Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins [1 ed.] 9783428429455, 9783428029457


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German Pages 390 Year 1973

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Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins [1 ed.]
 9783428429455, 9783428029457

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Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 19

Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins

Von

Hans K. Schulze

Duncker & Humblot · Berlin

H A N S

Κ.

S C H U L Z E

Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 19

Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins

Von

Hans K. Schulze

DUNCKER & HUMBLOT

/BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alle Redite vorbehalten © 1973 Duncker Sc Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1973 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 02945 3

Vorwort Die Notwendigkeit einer erneuten Untersuchung des Problems der Grafschaftsverfassung und ihrer Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des Mittelalters bedarf wohl keiner näheren Begründung. Obgleich ich es bewußt vermieden habe, dies in der Formulierung des Titels zum Ausdruck zu bringen, ist die vorliegende Schrift eigentlich nur der erste Teil einer Geschichte der Grafschaftsverfassung. Der ursprüngliche Plan, der auf eine Anregung meines verehrten Lehrers Walter Schlesinger zurückgeht, zielte auf eine Untersuchung, die bis ins Hoch- und Spätmittelalter reichen und die Rolle der Grafengewalt bei der Entstehung der Landesherrschaft klären sollte. Die Beschränkung auf die merowingische und karolingische Zeit, die hoffentlich nur eine vorläufige ist, erwies sich als unumgänglich, da zunächst erst einmal einige Grundfragen zu erörtern waren. Klarheit zu gewinnen über den Stand der Forschung, war das Ziel der Einleitung. Sie ist nicht als umfassende historiographische Rückblende zu verstehen, sondern als der Versuch, die Genesis derjenigen Gedanken aufzuzeigen, die die gegenwärtige Forschung beherrschen. Es muß hervorgehoben werden, daß ich selbst zunächst von der Auffassung ausgegangen bin, die ältere Lehre von der Existenz einer Grafschaftsverfassung sei in allen wesentlichen Punkten widerlegt und müsse nunmehr durch eine besser begründete Darstellung ersetzt werden. Während der Sichtung und Interpretation der Quellen bin ich jedoch nach und nach zu der Erkenntnis gekommen, daß viele neuere Theorien mit den Aussagen der Quellen nicht in Ubereinstimmung zu bringen waren. Eine kritische Überprüfung dieser Theorien war daher nicht zu umgehen. Der Methode der neueren Rechts- und Verfassungsgeschichte entsprechend standen Untersuchungen auf regionaler Basis am Anfang. Die einzelnen Abschnitte über die verschiedenen deutschen Landschaften haben, bedingt durch die jeweilige Quellenlage, recht unterschiedliches Gewicht. Für manche Landschaft reichte die Überlieferung für eine wirkliche Synthese nicht aus, so daß ich mich auf eine Stellungnahme zu einigen kontroversen Grundproblemen beschränken mußte. Gerade für diese Landschaften soll versucht werden, durch eine Weiterführung der Untersuchungen für spätere Zeitabschnitte weitere Aufschlüsse zu gewinnen. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen sahen in vielen Punkten anders aus, als ich es ursprünglich erwartet hatte. Gleichwohl hoffe

6

Vorwort

ich, daß in dem Resumé dieser Schrift nicht eine bloße Rückkehr zu den Lehrmeinungen der klassischen deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichtsforschung zu sehen ist. Die Arbeit war Anfang 1970 abgeschlossen und hat im Sommersemester des gleichen Jahres der Philosophischen Fakultät der PhilippsUniversität Marburg als Habilitationsschrift vorgelegen. Meine Absicht, einzelne Teile durch weitere Untersuchungen auszubauen, konnte ich wegen unerwarteter beruflicher Verpflichtungen nicht verwirklichen. Auch später erschienene Literatur ist nur in Ausnahmefällen noch aufgenommen worden. Meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor D. Dr. Dr. h. c. Walter Schlesinger, danke ich sehr für viele Anregungen und sein stetes Interesse am Fortgang dieser Arbeit. Mein Dank gilt ferner meinen Kollegen Dr. Willi Görich, Dr. Michael Gockel, Prof. Dr. Dietrich Claude und Dr. Fred Schwind für manches fördernde Gespräch. Marburg an der Lahn, 20. Dezember 1972 Hans K. Schulze

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Forschungsstand und Quellenlage

15

Die GrafschaftsVerfassung als Forschungsproblem S. 15 — Grafschaft und Landesherrschaft S. 19 — Das Wesen der Grafengewalt S. 20 — Moderne Theorien: Adolf Waas S. 22 — Königsgutsgrafschaften S. 23 — Allodialgrafschaften S. 24 — Streugrafschaften S. 25 — Heinrich Mitteis S. 26 — Vertreter der älteren Lehre S. 27 — Quellen und Methode S. 29 — Kapitularien S. 30 — Volksrechte S. 30 — Urkunden S. 31

Erster

Teil

Merowingische Grundlagen I. Comes civitatis

und frühfränkischer

33 Grafio

33

Das Problem der Kontinuität des Ämterwesens S. 33 — Comes civitatis S. 34 — Grafio S. 35 — Verschmelzung von Comes civitatis und Grafio S. 37 — Mindergrafen S. 39 I I . Adel, Amt und Königtum in merowingischer

Zeit

41

Die fränkische Landnahme S. 41 — Das Gefolgschaftswesen S. 43 — Ständeprobleme S. 44 — Adel, A m t und Gefolgschaft S. 45 — Wandlungen in der späten Merowingerzeit S. 50

Zweiter Teil Untersuchungen zur Grafschaftsverfassung bei den ostrheinischen Stämmen

53

I. Die Alamannen

53

1. Die Verfassung der vorkarolingischen Zeit

53

Zur Verfassung der alamannischen Frühzeit S. 53 — Das Königtum S. 57 — Die Gaue S. 58 — Fränkische Eroberung S. 60 — Das Herzogtum S. 60 — Herzogs- und Königsgut S. 62 2. Die Einführung der Grafschaitsverfassung Der Stand der Forschung S. 65 — Die Grafen der Merowingerzeit S. 69 — Reorganisation der Grafschaftsverfassung um 744/46 S. 75

65

nsverzeichnis

8

3. Die alamannischen Grafschaften der karolingischen Zeit

77

Gau und „Gaugrafschaft" S. 77 — Die Sub-comite-Formel S. 78 — Die Grafschaft Linzgau S. 82 — Thurgau und Zürichgau S. 87 — Die Waltramshuntare und die Tribunen von Arbon S. 91 — Zentenare im Thurgau und Zürichgau S. 99 — Die Grafschaft im Alpgau (Allgäu) S. 102 — Nibelgau S. 103 — Heistergau und Rammagau S. 104 — Hegau S. 104 — Klettgau und westlicher Alpgau S. 105 — Breisgau S. 105 — Ortenau, Neckargau und Nagoldgau S. 106 — Baaren und Huntaren S. 106 — Huntaren und Zentenen S. 113 — Grafschaftseinteilung S. 116 — Grafschaftsgrenzen S. 118 — Gaue als Substrat der Grafschaften S. 119 — Die Inhaber der Grafengewalt S. 120 — Grafschaft und Allodialbesitz S. 125 — Grafschaftsgut S. 126 — Das Problem der Königsgutsgrafschaften S. 128 — Grafschaft und Königszins S. 130 — Grafengericht und Dingpflicht S. 137 — Immunität S. 145 I I . Die Lehre von den bayerischen Königsgutsgrafschaften

149

Der Comitatus als „Organisationsform des Königsgutes" S. 1 4 9 — Zur Verfassung Bayerns in agilolflngischer Zeit S. 157 — Graf und Grafschaft S. 157 — Stellung des Judex S. 159 — Graf und Herzog S. 160 — Neuordnung 788 S. 161 — Räumliche Struktur der Grafschaft S. 163 — Immunität S. 163 — Grafschaft und Reichsgut S. 165 — Zentenar und Vikar S. 166 — Das Problem fiskalischer Pagi S. 168 — Der Amtscharakter der Grafengewalt S. 171 I I I . Gaue und Grafschaften

in Hessen und im Rhein-Maingebiet

173

Franken, Alamannen und Hessen S. 173 — Fränkische Siedlung und Königsgut S. 175 — Sozialstruktur S. 180 — Gau und Grafschaft S. 180 — Wormsgau S. 188 — Speyergau S. 192 — Lobdengau S. 193 — Rheingau S. 196 — Gau und Grafschaft Königssundern S. 198 — Einrich und Engersgau S. 200 — Maingau S. 201 — Niddagau und Wettereiba S. 201 — Lahngau S. 203 — Hessengau S. 206 — Problem einer hessischen Grenzmark S. 209 — Grafschaften und Grafengeschlechter S. 210 I V . Die Grafschaften

in Ostfranken

215

Quellenlage und Forschungsstand S. 215 — Die Grafschaft des Grabfeldes S. 219 — Radenzgau S. 225 — Waldsassengau und Wingarteiba S. 226 — Saalegau S. 227 — Gozfeld S. 228 — Volkfeld, Iffgau, Badanachgau und Gollachgau S. 229 — Taubergau, Jagstgau, Kochergau, Maulachgau und Rangau S. 230 — Sualafeld S. 230 — Die Anfänge der Grafschaftsverfassung S. 232 — Urgautheorie S. 232 — Grafschafts- und Gaugrenzen S. 233 — Grafschaft und Forst S. 234 — Reichsgut, Lehen und Amtsgut S. 234 — Grafengericht S. 238 — Zur ostfränkischen Sozialstruktur: Freie, Unfreie, Königsfreie S. 241 — Königszins, Steora, Osterstufe S. 245 — Zent und Zentenare S. 247 V. Das Problem der Grafschaftsverfassung

in Thüringen

Thüringer und Franken S. 251 — Thüringen als merowingischer Dukat S. 253 — Markherzöge der Karolingerzeit S. 256 — Der Forschungsstand zur Grafschaftsverfassung S. 258 — Quellenlage und methodische Probleme S. 258 — Grafen und Grafschaften in Thüringen S. 259 — Zur Gautopographie S. 264

251

nsverzeichnis V I . Grafschaften

und Königszehnt in Ostsachsen

9 267

Zur älteren Geschichte des Raumes S. 267 — Grafen und Grafschaften in karolingischer Zeit S. 268 — Grafschaften und Fiskalzehnt S. 268 — Grafen und Grafschaften in spätkarolingischer Zeit S. 271 V I I . Altsächsische „Gauverfassung" und fränkische Grafschaftsverfassung

274

Die altsächsische „Gauverfassung" S. 274 — Die Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung S. 278 — Zur Theorie von den sächsischen Streugrafschaften S. 280 — Burgen und Komitate S. 287 — Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit S. 289 — Gau und Grafschaft S. 294 — Ergebnis S. 295

Dritter Teil Grundzüge der fränkischen Grafschaftsverfassung

296

Methodische Grundfragen S. 296 — Die Grafen der Merowingerzeit S. 297 — Die Grafschaftsorganisation des fränkischen Reiches S. 302 — Grafschaftsgrenzen S. 309 — Gaue und Grafschaften S. 312 — Das Zentenenproblem S. 319 — Der Amtscharakter der Grafengewalt S. 325 — Die Träger der gräflichen Gewalt S. 331 — Amtsauftrag und allodiale Herrengewalt S. 332 — Territoriale und personale Kompetenz des Grafen S. 335 — Immunität S. 336 — Komitat und Königsgut S. 339 — Die Pagenses S. 341 — Grafschaft und Heerwesen S. 345 — Resumé S. 345 Literaturverzeichnis

349

Wort- und Sachregister

374

Personenregister

377

Geographisches Register

363

Abkürzungsverzeichnis Die in den Monumenta Germaniae Historica veröffentlichten Quellen sind in der üblichen Weise zitiert (Capit. = Capitularia, D D = Diplomata, Epp. = Epistolae, F F = Formulae, L L = Leges, SS = Scriptores in folio, SSrerMerov. —, Scriptores rerum Merovingicarum). Die Volksrechte sind in den Ausgaben der Monumenta und in der Reihe Germanenrechte von K A R L A U G U S T E C K H A R D T benutzt worden. ABEL-SIMSON

S I G U R D A B E L , Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen, 2. Aufl. bearb. von B E R N H A R D SIMSON, 2 Bde., 1883—88 (Jahrbücher der deutschen Geschichte).

Acta Pal.

Acta Academiae Theodoro-Palatinae. Historia et Commentationes Academiae electorialis scientiarum et elegentiarum literarum Theodoro-Palatinae, 7 Bde., 1766—94. Die althochdeutschen Glossen, gesammelt und bearb. von und E D U A R D SIEVERS, 5 Bde., 1879—1922.

AhdGll.

ELIAS STEINMEYER

Amm. Marc.

Ammianus 1910—15.

Marcellinus, hrsg. von C. U.

Clark, 2 Bde.,

AUF

Archiv für Urkundenforschung.

Bll. f. dt. L G

Blätter für deutsche Landesgeschichte, hrsg. vom Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. B Ö H M E R , Regesta imperii. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751—918, bearb. von ENGELBERT M Ü H L B A C H E R , fortgesetzt von J O H A N N L E C H NER, 2. Aufl. 1908. JOHANN FRIEDRICH

BM2

Bündner U B

Bündner Urkundenbuch, bearb. von ELISABETH THALER und F R A N Z PERRET, 3 Bde., 1947—61.

Cod. Laur.

Codex Laureshamensis, bearb. von K A R L GLÖCKNER, 3 Bde., 1 9 2 9 — 3 6 (Arbeiten d. Hist. Komm. f. d. Volksstaat Hessen).

DA

Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters.

Dt.RWB

Deutsches Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache), 1912 ff.»

DOBENECKER,

Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae, hrsg. von Otto Dobenecker, 4 Bde., 1896—1939.

Reg. Thür. DRONKE, C o d .

DRONKE,

Trad.

MEYER-MAR-

Codex diplomaticus Fuldensis, hrsg. von Ernst Friedrich Johann Dronke, 1850. Traditiones et antiquitates Fuldenses, hrsg. von Ernst Friedrich Johann Dronke, 1844.

Abkürzungsverzeichnis

Regesta Badensia. Urkunden dea Großherzoglich Badischen Generallandesarchivs von den ältesten Zeiten bis zum Schlüsse des 12. Jahrhunderts, hrsg. von Carl Georg Dûmgé, 1836.

DÛMGÊ

GRIMM,

11

Dt.WB

Deutsches Wörterbuch, hrsg. von Jacob und Wilhelm Grimm, 1854 ff.

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands.

HessJbLG

Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Hist. Kommissionen in Darmstadt, Frankfurt, Marburg und Wiesbaden.

HistJb.

Historisches Jahrbuch, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft.

HistVjschr.

Historische Vierteljahrsschrift. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und für lateinische Philologie des Mittelalters.

HWBDt.RG

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von A. Erler und E. Kaufmann, 1964 ff.

HZ

Historische Zeitschrift.

JbFränkLF

Jahrbuch für fränkische Landesforschung, hrsg. vom Institut für fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen.

JbMOD

Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Publikationsorgan der Historischen Kommission zu Berlin.

MainfränkJb.

Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst (früher Archiv des Hist. Vereins für Ünterfranken und Aschaffenburg).

MIÖG

Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung.

Mittelrhein. UB

siehe UB Mittelrhein.

Mon. Boica

Monumenta Boica, hrsg. von der bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1763 ff.

NA

Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde.

Nass. Ann.

Annalen des Vereins für nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung

Niedersächs. JbLG

Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte. N F der Zeitschrift desi Vereins für Niedersachsen.

Reg. Alsat.

Regesta Alsatiae aevi Merowingici et Karolini 496—918, hrsg. von Albert Bruckner, I. Quellenband, 1949.

RhVjbll.

Rheinische Vierteljahrsblätter. Mitteilungen des Instituts für geschichtliche1 Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn.

Abkürzungsverzeichnis

12 Schweiz. Zs.

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte.

Trad. Corb.

Traditiones Corbeienses, hrsg. von Paul Wigand, 1843.

Trad. Freis.

Die Traditionen des Hochstifts Freising, hrsg. von Theodor Bitterauf. Bd. I (744—926). 1905 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte N F 4).

Trad. Mondsee

Codex traditionum monasterii Lunaelacensis. In: Urkundenbuch des Landes ob der Enns, Bd. I, 1852.

Trad. Passau

Die Traditionen des Hochstifts Passau, hrsg. von Max Heuwieser, 1930 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N F 6).

Trad. Regensburg Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram, hrsg. von Josef Widemann, 1943 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte N F 8). U B Erzstift Magdeburg

Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, Teil 1 (937—1192), bearb. von F R I E D R I C H ISRAEL unter Mitwirkung von W A L T E R MÖLLENBERG. 1937 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt. Neue Reihe 18).

UB Fulda

Urkundenbuch des Klosters Fulda. Erster Band (Die Zeit der Äbte Sturmi und Baugulf), bearb. von E D M U N D E. S T B N GEL, 1958 (Veröff. d. Hist. Kommission für Hessen und Waldeck X , 1).

UB Hersfeld

Urkundenbuch der Reichsabtei Hersfeld. Erster Band, 1. Hälfte, bearb. von H A N S W E I R I C H . 1936 (Veröff. d. Hist. Kommission für Hessen und Waldeck X I X , 1).

U B Kaufungen

Urkundenbuch des Klosters Kaufungen in Hessen, bearb. v o n H E R M A N N V O N ROÇUES, 2 B d e . ,

1900—1902.

U B Mittelrhein

Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien, bearb. von BEYER, ELTESTER und G Ö R Z , 3 Bde., 1860 bis 1874.

U B Salzburg

Salzburger Urkundenbuch, I. Bd. Traditionscodices. Hrsg. von Willibald Hauthaler, 1910.

UB St. Gallen

Urkundenbuch der Abtei St. Gallen, hrsg. von Hermann Wartmann, Bd. I und I I , 1863—1866.

UB St. Stephan

Urkundenbuch der Benediktinerabtei St. Stephan in Würzburg, Bd. I , bearb. von F R A N Z JOSEPH B E N D E L , neu bearb. von F R A N Z HEIDINGSFELDER u n d M A X K A U F M A N N , 1 9 1 2 .

U B Wtirtt. UB Zürich

Wirtembergisches Urkundenbuch, Bd. I — X I , 1849—1913. Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, bearb. von J . ESCHER, P . SCHWEIZER U . a . , B d . I ff.,

1 8 8 8 ff.

VSWG

Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

WAMPACH,

CAMILLUS W A M P A C H , Geschichte der Grundherrschaft Echternach im Frühmittelalter, Bd. I, 1.2. 1929/30.

Echternach

Abkürzungsverzeichnis

13

WiLMANs

Die Kaiserurkunden der Provinz Westfalen, bearb. von R O G E R W I L M A N S , Bd. I , 1 8 6 7 .

WUB

siehe U B Württ.

Württ.Franken

Württembergisch Franken. Jahrbuch des Hist. Vereins für Württembergisch-Franken.

WürttVjh.

Württembergische Vierteljahrshef te für Landesgeschichte.

ZBayerLG

Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte.

ZGOberrhein

Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins.

ZHessG

Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde.

ZSRG

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. G A Germanistische Abteüung, K A Kanonistische Abteilung.

ZThürV

Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde.

ZWürttLG

Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte.

777—1313,

Einleitung

Forscbungsstand und Quellenlage Mit der Frage nach Struktur und Funktion der Grafschaft wird zugleich die Frage nach dem Wesen des mittelalterlichen Staates gestellt. In der älteren Forschung dominierte die Vorstellung von der Existenz einer G r a f s c h a f t s v e r f a s s u n g im frühen und hohen Mittelalter. Durch diese Sicht wurde die Grafschaft als eine der wichtigsten Institutionen des fränkischen und des deutschen Reiches des Mittelalters aus der Fülle der verfassungs- und rechtsgeschichtlichen Erscheinungen herausgehoben und zum zentralen Strukturelement der Reichsverfassung gemacht. In der neueren deutschen Forschung ist ihr dieser Rang allerdings wieder abgesprochen worden. Es gibt gegenwärtig kaum einen Bereich der mittelalterlichen Geschichte, dessen Grundlagen so umstritten sind, wie die der Verfassungsgeschichte. Die klassische deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte ein überzeugendes, in sich geschlossenes Lehrgebäude errichtet, das auf festen Fundamenten zu ruhen schien. Die jahrzehntelange Forschung war vor allem von Rechtshistorikern oder wenigstens von juristisch geschulten Gelehrten getragen worden, die die vielfältigen historischen Erscheinungen in ein logisch einwandfreies System zu bringen suchten. Allerdings ist man in der Gegenwart zu leicht geneigt, die Geschlossenheit dieses Gebäudes zu überschätzen, denn an Kontroversen sowohl über Grundfragen als auch über Einzelprobleme hat es nicht gefehlt. Nur treten sie in den Gesamtdarstellungen und den rechtsgeschichtlichen Lehrbüchern, an denen man sich heute vielfach zu orientieren pflegt, weniger in Erscheinung. Hier herrschte der Zwang zur Systematisierung und zur Reduktion auf das Wesentliche, so daß räumliche und zeitliche Unterschiede trotz der unvergleichlichen Quellenkenntnis dieser Gelehrtengenerationen nicht selten in den Hintergrund traten oder nivelliert wurden. So ist es kein Zufall, daß der Generalangriff auf dieses Lehrgebäude vor allem von dem Zweig der Geschichtswissenschaft geführt wurde, der sich auf die Erforschung kleinerer historischer Räume konzentrierte und nach der Erkenntnis der regionalen Besonderheiten strebte, der modernen Landesgeschichtsschreibung. Verfassungsgeschichtsforschung

16

Einleitung

auf landesgeschichtlicher Ebene gab es zwar schon längst, doch standen die Vertreter dieser Forschungsrichtung stets im Schatten der Repräsentanten der allgemeinen Rechts- und Verfassungsgeschichte. Seit einigen Jahrzehnten hat sich das Bild gewandelt. In zahlreichen Arbeiten wurde gezeigt, daß die Verfassungsgeschichtsforschung immer stärker auf landesgeschichtlichen Untersuchungen aufbauen muß, wenn sie hinter den Normen die Verfassungswirklichkeit erkennen will. Die Landesgeschichte hat sich aber nicht nur emanizipiert, sondern sie erwies sich auch als ein geeigneter methodischer Ansatzpunkt für eine fundamentale Uberprüfung des älteren Lehrgebäudes. Schon A L F O N S D O P S C H , der von der österreichischen Landesgeschichte her Zugang zur allgemeinen Wirtschafts-, Verfassungs- und Sozialgeschichte fand und in seinen zahlreichen Untersuchungen zwischen rechtshistorischer Typisierung und regionalgeschichtlicher Individualisierung zu vermitteln suchte, schickte seinem Werk über die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung einen langen kritischen Forschungsbericht voraus 1. Grundsätzliche Kritik an den Methoden und den ideologischen Prämissen der Vertreter der klassischen deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung haben dann O T T O B R U N N E R 2 , H E I N R I C H D A N N E N B A U E R 3 und T H E O D O R M A Y E R 4 geübt, andere wie H E I N R I C H M I T T E I S 5 oder K A R L S I E G F R I E D B A D E R 6 haben ihnen wenigstens in wesentlichen Punkten zugestimmt. Mit der Frage der ideologischen Bedingtheit der 1 A L F O N S DOPSCH, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2. Auflage 1923, I, S. 1 ff. 2 O T T O B R U N N E R , Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs i m Mittelalter, 5. Auflage 1965, S. 111 ff. (1. Auflage 1939); DERS., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte. In: M I Ö G Erg.-Bd. 14 (1939). (Neufassung in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hrsg. von Hellmut Kämpf, 1956 (Wege der Forschung 2), S. 1—19). 3 H E I N R I C H DIANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwicklung. In: Hist Jb. 61 (1941), S. 1—50 (Neudruck in: DANNENBAUER, Grundlagen der mittelalterlichen Welt. Skizzen und Studien, 1958, S. 121—178); DERS., Hundertschaft, Centena und Huntari. In: HistJb. 62/69 .(1949), S. 155—219 (Neudruck in: D»ANNENBAUER, Grundlagen der mittelalterlichen Welt, S. 179—239). 4 T H E O D O R M A Y E R , Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter. In: H Z 159 (1939), S. 457—487 (Neufassung in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, S. 284—331); DERS., Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters, 1950, S. X I V ; DERS., Grundlagen und Grundfragen. In: Grundfragen der alemannischen Geschichte, 1955 (Vorträge und Forschungen 1), S. 7—35; DERS., Die Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters. In: Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte, 1955 (Vorträge und Forschungen 2), S. 7—56. 5 H E I N R I C H M I T T E I S , Land und Herrschaft. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch O T T O BRUNNERS. In: H Z 163 (1941), S. 255—281, 471—489. Β K A R L SIEGFRIED B A D E R , Herrschaft und Staat im deutschen Mittelalter. In: HistJb. 62/69 (1949), S. 618—646.

Forschungsstand und Quellenlage älteren Lehrmeinungen hat sich i n ausführlicher Weise

17 BÖCKENFÖRDE

auseinandergesetzt 7 . D i e A b k e h r von den Auffassungen der älteren Lehre w a r aber nicht nur eine Folge des Hervortretens landesgeschichtlicher Aspekte, sondern w u r d e auch dadurch bedingt, daß m a n i n der neueren Forschung danach strebte, die besonderen F o r m e n der mittelalterlichen rechtlichen u n d sozialen Ordnungen stärker i n ihrer Eigenart u n d Eigenständigkeit zu begreifen u n d von den modernen Phänomenen des staatlichen u n d gesellschaftlichen Lebens abzusetzen. Erscheinungen w i e M u n t , Fehde, Sippe, Hausherrschaft, Vogtei oder Charisma, die der älteren Forschung keineswegs unbekannt waren, rückten deutlicher ins Blickfeld der F o r schung und erhielten ein größeres spezifisches Gewicht. D i e Gefolgschaft i n ihren verschiedenartigen Ausprägungen w u r d e als ein wesentliches Element des mittelalterlichen Gesellschaftsgefüges hervorgehoben; m i t ihr i m Zusammenhang steht die Treue, nicht als ein bloß moralisches Postulat, sondern als ein besonderer u n d tragender Rechtsbegriff 8 . Neuere tiefgreifende Forschungen galten der spätgermanischen u n d frühmittelalterlichen Stammesbildung 9 , dem germanischen Heerkönigt u m 1 0 , dem Problem der rechtsständischen F r e i h e i t 1 1 u n d der Bedeutung 7 E R N S T - W O L F G A N G BÖCKENFÖRDE, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung i m 19. Jährhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 1). 8 W A L T E R SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanischdeutschen Verfassungsgeschichte. In: SCHLESINGER, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 1963,1, S . 9—52; H A N S K U H N , Die Grën-^ zen der germanischen Gefolgschaft. In: ZSRG GA 73 (1956), S. 1—83; F R A N TISEK GRAUS, Über diie sogenannte germanische Treue. In: Historica I (19®9), S. 71—121; W A L T E R SCHLESINGER, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue. In: SCHLESINGER, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, I, S. 286—334. 9 R E I N H A R D WBNSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, 1961. 1 0 W A L T E R SCHLESINGER, Über germanisches Heerkönigtum. I n : SCHLESINGER, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, I, S. 53—87. 11 Die Literatur ist kaum mehr zu übersehen. Hervorzuheben sind die Sammelbände Adel und Bauern im Deutschen Staat des Mittelalters, hrsg. von Theodor Mayer, 1943 (Neudruck 1967) und Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte, 1955 (Vorträge und Forschungen 2). T H B O D O R M A Y E R , Die Entstehung des „modernen" Staates i m Mittelalter! und die freien Bauern. In: ZSRG GA 57 (1937), S. 210—288; DBRS., Königtum und Gemeinfreiheit i m frühen Mittelalter. I n : M A Y E R , Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, 1959, S. 139—163; DERS., Bemerkungen und Nachträge zum Problem der freien Bauern. I n : M A Y B R , Mittelalterliche Studien, S. 164—186; H E I N R I C H DANNENBAUER, Die Freien i m karolingischen Heer. In: DANNENBAUER, Grundlagen der mittelalterlichen Welt, S. 240—256; F R I E D R I C H L Ü T G E , Das Problem der Freiheit in der früheren deutschen Agrarverfassung. In: L Ü T G E , Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte A b handlungen, 1963 (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 5), S. 1—36; F R A N Z IRSIGLER, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels, 1969 (Rhein. Archiv 70). — Vgl. ferner die Aufsatzsammlung von K A R L BOSL, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, 1964.

2 Schulze

18

Einleitung

von Königsgut und Königspfalz für den mittelalterlichen Staatsaufbau 12 . In der Diskussion über den Charakter des Staates im Mittelalter sind von M A Y E R durch die Unterscheidung von älterem „aristokratischen Personenverbandsstaat" und jüngerem „institutionellen Flächenstaat" neue Akzente gesetzt worden 13 . Die vertiefte Erkenntnis im Einzelnen durch landesgeschichtliche Untersuchungen und die fruchtbare Anwendung neuartiger Betrachtungsweisen sind mit dem Zusammenbruch des gesamten „klassischen" Lehrgebäudes bezahlt worden. Es durch einen Neubau zu ersetzen, ist bisher noch niemandem gelungen. Es ist symptomatisch, daß die Gesamtdarstellungen der letzten Jahrzehnte fast ausschließlich Nachdrucke oder Neuauflagen älterer Werke waren 14 , während sich die Vertreter der modernen Forschungsrichtung vorerst mit programmatischen Skizzen und mit Spezialuntersuchungen begnügten. Einen gewissen Ersatz bieten einige Aufsatzsammlungen, von denen die eine oder die andere schon durch Titel wie „Grundlagen der mittelalterlichen Welt" oder „Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa" höhere Ansprüche geltend macht15. Es ist selbstverständlich, daß die Frage der Grafschaftsverfassung als eines der Grundprobleme des mittelalterlichen Staatsaufbaues von dieser Entwicklung innerhalb der Forschung zutiefst berührt werden mußte. Die ältere deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichtsforschung hatte das Bild einer weitgehend durchgeformten fränkischen Grafschaftsverfassung entworfen, die eine feste Grundlage für Verwaltung, 1 2 W O L F G A N G M E T Z , Das karolingische Reichsgut. Eine verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Untersuchung, 1960, sowie weitere zahlreiche Arbeiten des gleichen Verfassers. W A L T E R SCHLESINGER, Die Pfalzen im Rhein-MainGebiet. In: G W U 14 (1963), S. 487—504; DBRS., Pfalzen und Königshöfe in Württembergisch Franken und angrenzenden Gebieten. In: Jb. Hist. Verein Württ. Franken 53 (1969), S. 3—22; Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, I, 1963, I I , 1965 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte X I , 1.2). 13 T H E O D O R M A Y E R , Die Entstehung des „modernen" Staates i m Mittelalter und die freien Bauern, S. 211 ff.; DERS., Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates i m hohen Mittelalter, S. 462 ff. 14 Eine Ausnahme bildet die neuere Rechtsgeschichte von H E R M A N N C O N R A D , Deutsche Rechtsgeschichte, 2. ergänzte Auflage 1962, Bd. 1 : Frühzeit und M i t telalter, die in ihrer Grundhaltung ausgesprochen konservativ ist. 15 H E I N R I C H DANNENBAUER, Grundlagen der mittelalterlichen Welt. Skizzen und Studien, 1958; T H E O D O R M A Y E R , Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, 1963; W A L T E R SCHLESINGER, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 2 Bände 1963; DBRS., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 1961; K A R L BOSL, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, 1964. H E I N R I C H M I T T E I S , Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, 1. Auflage 1940, 6. Auflage 1959, hat sein Werk bis zur 4. Auflage immer wieder dem Forschungsstand anzupassen gesucht.

Forschungsstand und Quellenlage

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Rechtspflege und Heerwesen bildete. Sie rekonstruierte die Einteilung des Reiches in Grafschaften und sah in den Grafen vom Königtum eingesetzte und abhängige Amtsträger mit mehr oder weniger genau abgegrenzten Funktionen und bestimmten Rechten und Pflichten. Diese Sicht der fränkischen Zeit bestimmte auch die Vorstellungen, die man sich vom Verlauf der weiteren Verfassungsentwicklung machte. Erwies sich die Grafschaft als eine der Grundstrukturen des frühmittelalterlichen Staates, so lag es nahe, ihr auch bei den tiefgreifenden Veränderungen der Verfassung im hohen Mittelalter eine wesentliche Rolle zuzubilligen. In einem durch harte Kontroversen gekennzeichneten Prozeß setzte sich die Auffassung durch, die Grafschaft sei der entscheidende Faktor für die Entstehung der deutschen Territorialstaaten des hohen und späteren Mittelalters gewesen. Man ging von einer im wesentlichen einheitlichen, vom Königtum delegierten Grafengewalt als der Hauptwurzel der späteren Landesherrschaft aus. Einer der profiliertesten Vertreter dieser Theorie war G E O R G V O N B E L O W : „An diese Grafen der fränkischen Zeit knüpfte der deutsche Landesherr an. Zwar haben die alten Grafschaften bedeutende Umwandlungen erfahren, bis es zur Bildung der Territorien kam. Allein in wesentlichen Stücken erkennt man doch in der Landesherrschaft das Grafenamt wieder 16 ." B E L O W wußte natürlich gut, daß die Territorialstaaten oftmals aus Rechten und Besitztiteln verschiedener und verschiedenartiger Herkunft zusammengewachsen waren, aber er betrachtete die gräfliche Gewalt und die mit ihr verbundene Hochgerichtsbarkeit als das eigentlich ausschlaggebende Element: „Aber überall war es im Grunde doch dieselbe Gewalt, welche der Landesherr ausübte, nämlich in erster Linie die im alten Grafenamt enthaltene hohe Gerichtsbarkeit 17." Die Herrschaft über Immunitätsbezirke wurde als der Grafengewalt gleichrangig betrachtet, so daß auch über die Immunität der Aufstieg zur Landesherrschaft möglich war. Die Wandlungen im Charakter der Grafschaft im Laufe des Mittelalters sind von der älteren Forschung nicht übersehen worden. Solange sie jedoch von der Vorstellung einer wohlgeordneten und im wesentlichen gleichmäßigen Grafschaftsgliederung des karolingischen Reiches ausging und die Kontinuität der gräflichen Gewalt grundsätzlich bejahte, mußte sie die weitere Entwicklung fast zwangsläufig unter dem Gesichtspunkt des Niederganges der königlichen Macht und der Zersplitterung des Reiches sehen.

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der

2*

GEORG V O N B E L O W , Vom Mittelalter zur Neuzeit, 1924, S. 23. BELOW, Vom Mittelalter zur Neuzeit, S. 34; ferner DBRS., Der Landeshoheit. In: B E L O W , Territorium und Stadt, 2. Auflage 1923,

Ursprung S. 1 ff.

20

Einleitung

Untersuchungen zur Entstehung der Landesherrschaft in den einzelnen deutschen Landschaften haben allmählich zu einer differenzierteren Betrachtungsweise geführt, denn es wurde deutlich, daß sich die Entwicklung der Landesherrschaft vielfach in einem sehr komplizierten Prozeß vollzog, in dem der Besitz gräflicher Rechte eine unterschiedliche Rolle gespielt zu haben scheint18. Vor allem aber setzte sich in der Forschung eine neue Bewertung der Grafengewalt selbst durch. Für die Vertreter der älteren Lehre war die Grafschaft ein Amtsbezirk ('ministerium), in dessen Rahmen der Graf als königlicher Beauftragter delegierte öffentliche Rechte ausübte. Die Entwicklung der Grafschaft zur Landesherrschaft erschien daher mehr oder weniger als Usurpation delegierter königlicher Rechte durch einen Amtsträger. Demgegenüber vertrat O T T O V O N D U N G E R N die Ansicht, der Hochadel habe kraft einer ihm angeborenen Immunität in seinem Machtbereich grafengleiche Rechte besessen19. D U N G E R N , der am Amtscharakter der Grafengewalt selbst nicht gezweifelt hat, ist bei der Entwicklung seiner Theorie von den Verhältnissen des Hochmittelalters ausgegangen, hat aber offenbar geglaubt, daß seine Überlegungen auch für die Karolingerzeit Gültigkeit beanspruchen dürfen. Seine Gedanken sind von der modernen Forschung aufgegriffen und in sehr entscheidenen Punkten weiterentwickelt worden 20 . Die Herrschaft des Adels, die über die Grundherrschaft im 18 H A N S F E H R , Die Entstehung der Landeshoheit i m Breisgau, 1 9 0 4 , betont sehr stark die Rolle der Grafenrechte. Wesentliche Anregungen zu einer anderen Betrachtungsweise vermittelte H E R M A N N A U B I N , Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen. Studien über Grafschaft, Immunität und Vogtei, 1920. SCHLESINGER, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchungen vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen, 1 9 4 1 , Neudruck 1 9 6 4 ; HERBERT H E L B I G , Der wettinische Ständestaat, 1 9 5 5 ; K A R L H E I N Z M A S C H E R , Reichsgut und Komitat am Südharz i m Hochmittelalter, 1 9 5 7 ; H A N S P A T Z E , Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, T e i l l , 1 9 6 2 ; H A N S K. SCHULZB, Adelsherrschaft und Landesherrrschaft, 1 9 6 3 ; M A R T I N L A S T , Adel und Graf in Oldenburg während des Mittelalters, 1 9 6 9 ; K A R L - H E I N Z L A N G E , Der Herrschaftsbereich der Grafen von Northeim 9 5 0 — 1 1 4 4 , 1 9 6 9 ; M A X SPINDLER, Die Anfänge des bayerischen Landesfürstentums, 1 9 3 7 . F o r s c h u n g s b e r i c h t e : T H E O D O R M A Y E R , Analekten zum Problem der Entstehung der Landeshoheit, vornehmlich in Süddeutschland. In: B l l . f . d t . L G 8 9 ( 1 9 5 2 ) , S. 8 7 — 1 1 1 ; P A N K R A Z F R I E D , Verfassungsgeschichte und Landesgeschichtsforschung in Bayern. Probleme und Wege der Forschung. In: Zur Geschichte der Bayern, hrsg. von K a r l Bosl, 1 9 6 5 (Wege der Forschung 6 0 ) , S. 5 2 8 — 5 6 4 ; O T T O M E R K E R , Grafschaft, Go und Landesherrschaft. Ein Versuch über die Entwicklung früh- und hochmittelalterlicher Staatlichkeit, vornehmlich i m sächsischen Stammesgebiet. In: Niedersächs. Jb. 3 8 ( 1 9 6 6 ) , S. 1 — 6 0 . 19 O T T O FREIHERR V O N D U N G E R N , Adelsherrschaft im Mittelalter, 1 9 2 7 . 2 0 A D O L F W A A S , Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter, 1 9 3 8 (Eberings Hist. Studien 3 3 5 ) ; SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, besonders S. 1 1 9 ff.; D E R S . , Herrschaft und Gefolgschaft, S. 3 0 ff.; DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft. — Stärkste Betonung der Rolle des Adels und seiner autogenen Herrengewalt bei K A R L BOSL, kritisch bisher vor allem K A R L KROBSCHELL, Haus und Herrschaft i m frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch, 1968 (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 70).

Forschungsstand und Quellenlage

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engeren Sinne hinausging21, wurde nun nicht mehr in erster Linie auf delegierte oder usurpierte königliche Rechte „öffentlich-rechtlicher Natur" zurückführt, sondern als Ausfluß einer autogenen adligen Herrengewalt betrachtet, deren Ursprünge bis in die germanische Zeit zurückreichen. Die Kämpfe zwischen Königtum und Adel, die der mittelalterlichen Geschichte weithin das Gepräge geben, erscheinen so nicht als Rebellion des zur Macht strebenden Adels gegen die vom Königtum repräsentierte legitime Staatsgewalt, sondern als Kampf zwischen den Inhabern von Herrschaftsrechten, die ihrem Wesen nach zwar nicht gleichrangig, wohl aber gleichartig waren. Den autogenen Herrschaftsrechten des Adels wird daher in der neueren Forschung ein wesentlicher Anteil bei der Entstehung der Landesherrschaft beigemessen. Am präzisesten ist diese Ansicht von W A L T E R S C H L E S I N G E R formuliert worden, der seine Untersuchungen über die Entwicklung der Landesherrschaft mit der Feststellung beschließt: „Nicht aus einer durch Mischung germanischer und antiker Elemente entstandenen gräflichen Gewalt ist die Landesherrschaft hervorgegangen, sondern aus der adligen Herrschaft rein germanischer Prägung 22 ." Es wäre freilich höchst einseitig, wollte man das Problem der Grafschaftsverfassung nur unter dem Aspekt des Verhältnisses von Königtum und Adel sehen. Wie jede verfassungsgeschichtliche Erscheinung ist auch die Grafschaft an bestimmte soziale Strukturen gebunden, die nicht außer Acht gelassen werden können. Wandlungen in der Beurteilung der sozialen Gliederimg einer Gesellschaft müssen auch zu einer neuen Bewertung der Institutionen führen. Die Vorstellungen der älteren Forschung über Funktion und Struktur der Grafschaftsverfassung konnten überhaupt nur dadurch ausgebildet werden, daß man mit der Existenz einer breiten Freienschicht rechnete, die das Fundament der frühmittelalterlichen Gesellschaft darstellte. Diese „Gemeinfreien", so nahm man im allgemeinen an, unterstanden unmittelbar dem Grafen und damit letztlich dem Königtum; sie waren es, die durch den Grafen zum Heeresdienst aufgeboten wurden, zu Leistungen verschiedener Art im Interesse des Staates herangezogen werden konnten, das Grafengericht besuchten und dort als Schöffen fungierten. An dieser Lehre von der „Gemeinfreiheit" ist herbe Kritik geübt worden 23 . Die neuere Forschung hat inzwischen ganz andere Vorstellungen vom Wesen rechtsständischer Freiheit im Mittelalter entwickelt, so daß der älteren Auffassung von der Grafschaftsverfassung auch 21

Vgl. dazu den zusammenfassenden Artikel Grundherrschaft von H . K . in HWBDt. R G I , 1 9 7 1 , Spalte 1 8 2 4 — 1 8 4 2 . SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, S . 2 6 5 . Vgl. besonders die in Anm. 1 1 genannten Arbeiten von D A N N E N B A U E R ,

SCHULZE 2 2

23

MAYER u n d

BOSL.

22

•Einleitung

durch eine neue Sicht der sozialen Grundlagen der Boden entzogen wurde. Die Zerstörung des alten Lehrgebäudes von verschiedenen kritischen Ansatzpunkten her läßt sich recht gut rekonstruieren, während es ziemlich schwierig ist, die modernen, zum Teil beträchtlich voneinander abweichenden Theorien über die Grafschaftsverfassung zu skizzieren. Begründet ist dies nicht zuletzt im Gang der Forschung selbst. Einen entscheidenden Anstoß zur Neubewertung der Grafschaftsverfassung gab A D O L F W A A S , der den Begriff der Munt in den Mittelpunkt seiner verfassungs- und sozialgeschichtlichen Forschungen stellte und mit seiner Hilfe alle Phänomene des mittelalterlichen Staatsaufbaues zu erklären suchte24. Er ging von einer Kritik an H E R M A N N H E I M P E L aus, der von einem Dualismus von amts- und volksrechtlichen Elementen einerseits und aristokratisch-herrschaftlichen Elementen andererseits gesprochen hatte, und stellte die Frage, ob die Annahme eines solchen dualistischen Charakters des mittelalterlichen Staates wirklich begründet sei25. Der Auffassung von einem rein „herrschaftlich-aristokratischen" Staatsaufbau, die von W A A S vertreten wurde, stand freilich die ältere Theorie über das Wesen der Grafschaft als einer „amtsrechtlichen" Institution entgegen2·. W A A S entwickelte daher — gestützt auf seine Theorien über die Bedeutung des Königsbannes und den „muntherrlichen Charakter des frühmittelalterlichen Staates" — eine eigene Auffassung vom Wesen der Grafschaft. Nach seiner Meinung gab es in den westlichen Teilen des fränkischen Reiches „Amtsgrafschaften", die jedoch stets in der Gefahr schwebten, von den Inhabern in adlige Herrschaftsbezirke umgewandelt zu werden. Diese „Amtsgrafschaften" waren aber auf die ehemals römischen Gebiete beschränkt, während Karl der Große in den übrigen Teilen seines Reiches Grafschaften ganz anderer Art schuf, nämlich „Königsbannbezirke unter einem Grafen als königlichen Beauftragten" 27 . Das Königstum verfügte also in karolingischer Zeit über zwei unterschiedliche Typen von Grafschaften, die „volksrechtlichen Grafschaften" (Amtsgrafschaften) und die „Grafschaften muntherrschaftlichen Charakters". Die Königsmuntgrafschaften wertet W A A S als eine „bewußte politische Schöpfung" Karls des Großen. 2 4 W A A S , Herrschaft und Staat. — Bei Zitaten ist zu beachten, daß W A A S abweichend vom üblichen Sprachgebrauch nicht nur die ottonische, sondern auch die salische Zeit zum Frühmittelalter rechnet. 25 WAAS, Herrschaft und Staat, S. 25 f. 26 WAAS, Herrschaft und Staat, S. 26 f.: „Es ist trotz aller Hinweise auf aristokratisch-herrschaftliche Charakterzüge, die wir fanden, nicht möglich, über Heimpels dualistische Auffassung des frühmittelalterlichen Staatswesens hinauszukommen, wenn die Grafschaftsverfassung des fränkischen Reiches das Mittelalter hindurch in der Weise bestand, wie man mit guten Gründen immer annehmen zu müssen glaubte". 27 WAAS, Herrschaft und Staat, S. 160.

Forschungsstand und Quellenlage

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Diese „königsherrschaftlichen Grafschaften", die W A A S auch „Königsmunt- oder Königsbanngrafschaften" nennt, beruhten nicht auf dem „Volks- und Amtsrecht", sondern auf „Königsrecht"; sie waren Bezirke unmittelbarer Herrschaft des Königs über Königsgut und Königsbauern 28 . Unter Berufimg auf die Forschungen D U N G E R N S stellte W A A S neben die „königsherrschaftlichen Banngrafschaften" dann die „allodialen Grafschaften" des Adels, in denen „der dynastische Herr Grafengerichtsrechte ausübte, und zwar nicht kraft königlicher Verleihung, sondern kraft eigenen angestammten Rechtes"29. I n spätkarolingischer Zeit hat sich nach W A A S der herrschaftliche Charakter der Grafschaften weiter intensiviert, so daß es in Deutschland zur Zeit der Ottonen und Salier überhaupt nur noch „herrschaftsrechtliche" Grafschaften gegeben hat. Der Typ der „Amtsgrafschaft" war untergegangen. Die Theorien von W A A S sind in der Form, in der sie von ihm vorgetragen worden waren, zwar von der Forschung nicht allgemein akzeptiert worden, haben aber ihre Wirkung auf die Dauer nicht verfehlt. Das gilt nicht zuletzt für die Theorie von den „königsherrschaftlichen Grafschaften", aus der sich die moderne Lehre von den „Königsgutsgrafschaften" entwickelte. Diesem Ansatzpunkt von W A A S kam entgegen, daß in der neueren Forschung die Rolle des Königsgutes für den mittelalterlichen Staatsaufbau und die Staatsverwaltung immer mehr hervorgehoben wurde. Schon im Jahre 1 9 4 1 hatte S C H L E S I N G E R die Vermutung geäußert, die Grafschaftsverfassung sei im Osten des Reiches nur auf Königsboden wirklich durchgesetzt worden 30 . Sein Urteil hat die Forschung stark beeinflußt, obgleich er selbst später dieser Ansicht wieder skeptischer gegenüberstand 81. H E I N R I C H D A N N E N B A U E R , der zu einem der führenden Vertreter der modernen Verfassungsgeschichte wurde, regte eine Dissertation über die Grafschaftsverfassung in Schwaben und Ostfranken an, die eine Bestätigung der Lehre von den königsherrschaftlichen Grafschaften brachte 82. Ein Schüler D A N N E N B A U E R S war auch G E R H A R D B A A K E N , der die ostsächsischen Grafschaften der ottonischen und salischen Zeit untersuchte und sie als Krongutsbezirke interpretierte 38 . Auch H E I N R I C H M I T T E I S hat sich 28

WAAS, Herrschaft und Staat, S. 161 ff. WAAS, Herrschaft und Staat, S. 182. 3 0 SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, S . 139, dazu S . 189 ff. unter ausdrücklicher Berufung auf die Ergebnisse von W A A S und D U N G E R N . 8 1 SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, Vorbemerkungen zum Neudruck 1964, S . X I I I f.; vgl. aber SCHLESINGER, Verfassungsgeschichte und Landesgeschichte. In: Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des M i t telalters, I I , S. 30 f. mit Anmerkung 74. 3 2 G E R T R U D K I E F E R , Grafschaften des Königs in Schwaben und Franken. Phil. Diss. Tübingen 1954 (Mschr.). 3 3 G E R H A R D B A A K E N , Königtum, Burgen und Königsfreie. Studien zu ihrer Geschichte in Ostsachsen. In: Vorträge und Forschungen 6, 1961, S. 33 f., 81 f. 29

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Einleitung

unter Berufung auf P H I L I P P I , der schon vor längerer Zeit ähnliche Gedanken geäußert hatte, diesen Theorien angeschlossen. Er ist der Auffassung, daß die fränkischen Grafen nach der Eroberung Sachsens von Karl dem Großen als Verwalter von Reichsgut und als Richter für die auf Königsland angesiedelten fränkischen Kolonisten eingesetzt worden sind84. An Hand des bayerischen Quellenmaterials überprüfte E L I S A B E T H 38 H A M M 1 9 4 9 die Theorie von den Königsgutsgrafschaften . Sie kam zu dem Schluß, die bayerischen Grafschaften der karolingischen, ottonischen und salischen Zeit seien in der Tat ausschließlich Königsgutsgrafschaften gewesen. Sie legte auch eine neue Definition des Begriffs Grafschaft vor, die durch K A R L B O S L Eingang in das Sachwörterbuch zur Deutschen Geschichte gefunden hat 88 und von daher fast zum Allgemeingut der deutschen Forschung geworden ist. Der Nachweis von Königsgutsgrafschaften in den verschiedenen deutschen Landschaften schien also die Theorie von W A A S Z U bestätigen, obwohl über das Aussehen dieses Typs von den einzelnen Autoren zum Teil unterschiedliche Auffassungen vertreten wurden. Weitergewirkt haben aber nicht nur die Vorstellungen von W A A S über die königsherrschaftlichen Grafschaften, sondern auch seine Theorien über die allodialen Grafschaften des Adels. D A N N E N B A U E R betrachtete die alemannischen und sächsischen Grafen als Herren, die sich zwar Grafen nannten, in Wirklichkeit aber Herrschaft kraft eigenen Rechts übten 37 . S C H L E S I N G E R vermutet dasselbe für die thüringischen Grafen der Karólingerzeit 88 , K R O E S C H E L L für Hessen89. K I E F E R behauptete, daß alle Grafschaften Schwabens und Frankens, die nicht als Königsgutsgrafschaften in den Händen der Zentralgewalt wären, als Allodialgrafschaften der Herrschaft des Adels unterlagen 40. Es muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß diese „Allodialgrafschaften" nicht etwa als allodialisierte Amtsgrafschaften aufgefaßt werden, sondern als Bezirke SI M I T T E I S , Staat des hohen Mittelalters, S . 8 1 : „ . . . d i e fränkischen Grafen kamen ins Land als Verwalter der für die Krone beschlagnahmten1 Güter und als Richter für die fränkischen Kolonisten auf Königsland". 8 5 ELISABETH H A M M , Herzogs- und Königsgut, Gau und Grafschaft im frühmittelalterlichen Bayern. Phil. Diss. München 1949 (Mschr.). 3 6 K A R L BOSL, Artikel „Grafschaft". In: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, hrsg. von Hellmuth Rössler und Günther Franz, 1958, S. 369—371. 3 7 DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft, S . 1 5 9 , 1 7 7 f. 8 8 SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, Vorbemerkungen zum Neudruck 1964, S . X I I ; DERS., Das Frühmittelalter. In: Geschichte Thüringens, hrsg. von Hans Patze und Walter Schlesinger, I, 1968, S. 353 f. 3 9 K A R L KROESCHELL, Die Zentgerichte in Hessen und die fränkische Centene. Ini ZSRG GA 73 (1956), S. 332 f. 4 0 K I E F E R , Grafschaften des Königs, S. 208: „Die Herrschaftsgebiete, bei denen eine Beziehung zum König nicht erkennbar war, haben sich als allodiale Grafschaften herausgestellt. Es läßt sich nicht ein Verwaltungsbezirk finden, der mit guten Gründen als amtsrechtliche Grafschaft der alten Lehre anzusprechen wäre".

Forschungsstand und Quellenlage

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autogener adliger Herrschaft, die zwar Grafschaft genannt werden, in denen der Graf aber Herrschaft kraft eigenen angestammten Rechts übte. Darin besteht ein Unterschied zur Auffassung von D Ü N G E R N , der für die von ihm untersuchten Dynastenfamilien nur die gräfliche Gewalt, nicht aber den Titel beanspruchte und Allodialgrafschaften für eine späte Erscheinung hielt. Allmählich wandelten sich in der Forschung auch die Vorstellungen über die räumliche Struktur der Grafschaft. I m Zusammenhang mit den skizzierten Theorien entstand die Lehre von den Streugrafschaften. Hatte man in der älteren Forschung die Grafschaften als geschlossene, den modernen Landkreisen ähnliche Bezirke betrachtet, so besagt diese moderne Lehre, daß sich die gräfliche Gewalt nicht über einen zusammenhängenden Raum erstreckte, sondern durch eine Streuung der Herrschaftsrechte gekennzeichnet war. Diesen Gedanken hatte O T T O H. S T O WASSER im Jahre 1925 für die bayerischen und österreichischen Grafschaften des Höchmittelalters als erster geäußert 41, und auch W A A S hatte behauptet, die in ottonischer und salischer Zeit an die Kirche verschenkten Grafschaften seien keine „geschlossenen Amtsbezirke", sondern bloß „verstreute Herrschaftskomplexe" gewesen42. Für die Vertreter der Lehre von den Königsgutsgrafschaften war es selbstverständlich, daß von geschlossenen gräflicheil Amtsbezirken keine Rede sein konnte. Basierte die Grafschaft auf Königsgut und Reichslehen, so mußte es sich um den Typ der Streugrafschaft handeln, da Königsgut und königliche Lehen nur gelegentlich größere geschlossene Räume umfaßten. I n ähnlicher Weise gilt das auch von den Allodialgrafschaften des Adels. I n besonders pointierter und damit richtungsweisender Form ist dieser Gedanke von S A B I N E K R Ü G E R für das sächsische Stammesgebiet vertreten worden 43 . Sie ist der Auffassung, Karl der Große habe bei der Einführung der Grafschaftsverfassung nicht etwa die altsächsischen Gaue, sondern die Herrschaftsbereiche des einheimischen Adels als Grundlage benutzt. Da sich der sächsische Adelsbesitz in der Regel über größere Räume verteilte und außerdem ineinander verzahnte, ergaben sich Streugrafschaften, die erst allmählich im Laufe von Jahrhunderten zu kompakteren Herrschaftsräumen verdichtet wurden. Gelegentlich haben auch Autoren, die weder mit Allodialgrafschaften rechneten noch

41 O T T O H. STOWASSBR, Das Land und der Herzog. Untersuchungen zur bayerisch-österreichischen Verfassungsgeschichte, 1925, S. 42, 97. 41 WAAS, Herrschaft und Staat, S. 130. 4 3 SABINE K R Ü G E R , Studien zur Sächsischen Grafschaftsverfassung im 9. Jahrhundert, 1950 (Studien und Vorarbeiten zum Hist. Atlas Niedersachsens 19), S. 30 ff.

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Einleitung

an die Beschränkung auf das Königsgut glaubten, eine Streuung und Gemengelage von Grafenrechten angenommen44. Mit den Theorien von den Königsgutsgrafschaften, Allodialgrafschaften und Streugrafschaften war die Vorstellung von einer wirklichen Gliederung des Reiches in Komitate als den unteren Verwaltungsbezirken selbstverständlich nicht mehr zu vereinbaren. S C H L E S I N G E R hatte 1 9 4 1 erste Zweifel an der Existenz einer durchgehenden Einteilung des Reiches in Grafschaften geäußert und auf Grund der mitteldeutschen Quellen sogar die Überzeugung gewonnen, Thüringen sei in karolingischer Zeit überhaupt noch nicht in die Grafschaftsverfassung einbezogen worden 45 . Seither hat man sich in der Forschung mehr und mehr von dem Gedanken an eine lückenlose Grafschaftsgliederung des fränkischen und des deutschen Reiches gelöst46. Einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand vermittelt M I T T E I S in seinem zusammenfassenden und zugleich grundlegenden Werk „Der Staat des hohen Mittelalters". Er geht für die fränkische Zeit vom Unterschied zwischen dem romanischen Süden und dem germanischen Norden und Osten aus und betont, daß in den Gebieten mit römischer Tradition die Civitasbezirke die Grundlage der Grafschaften bildeten, während sie im Norden und Osten an die Gaue anknüpften. Ein „engmaschiges Netz von Grafschaften" sei hier jedoch nicht geschaffen worden: „Niemals sind die altfränkischen Grafschaften genau abgegrenzte Gebiete, ,Kreise' im Sinne des späteren Verwaltungsrechtes geworden, die sich wie die Waben eines Bienenstockes geometrisch genau aneinander angeschlossen hätten. Die Grafschaft war der Machtbereich eines Grafen, innerhalb dessen die Intensität der Herrschaft verschieden war und von einem Machtmittelpunkt aus nach den Grenzen zu immer abnahm. Der Graf war mehr Graf i m Gau als Graf d e s Gaues; er war viel weniger ein Beamter, ein Funktionär, der als fungible Person ganz genau bestimmte Staatsaufgaben erledigt hätte, als ein S a c h w a l t e r , ein Vertrauensmann des Königs, dem es weitgehend überlassen bleiben mußte, den Kreis seiner Tätigkeit selbst zu bestimmen und unter eigener Verantwortung die Aufgaben zu lösen, die er als vordringlich erkannte 47 ." Die Grafschaftsverfassung — so M I T T E I S — ist schon in karolingischer Zeit „wohl nur eine

HEINRICH

4 4 W O L F - A R N O K R O P A T , Reich, Adel und Kirche in der Wetterau von der Karolinger- bis zur Stauferzeit, 1965 (Schriften des Hess. Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 28), S . 40 f. für Hessen; SCHULZE, Adelsherrschaft und Landesherrschaft, S. 96 für das östliche Sachsen. 45 SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, S . 47, 51 f., 261. 4E M I T T E I S , Staat des hohen Mittelalters, S. 4 4 , 1 5 6 ; T H E O D O R M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 28; BOSL, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft i m deutschen Mittelalter. In: B R U N O G E B H A R D T , Handbuch der deutschen Geschichte, 8. Auflage 1954, I, S. 605 Anm. 5; 9. Auflage 1970, I, S. 720 f. mit Anm. 11. 4 7 M I T T E I S , Staat des hohen Mittelalters, S. 44 f.

Forschungsstand und Quellenlage

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Planung" gewesen, und im Hochmittelalter fehle für die Annahme eines „geschlossenen Systems aneinandergrenzender Grafschaftsbezirke im ganzen Reich" jeglicher Beweis. Die Grafschaften der Karolingerzeit seien zerfallen, von weltlichen und geistlichen Immunitätsbezirken durchsetzt, die Grafen zum Teil mediatisiert worden. Daneben seien „allodiale oder grundherrliche Grafschaften" entstanden48. Dann schwenkt M I T T E I S auf die Linie von W A A S ein, auf die Unterscheidung von „Königsbann- und Adelsbannbezirken", wobei er die Grafschaften offenbar als Königsbannbezirke betrachtet. Den Grafen bezeichnet er als den „Vogt der Königsfreiung" 49. Es wird deutlich, daß M I T T E I S in einer recht eklektizistischen Manier alle Gedanken der neueren Forschung in seine zusammenfassende Darstellung eingebaut hat. Seit dem Erscheinen der letzten veränderten Auflage dieses Werkes ist die Forschung zwar weitergegangen, einiges ist präzisiert, anderes modifiziert worden, zu grundsätzlich neuen Einsichten ist man jedoch nicht gekommen. K A R L B O S L hat sich in seinem Beitrag zum Handbuch der Deutschen Geschichte von B R U N O G E B H A R D T zwai- eng an M I T T E I S angelehnt50, im Anschluß an H A M M und S C H L E S I N G E R allerdings den Charakter der Grafschaft als Königsgutsgrafschaft stärker hervorgehoben 51. Auf den Arbeiten von H A M M und S C H L E S I N G E R basiert auch der Artikel Grafschaft von B O S L im Sachwörterbuch zur Deutschen Geschichte. Dementsprechend steht der Gedanke der Königsgutsgrafschaften hier im Vordergrund 52 . An Stimmen, die sich gegen die nunmehr herrschende Lehre gewandt haben, fehlt es nicht ganz. Ausgehend von den Verhältnissen in der Grafschaft Tirol hat sich S T O L Z mehrfach sehr kritisch geäußert und hartnäckig an der älteren Lehre festgehalten 53. Er hat die Berechtigung der modernen Auffassungen dabei nicht nur für Tirol bestritten, sondern ihre Richtigkeit grundsätzlich in Zweifel gezogen. Auch der beste 48

Staat des hohen Mittelalters, S. 156 f. Staat des hohen Mittelalters, S. 158 f. 50 BOSL, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, S. 603 ff. 51 BOSL, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, S. 603: „Der Graf ist kein Verwaltungsbeamter moderner Prägung wie der spätere Landrichter, sondern Vertreter königlicher Interessen in seinem Raum, vor allem Wahrer des Königsgutes, auf dem die Macht des Königs in jedem Raum und in jeder Landschaft beruht". S. 605 Anm. 5: „Die altfränkischen Grafschaften waren offensichtlich keine fest abgegrenzten oder abgrenzbaren Gebiete; sie sind der Wirkungsraum eines Grafen, der wesentlich durch das in ihm liegende Königsgut und den zentralen Königshof bestimmt ist." 52 BOSL, Artikel „Grafschaft", S. 370 f. 53 O T T O STOLZ, Das Wesen des Staates im deutschen Mittelalter. In: ZSRG GA 61 (1941), S. 234—249 (sehr kritische und ablehnende Rezension von Otto Brunner, Land und Herrschaft) ; DERS., Land und Landesfürstentum in Baiern und Tirol. In: ZBayerLG 13 (1942), S. 161—252; DERS., Das Wesen der Grafschaft im Räume Oberbayern-Tirol-Salzburg. In: ZBayerLG 15 (1949), S. 68—109. 4 9

MITTEIS,

MITTEIS,

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Einleitung

Kenner der ostfränkischen Verfassungsgeschichte, F R E I H E R R V O N G U T T E N BERG, glaubte, an der älteren Lehre i m Grundsätzlichen festhalten z u müssen 54 . Weniger u m den Grundcharakter der Grafschaft als u m die speziellere Frage nach ihrer räumlichen Ausdehnung drehen sich die verschiedenen Untersuchungen von G O T T H O L D W A G N E R , deren Ausgangsp u n k t ebenfalls sehr konservative verfassungsgeschichtliche Anschauungen sind 5 5 . D i e ältere L e h r e von der Grafschaftsverfassung vertraten w e i t e r h i n H E R M A N N A U B I N 5 6 , E D M U N D E. S T E N G E L 5 7 , A L B E R T K . H Ö M B E R G 5 8 u n d F. L . G A N S H O F 5 9 . Sie haben ihre ablehnende H a l t u n g gegenüber den Ergebnissen der modernen Forschung allerdings nicht näher begründet. Angesichts dieses Forschungsstandes h a t m a n gefragt, ob der Begriff G r a f s c h a f t s v e r f a s s u n g überhaupt eine Entsprechung i n der 5 4 E R I C H FREIHERR V O N GUTTENBERG, Rezension von SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft. In: D A 6 (1943), S. 598—600; DERS., Iudex h. e. comes aut graflo. Ein Beitrag zum Problem der fränkischen „GrafschaftsVerfassung" in der Merowingerzeit. In: Festschrift Edmund E. Stengel, 1952, S. 93—129. 5 5 G O T T H O L D W A G N B R , Die Verwaltungsgliederung i m Karolingischen Reich, 1963; sowie weitere Arbeiten des gleichen Verfassers. I n ähnlichem Sinne auch F R A N Z G E H R I G , Die Grenzen von Wildbann, Waldmark, Grafschaft und Diözese vom Uffgau bis zum Taubergau sowie am Mittel- und Oberrhein. In: Freiburger Diözesan-Archiv 84 (1964), S. 5—115. Für das Hochmittelalter R U D O L F K L O S S , Das Grafschaftsgerüst des Deutschen Reiches im Zeitalter der Herrscher aus sächsischem Hause. Phil. Diss. Breslau 1940. KLOSS, ein Schüler von A U B I N und SANTIFALLER, rechnet zwar nicht mit einem „Graf schaftsnetz", wohl aber mit einem „Graf schaftsgerüst" des Reiches in ottonischer Zeit. Seine Arbeit ist in der Tendenz gegen die Anschauungen von W A A S gerichtet. 5 6 H E R M A N N A U B I N , Gemeinsam Erstrebtes (an Theodor Frings 1952). In: A U B I N , Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie, 1965, S. 120: „Kennzeichnend für das Frankenreich ist die Unterstellung der alten Volksverbände unter die Leitung eines königlichen Beamten, des Grafen. Ich wenigstens halte an dieser Anschauung trotz aller Anzweiflungen und Absagen der Forschung des letzten Menschenalters fest". 5 7 E D M U N D E. STENGEL, Die fränkische Wurzel der mittelalterlichen Stadt in hessischer Sicht. In: STENGEL, Abhandlungen und Untersuchungen zur Hessischen Geschichte, 1964, S. 40 f. mit Anmerkung 16: „Als die statischen Elemente . . . sind die bald dicht geschlossenen, bald zerstreut gelagerten Güter der königlichen Grundherrschaft und das den Körper des Reiches überspannende »Netz1 der fränkischen Grafschaften anzusehen". — „Damit möchte ich mich ausdrücklich absetzen von der neuerdings üblich gewordenen Abwertung der fränkischen Grafschaft, die selbst unter K a r l dem Großen kein durchgehendes Verwaltungsprinzip gewesen sei und damals nur erst i m Zusammenhang mit der fränkischen Staatssiedlung bestanden habe". 5 8 ALBERT K. H Ö M B E R G , Grafschaft, Freigrafschaft, Gografschaft, 1949; DERS., Die Entstehimg der westfälischen Freigrafschaften als Problem der mittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, 1953, besonders S . 107 ff.; D E R S . , Westfälische Landesgeschichte, 1967, S. 68 ff. — Vgl. dazu die Kritik von SCHLESINGER, Bemerkungen zum Problem der westfälischen Grafschaften und Freigrafschaften. In: SCHLESINGER, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte, I I , S. 213—232. W FRANCOIS L O U I S G A N S H O F , Charlemagne et les institutions de la monarchie franque. I n : Karl der Große, Band I : Persönlichkeit und Geschichte, hrsg. von Helmut Beumann, 1 9 6 5 , S . 3 4 9 — 3 9 3 ; D E R S . , Charlemagne et l'administration de la justice dans la monarchie franque, S . 3 9 4 — 4 1 9 .

Forschungsstand -und Quellenlage

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Realität habe oder ob es sich nicht nur um ein „ahistorisches Phantom" handle, dem die Forschung seit mehr als einem Jahrhundert nachjage, notwendigerweise vergeblich 60. Diese Lage zwingt zu einer Überprüfung der älteren und jüngeren Lehrmeinungen. Eine solche kritische Uberprüfung ist auch deshalb dringend erforderlich, weil manche Erkenntnisse der neueren Forschung, die in kritischer Auseinandersetzung mit der systematisch orientierten Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung gewonnen wurden, nun ihrerseits zu Dogmen zu erstarren drohen, die die weitere wissenschaftliche Arbeit einseitig bestimmen. Der zeitliche Rahmen für eine Untersuchung der Probleme der Grafschaftsverfassung ist weit gespannt. Er reicht vom Comes civitatis und dem frühfränkischen Grafio bis zu den Grafen und Grafschaften des hohen und späten Mittelälters. Die Karolingerzeit nimmt in diesem langen Entwicklungsprozeß jedoch eine Art Schlüsselstellung ein, denn sie bringt nicht nur den Höhepunkt der vom merowingischen Königtum eingeleiteten Machtentfaltung des großfränkischen Reiches, sondern legt auch die Grundlagen für die Entstehung der zentraleuropäischen Staatenwelt und ihrer verfassungsmäßigen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen. Sie bildet aber auch aus rein praktischen Gründen den günstigsten Ausgangspunkt für eine Untersuchung, da sie eine für mittelalterliche Verhältnisse reiche historische Uberlieferung aufzuweisen hat. Der unterschiedliche Charakter der vorhandenen Quellengruppen, der annalistischen und chronikalischen Überlieferung, der Volksrechte, der Königs· und Privaturkunden, der Formulare und nicht zuletzt der Kapitularien, ermöglicht außerdem eine wechselseitige Uberprüfung der einzelnen Aussagen und verspricht dadurch zuverlässigere Ergebnisse als sie auf Grund einer einseitigeren Überlieferung gewonnen werden könnten. Dabei ergeben sich freilich einige grundsätzliche methodische Fragen. Die Bevorzugung der Rechtsquellen im engeren Sinne, der Leges, Capitularia und Formulare, durch die Vertreter der älteren Forschung ist inzwischen einem starken Mißtrauen gegenüber dem Aussagewert dieser Quellengattungen gewidien. Dieses Mißtrauen ist gewiß nicht unberechtigt, denn es ist zu prüfen, wie weit gesetzliche oder gesetzesähnliche Regelungen unter den Bedingungen des ausgedehnten fränkischen Reiches überhaupt wirksam werden konnten. Es gehört selbstverständlich zu den Aufgaben des Historikers, die Normierungen von der Verfassungswirklichkeit zu unterscheiden, nicht nur für das Mittel60

Der Ausdruck stammt von F R I E D R I C H P R I N Z , Rezension der Dissertation von Uwu UFFELMANN, Das Regnum Baiern. In: ZBayerLG 30 (1967), S. 967—969.

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Einleitung

alter, sondern für alle historischen Perioden. „Normative" Texte sind daher besonders kritisch zu prüfen, keineswegs aber von vornherein auszuschalten. Charakteristisch für die Karolingerzeit ist die in ihrem Umfang und ihrer Form beeindruckende „Kapitulariengesetzgebung", die zwar an merowingische Traditionen anknüpfte, aber von den Karolingern im Zusammenhang mit der Institution der misst dominici zu einem wesentlichen Instrument der Zentralverwaltung ausgebaut wurde. Man ist gegenwärtig geneigt, die „Kapitulariengesetzgebung" als ein Programm zu betrachten und ihre Wirkung gering zu schätzen. Der bisweilen programmatische Charakter ist kaum zu bestreiten, doch wäre die Mißachtung der Kapitularien als Geschichtsquelle ebenso verfehlt wie der Glaube an ihre unbedingte Geltung. Schon die Tatsache, daß unter dem Sammelbegriff „Kapitularien" Texte von recht unterschiedlicher Art zusammengefaßt worden sind, zwingt zu einer differenzierteren Betrachtungsweise. Die Gefahr von Fehlschlüssen und unzulässigen Verallgemeinerungen ist beträchtlich, wenn man schematisch von den Angaben der Kapitularien ausgeht und die aus anderen Quellengattungen gewonnenen Ergebnisse in diesen generalisierenden Rahmen preßt. Andererseits ist jede Bestätigung der Aussagen der Kapitularien durch andere Zeugnisse ein wichtiges Argument für die Gültigkeit der betreffenden Bestimmungen. Trotz einer gewissen Tendenz zur Vereinheitlichung in den Kapitularien ist die Beachtung regionaler Besonderheiten nicht zu übersehen, etwa in der Kapitulariengesetzgebung für Italien oder in den Spezialkapitularien für Sachsen. Verfassungsgeschichte der Karolingerzeit läßt sich ohne Berücksichtigung der Kapitularien jedenfalls nicht betreiben, denn die Kapitularien s i n d kein Programm, sondern sie e n t h a l t e n ein Programm, und das ist ein sehr bedeutsamer Unterschied. Ebenfalls problematisch ist die Verwendung der Volksrechte für die Lösung verfassungsgeschichtlicher Fragen. Auch sie haben in der neueren Forschung an Gewicht verloren, denn trotz intensiver Arbeit und langer kritischer Diskussionen um Textgestaltung, Entstehung und Bedeutung der Volksrechte, die die ältere verfassungsgeschichtliche Forschung kennzeichneten, sind diese wichtigen Probleme noch immer nicht hinreichend geklärt. Der Historiker, der heute zumeist nicht mehr in der Tradition der großen Editoren steht, betritt nur zögernd diesen schwankenden Boden. Dennoch bleiben auch die Leges eine verfassungsgeschichtliche Quelle ersten Ranges, nicht nur für die karolingische, sondern auch für die vorkarolingische Zeit. Die überlieferten Texte stammen vorwiegend aus der Karolingerzeit. Die Zahl der Handschriften mancher Volksrechte ist beträchtlich und läßt den Schluß zu, daß

Forschungsstand und Quellenlage

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sie im Rechtsleben eine große Rolle gespielt haben. In die gleiche Richtung weist auch die Ergänzung ihrer Bestimmungen durch besondere Zusatzkapitularien, die Capitula legibus addenda. Läßt die Kapitulariengesetzgebung den Trend zur Zentralisierung und Vereinheitlichung spüren, so wird in der Aufzeichnung der Volksrechte die andere Tendenz der fränkischen Verfassimg sichtbar, die Bewahrung der rechtlichen Eigenständigkeit der einzelnen Stämme. Sie hat ihren bezeichnendsten Ausdruck in der Fortdauer des Prinzips der Personalität des Rechtes im ganzen Reich gefunden. Es bleibt allerdings zu prüfen, wie weit die in den Volksrechten überlieferten Normen den Verhältnissen der Karolingerzeit tatsächlich noch entsprachen, denn Rechtsaufzeichnungen dieser Art sind oft mehr auf die Wahrung des Alten und Uberlieferten als auf die Kodifizierung des Neuen bedacht. Das gilt vor allem, wenn man die Leges für die Erkenntnis der Sozialstruktur heranzieht, da sie gerade auf diesem Sektor altertümliche Verfassungszustände bewahrt zu haben scheinen. Immerhin zeigt das Vorhandensein verschiedener Redaktionen einzelner Volksrechte, daß man sich um die Anpassung des geschriebenen Rechtes an veränderte Zustände bemühte. I n der urkundlichen Überlieferung hat das geschichtliche Leben einen unmittelbareren und insgesamt auch wirklichkeitsnäheren Niederschlag gefunden als in den Kapitularien und Volksrechten. Vor allem aber sind mit Hilfe der Urkunden landschaftliche Besonderheiten weitaus besser zu erkennen. Dagegen können die Urkunden wiederum nur ganz bestimmte Bereiche der Verfassung erhellen, während andere fast völlig im Dunkeln bleiben. Da die Urkunden zudem im allgemeinen aus den Archiven geistlicher Institutionen stammen, ergeben sich zwar gute Einblicke in die Herrschaftsbereiche der Bistümer und Klöster, nicht aber in die der weltlichen Großen. Manche Schichten der Bevölkerung werden in den Urkunden überhaupt nur dann faßbar, wenn sie mit der Kirche in Berührung kommen. So ist zum Beispiel die Frage nach der Existenz einer freien, nicht grundherrschaftlich gebundenen bäuerlichen Bevölkerung mit Hilfe der Urkunden allein nicht lösbar. Aber auch Adel und König werden im urkundlichen Material vor allem in ihren Kontakten mit der Kirche sichtbar. Hinsichtlich der Grafschaftsverfassung geben die Urkunden Einblick in individuelle Zustände, die fest in Zeit und Raum eingeordnet sind. Es bleibt zu fragen, wie weit hinter dem Singulären allgemeine Erscheinungen stehen, wie weit das Individuelle generalisierbar ist. Die urkundliche Uberlieferung der Karolingerzeit ist zwar verhältnismäßig reich, aber räumlich sehr ungleichmäßig verteilt. Hinzu kommt, daß der Erhaltungszustand der Urkunden recht unterschiedlich ist. Die

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Einleitung

zahlreichen im Original erhaltenen Urkunden aus St. Gallen oder die ausführlichen Freisinger Traditionsurkunden ermöglichen selbstverständlich weit bessere Einblicke in die Verfassung und Sozialstruktur dieser Gegenden als die Traditionsnotizen des Codex Laureshamensis oder die ungleichmäßige, teilweise durch Verfälschungen entstellte Uberlieferung des Klosters Fulda. So wird sich ein brauchbares Gesamtbild nur für Landschaften mit einer einigermaßen brauchbaren Uberlieferung gewinnen lassen. Das Argumentum e silentio ist daher nur nach genauer Prüfung der allgemeinen Quellenlage eines Raumes zulässig. Bewußt verzichtet wurde auf die Anwendung der retrospektiven Methode. Sie hat ihre Berechtigung und vermag bei kleinräumigen Untersuchungen beachtenswerte Resultate zu liefern. I n den Verfassungsgeschichte beschwört ihre Verwendung aber leicht die Gefahr herauf, daß versucht wird, das Bild, das man sich von den älteren Zuständen macht, mit Hilfe der rückschreitenden Methode in unzulässiger Weise zu erhärten. Der Strom der Überlieferung von Urkunden und anderen Rechtsquellen wird bereits in der spätkarolingischen Zeit schwächer, und unter Ottonen und Saliern sind Privaturkunden außerordentlich selten. Nur die Königsurkunden vermögen einige Aufschlüsse über die Grafschaftsverfassung zu geben. Erst im 12. Jahrhundert setzt dann wieder eine reichlichere Überlieferimg ein. Bei einer Gesamtbetrachtung des Problems der Grafschaftsverfassung muß daher immer wieder eine Brücke zwischen der Karolingerzeit und dem Hochmittelalter geschlagen werden. Um so notwendiger ist es, das Problem erst einmal für die Karolingerzeit mit Hilfe der zeitgenössischen Quellen zu untersuchen. Dabei ist jedoch ein Rückgriff auf die Grundlagen dieser Entwicklung in der Merowingerzeit notwendig, der jedoch knapp gehalten werden kann, da bereits einige neuere einschlägige Untersuchungen vorliegen. Bei der Behandlung der einzelnen ostrheinischen Landschaften wird ebenfalls in der vorkarolingischen Periode einzusetzen sein.

Erster

Teil

Merowingische Grundlagen I . Cornee civitatis u n d frühfränkiecher Grafio Das vieldiskutierte Problem der Kontinuität zwischen Spätantike und Mittelalter berührt auch die Frage nach den Grundlagen der Grafschaftsverfassung. Die Verfassung des fränkischen Reiches beruhte unbestreitbar sowohl auf germanischen als auch auf spätrömischen Tradiditionen. Die Bedeutung der einzelnen Komponenten für die weitere Entwicklung ist dagegen in der Forschung seit langem umstritten, aber gerade in der Verwaltungsorganisation und im Ämterwesen der Merowingerzeit wird antikes Erbe immer wieder spürbar. Selbstverständlich bedeutet geschichtliche Kontinuität nicht starres Festhalten an überlebten Institutionen und Strukturen, sondern Wandlung und Entwicklung. Mit der Eroberung des burgundischen Königreiches und der Erwerbung der Provence war die Unterwerfung Galliens unter die Herrschaft der Franken im wesentlichen vollendet1. I n verhältnismäßig kurzer Zeit hatten Chlodowech und seine Nachfolger große Gebiete im westlichen und südlichen Gallien ihrem Reich eingegliedert, die noch ganz der spätrömischen Tradition verhaftet waren. Nicht nur Wirtschaftsleben, Verwaltung und Kultur blieben dem römischen Erbe verpflichtet, sondern auch die Sozialstruktur in Stadt und Land überdauerte in wesentlichen Zügen das Ende des Römischen Reiches. Die alte Führungsschicht des senatorischen Adels konnte wenigstens zum Teil ihren Großgrundbesitz behaupten und ihren sozialen und politischen Rang wahren 2 . Ihre Vertreter besetzten nicht nur wichtige kirchliche Ämter, sondern nahmen unter den neuen germanischen Herrschern bald wieder einflußreiche politische Stellungen ein. Vor allem konnten sich die Civitates als wesentliche Elemente der römischen Verwaltungsorganisation behaupten und durch die Vernichtung der Provinzialverwaltung sogar 1 Zur allgemeinen Situation jetzt E R I C H ZÖLLNER, Geschichte der Franken bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, 1970. 2 K A R L F R I E D R I C H STROHEKER, Der senatorische Adel i m spätantiken Gallien, 1948; R O L F SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merovingischen Adels. In: H Z 193 (1961), S. 33—71.

3 Schulze

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1 Teil: Merowingische Grundlagen

noch an Bedeutung gewinnen. Die Beherrschung der Städte war in allen Germanenreichen, die auf römischem Boden entstanden, eine der vordringlichsten Aufgaben. Sie stellte sich auch für die Franken und ist von ihnen in vorbildlicher Weise gelöst worden. I m südlichen und westlichen Gallien tritt im sechsten Jahrhundert ein fränkischer Amtsträger, der comes civitatis, in Erscheinung, über dessen Stellung die Quellen, namentlich Gregor von Tours, einigermaßen Aufschluß gewähren 3. Sein Amtsbereich war die Civitas und deckte sich deshalb in der Regel mit der Diözese. Unter den Aufgaben des Comes civitatis tritt besonders die Tätigkeit auf dem Gebiet der Rechtssprechung hervor, hinzu kamen Befugnisse finanzieller und militärischer Art. Er sorgte für die Verteidigung der Städte, für die Instandhaltung der Befestigungsanlagen und die Einziehung der Heerbannbuße. Das Heeresaufgebot seines Amtsbereiches unterstand seinem Befehl. Nicht restlos geklärt ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Comes civitatis und dem Dux der Merowingerzeit 4. Der Dux stand im Rang mit Sicherheit über dem Comes, doch läßt sich nicht feststellen, ob der Dux generell der „Vorgesetzte" des Comes civitatis gewesen ist. Das Problem einer Einteilung des fränkischen Reiches in Dukate bedarf einer genaueren Untersuchimg 5. Ebenso ist das Verhältnis des Comes civitatis zu den Krongütern noch ungeklärt, für deren Verwaltung wahrscheinlich in den domestici besondere Amtsträger zur Verfügung standen®. Das Amt des Comes civitatis ist mindestens im sechsten Jahrhundert überwiegend mit Angehörigen vornehmer gallorömischer Familien besetzt worden. Wie weit das Amt schon in spätantiker Zeit vorgebildet worden war, wird sich angesichts der dürftigen Uberlieferung kaum entscheiden lassen7. Mit der Frage eines direkten Weges vom Comes civitatis des sechsten Jahrhunderts zum Grafen der Karolingerzeit hat sich R O L F S P R A N D E L befaßt 8. Er kam zu der Uberzeugung, daß mit dem Niedergang des 8 GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut graflo, S . 110 ff.; SPRANDBL, Dux und comes in der Merovingerzeit. In: Z S R G G A 74 (1957), S . 66 ff.; D I E T R I C H C L A U D E , Untersuchungen zum frühfränkischen Comitat. In: Z S R G G A 81 (1964), S . 11 ff. Z u comes und grafio ferner W A I T Z , Dt. V G II/2, S . 21 ff.; B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. RG I I , S . 217 ff.; M A Y E R , Dt. und franz. V G I, S . 338 ff.; ZÖLLNER, Geschichte der Franken, S. 139 ff. 4 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S . 45 ff.; dazu die Kontroverse mit SPRANDEL Z S R G G A 82 (1965), S . 288 ff. und 83 (1966), S . 273 ff. — B R U N N E R -

S C H W E R I N , D t . R G I I , S . 2 0 8 ff.

δ Für eine Gliederung des Merowingerreiches in Dukate tritt E . E W I G ein (ζ. B. Die Stellung Ribuariens in der Verfassungsgeschichte des Merowingerreichs, 1969). Β C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 15 ff. 7 M A Y E R , Dt. und franz. V G I, S . 338 ff.; SPRANDEL, Dux und comes, S . 58 ff.; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S . 4 ff. 8 SPRANDEL, D U X und comes, S . 66 ff.

I. Comes civitatis und frühfränkischer Grafio

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Wirtschaftslebens und der Städte in der späteren Merowingerzeit auch der Comes civitatis verschwunden sei. Wie auf anderen Gebieten der Verfassung habe nur der Titel „comes" den Verfall der Institution überdauert. D I E T R I C H C L A U D E ist dieser Auffassung mit guten Gründen entgegengetreten9. Er betonte die Entwicklung vom frühmerowingischen Comes civitatis zum Grafen der späteren Zeit, obwohl er die Wandlungen im Charakter des Amtes keineswegs übersah. Gerade die im Amt des Comes civitatis gegebene Verbindung von jurisdiktioneller, verwaltungsmäßiger und militärischer Gewalt ist für den Grafen des Mittelalters typisch geworden 10. Allerdings hat der Graf des Mittelalters auch noch einen germanischen Vorgänger, den frühfränkischen grafio. Als Quelle für die fränkische Gerichtsverfassung der Frühzeit, aus der das Amt des grafio stammt, muß fast ausschließlich die Lex Salica dienen. Die textkritischen Probleme, die mit der Benutzung der verschiedenen Handschriften verbunden sind, stellen die Forschung freilich immer wieder vor kaum lösbare Aufgaben. Auch eine befriedigende sprachliche Deutung des Wortes „grafio" ist bisher noch nicht gelungen11. Als wahrscheinlichste Lösung gilt die Ableitung von einem Wort, das mit dem gotischen gagrêfts = Beschluß, Verordnung oder Befehl verwandt ist. Diese Deutung läßt sich auch mit der Stellung des grafio nach den ältesten Quellenzeugnissen vereinbaren. Seine Amtsgewalt wäre dann vom König delegiert, er wäre als „Überbringer und Vollzieher königlicher Befehle" zu betrachten 12. Das Amt des frühfränkischen grafio hat mit dem des späteren Grafen noch wenig gemein13. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß dem grafio des fränkischen Volksrechtes noch keine richterliche Gewalt zustand. Der ordentliche Richter war nach der Lex Salica der thunginus, eine der rätselhaftesten Erscheinungen der germanischen Rechtsgeschichte14. Er galt in der älteren Forschung als volksrechtlicher Richter, der als Relikt vergangener Perioden in die Anfangszeit der merowingischen Königsherrschaft hineinragte. Der Zusatz tunzinus aut centenarius, der sich in einigen Handschriften der Lex Salica findet, hat dazu verführt, den thunginus als den Vorsteher der angeblich altgermanischen Hundertschaft zu betrachten. Es dürfte sich aber eher um eine 9 10

C L A U D E , Frühfränkischer C L A U D E , Frühfränkischer

Comitat, S. 35. Comitat, S. 14 f.

11 G R I M M , D t . W B I V , 1, 5 , S p . 1 6 9 8 ff.; D t . R W B I V , S p . 1 0 5 1 ff.; B R U N N E R SCHWERIN, D t . R G I I , S . 2 1 8 f . 12 BRUNNER-SCHWERIN, D t . R G I I , S . 2 1 8 f. 13 B R U N N E R - S C H W E R I N , D t . R G I I , S . 2 1 7 ff.; SCHRÖDER-KÜNSSBERG, D t . RG, S . 136 ff.; GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, S . 94 ff.; SPRANDEL, Dux und comes, S . 72 f.; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S . 32 ff. 14 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. R G I I , S. 201 ff. (mit älterer Literatur); R E I N H A R D WBNSKUS, Bemerkungen zum Thunginus der Lex Salica. In: Festschrift Percy

Ernst Schramm, 1964, Bd. I, S. 217—236.

3*

1 Teil: Merowingische Grundlagen

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Glossierung aus einer Zeit handeln, in der der thunginus aus dem Rechtsleben längst verschwunden war. Schon in der Lex Salica ist das Bild des thunginus eigentümlich blaß; eine Reminiszenz an alte magische Vorstellungen ist wohl die Bestimmung, daß der thunginus bei Gerichtsverhandlungen stets einen Schild bei sich führen müsse. Während man bisher meist mit einem Zusammenhang zwischen dem thunginus und den rechtsprechenden principes der taciteischen Zeit rechnete, betrachtet R E I N H A R D W E N S K U S den thunginus als den König der fränkischen Teilreiche aus der Zeit vor der Errichtung des Großkönigstums durch Chlodowech15. Der sehr scharfsinnig vorgetragenen Hypothese steht allerdings die Tatsache entgegen, daß die Lex Salica neben dem thunginus audi den rex kennt. Sprachlich ist das Wort thunginus doch wohl als „Thingvorsitzender" zu deuten16. Andererseits war der Thunginus auch kein Beauftragter des Königs, denn ihm fehlte offenbar das für den Königsdienst charakteristische dreifache Wergeid. Das rasche Verschwinden des Thungins aus dem fränkischen Rechtsleben deutet darauf hin, daß das Königtum den von ihm offensichtlich unabhängigen Richter beseitigt hat. An seine Stelle schob sich der grafio, der zunächst nur in niederer Position als Gerichtsdiener und Vollstrekkungsbeauftragter in Erscheinung trat. Schuldklagen wurden vor dem Richter verhandelt, die Vollstreckung erfolgte durch den grafio 11. I n dem bekannten Titel De migrantibus ist er es, der die Vertreibung eines ohne Zustimmung der vicini zugezogenen Fremden vorzunehmen hat 18 . Zu seinen Aufgaben gehörten die Bewachung von Gefangenen und die Eintreibung des Friedensgeldes, von dem er ein Drittel erhielt 19 . Freie und Unfreie konnten zum grafio ernannt werden. Für Vergehen im Amt wurde ihnen die Todesstrafe angedroht, der sie durch die Zahlung ihres Wergeides entgehen konnten 20 . Der Amtsbezirk des grafio wird schon in der Lex Salica als pagus bezeichnet21; die germanische Entsprechung war vermutlich „Gau" 22 . Entscheidend für die weitere Entwicklung dürfte die Thunginus, S . 2 2 3 ff. Die sprachliche Deutung des Wortes ist unsicher. Vgl. ELISABETH K A R G GASTERSTÄDT, Thungin. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 72 (1950), S. 314—319; B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. RG I I , S. 202, Anm. 5; W E N S K U S , Thunginus, S. 222 f. 17 Pactus legis Sal. 50 § 3,4; 51 § 1—3. 18 Pactus legis Sal. 45. 19 Pactus legis Sal. 50 § 3. 20 Pactus legis Sal. 50 §3; puer regis als grafio Lex Sal. 100 Titel-Text 90 §2. 21 Pactus legis Sal. 50 § 3: . . . ambulet ad grafionem loci illius, in cuius pago manet (vgl. GUTTBNBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, S. 95). Der pagus als Amtsbezirk des iudex Decretio Childeberti, M G Capit. I 7 cap. 4: . . . in cuiuslibet iudicis pago. 22 Die entsprechenden Belege stammen allerdings aus weit jüngerer Zeit. Vgl. die Glossierung von pagus durch gouue (Ahd. Gloss. I I , 563, 573) und die aus dem neunten Jahrhundert stammenden Fragmente einer ahd. Übersetzung 15

16

WBNSKUS,

I. Comes civitatis und frühfränkischer Grafio

37

Tatsache gewesen sein, daß der grafio ein königlicher Beauftragter war. Schon H E I N R I C H B R U N N E R hatte gesehen, daß zwischen der Entwicklung des merowingischen Großkönigtums und dem Aufstieg des altfränkischen grafio zum Grafen des Mittelalters eine enge Verbindung besteht23. Das Königtum hat offensichtlich in den stärker von fränkischer Bevölkerung besiedelten Gebieten die Stellung des grafio gestärkt und ihn zum lokalen Repräsentanten des Königtums gemacht. Ob ihm von Anfang an auch militärische Aufgaben übertragen waren, wie dies B R U N N E R vermutet hat, muß offen bleiben; in den ältesten Quellen findet sich dafür kein Anhaltspunkt. Allerdings handelt es sich dabei um reine Rechtsquellen, in denen Fragen der Heeresverfassung nur selten berührt werden. Eine wichtige Quelle für den Prozeß des Aufstiegs des grafio ist die Lex Ribuaria, deren älteste Fassung wohl in den Anfang des siebten Jahrhunderts gehört 24. Die Titel, die sich mit der Stellung des grafio befassen, sind zwar stark vom Text der Lex Salica abhängig, lassen aber trotzdem die Entwicklung erkennen, die das Amt inzwischen durchgemacht hat. Tit. 36 § 3 der Lex Ribuaria über die Pfändung eines Schuldners, der der gerichtlichen Ladung nicht gefolgt ist, beruht auf Pactus legis Sal. tit. 1 De manire und tit. 50 De fide facta des 65-TitelTextes des Pactus legis Salicae. Die Stelle des thunginus hat der comes eingenommen; vor ihm schwört der Kläger, daß er den Schuldner ordnungsgemäß geladen hat: Quod ή ad septimo mallo non venerit, tunc ille qui eum manit ante comité cum Septem raginburgiis in haraho turare debit , quod eum ad strude légitima admallatum habet; et sic iudex fiscalis ad domum illius accedere debet et légitima strude exinde auf erre et ei tribuere qui eum interpellavit, hoc est ad Septem raginburgiis unicuique XV solidiis et ei qui causam sequitur X L V . Der Vollstreckungsbeauftragte heißt nicht mehr grafio, sondern iudex fiscalis; die Ersetzung des Wortes grafio durch diese Bezeichnung findet sich auch sonst mehrfach in der Lex Ribuaria. Sie deutet darauf hin, daß dem grafio inzwischen auch richterliche Befugnisse übertragen worden sind. Die Verbindung zum Königtum kommt in der Bezeichnung iudex fiscalis klar zum Ausdruck. Auffällig ist die Verwendung der Ausdrücke comes und iudex nebeneinander in dem zitierten Paragraphen der Lex Ribuaria, denn es zeigt sich, daß an anderen Stellen der gleiche Amtsträger als grafio, comes und iudex fiscalis bezeichnet wird. Lex Rib. Tit. 54 trägt die Überschrift De eo qui grafionem interficerit. § 1 lautet der Lex Salica: Si vero infra pago in sua ratione fuerit = ibu er innan des gewes in sinemo arunte ist (Pactus legis Sal. 1 § 5)w Der Zusammenhang zeigt, daß pagus/gewe an dieser Stelle einen Gerichtsbezirk bezeichnet. 2 3

24

III/2.

BRUNNER-SCHWERIN, D t . R G

I I , S. 207 f.

Vgl. R U D O L F B U C H N E R , Einleitung zur Ausgabe in den M G L L Sectio Die Titelzählung B U C H N E R S weicht etwas von der E C K H A R D T S ab.

I,

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1 Teil: Merowingische Grundlagen

dagegen: Si quis iudicem fiscalem, quem comitem vocant, inter ficerit, ter ducenus solidus multetur. Auch die bekannte Glossierung der Lex Salica (iudex h. e. comes aut grafio) weist auf diesen Prozeß hin, der allerdings zeitlich nur schwer zu fixieren ist. In der Lex Ribuaria ist die Doppelstellung des grafio noch deutlich ausgeprägt: Als Nachfolger des thunginus ist er Gerichtsvorsitzender, gleichzeitig ist er aber weiterhin für die Vollstreckung der Urteile und die Einziehung der Gefälle für den König verantwortlich. Aus den merowingischen Kapitularien lassen sich keine näheren Aufschlüsse über die Stellung des grafio gewinnen, da als Bezeichnung für den Richter im allgemeinen einfach iudex verwendet wird. I m Edictum Chilperici von ca. 571/74, dessen Kapitel 8 auf der Lex Salica beruht, wird der thunginus nicht mehr erwähnt 25 . Wahrscheinlich war er bereits verschwunden. Andererseits erscheint der grafio noch in seiner alten Funktion als Exekutivorgan. I m Gericht sitzen die Rachimburgen, ohne daß ein Vorsitzender genannt wird: . . . in proximo mallo ante rachymburgiis sedentes et dicentes. Auch an zwei anderen Stellen wird die Besetzung des Gerichtes durch die Rachimburgen faßbar 26 . Vielleicht war zu diesem Zeitpunkt der thunginus bereits ausgeschaltet, der grafio aber noch nicht in jeder Hinsicht an seine Stelle getreten. Die Rachimburgen bildeten offenbar für eine Übergangszeit ein Urteilerkollegium, dessen Vorsitz wohl an den grafio überging, da ein Gericht ohne Vorsitzenden schwer denkbar ist. Dem grafio stand die Gewalt zur Urteilsvollstrekkung zur Verfügung, und als Angehörigem der königlichen Gefolgschaft kam ihm auch die nötige Autorität zu. Militärische Funktionen des grafio bezeugt zuerst die sogenannte Chronik des Fredegar zu 6S2/3327. Die grafiones werden hier als militärische Befehlshaber hinter den duces aufgeführt (scaram de electis viris fortis de Neuster et Burgundia cum ducebus et grafionebus). In dieser Zeit vollzog sich offenbar die rangmäßige Angleichung des grafio an den comes civitatis. I n der Vita Eligii, in der sonst nur von comités die Rede ist, wird der comes Vermandensis Garifred auch einmal vir inlustris Garefredus graffio genannt28. Falls diese Stelle der ursprünglichen Fassung der Vita aus der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts angehört, sind comes und grafio in dieser Zeit Synonyme gewesen. Der Titel vir illustris bezeugt zusätzlich die Rangerhöhung, die der grafio erfahren hat. Die Identität von comes und grafio ergibt sich auch aus den Formulae Salicae Bignonianae für die Mitte des achten Jahrhunderts 29. Aller25

MG MG MG 28 MG Anm. 1 0 . 29 MG 2β

27

Capit. I 4. Capit. I 4, cap. 8, 10. SSrerMerov. I I , S. 158. SSrerMerov. I V , S.728, 730; F F S. 231 nr. 9.

BRUNNER-SCHWERIN,

Dt. R G

II,

S.

219,

I. Comes civitatis und frühfränkischer Grafio

39

dings bevorzugte man in den romanischen Gebieten den Titel comes, während in den stärker fränkisch besiedelten Räumen die Bezeichnung grafio üblich war. So kommt es, daß in merowingischen Königsurkunden noch am Ende des siebten Jahrhunderts comités und grafiones gelegentlich unterschieden werden 80 . 697 wird in einer Urkunde, in der nur comités genannt werden, ein comes Ermenteo erwähnt 81 , der 693 unter den grafiones aufgeführt wurde 82 . Der seltene Name und der geringe zeitliche Abstand zwischen den beiden Belegen machen es wahrscheinlich, daß es sich um die gleiche Person gehandelt hat. I n formelhaften Wendungen der Urkundensprache bleiben comités und grafiones noch lange nebeneinander bestehen, da hier alle nur in Betracht kommenden Amtsträger vollständig aufgezählt werden sollten. I n diesen Fällen stehen die grafiones in der Regel unmittelbar nach den comités, gelegentlich schieben sich noch die domestici dazwischen, die ursprünglich sogar vor den comités gestanden haben88. Urkunden, in denen comités und grafiones weiter auseinander gerückt sind, sind unecht oder mindestens in ihrer Echtheit umstritten. Das Wort „grafio", das in der Volkssprache weiterlebte, verschwand um die Mitte des achten Jahrhunderts aus den Quellen. Der letzte Beleg findet sich in den Beschlüssen der ostfränkischen Synode von 74284. Es war nach dem Aufstieg des grafio ohne weiteres möglich, sowohl für den comes civitatis als auch für den grafio die Amtsbezeichnung comes zu verwenden. Die rangmäßige Angleichung bedeutete nicht, daß die Amtsbereiche (comitatus) im gesamten fränkischen Reich die gleiche Struktur aufgewiesen haben. Südlich der Loire bildete die Civitas die räumliche Grundlage der Grafschaft, die Städte behielten gewisse zentrale Funktionen in der Verwaltung. Dagegen wurden im nördlichen und östlichen Gallien die Civitates durch die Gaue abgelöst, die gelegentlich ebenfalls an Civitasbezirke anschlossen. E U G E N E W I G hat deshalb von einer „südgallischen Civitasverfassung" und einer „nordgallischen Gauverfassung" gesprochen85. Sowohl der Bezirk einer Civitas als auch der Gau wird in den lateinisch geschriebenen Quellen als pagus bezeichnet. Da sich im westfränkischen Bereich Civitas und Gau offenbar in der Regel mit der Grafschaft deckten, heißt auch der Amtsbezirk des Grafen meist pagus. Vom frühfränkischen grafio führt wohl auch ein Weg zu den Grafen minderen Ranges wie Dorfgrafen, Hansgrafen, Deichgrafen, Wikgrafen, Holzgrafen und Zentgrafen, die in den Quellen im allgemeinen erst seit Frühfränkischer Comitat, S. 33 f. mit Belegen. DMerov. 6 6 ; PARDESSUS I I 4 3 1 . DMerov. 6 4 ; PARDESSUS I I 4 2 4 . 33 Belege bei B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. R G I I , S . 220, Anm. 11. 34 M G Capit. I 10, cap. 5. 35 EWIG, Civitas, Gau und Territorium in den Trierischen Mosellanden. In: RhVjbll. 17 (1952), S. 122. 3 0

31

32

CLAUDE,

40

1 Teil: Merowingische Grundlagen

dem hohen und späten Mittelalter belegt werden, sicher aber in die ältere Zeit zurückreichen 86. Sie treten vor allem in den Gebieten auf, die unter starkem fränkischen Einfluß gestanden haben oder selbst fränkisches Siedlungsgebiet waren, besonders in Hessen, Ostfranken und am Niederrhein. Vielleicht läßt sich von diesem Ansatzpunkt aus ein Zugang zum Problem der sächsischen Gografen finden, das bisher noch immer keine befriedigende Lösung gefunden hat. Auch die älteren Pfalzgrafen und Burggrafen gehören ursprünglich wohl in die Gruppe der minderen Grafen, sind aber durch ihre unmittelbaren Beziehungen zum Königtum aufgestiegen, während alle übrigen Grafen dieser Art Amtsträger niederen Ranges geblieben sind. Die Bezeichnung grafio konnte wohl zunächst für jeden Amtsträgetf verwendet werden, dem bestimmte Aufgaben und damit eine gewisse zwingende Gewalt übertragen waren. Ob dabei immer eine Verbindung zum Königtum bestand, bedürfte der Klärung durch eine umfassendere Untersuchung.

8 6 SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft, Vorbemerkung zum Neudruck 1964, S. X I I .

I I . Adel, Amt und Königtum in merowingiecher Zeit Die Frage nach der sozialen und rechtsständischen Gliederung der Franken gehört seit langem zu den bevorzugtesten, aber auch umstrittensten Themen der frühmittelalterlichen Rechts- und Verfassungsgeschichte. Durch D A N N E N B A U E R und seine Interpretation der Quellen zur germanischen Frühgeschichte sind die wissenschaftlichen Kontroversen in eine neue Etappe getreten 1. Sollte seine Auffassung von einer ausgeprägten Adelsherrschaft bei den Germanen schon in taciteischer Zeit zutreffen, dann wäre auch bei den Franken von vornherein mit einer stärker h e r r s c h a f t l i c h gestalteten Volksordnung zu rechnen. Dies würde aber bedeuten, daß nicht nur bei der Untersuchung des Verhältnisses von Königtum, Adel und „Gemeinfreiheit" die Akzente anders gesetzt werden müssen, sondern auch bei der Frage nach der Art der fränkischen Reichsgründung im spätantiken Gallien. I n der deutschen Forschung hatte man besonders unter dem Eindruck der großangelegten Untersuchung von F R A N Z P E T R I meist eine intensivere bäuerliche Siedlung im östlichen und nördlichen Gallien angenommen, die die Grundlage für die Schaffung des fränkischen Großreiches bildete8. I n der neueren Forschung dominiert hingegen die Auffassung von einer rein herrschaftlichen Eroberung Galliens. Diese Ansicht ist bereits von F U S T E L D E C O U L A N G E S in klassischer Weise formuliert worden: „Ce n'est pas le peuple franc, c'est un roi franc, qui a conquis la Gaule8." Die Gründung des Frankenreiches wäre demnach nicht als eine Völkerwanderung, sondern als ein Unternehmen des merowingischen Königtums zu betrachten. Die Könige standen nicht an der Spitze eines Volkes, sondern an der Spitze gefolgschaftlich organisierter Verbände 4. Dagegen hat F R A N Z S T E I N B A C H stets an der 1 DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft, S . 1 2 4 , Anm. 7 , betont jedoch selbst, daß er die Verhältnisse bei den Franken nicht berücksichtigt. Er spricht vom Aufstieg in den Adel durch Königsdienst und Lehnswesen. Ob er daneben mit der Existenz eines fränkischen Uradels rechnet, bleibt unklar. 2 P E T R I , Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Entstehung der westlichen Sprachgrenze, 1937. 3 FUSTEL D E COULANGES, Histoire des institutions politiques de l'ancienne France, Bd. 2: L'invasion germanique et la fin de l'empire, 1891, S. 499. 4 I n diesem Sinne zuletzt W E N S K U S , Stammesbildung und Verfassung, S. 536 f.; T H E O D O R M A Y E R , Die Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters, S. 20;

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1 Teil: Merowingische Grundlagen

Ansicht festgehalten, daß es sich bei der fränkischen Landnahme um eine „wirkliche Völkerwanderung" gehandelt hat, nicht bloß um Eroberungszüge „kleiner kriegerischer Gefolgschaften" 5. Er rechnet mit dichterer fränkischer Siedlung am Mittelrhein und im nördlichen Gallien. Das Urteil über das Ausmaß einer solchen Siedlung wird allerdings immer davon abhängen, wie man die Ergebnisse der Archäologie und der Sprachwissenschaft einschätzt®. Für eine Abwanderung eines großen Teiles der fränkischen Stämme spricht das Nachlassen der Bodenfunde in den Gebieten, in denen man mit guten Gründen ihre ältesten Wohnsitze vermutet 7 . Als engerer Geltungsbereich der Lex Salica tritt das Gebiet zwischen Kohlenwald und Loire in Erscheinung8. Man wird daraus den Schluß ziehen dürfen, daß sich in diesem Raum der größte Teil der Franken niedergelassen hat, obgleich auch innerhalb dieses Gebietes große Unterschiede in der Dichte fränkischer Siedlung anzunehmen sind. Wahrscheinlich hat eine intensivere Landnahme vor allem in den Räumen nördlich der Seine stattgefunden. Wie weit zwischen Seine und Loire mit bäuerlicher Siedlungstätigkeit zu rechnen ist, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Südlich der Loire bildeten die Franken nur eine dünne Schicht. Hier dürfte es sich nicht um bäuerliche, sondern um rein herrschaftliche Landnahme gehandelt haben. Am ehesten wäre noch an die Ansiedlung fränkischer Krieger zur Sicherung der neu eroberten Gebiete zu denken. Man wird bei der Erörterung des Problems davon auszugehen haben, daß Landnahme und Reichsgründung verschiedenartige Vorgänge sind, die freilich in engstem Zusammenhang stehen. Intensivere bäuerliche Landnahme hat die in verschiedenen Phasen erfolgende Großreichsbildung nur in den ersten Etappen begleitet. Einige Bemerkungen zum Sachsenproblem. In: Westfäl. Forsch. I i (1958), S. 5 ff. — Vorwiegend mit herrschaftlich-gefolgschaftlicher Landnahme der Franken rechnet auch SEVERIN CORSTEN, Rheinische Adelsherrschaft i m ersten Jahrtausend. In: RhVjbll. 28 (1963), S. 84—130. 5 STEINBACH, Die Zeit der Merowinger und Karolinger. In: Collectanea F R A N Z STEINBACH, 1967, S. 107. — Eine ähnliche Auffassung vertritt auch ALEXANDER BERGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreidi. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den Anfängen des fränkischen Adels in Nordfrankreich und Belgien, 1958 (Beiheft 41 der VSWG). 8 Forschungsberichte: H E I N R I C H B Ü T T N E R , Die Franken und Frankreich. Neuere Literatur zur Entstehung der Sprachgrenze und der germanischen Landnahme. In: ZGOberrhein N F 51 (1938), S. 561—586; F R A N Z P E T R I , Zum Stand der Diskussion über die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze. In: RhVjbll. 15/16 (1950/51), S. 39—86. 7 STEINBACH, Zeit der Merowinger und Karolinger, S . 107. 8 I m Raum zwischen Loire und Kohlenwald gelten nach Pactus legis Sal. tit. 47 die normalen Ladungsfristen, die verlängert werden, wenn man sich außerhalb dieses Gebietes aufhält. — Eine weitere interessante Quellenstelle bietet JOSEPH V O R M O O R , Soziale Gliederung im Frankenreich, 1 9 0 7 (Leipziger Historische Abhandlungen 6), S. 89.

J A N DE V R I E S ,

II. Adel, Amt und Königtum in· merowingischer Zeit

43

Andererseits darf man annehmen, daß die Gefolgschaft bei den Franken eine große Rolle gespielt hat. Die Teilkönige, die Chlodowech beseitigte, waren offenbar von Gefolgsleuten umgeben. Deutlich wird dies bei der Ermordimg des Ragnachar, dessen leudes von Chlodowech bestochen wurden 9 . Sie bildeten wohl den maßgeblichen Teil des Heeres, das den feigen flüchtigen König gebunden vor Chlodowech brachte. Die merowingischen Teilkönige sind allerdings ebensowenig wie Chlodowech selbst nur die Anführer von Gefolgschaftshaufen gewesen; sie besaßen regna , und ihr populus hat gewiß nicht nur aus Gefolgsleuten bestanden10. Die Rechtsquellen bieten präzisere Angaben über die Stellung der Angehörigen der königlichen Gefolgschaft, der trustis. Der antrustio der Formulae Marculfi, der offensichtlich ein freier Mann ist und sich freiwillig in die Gefolgschaft des Königs einreiht, entspricht am weitesten dem Idealtyp des Gefolgsmannes, wie ihn die Germanen schon seit der Zeit des Tacitus kannten 11 . Zur Gefolgschaft des Königs in einem weiteren Sinne können aber alle diejenigen gerechnet werden, die im Königsdienst standen und dafür durch die Verdreifachung ihres Wergeides einen besonderen Schutz erhielten. Romanen konnten durch die Speisegemeinschaft, die vielleicht auf magisch-kultische Vorstellungen zurückgeht, als convivae regis in ein engeres Verhältnis zum Königtum treten 12 . Wie weit dabei der gefolgschaftliche Gedanke mitgewirkt hat, bedarf der Überprüfung. Die Gefolgschaften der fränkischen Teilkönige dürften bei kriegerischen Unternehmungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, und man hat in der Gefolgschaft und im Königsdienst sogar den Ursprung des merowingischen Adels sehen wollen, der dann als reiner Dienstadel betrachtet werden müßte. Älter als diese auf das Königtum hin orientierte Ordnung, die ihren deutlichsten Ausdruck in dem besonderen Königsschutz und in der Verdreifachung des Wergeides fand, war die Gliederung nach Geburtsständen. Sie wurde durch den Königsdienst keineswegs aufgehoben, denn auch der Eintritt in die königliche trustis und der Königsdienst veränderten den Geburtsstand nicht; der Freie blieb frei, der Unfreie unfrei. Auch die Wehrverfassung war im gewissen Sinne dualistisch gestaltet. Der König verfügte nicht nur über seine Gefolgschaft, sondern auch über das Aufgebot aller freien Franken. An dieser Auffassung wird man trotz des Widerspruchs von D A N N E N B A U E R und 13 T H E O D O R M A Y E R festhalten dürfen . Die Gewalt des Königs unterschied 9

Gregor von Tours, Hist. Franc. I I 42. Gregor von Tours, Hist. Franc. I I 40—42. M G F F S. 55. 12 Pactus legis Sal. tit. 41. § 8 De homicidiis ingenuorum. 18 Vgl. DANNENBAUER, Die Freien im karolingischen Heer. In: DERS., Grundlagen der mittelalterlichen Welt, S. 240—256; M A Y E R , Die Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters. 10

11

1 Teil: Merowingische Grundlagen

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sich durch das Recht zur Aufbietung des Heerbannes grundsätzlich von der eines bloßen Gefolgsherren. Die Stellung der freien Franken, an deren Existenz in der neueren Forschung allerdings zum Teil gezweifelt wird, läßt sich an Hand der Quellen einigermaßen umreißen. Die Lex Salica kennt nur eine rechtlich einheitliche Schicht von Freien, einen „Einheitsstand der Freien", wie man gesagt hat 14 . Sie sind in der Lex Salica die „Normträger", an ihnen werden alle anderen Schichten gemessen. Den Galloromanen gegenüber sind sie bevorrechtet, sie bilden das Reichsvolk. Eine soziale und wirtschaftliche Differenzierung lassen die Quellen bereits für das sechste Jahrhundert erkennen. Einen Adel als Stand im Rechtssinne kennt die Lex Salica nicht. Diese Auffassung der älteren Lehre ist durch neuerliche Untersuchungen von R O L F S P R A N D E L und D I E T R I C H C L A U D E bestätigt worden 15 . Die von R E I N H A R D W E N S K U S ausgesprochene Vermutung, der fränkische Adel habe es abgelehnt, Wergeid zu nehmen und sei deshalb in den Volksrechten nicht berücksichtigt worden, dürfte sich kaum halten lassen16. Es galt gewiß als wenig ehrenhaft, Wergeid in Empfang zu nehmen, statt die Streitigkeiten durch Fehde und Blutrache auszutragen 17 , aber diese Haltung dürfte nicht auf bestimmte Kreise beschränkt gewesen sein. Die Ideologie der Franken war stark vom Herrschaft und Gefolgschaft, S . 35. und Geschichte des merovingischen Adels, S. 37 ff.; Comitat, S. 70, 79. — SPRANDEL und C L A U D E sprechen meist von „Adel" und rechnen mit einer altfränkischen, nicht im Königsdienst aufgestiegenen Herrenschicht, die nach unten jedoch offen war. — Gegen die Existenz eines frühfränkischen Adels hat sich BBRGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich, S. 172 ff., ausgesprochen. — Zurückhaltend auch ZÖLLNER, Geschichte der Franken, S. 112 ff. 16 W E N S K U S , A m t und Adel in der frühen Merowingerzeit. In: Mitteilungsheft des Marburger Universitätsbundes 1959, S. 41 ff. — SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merovingischen Adels, S. 39, hat sich dieser Auffassung angeschlossen. Seine eigenen Ausführungen erhalten dadurch einen etwas anderen Akzent. Der These von W E N S K U S folgt auch IRSIGLBR, Frühfränkischer Adel. Zur Beurteilung dieser jüngsten und wichtigsten Arbeit zum Adelsproblem BU. f. dt. L G 106 (1970), S. 537 f. 17 Gregor von Tours, Hist. Franc. V I I 47; I X 19. Der Interpretation dieser Stellen durch W E N S K U S , A m t und Adel, S. 42 f., kann ich nicht zustimmen. Die Wergeldsätze, die in der Fehde verwirkt wurden, lagen offenbar fest. U m ihre Höhe gab es keine Diskussion. W E N S K U S scheint zu glauben, daß sie besonders hoch waren, weil der Bischof von Tours sich bereit erklärt, der verurteilten Partei bei der Zahlung der Kompositio zu Hilfe zu kommen. Das Wergeid eines freien Franken war aber stets so hoch, daß selbst begüterte Leute Mühe gehabt haben dürften, es in der Form von Gold und Silber aufzubringen (vgl. dazu die Bestimmungen der Lex Rib. [LL Sectio I, I I I / 2 ] 40. 11, 12). — Die Fehde wurde im übrigen von den beteiligten Sippen mit Hilfe ihrer Knechte (pueri) ausgetragen; Schauplatz der Bluttaten waren die Höfe? der Beteiligten. Sichar, einer der Kontrahenten, gehörte zur Gefolgschaft der Königin Bru14

SCHLESINGER,

SPRANDEL, Struktur C L A U D E , Frühfränkischer 1 5

nichildis (quoniam ... regina Brunechildis

in verbo suo posuerat Sicharium).

II. Adel, Amt und Königtum in merowingischer Zeit

45

Krieg her geprägt 18. Vor allem fehlt der Adel nicht nur in den Wergeidtaxen der Lex Salica, sondern im gesamten Volksrecht. I n der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts wird in den Quellen eine fränkische Herrenschicht faßbar (proceres, maiores natu, primores), die im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer deutlicher hervortritt 19 . Sie war nach unten offensichtlich nicht fest abgeschlossen; selbst Unfreien konnte unter günstigen Umständen im Königsdienst der Aufstieg gelingen20. Ob man diese fränkisch-germanische Herrenschicht als Adel bezeichnen kann, hängt davon ab, wie man den Begriff des Adels definiert. Sieht man in der klaren rechtlichen Abgrenzung gegen andere Stände ein wesentliches Merkmal, so hat es einen fränkischen Adel nicht gegeben, und man sollte lieber die Bezeichnung „Herrenschicht" verwenden. Geht man hingegen von politischen und wirtschaftlichen Merkmalen aus, wird man imbefangen von einem fränkischen Adel sprechen dürfen, der Teil an der Regierung des Reiches hatte, über ausgedehnten Grundbesitz verfügte und mit dem senatorischen Adel und anderen galloromanischen Großgrundbesitzern zu einem „merowingischen Gesamtadel" verschmolz 21. Für eine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, ob diese fränkische Herrenschicht ihre Entstehung ausschließlich dem Königsdienst verdankt oder ob ein von den Merowingern nur zeitweilig entmachteter germanischer „Uradel" ihren Traditionskern gebildet hat, reichen die Quellen nicht aus. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Scheinproblem, denn es ist für die Bewertung der Verfassungs- und Sozialstruktur nicht gleichgültig, ob die Führungsschicht ein mit angeborenem Charisma und autogenen Herrenrechten ausgestatteter Geblütsadel war oder eine vornehmlich im Königsdienst aufgestiegene funktionale Gruppe. Das Verhältnis von Amt und Adel in der Merowingerzeit ist bereits mehrfach Gegenstand eindringlicher Untersuchungen gewesen. Es 18 Vgl. dazu J E A N - P I B R R E B O D M E R , Der Krieger der Merowingerzeit und seine Welt. Eine Studie über Kriegertum als Form der menschlichen Existenz im Frühmittelalter, 1957 (Geist und Werk der Zeiten, Heft 2). — Die Arbeit beruht leider etwas zu ausschließlich auf Gregor von Tours und dem Liber historiae Francorum. 19 BERGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich; SPRANDEL, Der merovingische Adel und die Gebiete östlich des Rheins, 1957 (Forschungen zur oberrhein. Geschichte 5); DERS., Struktur und Geschichte des merovingischen Adels; W E N S K U S , Amt und Adel; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat; CORSTEN, Rheinische Adelsherrschaft. — SILVBSTER HOFBAUER, Die Ausbildung der großen Grundherrschaften i m Reiche der Merowinger, 1927 (Veröff. d. Seminars f. Wirtschafts- und Kulturgeschichte an d. Univ. Wien 3); M A U R I C E K R O E L L , L'immunité franque, Paris 191Ό; IRSIGLER, Frühfränkischier Adel, S. 82 ff. 2 0 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 67 ff. (mit Beispielen für den sozialen Aufstieg). 21 SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merovingischen Adels, S. 43.

1 Teil: Merowingische Grundlagen

46

genügt an dieser Stelle, auf die neueren Arbeiten von G U T T E N B E R G , W E N S K U S und C L A U D E hinzuweisen, die in ihren Ergebnissen allerdings nicht völlig übereinstimmen 22. G U T T E N B E R G hatte vor allem den Amtscharakter des merowingischen Grafen betont, während SPRANDEL mit einem frühen Verfall der Ämterverfassung rechnet. Nach seiner Meinung waren Titel wie dux, comes, referendarius, domesticus usw. nur noch Bezeichnungen für die königlichen Gefolgsleute, nicht mehr Titel für die Inhaber bestimmter Ämter mit bestimmten Amtsaufgaben. Dagegen hat C L A U D E zeigen können, daß Dukat und Komitat nicht nur im sechsten Jahrhundert, sondern auch später echte Ämter mit fest abgegrenzten Amts- und Aufgabenbereichen gewesen sind. SPRANDEL,

I m fränkischen Reich hat mindestens theoretisch immer eine Ämterverfassung bestanden, die allerdings stark vom gefolgschaftlichen Denken der Franken beeinflußt wurde 23 . I n der Umgebung des Königs befanden sich die optimates, die an der Spitze der Würdenträger standen, ohne jedoch ein bestimmtes Amt innezuhaben24. Falls den Angaben des sogenannten Ämtertraktates zu trauen ist, wären sie mit den convivae regis identisch25. Die Annahme von H E I N R I C H B R U N N E R , daß auch unter den merowingischen comités Personen gewesen seien, die den Comes-Titel nur als Rangtitel geführt haben, ist ganz schwach begründet 26. Sie beruht nur auf der Beobachtung, daß zwei Grafen mehrfach in der Umgebung des Königs bezeugt sind27. Selbstverständlich ist das kein Beweis dafür, daß sie nicht irgendwo auch eine Grafschaft verwaltet haben. Die Ämter des dux, comes, domesticus und referendarius wurzeln hingegen mehr in der spätantiken Tradition, während Ämter wie Hausmeier, Marschall, Seneschall oder Kämmerer aus der Sphäre des Hauses und der Hausverwaltung stammen28. Die plastischen Schilderungen Gregors von Tours zeigen, wie stark die gesamte Reichsverwaltung auf die Person des Königs hin orientiert war. Der Tod eines Königs brachte in der Regel Umbesetzungen großen Ausmaßes; Gregor betont einige Male ausdrücklich, daß sich ein Amtsträger auch unter einem neuen Herrscher in seiner Position behaupten oder sogar in eine höhere aufsteigen konnte. Offenbar 2 2 GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio; SPRANDEL, Dux und comes in der Merovingerzeit; W E N S K U S , A m t und Adel; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat. 2 3 W E N S K U S , A m t und Adel, S. 52. 2 4 C L A U D B , Frühfränkischer Comitat, S. 74. 2 5 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. R G I I , S . 134; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S . 74. 2 6

27

BRUNNER-SCHWERIN, D t . R G

I I , S. 133.

DMerov. 66; 70. Zum Verhältnis von Hausherrschaft und Königsherrschaft SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, besonders S . 35 f.; KROESCHELL, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. 28

II. Adel, Amt und Königtum in merowingischer Zeit

47

hat es sich um Ausnahmen gehandelt29. In der Zeit merowingischer Machtkämpfe gab es auch für die Inhaber der hohen Ämter keine Sicherheit; wer seinen königlichen Herrn verlor, mußte sich einem anderen Teilkönig zuwenden30. Andererseits waren auch die Könige von der Treue ihrer Großen weitgehend abhängig. Die Gefolgsleute fühlten sich berechtigt, ihren König zu verlassen, wenn sein Stern zu sinken drohte. Die Ämter am königlichen Hofe und in der Lokalverwaltung wurden offensichtlich vorwiegend mit Personen besetzt, die aus dem „merowingischen Gesamtadel" stammten31. Klar nachzuweisen ist dies für die Amtsinhaber galloromanischer Abstammimg, da für diese Schicht Gregor von Tours ausführliche und zuverlässige Nachrichten bietet, doch gibt es auch für die germanische Herrenschicht Hinweise, die in die gleiche Richtung deuten. Um einen ausschließlichen Anspruch der Angehörigen dieser Schicht auf die Besetzung der hohen Ämter hat es sich jedoch keinesfalls gehandelt. Die Könige konnten auch Leute niedriger Herkunft für wichtige Aufgaben heranziehen und haben von dieser Möglichkeit wohl häufig Gebrauch gemacht. Der Aufstieg in die politische Führungsschicht durch die Verwaltung von Ämtern ist offenbar nicht selten gewesen32. C L A U D E hat gezeigt, daß es sogar eine Art Ämterhierarchie mit einem cursus honorum gab 33 . Die „Beförderung" eines comes oder domesticus zum dux galt als ein erstrebenswertes Ziel, als eine Beförderung von einem niederen auf einen höheren Posten34. Der Stellenwert der einzelnen Ämter innerhalb der Hierarchie konnte sich im Laufe der Zeit allerdings stark verändern. Die Quellen lassen deutlich erkennen, daß die comités der Merowingerzeit königliche Amtsträger waren, die ihre Grafschaften als ein officium verwalteten 35 . Am klarsten kommt dies in der Bestallungsformel für den Dux, Patrizius und Grafen zum Ausdruck, die in den Formulae Marculfì überliefert ist 36 . Die Ein- und Absetzung von Grafen wird mehrfach bei Gregor von Tours erwähnt. Sie ging nicht immer ohne den Widerstand des Betroffenen ab, der sich bis zur Ermordung des Nachfolgers steigern konnte 37 . Der König konnte die Grafen zunächst nach eigenem Gutdünken einsetzen, hat aber gelegentlich auch die Bewohner der Grafschaft mitwirken lassen. Gregor 29

Gregor von Tours, Hist. Franc. V 48. Der Krieger der Merowingerzeit und seine Welt, S. 51 ff. 3 1 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 59 ff. 3 2 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 67 ff. 3 3 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S . 7 0 . 3 4 C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 45 f. (mit Belegen). 35 Die Belege bei GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, S . 1 1 2 f. se M G F F s. 47 f. N r . Zur Interpretation GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, S . 1 2 0 ff. 37 Ein Beispiel berichtet Gregor von Tours, Hist. Franc. V I I 18. 3 0

BODMER,

1 Teil: Merowingische Grundlagen

48

berichtet, daß Chilperich I. nach Tours kam und der Geistlichkeit und dem Volke die Wahl eines neuen Grafen anheimstellte: . . . data nobis populo optionem, Eunomius in comitatum erigitur 88. Der Amtscharakter des Komitats ist durch die eindringlichen Untersuchungen von G U T T E N B E R G und C L A U D E SO deutlich gemacht worden, daß sich eine erneute ausführlichere Darstellung erübrigt. Die tatsächliche Machtstellung eines Grafen innerhalb seiner Grafschaft hing von einer Reihe von Faktoren ab, nicht nur von der Macht und dem Wohlwollen des Königs, der ihn eingesetzt hatte. Wichtig war sein Verhältnis zum Bischof und zur hohen Geistlichkeit, da sich in großen Teilen Galliens Grafschaft und Diözese gedeckt haben und der Bischofssitz im allgemeinen zugleich das Zentrum der Grafschaft war. Die Grafen waren bereits im sechsten Jahrhundert nicht selten in ihren Amtsbezirken begütert, so daß sie sich auf ihren Grundbesitz, ihre Verwandten und Freunde stützen konnten 89 . Selbstverständlich verfügten sie über ein mehr oder weniger zahlreiches Gefolge. Sie haben bei Kämpfen um den Besitz der Grafschaften und bei der Durchführung ihrer Amtstätigkeit gewiß häufig ihre eigenen Machtmittel eingesetzt, sind aber mindestens im sechsten Jahrhundert die Verwalter, nicht die Herren ihrer Grafschaft 40. Eine andere Auffassung wird von W E N S K U S vertreten, der an die Fortdauer eines germanischen Uradels bei den Franken glaubt, dessen eigenständige Herrschaftsrechte schon in der frühen Merowingerzeit die aus antiker Tradition stammenden Ämter umgeformt haben 41 . Er stützt sich dabei auf den Bericht Gregors von Tours über die Einsetzung und Ermordung des Grafen Gundowald von Meaux, der „wie ein König in seinem Reich einen Umritt durch sein Herrschaftsgebiet" unternahm und bei dieser Gelegenheit von seinem Vorgänger getötet wurde 42 . Diesen Umritt wertet W E N S K U S als den Ausdruck des „Herrschaftsanspruches des germanischen Adeligen", durch den das Grafenamt verwandelt wurde 48 . Die Parallele zum Herrschaftsantritt des Königs ist in der Tat frappierend und wäre ein wichtiges Argument für die Richtigkeit der Auffassung von W E N S K U S , wenn in der Quelle wirklich etwas von einem „Umritt" im verfassungsgeschichtlichen Sinne stünde, was jedoch nicht der Fall ist: Gundovaldus autem comitatum Meldensim super Werpinum conpetiit, ingressusque urbem, causarum actio38

Gregor von Tours, Hist. Franc. V 47. Frühfränkischer Comitat, S. 65 f. Daran kann es nach den Darlegungen von GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, eigentlich keinen Zweifel mehr geben. Zustimmend auch C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 79. 4 1 W E N S K U S , A m t und Adel, besonders S. 56. 42 Gregor von Tours, Hist. Franc. V I I I 18. 4 3 WENSKUS, Amt und Adel, S. 56. 3 9

40

CLAUDE,

II. Adel, Amt und Königtum in merowingischer Zeit

49

nem agere coepit. Exinde dum pagum urbis in hoc officio circuirei, in quadam villa a Werpino interficitur. Der Graf begab sich also in die Stadt und nahm seine Amtsgeschäfte auf, so wird man jedenfalls den Passus causarum actionem agere coepit übersetzen müssen. Dann durchzog er den pagus, den außerhalb der Stadt liegenden Teil seines Bezirkes, in der Ausübimg dieses Amtsgeschäftes (in hoc officio). Es handelt sich um die einfache Aufnahme der Verwaltung der Grafschaft, nicht um einen konstitutiven Akt des Herrschaftsantrittes 44. Die Frage nach dem Besitz des merowingischen Adels ist außerordentlich schwer zu beantworten 45 . Um geschlossene Adelsherrschaften, wie sie W E N S K U S für den Maas-Schelde-Raum vermutet 46 , scheint es sich nicht gehandelt zu haben, sondern um breitgestreuten Besitz. Als Wohnsitz wird meist ein Hof genannt, den man sich als einen großen und befestigten Herrenhof vorzustellen hat. Gesinde verschiedener Art ist vorhanden, das im Notfall auch zur Verteidigung gegen einen plötzlichen Überfall oder zu eigenen kriegerischen Unternehmungen herangezogen werden konnte 47 . Auch Burgen werden gelegentlich erwähnt, doch ist nicht sicher, daß sie wie im Hochmittelalter die Zentren adliger Herrschaft gewesen sind 48 . Die Besitzungen genossen mindestens zum Teil Immunität 49 . Das Problem, ob es sich dabei um ein Nachwirken der spätantiken Immunität, um eine vom Königtum verliehene Immunität oder um eine auf germanischen Vorstellungen beruhende „autogene Immunität" des Herrenlandes handelt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Als ein wesentliches Standesmerkmal der fränkischen Herrenschicht gilt in der neueren Forschung das Recht, sich mit einer eigenen Gefolgschaft zu umgeben50. Gefolgschaften im engeren Sinne, also Verbände von freien Männern, die ihrem Gefolgsherrn durch einen Treueid ver44

Gregor von Tours berichtet an einigen anderen Stellen vom Umritt des neuen Königs beim Antritt seiner Regierung (Hist. Franc. I V 14; I V 16; V I I 10) in ganz ähnlichen Wendungen. I m Falle des Grafen Gundowald schließt jedoch die Wendung in hoc officio, die sich auf die actio causarum beziehen muß, eine Interpretation als „Umritt" aus. 4 5 BERGENGRUBN, Adel und Grundherrschaft i m Merowingerreich; C L A U D E , Frühfränkischer Comitat, S. 56 ff., 61 ff.; W E N S K U S , A m t und Adel, S. 54 f.; CORSTEN, Rheinische Adelsherrschaft. 4 6 W E N S K U S , Amt und Adel, S. 55. 47 Gregor von Tours, Hist. Franc. I I I 15 und an einigen anderen Stellen. 48 Die castra , die bei Gregor von Tours gelegentlich erwähnt werden, sind keine Adelssitze gewesen. Zum Problem W E N S K U S , A m t und Adel, S. 55 mit Anm. 98. Einige Hinweise gibt auch BERGENGRUBN, Adel und Grundherrschaft i m Merowingerreich. 4 9 K R O E L L , L'immunité franque; H O F B A U B R , Ausbildung der großen Grundherrschaften i m Reiche der Merowinger, S. 94 ff. 5 0 SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, S . 29: „Grundlage der Macht des fränkischen Herrenstandes ist das seit der Wanderzeit fortbestehende Gefolgschaftswesen gewesen." 4 Schulze



1 · Teil : Merowingische Grundlagen

bunden sind, zu seinem Hause gehören und ihn in Krieg und Frieden begleiten, lassen sich jedoch in den Quellen der frühen Merowingerzeit für die fränkischen Großen nicht nachweisen51. Das Recht auf eine Gefolgschaft von Antrustionen war offenbar den Königen und Königinnen vorbehalten 52. Eine Ausnahme scheint der bei Gregor von Tours mehrfach erwähnte Chram zu machen, der sich mit einer Gefolgschaft aus jungen Leuten umgibt 53 . Er ist jedoch ein Sohn Chlothars I., ein Merowinger also, der gerade seinen Anspruch auf die Herrschaft über einen Teil des väterlichen Reiches anmeldet und mit Waffengewalt durchzusetzen sucht. Für das Gefolge der fränkischen Herren werden die spezifisch gefolgschaftlichen Termini wie trustis und antrustio nicht gebraucht. Möglicherweise geht es aber zu weit, wenn man einen institutionellen Unterschied zwischen der Gefolgschaft des Königs und dem Gefolge des Adels postuliert. Die recht plastischen Schilderungen Gregors von Tours über das Leben der merowingischen Herrenschicht zeigen allerdings deutlich, daß sich der Adel vorwiegend mit bewaffneten Knechten (pueri) umgab. Mit ihrer Hilfe verteidigte er seine Besitzungen und führte seine Fehden um Ämter, Einfluß und Besitz durch. Wenn freie Leute an diesen Auseinandersetzungen teilnahmen, so hat es sich im allgemeinen um Verwandte und Freunde gehandelt. Auch in der Lex Salica fehlen Hinweise auf ein adliges Gefolgschaftswesen. Vielleicht kann das contubemium der Lex Salica als ein gefolgschaftsähnlicher Verband aufgefaßt werden 54 . Der Lite, der seinen Herrn auf der Heerfahrt begleitet, wird dies nicht auf Grund einer gefolgschaftlichen, sondern einer leibherrlichen Bindung getan haben55. Solange nicht wichtigere Zeugnisse vorliegen, wird man von Gefolgschaften der fränkischen Großen für die frühe Merowingerzeit nur mit Einschränkung sprechen können. Die späte Merowingerzeit wird als Verfallsperiode betrachtet, bestenfalls als die Zeit, in der sich der Aufstieg der Karolinger vorBERGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich, S. 183. Die bei Gregor von Tours genannten pueri, die die Begleitung der Herren bildeten, scheinen im allgemeinen Knechte gewesen zu sein. Einige andere Stellen (Hist. Franc. V 24, V I 16, X 5 etc.) lassen sich eher i m Sinne von Gefolgschaftsverhältnissen deuten. 5 2 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. R G I I , S . 349 ff.; SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 35, betrachtet dies als eine jüngere Entwicklung. 53 Gregor von Tours, Hist. Franc. I V 13: . . . collectis vilibu* personis aetate iuvenele fluctuantibus. 54 Pactus legis Sal. tit. 42 De homicidiis a contubernio factis; 43 De; homicidiis in contubernio factis. 55 Pactus legis Sal. tit. 26 De libertis dimissis. Wenn man hier mit W E N S K U S , Amt und Adel, S. 4 9 , bereits an ein Gefolgschaftsverhältnis denkt, wird der Begriff Gefolgschaft so unscharf, daß man ihn aus der wissenschaftlichen Terminologie streichen kann. 5 1

II. Adel, Amt und Königtum in merowingischer Zeit

51

bereitete und vollzog. Verfassungsgeschichtliche Untersuchungen werden durch die ungünstige Quellenlage sehr erschwert. Die zunehmende Schwäche des merowingischen Königtums ließ den fränkischen Großen immer weiteren Spielraum zur Durchsetzimg ihrer eigenen machtpolitischen Ziele. Die königlichen Amtsträger gewannen größere Selbständigkeit, der Amtsgedanke schwächte sich ab. Bereits im sechsten Jahrhundert waren Grafschaften gelegentlich vom Vater an den Sohn übergegangen, und die weitere Entwicklung mußte die Tendenz zur Erblichkeit der Ämter verstärken. Schon im Pariser Edikt von 614 hatte Chlothar II. das Indigenatsprinzip für alle indices, also auch für die Grafen, anerkennen müssen56. Der König wurde damit in der Wahl seiner Amtsträger eingeschränkt und an einen bestimmten Personenkreis gebunden. Da die iudices nunmehr grundsätzlich in ihren Amtsbereichen begütert sein mußten, wurde die ohnehin bestehende Verbindung von königlichem Amtsauftrag und eigenen Machtmitteln weiter verstärkt. Allerdings wurde der königliche Beauftragte dadurch keineswegs der Herr seines Amtsbezirkes. Eine Interpretation des Pariser Edikts wie die von H E I N Z L Ö W E , der annimmt, daß der Graf nun nicht mehr Beamter, sondern „Fürst" in seinem Gau gewesen sei57, geht viel zu weit. Dagegen hat S P R A N D E L mit Recht betont, daß in dem Edikt selbst als Grund für die Indigenatsbestimmung die Haftpflicht des iudex bei Amtsmißbrauch angegeben wird 58 . Ob dies der wahre Grund ist, kann dahingestellt bleiben; der Adel aber wollte auf jeden Fall Schutz vor landfremden königlichen Amtsträgern und ihre Ausschaltung als Instrumente der königlichen Herrschaft, nicht aber den Grafen als einen neuen Herrn. Die Grafschaft blieb ein Amtsbezirk, obgleich die Auswahl des Grafen aus dem Kreis der Grundherren des betreffenden Gebietes die Tendenz zur Verherrschaftlichung und Allodialisierung gewiß intensivierte. Man wird allerdings kaum annehmen dürfen, daß die Grafen die eigentlichen Nutznießer der Entwicklung waren. Ihre eigene Macht reichte wohl in vielen Fällen nicht aus, um ganz ohne den Schutz des Königtums auszukommen. Das Schwinden der königlichen Autorität gefährdete auch ihre Position. C L A U D E hat auf den wachsenden Einfluß mancher Bischöfe hingewiesen, die die Grafen verdrängten oder von sich abhängig machten59. Es waren vor allem die Herzöge und die Hausmeier der einzelnen Teilreiche, die um Macht und Einfiuß am 56

M G Capit. I 9. Deutschland i m fränkischen Reich. In: GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte, 1954, S. 102. 88 SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merovingischen Adels, S. 62 f.; BERGENGRUBN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich, S. 174 f.; vgl. ferner GUTTENBERG, Iudex h. e. comes aut grafio, S. 103. 5 9 CLAUDE, Frühfränkischer Comitat, S. 26 ff. 57

4*

LÖWE,

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1 Teil: Merowingische Grundlagen

Hofe kämpften oder als lokale Machthaber Bereiche selbständiger Herrschaft aufzubauen suchten. Neben dieser Spitzengruppe der merowingischen Herrenschicht haben die Grafen offenbar nur eine geringere Rolle gespielt. Sie treten in den Quellen auffällig zurück. Bei den rechtsrheinischen Stämmen, aber auch in Aquitanien und im Elsaß war das Streben nach Selbständigkeit besonders ausgeprägt. Die duces, die in Alamannien, Bayern und Ostfranken wahrscheinlich als fränkische Amtsherzöge eingesetzt worden waren, wurden mehr und mehr aus königlichen Beauftragten zu Repräsentanten der Stämme. Der Amtscharakter ihrer Stellung ging weitgehend verloren, obwohl er theoretisch immer aufrechterhalten wurde. Mit dieser Situation mußten die Karolinger bei ihrem Herrschaftsantritt fertig werden, der sich im Kampf mit rivalisierenden Adelsgruppen vollzogen hatte.

Zweiter

Teil

Untersuchungen zur Grafschaftsverfassung bei den oetrheiniechen Stämmen I . Die Alamannen 1. Die Verfassung der vorkarolingischen Zeit Die Entstehung des alamannischen Stammes ist noch immer eines der schwierigsten Kapitel der älteren Geschichte des deutschen Volkes1. Während sich bei den Franken das Zusammenwachsen des Großstammes aus einer Reihe von kleineren Stämmen und Stammesgruppen ziemlich klar verfolgen läßt, bleibt der Vorgang der Stammesbildung bei den Alamannen weitgehend im Dunkeln 2 . Vor allem wegen des nodi heute lebendigen Namens „Schwaben" sind die Alamannen mit den Sueben oder der suebischen Volksgruppe der Semnonen identifiziert worden („Semnonentheorie") 3. Eine einfache Gleichsetzung dürfte dem komplizierten Prozeß der Stammesbildung aber nicht gerecht werden, denn wahrscheinlich sind mehrere andere Stämme und Stam1 C H R . F R . S T A L I N , Wirtembergische Geschichte I , 1 8 4 1 , S. 1 1 4 ff.; F E L I X D A H N , Die Könige der Germanen I X : Die Alamannen, 1 9 0 2 ; F R I E D R I C H K A U F M A N N , Deutsche Altertumskunde I I , 1 9 2 3 , S. 8 9 ff.; L U D W I G S C H M I D T , Geschichte der deutschen Stämme: Die Westgermanen I I . 2. Auflage 1940, S. 3 ff. — Als Materialsammlung leistet JULIUS CRAMER, Die Geschichte der Alamannen als Gaugeschichte, 1899, gute Dienste. Für die neuere Forschung repräsentativ sind die Aufsätze in Grundfragen der alemannischen Geschichte, Mainauvorträge 1952, 1955 (Vorträge und Forschungen I ) ; zurückhaltender O T T O FEGER, Geschichte des Bodenseeraumes I , 1956, S. 56 ff. * H A N S V O N SCHUBERT, Die Unterwerfung der Alamannen unter die Franken, 1 8 8 4 , S. 5 ff.; K A R L WBLLER, Die Besiedlung des Alamannenlandes. In: WürttVjh. N F 7 ( 1 8 9 8 ) , S. 3 0 2 ff.; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 4 ff.; ALBERT B A U E R , Gau und Grafschaft in Schwaben. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Alamannen, 1927, S. 1 ff. mit kritischer Besprechung der älteren Literatur; T H E O D O R M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen. In: Grundfragen der alemannischen Geschichte, S. 1 8 ff.; ERNST S C H W A R Z , Die Herkunft der Alemannen. In: Grundfragen der alemannischen Geschichte, S. 3 7 ff.; W E N S K U S , Stammesbildung, S. 494 ff., mit einer ausführlichen Darstellung der bisher vertretenen Theorien. 8 B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 4 ff. mit Kritik an den älteren Auffassungen; S C H M I D T , Westgermanen I I , S. 4 f.; S C H W A R Z , Herkunft der Alemannen, S. 4 0 ; WENSKUS, Stammesbildung, S. 4 9 9 f.

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2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaftsverf assung

messplitter eingeschmolzen worden, von denen allerdings nur die Juthungen als besonderer gentiler Verband quellenmäßig faßbar werden. Suebische Scharen haben sicher einen wesentlichen Anteil an der Herausbildung des alamannischen Stammes gehabt und stellten wohl eine Art Traditionskern dar, an den sich andere Gruppen schließlich ankristallisieren konnten. Aus dem Kontrastbewußtsein der Nachbarn erwuchs dann wohl die Sammelbezeichnung „Alamannen". Wenn die Deutung dieses Namens als „alle Männer, Männer insgesamt"4, die schon antiken Autoren geläufig war 5 , zutreffend sein sollte, wäre sie ein wichtiger Hinweis auf den Ursprung des Stammes. Die Gültigkeit dieser Deutung ist allerdings umstritten®. Der Name der Sueben lebte gleichsam unterirdisch weiter, wahrend die Bildung des neuen Großstammes auch zur Entstehung eines neuen Namens führte. Ähnliche Erscheinungen lassen sich auch bei Franken, Langobarden und Bayern beobachten7. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Römern, die im Jahre 213 n. Chr. begannen und mit dem Durchbruch durch den Limes 259/60 einen ersten Höhepunkt erlebten, haben bei den antiken Schriftstellern verhältnismäßig starke Beachtung gefunden, so daß die Überlieferung zur alamannischen Frühgeschichte ziemlich reichhaltig ist8. Hinter den Schilderungen der Feldzüge und Schlachten wird das Bild der alamannischen Verfassung allerdings nur gelegentlich sichtbar. Schon die Frage nach der Art der alamannischen Landnahme ist des^ halb noch nicht hinreichend geklärt. Rechnete man in der älteren Forschung selbstverständlich mit einem „wandernden Volk" 9 , so wird in jüngerer Zeit meist angenommen, daß Eroberung und Besiedlung in erster Linie durch gefolgschaftlich gebundene Kriegerscharen erfolgten. Diese Auffassung, die auf A L B E R T B A U E R zurückgeht 10, ist später von H E I N R I C H D A N N E N B A U E R besonders nachdrücklich vertreten worden 11 . Herkunft der Alemannen, S . 37. Agathias I, 6 unter Berufung auf Asinius Quadratus. Β B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 3 ff.; W E N S K U S , Stammesbildung, S . 4 9 4 F . , 500 ff.; beide mit weiterer Literatur. 7 Es handelt sich in allen Fällen nicht um alte Gentilnamen, sondern um Neubildungen, abgeleitet von der Herkunft (Bayern) oder bestimmten Eigenschaften (Franken und Langobarden). Bei den Langobarden hat sogar die Sage die Tatsache der Neubenennimg festgehalten. 8 Hauptquelle ist Ammianus Marcellinus, hrsg. von C. U. Clark, 2 Bde., 1910—15. Die antiken Quellen sind besonders von S C H M I D T , Westgermanen I I , in vorzüglicher Weise herangezogen worden. Auch das sonst mit Vorsicht zu benutzende Werk von CRAMER, Geschichte der Alamannen als Gaugeschichte, beruht auf breiter Verwendung des Quellenmaterials, vor allem für die Schilderung der kriegerischen Ereignisse. 9 SCHUBERT,, Unterwerfimg der Alamannen unter die Franken, S. 5 f. 10 B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 21 ff., besonders S. 52 f. 11 DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. In: Grundlagen der mittelalterlichen Welt, S. 171, Anm. 179 im Zusammenhang mit 4

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SCHWARZ,

I. Die Alamannen

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Auch R E I N H A R D W E N S K U S ist der Meinung, daß die Eroberung durch gefolgschaftlich organisierte Heerhaufen" durchgeführt wurde, denen dann die bäuerlichen Siedler nachfolgten 12. Die alamannische Eroberungs- und Siedlungsbewegung, die sich über mehrere Jahrhunderte hinzog, war ein viel zu komplizierter Prozeß, als daß man sie auf die Alternative von bäuerlicher oder gefolgschaftlich-herrschaftlicher Landnahme reduzieren könnte. I n den Anfangsphasen hat es sich gewiß um eine echte Völkerwanderung gehandelt, denn bereits beim ersten Zusammenstoß mit den Römern 213 konnten diese zahlreiche Frauen und Kinder in ihre Gewalt bringen 13 . Später stießen alamannische Heere auf Kriegs- und Beutezügen immer wieder in das römische Gebiet vor, während Frauen und Kinder in den Siedlungsgebieten blieben, die freilich ihrerseits nicht selten von römischen Gegenaktionen betroffen wurden. Die Rolle der Gefolgschaft in der alamannischen Verfassung der Frühzeit soll keineswegs unterschätzt werden. Gefolgschaften alamannischer Könige werden ausdrücklich bezeugt. König Hortar ist von vier comités umgeben, bei Makrian werden satellites erwähnt, und um Chnodomar scharten sich nach der Schlacht bei Straßburg noch zweihundert comités und drei amici luridissimi 14. Es ist aber nicht anzunehmen, daß die gesamten alamannischen Heerhaufen gefolgschaftlich organisiert waren. Die Gefolgschaften der Könige waren offenbar Sondergruppen, die wohl den Kern des Heeres bildeten, nicht aber das Heer schlechthin. Neben ihnen hat es die freien germanischen Krieger, den populuä, gegeben. Es ist hier nicht möglich, zu den vielfältigen Problemen der alamannischen Siedlungs- und Sozialgeschichte im einzelnen Stellung zu nehmen, obgleich es dabei eigentlich um die Grundlage der Verfassung überhaupt geht. Einige Andeutungen müssen genügen15. Die einem Vergleich mit den Verhältnissen bei der angelsächsischen Landnahme; DERS., Bevölkerung und Besiedlung Alemanniens in der fränkischen Zeit. In: Grundlagen der mittelalterlichen Welt, S. 287 f. 12 W E N S K U S , Stammesbildung, S. 506 ff., der darauf hinweist, daß diese Auffassung schon 1860 durch E. V O N WIETERSHEIM, Geschichte der Völkerwanderung I I , S. 207, vorgetragen, worden ist. 13 Cassius Dio 77 (Dindorf I V , S . 292 ff.), zitiert nach SCHUBERT, Unterwerfung der Alamannen unter die Franken, S. 5 f. 14 Amm. Marc. 17, 10. 8; 19, 4. 5; 16, 12. 60. S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 73; DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft, S . 155 f. 15 S T A L I N , Wirt. Gesch. I , S. 2 0 0 ff.; WELLER, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 304 ff.; DERS., Besiedlungsgeschichte Württembergs vom 3. bis 13. Jahrhundert n. Chr., 1 9 3 8 (S. 2 ff. Überblick über die Forschung bis 1 9 3 8 ) ; D A H N , Könige der Germanen I X , S. 137 ff. (Ständeproblem), 215 ff. (Recht und Verfassung), 4 2 4 ff. (Siedlung und Wirtschaft); A D O L F HELBOK, Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs, 1 9 3 5 / 3 9 , S. 4 4 1 ff.; S C H M I D T , Westgermanen I I , S. 73 ff. (Sozialstruktur), 78 ff. (Siedlung); OTTO, Adel und Freiheit, S. 1 5 0 ff.; DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft, S. 1 5 3 ff.; M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 18 f.

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2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaftsverfassung

alamannische Landnahme hat sich zunächst auf die Gebiete erstreckt, die schon in römischer Zeit besiedelt waren. Die Forschung rechnet sogar mit einem Rückgang des besiedelten Landes, der erst allmählich durch erneuten Landesausbau wieder wettgemacht wurde 16 . Die ältesten alamannischen Siedlungsgebiete lassen sich an Hand der älteren Ortsnamentypen und der Reihengräberfriedhöfe verhältnismäßig klar erkennen. Während man aber früher die Dörfer mit den Ortsnamen auf -ingen für „Sippensiedlungen" hielt und das Haufendorf als die ursprüngliche alamannische Siedlungsform betrachtete, ist man inzwischen geneigt, die Einzelhofsiedlung für die ältere Form zu halten 17 . Die Frage läßt sich vorläufig nicht entscheiden, denn die von der Archäologie erbrachten Hinweise auf Weilersiedlungen schließen die Existenz größerer Dörfer keineswegs aus. Nachrichten bei Ammianus Marcellinus deuten auf das Zusammenleben der Alamannen in größeren Siedlungen hin, während man eine Stelle in einem Panegyrikus des antiken Rhetors Libanios, die noch von A L F O N S D O P S C H benutzt wird, nicht auf die Alamannen beziehen kann 18 . Ein alamannischer Adel, für den grundherrliche Lebensweise anzunehmen ist, tritt in den schriftlichen Quellen gelegentlich neben den Kleinkönigen in Erscheinung 19. Auch die Wertschätzung von Gefangenen weist wohl darauf hin, daß Grundherrschaft mindestens in Ansätzen vorhanden war. I n den Verträgen mit den Alamannen versuchten die Römer immer wieder, die Rückgabe der Gefangenen und Verschleppten zu erreichen, und auch in der Vita Severini wird berichtet, daß sich der Heilige bei dem Alamannenkönig Gibuld für die Freilassimg von Gefangenen einsetzte80. Freilich besteht bei dieser Quelle die Gefahr, daß es sich um einen hagiographischen Topos handelt. Auf eine soziale Differenzierung deuten auch manche reich ausgestatteten Gräber hin. Die verhältnismäßig reiche schriftliche Überlieferung der alamannischen Frühzeit müßte noch einmal unter modernen verfassungs- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen gesichtet und mit den Ergebnissen der neueren archäologischen Untersuchungen verglichen werden 21 . Auf diesem Wege dürften weitere Auf16 WELLBR, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 304; M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 19. 17 W A L T H E R V E E C K , Die Alamannen in Württemberg, 1931 (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit I), S . 117 ff.; H E L B O K , Grundlagen der Volksgeschichte, S . 4 4 4 ff.; DANNENBAUER, Bevölkerung und Besiedelung Alemanniens, S. 286 ff. (mit weiterer Literatur). 18 D O P S C H , Kulturentwicklung I, S. 256; dagegen W . Göz, Libanios und die Alemannen. I n : Klio 17 (1921), S. 240 ff. 19 Primates, optimates, primores (Belege bei D A H N , Könige der Germanen I X , S . 146 ff. und S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 73 f.). 20 Vita Severini 19, 1. 21 Den Forschungsstand bis 1939 bietet S C H M I D T , Westgermanen I I , S.75ff. Grundlegend V E E C K , Die Alamannen in Württemberg, S. 113 ff.; H E R M A N N

I. Die Alamannen

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schlüsse über das Siedlungswesen und die Sozialstruktur der Alamannen zu gewinnen sein. In politischer Beziehung waren die Alamannen keineswegs eine so geschlossene Gruppe, wie es der gemeinsame Name nahelegen würde. Es fehlte ihnen die einheitliche politische Führung, die einzelnen Stammesteile standen unter eigenen Königen". I n den Quellen treten die Bezeichnungen reges, reguli und regales entgegen, in der wissenschaftlichen Terminologie wird meist von „Kleinkönigen", „Gaukönigen" oder „Gaufürsten" gesprochen83. Ausdrücke wie „Häuptlinge" oder „Fürsten" sind weniger zutreffend. Man wird dieses frühe alamannische Königtum nicht mit dem merowingischen Großkönigtum vergleichen dürfen, sondern eher mit den fränkischen Teilkönigen auf eine Stufe stellen, die von Chlodowech beseitigt wurden. Die alamannischen Kleinkönige besaßen innerhalb des Gesamtstammes eine weitgehend selbständige Stellung. Einzeln oder in kleinen Gruppen traten sie den Römern entgegen. Bei gemeinsamen kriegerischen Unternehmungen konnte einem von ihnen eine Art Oberbefehl für den Feldzug übertragen werden, wie in der Schlacht bei Straßburg im Jahre 357. Das alamannische Heer, in dem mehrere Könige kämpften, stand hier unter dem Befehl des Königs Chnodomar und seines Neffen Serapion 24. Die Könige herrschten über Stammesteile, die in den Quellen als populus, natio, plebs oder gens bezeichnet werden 25 . Diese Bezeichnungen deuten eher darauf hin, daß es sich um ethnische Gruppen als um Gefolgschaftsverbände gehandelt hat, die daneben gesondert in ErSTOLL, Alamannische Siedlungsgeschichte archäologisch betrachtet. I n : L G 6 ( 1 9 4 2 ) , S. 1 — 2 5 ; J O A C H I M W E R N E R , Der Fund von Ittenheim. E i n

ZWürttalemannisches Fürstengrab des 7. Jahrhunderts i m Elsaß, 1943; DERS., Das alamannische Fürstengrab von Wittislingen, 1950 (Münchner Beitr. z. V o r - und F r ü h geschichte 2 ) ; M A R L I S F R A N K E N , Die Alamannen zwischen Iiier und Lech, 1 9 4 4 (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit V ) ; R O L F N I E R H A U S , Das swebische Gräberfeld von Diersheim. Studien zur Geschichte der Germanen am Oberrhein vom Gallischen Krieg bis zur alamannischen Landnahme, 1966 (Röm.-germ. Forschungen 2 8 ) ; F R A U K B S T E I N , Adelsgräber des achten Jahrhunderts i n Deutschland, 1967 (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit, Serie A, Band I X ) . 2 2 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I , S . 1 5 7 1 ; B A U E R , Gau und Grafschaft, S . 1 4 f.; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 7 0 ff.; M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S . 1 9 ff.: O T T O FEGER, Z u r Geschichte des alemannischen Herzogtums. I n : Z W ü r t t L G 1 6 ( 1 9 5 7 ) , S . 4 2 f. 23 „Gaufürsten (Könige)" S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 71; „Gaukönige" B A U E R und D A N N E N B A U E R ; „Kleinkönige, Häuptlinge, Fürsten" FEGER, Herzogtum, S . 42 f.; M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S . 19, spricht von „Kleinkönigen" und „Gaukönigen", hält aber die Bezeichnung „Gaufürsten" für angemessener. 24 A m m . Marc. 1 6 , 1 2 . 1 ; 23—26; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 3 5 ff. Genannt werden die Könige Westralp, Urius, Ursicinus, Suomar und Hortar. 2 5 B A U E R , Gau und Grafschaft, S . 1 4 ; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 7 1 .

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2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaftsverfassung

scheinung treten. Über die Stellung der Könige dem Volke gegenüber ist wenig bekannt 26 . Um eine sehr straffe monarchische Herrschaft hat es sich nicht gehandelt, wie einige wenige Episoden erkennen lassen. König Gundomad wurde von seinem Volke beseitigt, da er es ablehnte, einen mit Rom geschlossenen Vertrag zu brechen 27, und vor der Schlacht bei Straßburg konnte das Heer die Könige zwingen, von den Pferden zu steigen und wie das Volk zu Fuß zu kämpfen 28 . I m Kriege und in der Außenpolitik sind die Könige die eigentlich Handelnden, aber das Geschick des Königs Gundomad zeigt, daß sie auch auf diesem Gebiet keine unumschränkte Machtfülle besaßen. Die Herrschaft des alamannischen Kleinkönigs war aber nicht nur personal, sondern auch territorial bestimmt. Er herrschte nicht nur über ein „Volk", sondern auch über den Siedlungsraum, den es in Besitz genommen hatte. Der Machtbereich des Königs hieß regnum, pagus, regio oder territorium 29. Die starke herrschaftliche Komponente der alamannischen Verfassung kommt darin zum Ausdruck, daß es für die Kleinkönigreiche im allgemeinen keine besonderen Ländernamen gibt, sondern daß sie nach dem jeweils herrschenden König benannt werden (pagus V adornarti, Fraomarii pagus, Hortarii regna). Etwa ein Dutzend Kleinkönigreiche müssen zeitweilig nebeneinander bestanden haben. Der häufigste Ausdruck ist pagus, so daß man vielleicht für die alamannischen Herrschaftsbereiche die Bezeichnung „Königsgau" verwenden darf. Wahrscheinlich waren diese Gaue zugleich auch natürliche Siedlungslandschaften. Ob von ihnen ein Weg zu den später bezeugten alamannischen Gauen führt, ist ungewiß. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß für einige Könige mehrere Herrschaftsgebiete bezeugt sind (Hortarii regna, Suomarii pagi), so daß diese Räume unabhängig von den Königen existiert haben müssen. Ein König konnte mehrere von ihnen unter seiner Herrschaft vereinen. Neben den „Königsgauen" erscheinen schon früh einige regionale Sondergruppen, die offenbar nach ihren Wohnsitzen benannt werden. In der Notitia dignitatum werden die Brisigavi erwähnt, für die das Römerkastell Brisiacum (Breisach) namengebend war 3 0 . Hier ist zugleich der Punkt, an dem sich die Kontinuität einer Gaubezeichnung vom vierten Jahrhundert bis zur Gegenwart nachweisen läßt. Bei Ammianus Marcellinus werden die Lentienses genannt31. Man möchte Westgermanen I I , S . 72 f. Amm. Marc. 16, 12. 17. Amm. Marc. 16, 12. 34. 2 9 BAUER, Gau und Grafschaft, S . 1 7 ; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 7 1 mit Belegen. 3 0 PETER V O N P O L E N Z , Landschafts- und Bezirksnamen i m frühmittelalterlichen Deutschland. Untersuchungen zur sprachlichen Raumerschließung, 1. Band: Namentypen und Grundwortschatz, 1961, S. 77 mit weiteren Literaturhinweisen; ferner B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 19. 2 6

27

28

SCHMIDT,

I. Die Alamannen

59

sie gern mit dem Linzgau am Nordufer des Bodensees zusammenbringen. Das ist eine sehr wahrscheinliche Hypothese, doch läßt sie sich nicht schlüssig beweisen. I m nördlichen Teil des alamannischen Siedlungsgebietes saßen die Bucinobantes, eine gens Alamanna 32. Eine Verbindung zwischen ihnen und der in karolingischer Zeit im fränkischhessischen Grenzraum auftretenden Landschaftsbezeichnung Buchonia wird aus sprachlichen Gründen neuerdings abgelehnt33. Zu den Alamannen gehörten vielleicht auch die Raetobarii, deren Wohnsitze in der ehemaligen römischen Provinz Raetien zu suchen sind34. Unter den Namen der alamannischen Kleinkönige, die vor allem von Ammian überliefert werden, sind einige, die auf engere verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den einzelnen Herrschern hinweisen. Außerdem werden in einzelnen Fällen die Verwandtschaftsverhältnisse ausdrücklich bezeugt. Serapion führte eigentlich den germanischen Namen Agenarich, sein Vater war der König Mederich, sein Onkel König Chnodomar. Brüder waren die Könige Gundomad und Wadomar, sowie Makrian und Hariobaud; Vithicab war ein Sohn des Königs Wadomar 36 . Es gab wahrscheinlich eine oder mehrere Königssippen, deren nichtregierende Mitglieder vielleicht die mehrfach genannten regales waren 38 . I m Laufe des fünften Jahrhunderts hat sich dann bei den Alamannen ein Großkönigtum herausgebildet, ohne daß die Vorgänge quellenmäßig genauer faßbar sind37. O T T O F E G E R , der sich zuletzt mit dem Problem eingehender beschäftigt hat, hält den in der Vita Severini vorkommenden König Gibuld schon für einen alamannischen Großkönig 38. Er beruft sich dabei wie schon früher F E L I X D A H N 3 9 auf die Angaben der Vita s. Lupi ep. Trecensis, in der Gibuld ebenfalls erwähnt wird 40 . Gibulds kriegerische Unternehmungen hätten demnach einen Raum von Passau im Osten bis Troyes im Westen in Mitleiden31

Amm. Marc. 15, 4. I ; 31, 10. 2 ff. Amm. Marc. 29, 4. 7. 33 Zur Etymologie P O L E N Z , Landschafts- und Bezirksnamen I , S . 1 4 0 f., der sich gegen eine Verbindimg von Bucinobantes und Buchonia ausspricht. 3 4 P O L E N Z , Landschafts- und Bezirksnamen I, S. 202 mit Anm. 8; 204 f. 3 5 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 158; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 72. Die entsprechenden Angaben finden sich bei Ammianus Marcellinus. 3 6 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. R G I, S . 164 Anm. 2; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 36 Anm. 2 unter Berufung auf H E I N R I C H V O N SYBEL, Entstehung des deutsòhen Königtums, S. 150 f. 3 7 WELLER, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 345; D A H N , Könige der Germanen I X , S. 50ff.; S C H M I D T , Westgermanen I I , S.71; W E N S K U S , Stammesbildung, S. 51; ältere Literatur bei B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 70 Anm. 119, der selbst die Annahme einer politischen Einigung des Stammes unter einem Herrscher ablehnt, allerdings kaum zu Recht. 32

38

FEGER, H e r z o g t u m , S. 44.

Könige der Germanen I X , werfung der Alamannen, S. 19 f. 40 M G SSrerMerov. V I I , S. 300 f. 3 9

DAHN,

S.

50 f.; zuvor schon

SCHUBERT,

Unter-

60

2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaftsverfassung

schaft gezogen. Allerdings hat schon A L B E R T B A U E R darauf hingewiesen, daß bereits B R U N O K R U S C H die Abhängigkeit der Vita s. Lupi von dçr Vita Severini festgestellt hat 41 . Damit werden alle Schlüsse auf einen ausgedehnten Aktionsradius des Königs Gibuld hinfällig. An dèr Existenz eines Gesamtkönigtums am Ende des fünften Jahrhunderts kann jedoch nicht gezweifelt werden, denn es geht aus mehreren Nachrichten klar hervor, daß die Alamannen zur Zeit ihrer Niederlage gegen die Franken nur unter der Herrschaft eines Königs standen". Von ihm ist allerdings sonst nichts bekannt, nicht einmal seinen Namen haben die Quellen bewahrt. Die Entwicklung zum Gesamtkönigtum stand wohl mit den weiteren kriegerischen Unternehmungen der Alamannen im fünften Jahrhundert im Zusammenhang. Schon L U D W I G S C H M I D T und später auch W A L T E R S C H L E S I N G E R waren der Auffassung, daß das alamannische Großkönigtum aus einem Heerkönigtum hervorgegangen sei43. Die politische Einigung des Stammes verstärkte wahrscheinlich seine Expansionsbestrebungen und machte die Alamannen zu gefährlichen Rivalen der Franken. Die Auseinandersetzungen endeten um 497 mit dem Siege Chlodowechs44. Die Alamannen verloren den nördlichen Teil ihres Siedlungsgebietes45, wurden aber durch das Eingreifen Theoderichs zunächst vor der Eingliederung ins Frankenreich bewahrt. Ob der Ostgotenkönig, der Teile der römischen Provinz Raetien in seiner Hand hielt, eine direkte Herrschaft über das südliche Alamannien ausübte oder sich mit einer lockeren Schutzherrschaft begnügte, ist nicht sicher festzustellen 46, Der Kampf gegen Byzanz zwang die Ostgoten schließlich zur Aufgabe ihrer Herrschaft und ermöglichte die Einbeziehung des gesamten alamannischen Gebietes in das Merowingerreich. Das alamannische Königtum war schon in der Schlacht gegen Chlodowech mit dem Tode des Königs erloschen. Das Stammesgebiet wurde zu einer Provinz des Fränkischen Reiches, an deren Spitze ein Herzog 4 1 B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 70 Anm. 119; K R U S C H in: M G SSrerMerov. V I I , S. 287. 4î Gregor von Tours I I , 30; Cassiodor, Var. I I , 41; Ennodius, Panegyricus dictus Theoderico, c. 15. Die Quellen sind alle von einander unabhängig, alle sprechen eindeutig von einem einzigen König, dessen Tod nach Gregor die Schlacht entschied. 4 8 S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 71; SCHLESINGER, Heerkönigtum, in: Beiträge I, S. 73. 4 4 S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 58 ff. mit Belegen und Literatur; H B I N R I C H B Ü T T N E R , Franken; und Alamannen in Breisgau und Ortenau. In: ZGOberrhein N F 52 (1939), S. 324 ff. 4 5 D A H N , Könige der Germanen I X , S . 55 ff.; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 61 f. 4 6 S C H M I D T , Westgermanen I I , S. 62 ff.; F R A N Z BEYERLE, Süddeutschland in der politischen Konzeption Theoderichs des Großen. In: Grundfragen der aleman-

nischen Geschichte, 1955, S. 65—81.

I. Die Alamannen

61

gestellt wurde 47 . Der verfassungsmäßige Charakter dieses frühen alamannischen Herzogtums ist nicht leicht zu bestimmen. Die ersten bekannten alamannischen Herzöge waren die Brüder Leuthari und Butilin, die Theudebert I. eingesetzt hatte 48 . Allerdings zweifelte schon F E L I X D A H N daran, daß es sich bei ihnen um Herzöge im strengen Sinne gehandelt hat 49 . Sie fanden als Befehlshaber alamannisch-fränkischer Heere in Italien im Kampf gegen die Byzantiner ihren Untergang, so daß die Bezeichnung duces durchaus auch auf ihre militärische Funktion hinzielen konnte. Sie waren alamannischer Herkunft, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie zu den Nachkommen einer der alten Königssippen gehörten. A L B E R T B A U E R sieht in ihnen „Gaukönige", die von Theudebert bloß in ihrer angestammten Stellung bestätigt worden sind 50 . Diese Hypothese hängt mit den Vorstellungen B A U E R S von der alamannischen Adelsherrschaft zusammen, die noch zu erörtern sein werden. Die Quellen weisen freilich in eine andere Richtung. Die Absetzung des Herzogs Leutefred im Jahre 587 und die Ernennung des neuen Herzogs Uncelenus sind klare Zeugnisse für ein vom fränkischen König abhängiges Amtsherzogtum und lassen sich mit der Annahme einer ererbten eigenständigen Position schlecht vereinbaren 51. Uncelenus ist vielleicht mit dem in der Gallusvita erwähnten Herzog Gunzo identisch, dessen Abhängigkeit von den Merowingern aus den Erzählungen der Vita deutlich zu erkennen ist 52 . Auch in der Lex Alamannorum bleibt kein Zweifel an der Unterstellung des Herzogs unter den König 53 . Mindestens aus der Sicht des merowingischen Königtums sind die alamannischen Herzöge Amtsherzöge fränkischer Prägung 54 . Trotzdem können die Unterschiede zur Stellung anderer merowingischer duces nicht übersehen werden, denn ungeachtet der Oberhoheit des Königs verfügten sie als Führer eines ehemals selbständigen Stammes über wesentlich bedeutendere Machtgrundlagen. Ihre Rolle innerhalb des Stammes kommt deutlich in der Lex Alamanno4 7 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S. 169 ff., 217 ff.; D A H N , Könige der Germanen I X , S. 696 ff.; D I E N E M A N N - D I E T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 177 ff.; FEGER, Herzogtum, S. 45 ff.; E R I C H ZÖLLNER, Die politische Stellung der Völker im Frankenreich, 1950, S. 144 f. 48 Agathias I, 6. 4 9 D A H N , Könige der Germanen I X , S . 698; ebenso SCHUBERT, Unterwerfung, S . 123 Anm. 1 und S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 66. 5 0 B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 72 f. si Fregegar I V 8, M G SSrerMerov. I I , S. 125: Sed et Leudefredus Alammannorum dux in offensam antedicti regis incidit, etiam et latebram dedit. Ordenatus est loco ipsius Uncelenus dux . Dazu FBGER, Herzogtum, S. 47. 52 Vita s. Galli, M G SS I I , S. 12: Cunzoni ergo duci praeceptum est a rege, ut viro Dei ad aedificium cellae adiuvasset cum multitudine. Vgl. FEGER, Herzogtum, S. 48 ff. M Lex Alam. 35, 1. 2. 3. 5 4 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. RG I, S . 451. Vgl. auch die in Anm. 47 genannte Literatur.

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2

.

Teil : Untersuchungen zur Grafschaf tsverfassung

rum zum Ausdruck, wo ihnen die Heerführung, die oberste Gerichtsgewalt und die Friedenswahrung als vornehmste Aufgaben zugeschrieben werden. Auch das Gesetzbuch selbst ist unter maßgeblicher Mitwirkung des Herzogs geschaffen worden. Damit ruhte die herzogliche Macht bei den Alamannen auf ganz anderen Grundlagen als die Amtsgewalt der westfränkischen Herzöge, denen eine ähnliche feste Verwurzelung in einem Stammesgebiet fehlte. Auf die eigenständigen Herrschaftsrechte, über die das „ältere Stammesherzogtum" neben der vom König verliehenen Amtsgewalt verfügte, haben schon C H R I S T O P H F R I E D 55 R I C H S T Ä L I N und G E O R G W A I T Z aufmerksam gemacht . Die herzogliche Würde ist unter den schwachen Merowingerkönigen de facto erblich geworden, obgleich die Beschränkung auf die Angehörigen eines bestimmten Geschlechtes wie in Bayern nicht ausdrücklich bezeugt ist. I m Elsaß ist um 650 ein Sonderherzogtum vorhanden, dessen Inhaber dem Hause der Etichonen entstammten56. Ob auch sonst noch Teilherzogtümer entstanden sind, wie dies zuletzt von O T T O F E G E R behauptet worden ist, kann nicht sicher festgestellt werden 57 . Die Annahme von F E G E R , daß die Lex Alamannorum mit einer Teilung der herzoglichen Gewalt rechne, beruht auf einem Mißverständnis, denn es wird nicht die Teilung des Herzogtums vorgesehen, sondern die Teilung der hereditas paternica, der herzoglichen Erbgüter 58 . Damit wird ein Problem berührt, das in der verfassungs- und landesgeschichtlichen Literatur besonders in den letzten Jahrzehnten immer wieder eine große Rolle spielte, das des alamannischen Herzogsgutes59. Die Vorstellung von einem ausgedehnten alamannischen Herzogsgut übt auf die Forschung eine geradezu faszinierende Wirkung aus, obgleich es eigentlich nur zwei direkte Zeugnisse dafür gibt. Für den Herzog Gunzo ist anzunehmen, daß der Schwerpunkt seiner 5 5 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 217; W A I T Z , Dt. V G I I , 1, S . 423 f.: „Dies zeigt sich besonders darin, daß Fürsten einem solchen Lande und Volke vorgesetzt sind, die freilich zunächst als Vertreter und Beamte des Königs angesehen werden sollen, die aber doch ein starkes und selbständiges Recht ausüben und dieses nur dem höheren Recht des Königs unterordnen. So ist es i n Alamannien und Baiern, zum Teil auch in Thüringen der Fall." 56 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 179; H E I N R I C H B Ü T T N E R , Geschichte des Elsaß I, 1938, S . 60 ff. mit älterer Literatur; FEGER, Herzogtum, S . 52 f.; F R A N Z VOLLMER, Die Etichonen. Ein Beitrag zur Frage der Kontinuität früher Adelsfamilien. I n : Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels, hrsg. von Gerd Tellenbach, 1957, S. 137 ff. 5 7 FEGER, Herzogtum, S.53f.; S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 225 ff. hat die Frage ebenfalls offen gelassen. 58 Lex Alam. 35, 2.3.4. 5 9 M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 18f., 22 f.; D I E N E M A N N - D I B T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 177 ff.; P A U L K L Ä U I , Hochmittelalterliche Adelsherrschaften i m Zürichgau, 1960, S. 75 ff.; JOSBF SIEGWART, Zur Frage des alamannischen Herzogsgutes u m Zürich. I n : SchweizZG 8 (1958), S. 145—192.

I. Die Alamannen

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Macht am Bodensee gelegen hat und daß er in Uberlingen seinen Sitz hatte 80 . Herzog Gottfried schenkte um 700 dem Kloster St. Gallen seinen Ort Biberburg am Neckar 61. Die Schenkung ist in Cannstatt vollzogen worden, und da sich hier auch das berühmte Blutbad abgespielt hat, ist der Schluß gezogen worden, daß dieser Raum ein Zentrum der alamannischen Herzogsmacht gewesen sei. Diese Vermutung kann durchaus zutreffen. Damit sind die Nachrichten aber auch schon erschöpft, denn die Annahme, daß die Gebiete der Baaren auf Herzogsgut zurückgehen, ist nicht mehr als eine Hypothese62. Keineswegs kann mit einem von Cannstatt über die Baaren bis zum Bodensee reichenden Komplex von alamannischem Herzogsgut gerechnet werden. Auch der Schluß von dem später faßbaren Königsgut auf ehemaliges Herzogsgut ist nur unter Vorbehalt gestattet. Vor allem ist es aber ein überaus gewagte Hypothese, wenn das Herzogsgut nun seinerseits auf römisches Fiskalland zurückgeführt wird, wie dies 63 H E I N R I C H D A N N E N B A U E R und T H E O D O R M A Y E R getan haben . Man müßte noch den Besitz der alamannischen Kleinkönige dazwischen schalten und bekäme dann eine Abfolge vom römischen Fiskalland über die Güter der altalamannischen Könige und das Herzogsgut der Merowingerzeit zum karolingischen Königsgut. Eine so weitgehende Kontinuität ist nicht sehr wahrscheinlich, obgleich es sicher ist, daß die jeweils Herrschenden immer wieder an so markante Plätze, wie es römische Kastelle und Niederlassungen waren, angeknüpft haben. Es genügt, auf Orte wie Konstanz, Zürich oder Arbon zu verweisen. Über das römische Fiskalland ist überhaupt nichts bekannt. Man kann nur vermuten, daß es im Zusammenhang mit den Kastellen stand. Die Frage, wie weit sich das karolingische Königsgut auf Herzogsgut zurückführen läßt, muß im Grunde offen bleiben. Es ist zwar anzunehmen, daß die Karolinger das Herzogsgut ganz oder teilweise eingezogen haben, aber auch andere begüterte alamannische Geschlechter werden von Konfiskationen betroffen worden sein. Vor allem hat es bereits vor 744 in Alamannien Königsgut gegeben. Der erste Hinweis darauf findet sich in der Vita s. Galli, in der der König offensichtlich über das eo

Vita Galli auctore Wettino, M G SSrerMerov. I V , S. 264. U B St. Gallen I, 1; Der vicus Biberburg lag vermutlich nördlich von Cannstatt in der Gemarkimg Mühlhausen ( F R A N Z BBYERLE, Z u m Problem der alamannischen Baaren^ In: ZSRG G A 62 (1942), S. 313 Anm. 34). 62 Vertreten von K A R L SIEGFRIED B A D E R , Zum Problem der alemannischen Baaren. In: ZGOberrhein N F 54 (1941), S. 403 ff., besonders S.426 und 452 ff. Seine Auffassung hat sich trotz des Widerspruches von BEYERLE, Zum Problem der alamannischen Baaren, S. 308 ff., weitgehend durchgesetzt. M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 19, hält sogar einen Zusammenhang der Baar mit römischem Fiskalland fütf möglich, das von den Herzögen bei der Landnahme in Besitz genommen wurde. 6 3 DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft S. 1 6 6 ; M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 18 f., 22 f. 61

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. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftsverfassung

unbesiedelte Land, den eremus, verfügt und dem Herzog Gunzo entsprechende Anweisungen erteilt 84 . Das zweite Zeugnis liefert die Urkunde Karl Martells von 724 für die Abtei Reichenau, die zwar nur in zwei gefälschten Exemplaren vorliegt, aus denen aber K A R L B R A N D I meines Erachtens recht überzeugend den echten Text herauspräpariert hat 65 . Karl Martell verfügte darin zugunsten des Klosters über fünf Dörfer, bei denen es sich nach dem Wortlaut der Urkunde nur um Königsgut gehandelt haben kann8®. Die Besitzungen gehörten wahrscheinlich wie F R A N Z B E Y E R L E vermutet 87 , zu einem größeren Fiskalbezirk mit dem Mittelpunkt Bodman88. Die Feststellung, daß es bereits in der Merowingerzeit in Alamannien Königsgut gegeben hat, ist schon von C H R I S T O P H F R I E D R I C H S T Ä L I N getroffen worden. Er bemerkt mit Recht, daß man aus den königlichen Besitzungen der karolingischen Zeit nur in Ausnahmefällen auf den Zeitpunkt und die Art der Erwerbung schließen kann 89 . Einer kurzen Erörterung bedarf auch die Frage nach dem Begriff des Herzogsgutes, dessen verfassungsmäßige Stellung noch nicht ausreichend definiert worden ist. Selbstverständlich verfügten die alamannischen Herzöge über Grundbesitz, aber es ist zu fragen, ob diese Besitzungen tatsächlich in gleicher Weise mit dem Herzogtum verbunden waren wie das Königsgut mit dem Königtum. Es wäre gewiß zu einfach, in dem Herzogsgut eine Analogiebildung zum Königsgut zu sehen. In der Lex Alamannorum wird „Staatsgut" (fiscus) als eine ganz selbstverständliche Einrichtung mehrfach erwähnt. An den Fiskus fiel der fredus, das Friedensgeld 70, von dem es an anderer Stelle heißt, daß er in publico gezahlt wird 71 , was offensichtlich dasselbe bedeutet. Ebenso wurde bei Einziehung des Vermögens verfahren 72 . Direkt im Sinne von Staatsgut erscheint fiscus an anderer Stelle, ohne daß dabei deutlich würde, ob es herzoglicher oder königlicher Besitz ist 73 . Die Lex Alamannorum setzt aber Königsgut voraus, denn Königsknechte und Fiskalknechte werden ausdrücklich erwähnt und genießen das 64

Vita s. Galli M G SS II* S. 12. Die Reichenauer Urkundenfälschungen, 1 8 9 0 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Abtei Reichenau 1), S. 89 ff., Text der Rekonstruktion S. 101 f. ββ de fisco nostro quinque loca (inter villas et villares) id est Marcholfingas et Alaholfespach et Caltaprunno et Uualamotingas et Alahmontescurt ... 6 7 BEYBRLE, Zum Problem der alamannischen Baaren, S . 3 1 2 f. 6 8 T H E O D O R M A Y E R , Die Pfalz Bodman. In: Deutsche Königspfalzen I, 1 9 6 3 , S. 9 7 — 1 1 2 . Nicht ganz überzeugend sind die Ergebnisse der Untersuchungen von F. W I E L A N D T , Bodman und Zürich, zwei unbekannte Merovinger-Münzstätten i m Alemannenland. In: ZGOberrhein N F 5 2 ( 1 9 3 9 ) , S. 4 2 4 ff. 6 9 S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 170 f. 70 Lex Alam. 3,3.4. 71 Lex Alam. 25 . . . et res eius infiscentur in publico . 72 Lex Alam. 39,2. 73 Lex Alam. 26,2. 6 5

KARL BRANDI,

I. Die Alamannen

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dreifache Wergeid derjenigen, die im Dienste des Königs stehen74. Der Königshof genoß einen erhöhten Friedensschutz 75, und die gleiche rechtliche Stellung wurde auch dem Hof des Herzogs (curtis ducis )7β und den herzoglichen Besitzungen zugebilligt 77 . Begründet wurde die Verdreifachung der Buße damit, daß die Herzogsgüter res dominicae seien. Dafür entfiel wie bei Vergehen gegen das Königsgut78 die Einziehung des besonderen Friedensgeldes 79. Das Herzogsgut steht damit als res dominica 80 rechtlich auf der gleichen Stufe mit dem Königsgut, ist aber nicht mit dem Königsgut identisch. Nur hypothetisch kann man davon ausgehen, daß der Herzog die Verfügungsgewalt über das Königsgut oder Teile desselben besaß. Selbstverständlich schließt das nicht aus, daß die alamannischen Herzöge in der Zeit des Niederganges des merowingischen Königtums die Fiskalgüter mehr oder weniger an sich gezogen haben. In den bekannten Paragraphen der Lex Alamannorum über den rebellischen Herzogssohn wird bestimmt, daß dieser seines Anspruchs auf das väterliche Erbe verlustig gehen soll 81 . Die paternica hereditas soll an seine Brüder oder an den König fallen. Das Herzogsgut ist also gleichzeitig das Erbgut der herzoglichen Familie, das im normalen Erbgang weitergegeben wird und folglich nicht an die Herzogswürde gebunden ist. Die Qualität als res dominica, als „Herzogsgut", scheint ihm also nur auf Zeit zugekommen zu sein. Falls die mehrfach geäußerten Vermutungen zutreffen, daß der Allodialbesitz einiger alamannischer Geschlechter auf ehemaliges Herzogsgut zurückgeht, wäre das ein Anzeichen dafür, daß die Karolinger die paternica hereditas der herzoglichen Familie nicht angetastet haben. Allein mit den spärlichen alamannischen Quellen wird man dieses rechtsgeschichtlich außerordentlich komplizierte Problem kaum weiter fördern können. 2. Die Einführung der Grafschaftsverfassung Wie fast alle Probleme der älteren Geschichte des alamannischen Stammes ist auch die Frage nach der Grafschaftsverfassung stark 74

Servi regis Lex Alam. 7, 1; servi fiscales 39,3. Lex Alam. 31,1. Lex Alam. 29, 1; 31, 2. 77 Lex Alam. 32. 7 8 B R U N N E R - S C H W E R I N , Dt. H G I I , S . 5 8 Anm. 1 5 , wo auch der erhöhte Herzogsfrieden als Analogiebildung zum Königsfrieden aufgefaßt wird. 79 Res duce quod ad eum perteneunt, exinde aliquis furatus fuerit, ter novigildus conponat et ibi fredo non reddit, quare res 1 dominicas sunt et trip Heiter conponatur. 80 Dominus und dominicus können zwar grundsätzlich für jeden Herrn verwendet werden, bezeichnen aber i m engeren Sinne oft den König; in der Lex Salica bedeutet dominicus königlich (SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 11). 81 Lex Alam. 35, 2. 3.4. 75

7e

5 Schulze

2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftserfassung

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umstritten. Die verschiedenen Meinungen stehen ziemlich unverbunden nebeneinander. Ein knapper Uberblick über die Entwicklung der unterschiedlichen Auffassungen dürfte am leichtesten in den gegenwärtigen Stand der Forschung einführen. Die Anschauungen der älteren schwäbischen Landesgeschichtsschreibung über die Grafschaftsverfassung sind schon bei C H R I S T O P H F R I E D 1 R I C H S T A L I N in ihren Grundlinien zu erkennen . F R I E D R I C H V O N W Y S S , K A R L W E L L E R , E B E R H A R D K N A P P und andere haben sie dann weiterentwickelt 2 . Die ältere Forschung ging davon aus, daß nach der Unterwerfung der Alamannen durch Chlodowech nicht nur das alamannische Königtum durch ein Amtsherzogtum ersetzt wurde, sondern daß auch die fränkische Grafschaftsverfassung in Alamannien Eingang fand. Mehrere Hundertschaften, die man im Anschluß an die damals herrschende Lehre für altgermanische Einrichtungen hielt, seien jeweils zu einer Grafschaft zusammengefaßt worden. Die Einsetzung der Grafen habe dem Herzog zugestanden, der ihnen ihre Grafschaft von Fall zu Fall zugewiesen habe. Die Grenzen der Grafschaft seien aber noch nicht fest gewesen, sondern wären von den Herzögen nach Belieben verändert worden. Erst in der Karolingerzeit seien dann feste Grafschaftsbezirke geschaffen worden 8. A L B E R T B A U E R hat sich 1 9 2 7 sehr kritisch mit dem Problem der Grafschaftsverfassung auseinandergesetzt und einen scharfen und grundsätzlichen Angriff auf die älteren Anschauungen von der alamannischen Verfassungsgeschichte geführt 4. I m Gegensatz zur bisherigen Forschung war er der Meinung, daß die altalamannischen Gaufürstentümer oder Kleinkönigreiche auch nach der fränkischen Eroberung S T A L I N , Wirt. Gesch. I, S . 215 ff. WYSS, Geschichte der Entstehung und Verfassung der Stadt Zürich. In: Abhandlungen zur Geschichte des Schweiz, öffentlichen Rechts, 1892, S. 343 ff.; WELLER, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 345 ff. ( = Anhang: Uber die Entstehung der alamannischen Gaugrafschaftsbezirke); K N A P P , Die älteste Buchhorner Urkunde. Studien zur Geschichte des Bodenseegebietes. I n : WürttVjh. N F 19 (1910), S. 191 ff. 8 „In Alamannien konnte man nicht wie sonst i m Frankenreich alte Völkerschaftsgaue oder die römischen civitates zu Grafschaftsbezirken machen, da keine derartigen Gebiete aus der früheren Zeit sich erhalten hatten. So faßte man eine Anzahl von Hundertschaften zusammen, die den Amtssprengel des Grafen bildeten. Es fehlt jedes Anzeichen, daß vor dem achten Jahrhundert solche Sprengel einen unveränderten, ein für alle M a l festgesetzten Umfang gehabt hätten; die Abgrenzung der räumlichen Kompetenz eines Grafen war rein persönlich, für jeden besonderen Fall wieder eine besondere. Es darf als festgestellt gelten, daß der Stammesherzog den Grafen ernannte, wohl meist aus den Angehörigen seiner Familie oder aus seinen Vertrauten; eine dauernde, feste Abgrenzung der einzelnen Grafenbezirke hätte . . . eine Minderung seines Einflusses und seiner Rechte bedeutet." WELLER, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 346 f. 4 B A U E R , Gau und Grafschaft, besonders S. 21 ff. (zur Hundertschaft) und S. 78 ff. (zur Grafschaft). 1

2

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bestehen blieben und nur formal der herzoglichen Gewalt unterworfen wurden. Den Amtsherzögen sei es keineswegs gelungen, „die in ihren angestammten Herrschaftsgebieten regierenden Teilfürsten" wirklich von sich abhängig zu machen5. I n den Baaren und Huntaren sieht er die Herrschaftsgebiete des alamannischen Adels, Relikte der altalamannischen Fürstentümer®. Da sich Baaren und Huntaren aber an einigen Stellen überschneiden, nimmt er an, daß der Baarenfürst eine Art Oberhoheit über die Herren der Huntaren ausgeübt habe7. Wesentlich ist die Vermutung, daß die alamannischen Zentenen keine uralte germanische Einrichtung seien, sondern eine vom fränkischen Königtum eingeführte Institution 8 . Er trennt sie scharf von den Huntaren, die er als Siedlungsgebiete von alamannischen Gefolgschaftshaufen der Landnahmezeit betrachtet. Dem Auftreten von Grafen in vorkarolingischer Zeit will er keinerlei Bedeutung zubilligen. Die Verwendung des Comes-Titels sei nur ein „Stilrequisit" der königlichen Kanzlei gewesen, durch das die alamannischen Fürsten rein formal in die fränkische Ämterhierarchie eingegliedert werden sollten. Sie seien nur in der Titulatur, nicht aber in der Sache Grafen gewesen9. Erst in der Karolingerzeit habe sich das geändert. B A U E R rechnet, und das ist das Charakteristische an seiner Auffassung, mit der Kontinuität von Adelsherrschaften als territorialen Herrschaftsbereichen von der Landnahmezeit bis zur Einführung der Grafschaftsverfassung durch die Karolinger. Diese neuartigen Vorstellungen, in denen bereits manche Gedanken der moderneren verfassungsgeschichtlichen Forschung vorgebildet waren, sind beim Erscheinen des Buches auf scharfe Ablehnung gestoßen. Nicht nur die schwäbischen Landeshistoriker unter Führung von K A R L W E L L E R waren sich darin einig, sondern auch Autoritäten vom Range eines C L A U D I U S V O N S C H W E R I N oder eines U L R I C H S T U T Z haben 10 B A U E R S Folgerungen abgelehnt . Tatsächlich weist seine Argumentation manche Widersprüche auf, und einige von seinen Grundpositionen werden sich kaum halten lassen. Hinter der berechtigten Kritik an B A U E R S überspitzten Formulierungen sind aber auch seine kritische Widerlegung älterer Lehren und seine durchaus weiterführenden Hypothesen in den Hintergrund gedrängt worden. Gau und Grafschaft, S. 7 4 . Gau und Grafschaft, S. 52 f. Gau und Grafschaft, S. 69. 8 Gau und Grafschaft, S. 23 ff., 48 f. 9 Gau und Grafschaft, S . 8 4 f. » WELLER in: WürttVjh. N F 34 (1928), S. 218 f.; S T U T Z in: ZSRG GA 48 (1928), S. 462—66; S C H W E R I N in: ZGOberrhein N F 43 (1930), S. 352—54; wesentlich ist auch der Aufsatz von BEYERLE, Zum Problem der alamannischen Baaren, S. 306 ff., in dem die Ergebnisse von B A U E R ebenfalls weitgehend abgelehnt werden. 6

Β 7

5*

BAUER, BAUER, BAUER, BAUER, BAUER,

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2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

I n der neueren Forschung sind B A U E R S Gedanken dann vor allem von D A N N E N B A U E R aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Er nimmt an, daß Alamannien bis zur Errichtung des fränkischen Amtsherzogtums in eine Reihe von Kleinkönigreichen zersplittert war. Auch durch die Einsetzung des Herzogs seien diese Gaukönige nur „sozusagen mediatisiert" worden, hätten aber innerhalb ihrer Herrschaftsbereiche wenig von ihrer eigenständigen Macht eingebüßt. Auch in der Frage nach der frühen alamannischen Grafschaft hat sich D A N N E N B A U E R offensichtlich an B A U E R orientiert, wenn er schreibt, daß die alamannischen Fürsten „von der fränkischen Verwaltung durch den Grafentitel als Herren ihrer Landschaft anerkannt wurden" 11 . Dagegen ist T H E O D O R M A Y E R , von dem die letzte größere Zusammenfassung über die frühe alamannische Geschichte und ihre Probleme stammt und der sich sonst weitgehend die Theorien von D A N N E N B A U E R Z U eigen gemacht hat, in der Frage nach der Verfassung der vorkarolingischen Zeit sehr vorsichtig 12. Er rechnet mit einer Gliederung des Stammesgebietes in Gaue, die aber nach seiner Ansicht in erster Linie Siedlungslandschaften waren. Seine Vermutimg, daß in den Gauen „einzelne Adelsherren die Hoheitsrechte ausgeübt" hätten, ist so vage, daß man mit ihr wenig anfangen kann. Vor allem bleibt offen, ob diese „Adelsherren" ihre „Hoheitsrechte" im Auftrage des Herzogs oder im Sinne D A N N E N B A U E R S kraft einer ererbten fürstlichen Stellung wahrgenommen haben. T H E O D O R M A Y E R nimmt ferner an, daß die Grafschaftsverfassung erst in der Karolingerzeit allmählich eingeführt wurde, obgleich er selbst auf das Vorkommen von alamannischen Grafen vor dem Jahre 744 hinweist 18 . Er gibt dazu keinen Kommentar, und so muß es dahingestellt bleiben, ob er sie mit B A U E R und D A N N E N B A U E R als bloße Titulargrafen betrachtet. In der älteren Forschung herrschten keine Zweifel darüber, daß das merowingische Königtum nach der Einbeziehung des alamannischen Stammesgebietes ins Fränkische Reich auch Institutionen der fränkischen Verfassung eingeführt hat 14 . Man konnte sich dabei auf das Zeugnis des Agathias berufen, demzufolge die Franken den Alamannen ihr angestammtes Recht belassen haben und nur das „Staatsrecht", also die Verfassung im engeren Sinne, fränkisch wurde 15 . Gegenübergestellt werden ν ό μ ι μ α π ά τ ρ ι α und Φ ρ α γ γ ι κ ή π ο λ ι τ ε ί α . Die Nachricht ist durchaus glaubwürdig, denn es handelt sich dabei um ein VerfahAdel, Burg und Herrschaft, S. 159 f. Grundlagen und Grundfragen, S. 28. 13 Grundlagen und Grundfragen, S. 29 f. 1 4 S O H M , Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, S. 160; SCHUBBRT, Unterwerfung, S. 108; W Y S S , Verfassung der Stadt Zürich, S. 3431; WELLER, Besiedlung des Alamannenlandes, S. 346; S C H M I D T , Westgermanen I I , S . 66. 11

DANNENBAUER,

1 2

MAYER, MAYER,

15 A g a t h i a s , H i s t . I , 7 : νόμιμα δέ αύτοΐς etot, μέν που καί πάτρια, το δέ γε èv κοινψ έπικρατοόν τε καί δρχον Φραγγική έπονται πολιτεί^.

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ren, das vom fränkischen Königtum auch sonst praktiziert wurde. Zu den neu eingeführten fränkischen Verfassungseinrichtungen gehörte mit Sicherheit der Dukat, das Amtsherzogtum. Es muß aber geprüft werden, ob auch Grafschaft und Zentene bereits im Laufe der merowingischen Zeit in Alamannien Eingang gefunden haben, wie es die ältere Forschung annahm. Die Hauptquelle für die alamannische Verfassung der vorkarolingischen Zeit bleibt zweifellos die Lex Alamannorum1®. Die Unsicherheit, die in der Frage nach Alter und Ursprung des alamannischen Volksrechtes noch immer besteht, beeinträchtigt freilich die Verwendung ihrer Angaben für die Verfassungsgeschichte. Aber selbst wenn man von der Annahme eines merowingischen Königsgesetzes als Grundlage absieht17, muß die Fixierung der Lex noch in die Zeit des alamannischen Herzogtumes zurückgehen (Lex Alamannorum Lantfridana) 18 . Entschieden älter ist der Pactus Alamannorum, der wahrscheinlich unter Chlothar II. zwischen 613 und 623 auf einer merowingischen Reichsversammlung fixiert worden ist (Recensio Chlothariana) 19. Er ist jedoch im Grunde ein reiner Bußtaxenkatalog, der für die Verfassungsgeschichte im engeren Sinne nur wenig ergibt. In der Lex Alamannorum werden neben dem dux auch comes, centenarius und centena mehrfach erwähnt. Die Einführung der Institutionen des Grafen und des Zentenars kann also nicht erst in karolingischer Zeit erfolgt sein, sondern muß noch in die Zeit des alamannischen Herzogtums zurückreichen. Unsicher bleibt allerdings der Zeitpunkt der Durchsetzung dieser fränkischen Verfassungseinrichtungen. Zwei Lösungsmöglichkeiten bieten sich an. Agathias berichtet von der Einführung der Φ ρ α γ γ ι κ ή π ο λ ι τ ε ί α , der fränkischen Staatsverfassung, bei den Alamannen. Ohne Zweifel gehörte aber gerade die Grafschaft zu den wesentlichsten Institutionen der fränkischen Reichsverwaltung. Es ist daher durchaus denkbar, die Angabe des Agathias nicht nur auf die Einsetzung fränkischer Amtsherzöge zu beziehen, sondern auch auf die Schaffung von Grafschaften und 18

Die ältere Forschung, etwa S T Ä L I N , Wirt. Gesch. I, S . 198 ff., legte selbstverständlich stets das Volksrecht zugrunde. I n jüngerer Zeit steht man seinen Angaben skeptischer gegenüber. 17 Die Theorie würde besonders von H E I N R I C H B R U N N E R vertreten. Zur Literatur und zum Stand der Diskussion vgl. R U D O L F B U C H N E R in: WattenbachLevison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Beiheft: Die Rechtsquellen, S. 29 ff. 18 Vgl. besonders die Einführung von K A R L A U G U S T E C K H A R D T Z U seiner Ausgabe der Leges Alamannorum, S. 43 ff., besonders S. 78 ff. 19 Leges Alamannorum, hrsg. von Karl August Eckhardt, I. Einführung und Recensio Chlothariana (Pactus), 1958 (Germanenrechte Neue Folge, Westgermanisches Recht 5). E C K H A R D T setzt die Entstehung des Pactus in die Zeit Chlothars I I . etwa auf 613/23.

2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaf tsverfassung Zentenen. Diese Interpretation läßt sich allerdings nicht durch weitere Zeugnisse erhärten, was freilich angesichts der Quellenlage für das 6. und 7. Jahrhundert nicht gerade verwunderlich ist. Eine weitere Periode, in der Umgestaltungen der alamannischen Verfassung möglich gewesen wären, sind die ersten Jahrzehnte des 8. Jahrhunderts. Die Karolinger haben damals versucht, ihre Herrschaft über die alamannischen Herzöge zur Geltung zu bringen. Sie haben dabei militärische Erfolge errungen und könnten auch in die inneren Verhältnisse eingegriffen haben. Die Aufzeichnung der Lex Alamannorum unter Herzog Lantfrid könnte dann als Folge des fränkischen Eingreifens gewertet werden. Der Annahme einer Einführung der Grafschaftsverfassung zu diesem Zeitpunkt steht allerdings die Tatsache entgegen, daß es in der Lex heißt, das Gericht solle nach alter Gewohnheit ( secundum consuetudinem antiquam) stattfinden. Dabei werden Zentenar und Graf genannt20. Man wird diese Aussage, die in eine ältere Zeit zurückweist, nicht ohne weiteres beiseiteschieben dürfen. Man wird daher daran festhalten müssen, daß Grafen und Zentenare in Alamannien bereits in der Merowingerzeit vorhanden waren. Die Angaben der Lex Alamannorum ermöglichen zwar einige Einblicke in die Gerichtsverfassung, lassen jedoch noch manche Fragen offen. Der verhältnismäßig lange und ausführliche Paragraph 36 gehört in seinen Formulierungen nicht zu den ältesten Bestandteilen des Volksrechtes. Kirchlichen Geist atmen die Begründungen ... ut sine ira Dei sit defensa patria und . . . dux ... plus quaerat Deo piacere quam homini , ut nullum neglectum in animam ducts Deus non requi ratur 21. Die Bestimmungen über das Verfahren selbst sind zweifellos älter, wie dies durch den Hinweis auf die consuetudo antiqua deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Die Gerichtsversammlung soll in den einzelnen Zentenen vor dem Grafen oder seinem Missus und dem Zentenar stattfinden: Ut conventus secundum consuetudinem antiquam fiat in omni centena coram comité aut suo misso et coram centenario. Ipse placitus fiat de sabato in sabato aut quale die comis aut centenarius voluerit; de VII in VII noctis, quando pax parva est in provincia; quando autem melior, post XIV noctis fiat conventus in omni centena 22. Die kurzen Fristen zwischen den einzelnen Gerichtstagen weisen auf sehr altertümliche Zustände. Es muß offen bleiben, wie man sich das Verhältnis von Graf und Zentenar bei der Abhaltung des Gerichts vorzustellen hat 23 . Wahrscheinlich hatten der Graf oder 20

Lex Alam. 36, 1. 5. Lex Alam. 36, 4.5. Lex Alam. 36, 1. 23 Grundlegend H E I N R I C H G L I T S C H , Der alamannische Zentenar und sein Gericht, 1917 (Berichte über die Verhandl. de* Kgl. Sächs. Gesell, der Wiss. zu Leipzig, Philolog.-hist. Kl. 69, 2). Vgl. ferner HANSJÖRG K R U G , Untersuchungen zum Amt des „centenarius"-Schultheiß I. In: ZSRG GA 87 (1970), S. 18 f. 21

22

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1

sein Stellvertreter normalerweise den Gerichtsvorsitz inne, doch konnte auch der Zentenar Gerichtsvorsitzender sein, wie der Paragraph 36, 3 erkennen läßt: wadium suum donet ad ipsum comité vel ad ilio centenario qui praeest. Vielleicht besaß der Zentenar sachlich eine andere Kompetenz als der Graf. Mit einem besonderen Richter (iudex) neben dem Grafen und dem Zentenar wird man in Alamannien anders als in Bayern nicht rechnen dürfen 24 . Unter iudex ist in der Lex Alamannorum allgemein der Richter zu verstehen, der Graf, der Zentenar oder auch der grundherrliche Richter, dessen Stellung im Zusammenhang mit der Frage der Immunität zu erörtern sein wird. Gegen die Tätigkeit grundherrlicher Richter ist wahrscheinlich Paragraph 41,1 gerichtet, aus dem sich auch der Schluß ziehen läßt, daß dem Herzog mit Zustimmung des Volkes die Einsetzung von Graf und Zentenar zustand25. Gerichtspflichtig waren alle Freien, einschließlich der herzoglichen und gräflichen Vasallen: Si quis autem liber ad ipsum placitum neglexerit venire vel semet ipsum non praesentaverit aut comité aut centenario aut ad ipsum missum corniti in placito, XII solidos sit culpabilis. Qualiscumque persona sit, aut vassus duce aut comité aut qualiscumque persona, nemo neglegat ad ipsum placitum venire ut in ipso placito pauperi conclamant causas suas29. Falls eine Person so mächtig ist, daß die Richter, der Graf, der Missus des Grafen oder der Zentenar, sie nicht zum Erscheinen vor Gericht zwingen können, soll der Herzog eingreifen 27. Es geht bei diesen Bestimmungen um Fälle von Rechtsverweigerung. Dingpflichtig waren alle Freien, von den pauperes bis zu den herzoglichen und gräflichen Vasallen. Irgendwelche Ausnahmen gestattete das Gesetz nicht. Unterster Gerichtsbezirk war die Zentene, soviel ergibt der Text der Lex Alamannorum mit wünschenswerter Deutlichkeit. Der Amtsbereich des Grafen könnte mehrere Zentenen umfaßt haben. Mit Sicherheit ist das den Quellen freilich nicht zu entnehmen. Neben dem Gericht der Zentene gab es noch das herzogliche Gericht, das vielleicht eine Art Analogiebildung zum merowingischen Königsgericht gewesen ist. Seine Kompetenz war offenbar nicht auf bestimmte Fälle eingeschränkt; todeswürdige Verbrechen, aber auch kleinere Vergehen konnten vor den Herzog gebracht werden 28 . I n der Lex Alamannorum werden zwar Grafen, nicht aber Grafschaften erwähnt. Das Verhältnis der gräflichen Amtsbereiche zu den Gauen 24

25

Vgl.

GLITSCH,

Zentenar,

S. 19

ff.

Ut causas nullus audire praesumat nisi qui a duce per convencionem populi iudex constitutus sit , ut causas iudicet ... 26

27 28

Lex Alam. 36, 4. Lex Alam. 36, 5. Lex Alam. 42, 1; 44, 1. 2.

2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung muß ebenso offen bleiben wie das zu den Zentenen. Für die Vermutung, daß die Grafen keine Amtsträger, sondern Herren in angestammten Herrschaftsbereichen waren, gibt es freilich keinerlei Anhaltspunkte. Die Bestimmungen der Lex Alamannorum sprechen mit Entschiedenheit dagegen. Die methodisch unabdingbare Forderung, die Angaben der Lex Alamannorum an Hand anderer Quellen zu überprüfen, kann angesichts der spärlichen Überlieferung auch nur zu Teilergebnissen führen. Nur mit Vorsicht sind die Nachrichten der erzählenden Quellen zu benutzen, die auf die Existenz von Grafen in merowingischer Zeit hinweisen. Ratpert berichtet in seinen Casus s. Galli in der Genealogie der Waltramssippe, die noch in einem anderen Zusammenhang zu erörtern sein wird, von einem königlichen Kämmerer Talto, der von Dagobert I. als Graf im Bodenseegebiet eingesetzt worden sei29. Es handelt sich dabei aber um eine so späte Uberlieferung, daß Talto als ernstzunehmender Beleg für einen frühen alamannischen Grafen ausscheidet. Nicht viel besser steht es mit dem praeses Otwin, der in den Gallusviten genannt wird 30 . Praeses ist zwar im Bodenseegebiet eine der Übersetzungen für grave, wie die gerade aus diesem Raum stammenden althochdeutschen Glossen zeigen81, aber es ist nicht bekannt, wo der Amtsbereich des Otwin gelegen hat. Ein Graf wird auch in der bereits erwähnten Urkunde Karl Martells aus dem Jahre 724 für die Abtei Reichenau genannt32. Der Hausmeier teilt darin dem Herzog Lantfrid und dem Grafen Bertoald mit, daß er Pirmin und seine Mönche in seinen Schutz genommen und ihnen die Insel Sindleozzesauua und verschiedene Güter und Einkünfte aus Fiskalbesitz geschenkt habe. Das Schreiben ist in der Art der Merowingerdiplome an den Herzog und den zuständigen Grafen gerichtet, die die Einweisung in die Besitzungen vornehmen sollen33. In dem Grafen Bertoald hat man ein Mitglied der Familie der Bertholde gesehen, und es ist sogar vermutet worden, daß er der Namengeber für die Bertholdsbaar gewesen ist 34 . In der Urkunde Karl Martells wird 29 Ratperti casus S. Galli, M G SS I I , S. 62: Talto vir inlustris, Tagoberti scilicet regis camerarius et postea comes eiusdem pagi ( = A r b o n - oder Thur·^ gau). 80 M G SS I I , S. 18; M G SSrerMerov. I V , S. 277. 31 AhdGloss. I I I 2 f., 134, 182, 306, 414; unte* den verschiedenen Glossierungen (herro, meistar, herizoho, forakesezzit) überwiegen die mit grave bei weitem. 3 2 B R A N D I , Reichenauer Urkundenfälschungen, S. 101 f. 33 Car(o)lus maior domus inlustribus viris Lantfrido duci et Bertoaldo corniti. 34 So schon S T A L I N , Wirt. Gesch. I, S . 242, der Bertoald allerdings noch für den Bruder des Herzogs Nebi hält. Ferner B A U E R , Gau und Grafschaft, S . 75 f. mit Richtigstellung des Verwandtschaftsverhältnisses; H A N S J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 142 f.

I. Die Alamannen der Thurgau erwähnt, in dem die Abgaben von 24 homines dem neuen Kloster übertragen werden. Da liberi homines fast immer in engeren Beziehungen zu den Grafen stehen, liegt die Vermutung nahe, daß Bertoald Graf im pagus Durgaugensis war. Ob sein Machtbereich auf den Thurgau beschränkt war oder ob auch die anderen Güter in seiner Grafschaft lagen, muß dahingestellt bleiben. Ebenso bedarf sein Verhältnis zur Bertholdsbaar noch der Untersuchung. Obgleich die Adresse der Urkunde, in der Herzog und Graf genannt werden, meines Erachtens keinen Anlaß zu Bedenken geben, ist es nicht ohne Risiko, weitreichende Schlüsse aus einem offensichtlichen verfälschten Diplom zu ziehen. Einige sichere Belege für das Vorhandensein von Grafen vor der Zeit der erneuten straffen Eingliederung des alamannischen Stammesgebietes in das fränkische Reich liefert das Archiv des Klosters St. Gallen. Diese Nachrichten wiegen besonders schwer, da nur wenige Urkunden aus der Zeit vor 7 4 4 / 4 6 stammen; die Richtigkeit der von H E R M A N N W A R T M A N N vorgenommenen Datierungen vorausgesetzt, sind es immerhin zehn Diplome. In der Schenkungsurkunde eines Petto über Besitzungen und Manzipien in Glatt, die wahrscheinlich in die Jahre 731 oder 736 gehört, werden unter den Zeugen die drei Brüder des Tradenten genannt, von denen Airich und Berterich den Grafentitel führen 35 . Petto selbst und sein dritter Bruder Pebo werden nicht als comités bezeichnet. Pebo erscheint dann aber im Jahre 741 als Graf in einer Urkunde, in der die Schenkung von Besitzungen im Thurgau beurkundet wird 36 . Sein Name wird in der Datierung nach dem Hausmeier Karlmann genannt: regnante Carlomanno duce et Ρ ebone comité . Im Jahre 744 ist Pebo bei einer weiteren Schenkung an St. Gallen anwesend37. Er wird unter den Zeugen aufgeführt (signum Bebone comitis) und in der sogenannten Sub-comite-Formel genannt: anno III regnante Hiltrihho rege sub Carlomanno maioredomo et Bebone comité . In den wenigen Urkunden, die aus der Zeit bis 744 erhalten sind, werden immerhin viermal Grafen erwähnt. Für die Zeit vor 700 liegt keine urkundliche Überlieferung vor, aber die Angaben der Lex Alamannorum werden wenigstens für die erste Hälfte des achten Jahrhunderts gedeckt. Angesichts der Vorstellungen von B A U E R und D A N N E N B A U E R bedarf die Frage nach der tatsächlichen Stellung dieser frühen alamannischen Grafen einer erneuten Erörterung. Der erste bekannte Graf Bertoald läßt sich mit einiger Sicherheit der später noch reich begüterten Fami85 36 37

UB St. Gallen I 6. U B St. Gallen I 7. U B St. Gallen I 10.

2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaftsverfassung lie der Bertholde oder Alaholfinger zuweisen. Als Graf nimmt er aber eine Stellung ein, die sich von der anderer Grafen des fränkischen Reiches nicht unterscheidet. Er untersteht wohl dem Hausmeier als Vertreter des merowingischen Königtums und nimmt dessen Befehle entgegen. Auch die übrigen alamannischen Grafen werden in der Überlieferung in einer Weise erwähnt, die sich von den Gepflogenheiten der karolingischen Zeit nicht unterscheidet, als Zeugen oder in der Sub-comite-Formel. Nur die Beobachtung, daß mehrere Angehörige einer Familie den Grafentitel führen, könnte als Indiz für eine ererbte fürstliche Stellung gewertet werden. Zunächst werden abér nur Airich und Berterich mit dem Grafentitel ausgezeichnet, nicht ab^r ihre Brüder Petto und Pebo. Da die vier in der gleichen Urkunde erwähnt werden, Pebo in der Zeugenreihe sogar unmittelbar nach den beiden Grafen, liegt der Schluß nahe, daß Petto und Pebo keine Grafenrechte ausübten. Petto wird urkundlich überhaupt nie als comes bezeichnet; nur in einem Eintrag in das Gedenkbuch des Klosters Reichenau treten die Brüder nebeneinander mit dem Grafentitel in Erscheinung. Der Eintrag stammt aber erst aus der Zeit um 830, so daß er kaum als sicheres Zeugnis für eine gräfliche Stellung des Petto verwendet werden darf, selbst wenn man ältere Vorlagen dafür annimmt 88 . Pebo wird 741 und 744 in der Sub-comite-Formel für Schenkungen im Thurgau erwähnt. Wahrscheinlich ist er seinen Brüdern Airich und Berterich in der Grafenwürde gefolgt. Die Nachfolge von Verwandten in der Grafenwürde ist also zu beobachten, aber der Grafentitel war nicht einfach mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie verbunden, wie dies dann bei den Grafensippen des Hochund Spätmittelalters der Fall war. Es handelte sich offenbar um eine im Thurgau begüterte alamannische Familie, wie die Schenkungen des Petto zeigen. Wahrscheinlich gehörte ihr auch jener Petto an, der im Jahre 788 Besitzungen in Glattburg und Zuckenried an St. Gallen tradierte 89 . Gestützt auf den Namen Pebo hat M I C H A E L M I T T E R A U E R die Ansicht geäußert, daß Graf Udalrich, der Bruder der Königin Hildegard, mit einer Dame aus diesem Geschlecht verheiratet war, da ein Sohn und ein Enkel den Namen Pebo führten 40 . Die wenigen Nachrichten zur Geschichte der frühen alamannischen Grafen lassen also erkennen, daß sie Angehörige vornehmer und begüterter Geschlechter waren. Obgleich die Mitglieder einer Familie immer wieder als Grafen in Erscheinung traten, findet sich weder in 8 8 R O L F SPRANDEL, Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingischen Reiches, 1958 (Forschungen zur oberrhein. Landesgesch. 7), S. 16 f. 89 U B St. Gallen I 116. 4 0 M I C H A E L M I T T E R A U E R , Karolingische Markgrafen i m Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerischer Stammesadel im österreichischen Raum. 1963 (Archiv für österr. Gesch. 123), S. 19 f.

I. Die Alamannen der Lex Alamannorum noch in erzählenden oder urkundlichen Quellen ein Anhaltspunkt dafür, daß es sich bei ihnen um Inhaber von Adelsherrschaften gehandelt hat, für die der Grafentitel nur die formale Anerkennung ihrer autogenen Herrschaftsrechte bedeutet hätte. Nach diesen Feststellungen erhebt sich die Frage, ob man für die Karolingerzeit überhaupt von einer „Einführung" der Grafschaftsverfassung in Alamannien sprechen kann oder nur von einer Reorganisation, verbunden mit personellen Veränderungen. In der Literatur wird vorwiegend mit der Einführung der Grafschaftsverfassung in der Zeit Pippins gerechnet. H E I N R I C H B Ü T T N E R , der für das Elsaß die Existenz der Grafschaftsverfassung bereits für das 7. und 8. Jahrhundert voraussetzt, ist der Meinung, daß sie in den übrigen alamannischen Gebieten erst um 740 Eingang gefunden habe41. Er geht allerdings — dem damaligen Stande der Forschung entsprechend — von der Identität von Gau und Grafschaft aus und wertet das Fehlen der Pagus-Angabe in den älteren St. Galler Urkunden als ein Indiz für das Fehlen der Grafschaftsverfassung. Seiner Argumentation wird man in dieser Form kaum zustimmen können. Vor allem aber hat er die Urkunde Karl Martells von 724 für die Abtei Reichenau unberücksichtigt gelassen, in der sowohl ein comes als auch ein pagus erwähnt werden. Für die Einführung der Grafschaftsverfassung erst in karolingischer Zeit haben sich zuletzt T H E O D O R M A Y E R , I R M G A R D D I E N E M A N N - D I E T R I C H und H E L M U T M A U R E R ausgesprochen42. T H E O D O R M A Y E R ist sogar der Auffassung, daß sie nicht in einem Zuge erfolgte, sondern sich über zwei Jahrzehnte hinzog. Zunächst seien Grafschaften nur im linksrheinischen Gebiet und im Breisgau eingerichtet worden, erst in den sechziger Jahren des achten Jahrhunderts dann auch in den alamannischen Gebieten östlich des Rheines. Er stützt sich dabei auf die Beobachtung, daß in den Urkunden bis zum Jahre 763 Grafen nur für den Thurgau und den Breisgau genannt werden 43 . Es erscheint aber fraglich, ob angesichts der noch recht spärlichen Überlieferung so weitreichende Schlüsse erlaubt sind. Die St. Galler Urkunden konzentrieren sich zunächst stark auf den Thurgau, obgleich auch Schenkungen aus anderen Gebieten nicht fehlen. Außerdem mußte der Graf in den Traditionsurkunden nicht grundsätzlich in Erscheinung treten, so daß des Elsaß I , S . 1 1 8 f. und Grundfragen, S 29 ff.; D I E N E M A N N - D I B T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 163 ff.; M A U R E R , Das Land zwischen Schwarzwald und Randen im frühen und hohen Mittelalter, 1965 (Forschungen zur oberrheinische!! Landesgesch. 16), S. 40. 4 3 M A Y E R , Grundlagen und Grundfragen, S. 3 0 f. Dabei entfällt nur ein Beleg auf den Breisgau (758 Chancor, U B St. Gallen I 27), die übrigen zwölf Erwähnungen von Grafen (Berterich, Airich, Pebo, Chancor und Warin) gehören in den Thurgau (UB St. Gallen I 6 , 7 , 1 0 , 1 1 , 1 2 , 1 8 , 2 4 , 2 8 , 3 1 , 3 4 , 3 5 , 3 7 ) . 4 1

4 2

B Ü T T N E R , Geschichte M A Y E R , Grundlagen

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftsverfassung

das Fehlen der Sub-comite-Formel kein Beweis gegen die Existenz einer Grafschaft in dem betreffenden Gebiet ist. Auch bei Traditionen in Thurgau und Breisgau fehlt bisweilen die Nennung des Grafen 44 . Mit der zunehmenden Überlieferungsdichte und dem häufigeren Gebrauch der Sub-comite-Formel mehren sich auch die Grafenbelege. Nimmt man nicht 763, sondern 770 als Stichjahr, so finden sich jetzt Grafen im Thurgau, Breisgau, Nibelgau, Linzgau, Argengau und im Gebiet der Baaren 45 . Die anderen Räume folgen am Ende des 8. und zu Beginn des 9. Jahrhunderts. Wie gefährlich es wäre, die Zufälligkeiten der Quellenlage für eine zeitliche Schichtung zu verwenden, kann an einem Beispiel erläutert werden. In den benachbarten Gauen Alpgau und Klettgau, die zwar durch die Wutach geschieden werden, aber eigentlich eine einzige natürliche Landschaft bilden, werden die ersten Grafen zu ganz verschiedenen Zeiten erwähnt 48 . Während im Alpgau mit Udalrich der erste Graf bereits 780 in Erscheinung tritt 47 , dauerte es im Klettgau noch bis zum Jahre 827, bis Lantfried als erster gräflicher Amtsträger genannt wird 48 . Es ist aber kaum vorstellbar, daß die Graf schaftsverf assung in den beiden Gauen in einem Abstand von fast 50 Jahren eingeführt worden ist. Es ist vielmehr zu vermuten, daß die Integration Alamanniens nach der Ausschaltung des Herzogs vor allem mit Hilfe der Grafen vorgenommen wurde. Wahrscheinlich sind zunächst einige fränkische Große ins Land gekommen, die eine Reorganisation der Grafschaften vornahmen. Schon C H R I S T O P H F R I E D R I C H S T A L I N hat in den Grafen Warin und Ruthard eine Art „Statthalter" Pippins in Alamannien gesehen49, und in der Forschung ist bis heute an dieser Ansicht festgehalten worden. Vielleicht hat vor ihnen noch Graf Chancor eine ähnliche Position eingenommen. I R M G A R D D I E N E M A N N - D I E T R I C H hält ihn für denjenigen, der die Einführung der Grafschaftsverfassung in Alamannien geleitet hat 50 . Chancor war 745 Graf im Thurgau und 758 im Breisgau 51. Da er ein Mitglied der bedeutenden fränkischen Familie der Rupertiner war 52 , 44 U B St. Gallen I 15 (Augstgau/Breisgau), 19 (Breisgau), 20 (Thurgau), 26 (Thurgau). 45 Thurgau und Breisgau siehe Anm. 43; Linzgau 764 UB St. Gallen I 41 ; Nibelgau 766 U B St. Gallen I 49; Argengau 769 U B St. Gallen I 52; Gebiet der Baar: Adalhard 763 U B St. Gallen I 41, Pirchtilo 770 U B St. Gallen I 55. 4 6 M A U R E R , Land zwischen Schwarzwald und Randen, S. 42 ff. mit Erläuterungen zu den einzelnen Grafen. 47 U B St. Gallen I I I Nachtrag 1. 48 U B St. Gallen I 310. 4 9 S T A L I N , Wirt. Gesch. I, S . 241 f. 5 0 D I E N E M A N N - D I E T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 163. 51 UB St. Gallen I I I , 23. I m Thurgau hatte ihn bereits 754 Warin abgelöst (UB St. Gallen I 18). 6 2 D I E N E M A N N - D I E T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 163 ff. mit älterer Literatur; ferner M I C H A E L G O C K E L , Karolingische Königshöfe am Mittelrhein, S. 233, Anm. 109, sowie S. 298 ff. mit weiteren Literaturangaben.

I. Die Alamannen ist es sehr wahrscheinlich, daß er als Vertrauensmann Pippins eine wichtige Rolle bei der Integration Alamanniens gespielt hat. Wie Chancor übten auch Warin und Ruthard in einigen Gauen Grafenrechte aus53. Falls die Theorie von der „Statthalterschaft", die durch eine Nachricht in Walafrieds Vita s. Galli gestützt wird 54 , überhaupt haltbar ist, müßten die genannten Grafen neben der Verwaltung einzelner Komitate eine Art Oberherrschaft über das gesamte alamannische Gebiet ausgeübt haben. Nicht nur Chancor, sondern auch Warin und Ruthard 55 gehörten fränkischen Geschlechtern an. Wie weit die alamannischen Grafen generell durch Franken ersetzt worden sind, läßt sich bei der schwachen Überlieferung nicht mit Sicherheit feststellen. Erst nach einigen Jahrzehnten befinden sich unter den Grafen unzweifelhaft Angehörige einheimischer Familien. 3. Die alamannischen Grafschaften der karolingischen Zeit I m ehemaligen alamannischen Siedlungsgebiet sind die Namen einiger früh- und hochmittelalterlicher Gaue als Landschaftszeichnungen bis zur Gegenwart lebendig geblieben. Der Name Breisgau haftet wenigstens seit fünfzehnhundert Jahren an dem Raum zwischen Schwarzwald und Oberrhein, Thurgau und Hegau sind geläufige Begriffe, und auch die Baar ist ein noch aus dem Frühmittelalter stammender Landschaftsname. So ist es kein Wunder, daß der Gau als historische Erscheinung seit langem in der schwäbischen Geschichtsforschung eine hervorragende Rolle spielt. Zwar sind die Zeiten eines J U L I U S C R A M E R , der die Geschichte des schwäbischen Stammes als „Gaugeschichte" zu schreiben suchte, wohl endgültig vorbei, aber noch immer bietet sich der Gau bei landesgeschichtlichen Untersuchungen als die geeignete räumliche Grundlage an1. 58

54

Warin im Thurgau und Linzgau, Ruthard im Argengau.

MG SSrerMerov. IV, S. 322: Comités vero quidam , Warinus et Ruadhar dus , qui totius tunc Alemanniae cur am administrabant , cum infra ditionis suae terminos ecclesiasticarum non minimam partem rerum suae proprie tatis dominio per potentiam subicere niterentur, maximam de eiusdem monasterii possessionibus partem sibimet vindicarunt.

55 Über Warin S T A L I N , Wirt. Gesch. I, S. 2 4 1 f. ; A N T O N D O L L , Das Pirminskloster Hornbach. In: Archiv für mittelrhein. K G 5 ( 1 9 3 5 ) , S. 1 1 7 ff.; D I B N E M A N N - D I B T R I C H , Der fränkische Adel in Alemannien, S. 1 7 0 ff.; FLECKBNSTEIN, Weifen, S. 9 7 ff.; D E C K E R - H A U F F , Die Ottonen und Schwaben, S. 3 2 5 ff.; JÄNICHEN', Warin, Rudhart und Scrot, S. 3 7 2 ff. Zu Ruthard vor allem D I E N E M A N N - D I E T RICH, Der fränkische Adel in Alemannien, S. 1 5 8 ff.; ferner B Ü T T N E R , Geschichte des Elsaß I, S . 1 1 9 ; SPRANDEL, St. Gallen, S. 2 4 ff., 3 1 ; FLECKENSTBIN, Weifen, S. 1 1 4 f.; J Ä N I C H E N , Warin, Ruthart und Scrot, S. 3 7 2 ff. 1 Beispiele A. FUNK, Zur Geschichte der Frühbesiedlung des Hegaus durch die Alamannen. In: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte, Festschrift Theodor Mayer, 1955, Band I I , S. 23—51; H. JÄNICHEN,· Der Neckargau und die

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2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

Trotz intensiver Forschung sind die Fragen nach Herkunft und Wesen des Gaues auch in Schwaben keineswegs gelöst. Das gilt nicht zuletzt für die Frage nach dem Verhältnis von Gau und Grafschaft, die gerade in Schwaben seit langem diskutiert wird. F R A N Z L U D W I G B A U M A N N war zwar nicht der Erfinder des Begriffs der „Gaugrafschaft", wohl aber einer der entschiedensten und bekanntesten Verfechter der Theorie von der Übereinstimmung von Gau und Grafschaft 2. Ihm ist die schwäbische Forschung weitgehend gefolgt, wenn auch nicht ohne Einschränkungen, bis schließlich A L B E R T B A U E R seine radikale Kritik an dieser Auffassung vortrug 3 . Über dieser teilweise sehr berechtigten Kritik sollten freilich die großen Verdienste von B A U M A N N um die Erforschung der alamannischen Gaue nicht ganz vergessen werden. Auf seine Karten und seine topographischen Angaben ist man noch immer vielfach angewiesen. Einige neuere Arbeiten haben weitere Aufschlüsse gebracht, aber noch ist keine klare einheitliche Linie zu erkennen. Auch im Rahmen einer zusammenfassenden Arbeit wird es nicht möglich sein, das Verhältnis von Gau und Grafschaft für den gesamten alamannischen Raum gleichmäßig mit der erforderlichen Intensität zu bearbeiten. Diese Aufgabe muß weiteren regionalen Untersuchungen vorbehalten bleiben, die etwa so aussehen müßten wie die landesgeschichtliche Monographie von M A U R E R über das Gebiet des Alpgaus und Klettgaus oder die Arbeiten von S P R A N D E L über St. Gallen und J Ä N I C H E N über Baaren und Huntaren 4 . Es soll daher auch hier versucht werden, zunächst durch einige Einzeluntersuchungen die Grundlage für ein weiteres vergleichendes Vorgehen zu schaffen. Die Notwendigkeit exemplarischen Arbeitens ist nicht zuletzt auch durch die Quellenlage bedingt, die nur für den Raum um den Bodensee wirklich ausreichendes Material bietet. Nicht nur die Menge der erhaltenen Urkunden mit ihren häufigen Gauangaben, sondern auch eine Besonderheit im Formular der Diplome ermöglicht wertvolle Aufschlüsse über Gau und Grafschaft. I n zahlreichen Urkunden wird im Eschatokoll im Anschluß an die Datierung in der Formel „sub Pleonungen. In: ZWürttLG 1 7 ( 1 9 5 8 ) , S. 2 1 9 — 2 4 0 ; P. K L Ä U I , Hochmittelalterliche Adelsherrschaften im Zürichgau, 1960. Offenbar bewußt vermieden wurde die Nennung von Gauen in den Arbeiten von H. M A U R E R , Das Land zwischen Schwarzwald und Randen im frühen und hohen Mittelalter, 1965, und H. SCHWARZMAIER, Königtum, Adel und Klöster im Gebiet zwischen oberer Iiier und Lech, 1961. 2 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 1 ff.; DERS., Gau und Grafschaft in Schwaben. In: B A U M A N N , Forschungen zur Schwäbischen Geschichte, 1 8 9 9 , S. 4 3 0 — 4 6 0 . 3 B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 8 8 ff. 4 M A U R E R , Das Land zwischen Schwarzwald und Randen; R O L F SPRANDEL, Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingischen Reiches, 1958; H A N S J Ä N I C H E N , Baar und Huntari. In: Grundfragen der alemannischen Geschichte, 1 9 5 5 , S. 8 3 — 1 4 8 .

I. Die Alamannen comité NN" der Name eines Grafen genannt. R O L F S P R A N D E L hat gezeigt, daß sich diese sogenannte Sub-comite-Formel um die Mitte des 8. Jahrhunderts aus der Nennung der Königsjahre und der Anführung der karolingischen Hausmeier entwickelt hat 5 . Er bringt die Entstehung der Formel mit der besonderen Situation des Klosters St. Gallen in Zusammenhang, das zunächst ein Zentrum der alamannischen Opposition gegen die Franken gewesen sei und gerade deshalb durch die Nennung eines Grafen seinen Rechtsgeschäften eine zusätzliche Sicherung zu geben suchte. Diese Hypothese hat einiges für sich, doch ist és S P R A N D E L offenbar entgangen, daß sich die Sub-comite-Formel auch in anderen alamannischen Urkunden findet. Er weist nur auf eine Reichenauer Formel hin, die immerhin die Möglichkeit einer Verwendung der Sub-comite-Formel auch in diesem Kloster nahelegt®. Vor allem aber kommt sie in den Diplomen des Klosters Rheinau und in zahlreichen Züricher Urkunden vor 7 . Geographisch ist diese Eigentümlichkeit auf den Umkreis des Bodensees beschränkt, denn das Auftreten der Formel in einer Fuldaer Urkunde ist völlig singulär 8. Die Sub-comite-Formel erscheint nicht nur in Urkunden über Rechtsgeschäfte, die vor dem Grafengericht abgeschlossen wurden, sondern konnte bei Liegenschaftsübertragungen stets verwendet werden. Allerdings kommt sie ausschließlich in Privaturkunden vor, sie fehlt grundsätzlich in den Königsurkunden 9. Auch da, wo es sich nicht um freies Eigen handelt, etwa bei der prekarischen Leihe durch einen geistlichen Herrn, wurde der Graf im allgemeinen nicht genannt. Eine Analogiebildung war wohl die Formel „sub Eginone episcopo", die 793 in einer St. Galler Urkunde verwendet wird 1 0 . St. Gallen, S. 102 ff. Über die Sub-comite-Formel allgemein und Grafschaft in Schwaben, S. 437 ff. und O. B A U M H A U E R , Das Monasterium Seti. Petri im Marchtal und die Familien im Raum der Ostbaar, Phil. Diss. Freiburg im Breisgau 1959 (Mschr.), S. 52 ff. B A U M H A U E R bietet eine Zusammenstellung der Belege bis 820 (S. 129—141). 6 Formulae Augienses, Collectio B, M G FF, S. 347 f. nr. 1: Vollständiges Formular einer Traditionsurkunde, nach Datum und Herrscherjahr sub comité ill . — Bei den folgenden Stücken ist i m allgemeinen keine Datumszeile vorhanden; in nr. 21 fehlt die Sub-comite-Formel in der Datierung. Ein Libellum dotis (nr. 25) bringt nach dem Datum die Formulierimg coram 6 SPRANDEL, B A U M A N N , Gau

comité ill et frequentia 7

populi.

Rheingau 870 und 875/76 U B Zürich I 115, 126; ferner U B Zürich I, 130, 153, 159, 188, 191, 197, 206, 208, 212, 233. 8 D R O N K E , Codex dipl. Fuld. S. 139 f. nr. 279 (813): sub Liutfrido corniti . Liutfrid, der die Urkunde auch signierte, war Graf im Wormsgau. Die i m Kloster Fischbach (wahrscheinlich nordwestlich Frankfurt) ausgestellte Urkunde stammt aus dem Wormsgaukartular und betrifft die Schenkung einer Imma. 9 Diese Beobachtung, die SPRANDEL am St. Galler Material gemacht hatte (SPRANDEL, St. Gallen, S. 107), wird durch die Rheinauer und Züricher Diplome voll bestätigt. 10 U B St. Gallen I 135.

2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

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Zeitlich läßt sich die Sub-comite-Formel in St. Gallen bis zum Ende des 10. Jahrhunderts nachweisen, dann brechen dort die Privatschenkungen zunächst ab- I n Zürich kommt sie häufiger in der zweiten Hälfte des 9. und der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts vor* Privaturkunden fehlen zunächst von 968—1036/37, dann erscheint die Formel wieder 104411. I m 12. Jahrhundert wird gelegentlich die Anwesenheit des Grafen bei einem Rechtsgeschäft in Wendungen ausgedrückt, die noch etwas an die Sub-comite-Formel erinnern 12 . Besonders in den Züricher Stücken setzte sich die Tendenz zur Erweiterung der Formel durch die Einbeziehung weiterer Amtsträger durch. Gelegentlich wurde der Vogt einbezogen13, und im 10. Jahrhundert trat der Herzog mehrfach neben den Grafen. Vereinzelt wurde die Formel sub comité N N sogar durch die Formel sub duce N N ersetzt 14. In den St. Galler Traditionsurkunden erscheint einige Male neben dem Grafen der Zentenar 15 . Die ältere Forschung ist fast selbstverständlich davon ausgegangen, daß in den Urkunden der jeweils für den Bereich des Rechtsgeschäftes zuständige Graf genannt worden ist. Wenn dem so wäre, dann würde die Sub-comite-Formel in beinahe einzigartiger Weise die Feststellung der Amtsbereiche der einzelnen Grafen ermöglichen. Es fällt auf, daß die Formel auch dann verwendet wird, wenn der Graf dem Rechtsgeschäft offensichtlich nicht beigewohnt hat. Andererseits führt die bloße Anwesenheit eines Grafen nicht ohne weiteres zur Nennung seines Namens in der Sub-comite-Formel 16. 802 tradierten ein Graf Berthold und seine Mutter Raginsinda Besitzungen in Asselfingen und Mundelfingen. I n der Formel wird Graf Rothar genannt, der sich von 770—817 als Graf dieses Raumes nachweisen läßt 17 . Anders verhält es sich bei einer Schenkung des Grafen Gerold, der die Urkunde selbst mit signierte (signum Geroldo comité auctore, qui harte traditionem fieri rogavit) und dessen Name auch in die Sub-comite-Formel

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UB Zürich I 233. UB Zürich I 285 (1142) sub comité Werinhero ipso presidente et sigillo anuli sui confirmante . 18 UB Zürich I 153 (889) sub dominatione Eberharti comitis et advocati sui Adalberti. 14 UB Zürich I 191 (925) sub duce Burchardo et comité Liutone , ähnlich 197, 208, 212; die Sub-duce-Formel allein tritt in U B Zürich I 194, 199, 200 und 207 auf. Erweiterung auf dux und advocatus U B Zürich I 206 (963) sub duce Purchardo et sub comité Purchardo et sub advocato Utone. 15 U B St. Gallen I I 406 (848) sub Pabone comité et sub Hunoldo centenario ; ähnlich U B St. Gallen I I 566, 581, 603, 641, 657, 658. 16 Dieser Ansicht ist SPRANDEL, St. Gallen, S. 108, der betont, daß die A n wesenheit eines Grafen „oft den Ausschlag dafür gegeben hat, daß er und kein anderer in der Formel genannt wurde". 17 U B St. Gallen I 170; Belege für die Amtstätigkeit des Grafen Ruodhar J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 86. 12

I. Die Alamannen

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eingefügt w u r d e 1 8 . Das Gebiet gehörte zu seinem Amtsbereich 1 9 , i n einer U r k u n d e über eine i n W i n t e r t h u r von dem Grafen (coram comité) vorgenommene Schenkung von G ü t e r n i n Elgg i m Zürichgau werden unter den Zeugen die Grafen Gerold u n d W a l d p r e t aufgeführt. I n der Datumszeile erscheint dann n u r Gerold, der tatsächlich damals G r a f i m Zürichgau w a r 2 0 . E i n ähnliches B i l d zeigt eine U r k u n d e von 886, ebenfalls aus dem R a u m südlich des Bodensees. D i e V e r h a n d l u n g fand in praesentia legatorum imperatorie Salomonis episcopi , Kozperti comi tis, Ruadhoi abbatis, Hilteboldi comitis et in praesentia Adalberti comitis statt. Adalbert als zuständiger G r a f w i r d dann i n der Datumszeile gen a n n t 2 1 . Selbst i n einer U r k u n d e , die i n W o r m s in palatio regio ausgestellt wurde, ist i n der F o r m e l der Thurgaugraf Erchanbold nicht v e r gessen worden 2 2 . W e n n die i n einem D i p l o m genannten G ü t e r i n v e r schiedenen Grafschaften lagen, konnten i n der F o r m e l sogar mehrere Grafen genannt werden. Beispiele dieser A r t sind allerdings recht selten 2 3 . Es ist sicher, daß i n der Sub-comite-Formel nicht ein beliebiger, 18 UB St. Gallen I 108 sub ipso Geroldo comité ; die Tatsache, daß der Schenker zugleich der zuständige Graf war, wird vom Schreiber der Urkunde durch die Einfügung von ipso besonders hervorgehoben. Das verkannte BAUMANN, Gau und Grafschaft in Schwaben, S. 439 f., der die Zuständigkeit Gerolds auf den Ausstellungsort der Urkunde Nagold beschränken wollte. B A U M A N N hat seiner Theorie von der Identität von Gau und Grafschaft zuliebe nicht annehmen können, daß Graf Gerold auch in der Perichtilinsbaar über Grafenrechte verfügte. 19 Belege bei J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S . 9 7 . 20 U B St. Gallen I I 388 Facta tradicio temporibus Ludovici regis et Keroldi comité seu missus regis. Ganz klar ist die Sache allerdings nicht, denn ein Graf Waldpret läßt sich sonst offenbar nicht nachweisen. Es ist auffällig, daß in der Signumzeile einmal sig. Kerolt comitis, zum anderen aber nur sig. Waldpret comis steht. Die Urkunde ist entweder nur eine frühe Kopie, wie W A R T M A N N UB St. Gallen I I , S. 9 annimmt oder es lag dem Schreiber das Konzept über die Schenkung und die Zeugen vor. Die Urkunde weist zahlreiche Schreibfehler auf, so daß auch comis vielleicht statt centurio steht. 21 U B St. Gallen I I 656. 22 U B St. Gallen I 326. 23 Die Belege sind nicht ganz eindeutig und bedürfen deshalb der Erörterung. I n einer Urkunde aus dem Jahre 855 über Besitzungen in Illnau, Hinwil und Altorf werden die Grafen Udalrich und Gerold genannt (UB St. Gallen I I 441 sub Oadalricho et Geroldo comité). Sie waren Grafen im Thurgau und im Zürichgau. Von den genannten Orten lag Illnau dicht an der Grenze zwischen den beiden Grafschaften, die in dieser Zeit neu gebildet worden waren, und dürfte zum Komitat Udalrichs gehört haben. Die Grenze hat sich erst nach einigen Schwankungen gefestigt; Illnau gehörte später zum Zürichgau. 879 werden in einer Tauschurkunde in der Sub-comite-Formel die Grafen Udalrich und Adalbert aufgeführt (UB St. Gallen I I I , Nachtrag 8 sub Oadalricho et Adalberto comitibus). Udalrich war Graf im Linzgau, wo die Orte Trutzenweiler, Ailingen und Happenweiler lagen, die in einem Diplom Ludwigs des Deutschen von 875 ausdrücklich als in ducatu Alamannico, in pago Linzgoue, in comitatu Odelrici comitis gelegen bezeichnet werden (DLdDt. 165, U B St. Gallen I I 573 mit Datierung auf 873). Leider ist Achstetten nicht sicher zu lokalisieren, dürfte aber in einer der Grafschaften Adalberts zu

6 Schulze

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2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaftsverfassung

sondern der jeweils zuständige Graf aufgeführt wird. Die Grafschaften müssen demnach territorial bestimmbare und festgelegte Gebilde gewesen sein, denn man wußte offenbar den für jeden Ort zuständigen Grafen zu benennen. Bei einer entsprechenden Uberlieferungsdichte lassen sich die Amtsbereiche der einzelnen Grafen tatsächlich klar gegeneinander abgrenzen. Zeitlich ergeben sich Grafenreihen, die für einige Gebiete nahezu lückenlos sind. Eine Ergänzung bieten selbstverständlich die Grafennennungen in der bekannten Formel in pago Ν et in comitatu Ν comitis, die auch im alamannischen Bereich vor allem in den Königsurkunden zu finden ist. Kurz nach der Mitte des 9. Jahrhunderts tritt im Formular der Urkunden gelegentlich eine Verbindung von Komitatsangabe und Gaubezeichnung in Erscheinung, die nicht wenig zur Entstehung der Lehre von der Gaugrafschaft beigetragen hat. Es handelt sich um Wendungen wie in comitatu Linzigauge, in suo comitatu, qui dicitur Durgauge, in comitatu Perehtoldespara oder Zurigaugensis comitatus 24. I m alamannischen Raum wird erstmals 861 von einem comitatus Linzigauge gesprochen25. Zusammen mit der vergleichsweise günstigen Quellenlage bietet sich daher die „Grafschaft Linzgau" als ein geeignetes Untersuchungsobjekt an 26 . Der Linzgau am nördlichen Ufer des Bodensees umfaßte etwa die Flußgebiete der Buchhorner und Uhldinger Aach. Der Name ist vielleicht von einem Gewässernamen abgeleitet, wie die meisten Gaunamen dieser Gegend. Man nimmt an, daß die Uhldinger Aach, an deren Oberlauf ein Dorf mit Namen Linz liegt, ursprünglich den Namen Linz führte 27 . I m Westen grenzte der Linzgau an den Hegau, im suchen sein, vermutlich im Hegau, wo sich ein Fluß Aach und ein Ort gleichen Namens nachweisen lassen. Hier lag auch der Ausstellungsort Bodman. B A U M A N N , Gau und Grafschaft in Schwaben, S. 439, nimmt an, daß Bodman als Ort der Handlung den Ausschlag für die Nennung des Grafen Adalbert gegeben habe. Wahrscheinlich ist dies nicht. I n einer Urkunde aus dem Jahre 817 über eine größere Schenkung des Grafen Chadaloh an St. Gallen werden in der Sub-comite-Formel sogar drei Grafen aufgeführt (UB St. Gallen I 228 sub comitibus videlicet Hittone et Hammingo et Horingo). Die tradierten Besitzungen sind nur zum Teil sicher zu lokalisieren; die bekannten Orte lagen i m Heistergau, der Muntaricheshuntari und der Schwerzenhuntari, sowie dem Pagus Appha. Hitto war Graf im Heistergau und der Muntaricheshuntari, die Amtsbezirke der beiden anderen Grafen sind leider nicht festzustellen, da beide nur in dieser Urkunde erwähnt werden. Die Überlieferung für diese Gegend ist aber so schlecht, daß man sie trotz des Fehlens sicherer Belege als Grafen in diesem Raum in Anspruch nehmen darf. 24 DLdDt. 103, 158, 160; D K I I I 136. Es fällt sofort auf, daß diese Formel in den Königsurkunden verwendet wird. Die Privaturkunden haben weiterhin i m alamannischen Bereich die Sub-comite-Formel. 25 DLdDt. 3, U B St. Gallen I I 479. 2 6 BAUMANN, Gaugrafschaften, S. 49 ff.; K N A P P , Buchhorner Urkunde, S. 195 ff.; B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 102 ff. 2 7 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 49.

I. Die Alamannen

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Osten an den Argengau. Der Unterlauf des Schüssen bildete hier die Grenze zwischen den beiden Landschaften, während an dem Gebiet um den Oberlauf des Flusses der Name Schussengau haftete. I m Norden lagen die Landschaften Eritgau und Ratoldesbuch. Die Gunst der Uberlieferung gestattet die Rekonstruktion einer Grafenreihe, die ohne größere Lücken von den sechziger Jahren des achten Jahrhunderts bis an den Anfang des zehnten Jahrhunderts reicht 28. Schon B A U M A N N hatte erkannt, daß im Bereich des Linzgaues und des Argengaues stets der gleiche Graf amtierte, so daß eine einzige Grafenreihe für beide hergestellt werden kann. I n den sechziger Jahren sind die Belege noch zu spärlich, um sichere Schlüsse zu ermöglichen. Graf Warin erscheint 764 im Linzgau, während 769 ein Ruthard genannt wird, allerdings im Argengau. Der folgende Graf Rutbert hat dann mit Sicherheit die Grafengewalt in beiden Gauen ausgeübt. Er wird für den Linzgau 778—799 genannt, für den Argengau 784—799. Dem nur kurz amtierenden Grafen Udalrich folgen seine beiden Söhne Rutbert und Udalrich, die das Gebiet offensichtlich gemeinsam verwalten. Jedenfalls läßt sich keine Abgrenzung vornehmen. Graf Ruachar läßt sich von 817—838 in den beiden Gauen nachweisen. Sein Nachfolger ist der Weife Konrad, während dessen langer Amtszeit von 839—861 gelegentlich ein Graf Welfo auftritt, der auf Grund des Namens ebenfalls dem Hause der Weifen zugerechnet wird 29 . Wahrscheinlich handelt es sich hier wie bei den Brüdern Rutbert und Udalrich um gemeinsame Verwaltung der Grafenrechte durch Angehörige der gleichen Familie. 861—909 übten dann nacheinander zwei Grafen namens Udalrich die Grafenrechte aus, und 913 wird noch einmal ein Graf Konrad erwähnt. Dann bricht die Uberlieferung weitgehend ab. Es ist leicht zu erkennen, daß es sich bei den Linz- und Argengaugrafen vornehmlich um Angehörige der Familien der Udalrichinger und der Weifen gehandelt hat. Auf die damit zusammenhängenden Fragen wird an anderer Stelle einzugehen sein. Es ist eine immer wieder zu beobachtende Erscheinung, daß einzelne Grafen in verschiedenen Gauen die Grafenrechte ausgeübt haben, und es muß in jedem Falle untersucht werden, wie dies verfassungsgeschichtlich zu beurteilen ist. Auch für diese Frage erweist sich der Linzgau als ein dankbares Studienobjekt. B A U M A N N hatte im Einklang mit seiner Theorie die Meinung vertreten, daß Argen- und Linzgau 2 8

KNAPP,

(Argengau).

Buchhorner Urkunde, S. 2 0 5 f.;

2 9 FLECKENSTEIN, Herkunft der Weifen, S. Linzgau bezeugt (UB St. Gallen I I 4 0 8 ) und St. Gallen I I 452, 457, 462).



BAUMANN,

Gaugrafschaften, S.

1 2 1 . Welfo wird 8 4 9 / 5 0 für 8 5 7 — 8 5 8 für den Argengau

43

den (UB

8

2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

eigenständige „Gaugrafschaften" waren, die nur in Personalunion jeweils unter dem gleichen Grafen standen30. E B E R H A R D K N A P P und ihm folgend A L B E R T B A U E R haben dieser Auffassung energisch widersprochen, so daß eine erneute Erörterung der Uberlieferung notwendig sein dürfte, auch im Hinblick auf die in der neueren Forschung über das Wesen der Grafschaft verbreiteten Ansichten31. I m Jahre 861 bestätigte Ludwig der Deutsche einen Gütertausch zwischen dem Abt Grimoald von St. Gallen und dem Grafen Konrad 32 : Dedit itaque praefatus Chuonratus praedicto abbati ad monasterium sancti Galli in comitatu Linzigauge in loco nuncupato Eigilesuuilare unam basilicam et casam cum curte ceterisque edificiis ac de terra eulta LX iugera in Foraste iacentia nec non et unum novale iacentem in marcha Argungaunensium inter Eigilesuuilare et Forastum et Rotinbach situm. Konrad war Graf im Linzgau, und so könnte es sich bei den Besitzungen um Amtsgut gehandelt haben, für dessen Veräußerung die königliche Zustimmung erforderlich war 3 3 . Der Graf erhielt von Abt Grimoald drei Hufen zwischen Richinbach und Liubilinwang u. Bei diesen Orten wird keine nähere Lagebestimmung gegeben. Die Güter des Grafen Konrad lagen in der Grafschaft Linzgau, jedenfalls ist dies bei Eigilesuuilare (Eggenweiler) und Foraste (Forst) aus dem Wortlaut des Diploms mit Sicherheit zu entnehmen. Die Lage des Neubruches wird durch den Zusatz in marcha Argungaunensium näher bestimmt. Gemeint ist mit marcha wahrscheinlich die gemeine Mark des Argengaues und seiner Bewohner, in der Rodungen vorgenommen werden durften. Der weiteren Präzisierung seiner Lage diente die Angabe, daß er zwischen den Dörfern Eggenweiler, Forst und Röthenbach bei Waldsee gelegen habe. Wenn man davon ausgeht, daß sich die Angabe in comitatu Linzigauge auf alle genannten Orte erstreckte, so würde das bedeuten, daß die Grafschaft Linzgau nicht auf den Gau gleichen Namens beschränkt war, sondern den Argengau einschloß. Damit fände auch das auffällige Vorkommen der gleichen Grafen in beiden Landschaften seine Erklärung. Zwingend ist dieser Schluß nicht, da man die Lageangabe in comitatu Linzigauge nicht unbedingt auf alle Orte beziehen muß. 80 Auf der Karte bei B A U M A N N , Gaugrafschaften, ist folgerichtig die Grenze zwischen den beiden Gauen audi als Grafschaftsgrenze eingetragen worden. 8 1 K N A P P , Buchhorner Urkunde, S. 207 f.; B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 102 fï. mit einer im wesentlichen zutreffenden Interpretation der folgenden Urkunde von 861. K N A P P formulierte noch etwas vorsichtiger, hat aber die Dinge bereits richtig gesehen. 82 DLdDt. 103, UBJ St. Gallen I I 479. 88 Konrad ist als Linzgaugraf 839—861 nachweisbar. 84 Rickenbach liegt östlich von Lindau am Bodensee, Liubilinuuang dürfte an der Leiblach, einem Wasserlauf in der gleichen Gegend, zu suchen sein (Lokalisierungen W A R T M A N N UB St. Gallen I I 479).

I. Die Alamannen Weitere Aufschlüssse bringt eine Urkunde aus dem Jahre 890, die in der älteren Forschung ebenfalls schön mehrfach Beachtung gefunden hat 85 . Es handelt sich dabei um eine Aufzeichnung in Urkundenform über mündlich geführte Verhandlungen. Das Original ist verloren, aber es bestehen keine Zweifel an der Echtheit des Stückes. Der Rechtsinhalt dieser auch für die Fragen der Sozialstruktur und der Wirtschaf tsverfassung höchst aufschlußreichen Urkunde läßt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen. St. Gallen hatte im (Ober-)Rheingau die mit seinen Höfen verbundenen Rechte in der gemeinen Mark ausgeübt und auch im Wald Holz geschlagen und Schweine gemästet. Nachdem aber König Arnulf dem Grafen Ulrich den Königshof Lustenau im Rheingau zu eigen gegeben hatte, hinderte dieser das Kloster an der Ausübung seiner Rechte im gesamten Gau. Auf einer Versammlung, an der der Bischof von Ghur, Graf Ulrich und die Vornehmsten aus drei Grafschaften teilnahmen, wurden die Streitigkeiten im wesentlichen zugunsten der Abtei beigelegt. St. Gallen erhielt die gleichen Nutzungsrechte wie die anderen Gaubewohner bestätigt, ausgenommen waren einige unter Königsbann gestellte Waldungen, die zu den Pertinenzien des Königshofes gehörten. Die Zusammenkunft fand an der Mündung des Hochrheins in den Bodensee statt (in loco ubi Rhenus lacum influii Podamicum), und die Teilnehmer stammten aus den Grafschaften Thurgau, Linzgau und Churrätien: omnes principes de tribus comitatibus, id est de Turgouve, de Lintzgouve et de Rhaetia Curiensi cum reliqua populorum multitudine. Nach den Grafschaften geordnet werden sie dann auch in der Zeugenreihe aufgeführt 88. Es fällt auf, daß Teilnehmer aus dem Rheingau, aber auch aus dem Argengau fehlen. Für den Argengau war die Zugehörigkeit zur Grafschaft Linzgau schon wahrscheinlich gemacht worden; seine Bewohner dürfen daher unter den primates der Grafschaft Linzgau zu suchen sein. Das gilt wohl auch für die Rheingauer, auf deren Teilnahme an der Versammlung kaum verzichtet werden konnte. In einem Nachsatz wird in der Urkunde berichtet, daß bei der gleichen Gelegenheit durch das Zeugnis der Anwesenden die Grafschaftsgrenze zwischen dem Rheingau und dem Thurgau festgelegt wurde. Die Grenze verlief zunächst auf einer Wasserscheide 35

UB St. Gallen I I 680. Zur Interpretation K N A P P , Buchhorner Urkunde, S. 207 f.; B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 104 ff. Ausführliches Regest mit wichtigen Erläuterungen: bei A D O L F H E L B O K , Regesten von Vorarlberg und Liechtenstein bis zum Jahre 1260, 1920—25 (Quellen zur Geschichte Vorarlbergs und Liechtensteins I), S. 54 ff. nr. 103. Zur allgemeinen Auswertung dieses verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Stückes vgl. K A R L H A N Ä G A N A H L , Die Mark in den älteren St. Galler Urkunden, Teil I I . In: ZSRG GA 61 (1941), S. 41 ff. 36 Isti vero sunt, qui hoc testificati sunt De Durgeuve ... De Raetia ... De Lintzgouve ... Aus dem Thurgau werden 29, aus Rätien 7 und aus dem Linzgau 23 Namen genannt.

2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

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und dann in der Mitte des Rheins bis zum Bodensee37. Die westliche Grenze des Rheingaues bildete also zugleich die Grenze zwischen den Komitaten Linzgau und Thurgau, denn eine Grafschaft Rheingau hat es ebensowenig gegeben wie eine Grafschaft Argengau. Ulrich, dem die königliche Curtis Lustenau übergeben worden war und der sich eindeutig als Graf im Linzgau und im Argengau nachweisen läßt 38 , wird in der Urkunde von 890 ausdrücklich comes de Lintzgouve genannt. Der Amtsbereich des Linzgaugrafen erstreckte sich nicht nur über Linzgau, Argengau und Rheingau, sondern auch über das Land am Oberlauf des Schüssen, für das der Name Schussengau bezeugt ist. Der Schussengau bildete keinen besonderen Verwaltungsbezirk, sondern gehörte zur Grafschaft Linzgau. Sein Gauname wurde wohl deshalb zunächst zurückgedrängt und tauchte erst im 11. und 12. Jahrhundert wieder auf 39 . Hier befand sich in karolingischer Zeit ein königlicher Fiskalbezirk, der im Jahre 815 beiläufig erwähnt wird 4 0 . Er war nach dem Schussengau benannt (in fisco nostro , qui dicitur Scuzingauue) t aber es gibt keine weiteren Anhaltspunkte dafür, daß Gau und Fiskus identisch waren. Es muß also offen bleiben, ob es sich um einen sogenannten „fiskalischen Pagus" gehandelt hat. Als Mittelpunkt des Krongutkomplexes ist wohl der Ort Fronhofen zu betrachten 41. Während der Fiskus nie mehr erwähnt wird, erscheint der Schussengau später als ein Zentrum des weifischen Besitzes42. So hat schon B A U M A N N vermutet, daß das Königsgut von Ludwig dem Frommen an die Weifen gegeben worden ist, die hier in späterer Zeit die Grafschaft Ravensburg besaßen43. Des richs graffschafft zu Rauenspurg 44 gehört allerdings 37

Eodem quippe juramento et comitatus diviserunt terminum inter Durgeuve et Ringeuve, asserentes de Schwarzunegka, ubi aquae adhuc ad nos vergunt, usque ad Manen in medium gurgitem Rheni et inde usque ad lacum Podamicum. Zur Identifizierung W A R T M A N N U B St. Gallen I I 6 8 0 ; HELBOK, Regesten von Vorarlberg, S. 56 mit Angabe der älteren Literatur. 88 Belege bei K N A P P , Buchhorner Urkunde, S . 2 0 6 . Die Udalriche des ausgehenden neunten Jahrhunderts sind nicht ganz klar gegeneinander abzugrenzen. Ein Udalrichus iunior kommt 885 vor. 8 9 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 5 4 ff. — Zeugen de pago Suscengouve 1 0 8 7 in einem Diplom für Allerheiligen zu Schaffhausen (Quellen zur Schweizer Geschichte I I I , 1, S. 16, nr. 7, 2). 40 Es handelt sich um eine Urkunde Ludwigs des Frommen, der demj Geistlichen Engilbert die Übertragung von Besitzungen an die Abtei Reichenau gestattet. Die Genehmigung war erforderlich, weil der Priester zu den Angehörigen des königlichen Fiskus gehörte (UB Württ.) I 7 4 ; vgl. auch B R A N D I , Reichenauer Urkundenfälschungen, S. 3). — Zur Interpretation B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 5 2 f., dagegen B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 91, Anm. 16. 4 1 M E T Z , Karolingisches Reichsgut, S . 1 0 7 ; dagegen vermutet B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 54, den Mittelpunkt des Fiskus in Ravensburg. Näher begründen läßt sich wohl keine dieser Annahmen. 4 2 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 5 5 f., 5 8 f.; FLECKENSTEIN, Herkunft der Weifen, S. 91. 4 8 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S . 5 8 f. 4 4 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S . 5 5 .

I. Die Alamannen einem anderen Typ der Grafschaft an als die Grafschaften der Karolingerzeit. Diese Erkenntnisse sind keineswegs neu, denn schon K N A P P und sind zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen. Bei dem augenblicklichen Forschungsstand war eine erneute Interpretation der Quellen jedoch nicht zu vermeiden.

BAUER

Der quellenmäßig belegte comitatus Linzgau war nicht mit dem gleichnamigen Gau identisch, sondern Schloß die Nachbargaue Argengau, Schussengau und Rheingau ein. Der Inhaber der Grafschaft konnte dementsprechend als comes de Lintzgouve bezeichnet werden. Mehrere Gaue waren also zu einer Grafschaft zusammengefaßt. Die Grenzen der Grafschaft fielen mit den Außengrenzen der vier Gaue offenbar zusammen. Nach diesen Beobachtungen ist es von Interesse, was unter dem ebenfalls in der Urkunde von 890 erwähnten comitatus Thurgau zu verstehen ist. In dem Raum südlich des Bodensees sind schon im 8. Jahrhundert drei Gaue bezeugt, der Arbongau, der Thurgau und der Zürichgau. Der Arbongau hat seinen Namen von dem Römerkastell Arbona erhalten und schließt sich vielleicht an einen spätrömischen Kastellbezirk an. Die Bedeutung der Befestigung für den Gau kommt in der Formulierung in pago Arbonense castro sehr deutlich zum Ausdruck 45. Auch der Zürichgau ist nach einer römischen Niederlassung, der statio Turicensis, benannt 46 , während der Name Thurgau von dem Flußnamen Thür abgeleitet ist. Die drei Gaue sind ursprünglich wohl Siedlungslandschaften gewesen, die durch größere siedlungsarme Gebiete voneinander geschieden waren 47 . Das Zentrum des Zürichgaues waren die schon früh von den Alamannen besiedelten Räume an der Limmat und um Zürich, die Keimzelle des Thurgaues waren die Altsiedelgebiete an der unteren Thür. I m Arbongau gab es nur ein kleines Siedlungsgebiet am Südufer des Bodensees um das namengebende Zentrum Arbon. Die Namen der drei Gaue gehen wahrscheinlich schon in die Landnahmezeit der Alamannen zurück, denn die beiden Römerorte als „Gaumittelpunkte" und namengebende Elemente zeugen von einer gewissen Kontinuität. Die erste Erwähnung des Thurgaues erfolgt auch bereits zum Jahre 609/61048. 45 U B St. Gallen I 12, 25. Die Belege stammen aus der Mitte des achten Jahrhunderts (745, 759/60). 4 6 F R I E D R I C H V O N W Y S S , Geschichte der Entstehung und Verfassung der Stadt Zürich. In: DERS., Abhandlungen zur Geschichte des schweizerischen öffentlichen Rechts, 1892, S. 340 ff. Diese Abhandlungen sind noch immer grundlegend für die Geschichte Zürichs und des Zürichgaues. 47 Vgl. die instruktive Untersuchung von H A N S K L Ä U I , Einflüsse der fränkischen Herrschaft auf den alemannischen Siedlungsraum der Nordostschweiz. In: Alem. Jb. 1962/63, S. 14—64. 48 Fredegai* c. 37 M G SSrerMerov. I I , S. 138 per pactionis vinculum Alsatius

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaf tsverfassung

Vergleicht man die frühen Gaubelege, so zeigt es sich, daß die Namen Arbongau und Zürichgau zwar vorhanden sind, daß sie aber von dem Namen Thurgau gleichsam überlagert werden: 744 in pago Durgaugense, in sito , qui dicitur Zurihgauvia 49, 745 in pago Durgauginse seu in sito Zurihgauvia745 in sito Durgaunense et in pago Arbonense castro 61, 759/60 in situ Durgoie vel in pago Arbonensis castri 62. Die Abtei St. Gallen wird meist als im Arbongau gelegen bezeichnet, doch tritt nicht selten auch die Angabe in pago Durgaugensi auf. Der Arbongau wird bis zum Jahre 800 noch recht häufig genannt, dann werden die Belege immer seltener, um nach 850 fast ganz abzubrechen. Den beiden frühesten Erwähnungen des Zürichgaues 744 und 745 folgen zwei weitere Nennungen 775, wieder in der Form der Doppelformel in pago Thurgau in sito Zürichgau 5*. Dann verschwindet die Bezeichnung Zürichgau aus den Urkunden des Klosters St. Gallen vollständig. Für die Orte dieser Landschaft wird die Gauangabe Thurgau verwendet. Erst vom Jahre 854 an wird der Name des Zürichgaues wieder in den Urkunden zur Lagebezeichnung verwendet 54 . I m Unterschied zu den Nennungen im achten Jahrhundert tritt er jetzt fast ausschließlich allein auf, nicht mehr in Verbindung mit dem Namen des Thurgaues. Die Doppelformel in pago Durgouve et in Zurihgouve kommt nur noch einmal vor 55 . Dagegen findet sich in einem Diplom aus dem Jahre 870 die aufschlußreiche Wendung in pago Durgeuve vel, ut nunc dicitur, Zurichgeuve 5e. Der Name Zürichgau ist freilich alt, und es bleibt zu fragen, weshalb er um die Mitte des neunten Jahrhunderts wieder auftaucht. Die Abfolge der Grafen ist auch für das Gebiet südlich des Bodensees einigermaßen sicher zu rekonstruieren 57. Auf die bereits erwähnten Grafen Pebo und Chancor, von denen der eine 741 und 744, der andere 745 belegt wird, folgte Graf Warin. Er wird von 754 bis 772 mehrfach genannt. 771 tritt schon sein Sohn Isanbard in der Subcomite-Formel in Erscheinung, der wohl einige Zeit neben seinem ad parte Theudeberti firmavit; etiam et Suggentensis et Turensis et Campanensis. Vgl. dazu FEGER, Herzogtum, S. 47. 49 U B St. Gallen 110. 50 U B St. Gallen 111. 51 U B S t . Gallen 112. 52 UB St. Gallen 125. 53 UB St. Gallen 174,77. 54 U B St. Gallen I I 437; auf den ersten Beleg folgen bald weitere. 55 U B St. Gallen I I 689. 56 U B St. Gallen I I 548. 57 K N A P P , Buchhorner Urkunde, S . 208 ff. (nicht ganz zuverlässig); für die Zeit nach 800 K A R L SPEIDBL, Beiträge zur Geschichte des Zürichgaus, phil. Diss. Zürich 1914, S. 21 ff.

I. Die Alamannen Vater als Graf tätig war. Seine Amtszeit reichte bis zum Jahre 779; der letzte Beleg stammt aus einer Urkunde vom 16. März 58 , am 19. Juli des gleichen Jahres wird bereits sein Nachfolger Erchanmar genannt59. Isanbard ist offensichtlich seines Amtes enthoben worden, denn er lebte noch bis zum Anfang des neunten Jahrhunderts, wie aus zwei Schenkungsurkunden für St. Gallen von 804 und 806 hervorgeht 80. Auf den Grafen Erchanmar, der nur 779 erwähnt wird, folgten Udalrich 61 , Scopo62 und Richwin. Die Amtszeit Richwins reichte insgesamt von 806 bis 822, doch wurde sie zweimal durch eine Amtsperiode eines anderen Grafen unterbrochen. Richwin, der vielleicht zunächst 802 Graf im Nibelgau war 8 8 , kommt im Thurgau 806 einmal vor 64 , dann fehlen Grafenbelege bis 814. I n diesem Jahr tritt wieder ein Udalrich als Graf in Erscheinung, der vermutlich mit dem gleichnamigen Linzgaugrafen identisch ist 85 . Der Linzgaugraf Udalrich wird 817 von Ruachar abgelöst, und auch im Thurgau hat Richwin sein Amt offenbar im gleichen Jahre wieder angetreten 66. Auszuschalten aus der Grafenreihe ist Adalbert, da die beiden auf 814 und 817 datierten Urkunden erst aus der Zeit um 900 stammen87. I m Jahre 820 wird die Tätigkeit Richwins noch 58

U B St. Gallen 186. UB St. Gallen 189. 60 U B St. Gallen 1 178, 190. ei 787—799. 62 Scopo wird nur i m Jahre 804 erwähnt (UB St. Gallen I, 178). 68 Ein comes Rifoin erscheint 802 i m Nibelgau (UB St. Gallen I 168). Die Identität ist angesichts der verschiedenartigen Schreibung der Namen nicht sicher. 84 U B St. Gallen 1191. 65 U B St. Gallen 1212. 86 U B St. Gallen 1225. 67 U B St. Gallen I 227, I I Anhang 3. Die Datierung dieser Stücke ist problematisch, wie auch W A R T M A N N selbst gesehen hat. Die beiden Urkunden sind von einem Hitto geschrieben, die Schrift weist in das späte neunte Jahrhundert. Da aber in nr. 227 in der Datierung annum Luduwici V imperatoris steht, hat sich W A R T M A N N für die Regieruhgszeit Ludwigs des Frommen entschieden, das Jahr 817 allerdings mit einem Fragezeichen versehen. I n der Urkunde wird aber ein venerabili* laieus Otherius als Inhaber der Märtinskirche in Jonschwil genannt, der in einer Urkunde Arnulfs von 897 ebenfalls vorkommt (DArn. 151 in einer nicht völlig kanzleigemäßen Ausfertigung). Derselbe Otherius erscheint auch in dem zweiten Diplom ( I I Anhang 3), das dann ebenfalls an das Ende des neunten Jahrhunderts gehört. Die Zéugenreihen in den beiden Urkunden nennen zum Teil die gleichen Namen. Wichtig ist vor allem der Otharius centurio, der ebenfalls in die spätere Zeit paßt, denn zusammen mit dem Grafen Adalbert wird er 887 genannt (UB St. Gallen I I 658). Ebenso weist der in der Sub-comite-Formel erscheinende Graf Adalbert in die Zeit um 900. Der Herrscher Ludwig muß demnach trotz des Titels imperator Ludwig das Kind sein. Die Datierung der beiden Urkunden ist bereits von M E Y E R V O N K N O N A U , Ein thurgäuisches Schultheißengeschlecht des I X . und X . Jahrhunderts. In: Jb. für Schweizerische Geschichte 2 (1877), S. 113, Anm. 2, mit ungefähr den gleichen Argumenten auf die Jahre 900 und 904 berichtigt worden. 59

2. Teil: Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung einmal kurz durch einen Grafen Ruadger unterbrochen 88. Dann wird Richwin wieder bis 822 häufig in der Sub-comite-Formel genannt89. Der Tätigkeitsbereich dieser Grafen erstreckte sich über das Gebiet der drei Gaue Thurgau, Arbongau und Zürichgau. Das war zunächst auch bei dem Grafen Erchanbald der Fall, der zwischen 824 und 832 regelmäßig in der Sub-comite-Formel aufgeführt wird 70 . I m Jahre 826 tritt Graf Gerold neben ihn, und zwar für den Bereich des Zürichgaues71. Erst nach dem Ausscheiden Erchanbolds ist Gerold dann für das Gesamtgebiet zuständig. Während einer kurzen Unterbrechung seiner Amtszeit wird 836 und 838 Graf Adalbert (I.) in zwei Urkunden genannt72. 844 erscheint ein Graf Ato 78 . Nebeneinander amtieren dann Udalrich 845—856 und wieder Gerold 847—867, der eine im Thurgau, der andere im Zürichgau 74. Udalrichs Nachfolger im Thurgau Adalhelm 857—85975 hatte vorübergehend auch den Zürichgau inne 78 . Dann folgen im Thurgau die Grafen Adalbert II. und Adalbert III., im Zürichgau Rudolf, Hunfrid, Rudolf, Adalgoz und Udalrich 77 . Die Grafenreihe, die zunächst für das Gesamtgebiet geschlossen ist, teilt sich nach einigem Schwanken in der Mitte des neunten Jahrhunderts in eine Reihe für den Thurgau und eine für den Zürichgau auf. Schon in der 68

U B St. Gallen I 251 sub Ruadkero comité. U B St. Gallen Ï 271, 272, 273, 274, 275. U B St. Gallen I 284—288, 292, 295, 298, 299, 304, 305, 307, 309, 326—330, 332 337 339 342. 71 U B St. Gallen I 297, 306, 315, 316, 318—324. Zur Sache SPEIDEL, Zürichgau, S. 22 f. 72 U B St. Gallen I 356, 370; Gerold ist 835 und 837 genannt (UB St. Gallen I 355, 358). Auf die möglichen Gründe für das Nebeneinander der beiden Grafen wird noch einzugehen sein. 78 Neugart, Codex dipl. Alemanniae I 306 Schenkung eines Wolfart an Kloster Bobbio. Die Güter in Wengen und Tuggen liegen nach dem Diplom im Thurgau, ausgestellt wurde die Urkunde in Wengen sub Atone comité . U B St. Gallen I I I , Anhang 4 erscheint der missus des Grafen Ato in einer undatierten Zeugenaussage. Allerdings scheint Ato selbst missatischen Auftrag gehabt zu haben: coram misso Atonis comitis, videlicet Ruadloho, in vice eiusdem comitis a parte palacii missi. Über Ato SPEIDEL, Zürichgau, S. 23. 74 Udalrich U B St. Gallen I I 393 — 451 häufig belegt, desgleichen Gerold I I 403—528. Weitere Nennungen Gerolds ( I I 531, 565, 566, 578) sind in der Datierung unsicher und von W A R T M A N N wohl zu spät angesetzt. Z u Datierungs- und Lokalisierungsfragen SPEIDEL, Zürichgau, S. 24 f. 75 Er ist ebenfalls gut bezeugt: U B St. Gallen I I 453, 460, 461, 463, 464, 466—469. 857 (DLdDt. 83) werden res ad comitatum Adelhelmi comitis pertinere erwähnt. Als Vorgänger wird Udalrich genannt. 78 Gerold fehlt zwischen 858 März 13 und 861 Juni 18, Adalhelm wird im Zürichgau 85&—859 erwähnt (UB St. Gallen I I 460, 467, 468). 858 März 13 sind in Egg im Zürichgau zwei Urkunden ausgestellt worden, in der einen wird Gerold, in der anderen Adalhelm in der Sub-comite-Formel genannt. Eine stichhaltige Erklärung bietet sich nicht an, da in beiden Fällen auch das Gut im Zürichgau lag. 77 Adalbert I I . 860—894; Adalbert I I I . 894—910/11 Rudolf 870; Hunfried 872—876; Rudolf 878—885; Adalgoz 899; Udalrich 902—917. M

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älteren Forschung sind aus diesen Beobachtungen im wesentlichen die richtigen Schlüsse gezogen worden 78 , die es hier zu wiederholen und zu präzisieren gilt. Die drei Gaue Arbongau, Thurgau und Zürichgau waren im achten Jahrhundert zu einer Grafschaft Thurgau zusammengeschlossen. Es muß unentschieden bleiben, ob dies schon in der alamannischen Herzogszeit der Fall war oder ob die Verbindung erst in karolingischer Zeit geschaffen worden ist. Der Name des Thurgaues wurde zum Namen der Grafschaft und konnte deshalb auch für das Gesamtgebiet Anwendung finden. Die alten Namen Arbongau und Zürichgau wurden weitgehend in den Hintergrund gedrängt. Diese Zurückdrängung, die für den Zürichgau sehr rasch, für den Arbongau nur zögernd vor sich ging, zeichnet sich schon in der Mitte des achten Jahrhunderts in der Verwendung der Doppelformel mit zwei Gaunamen ab. Um so auffälliger ist das Wiederauftauchen des Namens Zürichgau in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts. Ein Vergleich mit der Abfolge der verschiedenen Grafen in diesem Bereich liefert dafür eine einwandfreie Erklärung. I n Alamannien sind das achte und neunte Jahrhundert eine Zeit stärkerer Bevölkerungszunahme und beträchtlicher Ausdehnung des Siedlungsraumes durch fortschreitenden Landesausbau. Die Nachrichten über Rodungen und das Auftreten bestimmter Ortsnamentypen belegen das zur Genüge. Die zunehmende Siedlungsdichte machte wahrscheinlich eine Teilung der sehr ausgedehnten Grafschaft Thurgau notwendig. Mit der Schaffung einer besonderen Grafschaft für den Bereich des alten Zürichgaues erscheint in den Quellen auch der alte Name wieder, und zwar gerade in dem Jahrzehnt, in dem die Trennung von Dauer wird. Nebeneinander existieren nun die verkleinerte Grafschaft Thurgau (854 sub Oadalricho comité in Durgouve, 873 sub Adalberto comité Durgaugensi „ 878 in comitatu Turgeuve )79 und die Grafschaft Zürichgau (875 potestas Zurigaugensis comitatus) 80. Zwischen Thurgau und Zürichgau, die in der älteren Zeit wahrscheinlich durch einen breiten Streifen unbesiedelten Gebietes geschieden waren, bildete sich nun eine feste Grenze heraus. Der Arbongau blieb dagegen Bestandteil des Komitats Thurgau. Sein Name verschwindet langsam aus den Urkunden. Dafür tritt in seinem Bereich in der Mitte des neunten Jahrhunderts für eine Zeitspanne von 7 8 W Y S S , Verfassung von Zürich, S. 3 4 4 ff.; K N A P P , Buchhorner Urkunde, S. 2 0 4 unter Berufung auf M E Y E R V O N K N O N A U in den Mitt. St. Gallen 1 3 , S . 9 8 ff., 2 0 8 ff.; SPEIDEL, Zürichgau, S. 1 ff. Anders B A U E R , Gau und Grafschaft, S. 1 0 8 ff., der eine ursprünglich einheitliche, Thurgau und Zürichgau umfassende Grafschaft leugnet. Er rechnet auch mit einer größeren Variabilität der gräflichen Amtsbereiche ohne Rücksicht auf die Grenzen der Gaue. 79 UB St. Gallen I I I , Nachtrag 7; I I 572; D K a r l I I I 11. 80 DLdDt. 158, UB St. Gallen I I 586; ein weiterer Beleg erst 965 D O I 276.

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftsverfassung

einem Jahrzehnt der Name Waltramshuntare in Erscheinung. Diese Waltramshuntare ist offensichtlich dem Thurgau in irgendeiner Weise untergeordnet: 852 in pago Turgaugensi, quod tarnen specialiter dicitur Waldrammishuntari 81, 855 in pago Durgaugensi et in situ Waldramnishuntare 82. Es ist umstritten, ob sie mit dem Arbongau räumlich identisch war oder nur einen Teil des Gaues umfaßte 83 . Mit Sicherheit sind nur Hefenhofen und Kesswil sowie das nicht sicher zu identifizierende Cotinuowilare der Waltramshuntare zuzuweisen, doch dürften auch Rorschach, Goldach und Romanshorn hinzuzurechnen sein84. Die wenigen Belege, die aus vier Urkunden aus der Zeit zwischen 852 und 860 stammen, reichen zu einer wirklichen Begrenzung der Waltramshuntare nicht aus. Der Schluß, daß nur das von den genannten Orten markierte Gebiet dazu gehört habe, wäre angesichts der spärlichen Uberlieferung wenig überzeugend. Die Probleme, die mit der Waltramshuntare verbunden sind, gehören zu den wesentlichen Fragen der Verfassungsgeschichte des fränkischen Reiches, so daß eine ausführlichere Behandlung dieses speziellen Gegenstandes gerechtfertigt ist. Die Waltramshuntare selbst hat besonders in den letzten Jahren mehrfach die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Während sie in der älteren Literatur, in der noch mit einer Einteilung der Grafschaften in Zentenen gerechnet wurde, als Hundertschaft galt 85 , wird sie in der neueren Forschung als eine alamannische Adelsherrschaft betrachtet. Die Auffassungen der einzelnen Forscher weichen dabei nicht unerheblich voneinander ab 86 . Als Namensgeber für die Waltramshuntare gilt jener Waltram, der in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts in engeren Beziehungen zu St. Gallen stand. In der Gallusvita des Gozbert wird berichtet, daß 81

U B St. Gallen I I 419. UB St. Gallen I I 444. 8 3 T H E O D O R M A Y E R , Staat und Hundertschaft, S. 1 0 6 , rechnet nur das Gebiet westlich von Arbon zur Waltramshuntare, während H A N S K L Ä U I , Siedlungsraum der Nordostschweiz, S.49, sowie Karte auf S. 26 f. die Waltramshuntare vom Bodensee bis zur Sitter reichen läßt und auch Arbon und St. Gallen einbezieht. Allerdings betont auch K L Ä U I , daß sie nicht den ganzen Arbongau umfaßt habe. 84 UB St. Gallen I I 419, 420, 444, 478. Die Urkunde von 855 ist i n Goldach ausgestellt. Die Tradentin erhält Klostergut in Goldach und Rorschach. Romanshorn wird wegen des Besitzes der Waltramsfamilie als Bestandteil der Huntare angesehen (KLÄUI, Siedlungsraum der Nordostschweiz, S. 49). 8 5 M E Y E R V O N K N O N A U , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht, S. 1 1 0 ; WYSS, Die freien Bauern, Freiämter, Freigerichte und die Vogteien der Schweiz im späteren Mittelalter. In: DERS., Abhandlungen zur Geschichte des schweizerischen öffentlichen Redits, 1892, S. 288, Anm. 1. 8 6 M A Y E R , Staat und Hundertschaft, S. 202 ff. unter Berufung auf H A N S J Ä N I C H E N , Huntari und Huntersingèn, Beiträge zur Landeskunde, Beilage zu Württemberg-Hohenzollern in Zahlen 6 (1951), Nr. 1, S. 95—100 (mir bisher nicht zugänglich); noch einmal zusammenfassend M A Y B R , Konstanz und St. Gallen in der Frühzeit, S. 297 f.; J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 135 f. 82

I. Die Alamannen er den späteren Abt Otmar aus Chur nach S t Gallen geholt habe 87 . Waltram betrachtete die Galluszelle als Bestandteil seines väterlichen Erbes und übergab sie erst auf Betreiben des Herzogs Nebi dem princeps Karl. Von Karl Martell erwirkte er die Einsetzung Otmars als Abt. Es muß dahingestellt bleiben, wie weit die Angaben über die eigenkirchenherrliche Stellung Waltrams den Tatsachen entsprachen, denn nach der ältesten Vita des heiligen Gallus hatte dieser seine Zelle in der Wildnis, im er emus, gegründet. Er erhielt das Gebiet von König Sigibert geschenkt88. Jedenfalls dürfte Waltram zu den Grundherren des Arbongaues gehört haben. Dies ergibt sich auch aus einer Schenkungsurkunde seiner Witwe und seines Sohnes Waltpert aus dem Jahre 779. I n diesem Diplom wird Waltram als tribunus bezeichnet89. Einen tribunus Arbonensis hat es nun schon zur Zeit des heiligen Gallus im Arbongau gegeben90. T H E O D O R M A Y E R sieht in dem Tribunus einen von den Franken in dem Kastell Arbon eingesetzten Festungskommandanten: „Der tribunus Arbonensis war ein von den Franken eingesetzter Kastellkommandant; das Kastell und der Kastellbezirk selbst gingen auf römisches Erbe zurück, das von den Franken übernommen und mit eigenen Leuten besetzt worden war. Die deutsche Bezeichnung der Kastellbesatzung lautete hunta, worunter wir doch wohl eine Übersetzung des lateinischen Wortes centena sehen dürfen; ihr Führer war der Huntaris oder Huntarius und die von ihm begründete Grundherrschaft war die Huntari 91 ." Während T H E O D O R M A Y E R , dessen Auffassung mit seinen allgemeinen Vorstellungen vom Charakter der fränkischen Zentene als Verband von Militärsiedlern zusammenhängt, den Tribunus mit dem Zentenar gleichsetzt, hat H A N S J Ä N I C H E N eine sehr interessante Hypothese über den Charakter des Tribunenamtes im alamannischen Bereich vorgetragen 92 . Für ihn war der Tribunus der Vorsteher eines ausgedehnten „Huntarensystems" in Alamannien, das von J Ä N I C H E N erschlossen worden ist. Sein Befehlsbereich habe sich über die Huntare um Arbon und die verschiedenen Huntaren an der oberen Donau erstreckt. Der Tri87 M G SS I I , S. 23 Waltrammus quidam, ad cuius paternam possessionem termini vastae solitudinis, in quibus vir Dei cellam construxerat, pertinere videbantur, videns res collatas a quibusdam praesumptoribus inordinate tractari, religiosum quendam presbyterum Otmarum nomine, cui summam earundem committeret rerum, a Victore tunc Curiensium comité impetravit, et ei cellulam cum omnibus ad eam pertinentibus commendavit Postmodum Consilio cuiusdam ducis nomine Nebi persuasus, ad praefatum prindpem Carolum cum eodem duce properavit, ipsique eandem cellam proprietatis iure contradidit et ut Otmarum presbyterum eidem loco praeficeret exoravit. 88 M G SS I I , S. 12. 89 UB St. Gallen I 85. 90 M G SS I I , S. 12. 91 MAYER, Staat und Hundertschaft, S. 106. 9 2 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 129 ff.

. Teil: Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung bunus Waltram gilt in der Literatur als ein Angehöriger des höchsten Adels 93 . J Ä N I C H E N rechnet mit einer sehr vornehmen Verwandtschaft, und D A N N E N B A U E R hat unter Berufung auf H A N S M A R T I N D E C K E R - H A U F F sogar Abstammung vom burgundischen und Verwandtschaft mit dem langobardischen Königshaus angenommen. Der überlieferte Stammbaum Waltrams beginnt mit dem vir inlustris Talto, der zunächst Kämmerer Dagoberts und schließlich Graf des Arbongaues gewesen sein soll. Die Ahnenreihe führt über Thiotolt, Polio und Waltpert zu dem Tribunen Waltram des achten Jahrhunderts. Diese Angaben stammen aber aus der Gallusvita des Ratpert, der sich sonst auf ältere Vorlagen stützt, in denen diese Genealogie jedoch nicht überliefert wird. Sie ist also nicht nachprüfbar, und schon M E Y E R V O N K N O N A U hat ein sehr negatives Urteil über die Glaubwürdigkeit dieser genealogischen Angaben gefällt 94 . Da er der beste Kenner der St. Galler Historiographie war, wird man die Nachricht über die Abkunft Waltrams mit Vorsicht aufnehmen müssen und keinen Schluß von der angeblich so vornehmen Abstammung auf die Bedeutung des Tribunenamtes ziehen dürfen. Sicher bekannt sind neben Waltram selbst nur seine Frau Waltrada und sein Sohn Waltpert 95 . Es ist zu fragen, ob der Tribunus sich überhaupt als Vorsteher eines Huntarenverbandes erweisen läßt. Der in der Uberlieferung zur Lebensgeschichte des hl. Gallus erwähnte tribunus Arbonensis, dessen Name nicht genannt wird, nimmt vom alamannischen Herzog Befehle entgegen. Es ist nicht zu erkennen, daß sein Amtsbereich über den Arbongau hinausreichte. J Ä N I C H E N hat eine Liste derjenigen Personen zusammengestellt, die nach seiner Meinung dieses Tribunenamt bekleidet haben 98 . Waltrams Spitzenahn ist von J Ä N I C H E N selbst nur mit Vorbehalt an den Anfang der Reihe gestellt worden, denn wenn Ratperts Angaben überhaupt glaubwürdig sind, dann war Talto comes, nicht tribunus. Als tribunus wird Erchanold bezeichnet, der im siebenten Jahrhundert im Bodenseeraum seinen Sitz gehabt haben muß, falls die Überlieferung nicht täuscht. J Ä N I C H E N weiß selbst, daß Erchanold einem praeses Otwin unterstand, so daß er kaum ein sehr mächtiger Mann gewesen ist 97 . I n der Gallusvita Walafrieds wird Erchanold dann prae-

9 8 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 135; DERS., Warin, Ruthard und Scrot. Besitzgeschichtliche Betrachtungen zur Frühgeschichte des Stifts Buchau. In: ZWürttLG 14 (1955), S. 378; DANNENBAUER, Bevölkerung und Besiedlung Alemanniens, S. 291 f. 9 4 M E Y E R V O N K N O N A U Mitt. St. Gallen 13 (1872), S. 5, Anm. 9 (zitiert nach MAYER, Staat und Hundertschaft, S. 105). 95 U B St. Gallen I 85. Weitergehende Kombinationen beruhen nur auf gleichen und ähnlichen Namen. Sie sind ganz unsicher. 9 8 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 136 ff. 9 7 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 136.

I. Die Alamannen fedi vicarius genannt, was ein Licht auf die Bedeutung des Tribunustitels in der Zeit des Autors wirft 9 8 . Eine der Hauptstützen für die Annahme einer höchst bedeutenden Stellung des Tribunus ist die Nennung eines Fulchernus tribunus in einer elsässischen Urkunde für Kloster Murbach von 728". J Ä N I C H E N hat Fulchernus zwar nur mit Vorbehalt in die Reihe seiner Huntarenvorsteher aufgenommen, benutzt ihn aber als Beleg für den hohen Rang des Tribunenamtes als Institution, da er an der Spitze aller weltlichen Würdenträger als Zeuge aufgeführt wird 1 0 0 . Die Urkunde ist freilich nur in einer Abschrift aus dem Ende des achten Jahrhunderts überliefert, und die Zeugenreihe bietet ein recht ungewohntes Bild, da geistliche und weltliche Zeugen bunt durcheinandergewürfelt sind. An sechster Stelle steht der Tribunus, an zehnter Graf Wolfoald, an fünfzehnter Herzog Leodefred und an sechzehnter Graf Eberhard, alle zwischen den Angehörigen des geistlichen Standes, die ihrerseits keineswegs nach ihrem Rang in der kirchlichen Hierarchie aufgezählt werden. Presbyter stehen vor Äbten, Äbte vor Bischöfen. Selbst wenn dieser Zeugenreihe ein noch nicht erkanntes Ordnungsprinzip zugrunde liegen sollte, ist es nicht möglich, aus der Stellung der einzelnen Personen in der Zeugenreihe auf ihren Rang zu schließen. Als Beleg für den hohen Rang des Tribunenamtes scheidet sie jedenfalls aus. I m Gebiet der Baaren und Huntaren amtierte auch der Tribunus Albuin, der im Jahre 764 im Aitrachtal bezeugt ist 101 . Nach ihm ist vielleicht die Albuinsbaar benannt, die nicht weit davon entfernt ist 102 . J Ä N I C H E N vertritt die Auffassung, daß der Sitz des Huntarenvorstehers damals von Arbon in das Aitrachtal oder nach Rottweil verlegt worden ist 103 . Er sieht also in Albuin den Nachfolger Waltrams. Dafür gibt es aber keinen anderen Anhaltspunkt als den Titel tribunus. Für alle übrigen Personen, die Jänichen in die Liste der Befehlshaber des Huntarensystems aufgenommen hat, wird nur der Grafentitel, nicht der eines Tribunus bezeugt. Während J Ä N I C H E N in dem Tribunus Albuin den Vorsteher des Huntarenverbandes zu sehen glaubt, hat er einige andere Träger des Tribunustitels nicht in den Kreis seiner Betrachtungen einbezogen. Ein 68

MG, SSrerMerov. I V , S. 313. Reg. Alsat. 1113 (Druck). 1 0 0 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 135: „Ein Tribun war sowieso im 8. Jh. ein Mann von hoher Stellung, denn Fulchernus tribunus tritt in einer M u r bacher Urkunde von 728 an die Spitze sämtlicher weltlicher Würdenträger." 101 U B St. Gallen I 43. Über das Aitrachtal i m Südosten der Bertholdsbaar J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 123 ff. 1 0 2 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 137. 1 0 3 J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 147. 99

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2. Teil : Untersuchungen zur Graf schaf tsverfassung

Lantoldus tribunus wird 789 in einer Urkunde über eine Schenkung von Besitz in Seen bei Winterthur im Thurgau in der Zeugenreihe genannt 104 . Die Urkunde ist in Tänikon ausgestellt worden, wo wahrscheinlich eine größere Gerichtsversammlung getagt hatte, die unter der Leitung des Königsboten Ratold stand. Er führt die Zeugenliste an, dann folgen der iudex Wolfger und an dritter Stelle Lantold 105 . I n der Sub-comite-Formel wird der zuständige Thurgaugraf Udalrich aufgeführt. Lantold dürfte zu den iudices gehört haben, die in der Zeugenankündigung genannt werden. Ob sein Titel tribunus ein anderes Amt bezeichnete als der Titel iudex des vor ihm eingereihten Wolfger, soll zunächst unberücksichtigt bleiben. Ebenfalls im Thurgau amtierte Ascherus tribunus, der als erster Zeuge nach dem Tradenten in einer zu Bettwiesen ausgestellten Urkunde erscheint, in der die Schenkung von Besitzungen in Bettenau bezeugt wird 1 0 6 . Diese beiden Tribunusbelege im Thurgau könnten immerhin noch durch den Hinweis ausgeschaltet werden, daß sie in keinem Zusammenhang mit dem vermuteten Huntarensystem stehen. Anders ist dies bei dem tribunus Oto, der 863 in der Sub-comite-Formel nach dem Thurgaugrafen Adalbert genannt wird 1 0 7 . Die Urkunde ist in Romanshorn am Bodensee ausgestellt, die tradierten Güter lagen in Kesswil, es handelt sich also eindeutig um das Gebiet der Waltramshuntare. Der Sitz des tribunus Arbonensis ist also keineswegs verlegt worden, und auch das Amt ist nicht mit Waltram erloschen, sondern von anderen Personen weitergeführt worden. Waltram hatte Nachfolger, von denen der eine hundert Jahre später noch im gleichen Raum mit dem gleichen Titel auftritt. Der Beweis, daß der tribunus Oto ein anderes Amt als einst der tribunus Waltram innegehabt hat, dürfte nicht zu führen sein. Weitere Aufschlüsse über den Charakter des Tribunustitels lassen sich aus der Nennung eines Otharius tribunus gewinnen, der in der Zeit um 900 lebte und dessen Persönlichkeit einigermaßen faßbar ist 108 . I n einer Urkunde, die ins ausgehende neunte Jahrhundert gehört, steht er mit dem Titel centurio an der Spitze der Zeugen 109 . Ausstellungsort ist Algetshausen im Thurgau, wo auch die tradierten Besitzungen lagen. I n einer allerdings erst nach seinem Tode ausgestellten 104

UB St. Gallen I 120. coram presentibus iudicibus et cetero populo , quorum hic signacula continentur: Signum Ratoldi misst domni regis , sig. Wolfgaeri iudicis, sig. Lantoldi tribuni. 106 UB St. Gallen I I 578. 107 UB St. Gallen I I 494. 108 Er war ein Bruder Notkers des Stammlers. Vgl. die ausführlichen Erörterungen von M E Y E R V O N K N O N A U , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht, S. 114 ff. U B St. Gallen I I , Anhang 3 sig. Otharii centurionis; ferner 887 UB St. Gallen I I 658 sub Adalberti comité , centuno Hothario. 105

I. Die Alamannen Urkunde heißt er Otharius quondam tribunus 110. an der Ausstellung der Urkunde als Empfänger Angabe trotz des zeitlichen Abstandes durchaus ergibt sich, daß die Titel tribunus und centurio zeichnen.

Da einer seiner Erben beteiligt war, ist die glaubwürdig. Daraus das gleiche Amt be-

Nach diesen Feststellungen ist zu fragen, ob sich im Bereich der Waltramshuntare vielleicht die Lücke zwischen den Tribunen Waltram und Oto verkleinern oder ganz schließen läßt. Das ist tatsächlich der Fall 1 1 1 . 847 wird in einer zu Goldach über Besitzungen zu Gommerswil ausgestellten Urkunde ein Ruadbertus vicarius genannt 112 . 860 führt ein Lantfridus centurio die Reihe der Personen an, die die Übertragung von Besitzungen zu Kesswil an St. Gallen beurkunden 113 . Diese beiden Zeugnisse stammen eindeutig aus der Waltramshuntare. In ihre Nähe führt eine Grenzfestsetzung zwischen Uzwil und Flawil, die coram missis Geroldi comitis, videlicet Ruadberto et Aschario vicariis vorgenommen wurde 114 . Ruadbert dürfte mit dem 847 bezeugten vicarius der Waltramshuntare identisch sein. Der Titel vicarius ist aber schon bei dem Tribunus Erchanold bezeugt. Damit schließt sich die Kette der Beweisführung. I m Arbongau gibt es wenigstens seit der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts bis zum Ausgang der Karolingerzeit einen Amtsträger, der unter der Bezeichnung tribunus, centurio und vicarius in den Quellen erwähnt wird. Sein Amtsbereich ist auf den Arbongau oder sogar nur auf einen Teil desselben beschränkt, und es gibt keine Beweise dafür, daß er der Chef eines Huntarenverbandes im alamannischen Raum gewesen ist. Die volkssprachliche Bezeichnung dürfte hunno gewesen sein 115 . Für die Existenz eines solchen unter einheitlicher Führung stehenden „Huntarenverbandes" gibt es keinerlei überzeugende Argumente. Da es sich gezeigt hat, daß Waltram keineswegs der letzte tribunus Arbonensis gewesen ist, sondern daß er noch eine Reihe von Amtsnachfolgern gefunden hatte, wird auch die Deutung der Waltramshuntare als Allodialherrschaft der Waltramssippe in Frage gestellt. Waltram selbst hat, wenn man der Überlieferung Vertrauen schenkt, grundherrliche Rechte über das Gebiet um die alte Galluszelle beansprucht und über die klösterliche Niederlassung wie ein Eigenkirchenherr verfügt. Seine Witwe Waltrada übergab 779 mit Zustimmung 1 1 0 U B St. Gallen I I I 8 0 1 ; zur Datierung auf 9 5 2 / 5 3 vgl. M E Y E R V O N K N O N A U , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht, S. 125 Anm. 2. 111 Über die Zentenare i m Thurgau M E Y E R V O N K N O N A U , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht, S. 110 ff. 112 U B St. Gallen I I 402. 118 U B St. Gallen I I 472. 114 UB St. Gallen I I I , Nachtrag S. 686 nr. 5. 115 Vgl. Anm. 117; vielleicht war auch Schultheiß eine volkssprachliche Form (vgl. Anm. 121).

7 Schulze

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaf tsverfassung

ihrer Söhne ihren Besitz in Romanshorn mit der Kirche an St. Gallen 116 . Ihr Sohn Waltpert erhielt ihn gegen einen jährlichen Zins zurück und gestattete den Klosterleuten die Nutzung eines benachbarten Waldes. Diese Nachrichten genügen nicht, um die Waltramshuntare als Herrschaftsbereich der Tribunenfamilie zu interpretieren, zumal sich auch sonst fremder Grundbesitz nachweisen läßt. Die Waltramssippe war offensichtlich nur eine von vielen grundherrlichen Familien des Arbongaues. Es bleibt aber ein ungelöster Rest um den Namen Waltramshuntare, der nur kurz aufscheint und dennoch die Erinnerung an die längst vergangene Amtszeit des Tribunen Waltram wachhielt. Auf das Namenproblem wird bei der Behandlung der Huntaren und Baaren noch zurückzukommen sein. Die Deutung der Waltramshuntare als den Amtsbezirk eines Zentenars (hunno, huntaris, huntarius) 117, die für die ältere Forschung ganz selbstverständlich war, führt zu der umstrittenen Frage, was denn eigentlich unter einem Zentenar und einer Zentene zu verstehen sei. Der Thurgau bietet auch hierfür ein geeignetes Untersuchungsfeld, obgleich das Problem selbstverständlich nicht von einem Punkt aus gelöst werden kann. Der notwendigen Gesamtbehandlung müssen aber einige Einzeluntersuchungen vorausgeschickt werden. T H E O D O R M A Y E R hatte richtig die Bezeichnungen tribunus und centenarius als verschiedene lateinische Titel für das gleiche Amt erkannt. Für seine Deutung als Befehlshaber einer fränkischen Kastellbesatzung könnte die Beobachtung, daß das ehemalige Römerkastell Arbon offenbar den Mittelpunkt des nach ihm benannten Gaues bildete, als Beweis ins Feld geführt werden. Die Bezeichnung tribunus Arbonensis macht es wahrscheinlich, daß der Tribunus in Arbon seinen Sitz hatte. Da die Waltramshuntare auf keinen Fall die Grundherrschaft des Tribunus gewesen sein kann, mußte man sie dann als Befehlsbereich des Zentenars auffassen 118. Es 116

U B St. Gallen 185. Dt.RWB V I , Sp. 109, wo hunteri angeführt wird, ferner huntari, huntarius. Zum Sprachlichen ferner J Ä N I C H E N , Baar und Huntari, S. 115 f.; B A C H , Ahd. hunto, hunno — huntari — mit. hunria, mhd. hunrie sprachlich betrachtet- In: RhVjbll. 18 (1953), S. 17—29. P O L E N Z , Landschafts- und Bezirksnamen I , S . 1 5 5 hunto, hunno. Centurio wird im Fuldaer Tatian 2 1 0 , 1 mit hunteri glossiert, was nach P O L E N Z eine 117

Analogiebildung zu lat. centurio/centenarius ist. Die Formen huntaris und huntarius nennt M A Y E R , Staat und Hundertschaft, S. 1 0 3 und 1 0 6 unter Berufung auf J Ä N I C H E N , Huntari und Hundersingen. Belege sind mir nicht bekannt. 118 Die Deutung des Huntari als Grundherrschaft besonders bei T H E O D O R M A Y E R , Staat und Hundertschaft, S. 1 0 6 : „ . . . ihr Führer war der Huntaris oder Huntarius und die von ihm begründete Grundherrschaft war die Huntari." Ähnlich DERS., Konstanz und St. Gallen in der Frühzeit, S. 298: „Wir sind über den Charakter der Huntaren einigermaßen unterrichtet und dürfen annehmen, daß es sich bei ihnen um Grundherrschaften handelt, die von den Huntaführern im Anschluß an ihr Amtsgebiet durch Rodung ausgebaut worden waren."

I. Die Alamannen bleibt allerdings zunächst die Frage offen, ob man den Zentenar wirklich als den Anführer fränkischer Militärsiedler auf Königsland betrachten darf, wie dies in der neueren Forschimg üblich ist. Das seit langem bekannte Quellenmaterial muß deshalb noch einmal gesichtet werden 119 . Die Tätigkeit der unter verschiedenen Bezeichnungen in den Quellen auftretenden Zentenare, die als Nachfolger Waltrams angesehen werden können, erstreckte sich offenbar über den gesamten Arbongau. Als Ausstellungsorte von Urkunden, in denen der Zentenar genannt wird, erscheinen Goldach und Romanshorn, vielleicht auch St. Gallen, wenn der 789 erwähnte Schultheiß Raginbert ebenfalls in die Reihe der Zentenare aufzunehmen sein sollte 120 . Die häufigen Glossierungen von centurio mit Schultheiß legen diesen Schluß nahe, zumal auch tribunus in gleicher Weise wiedergegeben wird 1 2 1 . Die in den Rechtsgeschäften vorkommenden Besitzungen lagen in Gommerswil, Kesswil und Goldach122. Besonders instruktiv ist die Nachricht über den bereits erwähnten Grenzstreit zwischen Uzwil und Flawil, der vor den beiden Missi des Grafen Gerold, den vicarii Ruadbert und Ascharius, entschieden wurde 128 . Ruadbert begegnet 847 in Goldach, er gehört also in den Arbongau, während man bei Ascharius vermuten kann, daß er der Zentenar einer benachbarten Zentene gewesen ist. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, daß Ascharius in einer zu Bettwiesen ausgestellten Urkunde genannt wird. Bettwiesen und Bettenau, wo der tradierte Besitz lag, schließen westlich an Uzwil an. Ascharius führt in dieser Urkunde den Titel tribunus 124. Die Grenze zwischen Uzwil und Flawil dürfte also ungefähr der Grenze zwischen den Amtsbereichen Ruadberts und Aschars entsprochen haben. I m Thurgau läßt sich ein Bereich erkennen, in dem in der zweiten Hälfte des achten und während des neunten Jahrhunderts die Zentenare Lantold 125 , Erchanbald 126 , Aschar 127, Heitar 1 2 8 und Othar 129 amtierten. Einige von ihnen sind schon ne FÜR DEN Thurgau WYSS, Die freien Bauern, Freiämter und Freigerichte und die Vogteien der Ostschweiz i m späteren Mittelalter. In: DBRS., Abhandlungen zur Geschichte des schweizerischen öffentlichen Rechts, 1892, S. 288 Anm. 1; MBYER V O N K N O N A U , Ein thurgauisches Schultheißengeschlecht, S. 105 bis 139; SPEIDEL, Zürichgau, S. 14 ff. 120 U B St. Gallen I I 402, 494; I 121 signum Raginberti scultaiczi. St. Gallen als Ausstellungsort besagt wenig, aber der tradierte Besitz lag in Goldach im Arbongau. 121 centuno = scoltheize AhdGll. I I I 422; centurio = Schuldheizo Otfrid 4, c. 24, v. 29; tribunus = sculthaizeo, schultheize AhdGll. I I I , 3, 416, 420. 122 U B St. Gallen I 121 (Goldach), I I 402 (Gommerswil), 472, 494 (Kesswil). i 2 S UB St. Gallen I I I , Nachtrag S. 686 nr. 5: coram missis Geroldi comitis, videlicet Ruadberto et Aschario vicariis. 124 U B St. Gallen I I 578. 125 789 UB St. Gallen 120 (tribunus). Die Urkunde ist in Tänikon ausgestellt, das tradierte Gut lag in Seen bei Winterthur. Da neben Lantold noch ein

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaf tsverfassung bei den Untersuchungen über die Bedeutung des Titels tribunus erw ä h n t worden. Zentenare finden sich auch i m Zürichgau, u n d z w a r i n einem R a u m , der sich v o m Nordufer des Züricher Sees bis an die Grenze zwischen T h u r g a u und Zürichgau erstreckte. H i e r grenzten offenbar auch zwei Amtsgebiete aneinander; Überschneidungen k o m m e n nicht vor. I m Zürichgau erscheinen unter verschiedenen lateinischen Bezeichnungen die Zentenare Perchtgar 1 3 0 , A m a l r i c h 1 3 1 , F r a n k o 1 3 2 u n d Z u p p o 1 3 3 , die offenbar alle den gleichen Amtsbereich innegehabt haben. M a n w i r d für diese Bezirke den Ausdruck Zentene verwenden dürfen, obgleich der Terminus centena i n den U r k u n d e n für den Bereich von T h u r g a u und Zürichgau nicht vorkommt. N u r i n einer F o r m e l aus den St. Galler Sammlungen, die sich auf den T h u r g a u bezieht, w i r d der Ausdruck centuria v e r w e n d e t 1 3 4 . D i e Zentenen scheinen geschlossene Räume gebildet z u haben, die gegeneinander fest begrenzt waren. W ä h r e n d die Zentene i m Arbongau m i t dem G a u übereingestimmt zu haben scheint, treten i n T h ü r - u n d Zürichgau n u r i n zwei großen Geiudex Wolfgaer genannt wird, könnten die Orte in verschiedenen Zentenen gelegen haben. Seen gehörte vielleicht zu der Zentene i m nördlichen Zürichgau. Wirkliche Klarheit ist allerdings nicht ohne weiteres zu gewinnen. 126 UB St. Gallen I 332 (830 sub Erchanbaldo comité et Erchanbaldo centurione). 127 UB St. Gallen I I I , Nachtrag S. 686 nr. 5; I I 578. Die beiden Urkunden gehören in die Mitte des neunten Jahrhunderts in die Amtszeit des Grafen Gerold, der in der Sub-comite-Formel genannt wird. Die von W A R T M A N N Z U Nr. 578 gegebene Datierung auf 874 (868) ist zu spät, das Datum offenbar korrumpiert (vgl. dazu die Erläuterungen WARTMANNS). Wahrscheinlich ist unter dem imperator Ludwig nicht Ludwig der Deutsche, sondern Ludwig der Fromme zu verstehen. W A R T M A N N schlug selbst vor, das Herrscher jähr X X X V I in X X V I zu ändern. Man kommt dann bei Ludwig dem Frommen auf den 20. M a i 840, gerade in die Zeit, i n der Gerold wieder die Grafschaften i m Thurgau und i m Zürichgau verwaltete. I n diese Zeit passen auch die Namen der Zeugen. 128 873 U B St. Gallen I I 527 signum Heitarii centurionis; Besitz in Uzwil. 129 887 U B St. Gallen I I 658 sub Adalberti comité , centurio Hothario (Ausstellungs- und Schenkungsort war Wängi). Othar als centurio nochmals U B St. Gallen I I , Nachtrag S. 383 nr. 3 (zur Umdatierung dieser Urkunde auf 899/900 vgl. S. 89, Anm. 67). Tribunus U B S t Gallen I I I 801 ex traditione Otharii quondam tribuni. 130 826 U B St. Gallen I 297 sig. Perahtgarii castaidi. Das Wort Gastalde stammt aus dem langobardisch-italienischen Bereich. U m einen Gastalden i m langobardischen Sinne handelt es sich ohne Zweifel nicht. Die Urkunde ist auf einem Gerichtstag zu Eschenbach ausgestellt (actum in Esgibah in publico placito ), der tradierte Besitz lag in Rüetschwil, Kirchgemeinde Bäretschwil. Über den auch in einer Mirakelgeschichte aus Fulda erwähnten Perachtgar ( M G S S X V , S . 331) SPEIDEL, Zürichgau, S . 23. 131 UB St. Gallen I I 423 (853), 480 (861), 566 (841/72), 567 (841/72). 132 U B St. Gallen I I 603: sub comité Ruodolfo et centurio Franchoni. 133 UB St. Gallen I I 641. 134 Coll. Sang. add. M G F F S. 435: in comitia N., in Durgewe, in centuria ilia , in loco qui dicitur Ν.

I. Die Alamannen

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bieten Zentenare auf. Es gibt allerdings keine anderen Anhaltspunkte dafür, daß die Zentenen Sonderbezirke gewesen sind, etwa Verbände von Königsleuten auf Königsland. Es wäre deshalb zu prüfen, ob das gewonnene Bild mit der einseitig durch die St. Galler Besitzpolitik bestimmten Überlieferung zusammenhängt, so daß andere Zentenen im Thurgau und Zürichgau nur deshalb nicht in Erscheinung getreten sind. I n der älteren Literatur gilt das spätere Freiamt Affoltern als Rest einer Zentene. Die Zentenare haben in ihren Bezirken zweifellos Verwaltungs- und Gerichtsfunktionen ausgeübt. Das beweist vor allem ihre Nennung in der erweiterten Sub-comite-Formel 135 , die den Schluß zuläßt, daß sie Amtsträger waren, die unter dem Grafen standen. In die gleiche Richtung deutet die schon zitierte St. Galler Formel: in comitia N., in Durgewe, in centuria

ilia,

in loco qui dicitur

Ν. D i e Zentenare w e r d e n

meist als Zeugen bei Liegenschaftsgeschäften genannt, sie fungierten als Richter und konnten vom Grafen mit missatischen Aufträgen betraut werden 136 . Die räumliche Verteilung der Zentenen oder vorsichtiger des Tätigkeitsbereiches der Zentenare könnte als Indiz dafür gewertet werden, daß die Zentenen Sonderbezirke von Siedlern auf Königsland sind. Ein engerer Zusammenhang mit dem karolingischen Königsgut ist aber sonst nicht zu erkennen. Vor allem ist es auffällig, daß um Zürich, den wichtigsten Königshof dieses Raumes, gerade keine Zentene nachzuweisen ist 137 . Die Zentenare und die mit ihnen zusammen auftretenden Personen sind offenbar freie Alamannen mit größerem oder kleinerem Grundbesitz, von denen einzelne selbstverständlich auch Königsgut als Lehen oder gegen Zins innegehabt haben können 138 . Es ist wahrscheinlich, daß es auch in den Gebieten Zentenen gegeben hat, für die uns die Überlieferung deshalb im Stich läßt, weil es St. Gallen nicht gelungen ist, dort größere Besitzungen zu erwerben 139 . Südlich des Züricher See, wo ältere Belege für Zentenare fehlen, gibt es später das Freiamt Af foltern, das schon von der älteren Forschung als Rest einer Zentene betrachtet wurde 140 . Die grundsätzliche Frage, ob die Zentenen Untergliederungen der Grafschaften oder Sonderbezirke für Siedler auf Königsgut waren, wird für Alamannien noch im Zusammenhang zu erörtern sein. 135

Belege vgl. S. 80, Anmerkung 15. U B St. Gallen I I I , Nachtrag S. 686 nr. 5. 137 Über Zürich grundlegend F R I E D R I C H V O N W Y S S , Geschichte der Entstehung und Verfassung der Stadt Zürich. In: Abh. zur Geschichte des schweizerischen öffentlichen Rechts, 1892, S. 340 ff. 138 U B St. Gallen I I 712; Bestätigung durch Arnulf DArn 151. 139 Vgl. die Karte über den Besitz des Klosters St. Gallen von M E Y E R V O N K N O N A U (Beilage zu dessen Exkursen über St. Gallen). 140 F R I E D R I C H V O N W Y S S , Freie Bauern, Freiämter, Freigerichte, S . 1 8 8 ff. 138

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftserfassung

Es ist im Rahmen dieser Arbeit selbstverständlich nicht möglich, den gesamten alamannischen Raum mit der gleichen Intensität zu untersuchen, zumal die Quellenlage in den meisten anderen Gebieten ungleich schlechter als im Thurgau und Zürichgau ist. Die Ungunst der Überlieferung ließe sich nur durch intensive kleinräumige Untersuchungen unter Heranziehung späterer Quellen etwas kompensieren. Der folgende Überblick über Gaue und Grafschaften in Alamannien muß deshalb als ein Versuch gewertet werden. I m östlichen Schwaben, dem schon gebirgigen und stark bewaldeten Gebiet zwischen Bodensee und Lech, werden in der spärlichen urkundlichen Überlieferung einige Gaue genannt, die sich aber nur ungefähr umgrenzen lassen141. An der oberen Iiier und um den Alp-See lag der Alpgau, dessen Name im noch heutigen Landschaftsnamen Allgäu fortlebt. I m Norden schlossen sich der Nibelgau, der Illergau, der Keltensteingau und der Gau Duria an, noch weiter nördlich der Augstgau 142 . H A N S M A R T I N S C H W A R Z M A I E R hat sich mit diesem Raum beschäftigt 143 . Das Schwergewicht seiner Untersuchungen liegt aus Überlieferungsgründen auf der Geschichte der dortigen Klöster, doch sind auch die wenigen Grafenbelege für die Karolingerzeit zusammengestellt worden 144 . S C H W A R Z M A I E R ist der Auffassung, daß die Landschaft erst verhältnismäßig spät besiedelt wurde und „daß noch im beginnenden 9. Jahrhundert keine eigentliche Durchorganisation der Landschaft im Sinne der karolingischen Grafschaftsverfassung" erfolgt war 1 4 5 . Angesichts der geringen Überlieferung wird man diese Ansicht als eine mögliche Hypothese gelten lassen können. Für den Alpgau14® zeigen selbst die wenigen Belege, daß er stets unter dem gleichen Grafen gestanden hat, der auch die Grafschaft Linzgau verwaltete 147 . Als Grafen im Bereich des Alpgaues sind Konrad 839, Udalrich 860—872 und noch einmal Udalrich 894—905 erwähnt 148 . Die Frage, ob der Alpgau eine eigene Grafschaft bildete oder Bestandteil der großen Grafschaft Linzgau war, ist nicht mit voller Sicherheit zu beantworten. Die Tatsache, daß der Alpgau im Hochmittelalter als besondere Grafschaft erscheint 141 Gaukarten von B A U M A N N , Gaugrafschaften, sowie PETER V O N POLENZ (Beilage zu Band I I der Landschafts- und Bezirksnamen, noch ungedruckt). 142 Vgl. die Karte auf S. 14/15 im Historischen Atlas von BayerischSchwaben, 1955. 143 H A N S M A R T I N SCHWARZMAIER, Königtum, Adel und Klöster im Gebiet zwischen oberer Iiier und Lech, 1961. 144 SCHWARZMAIER, Königtum, S. 48 f. 1 4 5 SCHWARZMAIER, Königtum, S. 58. 146 Neben SCHWARZMAIER sind zu nennen F. L. B A U M A N N , Die Geschichte des Allgäus, 3 Bände 1883; DERS., Der Alpgau, seine Grafen und freien Bauern. In: B A U M A N N , Forschungen zur schwäbischen Geschichte, 1 8 9 9 , S . 1 8 6 ff.; U L R I C H CRÄMER, Das Allgäu. Werden und Wesen eines Landschaftsbegriffs. 1954 (Forsch, zur deutschen Landeskunde 84). 1 4 7 B A U M A N N , Der Alpgau, S. 202 ff. 148 UB St. Gallen I 380; I I 476, 542, 696, 744.

I. Die Alamannen

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(Grafschaft Eglofs, 1243 comitatus in Albegowe) 149, kann als Indiz dafür angesehen werden, daß die Grafen aus dem Hause der Weifen und der Udalrichinger zwei benachbarte Komitate in Personalunion vereinigt hatten. Allerdings bedarf es erneuter Untersuchung, ob die hochund spätmittelalterliche Grafschaft Eglofs wirklich eine Fortsetzung einer karolingischen Grafschaft darstellt, wie dies in der älteren Forschung als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Der Nibelgau, der seinen Namen von der Nibel, der älteren Bezeichnung für die Eschach, erhalten hat, wird erstmals im Jahre 766 genannt 150 . I n der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts verschwindet der Name wieder aus der Überlieferung. Der Mittelpunkt des Gaues war der Ort Leutkirch, der wegen seiner interessanten Namensformen schon mehrfach die Aufmerksamkeit der Forschung erregt hat 151 . Hier befand sich das kirchliche Zentrum, die ecclesia publica, die „Leutkirche"; sie hat dem Ort schließlich für dauernd den Namen gegeben. Für den Nibelgau ergibt sich eine einigermaßen vollständige Grafenreihe: Gozbert I. 766, Stenhart 788—797, Rifoin 802, Waning I. 805 bis 827, Ruachar 820, Adaiger 834, Pabo 848—853, Gozbert II. 856—872, Waning II. 868 und Udalrich 879—884152. Der Nibelgau dürfte eine eigene Grafschaft gebildet haben, da die Grafenreihe nur gelegentlich Berührungspunke mit denen der Nachbarkomitate aufweist. Die Amtsperiode Wanings I. wird 820 einmal durch Ruachar unterbrochen, der auch im Linzgau 817 an die Stelle eines anderen Grafen getreten war. Politische Gründe für diesen Wechsel, der in der Grafschaft des Nibelgaues nur kurz gewesen sein kann, sind zu vermuten. Die Gründe für das Auftreten Wanings II. 868 während der Zeit Gozberts II. sind undurchsichtig. Waning war Graf im Illergau 153 . Die Namen Gozbert und Waning, die je zweimal in der Grafenreihe erscheinen, legen die Vermutung nahe, daß es im Nibelgau eine Familie gab, die wiederholt den Grafen stellte. K A R L S C H M I D hat die Sippe mit dem Leitnamen Gozbert, die in engen Beziehungen zum Kloster Rheinau stand, ausführlich untersucht. Zu ihr dürften auch die Grafen im Nibelgau gehört haben 154 . Für den Nibelgau stellt sich bei der Betrachtung der späteren Überlieferung ein ähnliches Problem wie für den Alpgau, die Frage nach dem Ursprung der sogenannten „Freien auf der Leutkircher Heide" 155 . Der Alpgau, S. 225 ( U B Württ. I V 1004). UB St. Gallen I 49; B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 37. 1 5 2 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S. 33 ff. 153 Mon. Boica 31 nr. 37. 154 K A R L S C H M I D , Königtum, Adel und Klöster zwischen Bodensee und Schwarzwald. In: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels, S. 267 ff. 155 A D O L F D I E H L , Die Freien auf Leutkircher Heide. In; ZWürttLG 4 (1940), S. 257—341. 1 4 9

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BAUMANN,

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2. Teil: Untersuchungen zur Grafschaftserfassung

Besonders gering sind die Nachrichten über die Graf schaf tsverhältnisse im Heistergau und im Rammagau 156 . I m Rammagau werden Stenhart 778 und Arnulf 894 als Grafen bezeugt, im Heistergau amtierte am Anfang des neunten Jahrhunderts Graf Hitto 1 5 7 . B A U M A N N hat den Heistergau schon zum Gebiet der Baaren gerechnet 168, was durchaus zuzutreffen scheint. Der Mittelpunkt des Gaues war Heisterkirch, das interessante Parallelen zu Leutkirch im Nibelgau aufweist. Der Ort führte offensichtlich auch den Namen Heistergau und besaß wie Leutkirch eine ecclesia popularis 159. Bereits B A U M A N N hat darauf aufmerksam gemacht, daß Schwörzkirch in der Schwerzenhuntare eine weitere Parallele dazu darstellt 160 . Man stößt damit auf eine Art von „Gaukirchen", wie sie die Forschung für Sachsen vermutet hat. A m Bodensee schließt sich westlich an den Linzgau der Hegau an 161 . Er war bereits in der alamannischen Frühzeit verhältnismäßig dicht besiedelt 162 und bildete offenbar stets eine besondere Grafschaft 163 . Mehrfach war die Grafschaft im Hegau mit anderen Komitaten in der Hand eines Grafen vereinigt. Das war schon bei Ruadbert, dem ersten bekannten Hegaugrafen, der Fall 1 6 4 . Ihm folgte wie im Linzgau sein Neffe Udalrich 165 . I m Jahre 829 erscheint der schon mehrfach erwähnte Graf Ruachar, der vermutlich auch im Hegau die Udalrichinger abgelöst hatte 166 . I m Laufe des neunten Jahrhunderts folgten die Grafen Alpkar 1 6 7 , Ato 1 6 8 und Adalbert 169 , am Anfang des zehnten Jahrhunderts Burchard 170 . Innerhalb der Grafschaft werden vereinzelt noch andere Landschaftsnamen faßbar, Pagus Untersee, Aitrachtal, Hori 1 5 8 B A U M A N N , Gaugrafschaften, S . 59 ff.; ferner die interessante Untersuchung von ALFONS SCHÄFER, Weißenburger Fiskalzehnt und fränkisches Königsgut im Heistergau und Rammagau in Oberschwaben. In: ZWürttLG 25 (1966), S. 13 bis 34. 157 Stenhart U B St. Gallen I 82, als Graf im Nibelgau I 117, 144; Arnulf U B St. Gallen I I 694; Hitto U B St. Gallen I 199, 228. 158 y g i