaltensregeln implizieren; das können Untersagungen, Verbote oder auch Gebote sein, die sich oft auf die räumliche Orientierung beziehen: Hinaufgehen, hinuntersteigen, sich beugen und hinknien, Platz nehmen oder sich bewegen. 30 Henry Lefebvre 1974, 42. 31 Ebd., 45. 32 Interessant ist im diesem Kontext der Band von Sigurd Bergmann 2010, der sich „auf die ökologische Spiritualität, und dabei die Vorstellung von der Heiligkeit des einen Weltkörpers und Weltraum genannt Gaia“ konzentriert, 53.
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Das ist die „Räumlichkeit der Religion“. Religionen schaffen Raum: Das ist eine Art der Formannahme sowie der Formvergabe der religiösen Erfahrung. Es geht nicht nur darum, Orte zu finden, wo Menschen denselben Glauben teilen können. Es geht auch darum, die religiöse Erfahrung selbst darzustellen, wobei vielerlei Faktoren eine Rolle spielen: Das kollektive Gedächtnis einer gläubigen Gemeinde, die sozialen Wertvorstellungen, die zu einer bestimmten geschichtlichen Zeit geteilt wurden, die Umwelt, in der geschieht, der besondere Stil der Subjekte, die Selbstdarstellung der Machtordnung. All dies verknüpft sich mit dem Gewebe des Glaubens. Darüber hinaus ist die „Räumlichkeit der Religion“ eine Bedingungsmöglichkeit dafür, dass das menschliche Wesen, im Sinne eines „fleischgewordenen Bewusstseins“, religiöse Erfahrung machen kann. Die Überlegungen zur Gerechtigkeitstheorie, die dazu dienen, die Relevanz der Religionen in ein positives Licht zu rücken, haben die nicht extrinsische Aufgabe, die Aspekte der „räumlichen Gerechtigkeit“ zu berücksichtigen. Andererseits erscheint es interessant, die Verbindung zwischen Religion und Räumlichkeit auch von einer anderen Perspektive zu betrachten: Dann nämlich, wenn man den Raum nicht nur als Kontext für die religiöse Ausübung, sondern auch als „erzeugenden“ Faktor der Religion selbst ansieht. Gerade eine gewisse räumliche Erfahrung kann dem menschlichen Wesen Zugang zu den Elementen eines Raumes eröffnen, die sich im Raum selbst nicht lösen, ihm überhöht erscheinen und insofern nicht räumlich eingrenzbar sind.33
4. Religiosität des Raumes? Mircea Eliade hebt hervor, dass für den religiösen Menschen […] der Raum nicht homogen [ist]; er weist Brüche und Risse auf, er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. ,Komm 33 Vgl. Bernhard Waldenfels 1997, 55–61: „Ähnlich wie Merleau-Ponty im Hinblick auf Paul Klee von einer ,indirekten Malerei‘ spricht, die auf paradoxe Weise sichtbar macht, was unsichtbar ist und nie selbst sichtbar wird, könnte man auch von einer ,indirekten Architektur‘ sprechen, die Ungebautes und Unbaubares mit entstehen läßt. Bilder sind nicht einfach im Raum wie etwas, das man an einer bestimmten Stelle sieht, vielmehr bilden sie das Medium, in dem und demgemäß wir Dinge im Raum und diesen Raum selbst zu Gesicht bekommen. Ähnlich findet der architektonische Bau nicht einfach seinen Platz in einem anderen umfassenden Raum wie eine Teilmenge sich einer Gesamtmenge einfügt; denn das Gebäude, das künstlerisch erarbeitet wird, verändert den Raum und bildet neue Räume. Räumlichkeit zeigt sich als solche nur, wenn der Topik ein Moment der Heterotopie anhaftet, ein Anderswo, das die Kehrseite des Hierseins bildet. Eine Architektur, die nicht in der Normalität zur Ruhe kommt, hat Teil an einer Art von art brut, einer Art von ,Rohbau‘, der innerhalb der Funktionalität jene Momente akzentuiert, die in der Funktionalität nicht aufgehen. Funktionen, die in dieser Weise über sich selbst hinausweisen, sind nicht angewiesen auf eine Kunst am Bau, die von außen hinzutritt.“ Vgl. auch Carla Danani 2014, 213–220.
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nicht näher‘ – befahl der Herr Mose – zieh deine Sandalen aus, denn du stehst auf heiligem Boden!‘ (Exodus, 3,5). Es gibt also einen heiligen Raum, der eine eigene Kraft und eine bestimmte Bedeutung hat und es gibt unheilige Räume, die keine Struktur und Beschaffenheit aufweisen, sie sind, in einem Wort: gestaltlos. Für den religiösen Menschen ist diese Nicht-Homogenität des Raumes praktisch ein Gegensatz zwischen dem heiligen Raum, dem einzig wahren existierenden Raum und der restlichen gestaltlosen Fläche, der ihn umgibt.34
Eliade fährt fort und zeigt, wie die Kundgebung des Heiligen ein „Zentrum“ und eine „Tür“ bildet, so dass die ontologische Grundannahme der Welt und folglich die Orientierung des Menschen in ihr sowie die Kommunikation mit dem Göttlichen ermöglicht wird. Dabei geht es insbesondere um Heiligtümer im weiteren Sinne, bei denen die Beziehung zwischen dem Ort und dem Heiligen im Wesentlichen genetisch bestimmt ist. Über ihre Bandbreite und Nutzung hinaus, die sowohl auf nationaler als auch universeller Ebene ablaufen kann, besteht die Eigenheit der Dynamik der Heiligtümer bei den verschiedenen religiösen Formen gerade in der räumlichen Verwurzelung einer unsichtbaren Epiphanie.35 Es wurde darauf hingewiesen, dass z. B. das Christentum bis zu dreihundert Jahre nach seiner Entstehung keine Heiligtümer hatte und dass Pilgerreisen zu heiligen Stätten erst im vierten Jahrhundert entstanden sind, zu einem Zeitpunkt als sich neue Denkweisen herausbildeten, die Kaiser Konstantin maßgeblich geprägt hat.36 Vor Konstantins Zeit gab es keine Berichte darüber, dass Christen den Orten, an denen sie sich zu Beginn gelegentlich zum Beten versammelt hatten, eine heilige Wertung zusprachen. Das gilt auch für die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts, in dem Gebäude entstanden, die mit größerer Regelmäßigkeit für liturgische Feiern genutzt wurden. Die Art und Weise und der Sinn, mit dem wir beabsichtigen von einer „Religiosität des Raumes“ zu sprechen, basiert nicht auf der Annahme einer vorhandenen hierophanischen Identität. Es soll vielmehr versucht werden, die Voraussetzungen für eine Sinneröffnung zu verstehen, wodurch diese Bedeutungsfestlegung entstanden ist und weshalb man heute von heiligen Stätten spricht.37 Es ist nicht notwendig, die „ontologische“ Vermutung zu 34 35 36 37
Mircea Eliade 1998, orig. 1957. Vgl. unter den vielen Texten: Sofia Boesch Gajano und Lucetta Scaraffia (Hg.) 1990. Robert Markus 1995, 173–180, 174. Im Deutschen und Englischen existiert nur ein Begriff, um das Heilige und Göttliche zu bestimmen: „das Heilige“ bzw. „the Holy“. Die romanischen Sprachen können hingegen das sacer vom sanctus unterscheiden: Mit dem Begriff sacer wird die Erfahrung der Heiligkeit im Allgemeinen beschrieben, auch des Magischen; mit dem Begriff sanctus bezieht man sich auf eine „authentische“ Erfahrung des transzendentalen Göttlichen. Nach der Zeit der Entheiligung der Religion mit stark sozialisierenden Ergebnissen hat die Theologie das Heilige neu reflektieren müssen, denken wir nur an P.A. Sequeri, der schrieb: „Nur aufgrund dieser Vermittlung des Gefühls des Heiligen, welches unmittelbar als unüberwindbarer Unterschied und unauflösbare Einheit verstanden/gelebt wird, nimmt das Bewusstsein das k8rygma auf, die Ankündigung, die
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unterstützen, dass das Heilige des Raumes an sich zur Errichtung eines Heiligtums führt, um herauszufinden, wie diese heiligen Räume zu verschiedenen Epochen und in verschiedenen Gebieten bestimmte Orte (auch Gegenstände oder Personen) zugewiesen wurden – eine Zugehörigkeit und Verbindung, die unabhängig von ihrem Nutzen für die Ausübung bestimmter religiösen Praktiken mit dem Unsichtbaren verknüpft ist. Auch das sich Versammeln, das Beten und auf ein bestimmtes Ereignis verweisen und eine Erinnerung aufleben lassen sind zugewiesene Handlungsformen: Sie finden immer irgendwo statt und entsprechen einer bestimmten Anordnung im Raum, obgleich nicht auf ausschließliche Weise. Thomas Erne hat beobachtet, dass sich die Räumlichkeit unter zwei Aspekten auf die Religionen beziehen kann: Zum einen als beeinflusster Raum und zum anderen als beeinflussender Raum.38 Um diese zwei Aspekte erklären zu können, kann die Unterscheidung von Augustinus in De Trinitate (vgl. Kap. 13, 2, 5) von Nutzen sein, wo zum ersten Mal das Aufbrechen zweier verschiedener Aspekte des Glaubens erwähnt wird, weswegen man von fides quae und fides qua sprechen kann. Augustinus schrieb: Eine Sache ist das, was man glaubt, eine andere Sache ist der Glaube, mit dem man glaubt (aliud sunt ea quae creduntur, aliud fides qua creduntur). […] Als Christus sagte: O Frau, groß ist dein Glaube und einem anderen sagte: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? drückte er damit aus, dass jeder von uns einen eigenen Glauben besitzt. Man sagt, dass diejenigen, die an dasselbe glauben einen einzigen Glauben haben, genauso sagt man, dass diejenigen, die dieselben Dinge besitzen möchten, einen einzigen Willen haben.
Beim Verflechten der beiden Perspektiven in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Inhalt (fides quae) und Akt (fides qua) des Glaubens und den zwei Dimensionen der Rezeptivität sowie der performativen Kraft der Räumlichkeit, müssen vier Betrachtungsweisen berücksichtigt werden. Einerseits kann man den heiligen Ort als Erfahrung, Anwendung eines Glaubensakts, eines religiösen Sinnes, der Ausdruck und Form verleiht, ansehen. Er existiert und kann anerkannt werden, sodass er dazu in der Lage ist, Orte zu beeinflussen. Die Art und Weise der Gestaltung selbst, ist eng mit dem Glaubensinhalt verknüpft, der bestimmte Raumformen mit sich bringt. Andererseits kann man auch eine beeinflussende Wirkung des Ortes beobachten, die in der Lage ist, als einziger Modus die religiöse Erfahrung zu eröffnen: Die bestimmten notitia Dei als Bewusstsein einer anderen Unterscheidung als der, die dem Wesen inne ist; es ist wie das Erkennen eines befragenden Andersseins, das dem eigenen Gewissen unbeugsam ist.“ Vgl. P.A. Sequeri 1996, 506. 38 Thomas Erne/Peter Schüz (Hg.) 2010, 11. Erne bezieht sich hier auf Heidegger: „Bei Martin Heidegger findet sich offenbar beides. Seine ,Kehre‘ bewegt sich von der bedingten Räumlichkeit in Sein und Zeit – das In-der-Welt-Sein erschliesst den Raum – zum bedingenden Raum im Ursprung des Kunstwerks“. Ernes Überlegung wird mit der genauen Betrachtung von Luteros Position fortgeführt, vgl. 187.
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Formen und Elemente, die den Ort prägen, erzählen von und verweisen auf Glaubensinhalte (fides quae), während seine eigene Existenz mit ihren Proportionen, im Spiel um Voll und Leer, um Höhen und Niveau, um Verteilung der Volumina und der Gegenstände, die rituale Performance in Bewegung bringen kann, genauso wie die Intention einer Spaltung, um Zugang zu einer „anderen“ Erfahrung zu erhalten. Man kann somit von einer räumlichen Erfahrung als wesentlich für die Religion sprechen. Man kann sich fragen, ob die Erfahrung eines bestimmten Ortes religiöse Kategorien benötigt, da religiöse Dimensionen in der räumlichen Darstellung aufgenommen werden können, selbst wenn diese religiösen Kategorien ihrerseits nicht nur gekannt, sondern auch gelebt werden sollten, um die Religiosität im Raum aufnehmen zu können. Da der Raum nicht nur als Kontext fungiert, kann man sich fragen, ob diese Zugehörigkeit ihre Wurzeln nicht noch tiefer schlägt: Kann man von einer „Religiosität des Raums“ sprechen? Wie bereits erwähnt, kann der geprägte heilige Raum eine Performance aktivieren (eine Art räumliche Performanz). Erne betont dies indem er sagt, dass heilige Stätten nicht nur eine besondere Atmosphäre [haben], sie sind auch ein Movens, das mich in einen Rhythmus bringt, in die Abfolge von Gängen, Szenen, Sichtachsen, Sitzordnungen, Zonen der Heiligkeit oder Dunkelheit etc., die das Bauwerk meiner Bewegung anbietet. Es ist ein Rhythmus, mit dem mich die Kirche bewegt, aber nur sofern ich mich in der Kirche bewege.39
Was diese Performance ermöglicht, ist das Geheimnis der Räumlichkeit: Einen „Raum schaffen“, der von dem bewohnt wird, was nicht enthalten werden kann. Romano Guardini war von einer Auffassung der religiösen Erfahrung ausgegangen, indem er sie als ein sich in der Realität befinden, ein gerührt und aufgewühlt werden von einer bestimmten Realität,40 beschrieb. Um diese Realität genauer zu beschreiben, verwendete er Rudolf Ottos Terminologie, das „Heilige“, das „Numinose“ und „das ganz Andere“. Rudolf Otto legte in seinem Werk Das Heilige dar, dass er das Heilige als eine Erfahrung eines ganz Anderen sehe, dessen Gegenwart wir aufgrund erstarrender Staunen weichen:41 Es strahlt Macht aus und schafft im Menschen gegensätzliche Gefühle von Freude und Schrecken, es ist das Numinose, Entsetzliche, Bezaubernde. Bei ihrer Entstehung ist die religiöse Erfahrung „irrational“, das bedeutet nicht, dass es an Rationalem mangelt, sondern dass der Mensch mit etwas konfrontiert wird, was sein Fassungsvermögen sprengt. Das Merkmal des Kenners der Religion ist nicht das Wissen, sondern das „Gefühl“, welches nicht allzu sehr das emotionale Gemüt des Menschen darstellt, sondern eine 39 Ebd., 191. 40 Romano Guardini 1990. 41 Rudolf Otto 1991, 33.
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Erfahrung bzw. das In-Kontakt-treten mit einer Realität.42 Das religiöse Phänomen präsentiert sich in einer prä-kategorischen, ante-prädikativen Form, also vor jeglicher Interpretation im rationalen und moralischen Sinne. Romano Guardini sagte, dass das Heilige elementar ist und grundlegend zu der Realität des Menschen gehört. Unter dem „Heiligen“ verstehen wir also das, worauf im wohlgeschaffenen Menschen das Gefühl antwortet, sich neigen zu müssen – in einer Weise neigen, wie er es vor nichts Nur-Irdischem könnte. Es ist etwas Geheimnisvolles und doch Bestimmtes, Fremdes und doch tief Vertrautes. Es wird am Leuchten der Sterne, an der Weite des Himmels deutlich und ist doch anders als Weltkörper und Raum; tritt am Weltsein hervor und kommt doch anderswoher, als aus der Welt.
Aus den mondänen Bedürfnissen heraus, handelt es sich um eine Erfahrung, die das Merkmal aufweist, von Gegenständen abzulenken. Sie stammt nicht aus dem unmittelbaren Kontext des Geborenwerdens, des Aufkommens oder des Verschwindens der physischen, biologischen oder physiologischen Zwecke, wie es sonst bei menschlichen Eigenschaften der Fall ist; die Qualität, von der wir reden, hat das Besondere, dass sie von den Dingen wegruft. Sie kommt nicht aus dem unmittelbaren Zusammenhang des Entstehens und Vergehens der physikalischen, biologischen, psychologischen Wirklichkeit, wie die Eigenschaften des Seins sonst, sondern anderswoher – und ruft anderswohin: dorthin, woher sie kommt.43
Es ist die Erfahrung einer semantischen Impertinenz. Es scheint, als könne man sagen, dass der Sinn einer Aussage eines Scheiterns der wörtlichen Interpretation der Aussage selbst entspringt.44 Der heilige Ort drückt – und eröffnet – auf vortreffliche Weise eine Intelligenz dessen aus, was fehlt, aber als Voraussetzung des Möglichen selbst, wahrgenommen werden soll.45 Er verwendet dabei die Dynamik des Symbols, weswegen der Übergang von der ersten zur zweiten Bedeutung keine Zerstörung des Zeichens impliziert: ganz im Gegenteil, der Übergang ist nur durch dessen Bestehen möglich. In diesem Sinne, kann man sagen, dass man auf die religiöse Erfahrung als Auslegung der Erfahrung des Heiligen zurückgreift. Dies passiert dank einer Spaltung, eines Erschreckens der Ordnung, die das Geheimnis enthüllen, aber nicht zerstören. Auf der Grundlage einer transfunktionalen Funktion explodiert der Unterschied und es eröffnen sich neue Resignifikationen der tägli42 In seinem anthropologischen Werk definiert Guardini die Erkenntnis als eine Beziehung, durch die der Mensch die Realität besitzt, die ihm begegnet, ohne dass er sie zu erfassen in der Lage wäre: „quel rapporto in cui il soggetto possiede la realt/ che incontra, vale a dire l’oggetto, senza afferrarla“. Vgl. Romano Guardini 2009, 104. 43 Romano Guardini 1994 (3), 308. 44 Paul Ricoeur 1975, 289. Dt. Übers 1986. 45 Roberto Tagliaferri 2011, 79.
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chen, gewöhnlichen, profanen Erfahrung.46 Das Heilige erscheint in jeder Religion wie ein Lockruf, es eliminiert nicht den Unterschied und belässt Gott in seiner unabsetzbaren Souveränität, die eine wahrhaftige endzeitige Reserve ist, weil sie davon abhält, unzulässige Worte im Namen Gottes zu sprechen – denn man soll Gott Gott sein lassen. Es geht auch darum, dank der Religion zurück zum Vor-gegebenen gelangen zu können, welches dann in Freiheit aufgenommen werden kann. Wie Tagliaferri in seinem jüngsten Werk beobachtet,47 ist diese so heikle Thematik in der Unterscheidung Guardinis zwischen sacer (heilig) und sanctus (heilig) zu erkennen. Im zweiten Kapitel des Buches (Vorschule des Betens), in dem es um Gott geht, erläutert Guardini die Definition des sanctus als eine der vielen Beschreibungen der Offenbarung Gottes, die alle anderen bestimmt. Die Heiligkeit (als sanctus) Gottes ist etwas Unvergleichliches und Unsägliches, da es sich um eine vollkommen grundlegende Tatsache handelt. Es ist der fundamentale Charakter Gottes, der Grundsatz, der die Substanz bestimmt.48 Da der Theologe Guardini die Oberhand gewonnen hat, konnte er die Überlegenheit des Heiligen postulieren, die die spezifische Qualität der biblischen Tradition festlegt (sie ist jedoch nur in der zugehörigen christlichen Gemeinde vorzufinden). Trotzdem ist es sein Verdienst, so Tagliaferri, dass die Untrennbarkeit zwischen der christlichen Offenbarung und dem Heiligen (sacer) innerhalb des Spieles der anteprädikativen Weltanschauung und der Sprache des Glaubens etappenweise entdeckt wurde. Bevor die Weltanschauung christlichen Charakter angenommen hat, war sie schon immer der Horizont, die Bedingung, die jegliche Offenbarung von Nöten hat, weil es sich um die Anwesenheit des Geistes vor dem menschlichen Angesicht handelt. Man kann
46 Jean-Yves Lacoste 1994. Erinnern wir auch an die schöne Passage von Bernhard Waldenfels 1997: „Der Kunstcharakter der Raumkunst besteht darin, daß die Räumlichkeit von ihr eigens modelliert, befragt, bearbeitet wird, ähnlich wie Malerei, Musik und Sprachkunst sich mit der Sichtbarkeit, der Hörbarkeit und Sagbarkeit als solcher befassen. Dabei werden gewohnte Formen gestört, verfremdet, gesteigert, überboten, bis hin zu einem Unsichtbaren, Unhörbaren und Unsagbaren, das innerhalb der gewohnten Ordnung keinen Platz findet. Im Bereich der visuellen Kunst beginnt die Unsichtbarkeit nicht jenseits des Rahmens, vielmehr betrifft sie den Rahmen selbst, der das Zu-Sehende ins Sichtbare hebt und selbst dabei in die Unsichtbarkeit zurücktritt.“ 47 Vgl. Roberto Tagliaferri 2013. Der Autor widmet der Beziehung zwischen dem Heiligen und der christlichen Offenbarung in Romano Guardini das gesamte 11. Kapitel, hierbei wird der Werdegang Guardinis genau berücksichtigt, auch dessen Ablauf und seine Veränderungen. 48 Laut Guardini wird sich der Mensch vor der Heiligkeit Gottes seiner eigenen Identität bewusst, da er bemerkt, ein unfairer, egoistischer, böser Egoist zu sein. Er erkennt an, dass die Sünde sich nicht nur gegen den lebendigen Gott richtet, sondern dass sie das Unheilige bedeutet. Die erste Geste die man in Anbetracht der Heiligkeit Gottes vernehmen kann, ist, das sich entfernen, die zweite Geste, ist der Wunsch und die Suche nach Gott: „Die gleiche Heiligkeit, die den Menschen zurückweist, ruft ihn auch, denn sie ist Liebe. Sie treibt ihn zurück, damit er die Tiefe der Demut und der Umkehr suche; hat er die erreicht, nur irgendwie, dann holt sie ihn zu sich.“, in: Romano Guardini 1986 (8), 50.
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sie nur als Eröffnung des Menschen in Bezug auf das Anderssein der Welt wahrnehmen. Laut Tagliaferri, könnte sich die Problematik der Beziehung zwischen sacer und sanctus in der Dynamik zwischen den anteprädikativen Dimensionen Gottes und der, im weitesten Sinne „kulturellen“ Dimension des Glaubens, verdichten. Wenn man die epistemologische Problematik der Beziehung zwischen gläubigen Menschen und göttlichem Wesen in das Feld der intentionalen Korrelation des religiösen Erlebnisses als ursprüngliche Hingabe Gottes zum menschlichen Bewusstsein einbettet, dann findet eine spezifische Heiligkeit (aus sacer) vor jeglicher linguistischen oder kulturellen Modulation Raum. Rudolf Ottos Lehre wurde in diesem Sinne nicht übertroffen, weil das Heilige gegenüber dem christlich anerkannten sacer kein allgemeines, natürliches ist, sondern eher dieselbe Offenbarung auf „der ersten Ebene“ des Bewusstseins. Das Heilige ist eigentlich die Bewusstseinshingabe Gottes als das „innere Zeugnis“, also des Heiligen Geistes des Christentums und vieler anderer in der Welt existierender religiöser Traditionen. Das sacer (Heilige) ist a priori gegeben, nicht im Sinne Kants als transzendentales Merkmal des Menschen, sondern als intentionale Transzendenz, bei der unmittelbar Gott und der Mensch eine Rolle spielen, noch vor jeglicher linguistischer Ausdrucksform und vor jeglicher Meinung über die Freiheit.49 „Die Erfahrung des sacer im Transzendentalen ist transzendental wie die Anteprädikative der ,passiven Synthese‘ Husserls. Es handelt sich um eine wahrnehmende Erfahrung, bevor diese zum Urteil wird.“50 Tagliaferri stellt somit klar, dass das ursprüngliche anteprädikative sacer in keiner Weise eine Über-Religion werden kann, die dazu in der Lage wäre, die Grenzen der Kulturen zu überwinden, weil dies nur auf transzendentaler Ebene geschehen kann, in der Unmittelbarkeit zwischen Gott und dem Menschen, die nur Mystiker erlangen können. Man kann daraus schließen, dass das sacer das Apriori der religiösen Erfahrung ist, dessen Sinn nur von der Religion aus erfasst werden kann, indem sie ihn verwirklicht. Diese Überlegungen können auch praktisch gelten. Die Wiederentdeckung des sacer in Bezug auf die Erfahrung der Anteprädikative,51 die im christlichen 49 Vgl. Roberto Tagliaferri 2013, der verweist auf Rudolf Otto 1991. 50 Roberto Tagliaferri 2013, 186. Tagliaferri beobachtet, dass „die ,passive Synthese‘ ein Apriori ist, das ähnlich wie der Begriff agency im Bereich der Neurowissenschaften alle möglichen Modalitäten eröffnet. Die Erfahrung des sacer ist ein unausschaltbarer und vorgegebener Gegenstand des Bewusstseins aller Menschen, auch der Gläubigen jeglicher religiösen Tradition. Im Hinblick auf diesen epistemologischen Vorschlag kann man eine Phänomenologie der nichtchristlichen Religionen erarbeiten, bei der die Unterschiede der linguistischen Traditionen nicht mehr ein Hindernis für den Dialog sind. Im Gegenteil, die universelle Positionierung um den gläubigen Kern herum, also um das sacer, beherzigt die gegenseitige Akkulturation und Hybridisierung in einer globalisierten Welt. Selbstverständlich werden die Spannungen nicht schlagartig eliminiert, sondern finden eine Relativierung im Namen des Wesentlichen, das vereint.“, 226–227. 51 Wir sind uns der ausgeübten Kritik im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Heiligen und
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Glaube die Dimension des Heiligen Geistes ist, kann zu einer strategischen Linie für eine friedliche Zukunft werden: Dieses „bewusste sacer der zweiten Ebene“, dass sacrosanctum genannt wird, bewahrt das sanctus vor den nicht gestatteten Antworten und erweitert das Heilige zur individuellen Freiheit des Glaubens in Anbetracht des Schweigen Gottes.52 Angefangen bei den Gerechtigkeitstheorien, die auf sozialer Ebene eine positive Haltung zur Religion zeigen, haben wir die Relevanz der Räumlichkeit und die innewohnende Implikation zwischen religiöser und räumlicher Erfahrungen betont, um schließlich die Beziehung zwischen transzendentalem sacer und religiösem sanctus wieder zu erlangen. Dieser lange Weg versuchte die Rolle der „Religion im öffentlichen Raum“ philosophisch zu untersuchen. Dies kann aus zweierlei Gründen äußert konstruktiv sein. Erstens wird so ein Horizont für die universellen Ansichten der „räumlichen Gerechtigkeit“ geschaffen, indem ein mögliches ethnozentrisches Umfeld ausgeblendet wird. Zweitens können im Inneren dieses Horizonts neue philosophische sowie theologische Überlegungen angestellt werden, um die verschiedenen multireligiösen Räume zu betrachten, die in unseren Städten immer mehr Platz finden.53 Es geht darum, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, indem man verschiedene Aspekte des Themas miteinander verknüpft, theologische und der Gewalt bewusst. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema geht vor allem zurück auf Ren8 Girard 1972, dt. Übers. 1994, zuletzt 2006, wir erinnern unter anderem auch an Emmanuel Levinas, 1977, dt.Übers. 1998. Die Dringlichkeit, die Verbindung von Gott zum potentiell gewaltsamen „sacer“ zu unterbinden, wie auch Giovanni Ferretti erläutert (2013, S. 79), kann als Imperativ eines nicht nur modernen Bewusstseins, sondern auch und vor allem des kritisch wahrgenommenen, christlichen Bewusstseins aufgefasst werden. Sie darf nicht in Widerspruch zu dem stehen, was über die Bedeutung des Heiligen in Bezug auf die ante-prädikative Erfahrung geäußert wurde: Die Verbindung mit der Gewalt an sich, ist bereits als Interpretation oder Beurteilung aufzufassen. Es ist sehr interessant, dass Ferretti weiterhin aussagt, dass „eine korrekte Phänomenologie der Gestalt von Jesus von Nazareth, Sinnbild des wahren Gesichts Gottes, heute immer besser zeigt, wie Jesus stets versucht hat, die Gestalt des ,sacer‘ ,unmissverständlich‘“ darzustellen, indem er sie vom tremendum als Drohung der Zerstörung, der Bestrafung und der Forderung nach Opferbringung, also einer möglichen Gewalt, abgegrenzt hat […]“. 52 Roberto Tagliaferri, 2013, 266. Er verweist auch auf die pneumatologische Grundlage, die die Lehre des Magisteriums in der Beziehung mit anderen Religionen unterstreicht und beobachtet, dass diese „Saat des Verbes“, welche ausgebreitet wurde, die Grundlage für eine konkrete Basis für einen interreligiösen Dialog bildet, der vom Konzil ermutigt wird. 53 Diese werden sich mindestens auf der Basis von drei Typologien verwirklichen. Einige sehen die Möglichkeit vor, in einem einzigen Raum verschiedene religiöse Praktiken zu vollziehen, andere sind in einer Pluralität verschiedener Bereiche organisiert, von dem jeder Bereich für bestimmte religiöse Praktiken vorgesehen ist, andere schließen den Bezug auf jegliche Religion aus und verständigen sich auf Räume, um verschiedene Formen der Meditation auszuleben. Zur Debatte, vgl. Adolfo Russo 2007, 403–420; Luigi Razzano 2007, 421–449; eine „Oasi del silenzio„ (Oase der Stille) wurde am 17. Februar 2010 auf der Messe Mailand eröffnet. Siehe auch: Sabine Kraft 2007; Gregor Hohberg/Roland Stolte (Hg.) 2013; die Ausstellung Multi-faith Spaces. Ergebnis einer dreijährigen Zusammenarbeit zwischen der Universität Manchester und der Universität Liverpool (www.multi-faith-spaces.org).
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soziologische sowie landschaftliche Elemente, besonders in Bezug auf die Sinnesebene und auf die Praktiken des Zusammenlebens.
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Andreas Arndt
Kapitalismus und Religion*
In seinem 2003 erschienen Roman Cosmopolis beschreibt der amerikanische Autor Don DeLillo einen Tag im April des Jahres 2000, an dem das Leben des 28jährigen Milliardärs und Währungsspekulanten Eric Packer endet. Packer bricht mit einer luxuriösen gepanzerten Limousine in das Armenviertel seiner Kindheit auf, um dort den Friseur zu besuchen; die Fahrt, an deren Ende er erschossen werden wird, gestaltet sich zur Höllenfahrt. Packer spekuliert unterwegs mit Hilfe seines Computers gegen den Yen, löst Erdbeben an den Finanzmärkten aus, aber der Yen fällt nicht, sondern steigt – und am Ende seiner Irrfahrt ist Packer pleite. Bevor er erschossen wird, hat er bereits jedes Interesse am Leben verloren. – Gewisse Anklänge an James Joyce’s Ulysses sind nicht zu übersehen, aber Packers Tag endet nicht wie der 16. Juni 1904, der Tag im Leben des Leopold Bloom, der – wie Odysseus – nach seiner Irrfahrt heimfindet. Packer findet zwar aus den virtuellen Welten der Finanzmärkte zurück in die Realität, aber diese Realität ist keine Heimat, sondern die Hölle einer in sich zerfallenen Gesellschaft. Wer in diese Realität eintritt, hat – wie es nach Dante über den Toren der Hölle steht – alle Hoffnung fahren zu lassen. Anders als Dantes Hölle ist die Realität, die den Cyberspekulanten einholt, jedoch kein symbolischer Ort. Sie steht, als Realität, nur für das, was (sie) ist. In diesem Sinne hatte bereits Karl Marx in seinem 1859 erschienenen Heft Zur Kritik der politischen Ökonomie Dantes Mahnung an Vergil zitiert: Bei dem Eingang in die Wissenschaft aber, wie beim Eingang in die Hölle, muß die Forderung gestellt werden: Qui si convien lasciare ogni sospetto/ Ogni vilt/ convien che qui sia morta. [Hier mußt du allen Zweifelmut ertöten, / Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin.]1
Gefordert wird der unbestechliche Blick des Beobachters, der die Realität so nimmt, wie sie ist. Gefordert wird gleichsam der reflektierte Umgang mit dem, was über den Toren der Hölle steht. Wenn es hier keine Hoffnung gibt, dann hilft nicht das Wünschen oder das Beschwören eines Seinsollenden, sondern es geht nur noch um die Erkenntnis dessen, was ist. Allenfalls – das ist je* Der Aufsatz erschien deutsch zuerst in „PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft“, 46 (2016), Heft 182, 113–120. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Verlages Westfälisches Dampfboot. 1 Karl Marx/Friedrich Engels, 1989, 10. Vgl. Andreas Arndt 1990, 157–174.
Kapitalismus und Religion
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denfalls Marx’ Auffassung – vermag die Einsicht in das, was ist, noch reale Möglichkeiten aufzuweisen, dem Inferno doch noch zu entkommen. Jedoch: Sowenig man sich die Hölle mit markierten Fluchtwegen vorstellen kann, sowenig verheißt die gesellschaftliche Realität des Kapitalismus einen Ausweg. Er umgibt sich vielmehr mit der Aura des von jeher Gewesenseins: er perfektioniert nur, was schon immer so war und so sein muss, weshalb es auch alternativlos ist, wie uns von der Politik, aber nicht nur von ihr, immer wieder erklärt wird.
Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion Walter Benjamin hat darin in seinem wohl 1921 niedergeschriebenen Fragment Kapitalismus als Religion einen Grundzug des Kapitalismus als Religion gesehen: er sei eine reine Kultreligion, ohne Dogmatik, ohne Transzendenz und ohne Erlösung. Der Kapitalismus zelebriere den Kultus in Permanenz; jeder Tag sei Festtag, der die äußerste Anspannung der Verehrenden fordere, und der Kultus sei, wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Religionen, nicht entsühnend, sondern verschuldend, er mache Schuld universal.2 Dass Kapitalismus Religion sei – diese These hat erst angesichts der globalen Finanzkrisen am Ende des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts gezündet und Benjamins Text, der bis dahin kaum Aufmerksamkeit gefunden hatte, eine ungeahnte Wirkung zuteil werden lassen.3 Dabei wird die Radikalität der Benjaminschen These jedoch nur selten ernstgenommen. Während die von Benjamin inspirierte Literatur zumeist Kapitalismus und Religion miteinander vergleicht und auf Parallelen zu religiösen Dogmen und Praktiken aufmerksam macht, betrachtet Benjamin den Kapitalismus selbst und in toto als Religion. Er zielt auf den Nachweis des Kapitalismus „als einer essentiell religiösen Erscheinung“;4 mehr noch: das Christentum habe sich „in den Kapitalismus umgewandelt“, indem es von seinem Parasiten, dem Kapitalismus, gleichsam aufgezehrt worden sei.5 Das ist auch weitaus mehr, als das, was Max Weber dem Geist der protestantischen Ethik für die Herausbildung des Kapitalismus zugeschrieben hatte. Vermutlich stützt Benjamin, wie Werner Hamacher plausibel gemacht hat, sich hierbei auf Ernst Blochs 1921 erschienene Schrift Thomas Münzer als Theologe der Revolution. In deren Erstauflage (und nur dort) findet sich eine vergleichbare Formulierung am Ende des Calvin-Kapitels, wo es heißt, dass 2 Walter Benjamin 1991, 100 f. 3 Vgl., ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Rudolf Thiessen 1994, 400–418; Jacob Willibald u. a. (Hrsg.) 1996; Uwe Steiner 1998, 147–171; Christoph Deutschmann 2001 (2); Dirk Baecker (Hrsg.) 2004; Giorgio Agamben 2005; Pax Christi – Kommission Weltwirtschaft 2006; Andreas Arndt 2009, 147–155; Christoph Fleischmann 2010; Thomas Lilge 2012; Robert Menasse 2012, 42–52. 4 Benjamin 1991, 100. 5 Ebd., 102.
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der Protestantismus „schließlich nicht bloßen Mißbrauch, sondern vollkommenen Abfall vom Christentum, ja Elemente einer neuen ,Religion’: des Kapitalismus als Religion und wahre Satanskirche inaugurierte.“6 Auch wenn Benjamin den Ausdruck „Satanskirche“ nicht aufgreift, so dürfte er in der Konsequenz mit Bloch übereinstimmen, wenn er den kapitalistischen Kultus als verschuldend, ohne Hoffnung auf Erlösung, charakterisiert. Gleichwohl bleibt Hoffnung, denn Universalisierung der Schuld bedeute, „endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren.“7 Der Gott dieser Religion müsse „verheimlicht“ und dürfe erst „im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden.“8 Die Verschuldung Gottes konvergiert mit dem „religiösen Weltzustand der Verzweiflung“, auf den gerade noch gehofft werden dürfe und aus dem „die Heilung zu erwarten sei“. So werde der Kultus vor einer reifenden, noch „ungereiften Gottheit“ zelebriert, die weder vorgestellt noch gedacht werden dürfe, um das Geheimnis ihrer Reife zu bewahren. Diese Ausführungen sind kaum mit Parallelen zum Kapitalismus einzuholen, denn dieser Gott ist weder das Proletariat – Benjamin ist, zumal 1921, weniger Marxist, als die meisten Interpreten wahrhaben wollen – noch eine transzendente Instanz: „Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen.“9 Vor der Schwierigkeit, diesen Gott zu bestimmen, haben fast alle Interpreten kapituliert und diesen – nach Benjamin vierten – Grundzug des Kapitalismus als Religion stillschweigend übergangen. Auch Giorgio Agamben hat sich hierzu schlicht in Schweigen gehüllt.10 Tatsächlich lässt sich Benjamins Fragment, so suggestiv seine Thesen sein mögen, kaum von einer entwickelten Kapitalismustheorie her entschlüsseln. In einer fulminanten philosophischen Magisterarbeit an der Humboldt-Universität, deren Qualität viele Dissertationen in den Schatten stellt, hat Martin Trefzer Quellen des Benjaminschen Fragments aufgespürt und gezeigt, dass es als eine eigenständige Synthese literarischer Vorlagen – von Nietzsche über Strindberg und andere Autoren bis zu Florens Christian Rang – anzusehen ist.11 Der mit einem Bilder- und Denkverbot belegte Gott wird dabei als gnostischer Gegengott einsehbar. Ich will das hier nicht im Einzelnen erörtern und vertiefen. Entscheidend ist, dass Benjamins Fragment weniger auf eine kritische wissenschaftliche Theorie des Kapitalismus zurückgeht als vielmehr auf literarische Vorlagen, in denen sich ein diffuser Antikapitalismus mit apokalyptischen Erwartungen verbindet. Das ist ein anderer Stoff als der, aus dem etwa Marx’ Kapital gemacht ist. 6 7 8 9 10 11
Zit. nach Werner Hamacher 2003, 90 ff. Benjamin, 1991,100 f. Ebd., 101. Ebd. Vgl. Giorgio Agamben 2005 Martin Trefzer 2014.
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Für jeden Rekurs auf das Benjaminsche Fragment ist von entscheidender Bedeutung, dass die These vom religiösen Charakter des Kapitalismus als Kultreligion erst vor dem Hintergrund des vierten Grundzuges, des kommenden Gottes, überhaupt einsehbar ist, jener These also, die zumeist beschwiegen wird. Wie anders könnte Benjamins Behauptung überhaupt verstanden werden, der Kapitalismus diene „essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“?12 Erst vor dem Hintergrund einer Hoffnung auf Entschuldung macht dies Sinn. Diese Hoffnung aber erwächst nur aus einem Weltzustand der Verzweiflung, der darum religiös ist, weil Heilung erst aus der Verschuldung Gottes zu erwarten ist. Fällt diese Dimension, dann bleibt nur das leere Nichts der Verzweiflung, wie es etwa bei Jean Paul sichtbar wird, wenn der tote Christus vom Himmelsgewölbe herab verkündet, dass kein Gott sei: „als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen Augenhöle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich.“13 – Anders gesagt: Erst in Bezug auf den kommenden Gott gewinnt der kapitalistische Weltzustand eine religiöse Dimension dadurch, dass er – wenn gleich negativ – auf Anderes verweist und damit symbolisch wird. Ohne dies wäre er nichts als der Zustand der Verzweiflung selbst, ein Zustand, der in alle Ewigkeit wiedergekäut wird.
Der Tod des kommenden Gottes und die religiösen Züge des Kapitalismus Es ist also keineswegs zufällig, dass die von Benjamins Fragment inspirierte Literatur zwar religiöse Züge im Kapitalismus identifiziert, aber nicht die These vom Kapitalismus als Religion in der von Benjamin gemeinten Radikalität unterschreiben möchte. Mit dem Tod des kommenden Gottes bleibt nur der säkulare Weltzustand der Verzweiflung übrig. Es ist jene Realität, auf welche DeLillos Eric Packer aufprallt, nachdem er die virtuellen Märkte und den schützenden Panzer seiner Limousine verlassen hat. Indessen: sind nicht die virtuellen Realitäten, die digitalen Schlachtfelder der Märkte in post-heroischen Zeiten, auch Bestandteil der Realität? Sind sie nicht auch reale Ursache eines Weltzustands der Verzweiflung, die dann, ganz sinnlich, als brutale Gewalt gelebt wird?14 Die Rede vom Kapitalismus als Religion bzw. religiösen Zügen des Kapitalismus reicht hinter Walter Benjamin zurück. Marx’ Schwiegersohn Paul 12 Benjamin 1991, 100. 13 Jean Paul 1994, 7. 14 Vgl. dazu Dirk Vaihinger 2000.
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Lafargue 1887 seine polemische Schrift Die Religion des Kapitals publiziert, um die Heiligung der kapitalistischen Ordnung ideologiekritisch aufzulösen. Auch Alexander Rüstow, ein Vertreter des „Ordoliberalismus“, hat in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ideologiekritisch von einer Religion der Marktwirtschaft gesprochen. Er meinte damit, dass quasi-religiöse Annahmen (wie das Wirken einer invisible hand) in die theoretischen Fundamente des Wirtschschaftsliberalismus eingelassen seien, die als bloße Glaubenssätze keine Entsprechung in der Realität hätten.15 Ebenfalls im Blick auf Smiths Theorem der „unsichtbaren Hand“ spricht Hans Christoph Binswanger von einer „Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“.16 Bei all diesen und vergleichbaren Versuchen werden Analogien hergestellt, aber es wird keine Gleichsetzung von Kapitalismus und Religion vollzogen. Was in den Finanztransaktionen ganz offenkundig wird – man wettet auf unvorhersehbare Ereignisse, muss also daran glauben, dass die ,richtige‘ Wette auch verzinst wird – gehört schon immer zum innersten Kern der kapitalistischen Ökonomie: Geld – wenn es nicht mehr als Metall der Wert zugleich ist, den es bezeichnet – entsteht, so Birger P. Priddat, „durch das Fehlen desjenigen Betrags, den es verspricht. Dieses Geld ist – bis heute – kein Geld, sondern ein stets uneingelöstes Versprechen auf Geld und verwirklicht sich in der Paradoxie der Selbstreferenz“; im Zentrum der kapitalistischen Ökonomie stehe also „das Prinzip eines uneingelösten Versprechens; die Zirkulation wird durch die Wucherung einer uneinholbaren Schuld in Gang gehalten“.17 Oder, wie Jochen Hörisch es ausdrückt: Man soll, man muss dran glauben, sonst kann die schockierende Entdeckung drohen, dass Deckungen von Geldwerten a priori instabil sind. Glaube ist gedeckt – durch Glaube; Geld ist gedeckt – durch Geld bzw. den Glauben an Geld.18
Christina von Brauns große Kulturgeschichte des Geldes bestätigt diesen Befund ebenso wie David Graebers ethnologische Studien.19 Die Beiträge Priddats und Hörischs sind in einem Band erschienen, der den Kapitalismus mit einer anderen Begründung als derjenigen Benjamins als Religion bezeichnet; anknüpfend an Niklas Luhmann20 wird Religion als Kontingenzbewältigung verstanden und darüber hinaus dem Kapitalismus eine genuin religiöse Dimension zugesprochen, jedenfalls solange, wie er an dem ,säkularen‘ Heilsversprechen öffentlicher Wohlfahrt durch Mehrung des Reichtums festhält. Auch wenn Religion sicherlich mit der Bewältigung von 15 16 17 18 19
Vgl. Paul Lafargue 2001. Christoph Binswanger 1998. Birger P. Priddat 2013, 81. Jochen Hörisch 2013, 200. Christina von Braun 2012; bes. Kap. II („Geld und Glaube“, 86 ff.). David Graeber 2012. Vgl. auch Frank Engster 2014. 20 Niklas Luhmann 2000.
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Kontingenz zu tun haben mag,21 ergibt sich im Umkehrschluss noch nicht, dass jede Form von Kontingenzbewältigung als Religion anzusehen ist, denn sonst wäre alle menschliche Kultur mit Religion gleichzusetzen. Neben Luhmann steht im Hintergrund dieser These Giorgio Agambens Versuch, die Struktur der kapitalistischen Ökonomie zu der (trinitarischen) göttlichen oikonomia ins Verhältnis zu setzen.22 Seine Konstruktion einer „theologischen Genealogie“ der modernen Ökonomie – die weitgehend eher als Rückprojektion kapitalistischer Ökonomie in die Geheimnisse der Trinität erscheint – läuft aber dort ins Leere, wo die moderne Ökonomie sich von allen Heilsversprechen befreit und auch die immanente Transzendenz des Wohlstands für Alle einzieht.23 Ohne eine solche immanente Transzendenz ist, wie schon im Falle Benjamins, die religiöse Dimension des Kapitalismus nicht einsichtig zu machen.
Den Kapitalismus auf der Ebene der Definition der Vernunft in Frage zu stellen Überzeugender erscheint mir, dass schon Adam Smiths invisible hand im Wealth of Nations nicht mehr unter der Form der Theodizee, sondern – wie Joseph Vogl es nennt – als genuine Oikodizee verstanden werden muss.24 Das mit ihr noch verbundene Glücksversprechen ist jedenfalls von anderer Qualität und Dimension als das der Religionen. Mit den entfesselten Finanzmärkten seit 1971, als der damalige US-amerikanische Präsident Richard Nixon das Abkommen von Bretton Woods aufkündigte,25 hat sich eine neue Situation ergeben, die Joseph Vogl so beschreibt: während man lange Zeit darauf setzte, dass die unzuverlässigen Verhaltensweisen von Einzelnen über Marktmechanismen zur Vernunft gebracht werden, muss man nun konzedieren, dass Finanzmärkte als Märkte aller Märkte so operieren, dass sie mit rationalen Entscheidungsprozessen systematisch Unvernunft produzieren.26
Wollte man das noch einer religiösen Natur des Kapitalismus anlasten, dann wäre der Gott dieser Religion das, was Hegel über Leibniz’ Gott in dessen Theodizee sagt: „Es wird von Bestimmtem ausgegangen: dies und jenes ist notwendig, aber wir begreifen die Einheit dieser Momente nicht; diese fällt 21 Vgl. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.) 2000; bes. 1–44. 22 Giorgio Agamben 2010. 23 Dies wird in dem genannten Band Kapitalismus – eine Religion in der Krise I von verschiedenen Autoren wiederholt gegen Agamben geltend gemacht. 24 Joseph Vogl 2010, 11. 25 Vgl. zu diesem Einschnitt David Graeber 2012, 379 ff. 26 Joseph Vogl 2010, 174.
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dann in Gott. Gott ist also gleichsam die Gosse, worin alle die Widersprüche zusammenlaufen.“27 Georg Simmel hat in seiner Geldtheorie genau in dieser Weise Gott und Geld in Verbindung gebracht – als coincidentia oppositorum. In seinem Essay Zur Psychologie des Geldes heißt es, das Geld sei nicht nur der (Ab)Gott der Gegenwart, Mammon, sondern das Geld habe in seiner psychologischen Form bedeutsame Beziehungen gerade zu der Gottesvorstellung […]. Der Gottesgedanke hat sein tieferes Wesen darin, daß alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt in ihm zur Einheit gelangen, daß er nach dem schönen Worte des Nikolaus von Kusa die Coincidentia oppositorum ist. Aus dieser Idee, daß alle Fremdheiten und Unversöhntheiten des Seins in ihm ihre Einheit und Ausgleichung finden, stammt der Friede, die Sicherheit, der allumfassende Reichtum des Gefühls, das mit der Vorstellung Gottes und daß wir ihn haben, mitschwebt. Unzweifelhaft haben die Empfindungen, die das Geld erregt, auf ihrem Gebiete eine psychologische Ähnlichkeit mit diesen.28
Entsprechend heißt es in Simmels Aufsatz Zur Psychologie des Geldes: „Gerade wie Gott in der Form des Glaubens, so ist das Geld in der Form des Konkreten die höchste Abstraktion, zu der die praktische Vernunft aufgestiegen ist.“29 Falk Wagner hat darauf mit der Alternative Geld oder Gott? geantwortet, denn die abstrakte Allgemeinheit des Geldes, das gegen Beliebiges getauscht werden könne, färbe dann auf den Gottesbegriff so ab, dass er zur beliebig einsetzbaren Legitimation für ganz unterschiedliche Positionen herhalte.30 Wie auch immer der theologische Einspruch Wagners zu werten ist: Dass die Geldwirtschaft des Kapitalismus auf das religiöse Bewusstsein durchschlägt, ist keine Bestätigung der These, Kapitalismus sei Religion. Die Reichweite der Benjaminschen und der ihr verwandten Thesen, die Kapitalismus und Religion zusammenbringen, scheint mir jenseits polemischer Absichten recht begrenzt zu sein. So bedarf es wohl auch weniger einer Religionskritik in Bezug auf den Kapitalismus, als vielmehr einer Kritik derjenigen Rationalität, die Irrationales produziert, wie im Voodoo-Kapitalismus der Finanzmärkte, der aus einem spekulativen Nichts Reichtum für Wenige und Elend für Viele erzeugt, eine creatio ex nihilo, die keine neue Welt schafft, sondern die bestehende zerstört, denn, um abschließend Hegel zu zitieren: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt, Wirklichkeit zerstören“.31
27 28 29 30 31
Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1970, 255. Georg Simmel 1989, Bd. 6, 305. Georg Simmel 1989, Bd. 2, 65. Falk Wagner 1985. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1970, 331 f.
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