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German Pages 277 Year 2001
ROBERT LEWANDOWSKI
Die Geschichte der polnischen Lehre vom Irrtum im Strafrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 123
Die Geschichte der polnischen Lehre vom Irrtum im Strafrecht Unter besonderer Berücksichtigung des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe
Von
Robert Lewandowski
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Lewandowski, Robert: Die Geschichte der polnischen Lehre vom Irrtum im Strafrecht: unter besonderer Berücksichtigung des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe I Robert Lewandowski. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum Strafrecht; H. 123) Zug!.: Mainz, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09875-7
Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany
© 2001
ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-09875-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 EI
Meiner Mutter in Dankbarkeit
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1998/1999 vom Fachbereich Rechtsund Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Besonderen Dank schulde ich meinem hochverehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Justus Krümpelmann, für die vielen anregenden Gespräche, die bis in meine Studienzeit an der Universität Mainz zurückgehen und ohne die diese Arbeit nicht entstanden wäre. Danken möchte ich aufrichtig Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Andrzej Zoll, der das Thema der Arbeit angeregt hat, sie engagiert begleitete und förderte und mir Gelegenheit gab, mich mit der Thematik an der JagelIonischen Universität Krakau auseinanderzusetzen. Mein Dank gebührt ferner Herrn Professor Dr. Kazimierz Buchala und Herrn Professor Stanislaw Waltos für ihre stete Bereitschaft zum fachlichen Disput sowie den Rechtshistorikern Herrn Professor Dr. Stanislaw Plaza und Herrn Professor Dr. Waclaw Uruszczak für ihre wertvollen Hinweise. Dankbar bin ich auch den wissenschaftlichen Assistenten am Lehrstuhl für Strafrecht an der JagelIonischen Universität Krakau, den Herren Dr. Wlodzimierz Wr6bel, Dr. Piotr Kardas und Dr. Jaroslaw Majewski, für ihre Anregungen und den Mitarbeitern der juristischen Fachbereichsbibliothek in Krakau für ihre Hilfe bei der Literaturrecherche. Schließlich gilt mein Dank Frau Ursula Streng und Frau Katharina Kolanek, die das Manuskript und die Druckvorlage mit großer Sorgfalt und Ausdauer angefertigt haben. Die Arbeit widme ich meiner Mutter, die ihre Entstehung verständnisvoll begleitet und in vielfältiger Weise unterstützt hat. Mainz, im November 2000
Robert Lewandowski
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung..... .... .................................. .................. ............................... .............. 19 B. Historischer Überblick über die Gesetzeslage in Polen bis 1932 .................... 22 I. Einführung ........................................................................................................ 22 11. Besatzungszeit (1772 - 1918) ............................................................................ 23 1. Strafrecht in Galizien .................................................................................... 23 2. Strafrecht in dem von Preußen annektierten Land ........................................ 23 3. Strafrecht im Herzogtum Warschau und im Königreich Polen ..................... 23 III. Der Zeitraum von 1918 bis 1932 ....................................................................... 25
c. Polnische Verbrechens- und Irrtumslehre im 19. Jahrhundert ..................... 26 D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932 ....................................................................... 30 I. Dogmengeschichtlicher Hintergrund ................................................................ 30
II. Allgemeines über die damalige Verbrechenslehre ............................................ 31 III. Irrtumslehre ....................................................................................................... 33 Vorbemerkung .................................................................................................. 33 1. Zum Begriff des Irrtums ............................................................................... 34 2. Die Stellung des Irrtums im Verbrechensaufbau .......................................... 34 3. Der Stand der polnischen Irrtumsdogmatik .................................................. 34 a) Rechtslehre ............................................................................................... 34 b) Rechtsprechung ........................................................................................ 38 aa) Allgemeines ..................................................................................... 38 bb) Die reichsgerichtliche Lehre vom außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsirrtum und Tatirrtum ................................... 38 cc)
Die Stellungnahme in der deutschen Lehre zu der Irrtumsunterscheidung des Reichsgerichts .......................................................... 39
Inhaltsverzeichnis
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dd) Die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts .................. 40 (1) Urteile vom 25.06. und 20.04.1921 (zu § 59 RStGB) ............... 40 (2) Urteil vom 14. 11. 1921 (zu Art. 43 russ. StGB) ........................ .41 (3) Urteil vom 13. 06. 1922 (zu Art. 43 russ. StGB) ......................... 42 (4) Urteil vom 18. 10. 1922 (zu § 59 RStGB) ................................. .43 (5) Urteil vom 27. 11. 1922 (zu Art. 43 russ. StGB) ........................ .44 (6) Urteil vom 11. 02. 1929 (zu § 59 RStGB) ................................. .44 c) Zusammenfassung .................................................................................... 47 4. Die Behandlung von Rechtfertigungsgründen und Rechtswidrigkeit ........... 48 a) Stellungnahmen zum Stand der Forschung in der Lehre .......................... 48 b) Zusammenfassung .................................................................................... 49 5. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe .................................................. 50 a) Rechtslehre ............................................................................................... 50 b) Zusammenfassung.................................................................................... 53 c) Rechtsprechung ........................................................................................ 53 aa) Urteil vom 7.01. 1919 (zu Art. 43 russ. StGB) ............................... 53 bb) Urteil vom 22. 11. 1920 (zu Art. 43, 45 russ. StGB) ....................... 54 cc) Urteil vom 28. 10. 1921 (zu Art. 43, 45 russ. StGB) ...................... 54 dd) Urteil vom 5.02. 1925 (zu § 59 RStGB) ......................................... 55 ee) Urteil vom 30.06. 1927 (zu Art. 43 russ. StGB) ............................. 55
tl)
Urteil vom 24. 10. 1929 (zu § 2 öStGB) .......................................... 56
gg) Urteil vom 10. 12. 1930 ................................................................... 56 d) Zusammenfassung .................................................................................... 56 6. Gesetzentwürfe zum neuen polnischen Strafgesetzbuch ............................... 57
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939 ........................................................................ 59 I. Entstehungsgeschichte des ersten polnischen Strafgesetzbuches ...................... 59 11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932 ...... 60 1. Der Vorentwurfzum Strafgesetzbuch von Makarewicz ............................... 60 2. Der Vorentwurfzum Strafgesetzbuch nach der ersten Lesung ..................... 63 3. Der Vorentwurfzum Strafgesetzbuch nach der zweiten Lesung .................. 64
Inhaltsverzeichnis
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4. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch nach der dritten Lesung ..................... 68 5. Der Gesetzentwurf der Strafrechtskommission der Polnischen Gesellschaft für Kriminalgesetzgebung................................................................ 68 6. Der Gegenentwurf von Makowski ................................................................ 69 7. Das polnische Strafgesetzbuch von 1932 in seiner Endfassung .................... 71 III. Zum Verbrechensaufbau in der polnischen Lehre dieser Zeit ........................... 72 1. Die Auffassung von Glaser und Mogilnicki.. ................................................ 72 2. Die Auffassung von Wolter ........................................................................... 73 3. Die Auffassung von Sliwinski ....................................................................... 75 4. Zusammenfassung ......................................................................................... 76 IV. Die Irrtumslehre ................................................................................................ 76 I. Zum Begriff des Irrtums ............................................................................... 76 2. Zum Stand der polnischen Irrtumslehre (allgemeine Übersicht) ................. 77 a) Rechtslehre ............................................................................................... 77 b) Die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts ........................... 78 aa) Urteil vom 23.08.1934 ................................................................... 78 bb) Urteil vom 10. 01.1935 ................................................................... 78 cc) Urteil vom 20.04. 1936 ................................................................... 79 c) Zusammenfassung .................................................................................... 80 V. Auslegung der Art. 14 § I und Art. 20 § 2 pStGB ............................................. 80
I. Die Auffassung von Wolter .......................................................... .. .............. 81 2. Die Auffassung von Makarewicz .................................................................. 83 3. Die Auffassung von Plawski ......................................................................... 85 4. Die Auffassung von Bzowski ........................................................................ 87 5. Die Auffassung von Aker .............................................................................. 88 6. Die Auffassung von Sliwinski ....................................................................... 90 7. Die Auffassung des Obersten Polnischen Gerichts - Urteil vom 21. 04. 1934 ............................................................................................................ 93 8. Kritik ............................................................................................................. 95 a) Exkurs zu den Begriffen der "Straftat" und "gerechtfertigt" .................... 95 aa) Der Begriff der "Straftat" ................................................................. 96
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Inhaltsverzeichnis bb) Der Begriff "gerechtfertigt" in Art. 20 § 2 ....................................... 98 b) Kritischer Teil und eigener Lösungsversuch ............................................. 99 VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit.. .......................... l03 1. Das Verhältnis der Rechtswidrigkeit zum Tatbestand ................................. 103 2. Die subjekti ven Rechtfertigungselemente ................................................... 105 3. Zu der Lehre von den Konträrtypen ............................................................ 108 VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe .................................................... 110 I. Zur Rechtsnatur der Notwehr- und Notstandshandlung .............................. 110 a) Die Notwehrhandlung ............................................................................. 110 b)Die Notstandshandlung........................................................................... 111 aa) Meinungsstand in der polnischen Lehre ........................................ 11l bb) Standpunkt der Rechtsprechung .................................................... 112 2. Putativrechtfertigung ................................................................................... 113 a) Rechtslehre ............................................................................................. 113 aa) Die Auffassung von Makarewicz ................................................... 113 bb)
Die Auffassung von Glaser ........................................................... 114
cc) Die Auffassung von Wolter ........................................................... 115 (1) Zum Irrtum über die Rechtfertigungsgründe im allgemeinen ..... 115
(2) Exkurs: Die zeitliche Struktur der Rechtfertigung und die Umkehr des Verhältnisses von Wissen und Wollen bei Vorsatz und Rechtfertigungsbewußtsein. Einige kritische Anmerkungen zur These von Wolter. ........................................ 118 (3) Zum Irrtum über ein wertbezogenes und deskriptives Rechtfertigungselement ............................................................. 120 dd) Die Auffassung von Berger und Sliwinski ..................................... 122 (1) Berger ........................................................................................ 122 (2) Sliwinski .................................................................................... 128 ee) Putativnotstand .............................................................................. 130 b) Zusammenfassung .................................................................................. 132 c) Rechtsprechung ...................................................................................... 132 aa) Urteil vom 6. 12. 1932 ................................................................... 132 bb) Urteil vom 27.06.1933 ................................................................. 133 cc) Urteil vom 28. 11. 1933 ................................................................. 133
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dd) Urteil vom 16. 05. 1935 ................................................................. 134 ee) Urteil vom 20. 04. 1936 ................................................................. 134 ff)
Urteil vom 7.05. 1937 ................................................................... 135
d) Zusammenfassung ................................................................................. 135 F. Der Zeitraum von 1945 bis 1969 ...................................................................... 138 I. Verbrechenslehre ............................................................................................. 139
1. Das Kriterium der sozialen Gefahrlichkeit und seine Funktion .................. 140 2. Das Verhältnis zwischen sozialer Gefahrlichkeit und Rechtswidrigkeit .... 143 3. Die Diskussion um den Schuldbegriff ........................................................ 147 4. Zusammenfassung ...................................................................................... 148 H. Irrtumslehre .................................................................................................... 150 1. Rechtslehre ................................................................................................. 150 a) Allgemeines ........................................................................................... 150 b) Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe .......................................... 153 aa) Allgemeines über die Behandlung von Rechtfertigungsgründen in der Lehre ................................................................................... 153 bb) Die überwiegende Auffassung in der Lehre .................................. 155 cc) Die Auffassung von Andrejew ...................................................... 156 dd) Die Auffassung von Zoll (Frühwerk) ............................................ 156 ee) Die Auffassung von Wolter und Mllcior ....................................... 158 (1)
Der frühe Wolter ....................................................................... 158
(2) Mllcior ....................................................................................... 160 (3) Der spätere Wolter .................................................................... 165 c) Zur Kritik der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ........... 172 d) Zusammenfassung ................................................................................. 174 2. Rechtsprechung .......................................................................................... 174 a) Zum Irrtum im aIlgemeinen ................................................................... 174 aa) Urteil vom 24. 01. 1946 ................................................................. 175 bb) Urteil vom 24. 09. 1946 ................................................................. 175 cc) Urteil vom 4. 10. 1946 ................................................................... 175 dd) Urteil vom 22. 06.1950 .................................................................. 176
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Inhaltsverzeichnis ee) Urteil vom 23. 06. 1954................................................................. 176 fl)
Urteil vom 20. 09. 1958 ................................................................. 176
b) Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe............................................ 178 aa) Urteil vom 17. 07. 1945 ................................................................. 178 bb) Urteil vom 12. 07. 1966 ................................................................ 178 cc) Urteil vom 9. 07. 1968 ................................................................... 179 III. Gesetzentwürfe zum polnischen Strafgesetzbuch ............................................ 180 I. Der Entwurf von Sliwinski ......................................................................... 181 2. Der Entwurf von 1951 ................................................................................ 183 3. Der Entwurf von 1956 ................................................................................ 186 4. Der Entwurfvon I 963 ................................................................................ 189 5. Der Entwurfvon 1968 und das Strafgesetz von 1969 ................................. 193 G. Der Zeitraum von 1969 bis 1989...................................................................... 196 I. Die Verbrechenslehre ...................................................................................... 196 1. Allgemeines ................................................................................................ 196 2. Der Schuldbegriffund die Diskussion um die finale Handlungslehre ........ 197 3. Der Begriff der "verbotenen Tat" i. S. des Art. 120 § I pStGB .................. 198 4. Die Auffassung von Zoll ............................................................................. 199 5. Zum Kriterium der sozialen Gefährlichkeit ................................................ 200 6. Die Funktion der sozialen Schädlichkeit und Gefährlichkeit... ................... 202 7. Zum Unrechtsbegriff................................................................................... 204 8. Zusammenfassung ...................................................................................... 206 11. Die Irrtumslehre .............................................................................................. 206 I. Zur Regelung des Irrtums im neuen Strafgesetzbuch .................................. 206 2. Zum Irrtum über die "normativen Klauseln" .............................................. 208 3. Zum Irrtum über die wertenden Merkmale ................................................. 210 4. Zum Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat ........................................... 2 IO 5. Der Irrtum über das Kriterium der sozialen Gefährlichkeit ........................ 2 I 2 111. Die Rechtfertigungsgründe .............................................................................. 2 I 3
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1. Zur Lehre von den Konträrtypen und zur Stellung der Rechtfertigungsgründe im Verbrechensaufbau ................................................................... 213 2. Zum Problem der subjektiven Rechtfertigungselemente ........................... 214 3. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe ............................................... 216 a) Die Auffassung von Wolter und die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ................................................................................ 216 b)Analoge Anwendung des Art. 24 § 1 auf den Fall der Putativrechtfertigung ................................................................................................. 217 c) Putativrechtfertigung als Verbotsirrtum ................................................. 219 d) Die Auffassung von Zoll ........................................................................ 219 4. Das Handeln in Unkenntnis der objektiven Voraussetzungen der Rechtfertigung .................................................................................................... 224 5. Zusammenfassung ...................................................................................... 225 IV. Die Rechtsprechung ........................................................................................ 225 1. Die Behandlung des Tatbestands- und Verbotsirrturns ............................... 225 a) Urteil vom 1. 03. 1982 ........................................................................... 225 b) Urteil vom 9. 03. 1983 ........................................................................... 225 2. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe ................................................ 227 a) Urteil vom 13.03. 1974 ......................................................................... 227 b)Urteil vom 22.06.1979 ......................................................................... 228 3. Zusammenfassung ...................................................................................... 229 V. Entwürfe .......................................................................................................... 230
H. Der Zeitraum von 1990 bis 1997 ..................................................................... 232
1. Verbrechensaufbau .......................................................................................... 232 1. Allgemeines ................................................................................................ 232 2. Zum Problem der Rechtswidrigkeit.. .......................................................... 233 3. Die Schuld .................................................................................................. 234 4. Zusammenfassung ...................................................................................... 235 H. Die Irrtumslehre .............................................................................................. 235 1. Zum Begriff des Irrtums ............................................................................. 235 2. Der Tatbestandsirrtum ................................................................................ 236
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Inhaltsverzeichnis a) Die Rechtsfolge ...................................................................................... 236 b)Zum Irrtum über die normativen Klauseln ............................................. 236 3. Zum Begriff des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe .......................... 238 4. Der Irrtum über die soziale Gefährlichkeit ................................................. 239 III. Der Entwurf des Strafgesetzbuches und das Gesetz ........................................ 240 I. Einiges zur Entstehungsgeschichte ............................................................. 240 2. Der neue Gesetzestext ................................................................................. 241 3. Die amtliche Begründung ........................................................................... 242 4. Die Diskussion über den Entwurf in der polnischen Lehre ........................ 245 a) Verbrechensaufbau ................................................................................. 245 aa) Zum Begriffspaar: Sozialgefahrlichkeit - Sozial schädlichkeit ..... 245 bb) Zur Stellung des Vorsatzes ............................................................ 246 b) Die Behandlung des Irrtums ................................................................... 247 aa) Der Verbotstatbestandsirrtum ........................................................ 247 bb) Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe und Entschuldigungsgründe ................................................................................. 248 cc) Der Verbotsirrtum ......................................................................... 250 IV. Schlußwort ..................................................................................................... 251 Anhang: Wichtige Rechtsquellen ......................................................................... 253 Literaturverzeichnis .............................................................................................. 257 Materialien zur Strafrechtsreform ....................................................................... 273
Sachwortverzeichnis...............................................................................................275
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. AK Anm. Art. Aufl. Bd. BGH BGHSt
am angegebenen Ort Archiwum Kryminologiczne (Kriminologisches Archiv) Anmerkung Artikel Auflage Band Bundesgerichtshof Entscheidung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Amtliche Sammlung) Buchst. Buchstabe CPiE Czasopismo prawnicze i eknorniczne (Zeitschrift für Recht und Wirtschaft) CS Czasopismo Sf(dziowskie (Richterblatt) das heißt d. h. DPP Demokratyczny Przeg1!ld Prawniczy (Demokratische Juristische Rundschau) Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) Dz.U. E Entwurf Festschrift FS Fußnote Fn. Goltdammer's Archiv für Strafrecht GA GAiPP Gazeta Administracji i Policji Panstwowej (Zeitschrift für Verwaltung und Staatspolizei) GP Glos Prawa (Die Rechtsstimme) Glos Sltdownictwa (Die Gerichtsstimme ) GS Gazeta Sltdowa Warszawska (Die Warschauer Gerichtszeitung) GSW Herausgeber Hrsg. Ibidem Ibid. Jahrgang Jahrg. Kapitel Kap. Kodex Karny (Strafgesetzbuch) k.k. Kodex Postf(powania Karnego (Starfprozeßordnung) k.p.k. Kornisja Kodyfikacyjna Rzeczypospolitej Polskiej (KodifikationsK.R.P. kommission der Republik Polen) Krakowskie Studia Prawnicze (Krakauer Juristische Studien) KSP MonKrimPsych Monatschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Nowe Prawo (Neues Recht) NP Nummer Nr. Orzecznictwo Sltdu Najwyi:szego (Rechtsprechung des Obersten OSN Gerichts) Orzecznictwo Sltdu Najwyi:szego - Izba Kama i Izba Wojskowa OSNlKiIW 2 Lewandowski
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OSNiKA OSNKW
OSP OSPiKA öStGB PK PiP PPiA PiZ PP pStGB pStPO
PWP
Rdn. Red. RG RGSt RPiE RPEiS RStGB ross. StGB SchwZStr S. StGB vgl. Vorbem.
WPP
z. B.
Zb.O.S.N. ZfO ZfRW ZNUJ ZStW
Abkürzungsverzeichnis (Rechtsprechung des Obersten Gerichts - Strafkammer und Militärkammer) Orzecznictwo Slldu Najwyzszego i Komisji ArbitraZowych (Rechtsprechung des Obersten Gerichts und der Schiedstellen) Orzecznictwo Slldu Najwyzszego - Izba Kama i Izba Wojskowa (Rechtsprechung des Obersten Gerichts - Strafkammer und Militärkammer) Orzecznictwo SIld6w Polskich (Rechtsprechung der polnischen Gerichte) Orzecznictwo SIld6w Polskich i Komisji Arbitrazowych (Rechtsprechung der polnischen Gerichte und der Schiedsstellen) Österreichisches Strafgesetzbuch. Problemy Kryminalistyki (Probleme der Kriminalistik) Panstwo i Prawo (Der Staat und das Recht) Przegilld Prawa i Administracji (Rechts- und Verwaltungsrundschau) Prawo i :lycie (Das Recht und das Leben) Przegilld Prawniczy (Juristische Übersicht) Polnisches Strafgesetzbuch Polnische Strafprozeßordnung Przegilld Wil;lziennictwa Polskiego (Übersicht über das polnische Gefängniswesen) Randnummer Redaktion Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (Amtliche Sammlung) Ruch prawniczy i ekonomiczny (Juristische und ökonomische Bewegung) Ruch prawniczy, ekonomiczny i sociologiczny (Jurstische, ökonomische und soziologische Bewegung) Reichsstrafgesetzbuch Russisches Strafgesetzbuch Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Seite Strafgesetzbuch vergleiche Vorbemerkung Wojskowy przegilld prawniczy (Juristische Militärrundschau) zum Beispiel Zbi6r Orzeczen Slldu Najwyzszego (Entscheidungssammlung des Obersten Gerichts) Zeitschrift für Ostrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagielonskiego (Wissenschaftliche Hefte der JagelIonischen Universität) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
A. Einleitung Gegenstand dieser Arbeit ist die Darstellung der polnischen Irrtumslehre mit besonderer Berücksichtigung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe. In diese Untersuchung wird vorwiegend der Zeitraum von 1918 bis in die Gegenwart hinein, d. h. bis 1997 einbezogen. Mit dem Jahr 1918 zu beginnen scheint deswegen sinnvoll, weil Polen in diesem Jahr die politische Unabhängigkeit wiedererlangte. Die Behandlung des Irrtums hängt im Strafrecht von dem zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden Verbrechensaufbau ab, der in der Vergangenheit Wandlungen und Änderungen ausgesetzt war. Der Irrtum gehört nach Zoll zu jenen Instituten des Strafrechts, deren Regelung die Auffassung des Gesetzgebers über die Verbrechensstruktur und das Verhältnis der einzelnen allgemeinen Verbrechensmerkmale in hohem Maße widerspiegelt. l Die Arbeit wird daher ein Stück polnischer Dogmengeschichte von 1918 bis 1997 liefern. Neben dem Erlaubnistatbestandsirrtum sollen auch der sog. Tatbestandsirrtum und der Verbotsirrtum bzw. der Erlaubnisirrtum erörtert werden, weil der Fall der Putativrechtfertigung in gewisser Hinsicht eine Resultante dieser Irrtumsarten darstellt und die schon in der Verbrechens- und Vorsatzlehre entstandenen Probleme in besonders schwieriger Weise wieder aufruft. Darüber hinaus beschränkt sich diese Untersuchung nicht auf eine bloße Bestandsaufnahme. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff. Damit man ihm am besten Rechnung trägt, wird eine zeitimmanente Kritik geübt. Um voreilige Deutungen und Wertungen zu vermeiden, wird nicht vorweg ein Standpunkt bezogen. Die Kritik soll aber hinter die Darstellung nicht zurücktreten. Aus dem damaligen Verständnis für die polnische Verbrechens- und Irrtumslehre können erst die Regelungen der einzelnen Rechtsfragen erfaßt und verstanden werden. Diese Arbeit verfolgt keine rechts vergleichende Zielsetzung. Vielmehr soll das polnische Irrtumsrecht primär aus den eigenen Gesetzesquellen der polnischen Literatur und Judikatur erschlossen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die deutsche Strafrechtslehre und Judikatur völlig ausgespart werden. In einigen Bereichen sind freilich auch die Strukturverwandtschaften und EntlZoll, Die Regelung des Irrtums im Entwurf des Strafgesetzbuches ("Regulacja blctdu w projekcie kodeksu kamego") in: Problemy nauk penalnych, Katowice 1996, S. 242. (Der besseren Lesbarkeit wegen wird bei der ersten Erwähnung polnischer Titel die deutsche Übersetzung dem Originaltext vorangestellt und bei allen weiteren ausschließlich verwendet).
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A. Einleitung
wicklungsparallelen so deutlich, daß der Verfasser hier der Versuchung nicht ausgewichen ist, auf entsprechende Lehrmeinungen, richterliche Differenzierungen oder gesetzliche Entwicklungen hinzuweisen. So gibt es etwa Verbindungslinien der obergerichtlichen Judikatur der Zwischenkriegszeit zum Tatund Rechtsirrtwn, die die spätere Irrtumsrechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofes zum Tatbestands- und Verbotsirrtwn schon vorwegnehmen. Weiterhin gibt es natürlich Wechselwirkungen zwischen polnischer und deutscher Doktrin etwa bei der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, die aber in Polen trotz verwandter Fragestellung zur eigenständigen Rechtsfigur fiihrt. Der Irrtwn über normative Merkmale und Komplexbegriffe würde ebenfalls zahlreiche Vergleiche gestatten; darauf wird nur in besonders deutlichen Fällen eingegangen. Jedenfalls stand immer das Bemühen im Vordergrund, das polnische Recht aus sich heraus verständlich zu machen. So wurde darauf verzichtet, das in der neuen Zeit so wichtige Verbrechenselement der sozialen Gefährlichkeit bzw. Schädlichkeit mit Entwicklungen im deutschen Strafrecht und Strafprozeßrecht zu vergleichen. Der Bezug auf die deutsche Strafrechtsdogmatik muß auch deshalb Berücksichtigung finden, weil das polnische Strafrecht vor allem der Zwischenkriegszeit sehr stark von der deutschen Strafrechts lehre beeinflußt worden war. Die Arbeiten von Wolter, Krzymuski und Glaser können dies am besten bezeugen. Außerdem hatten in der Zeit von 1918 bis 1932, also vor dem Inkrafttreten eines polnischen Strafgesetzbuches, die damaligen polnischen Gerichte die Strafgesetzbücher der ehemaligen Besatzungsmächte zur Entscheidungsgrundlage. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 galt z. B. im Posener Gebiet, so daß die Rechtsprechung des Reichsgerichts fiir die Entscheidungen der polnischen Gerichte oft eine Orientierungshilfe war. Von der in Deutschland üblichen Terminologie zur Verbrechens- und Irrtumslehre wurde auch bei der Darstellung der polnischen Institutionen und Lehren einigermaßen unbefangen Gebrauch gemacht. Die polnische Strafrechtslehre hat weniger nach konsistenter und knapper Begrifflichkeit getrachtet, so daß die wörtliche Übersetzung zahlreicher Schlüsselbegriffe wie Tatbestand, Rechtfertigungsgründe usw. den Text schwerfällig und wohl kaum verständlich machen würde. So hat das polnische Strafrecht bis heute keinen einheitlichen Begriff fiir die Bezeichnung des Tatbestandes und damit auch der Tatbestandsmäßigkeit herausgearbeitet. Das mag sicherlich an der Natur der polnischen Sprache liegen, die im Unterschied zu der deutschen keine substantivischen Zusammensetzungen von Wörtern kennt. Für den Begriff des Tatbestandes werden Formulierungen wie: "istota czynu", "istota przest~pstwa", "ustawowa okreslonosc czynu" oder "ustawowy stan faktyczny" gebraucht? 2 Vgl. Wolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems (,,zarys systemu prawa kamego"), Krak6w 1933, S. 83.
A. Einleitung
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Diese Vielzahl von Synonymen erschwert die Präzisierung des Tatbestandsbegriffs, seine Abgrenzung von der Wertungsstufe der Rechtswidrigkeit und die Festlegung seiner sachlichen Funktion innerhalb der Verbrechenslehre. Ähnlich stand es mit Rechtfertigungsgrund: "okolicznosci wy1llczajllce bezprawnosc czynu", bis Wolter den praktischen Begriff des Konträrtypus entwickelte, der sich in Polen durchzusetzen beginnt. Hier war jedoch Vorsicht geboten. Einige Begriffe entziehen sich nahezu der Übersetzung. Das gilt besonders für die bei Irrtumsklauseln häufige Vokabel: "usprawiedliwiony", die in früheren Übersetzungen und Stellungnahmen zum polnischen Recht von deutscher Seite mißverständlich mit "entschuldbar" übersetzt worden ist. 3 Allerdings hat sich beim Textvergleich gezeigt, daß sich der Inhalt dieses Begriffs auch im polnischen Kontext im Laufe der Zeit verändert hat und von bloßer Plausibilität bis zur wirklichen Entschuldigung reicht. Die wörtliche Übersetzung des Begriffs "usprawiedliwiony" mit "gerechtfertigt" würde für den deutschen Leser mit dem Fehlen von Rechtswidrigkeit, gerechtfertigt durch Rechtfertigungsgründe, gleichgesetzt werden, doch führt das in die Irre. Auch "entschuldigt" oder "entschuldbar", schon keine wörtliche Übersetzung mehr, trifft den Sinn jedenfalls älterer Verwendungen des Begriffs nicht. Der folgende Text wird hier eine gewisse Umständlichkeit nicht scheuen, um die Zusammenhänge aufzuzeigen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wurden viele osteuropäische Staaten vor die Aufgabe einer umfassenden Neuordnung ihrer Rechtssysteme gestellt. Am 5. März 1990 hat die polnische Reformkommission der Öffentlichkeit den Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches zur Diskussion vorgelegt, der am 1. September 1998 in Kraft treten soll. Interessant ist, daß dieser Entwurf eine Regelung des Irrtums über die Rechtfertigungsvoraussetzungen enthält. 4 Die in dieser Arbeit gewonnenen Ergebnisse können somit auch für die Neubildung des polnischen Strafrechts von Nutzen sein. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß sie die Fortbildung des deutschen Rechts beeinflussen. Was schließlich die Frage der Rechtsquellen anbelangt, so wird im Rahmen dieser Arbeit all das herangezogen, was das polnische Rechtsleben gestaltete der mitgestaltete. In diesem Umfang und in diesen Grenzen werden Gesetzesrecht, Entwürfe, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft herangezogen. Eine Besonderheit, von der bereits oben die Rede war, ergibt sich für das polnische Strafrecht in der Zeit von 1918 bis 1932, in der in Polen drei fremde Strafrechtssysteme herrschten. Aus diesem Grunde werden die Regelungen des rusischen, österreichischen und deutschen Strafgesetzbuches auch mitberücksichtigt.
3 Vgl. dazu u. a. Busch, Kritische Bemerkungen zum polnischen Strafgesetzbuch, ZStW 55 (1935), S. 629. 4 Ewa Weigend/Zoll, Strafrechtsreform in Polen, ZStW 103 (1991), S. 260.
B. Historischer Überblick über die Gesetzeslage in Polen bis 1932 I. Einführung Die Geschichte des polnischen Strafrechts ist eng mit dem historischen Schicksal des polnischen Volkes verbunden und weist viele Besonderheiten auf. Der polnische Staat verlor gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine politische Unabhängigkeit. Im Jahre 1772 erfolgte die erste Teilung Polens zwischen Preußen und Rußland, an der auch Österreich mitwirkte. 1773 brachen Preußen und Rußland den bewaffneten Widerstand Polens und führten die zweite Teilung durch. Die dritte Teilung 1795 zwischen Rußland und Österreich sowie Preußen löschte Polen aus der Landkarte Europas aus. Es wird angenommen, daß das Jahr 1795 den Geltungszeitraum des "alten polnischen Rechts" abschließt. Unter der Fremdherrschaft lebte die polnische Staatsidee in unverminderter Stärke fort. So begann bereits nach der ersten Teilung eine Reformära, die im Werk des Vierjährigen Reichstags als Verfassung vom 3. Mai 1791 gipfelte. Seit 1797 kämpften polnische Legionen für Frankreich. Im Jahre 1807 schuf Napoleon I. das Herzogtum Warschau in Personalunion mit Sachsen, das aber 1815 durch den Wiener Kongreß wieder aufgeteilt wurde. Daraufhin erfolgte die Abtretung der Posener Provinz an Preußen, die Bildung einer selbständigen Republik Krakau und die Errichtung eines Königsreichs Polen ("Kongreßpolen") auf dem restlichen Gebiet des Herzogtums. Dieses Kongreßpolen war bei anfänglicher Erhaltung seiner Eigenständigkeit mit Rußland in Realunion verbunden. Die Teilungen brachten Polen unter drei fremde Rechtssysteme. Sie lösten Spannungen im polnischen Rechtsleben aus, die auf die Entwicklung der polnischen Strafrechtswissenschaft nicht ohne Einfluß geblieben sind. Im folgenden versuche ich, in dem mir hier zugewiesenen Rahmen einen Überblick über die Gesetzeslage im geteilten Polen zu geben. 1
I VgJ. zum Ganzen eine ausführliche Darstellung im Buch von Plaza, Polnische Rechtsgeschichte ("Historia Prawa w Polsce"), Teil 11., Krak6w 1993.
11. Besatzungszeit (1772 - 1918)
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11. Besatzungszeit (1772 - 1918) 1. Strafrecht in Galizien Nach der Besetzung eines Teiles der polnischen Gebiete durch Österreich (1772) sollte die bisherige polnische Gerichtsordnung in Galizien weiter gelten. In dieser Zeit war in Österreich die Constitutio criminalis Theresiana von 1768 in Kraft. Ihr materieller Teil wurde im österreichischen Teilungsgebiet Polens nicht eingeführt. Im Jahre 1787 wurde das "Allgemeine Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung" (die sog. Josephina) in Österreich erlassen, dessen Geltung sich später auch auf das ganze Galizien erstreckte. Nach dem Tod von Kaiser Joseph 11. wurden Kodifikationsarbeiten an einem neuen Strafgesetzbuch aufgenommen, die 1796 zu Ende gingen. Dieses neue Gesetz trat im österreichischen Teilungsgebiet unter dem Namen "Strafgesetzbuch für Westgalizien" am 1. Januar 1797 in Kraft. Es stellte zugleich die Grundlage für ein allgemeinösterreichisches Strafgesetz über "Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen" von 1803 (die sog. Franciscana) dar, das seit 1804 auch im österreichischen Teilungsgebiet galt. Dieses Strafgesetzbuch wurde schließlich durch ein neues Strafgesetzbuch von 1852 abgelöst, das in Polen bis zum Jahr 1932 in Kraft war.
2. Strafrecht in dem von Preußen annektierten Land Schon im Jahr 1772 wurde in dem von Preußen besetzten Teil das "Ostpreußische Landrecht" vom Jahre 1721 eingeführt, das u. a. strafrechtliche Bestimmungen erhielt. Am 1. Januar 1794 trat in ganz Preußen das "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" in Kraft. Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 bildete dann die Grundlage für das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes von 1870, das nach wenigen stilistischen Änderungen auch auf das preußische Teilungsgebiet ausgedehnt wurde. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das in Polen bis 1932 galt, war keine Neuschöpfung, sondern dehnte die Geltung des Strafgesetzes von 1870 auf die süddeutschen Staaten aus, die dem Bund durch die Novemberverträge von 1870 beigetreten waren.
3. Strafrecht im Herzogtum Warschau und im Königreich Polen In dem von 1807 bis 1815 bestehenden Herzogtum Warschau führte eine Regierungskommission das frühere polnische Strafrecht wieder ein. Das bis zu diesem Jahr geltende "Preußische Landrecht" sollte nur hilfsweise zur Anwendung kommen. In dieser Zeit wurden gleichzeitig Überlegungen angestellt, ne-
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B. Historischer Überblick über die Gesetzeslage in Polen bis 1932
ben dem Napoleonischen Zivilgesetzbuch auch das französische Strafgesetzbuch in Kraft treten zu lassen. Diese Vorschläge stießen jedoch auf heftigen Widerstand des polnischen Adels, weil seine Privilegien im Gesetzbuch unberücksichtigt blieben. Die Verfassungsbestimmungen für das Königreich Polen vom 25. Mai 1815 erhielten das Strafrecht aus der Zeit des Herzogtums Warschau aufrecht. Sie sahen allerdings seine Änderung vor. Dieser Aufgabe nahm sich einer der Ausschüsse der Allgemeinen Gesetzgebungskommission an, die unter der Leitung von Ksawery Potocki sehr rasch einen Gesetzentwurf erarbeitete, der am 26. April 1818 vom polnischen Parlament ("Sejm") erlassen wurde. Im Jahre 1847 wurde das "Gesetzbuch über Haupt-und Besserungsstrafen" entworfen, daß das bisher geltende Strafgesetzbuch am 1. Januar 1848 ablöste. Es lehnte sich an ein russisches Strafgesetzbuch gleichen Namens aus dem Jahr 1845 an, obwohl es von ihm nach Form und Inhalt abwich. Dieses neue Strafgesetzbuch war hauptsächlich vom hervorragenden polnischen Strafrechtlehrer Romuald Hube ausgearbeitet worden. Wegen zunehmender Kritik an seinen strengen Rechtsfolgen wurde es dann aber 1861 außer Kraft gesetzt. Im Jahre 1876 wurde schließlich im Königreich Polen das russische Strafgesetzbuch von 1866 eingeführt. Seit Anfang der achtziger Jahre des 19.Jh. begannen in Rußland die Arbeiten an einem neuen Strafgesetzbuch. Sie endeten mit der Veröffentlichung eines Gesetzestextes im Jahre 1903, der vom russischen Rechtslehrer Tagancew entworfen wurde. Das Strafgesetzbuch von Tagancew spiegelte die neuesten Tendenzen in der Strafrechtslehre sowohl in der legislatorischen Technik als auch in den sachlichen Lösungen wider. Es sah u. a. eine bedingte Aussetzung der Strafe zu Bewährung vor, was einem der Postulate der soziologischen Schule entsprach. Die Regelung der Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortung kann auch als durchaus modem bezeichnet werden. 2 Nur einige Gesetzesvorschriften des Allgemeinen Teils über politische und religiöse Verbrechen wurden in Rußland eingeführt. Nach der Besetzung des Königreichs Polen durch deutsche und österreichische Truppen bestätigten die Deutschen 1915 im Generalgouvernement Warschau die Geltung des Strafgesetzbuches von 1903, da sie irrtümlich davon ausgingen, daß es schon davor in dem durch sie anektierten Teil in Kraft war. Nur im Gebiet von Lublin galt nach wie vor das bisherige Strafgesetzbuch. Erst aufgrund der Verordnung des Vorläufigen Rates für das Polnische Königreich wurde die Geltung des russischen Strafge-
2 Vgl. hierzu BuchalalZoll, Polnisches Strafrecht (,'polskie Prawo Kame"), Warszawa 1995, S. 31.
III. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
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setzbuches von 1903 auf das gesamte Gebiet erstrecke und bis 1932 aufrechterhalten.
III. Der Zeitraum von 1918 bis 1932 Polen wurde am 11. November 1918 als Staat wiederhergestellt. Bis zum Inkrafttreten des neuen polnischen Strafgesetzbuches, d. h. im Zeitraum von 1918 bis 1932, galten also in einzelnen Gebietsteilen Polens nach wie vor die Strafgesetzbücher der ehemaligen Besatzungsmächte. Eine Besonderheit bestand nur für das Gebiet von Spisz und Orawa, in dem das ungarische Strafgesetzbuch von 1878 und das Gesetz über Übertretungen vorläufig in Kraft waren. 4 Mit der Verordnung des Ministerialrates vom 14. September 1922 über die Organisation der Gerichtsbarkeit in Spisz und Orawa wurde die ungarische Gesetzgebung außer Kraft gesetzt. s Die polnische Gerichtsbarkeit wurde am 1. September 1917 errichtet. 6 Eine besondere Aufgabe fiel in der Zeit dem in Warschau errichteten Obersten Polnischen Gericht zu, das als Revisionsgericht seine Entscheidungen auf der Grundlage der einzelnen Strafgesetzbücher der ehemaligen Besatzungsmächte treffen mußte.
3 Krzymuski, Das Strafrechtssystem aus der Sicht der Lehre und der drei in Polen geltenden Strafgesetzbücher ("System Prawa Kamego ze stanowiska Nauki i trzech kodeks6w obowi!lZuj~cych w Polsce"), Krak6w 1921, S. 27ff. 4 Vgl. hierzu S6jka-Zielinska, Rechtsgeschichte ("Historia Prawa"), Warszawa 1993. 5 Gesetzblatt ("Dziennik Ustaw"), 1922, Nr. 90, Nr. 833, S. 1556ff. 6 Bossowski, Strafrecht und Strafprozeßordnung aller Besatzungsgebiete ("Prawo karne i Proces kamy wszystkich dzielnic"), Poznan 1925, S. 36.
c. Polnische Verbrechens- und Irrtumslehre im 19. Jahrhundert
Anfang des 19. Jahrhunderts bildet sich bereits eine polnische Strafrechtslehre heraus. In der Zeit der Teilung Polens entwickeln die polnischen Rechtstheoretiker ihre Auffassungen über das Strafrecht vor dem Hintergrund der damaligen Gesetzgebung. Romuald Hube, der Autor eines der ersten in polnischer Sprache abgefaßten Strafrechtslehrbücher (1830), rechnet zum Tatbestand! nicht nur äußere, sondern auch innere Tatbedingungen, die ihm zufolge erst zusammen mit dem äußeren Tatbestand konstitutiven Charakter haben. 2 Den Tatbestand machen dann der Wille zur Tatbegehung, seine Manifestation und die Rechtsverletzung aus. 3 Nach Hube muß der Handlungswille zugleich rechtswidrig sein, damit die Verantwortung des Täters für einen rechtswidrigen Erfolg begründet ist. 4 Handlungswille und Erfolg müssen vorliegen, damit von einer Tat gesprochen werden kann. Hubes Verbrechensbegriff beruht auf der Trennung zwischen Innen- und Außenwelt des Täters und bleibt der Prototyp strafrechtlichen Unrechts auch für die künftige Zeit. Die Notwehr faßt er als einen Strafausschließungsgrund auf. Ihre Voraussetzungen sind rein objektiver Natur (wie z. B. die Rechtswidrigkeit, Nichtvoraussehbarkeit und Gegenwärtigkeit des Angriffs) und fügen sich ohne weiteres in seinen Verbrechensaufbau ein, der neben dem rechtswidrigen Willen keinen Verteidigungswillen kennt. 5 Im Abschnitt "Über die Tat im Hinblick auf den Handlungswillen" spricht Hube von den "halbwilligen Taten" ("Czyny p6lmimowolne"), bei denen der Täterwille sein Ziel wegen äußerer Umstände nicht zu verwirklichen vermag. Zu diesen Umständen rechnet er Zufall, Irrtum und Zwang. 6 Den Grund für den Irrtum erblickt Hube im fehlerhaften Willen. Wer eine Handlung ausführt, stellt sich ihren ganzen Verlauf in seinen Gedanken vor. Er wählt die Mittel aus, beurteilt ihre Tauglichkeit, erkennt das Handlungsobjekt und setzt
! Für seinen Tatbestandsbegriff gebraucht Hube den Ausdruck "istota czynu", vgl. Hube, Allgemeine Prinzipien der Strafrechtslehre ("Og6Ine zasady nauki prawa karnego"), Warszawa 1830, S. 226. 2 Ibid. S. 226, 233. 3 Ibid. S. 233. 4 Ibid. S. 238. 5 Ibid. S. 467ff. 6 Ibid. S. 268.
C. Polnische Verbrechens- und Irrtumslehre im 19. Jahrhundert
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sich Ziele. 7 Sowohl die Tatmittel als auch das anvisierte Tatobjekt können irrtümlich angenommen werden. Wer z. B einem anderen statt eines Getränks versehentlich ein Giftmittel verabreicht oder eine ihm zu Hilfe eilende Person als vermeintlichen Ausreißer tötet, befindet sich nach Hube im Irrtum. 8 Interessant ist dabei, daß der zweite von Hube genannte Irrtumsfall bereits ein Problem des Rechtfertigungsirrtums vorwegnimmt. Wer einen Helfer irrtümlich für einen Angreifer hält, handelt ja nach heutigem Verständnis in Putativnotwehr!9 Nach Hube kann nur der "wahrnehmbare" Irrtum lO die Zurechnung einer rechtswidrigen Tat verhindern. Die Tat des in Putativnotwehr handelnden Täters müßte daher im Falle des nicht "wahrnehmbaren" Irrtums rechtswidrig bleiben. Hube kennt bereits die Unterscheidung nach Tat- und Rechtsirrtum. 1l Er ist imstande, wie man hier sieht, auch schon in einem Bereich, den wir heute der Rechtfertigung zuordnen, den Unterfall des Irrtums über tatsächliche Voraussetzungen der Rechtfertigung herauszuheben. Der Irrtum in jure soll dagegen niemanden von der Strafe befreien. 12 Der Grundsatz "iuris ignorantia nocet" wird bei ihm konsequent durchgeführt. Beinahe vierzig Jahre später schreibt Stanislaw Budzinski sein Buch: "Vergleichende Vorlesung des Strafrechts", in dem er das Verbrechen als eine sich den Staatszielen widersetzende und strafbare Tat begreift. Unter der Tat versteht er die Manifestation des Willens und knüpft damit an die bereits bei Hube vorkommende Unterscheidung in Innen- und Außenwelt des Täters an. 13 B udzinski ist einer der ersten polnischen Autoren, die die Differenz zwischen der Notwehr und dem Notstand l4 dogmatisch herauszuarbeiten versuchen. So legt er dar, in der Notwehr sei die Verletzung der Rechte eines Dritten nicht rechtswidrig, im Notstand könne sie aus psychologischen Gründen für straflos erklärt werden, sie bleibe jedoch rechtswidrig. 15 Sowohl die Notwehr als auch der Notstand werden von ihm objektiv aufgefaßt. Den Irrtum teilt Budzinski in Tat- und Rechtsirrtum auf. Der Regel "iuris ignorantia nocet" will er im Unterschied zu Hube nicht uneingeschränkte Geltung einräumen. Nur wer weiß, daß seine Tat durch das Gesetz verboten ist, verdient den Schuldvorwurf. 16 Der Tatirrtum kann ihm zufolge auf der Unkenntnis einer außerstrafrechtlichen Ibid. S. 269. Ibid. S. 270. 9 Diese Terminologie ist bei Hube allerdings noch nicht anzutreffen. )() Dem Sinn nach "vermeidbar". 11 Ibid. S. 272. 12 Ibid. S. 296. 13 Budziliski, Vergleichende Vorlesung des Strafrechts ("Wyklad por6wnawczy Prawa Karnego"), Warszawa 1868, S. 52. 14 Im heutigen Sinne der entschuldigende Notstand. 15 Ibid. S. 129. 16 Ibid. S. 105. 7
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C. Polnische Verbrechens- und Irrtumslehre im 19. Jahrhundert
Vorschrift, des Tatmittels oder des Tatobjekts beruhen. I? Der Irrtum über eine außerstrafrechtliche Vorschrift soll dabei einen Übergang vom Rechts- zum Tatirrtum darstellen. 18 Budzinski liefert für diese Behauptung aber keine Begründung. Eine Begründung läßt auch das Buch von Edmund Krzymuski vermissen, das 1887 erscheint. Krzymuski geht ein Stück weiter und differenziert bereits zwischen dem Tatirrtum, dem außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsirrtum. Ihm zufolge ist der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum mit dem Tatirrtum verwandt. Außerdem unterscheidet er noch den Irrtum über ein Rechtsverhältnis, der mit dem Irrtum über ein tatsächliches Tatmerkmal identisch sein SOll.19 Unter Verweis auf Budzinski will er den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum zwischen dem Tat- und Rechtsirrtum aufteilen. Nach Krzymuski gibt es zwei Spielarten: Den Irrtum über die Rechtswidrigkeit und den über die Strafwürdigkeit der Tat. 20 Die Regel "iuris ignorantia nocet" will er nur im zweiten Fall anwenden. 21 Diese unterschiedliche Behandlung des error iuris, die bereits bei Budzifl.ski vorkommt, deutet zugleich auf die ersten Nuancierungsversuche in diesem relevanten Irrtumsbereich hin. Wie Budzifl.ski geht auch Krzymuski von der Trennung in subjektive und objektive Tatseite aus. Vorsatz und Fahrlässigkeit gehören ihm zufolge zu den Schuldelementen, Notwehr, Notstand und Einwilligung des Verletzten zu den Rechtswidrigkeitsausschließungsgründen. 22 Schließlich bestimmt Makarewicz Ende des 19. Jahrhunderts in seiner auf deutsch erschienenen Abhandlung "Das Wesen des Verbrechens" kriminalsoziologische Grundlagen für die Beschreibung des Verbrechens fest, ohne sich auf seinen Begriff im Rechtssinne festzulegen. Er begreift das Verbrechen vor allem in seinem gesellschaftlichen Bezugsrahmen. Danach stellt es "keine rein staatliche, sondern eine gesellschaftliche Erscheinung,,23 dar. In der Strafe erblickt Makarewicz ein kriminalrechtliches Reaktionsmittel der Gesellschaft auf eine Handlung, die ihr als unsittlich und damit strafwürdig erscheint. Diese Ibid. S. 106ff. Ibid. S. 107; wenn ich Budzifzski richtig verstehe, so will er damit dem Irrtum über eine außerstrafrechtliche Vorschrift eine Zwischenstellung zwischen dem Tat- und dem Rechtsirrtum einräumen. Auf diese Weise interpretiert diese fragliche Stelle auch Krzymuski, vgl. Krzymuski, Vorlesung des Strafrechts ("Wyklad Prawa Kamego"), Bd. I, Krak6w 1887, S. 310. 19 Ibid. S. 310. 20 Ibid. S. 310. 21 Ibid. S. 308. 22 Ibid. S. 312, S. 203ff; vgl. auch derselbe zur Trennung zwischen objektiver und subjektiver Tatseite in Vorlesung des Strafrechts ("Wyklad prawa karnego"), Bd. 11, Krak6w 1887, S. 2ff., S. 5ff. Die Unterscheidung zwischen der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsschuld findet sich auch bei Budzifzski, vgl. seine "Vergleichende Vorlesung des Strafrechts", S. 129ff., S. 135ff. 23 MaluJrewicz, Das Wesen des Verbrechens, Wien 1896, S. 51. 17
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C. Polnische Verbrechens- und Irrtumslehre im 19. Jahrhundert
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Reaktion beruht zugleich auf dem sog. Associationsprinzip,24 das als natürliches Gesetz vor dem Staate existiert und zu seiner Entfaltung die staatliche Anerkennung nicht braucht, wie seine Verbote nicht fürchtet. 25 Der Begriff einer "unsittlichen" Handlung wird dabei in den des "Gesellschaftlich-Schädlichen" eingeordnet. Nach Makarewicz ist ein menschliches Verhalten dann als schädlich anzusehen, wenn es das Wohl der Gesellschaft gefährdet: "Als schädlich "betrachtet" die Gesellschaft gewisse Handlungen, welche für sie oft gar nicht oder in geringem Grade schädlich sind, und umgekehrt läßt sie jene, als nicht schädlich, straflos bleiben, welche doch ihr Wohl von unserem Standpunkt aus, gefährden ( ... )".26 Hier wird bereits der Begriff der "gesellschaftlichen Schädlichkeit" exponiert, der insbesondere für die künftige polnische Verbrechens lehre unentbehrlich und von hoher Relevanz sein wird. 27 Aus der vorstehenden Darstellung folgt, daß die ersten Bausteine für die polnische Verbrechenslehre bereits im 19. Jahrhundert gelegt werden. Die Polarität zwischen der äußeren und inneren Tatseite, der objektiv begriffenen Rechtswidrigkeit und der subjektiv vermittelten Schuld sind ihre kennzeichnenden Merkmale. In dieser Zeit bilden sich auch die ersten Rechtskategorien, mit deren Hilfe das normwidrige Verhalten rechtlicher Wertung unterzogen wird. Die Einbeziehung des Vorsatzes in den Schuldbereich grenzt ihn zugleich vom äußeren Tatgeschehen ab und entscheidet vorläufig über seine Stellung im Verbrechensaufbau. Damit wird die Gefahr einer Konfundierung von Unrecht und Schuld beseitigt. Aber auch im Irrtumsbereich gibt es die ersten differenzierten Lösungsansätze. Es wird zwar nach wie vor an der dualistischen Irrtumskonzeption zwischen error facti und error iuris festgehalten. Allgemein zeigt sich jedoch die Tendenz, die Regel "iuris ignorantia nocet" zu beschränken, da ihre ausnahmslose Anwendung als kaum mit dem Rechtsgefühl vereinbar empfunden wird. Als originell kann auch der Versuch von Budziilski gelten, den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum zwischen dem Tatirrtum und dem strafrechtlichen Rechtsirrtum zu lozieren.
24 Nach Makarewicz gibt es keine Association (Gesellschaft), welche gegen ihre Mitglieder auf irgend eine Weise nicht reagiere. Vgl. Makarewicz. Das Wesen des Verbrechens. S. 62. 25 Makarewicz. Das Wesen des Verbrechens, S. 62. 26 Ibid. S. 51. 27 Vgl. dazu Kap. F, Fn. 10. vgl. auch Kap. F.I.l.
D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932 I. Dogmengeschichtlicher Hintergrund Was den strafrechtlichen Verbrechensautbau anbelangt, ist es in den 20er Jahren in der polnischen Rechtslehre allgemein üblich, zwischen der objektiven und der subjektiven Tatseite des Verbrechens zu differenzieren. Die gesetzliche Umschreibung des Tatbestandes und die Rechtswidrigkeit werden der objektiven Tatseite zugerechnet. Sie werten die Tat nur als "Außenweltveränderung". Alles, was psychisch vennittelt ist, gehört zur Schuld. Wollte man die Definition des Verbrechens in dieser Phase der polnischen Verbrechenslehre auf eine kurze Formel bringen, so würde sie folgendermaßen lauten: Verbrechen ist ein Handeln (Tun oder Unterlassen), das einer gesetzlichen Beschreibung der Tat entspricht, rechtswidrig, schuldhaft und strafbar ist.! Die Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit gehören zu objektiven Kategorien. Herrschend ist in dieser Zeit der psychologische Schuldbegriff. So schreibt Makarewicz in seinem Lehrbuch zum Strafrecht, das neuzeitliche Recht verlange, daß die Voraussetzung für die Zurechnung des Täters eine Verknüpfung zwischen dem eingetretenen Erfolg und der Psyche des Täters sei, d. h., daß der Täter schuldhaft gehandelt habe. 2 Dieser Verbrechensautbau hat ohne Zweifel seine Wurzel in der Belingschen Auffassung vom Verbrechen, dessen Definition lautet: Verbrechen sei die tatbestandsmäßige, rechtswidrige, schuldhafte, einer auf sie passenden Strafdrohung unterstellbare und den Strafdrohungsbedingungen genügende Handlung. 3 In der Schuld als einem Element der subjektiven Tatseite sieht Beling dasjenige Verbrechensmerkmal, das sich von dem Tatbestand als dem äußeren Umriß des Verbrechenstypus scharf abhebt. Er betont immer wieder, daß sein Tatbestand rein objektiv und von allen subjektiven Momenten derart frei ist, daß ein subjektiver Tatbestand eine Contradictio in adjecto sein sollte. 4 Die Ähnlichkeiten mit der damals in Polen herrschenden Verbrechenslehre sind auffallend.
I In diesem Sinne Reinhold, Grundriß des in polnischen Gebieten geltenden Strafrechts (,,zarys prawa karnego obowil\.Zlljltcego na ziemiach polskich"), Allgemeiner Teil, Heft I, Krak6wIWarszawa 1920, S. 18. 2 Makarewicz, Strafrecht (..Prawo Karne"), Lw6wIWarszawa 1924, S. 140. 3 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1906, S. 7. 4 Ibid. S. 178.
11. Allgemeines über die damalige Verbrechenslehre
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Beling geht jedoch davon aus, daß dem Tatbestand kein Werturteil inhärent ist. Deswegen stößt sein wertfreier Tatbestandsbegriff in der polnischen Rechtslehre auf Kritik. Der erste, der sie aufnimmt, ist Wolter. Ihm zufolge erweist sich Belings Konstruktion als bedenklich. Um die Tatbestandsverwirklichungen rechtfertigen zu können, müsse man sie zuerst nach der Regel bewerten und erst dann nach der Ausnahme entwerten. An einer anderen Stelle schreibt er, wenn Beling den Tatbestand in der freien Zone belassen wollte, so hätte er den zweiten kühnen Schritt wagen müssen und beim Fehlen irgendeinen Rechtfertigungsgrundes nicht ohne weiteres Rechtswidrigkeit annehmen dürfen. 5 Nach Wolter schaffe der Gesetzgeber nicht wertfreie Tatbestände, sondern ..Recht". 6 Damit wird der Weg von der Wertfreiheit des klassischen zu der Wertbezogenheit des modernen Tatbestandsbegriffs geebnet. Das ist zugleich ein dogmatisch wichtiges Ergebnis dieser Zeitphase.
11. Allgemeines über die damalige Verbrechenslehre In der Zeit von 1918 bis 1932 setzt sich die Entwicklung der polnischen Strafrechtslehre fort. Die Diskussionen über den Verbrechensbegriff werden meist de lege ferenda oder in Anlehnung an fremde Strafgesetzbücher geführt. Als repräsentativ für das damalige Verständnis der Verbrechensstruktur können die Arbeiten von Krzymuski und Borowski gelten. So unterscheidet Krzymuski beim Verbrechen einen ..allgemeinen" und einen ..besonderen" Verbrechensbegriff sowie eine subjektive und objektive Komponente. Der allgemeine Verbrechensbegriff umfaßt diejenigen Merkmale, die für das Verbrechen als solches konstitutiv sind. Der besondere Verbrechensbegriff setzt sich dagegen aus den Elementen zusammen, die für einen bestimmten Verbrechenstypus charakteristisch sind. Zu den subjektiven Komponenten rechnet Krzymuski den Willen und das Täterbewußtsein, zu den objektiven die Handlung und den Erfolg. Den besonderen Verbrechensbegriff verweist Krzymuski in den Besonderen Teil des Strafgesetzbuches. Er wendet sich hauptsächlich dem allgemeinen Verbrechensbegriff zu, den er in einem objektiv-äußeren, rechtswidrigen und strafbaren Handeln erblickt, das dem Täter zugerechnet werden kann. 7 Innerhalb der äußeren Tatseite (im Unterschied zu der inneren Tatseite) können nach Krzymuski zwei Elemente unterschieden werden: (1) willensgetragene Bewegung von Organen des Nervensystems, (2) Außenwelterfolg. Zwischen dem eingetretenen Erfolg und der äuße-
Wolter, Die Krise der Rechtswidrigkeit, ZStW 48 (1928), S. 32ff. Ibid. Fn. 30a, S. 40. 7 Krzymuski, Das Strafrechtssystem aus der Sicht der Lehre und der drei in Polen geltenden Strafgesetzbücher, S. 44. 5 6
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D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
ren Tatseite muß ein Kausalzusammenhang bestehen. Darüber hinaus müsse die Tat rechtswidrig sein, d. h. der Rechtsordnung widersprechen. 8 Diese von ihm objektiv aufgefaßte Rechtswidrigkeit kann durch Eingreifen von Rechtfertigungsgründen wie z. B. Notwehr ausgeschlossen werden. 9 Auch seine Darstellung der einzelnen Rechtfertigungsgründe beschränkt sich nur auf die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen. Auf subjektive Rechtfertigungselemente wie Rechtfertigungswille oder Rechtfertigungsbewußtsein geht er in seiner Arbeit nicht ein. Damit eine konkrete Tat als Verbrechen gelten könne, genügt es noch nicht, daß sie äußerlich in Erscheinung tritt und zum Zeitpunkt ihrer Begehung rechtswidrig und strafbar ist. Der Täter muß nicht nur eine physische, sondern auch eine moralische Ursache setzen. Den moralischen Kausalzusammenhang zwischen dem Täter und seiner Tat faßt Krzymuski als moralische Schuld auf. Das Urteil darüber, ob den Täter eine Schuld trifft, wird dagegen als Zurechnung der Tat bezeichnet. Damit erscheint die begangene Tat als ein Produkt des Täterwillens. 10 Die Zurechnung der Tat und die Schuld sind nach Krzymuski austauschbare Begriffe, Vorsatz und Fahrlässigkeit reine Schuldformen. Die Schuld entfällt automatisch dann, wenn der Täter nicht vorsätzlich und fahrlässig gehandelt hat. II Ähnlich wie Krzymuski unterscheidet auch Borowski zwischen der inneren und der äußeren Verbrechensseite. Die äußere Tatseite setze sich aus denjenigen Handlungen zusammen, die der Täter vornimmt, um seine verbrecherische Absicht zu verwirklichen. Gemeint sind alle Veränderungen in der Außenwelt, die auf den Täterwillen zurückführbar sind. Der Wille wird dabei nur in seiner die Kausalität auflösenden Funktion erfaßt. Die "Tatbestandsmäßigkeit" und "Rechtswidrigkeit" lassen den Inhalt des Täterwillens unberücksichtigt. Erst für die Frage, ob der Täter auch schuldhaft gehandelt hat, wird sein Wollen bedeutsam. Zu der inneren Tatseite rechnet Borowski den ganzen psychischen Vorgang, der sich im Täterbewußtsein von Tatentschluß bis zur Tatausführung abspielt. Das Täterbewußtsein und der Täterwille sind damit zwei grundlegende Elemente der inneren Tatseite. 12 Im Anschluß daran definiert Borowki das Verbrechen in formeller Hinsicht als eine rechtsnormverletzende Tat. Die Rechtswidrigkeit kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen ausgeschlossen werden. 13 Interessant ist dabei, daß Borowski bei der Ibid. S. 52. Ibid. S. 53. 10 Ibid. S. 104. 11 Ibid. S. 106. 12 Borowski, Grundsätze des Strafrechts (,,Zasady Prawa Karnego"), Bd. I, Allgemeiner Teil, Warszawa 1922, S. 56. 13 Ibid. S. 115. 8 9
III. Irrtumslehre
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Behandlung von Rechtfertigungsgründen als erster von objektiven und subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen spricht, allerdings nur bei der Notwehr und in einem heute nicht mehr gebräuchlichen Sinne. 14 Das Handeln in Kenntnis der objektiven Notwehrlage wird von ihm nicht angesprochen. Unter subjektiven Notwehrvoraussetzungen will er die Grenzen des Notwehrrechts verstanden wissen. Das Wesen der Schuld besteht ihm zufolge in einem der Rechtsordnung widersprechenden Willen. Die begangene Tat muß dabei in ihrer Relation zu der Psyche des Täters gesehen werden. 15 Vorsatz und Fahrlässigkeit sind auch hier reine Schuldformen. 16
111. Irrtumslehre Vorbemerkung Vor der Erörterung des damaligen Standes der polnischen Irrtumslehre sollen im folgenden die Irrtumsregelungen der fremden Strafgesetzbücher der ehemaligen Besatzungsmächte dargestellt werden, die in Polen in der Zeit von 1917 bis 1932 weiterhin in Kraft waren. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 § 59: Wenn jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Tatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Tatbestand gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntnis selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist.
Das österreichische Strafgesetzbuch von 1852 § 2: Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet
e) wenn ein solcher Irrtum mit unterlief, der ein Verbrechen in der Handlung nicht erkennen ließ. §§ 3, 233 brachten dagegen zum Ausdruck, daß der strafrechtliche Rechtsirrtum unbeachtlich ist - legis ignorantia vel iuris errror nocet.
Das russische Strafgesetzbuch von 1903 Art. 43: Im Falle der Unkenntnis von Umständen, die die Strafbarkeit begründen oder die Verantwortung erhöhen, ist die Zurechnung der Tat ausgeschlossen. Bei Begehung von unbedachten Taten finden diese Vorschriften keine Anwendung, wenn die Unkenntnis auf Fahrlässigkeit beruhte. 17 141bid. S. 132ff. 15 Ibid. S. 148. 16Ibid. S. 149. 17 Übersetzung vom Verfasser aus dem Russischen. 3 Lewandowski
D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
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1. Zum Begriff des Irrtums Den Irrtum (error) definiert Krzymuski als ein Auseinanderfallen zwischen der Vorstellung des Täters und dem wirklichen Ablauf der begangenen Tat. Die Ursache dieser Nichtübereinstimmung kann dabei zweierlei Gründe haben: Erstens hat der Täter überhaupt keine Kenntnis von einem bestimmten Merkmal der betreffenden Tat (ignorantia), zweitens kann er eine falsche Vorstellung von diesem Merkmal haben (Irrtum sensu strictO).18 Ähnlich faßt Borowski den Begriff des Irrtums auf. Für ihn ist der Irrtum eine subjektive Kategorie. Sie hängt vom psychischen Zustand des Täters ab, dessen Vorstellung und die Wirklichkeit divergieren. 19 Der Irrtum wird in der damaligen polnischen Strafrechts lehre als Abweichung des Bewußtseins von der Wirklichkeit bestimmt. 2o
2. Die Stellung des Irrtums im Verbrechensautbau Nach der damaligen schematischen Unterscheidung zwischen der objektiven und der subjektiven Tatseite kann der Irrtum als subjektive Komponente nur der Schuld zugeordnet werden. Diese Auffassung ist damals ganz verbreitet. Nach Borowski schließt der Irrtum als psychischer Sachverhalt im allgemeinen die Zurechnung der Tat aus. 21 Auch Krzymuski äußert, der Irrtum werde im allgemeinen als Schuldausschließungsgrund aufgefaßt. 22 Diese Einordnung des Irrtumsbegriffs in der Verbrechensstruktur zum Schuldbereich wird sich, wie später gezeigt wird, auf die Behandlung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe auswirken.
3. Der Stand der polnischen Irrtumsdogmatik a) Rechtslehre
Im polnischen Schriftum dieser Zeit ist die Unterscheidung zwischen error facti und error iuris vorherrschend. Als repräsentativ kann die Auffassung von Makarewicz gelten. Er grenzt die Unkenntnis einer strafrechtlichen Vorschrift bzw. das fehlende Unrechtsbewußtsein von dem sog. error facti ab, der die tatKrzymuski. Strafrechtssystem. S. 21. Borowski, Grundsätze des Strafrechts, S. 107. 20 So auch Rittermann. Der Irrtum über die Identität des Tatopfers ("B1Ild co do indywidualnosci ofiary przest\!pstwa"). Lw6w 1932, S. 8, der jedoch seinen Irrtumsbegriff 18
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auf das Tatobjekt reduziert. 21 Borowski. Grundsätze des Strafrechts, S. 103. 22 Krzymuski. Das Strafrechtssystem, S. 103.
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sächliche Tatseite betrifft. Bemerkenswert ist, daß für Makarewicz das Unrechts bewußtsein des Täters für die Zurechnung der Tat erforderlich ist. Es fehlt, wenn der Täter keine Vorstellung vom ethischen Unwert seines Tuns (bzw. Unterlassens) hat. 23 Das Unrechtsbewußtsein muß er in zweierlei Hinsicht haben: Es muß ihm erstens bewußt sein, daß sein Handeln strafbar ist, und zweitens, was er tut oder unterläßt. Unter die erste Fallgruppe faßt Makarewicz die Fälle der ignorantia iuris und des error iuris. Zu der zweiten Fallgruppe rechnet er die Fälle, in denen der Täter die tatsächlichen Verhältnisse verkennt. 24 Zum error facti gehören der Irrtum über das Tatobjekt und über andere tatsächliche Begleitumstände der Tat. Von dieser tradierten Differenzierung gehen fast alle Autoren jener Zeit aus. 25 Der Begriff der Tatsache wird jedoch in einem anderen als dem üblichen Sinne verstanden. Unter Tatsachen versteht man auch rechtliche Verhältnisse oder Vorgänge, die nicht ohne weiteres sinnlich wahrnehmbar sind. Damit besteht im sprachlichen Bereich eine terminologische Inkonsistenz. Es wird zwar vom Tatsachenirrtum gesprochen, obwohl darunter mehr als ein nur vorgefundenes Wirkliches gemeint ist. In dem damals sehr bekannten Kommentar zum Strafgesetzbuch von Tagancew heißt es zu Art. 43 des russ. StGB, der Tatsachenirrtum könne in drei Fällen vorkommen; erstens wenn sich der Täter über Umstände irrt, die die Strafbarkeit der Tat begründen und gesetzliche Merkmale der Tat erfüllen, zweitens wenn der Täter keine Kenntnis von Umständen hat, die die Strafbarkeit verschärfen und drittens, wenn er sich im Irrtum über die Begleitumstände der Tat befindet, die weder zu der gesetzlichen Beschreibung der Tat gehören noch strafschärfenden Charakter haben. 26 Im ersten Fall soll der Tatvorsatz entfallen; die Bestrafung des Täters wegen fahrlässiger Begehung ist nur dann möglich, wenn er das Tatgeschehen vorauszusehen und zu erkennen vermag. Im zweiten Fall bleibt es beim Vorsatz; dem Täter können aber nicht die Umstände zur Last gelegt werden, die er nicht kannte. Der dritte Irrtumsfall berührt nicht die Schuld und ist damit irrelevant. 27 Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Umstände die tatsächliche oder die rechtliche Tatseite betreffen. 28 Makarewicz, Allg. Strafrecht (,,Prawo kame og6Ine"), Krak6w 1914, S. 126. Ibid. S. 127. 25 So u. a. Borowski, Grundsätze des Strafrecht, S. 108; Glaser, Ignorantia iuris im Strafrecht ("Ignorantia iuris w prawie kamym"), Krak6wIWilno 1931, S. 2; Tagancew, Strafgesetzbuch ("Kodeks kamy") I. Teil, Warszawa 1921, S.54; Krzymuski, Der Grundriß der allgemeinen Strafrechtsinstitute (,,zarys og6lnych instytucji Prawa karnego"), Krak6w 1918, S. 99. 26 Tagancew. Strafgesetzbuch, S. 54. 27 Ibid. S. 55. 28 Ibid. S. 55; auch Sobolewski war der Auffassung, daß Art. 43 russ. StGB nur den Fall des error facti regelt: "Natürlich ist hier (in Art. 43) nur vom error facti und nicht 23
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In der Frage des Rechtsirrtums besteht weitgehend Übereinstimmung. Darunter wird der Fall der Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift verstanden. 29 In diesen Fällen soll der allgemeine Rechtsgrundsatz zur Geltung kommen, wonach der Irrtum unbeachtlich ist. Tagancew läßt jedoch eine prozessuale Durchbrechung dieser strengen Regel zu. Gelingt dem Täer der Beweis im Strafverfahren, daß er keine Kenntnis von der einschlägigen Vorschrift hatte und dadurch nicht erkennen konnte, daß die betreffende Tat strafbar ist, so soll sich das zu seinen Gunsten auswirken?O Abgesehen davon hält er an der grundsätzlichen Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums fest; das hatte seinen Grund im alten polnischen Recht, in dem großes Gewicht auf die Bekanntmachung von Gesetzen gelegt wurde, damit sich niemand auf ihre Unkenntnis berufen könne. A,llerdings wurde der Regel ignorantia iuris gerade im alten polnischen Recht keine absolute Geltung zugestanden. Von der strengen Regel über die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums wurden verschiedene Ausnahmen zugelassen. Die Unkenntnis sollte vor allem Fremden und Unmündigen zugute kommen, dann aber sollte die Berufung auf die Unkenntnis bei gewissen Gesetzen (z. B. Religionsvergehen) statthaft sein. Außerdem wurde bei der Behandlung des Rechtsirrtums den Umständen des konkreten Falles Rechnung getragen?l In der polnischen Strafrechts lehre dieser Zeit wird der Rechtsirrtum restriktiv ausgelegt. Interessant ist dabei, daß die damalige reichsgerichtliche Unterscheidung zwischen dem außerstrafrechtlichen und dem strafrechtlichen Rechtsirrtum in aller Regel auf allgemeine Ablehnung stößt. Juliusz Makarewicz, der die Unkenntnis einer Strafrechtsvorschrift für grundsätzlich unbeachtlich hält,32 lehnt die Unterscheidung zwischen dem Irrtum über eine strafrechtliche und eine außerstrafrechtliche Norm ab. 33 Ihm folgt auch Borowski, der sich ausdrücklich gegen diese Irrtumsabgrenzung ausspricht. 34 Der einzige im
vom error iuris die Rede, d. h. von der Unkenntnis, daß eine Tat strafbar ist. Auf die Unkenntnis des Gesetzes kann sich niemand berufen" (vgl. Sobolewski, Bemerkungen über das Strafgesetzbuch von 1903 [.. Uwagi 0 kodeksie karnym z 1903"] in: GAiPP 1924, S. 352). 29 So u. a. Tagancew, Strafgesetzbuch, S. 55; Makarewicz, Allgemeines Strafrecht, S. 127; eine Ausnahme ist die Arbeit von Glaser, ..Ignorantia iuris im Strafrecht", in der Glaser den error iuris im Rahmen des Irrtums über die Rechtswidrigkeit diskutiert. Auf diese Monographie komme ich im Zusammenhang mit dem Irrtum über die Rechtfertigungsgründe zu sprechen. 30 Vgl. Tagancew, Strafgesetzbuch, S.55; ähnlich auch Makarewicz, Allgemeines Strafrecht, S. 130. 3! Vgl. Makarewicz, Polnisches Strafrecht (..Polskie Prawo Karne") , Lw6w/Warszawa 1919, S. 94ff. 32 Makarewicz, Allgemeines Strafrecht, S. 127. 33 Ibid. S. 129. 34 Borowski, Grundsätze des Strafrechts, S. 110.
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Schrifttum, der eine nicht näher begründete Konzession an den Zeitgeist macht, ist Krzymuski, der von zwei Spielarten des error iuris, d. h. des Irrtums über außerstrafrechtliche und strafrechtliche Normen ausgeht. Der Irrtum erster Art soll allgemein dem Tatsachenirrtum gleichgesetzt, der zweite Rechtsirrtum dagegen nach der Regel "legis ignorantia vel iuris error nocet" behandelt werden. Allerdings will Krzymuski im zweiten Fall eine Einschränkung dann machen, wenn der Täter nicht erkennen konnte, daß das, was er tat, unter Strafe gestellt ist. 35 Abgesehen davon spricht die Unterscheidung zwischen Tatsachenirrtum und Rechtsirrtum im Tatbestandsbereich gar keine Rolle. Glaser spricht sich sogar dafür aus, den Rechts- und Tatsachenirrtum identisch zu behandeln. 36 In diesem Punkt trifft sich seine Auffassung mit einigen deutschen und österreichischen Autoren jener Zeit. So wendet u. a. v. Liszt in seinem Lehrbuch ein, die an sich berechtigte Unterscheidung von Tatirrtum und Rechtsirrtum finde im Gesetz keine Grundlage. Es sei völlig verkehrt, innerhalb des Rechtsirrtums zwischen dem Irrtum über Strafrechtssätze und dem Irrtum über andere Rechtssätze zu unterscheiden und den letzteren, also den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum mit dem Tatirrtum auf die gleiche Stufe zu stellen. 31 Finger ist auch der Ansicht, daß sich die Dichotomie zwischen dem Rechts- und Tatirrtum vor der Kritik nicht bewähren kann. 38 Für Glaser läßt sich die Differenzierung nicht logisch, sondern nur psychologisch begründen. Es geht ihm vielmehr darum, die als zu streng empfundene Regel - error iuris nocet - in ihren Rechtsfolgen abzumildern. 39 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den 20er Jahren in der polnischen Strafrechts lehre eine vertikale Irrtumsunterscheidung fast einhellig befürwortet wird. Unter dem Tatsachenirrtum (error facti) wird eigentlich der Tatbestandsirrtum, unter dem Rechtsirrtum (error iuris) dagegen der Verbotsirrtum verstanden. Die Differenzierung zwischen dem Tatsachenirrtum und Rechtsirrtum ist im Tatbestandsbereich völlig irrelevant. Ebenfalls unbeachtlich ist, ob der Täter über ein normatives, deskriptives Tatbestandsmerkmal oder über einen Blankettbegriff irrt. Der einzige, der die Abgrenzung zwischen normativen und deskriptiven Merkmalen in jener Zeit diskutiert, ist Wolter40 , allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt der Irrtumsrelevanz. Sein Anliegen ist vielmehr, das
Krzymuski, Der Grundriß der allgemeinen Strafrechtsinstitute. S. 101. GLaser, Ignorantia iuris im Strafrecht, S. 36. 31 v. Liszt, Lehrbuch des dt. Strafrechts, 21/22. Aufl., BerlinlLeipzig 1919, S. 169. 38 Finger, Das Strafrecht, Bd. I, Berlin 1912, S. 350. 39 Glaser, Ignorantia iuris im Strafrecht, S. 36. 35
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WoLter, "Normative Tatbestandsmerkmale" in: MonKrimPsych 1930, S. 455ff.
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normative Moment des Tatbestandes unabhängig von Wertungen, nur aus einer Verbindung von Wirklichkeits- und Sollenselementen heraus zu erklären. 41
b) Rechtsprechunl2 aa) Allgemeines Eine polnische Rechtsprechung beginnt sich erst nach der Wiedererlangung der politischen Unabhängigkeit langsam herauszubilden. Am Anfang kann nicht daran gedacht werden, auf die Gesetzgebung und die Judikatur der früheren polnischen Eigenstaatlichkeit zurückzugreifen, da Polen doch seit mehr als einem Jahrhundert als Staat aus der Landkarte Europas gestrichen war. 43 Das Oberste Polnische Gericht sieht sich deswegen oft gezwungen, Leitsätze aus fremder (auch der reichsgerichtlichen) Rechtsprechung zu übernehmen. Zu dieser Zeit forciert das Reichsgericht die Lehre vom außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsirrtum und dem Tatirrtum. Die Frage nach ihrer Ablehnung oder möglicher Transponierung in die polnische Judikatur berührt zugleich das aufregendste Kapitel in der Entwicklung der polnischen Irrtumslehre der Zwischenkriegszeit. Ihren Gang wird das folgende Kapitel genau nachzeichnen. 44
bb) Die reichs gerichtliche Lehre vom außerstrafrechtlichen und strafrechtlichen Rechtsirrtum und Tatirrtum Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 regelte den Irrtum nicht umfassend. § 59 RStGB sah lediglich vor, daß Tatumstände, welche zum gesetzlichen Tatbestand gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, demjenigen nicht zuzurechnen sind, der ihr Vorhandensein nicht kannte. Beruhte die Unkenntnis auf Fahrlässigkeit, konnte der Täter wegen fahrlässiger Begehung zur Verantwortung gezogen werden. Eine begriffliche Abgrenzung der Unkenntnis der Tatumstände von anderen Irrtumsarten fehlt ebenso wie deren Verknüpfung mit einer be-
Ibid. S. 463ff. Im folgenden werde ich die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts anhand einiger für die Irrtumsproblematik relevanter Entscheidungen darstellen. 43 Glaser, "Neue Richtungen im Strafrecht und die polnische Strafrechtsreform", MonKrimPsych 1929, S. 194. 44 Bevor die Frage näher erörtert wird, werde ich ganz kurz die reichsgerichtliche Lehre vom Rechtsirrtum und Tatirrtum präsentieren. Aus Gründen der Ökonomie verzichte ich dabei auf die Besprechung der einzelnen Entscheidungen und werde lediglich auf sie verweisen. Um dieses Bild zu ergänzen, stelle ich kurz den Meinungsstand im deutschen Schrifttum zur reichsgerichtlichen Irrtumsdifferenzierung dar. 41
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stimmten Rechtsfolge. In dieser Situation muß der Rechtsprechung des Reichsgerichts eine besondere Bedeutung zukommen, diese regelungsbedürftige Lücke zu schließen. Das Reichsgericht bekennt sich zu einer Auffassung, die man wie folgt zusammenfassen kann. Es unterscheidet zunächst zwischen Tat- und Rechtsirrtum. Der Irrtum über Tatsachen erklärt es für relevant nach § 59 RStGB, den strafrechtlichen Rechtsirrtum dagegen für unerheblich. Soweit der Täter die Tatsachen nicht kennt, werde sein fehlendes Wissen als vorsatzausschließender Tatsachenirrtum behandelt. Dagegen wird für den Rechtsirrtum danach differenziert, ob er als außerstrafrechtlich oder strafrechtlich einzustufen ist. Die Thematik wird später in die Lehre von den normativen Tatbestandsmerkmalen einmünden, die ja vielfach Rechtsbegriffe darstellen und für das Reichsgericht die Frage nach "strafrechtlich" und "außerstrafrechtlich" aufwerfen. 45 Eine Fehlannahme außerstrafrechtlicher Natur führt zum Ausschluß von Vorsatz und Vorsatzstrafe, eine solche im strafrechtlichen Bereich dagegen zu einem unbeachtlichen Rechtsirrtum. Diese Irrtumsunterscheidung wird vom Reichsgericht vielen Entscheidungen zugrundegelegt. 46
cc) Die Stellungnahme in der deutschen Lehre zu der Irrtumsunterscheidung des Reichsgerichts In der Strafrechtslehre stößt die Irrtumsabgrenzung des Reichsgerichts auf entschiedene Ablehnung. Sie wird von vielen Autoren mit einer beispiellosen Schärfe formuliert. So heißt es z. B. bei Binding: "In notwendiger Folge der Annahme einer preasumtio doli in Gestalt der Zurückweisung jeder Berufung auf die sog. Unkenntnis des Strafgesetzes wird nun das RG zu einer tief bedauerlichen chronischen Mißhandlung des § 59 getrieben. Es entbehrt des Verständnisses der Eigenart dieses so wichtigen und zu solch segensreicher Wirkung berufenen Gesetzes vollständig. Diese Wirkung hat es durch Festhalten seiner Vorurteile um fast vierzig Jahre verzögert und sich dadurch an unserer Rechtsentwicklung schwer vergangen".47 "Ich bin fest überzeugt, daß dieser Teil der Praxis des Reichsgerichts seine größte Entgleisung darstellt.,,48 Auch bei anderen ruft die Rechtsprechung des Reichsgerichts Entrüstung und Empörung hervor. Hippel spricht von einer praktisch unerträglichen Lösung der
45 Vgl. Kunert, "Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände", Berlin 1958. 46 Vgl. v. Hippet, "Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit", BerlinlLeipzig 1924, S. 3; vgl. auch drei Entscheidungen des RG, die für seine Irrtumsabgrenzung als typisch geiten können, RGSt 52, 84; 19,87; 33, 241. 47 Binding, "Die Normen und ihre Übertretung", 3.Bd., Leipzig 1918, S. 348. 48 Ibid. S. 330.
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abscheulichen Streitfrage bezüglich der Unterscheidung zwischen außerstrafrechtlichem und strafrechtlichem Rechtsirrtum. 49 Die Lehre kritisiert übereinstimmend die reichsgerichtliche Unterscheidung zwischen Rechts- und Tatirrtum. Sie wird weder für rational noch für logisch durchführbar gehalten. So wendet v. Hippel: "Ob die irrtümliche Ablehnung der Subsumtion der Tat unter das Gesetz auf einer unrichtigen Beurteilung der Tatsache, oder auf einer irrtümlichen Auffassung der auf sie anzuwendenden Rechtssätze beruht, ist für die rechtliche Tragweite des Irrtums ohne Bedeutung. Die Unterscheidung von Tatirrtum und Rechtsirrtum findet im Gesetz keine Grundlage und läßt sich in der Rechtsprechung gar nicht durchführen. ,,50 Die weitere Unterscheidung zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum sieht man ebenfalls als völlig untragbar an. "Völlig verkehrt aber ist es, innerhalb des Rechtsirrtums weiter zu unterscheiden zwischen dem Irrtum über Strafrechtssätze und dem Irrtum über andere Rechtssätze, und den letzteren, also den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum, mit dem Tatbestandsirrtum auf die gleiche Stufe zu stellen. Diese Unterscheidung scheitert schon daran, daß es reine strafrechtliche Begriffe gar nicht gibt, das Strafrecht als Schutzrecht vielmehr seine Begriffe den übrigen Rechtsgebieten entlehnt. ,,51 Zur Auflösung dieser verfestigten Positionen zwischen Rechtslehre und reichsgerichtlicher Rechtsprechung kommt es erst durch die Judikatur des Bundesgerichtshofes. 52 dd) Die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts
(1) Urteile vom 25. 06. und 20. 04. 1921 53 (zu § 59 RStGBi4 Nach § 59 RStGB ist unschuldig55 , wer die Umstände nicht kennt, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören oder Wer sich über sie eine falsche Vorstelv. Hippel, "Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit", Vorwort und S. 12. v. Liszt, Lehrbuch, S. 175. 51 Ibid. S. 175. 52 Vgl. den Beschluß des Großen Senats des BGH vom 18. 03. 1952, BGHSt 2, 194.
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53 Die Entscheidungen des Obersten Polnischen Gerichts wurden in der Buchreihe ..Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichts" veröffentlicht. Aufgenommen sind in erster Linie die Urteile, die aufgrund des ehemaligen russischen Strafgesetzbuches ergangen sind. Ein Großteil der gerichtlichen Entscheidungen aus Groß- und Kleinpolen (ehemalige deutsche und österreichische Teilungsgebiete) erschienen dagegen in der Zeitschrift RPiE. Die Redaktion besorgte vor allem Ryszard Leta/1ski. Letanski beschränkt sich lediglich auf die Widergabe der Leitsätze zu den einschlägigen Gesetzesvorschriften ohne die Urteilsbegründung; vgl. dazu auch Bossowski, ..Strafrecht und Strafprozeßordnung aller Besatzungsgebiete", Poznan 1925. 54 Vgl. oben Kap. D.III. Vorbem. 55 So in der Version des Obersten Polnischen Gerichts. In § 59 RStGB heißt es wörtlich: ..... sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen".
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lung macht. Die Zurechnung der Tat wird dagegen im Falle eines strafrechtlichen Rechtsirrtums nicht ausgeschlossen. Der Irrtum, der eine außerstrafrechtliche Norm oder überhaupt eine außerstrafrechtliche Gesetzesvorschrift zum Gegenstand hat, wird wie der Tatsachenirrtum behandelt. 56 In diesen zwei Entscheidungen besteht noch eine volle Kongruenz zwischen der Rechtsprechung des Reichsgerichts und der des Obersten Polnischen Gerichts in der Frage der Behandlung der fragwürdigen Irrtümer. Sie ist sachlich und begrifflich identisch.
(2) Urteil vom 14. 11. 1921 (zu Art. 43 russ. StGBr Das Oberste Gericht muß sich hier mit folgendem Irrtumsfall auseinandersetzen. Der Angeklagte war über das Feld des Klägers gefahren. Er nahm irrig an, daß ihm dazu ein Recht zustehe und wurde durch die unteren Gerichte zu einer Freiheitsstrafe gern. Art. 634 russ. StGB bestraft, der folgendes bestimmt: "Wer eigenmächtig über Garten, Wiese, Feld, Weide oder Wald eines anderen fährt, sein Vieh oder seine Hühner über eingezäunte oder mit Gräben angegrenzte oder mit Verbotsschildern hinsichtlich des Betretens markierte Flächen treibt, wird bestraft ( ...). Im Urteil geht es um das Begriffsmerkmal der "Eigenrnacht". Nach der Auffassung des Obersten Gerichts soll es dann vorliegen, wenn es an einem Rechtstitel fehlt, was durch zivilrechtliche und damit außerstrafrechtliche Vorschriften bestimmt wird. 58 Das Gericht kommt zur folgenden Entscheidung: Das Tatbestandsmerkmal der "Eigenrnacht" betreffe ein rechtliches Verhältnis. Der Irrtum darüber führe zur Anwendung des Art. 43 russ. StGB (keine Vorsatzzurechnung). Dieses Ergebnis entspricht zwar der reichsgerichtlichen Irrtumsunterscheidung, wonach der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum und der Tatirrtum auf die gleiche Stufe zu stellen sind. Das Oberste Gericht hebt in der Urteilsbegrundung aber nicht hervor, daß sich der Angeklagte in einem Irrtum über ein außerstrafrechtliches Rechtsverhhältnis befand, sondern begnügt sich schon mit dem Rechtsverhältnis. Hier kündigt sich, vor allem auf Grundlage des russischen StGB von 1903, eine Abkehr von der reichsgerichtlichen Irrtumsunterscheidung an.
56 57 58
RPiE 1921,S. 775.
Vgl. Kap. D.m. Vorbem. Zb. O. S. N. 1921, Nr. 154, S. 245.
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(3) Urteil vom 13. 06. 1922 (zu Art. 43 russ. StGB)
Das Oberste Gericht soll über die Revision des Angeklagten entscheiden, der die Verletzung des Art. 43 russ. StGB rügt. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Der Angeklagte, ein Händler, verkaufte eine ihm gelieferte entfettete Milch. Er wußte nicht, daß die Qualität der Milch vermindert war. Die unteren Gerichte legen ihm die Verletzung des Art. 210 russ. StGB zur Last, der folgenden Wortlaut hat: "Wer als Händler oder Unternehmer gegen Gesetze, Vorschriften oder Verordnungen verstößt, die Lebensmittel oder Getränke vor Fälschung schützen (00') wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Monat oder mit einer Geldstrafe bestraft." Das Oberste Gericht vertritt die Ansicht, daß die Unkenntnis des Angeklagten über die Entfettung der Milch im Rahmen des Art. 43 russ. StGB nicht berücksichtigt werden kann, weil diese Vorschrift nur eine solche Unkenntnis betrifft, die von selbst die Schuld ausschließt. Diese letzte Formulierung ist ziemlich mißverständlich. Das Gericht führt in der Begründung weiter aus, daß der Angeklagte die Verordnung des Generalgouverneurs, die u. a. den Handel mit entfetteter Milch unter Strafe stellte und als Ausfüllungsnorm zu Art. 210 russ. StGB ausgestaltet war, kennen sollte, so daß seine Unkenntnis ihn nicht entlasten kann. 59 Diese Schlußfolgerung ist grundSätzlich richtig, die Begründung des Obersten Gerichts kann aber nicht befriedigen. Beim näheren Zusehen handelt es sich im Fall des Art. 210 russ. StGB um ein sog. Blankettstrafgesetz, das auf außerhalb des Strafrechts liegende Vorschriften verweist. Die Besonderheit des Falles besteht darin, daß dem Angeklagten nicht nur die Verordnung des Generalgouverneurs unbekannt war, er hatte auch keine Kenntnis von der schlechten Qualität seines Verkaufsprodukts. Immerhin stellt sich zunächst die Frage, wie der Irrtum über die Ausfüllungsnormen von Blankettstrafgesetzen nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts entschieden wurde. Das Reichsgericht hat die Konkretisierungsvorschriften in der Regel als außerstrafrechtlich angesehen, den Irrtum über sie als vorsatzausschließend behandelt. In einer reichsgerichtlichen Entscheidung heißt es dazu: "Die Höchstpreisfestsetzungen stellen auf Grund dieses Gesetzes (eines Sonderhöchstpreisgesetzes) außerhalb des Strafgesetzes liegende selbständige und mit ihm nicht unlöslich zusarnmen- hängende Verwaltungsmaßnahmen dar, die der Täter kennen muß, soll er wegen vorsätzlichen Überschreitens der Höchstpreise bestraft werden. ,,60 Schon weil der Angeklagte die erlassene Verordnung des Generalgouverneurs nicht kannte, mußte also nach der Auffassung des Reichsgerichts sein Vorsatz verneint werden. Dagegen sind nach der überwiegenden Meinung in der heutigen 59
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Zb. O. S. N. 1922, Nr. 151, S. 283. RGSt 50, 398 (404).
III. Irrtumslehre
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Rechtslehre derartige Blankettgesetze mit der Ausfüllungsnorm zusammenzulesen, so daß die Unkenntnis der Ausfüllungsnorm keinen Vorsatzausschluß bedeutet. 61 Hier kommt aber folgendes hinzu. Art. 210 russ. StGB sollte mit der Ausfüllungsnorm, d.h. der Verordnung des Generalgouverneurs folgendermaßen verstanden werden: "Wer als Händler oder Unternehmer eine entfettete Milch verkauft, wird bestraft". Da der Angeklagte keine Ahnung davon hatte, daß die Milch von minderer Qualität war, irrte er über einen Umstand der Ware, der gern. Art. 43 russ. StGB die Strafbarkeit der Tat begründet und bei irriger Vorstellung den Vorsatz ausschließt. 62 (Es ist kaum verständlich, daß das Oberste Polnische Gericht auf diesen Gesichtspunkt nicht einmal eingeht). Das Reichsgericht würde jedenfalls den Tätervorsatz verneinen. Praktisch relevant wäre dann nur die Frage nach der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung. Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses spricht vor allem der Umstand, daß der Angeklagte nicht nur über die Existenz einer Konkretisierungsnorm, sondern auch über einen Umstand (schlechte Qualität der Milch) und damit in beiden Richtungen im Irrtum war. (Bemerkenswert bleibt aber, daß das Oberste Polnische Gericht sich in einem weiteren wichtigen Punkt [Blankettgesetz] von der Rechtsprechung des Reichsgerichts entfernt).
(4) Urteil vom 18. 10. 1922 (zu § 59 RStGB) Eine falsche Vorstellung des Täters, daß die Beschenkung eines Beamten zum Zwecke der Übertretung von Dienstpflichten erlaubt ist, kann nicht unter § 59 RStGB gebracht werden. Sie stellt einen Irrtum über die Rechtsnormen dar, der nicht entlastet. 63 Das Oberste Gericht stellt im Tenor allerdings nicht genau fest, ob es sich um einen strafrechtlichen oder einen außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum handelt. Das damalige Reichsstrafgesetzbuch sah in § 333 vor, daß sich derjenige strafbar macht, der einem Beamten Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder gewährt, um ihn zu einer Handlung zu bewegen. Dem Täter unterlief daher ein Strafrechtsirrtum, der nach der reichsgerichtlichen Irrtumsjudikatur in der Tat keine rechtliche Relevanz besaß. Sachlich besteht hier eine Übereinstimmung mit der Irrtumsabgrenzung des RG, eine Inkongruenz ist dagegen im terminologischen Bereich sichtbar.
61 Vgl. hierzu SchänkelSchräder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 25. Aufl., München 1997, Rdn. 100 zu § 15 (Cramer). 62 Tagancew, Strafgesetzbuch, S. 55. 63 RPiE 1923, S. 513.
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(5) Urteil vom 27. 11. 1922 (zu Art. 43 russ. StGB)
In dieser Entscheidung wird vom Obersten Gericht zum Rechtsirrtum Stellung bezogen. In der Urteilsbegründung heißt es, von der im Art. 43 russ. StGB geregelten Unkenntnis der tatsächlichen Umstände, die die Zurechnung der Tat und damit die Schuld ausschließen, müsse das fehlende Rechtsbewußtsein unterschieden werden. Nach der allgemein anerkannten Regel könne sich niemand auf die Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift berufen. Der Rechtsirrtum lasse die Zurechnung der Tat nicht entfallen. 64 Damit wird dem Rechtsirrtum jede rechtliche Relevanz genommen. Das Urteil bestätigt noch einmal, daß unter dem fehlenden Unrechtsbewußtsein die Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift verstanden wird. Art. 43 russ. StGB soll daher auf den Rechtsirrtum keine Anwendung finden, was noch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichts endgültig klarstellt. 65
(6) Urteil vom 11. 02. 1929 (zu § 59 RStGB)
In dieser grundlegenden Entscheidung muß sich das Oberste Gericht mit folgendem Sachverhalt auseinandersetzen: Der Angeklagte wollte 24 Zigarren aus dem Ausland einführen. Er handelte dabei in der irrigen Vorstellung, daß er 20 Zigarren ohne Zoll mitnehmen darf. Die 24 Zigarren hatte er zunächst in seiner Tasche versteckt. Später hat er nur 20 Zigarren verzollt. Im Urteil geht es grundsätzlich um die Frage, ob sich der Angeklagte auf die Unkenntnis von Art. 3 und 5 Buchst. b) des Gesetzes über das Tabakmonopol vom 7. Januar 1922 berufen kann. Art. 3 und 5 Buchst. b) hatten folgenden Wortlaut: Art. 3 Unter Tabak i. S. dieses Gesetzes werden sowohl der Stoff, aus dem der Tabak hergestellt wird als auch fertige Tabakprodukte verstanden (... ), Tabakprodukte sind alle zum Rauchen bestimmten Artikel wie Zigarren, Zigaretten ( ... ) Art. 5 Buchst. b) Privatpersonen ist es verboten, Tabak aus dem Ausland ohne die Genehmigung der zuständigen Finanzbehörde einzuführen, mit Ausnahme von Produkten, die für den persönlichen Bedarf vorgesehen sind und nicht mehr als 1 kg. wiegen. 66
Der Angeklagte sollte nach Art.45 des Finanzstrafgesetzes zur Verantwortung gezogen werden, weil ihm die "Schmälerung von Zollgebühren" zur Last gelegt wurde. Art. 45 sah folgende Regelung vor: Wer keine Zollgebühren für Gegenstände entrichtet, für die kein Einfuhr-, Ausfuhroder Beförderungsverbot besteht, wird mit Geldstrafe in Höhe von (00.) bestraft. 67 64 Zb. O. S. N. 1922, Nr. 279, S. 4691. 65 Zb. O. S. N. 1928, Nr. 60, S. 89. 66Vgl. Gesetzblatt ("Dziennik Ustaw"), 1922, Nr. 409, S. 741.
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Das Oberste Polnische Gericht stellt fest, daß die Vorschrift von Art. 45 des Finanzstrafgesetzes auf Art. 3 und 5 Buchst. b) des Gesetzes über das Tabakmonopol und auf andere finanzstrafrechtliche Vorschriften Bezug nimmt. Sie sei ein Blankettstrafgesetz, das eine Strafdrohung für die Nichtentrichtung von Zollgebühren für Gegenstände vorsieht, für die kein Einfuhrverbot besteht. Das Gericht fragt dann weiter, wie der Irrtum über die Normen zu bewerten sei, auf die Art. 45 des Finanzstrafgesetzes verweist. Die Antwort darauf hänge von der richtigen Auslegung des § 59 RStGB ab, der über den Art. 2 des Finanzstrafgesetzes als eine allgemeine Strafrechtsvorschrift zur Anwendung kommt. Das Gericht der ersten Instanz ging von der Annahme aus, daß der Irrtum des Angeklagten Rechtsnormen betraf, die außerhalb des Strafgesetzes liegen. Der Irrtum sollte daher gern. § 59 RStGB mit dem Tatsachenirrtum gleichgestellt werden. Das Revisionsgericht führt dann weiter aus, daß diese Irrtumslösung zwar eine lange Tradition in der Judikatur und der Lehre habe, sie grenze jedoch die Strafrechtsvorschriften von anderen verwaltungsrechtlichen, staatsrechtlichen oder zivilrechtlichen Normen völlig mechanisch ab und stelle den Rechtsirrtum über eine außerhalb des Strafrechts liegende Vorschrift mit dem Tatsachenirrtum nach § 59 RStGB auf die gleiche Stufe. Diese mechanische Unterscheidung zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Normen entbehre jeder Begründung und könne deswegen nicht aufrechterhaten werden. Sie bereite, so das Oberste Gericht, schon dann Schwierigkeiten, wenn sich in einem Verwaltungs- oder Finanzgesetz, auf das verwiesen wird, eine selbständige Norm befinde, die das Zuwiderhandeln gegen die verwaltungsrechtlichen oder finanzrechtlichen Vorschriften unter Strafe stelle. 68 Nach § 59 RStGB soll die Strafbarkeit der Tat nur im Falle des Tatsachenirrtums ausgeschlossen werden, der die Tatumstände betrifft, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören; daraus ergebe sich, so argumentiert das Gericht weiter, daß die Berufung auf den Rechtsirrtum im gesetzlichen Tatbestandsbereich nicht in Betracht komme. In dem hier zur Entscheidung stehenden Fall komme es entscheidend darauf an, was zum Tatbestand des Art. 45 des Finanzstrafgesetzes gehört. Die Fassung des Art. 45 des Finanzstrafgesetzes legt es nahe, daß er nicht den gesamten Tatbestand umfaßt. Zu seiner Ergänzung ist vielmehr die Einbeziehung anderer Vorschriften erforderlich. Die beiden Gesetzesbestimmungen (Art. 45 des Finanzstrafgesetzes und Art. 3 und Art. 5 Buchst. b) des Gesetzes über das Tabakmonopol) machen erst zusammen den
67Vgl. Gesetzblatt ("Dziennik Ustaw"), 1926, Nr. 609, S. 1163. 68 Zb. o. S. N. 1929, Nr. 164, S. 295. Ob das letzte Argument zutrifft ist fraglich. Ein Finanz- oder Verwaltungsgesetz, in dem Strafdrohungen vorgesehen sind, wäre auch nach der Auffassung des Reichsgerichts eigentlich ein Teil des Strafgesetzes, so daß der Irrtum über eine solche strafrechtliche Vorschrift unbeachtlich sein müßte, vgl. RGSt 19,87 (89f.).
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Gesetzestatbestand aus. Die Unkenntnis der Vorschriften, die den Art. 45 des Finanzstrafgesetzes konkretisieren, stelle deswegen keinen Tatsachenirrtum, von dem in § 59 RStGB die Rede ist, sondern einen Rechtsirrtum dar, auf den § 59 RStGB keine Anwendung findet. In der weiteren Begründung versucht das Oberste Gericht das näher zu erläutern. Seine These lautet - so hebt das Gericht ausdrücklich hervor - nicht, daß die anderen Rechtsgebieten entnommenen Begriffe, die in das Strafgesetz Eingang finden, nach dem Willen des Gesetzgebers zu Bestandteilen des Strafrechts (genauer gesagt müßte es heißen: zu strafrechtlichen Rechtsbegriffen) werden, so daß der Irrtum über sie unbeachtlich sei. Manche Rechtsbegriffe (z. B. die "Fremdheit der Sache") werden in Strafrechtsvorschriften verwendet, um einen tatsächlichen Zustand auszudrücken. Sie weisen zwar einen rechtlichen Gehalt auf, mit dem jedoch die Allgemeinheit (z. B. im Falle des Eigentums) immer bestimmte Tatsachen verbindet, so daß sie im Endeffekt als "Tatsachenbegriffe" betrachtet werden können. Wann ein Rechsbegriff zu einem strafrechtlichen Rechtsbegriff, so daß der Irrtum über ihn irrelevant bleibe, und wann er zu einem irrtumsrelevanten Tatsachenbegriff werde, ist nach der Auffassung des Obersten Gerichts eine Auslegungsfrage. 69 Diese vom Obersten Gericht getroffenen Unterscheidung in Strafrechtsbegriffe und Tatsachenbegriffe kann nicht befriedigen. Erstens evoziert sie eine bedenkliche Wiederannäherung an den Begriff des Strafrechtsirrtums, mit dem das Reichsgericht so gerne und oft gearbeitet hat. Zweitens läßt sie den Schluß zu, daß es Strafrechtsbegriffe gibt, mit denen keine Tatsachen assoziiert werden. Solche Begriffe kennt aber das Strafrecht nicht. Es spricht nicht von der Fremdheit, Falschheit oder Rechtswidrigkeit schlechthin, sondern verwendet diese Begriffe immer in Bezug auf bestimmte Objekte (wie Sache, Schlüssel oder Angriff). Eine abstrakte allgemeine Begrifflichkeit ist dem Strafrecht fremd. Stammler wendet dagegen in seiner "Theorie der Rechtswissenschaft" ein: "Unter den Sachverhalten stellt sich das Eigentum als eine solche nicht auf die Rechtserfahrung gegründete, sondern aller Rechtserfahrung vorausgehende Kategorie rechtlichen Denkens dar". 70 In Anlehnung daran sieht auch Radbruch im Eigentum eine apriorische Rechtskategorie. 71 Aber diese Apriorität erweist sich als eine gebrochene. Ob die Sache A dem Bauern B gehört, kann nicht nur aus bloßen Rechtsbegriffen deduziert werden. Anschauung muß zu Hilfe genommen werden, vermittels derer erst das Urteil darüber möglich ist. Dem Obersten Gericht ist also zuzustimmen, wenn es behauptet, mit dem Eigentum
69 70
71
Zb. O. S. N. 1929, Nr. 164, S. 296. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Berlin 1911, S. 253f. Radbruch, Rechtspilosophie, Stuttgart 1963, S. 234.
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verbinde die Allgemeinheit bestimmte Tatsachen. Aber so wie es mit dem Eigentum steht, verhält sich es auch mit anderen strafrechtlichen Rechtsbegriffen. Die Abgrenzung zwischen Tatsachenbegriffen und Strafrechtsbegriffen ist deswegen nicht durchführbar. Das Gericht führt weiter aus: Wenn es um Art. 45 des Finanzstrafgesetzes gehe, könne der Gesetzgeber, wenn er von der "Nichtentrichtung von Zollgebühren" spricht, diese komplizierten Begriffe nicht nur auf Tatsachen beziehen und sie naturgemäß nicht für Tatsachenbegriffe halten. Im Gegenteil handele es sich bei diesen Ausfüllungsnormen um integrale Teile des Strafgesetzes. Infolgedessen solle der Irrtum über sie unbeachtlich sein. Das Gericht meint weiter, dies alles sei das Resultat einer bestimmten Gesetzestechnik, die keinen Unterschied in der Zurechnung zu begründen vermag. Statt die Vorschriften des Art. 3 und 5 Buchst. b) in den Tatbestand des Art. 45 des Finanzgesetzes aufzunehmen, habe der Gesetzgeber einen anderen Weg gewählt, indem er die Ausfüllungsnormen in einem anderen Gesetz regelte. 72 Im Ergebnis erklärt das Oberste Polnische Gericht den Irrtum des Angeklagten über die einschlägigen Konkretisierungsvorschriften für irrelevant.
c) Zusammenfassung
Resümiert man die vorstehende Analyse und die gewonnenen Ergebnisse, so ergibt sich folgendes Bild. In der polnischen Judikatur findet ein Wandel der Irrtumsabgrenzung in der fundamentalen Frage statt, ob zwischen rechtsfolgenrelevant verschiedenen Arten des Irrtums horizontal oder vertikal zu differenzieren ist73 • Die überkommene Dichotomie zwischen dem außerstrafrechtlichen und dem strafrechtlichen Rechtsirrtum und Tatsachenirrtum, auf die noch die ersten Entscheidungen des Obersten Polnischen Gerichts rekurrieren, wird seit dem Urteil vom 11. Februar 1929 ("Tabaksteuer"), das man als eine "Wendepunktentscheidung" bezeichnen kann, preisgegeben. Interessant ist dabei, daß die Abkehr von der reichs gerichtlichen Irrtumsabgrenzung schon vor 1929 vor allem in Entscheidungen begrifflich vollzogen wird, die aufgrund des russischen StGB von 1903 ergangen sind. Dies kann so erklärt werden, daß die dem russischen Strafgesetzbuch von 1903 zugrunde liegende Irrtumsauffassung
Zb. O. S. N. 1929, Nr. 164, S. 296. Die anschaulichen Bezeichnungen "horizontal" und "vertikal" für eine an der Dichotomie von Tatirrtum und Rechtsirrtum gegenüber der am Aufbau der Straftat orientierten Dichotomie von Tat- und Verbotsirrtum stammen von Kuhlen, vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, Frankfurt a. M. 1987. 72
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keine Trennung in strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Irrtum kannte, was der Kommentar von Tagancew bestätigt. 74 Die polnische Rechtsprechung setzt ähnlich wie die polnische Rechtslehre der tradierten Unterscheidungspraxis des Reichsgerichts eine vertikale Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum entgegen. Diese Konfrontierung des Begriffspaares Rechts- und Tatirrtum mit dem Gegensatz von Tatbestands- und Verbotsirrtum wird zwar nicht rechtsbegrifflich, sondern nur gedanklich vollzogen. Von der Abgrenzungsterminologie von Rechts- und Tatirrtum rückt das Revisionsgericht in den 20er Jahren nicht ab.
4. Die Behandlung von Rechtfertigungsgründen und Rechtswidrigkeit a) Stellungnahmen zum Stand der Forschung in der Lehre
Allgemein werden in der Rechtslehre diejenigen Umstände als Rechtfertigungsgründe aufgefaßt, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen. Krzymuski zählt zu ihnen z. B. das Handeln aufgrund von Amtsrechten, die Notwehr oder den Notstand. 75 Festzuhalten ist, daß bei der Darstellung der einzelnen Erlaubnissätze nur ihre objektive Seite behandelt wird. 76 Zu den Notwehrvoraussetzungen gehören nach Krzymuski die Rechtswidrigkeit des Angriffs, seine Gegenwärtigkeit, die Notwendigkeit und Angemessenheit der Verteidigungshandlung. Das subjektive Rechtfertigungselement (Rechtfertigungsbewußtsein, Verteidigunsgwille) wird nicht erwähnt. Diese Objektivierung der Rechtfertigungsgründe wird erst verständlich, wenn man sich die damalige Verbrechenslehre vor Augen führt. Die Rechtswidrigkeit als Verbrechensmerkmal gehört der objektiven Tatseite an. 77 Da die Rechtfertigungsgründe sie ausschließen sollen, müssen auch sie von subjektiven Elementen befreit werden. Die Frage nach dem Rechtfertigungsbewußtsein oder dem Rechtfertigungswillen wird auf diesem Entwicklungsstand der polnischen Verbrechenslehre noch nicht problematisiert. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit. Der einzige, der die Frage danach aufwirft, ist Wolter. Er geht der Frage nach, wie sich der Tatbestand und die Rechtswidrigkeit zueinander verhalten. Rechtswidrigkeit und Rechtfertigung sind ihm zufolge Begriffe, die gewöhnlich in der Form von Regel und Ausnahme am Anfang der BeTagancew, Strafgesetzbuch, S. 55. Krzymuski, Grundriß, S. 50ff. 76 Makarewicz, Allgemeines Strafrecht, S. 162ff; Borowski, Grundsätze des Strafrechts, S. 132ff.; Krzymuski, Strafrechtssystem, S. 60ff. 77 Vgl. dazu Kap. D.I. 74
7S
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trachtung stehen. Fonnelle und materielle Rechtswidrigkeit bilden dann das zweite Begriffspaar. Eine strafbare Handlung ist Wolter zufolge rechtswidrig, wenn sie a) dem Recht widerspricht und b) keine Verkörperung eines sog. Rechtfertigungsgrundes ist. 78 Dabei wird nach Wolter der fonnelle Widerspruch der strafbaren Handlung zum Recht durch die Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes sichtbar. In seinen weiteren Ausführungen schließt er sich der Ansicht von Sauer an, für den die Tatbestände nur das Abbild der Rechtswidrigkeit sind; sie bedeuten die typisch ausgestaltete Rechtswidrigkeit, sie sind vertypte Rechtswidrigkeit. 79 Wenn nach Wolter die Rechtswidrigkeit mit dem Tatbestand in eins gesetzt wird, so stellt sich nun die Frage, ob dieser objektiv aufgefaßten Rechtswidrigkeit auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit entsprechen muß. Dieser Frage versucht Wolter in seinem Buch "Das psychische Element im Wesen des Verbrechens" nachzugehen. Er fragt, ob es im Rahmen der psychischen Tatseite erforderlich ist, daß der Täter das Bewußtsein hat, der konkrete Taterfolg widerspreche dem Recht. Nach Wolter ist die Annahme des Unrechtsbewußtseins ein Denkprozeß, der in der Fonn eines Syllogismus im Täterbewußtsein auftritt, z. B.: Die Tötung eines Menschen widerspricht dem Recht, ich will jemanden töten. Daraus ergibt sich, daß die beabsichtigte Tat im Widerspruch zur Rechtsordnung steht. 80 Wenn nun Wolter das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit in der psychischen Tatseite für unverzichtbar hält, so bleibt nur noch seine Einordnung im Verbrechensaufbau zu erörtern. Wolter sieht in ihm einen Bestandteil des Vorsatzes. 8l Im Zeitpunkt der Tatbegehung muß sich daher der Täter bewußt sein, daß seine Tat der Rechtsordnung widerspricht.
b) Zusammenfassung Als Ergebnis läßt sich sagen, daß die Elemente der einzelnen Rechtfertigungsgründe objektiv aufgefaßt werden. Dies entspricht dem damaligen Wolter, Die Krise der Rechtswidrigkeit, ZStW 48 (1928), S. 33. Sauer, Grundlagen des Strafrechts, BerlinlLeipzig 1921, S. 307. Ein Verhalten ist dann rechtswidrig, wenn die vertypte Rechtswidrigkeit (Tatbestand) materiell realisiert wird. Das involviert zugleich das Fehlen von Rechtfertigungsgründen. Die Typenbildung ist nach Wolter ein Fortschritt, weil an Stelle der Zweiheit eine Einheit gesetzt wird. Damit wird aber die Grenze zwischen dem Tatbestand und den Rechtfertigungsgründen verwischt und der Stellenwert von Erlaubnissätzen im Verbrechensaufbau herabgemindert. 80 Wolter, Das psychische Element im Wesen des Verbrechens ("Czynnik psychiczny w istocie przestc;pstwa"), Krak6w 1924, S. 62. 81 Ibid. S. 80. 78 79
4 Lewandowski
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Verständnis vom Verbrechens aufbau, nach dem das Rechtswidrigkeitsurteil auf die objektive Tatseite beschränkt bleibt. Da der Tatbestand zu dieser Zeit seine Wertfreiheit bereits verlor, wird er insbesondere bei Wolter aus einem bloßen Rechtswidrigkeitsindiz zum Träger des Deliktsunrechts.
s. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe a) Rechtslehre
Dem Fall der Putativrechtfertigung wird in jener Zeit in der Lehre keine große Bedeutung beigemessen. Es gibt Autoren, die von dem Irrtum über die Rechtfertigungsgründe fast gar keine Kenntnis nehmen. 82 Es gibt aber auch Stellungnahmen. Borowski, der zu den Umständen i. S. des Art. 43 russ. StGB auch die Rechtsverhältnisse83 rechnet, geht in unmittelbarem Anschluß an die Ausführungen zum Tatsachen- und Rechtsirrtum auf den Fall der Putativrechtfertigung ein. Es kann nämlich vorkommen, daß sich jemand in einem Irrtum über die Umstände befindet, die die Zurechnung der Tat ausschließen. Borowski denkt hier in erster Linie an die Putativnotwehr und den Putativnotstand. Wenn nun ein vermeintlich Angegriffener, indem er glaubt, in Notwehr gehandelt zu haben, jemanden tödlich verletzt, so muß er nach Borowski straflos bleiben, wenn der Irrtum unvermeidbar war. 84 Diesen Fall der Putativnotwehr grenzt Borowski ähnlich wie Tagancew von der Notwehrüberschreitung ab. 85 Unter Berufung auf eine Entscheidung des Obersten Polnischen Gerichts aus dem Jahre 191986 will Borowski Art. 43 russ. StGB auf den Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt anwenden. 87 82 So z. B. Krzymuski, Grundriß der allgemeinen Strafrechtsinstitute oder Rappaport, Grundriß der materiellen Strafrechtsregeln aufgrund der Strafgesetzbücher, die im Zuständigkeitsbereich der Berufungsgerichte in Warschau und in Lublin und in den Ostgebieten gelten ("Rys zasad prawa kamego materialnego w swietle ustaw tymczasowo obowillzujllcych w okr~gach Slld6w apelacyjnych Warszawskiego i Lubelskiego oraz na Ziemiach Wschodnich"), Warszawa 1920. 83 Vgl. oben Kap. D.III.3.a). 84 Borowski, Grundsätze des Strafrechts, S. 110; dagegen geht Borowski in seinem Aufsatz, Der Notstand als Grund für den Ausschluß der Strafbarkeit des Totschlags ("Koniecznosc wyi:sza jako czynnik bezkamosci pozbawienia Zycia") in: GSW 1926, S. 169ff., auf den Fall des Putativnotstandes nicht ein. 8S Borowski, Grundsätze des Strafrechts, S. 123; Tagancew, Strafgesetzbuch, S. 58. Interessant ist, daß auch der russische Strafrechtsdogmatiker Siergiewski in seinem Lehrbuch den Fall der Putativnotwehr erörtert. Er will auf ihn die Vorschriften über den error facti anwenden (vgl. Siergiewski, "Ruskoje ugolownoje prawo", Petersburg 1905, S.260). 86 Vgl. die Besprechung dieser Entscheidung, Kap. D.III.5.c)aa).
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Makarewicz, der ähnlich wie Borowski den Irrtum über rechtliche Verhältnisse unter den Tatsachenirrtum subsumiert, versucht den Irrtum über Rechtfertigungsgründe auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung einzuordnen. Wenn jemand die Grenzen der Notwehr überschreitet in dem Glauben, daß er sich in Grenzen der Notwehr hält, so beruft er sich auf die Unkenntnis von Gesetzesvorschriften; dieser Irrtum sei dann unbeachtlich. Leistet dagegen jemand Widerstand in der Überzeugung, das Handeln einer Amtsperson sei rechtswidrig und die Verteidigung dagegen zulässig, so beruft er sich auf eine unzutreffende Beurteilung eines rechtlichen Verhältnisses und damit eines tatsächlichen Umstandes. 88 Makarewicz will daher die Überschreitung der Notwehrgrenzen dem Rechtsirrtum (Verbotsirrtum) unterstellen, da der Rechtsirrrtum nach der damaligen Auffassung auf der Unkenntnis von Gesetzesvorschriften beruht. Die Irrelevanz dieses Irrtums ergibt sich daraus, daß der Täter die Notwehrvoraussetzungen zu seinen Gunsten überdehnt. Im Falle der Putativnotwehr neigt Makarewicz dazu, sie dem Tatsachenirrtum (Tatbestandsirrtum) gleichzustellen, was nach der damaligen Gesetzeslage zum Vorsatzausschluß führen und unter Umständen die Bestrafung aus einem Fahrlässigkeitstatbestand eröffnen kann. Die unzutreffende Beurteilung eines Rechtsverhältnisses (z. B. die irrtümliche Annahme der Notwehrlage) stellt Makarewicz dabei auf die gleiche Stufe mit der falschen Vorstellung eines tatsächlichen Umstandes. Man sieht, daß Makarewicz die Gleichsetzung des Tatsachenirrtums mit dem Rechtsirrtum im Tatbestandsbereich auf die Erlaubnistatbestände überträgt. Diese Gleichsetzung vollzieht sich beim ihm nicht im besondern (d h. hinsichtlich der einzelnen Rechtfertigungselemente, die rechtlichen oder tatsächlichen Gehalt aufweisen), sondern eher im allgemeinen (d. h. bezüglich der Rechtfertigungsvoraussetzungen schlechthin). Im Unterschied zu Makarewicz erfaßt Glaser den error iuris in einem weiteren Verständnis. 89 Er versteht darunter zunächst den Irrtum über die Rechtswidrigkeit. Diese Rechtswidrigkeit kann ihren Grund in einem Tatsachenirrtum haben (in diesem Zusammenhang erwähnt Glaser den Fall der Putativnotwehr) oder aus der Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift resultieren. 90 Daraus ist noch nicht erkennbar, wie er den Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen einordnen will. Nach längeren Ausführungen, die der Rechtsfigur des error iuris in fremden Gesetzeskodifikationen gelten, will er den Rechtsirrtum im Tatsachenirrtum aufgehen lassen. Ergibt sich daraus das gleiche für den Fall der Putativrechtfertigung?
Borowski. Grundsätze des Strafrechts. S. 1JO. Makarewicz. Allgemeines Strafrecht. S. 134. 89 Vgl. Kap. D.III.3.a). 90 Glaser. Iuris ignorantia im Strafrecht. S. 2. 87
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Das kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Glaser gehört zu den ersten polnischen Autoren, der den Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen als Irrtum über die Rechtswidrigkeit diskutiert. Bei ihm ist anders als bei Makarewicz jeder Irrtum über ein Rechtfertigungselement ein Tatsachenirrtum (Tatbestandsirrtum). Die Gleichsetzung von Tatirrtum und Rechtsirrtum vollzieht sich hier im besonderen (Erlaubnistatirrtum und Erlaubnistatbestandsirrtum sind daher identisch). Dieser Erlaubnistatirrtum liefert dann nur die Grundlage für den Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat (Verbotsirrtum). Glaser geht jedoch nicht den Weg, den Irrtum über Rechtfertigungsgründe als Verbotsirrtum einzustufen. Eine Begründung dafür, warum im Falle der Putativrechtfertigung der Vorsatz ausgeschlossen bleibt, liefert Wolter in seiner Arbeit "Das psychische Element im Wesen des Verbrechens". Ihm zufolge hat diese Unterscheidung nur dann Berechtigung und Relevanz, wenn das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ein Bestandteil des Vorsatzes ist. Erst dann gewinnt die Frage an Aktualität, ob jemandem die Tat zugerechnet werden kann, wenn er in Putativnotwehr handelt. Da Wolter zu dieser Zeit davon ausgeht, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ein Vorsatzelement ist, spricht er sich dafür aus, im Falle des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe den Tätervorsatz entfallen zu lassen. Glaubt der Täter, daß ihm ein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht, so würde ihm nach Wolter das für den Vorsatz notwendige Rechtswidrigkeitsbewußtsein fehlen. 91 Unter dem Blickwinkel des fehlenden Unrechtsbewußtseins will also Wolter die beiden Irrtumsfälle gleich behandeln, d. h. den Fall, daß sich der Täter über das Tatbestandsmerkmal "ledig" und über eine Notwehrvoraussetzung im Irrtum befindet. Ob das zutrifft, können wir zunächst dahingestellt sein lassen. Auf jeden Fall neigt Wolter dazu, den Irrtum über Rechtfertigungsgründe als Irrtum über die Rechtswidrigkeit zu behandeln, im Ansatz wie Glaser. Was würde sich daraus ergeben, wenn das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit kein Bestandteil des Vorsatzes wäre? Wolter müßte dann konsequent den Vorsatz im Falle der Putativrechtfertigung bestehen lassen. Wie könnte man das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit in dem damaligen Verbrechensaufbau unterbringen? Es bestünde nur die Möglichkeit, es als psychisches Element dem Schuldbreich zuzuweisen. Im Ergebnis würde sich an der Frage der Behandlung der Putativrechtfertigung nichts ändern, da ihre Lösung weiterhin in der Schuld angesiedelt wäre (der Vorsatz war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ein reines Schuld- moment). An diesem umstrittenen Irrtumsfall läßt sich die Undifferenziertheit der inneren Verbrechens struktur am besten demonstrieren. Darauf wird noch näher zurückzukommen sein.
91 Wolter, Das psychische Element im Wesen des Verbrechens ("Czynnik psychiczny w istocie przestc:;pstwa Krak6w 1924, S. 80. U
),
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b) Zusammenfassung In der Frage der Behandlung des Irrtums über Rechtfertigungsgrunde begegnet man in der polnischen Lehre jener Zeit durchaus interessanten Lösungsvorschlägen. Sie werden jedoch nur marginal besprochen und nicht weiter problematisiert. Fast alle Arbeiten, in denen Stellung zur Putativrechtfertigung bezogen wird, lassen eine allgemeine Tendenz erkennen, auf den Erlaubnistatbestandsirrtum Vorschriften (Art. 43 russ. StGB oder § 59 RStGB) anzuwenden, die zum Vorsatzausschluß und zur eventuellen Bestrafung wegen fahrlässiger Begehung führen. Die Frage, ob diese Gesetzesvorschriften direkt oder analog zur Anwendung kommen, wird noch nicht reflektiert.
c) Rechtsprechung
aa) Urteil vom 7.01. 1919 (zu Art. 43 russ. StGB) Dieser Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagte hatte einem Polizeibeamten den Zutritt zu ihrer Wohnung verweigert und ihn dabei beleidigt. Er wollte ihre Wohnung legal betreten, um diese zu desinfizieren. Sie nahm dagegen an, daß er ohne ihr Einverständnis in ihre Wohnung eindringen wollte. In einer seiner ersten Entscheidungen legt das Oberste Gericht dar, daß die Unverletzlichkeit der Wohnung unter dem Schutz der Rechtsordnung steht und damit zugleich ein notwehrfähiges Gut darstellt. 92 Aus der Urteilsbegründung geht weiter hervor, daß der Polizeibeamte möglicherweise ehrenverletzende Äußerungen gegen die Angeklagte ausgesprochen hatte, so das sie in berechtigter Weise zu dem Schluß gelangen konnte, daß ein rechtswidriger Angriff auf ihre Privatsphäre vorliegt. Das Revisionsgericht geht jedoch auf diesen Umstand nicht unmittelbar ein. Es vertritt vielmehr die Auffassung, daß Art. 43 russ. StGB der Angeklagten nicht zugute kommen kann, weil sich diese Vorschrift nicht mit der möglichen Unkenntnis von Tatumständen begnügt, sondern vielmehr eine sorgfaItige Feststellung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen verlangt. 93 Ob die Ausführungen des Gerichts auf die Annahme einer Prüfungspflicht im Rahmen des Art. 43 russ. StGB hinauslaufen, mag hier unerörtert bleiben. Interessant ist, daß das Oberste Gericht auf den Art. 43 russ. StGB abstellt, der eigentlich den Fall des Tatsachenirrtums (Tatbestandsirrtums) regelt. Die Angeklagte befand sich bei näherem Zusehen nicht in einem Irrtum über Tatumstände, die die Strafbarkeit begründen. (Art. 43 russ. StGB)94. Sie wußte ganz genau, daß sie einen Beamten bei der
93
Zb. O. S. N. 1918, Nr. I, S. 2. Zb. O. S. N. 1918, Nr. 2, S. 3f.
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Vgl. dazu Kap. D.I1I.Vorbem. Das russ. StGB von 1903.
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D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
Vornahme einer Amtshandlung beleidigt (Art. 143 Teil 1 und 530 russ. StGB). In Wirklichkeit unterlief ihr ein Irrtum über die Notwehrvoraussetzungen. Nach der Ablehnung des Art. 43 russ. StGB besteht für das Revisionsgericht kein Grund, das Urteil des erkennenden Gerichts aufzuheben.
bb) Urteil vom 22. 11. 1920 (zu Art. 43,45 russ. StGB) Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte schlug auf eine Frau mit einem Stock ein, weil sie ihm mit Fäusten drohte und einen Dieb nannte. Die Frau erlitt leichte Körperverletzungen. Das Gericht ist der Auffassung, daß Art. 45 russ. StGB 95 über die Notwehr nicht einschlägig ist. Der Angriff der Frau auf die Ehre des Angeklagten war bereits beendet, als der Angeklagte tätlich wurde. Es fehlt daher an der Gegenwärtigkeit des Angriffs. Auf einen möglichen Irrtum des Angeklagten bezüglich der Gegenwärtigkeit des Angriffs geht das Gericht in der Urteils begründung nicht ein, obwohl dafür Anhaltspunkte vorliegen. Laut Sachverhalt weigerte sich die Frau, den Hof des Angeklagten zu verlassen, als der sie dazu aufgefordert hatte. Es mag zwar zutreffen, daß die Ehre des Angeklagten nicht mehr bedroht wurde, als der Angeklagte auf die Frau einschlug. Der Angriff auf das Hausrecht war jedoch in diesem Moment noch nicht beendet, da sich die Frau nach wie vor im Hof aufhielt. Er war auch gegenwärtig, so daß die Notwehrlage durchaus angenommen werden könnte. Das Revisionsgericht hält auch diesen Umstand für die Anwendung des Art. 45 russ. StGB anscheinend für nicht ausreichend. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß in einer bloßen Weigerung, sich zu entfernen, noch kein Angriff gesehen werden kann. 96 Diese Entscheidung bestätigt zugleich, daß das Oberste Gericht am Anfang nicht oft bereit ist, der subjektiven Tatseite (Irrtum) in vollem Umfang Rechnung zu tragen.
cc) Urteil vom 28. 10. 1921 ( zu Art. 43, 45 russ. StGB) In dieser Entscheidung befaßt sich das Oberste Gericht mit folgendem Sachverhalt. Der Angeklagte besaß ein Pferd. Es bestand dringender Verdacht, daß 95 Art. 45 § 1 russ. StGB lautet: Eine Straftat liegt nicht vor, wenn jemand eine Tat in Notwehr begeht, indem er einen rechtswidrigen Angriff auf sein eigenes oder fremdes Gut oder Vermögen abwehrt. Von der Wiedergabe des § 2, der den Fall der Notwehrüberschreitung betrifft, wurde hier abgesehen. 96 Zb. 0. S. N. 1920, Nr. 77, S. 144; die Frage, ob der Angriff bei der Notwehr auch in einem Unterlassen bestehen kann, wird u.a. von Makarewicz später diskutiert, vgl. Makarewicz, Die Notwehr im Verhältnis zum Unterlassen ("Obrona konieczna w stosunku do zaniechania") in: GS 1936, Heft 1, S.7ff.; vgl. auch das Urteil vom 14.12.1934 in: Zb. 0. S. N. 1935, Nr. 283, S. 464.
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er illegal in seinen Besitz gelangt war, was auch der objektiven Sachlage entsprach. Das Pferd wurde dann durch die Polizei rechtmäßig beschlagnahmt. Gegen die Beschlagnahme leistete der Angeklagte Widerstand. Dazu führt das Gericht folgendes aus: "Im übrigen liefert der Sachverhalt keine Anhaltspunkte dafür, daß sich der Angeklagte vorstellte, in Notwehr gern. Art. 45 russ. StGB gehandelt zu haben. Auf diesen Umstand berief sich der Angeklagte nicht im Gerichtsverfahren, daher kommt die Putativnotwehr im vorliegenden Fall nicht in Betracht. 97 Das ist eine der ersten Entscheidungen, in der das Oberste Gericht das subjektive Rechtfertigungselement berücksichtigt und die Putativnotwehr in Erwägung zieht.
dd) Urteil vom 5.02. 1925 (zu § 59 RStGB) Im Urteilstenor stellte das Gericht fest, daß das Notwehrrecht nur dann in Betracht kommen kann, wenn ein wirklicher Angriff vorliegt. Im Falle der Putativnotwehr solle § 59 RStGB anwendbar sein.98
ee) Urteil vom 30.06. 1927 (zu Art. 43 russ. StGB) In dieser Entscheidung befaßt sich das Oberste Gericht mit einem Fall des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe. Der Angeklagte sollte nach Art. 458 russ. StGB 99 wegen eines vorsätzlich begangenen Verbrechens verurteilt werden. Das Kreis- und Berufungsgericht schließen den Fall der Putativnotwehr in ihren Urteilen aus. Sollte das unzutreffend sein und ein Irrtum über die Notwehrlage vorliegen, will das Revisionsgericht grundsätzlich den Art. 43 russ. StGB auf den Fall der Putativnotwehr anwenden. 100 Vorliegend lehnt das Oberste Gericht die Möglichkeit des Irrtums über die Notwehrvoraussetzungen ab und führt zum Schluß aus: "Die Putativnotwehr liegt dann vor, wenn der Täter irrig einen Angriff annimmt, gegen den er sich verteidigen muß ... 101
Zb. O. S. N. 1921, Nr. 148, S. 238ff. RPiE 1925, S. 1203. 99 Art. 458 ross. StGB lautet: § 1: Wer einen Totschlag absichtlich und unter dem Einfluß einer starken seelischen Erregung begeht, macht sich strafbar ( ... ). § 2: Wurde die starke seelische Erregung durch einen rechtswidrigen Gewaltakt oder eine schwere Beleidigung seitens des getöteten Menschen herbeigeführt, wird der Täter (... ) bestraft. 100 Zb. O. S. N. 1927, Nr. 83, S. 130; ungeklärt bleibt, ob Art. 43 ross. StGB direkt oder analog zur Anwendung kommen sollte. 101 Zb. O. S. N. 1927, Nr. 83, S. 130f. 97
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D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
mUrteil vom 24. 10. 1929 (zu § 2 öStGB) Der Angeklagte wurde durch das erkennende Gericht der ersten Instanz nach § 335 öStGB verurteilt, da er sich nach der Auffassung des Gerichts der Lebensgefährdung schuldig gemacht hatte. Die Sachlage ist nicht ganz klar. Fest steht nur, daß das Opfer den Angeklagten beim Holzdiebstahl im Walde erwischte. Aus dem Sachverhalt geht nicht eindeutig hervor, ob das Opfer mit einem Angriff rechnete. Der Angeklagte wollte einen langen Gegenstand als Angriffsmittel in der Hand des Opfers gesehen haben, was ebenfalls nicht sicher erwiesen ist. Das Revisionsgericht stellt daher fest: "Wenn das erkennende Gericht die Voraussetzungen einer wirklichen oder vermeintlichen Notwehrlage abgelehnt hat, kann § 2 Buchst. g) öStGB 102 über die Notwehrüberschreitung nicht zur Anwendung kommen".103 Diese Entscheidung bestätigt zugleich, daß das Rechtfertigungsbewußtsein durch die Gerichte immer mehr Beachtung findet und entsprechend gewürdigt wird. Darin liegt zugleich ein Unterschied zu den ersten Entscheidungen, in denen das Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungselements noch kaum ernsthaft in Erwägung gezogen wird.
gg) Urteil vom 10. 12. 1930 Im Urteilstenor heißt es: "Die Notwehrlage kann nur dann angenommen werden, wenn der Angriff wirklich vorliegt und der Angegriffene handelt, um diesen Angriff abzuwehren, und nicht aus anderen Beweggründen (man könnte fast hinzufügen: Mit Verteidigungswillen)."I04 Darin ist das subjektive Rechtfertigungselement ausdrücklich angesprochen.
d) Zusammenfassung
In der Behandlung des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe begründet das Oberste Polnische Gericht eine einheitliche Rechtsprechung. In allen Entscheidungen, die auf der Grundlage des russischen, deutschen und österreichischen Strafgesetzbuches ergehen, werden auf den Fall der Putativrechtfertigung die Vorschriften angewandt, die den Tatirrtum regeln. Unreflektiert bleibt auch hier die Frage, ob die Anwendung dieser Gesetzesvorschriften direkt oder nur im Wege der Analogie erfolgen soll. Beachtenswert ist, daß alle zum Fall der 102 Vgl. Kap. D.III.Vorbem. § 2 Buchst. g) öStGB hatte folgenden Wortlaut: ,,Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet, wenn die Tat durch unwiderstehlichen Zwang oder in Ausübung gerechter Notwehr erfolgte. 103 Zb. O. S. N. 1929, Nr. 272, S. 144. 104 Zb. O. S. N. 1930, Nr. 216, S. 491.
III. Irrtumslehre
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Putativrechtfertigung ergangenen Entscheidungen den Irrtum über die Notwehrvoraussetzungen betreffen. 105 Außerdem zeigt sich diese Einseitigkeit auch bezüglich des Irrtums über die einzelnen Notwehrvoraussetzungen. Der Großteil der Entscheidungen betrifft nur den Angriff als Gegenstand des Irrtums. Die anderen Rechtfertigungselemente der Notwehr wie "Rechtswidrigkeit", "Gegenwärtigkeit" oder "Erforderlichkeit" kommen als Irrtumsobjekte in den Urteilen des Obersten Gerichts nicht vor. Stärker als bei der polnischen Rechtslehre jener Zeit muß die Kreativität des Obersten Gerichts im Bereich der Rechtsentwicklung unterstrichen werden. Das betrifft in erster Linie die Entscheidungen, in denen das Gericht die Notwendigkeit der subjektiven Rechtfertigungselemente hervorhebt, die im Schriftum dieser Zeit noch kaum thematisiert werden.
6. Gesetzentwürfe zum neuen polnischen Strafgesetzbuch Wie bereits erwähnt, hat Polen zwischen 1918 und 1932 kein eigenes Strafgesetzbuch. Nach 1918 bleiben die alten Gesetze aus der Epoche der Teilung in Kraft. In dieser Zeit werden aber schon die ersten Versuche unternommen, das Strafrecht zu kodifizieren. Zu den ersten, die 1916 der Öffentlichkeit ein Gesetzentwurf vorlegen, gehören Aleksander Mogilnicki und Stanislaw Emil Rappaport. Ihr Entwurf beschränkt sich in seiner Ausgestaltung auf die Regelung der Vorschriften über die Strafzumessung, Straftaten und Strafvollstrekkung. Er verzichtet auf die Bestimmungen über die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit. Mogilnicki steht auf dem Standpunkt, daß die Strafe keinen Vergeltungscharakter mehr haben solle. Das Entscheidende für ihn bei der Strafzumessung sei der Grad der Gefährlichkeit des Täters für die Gesellschaft. 106 Rappaport will dagegen beide Ziele, d. h. Vergeltung und Schutz der Gesellschaft, mit der Strafe verbinden. Für die hier interessierende Irrtumsproblematik ist jedoch der Entwurf irrelevant. Der zweite Kodifikationsversuch stammt von Krzymuski. 107 Krzymuski schickt seinem auf den Allgemeinen Teil beschränkten Entwurf einleitende Betrachtungen voraus über den Geist, das System und die Stilisierung der Arbeit. Er bekennt sich als Anhänger der klassischen Schule, ist aber bemüht, auch den Anforderungen der modernen Kriminalpolitik gerecht zu werden. Die Gerechtigkeit muß Grundlage der Strafrechtsordnung sein. Grundlage der BelOS Aus dieser Zeit ist mir keine Entscheidung bekannt, die sich mit dem Fall des Putativnotstandes oder der Putativeinwilligung befaßt. 106 MogilnickilRappaport, Der Gesetzentwurf zum Strafgesetzbuch für die polnischen Gebiete ("Projekt Kodeksu Karnego dia ziem polskich"), Warszawa 1916, S. 3. 107 Vgl. Krzymuski, Entwurf zum polnischen Strafgesetzbuch ("Projekt Kodeksu Karnego Polskiego"), Warszawa 1916, S. 6ff.
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D. Der Zeitraum von 1918 bis 1932
strafung ist die Schuld, ihre Voraussetzung die Zurechnungsfähigkeit. Der Schuldbegriff muß unabhängig vom Streit des Determinismus und des Indeterminismus gefaßt werden. Auf die Kenntnis der Strafgesetze kommt es also nicht an. Fehlt hingegen dem Täter aus unverschuldetem Irrtum das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, so besteht keine Verantwortlichkeit. Die Annahme des Gegenteils würde dem Schulderfordernis widersprechen. 108 Dem Entwurf liegt das Schuldprinzip zugrunde, das Krzymuski zu seinem zentralen Begriff erklärt. Es urnfaßt die Zurechnungsfähigkeit und ist Grundlage der Strafe. Krzymuski geht davon aus, daß jeder Mensch fähig ist, sein Handeln an den Rechtsnormen auszurichten. In der Schuld sieht er eine ethische Kausalbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Tat. Seine Schuldauffassung wird in Art. 17 des Entwurfs betont, der folgenden Inhalt hat: § 17 Abs. 1: Die Unkenntnis der Vorschriften des Strafgesetzbuches schließt die Schuld nicht aus.
Abs. 2: Wenn der Täter nicht in der Lage ist, das Unrechtmäßige seiner Tat zu erkennen, oder der Auffassung ist, seine Tat widerspreche nicht der Rechtsordnung oder die Rechtsordnung gebiete sie, so kann das Gericht diesen Irrtum wie einen Tatsachenirrtum gern. § 16 Abs. 1 behandeln, was den Ausschluß der Verantwortlichkeit zur Folge hat. § 16 Abs. 1: Ohne kriminelle Schuld handelt, wer eine Tat in einem unverschuldeten Irrtum begeht, indem er Tatumstände annimmt, die den gesetzlichen Tatmerkmalen nicht entsprechen.
In seinem Buch: "Grundriß der allgemeinen Strafrechtsinstitute" liefert Krzymuski eine Begrilndung für die Regelung des § 17 Abs. 2. Die strenge Regel "legis ignorantia vel iuris error nocet" geht ihm zufolge zu weit. Sie soll keine Anwendung finden, wenn der Täter ohne Schuld nicht erkennen konnte, daß seine Tat durch das Gesetz unter Strafe gestellt iSt. 109 Beim näheren Zusehen stellt § 17 Abs. 2 des Entwurfs eine Abweichung von der bisherigen Behandlung des Rechtsirrtums dar, indem er ihn in seinen Rechtsfolgen dem Tatirrtum anscheinend nur fakultativ gleichstellt.
lOS Diese Regelung hat bei Oetker Zustimmung gefunden, vgl. hierzu Oetker, Der Entwurf eines polnischen Strafgesetzbuches. Allgemeiner Teil von 1918 in: MonKrimPsych 1922, S. 130. 109 Krzymuski, Grundriß der allgemeinen Strafrechtsinstitute, S. 101.
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939 I. Entstehungsgeschichte des ersten polnischen Strafgesetzbuches! Im Bereich des materiellen Strafrechts ist die Schaffung eines polnischen Strafgesetzbuches von großer Wichtigkeit. Es soll zur Integration des wiederentstehenden polnischen Staates beitragen und eine Vereinheitlichung des Rechts herbeiführen. Die Vorbereitungsarbeiten beginnen während des ersten Weltkrieges. Am 3. Juni 1919 beruft das polnische Parlament die Kodifikatonskommission, die am 10. November 1919 ihre Tätigkeit aufnimmt. Der Kommission gehören viel\: hervorragende Juristen der Wissenschaft und Praxis an. Die führende Rolle in der zwölf Personen zählenden Strafabteilung der Kommission übernehmen Juhusz Makarewicz, Professor an der Universität Lw6w, sowie Waclaw Makowski, ehemaliger und künftiger Justizminister, Rechtsanwalt und Professor an der Warschauer Universität. Die Arbeiten werden zuerst vor dem Forum der ganzen Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission geführt. Die Gliederung der Abteilung in zwei Gruppen (eine Sektion für materielles Strafrecht und eine Sektion für die Strafprozeßordnung) erfolgt im Mai 1920. Die Arbeiten für den Entwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches leitet Makarewicz, der für die Fragestellung und einleitenden Beiträge zuständig ist. Die grundlegenden Prinzipien werden!Jt!reits bis Mai 1920 formuliert und bis zum Ende des Jahres 1921 alle weiteren Regelungen und Institute beschlossen und ausgearbeitet. Der Allgemeine Teil des Gesetzentwurfesist 1922 beendet. In den nächsten Jahren werden im Entwurf des Allgemeinen Teils kleinere Änderungen vorgenommen. Das endgültige Gesetzbuch tritt 1932 in Kraft und gilt bis zum Ende des Jahres 1969. Es ist ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des polnischen Strafrechts und zugleich ein Ausdruck des politischen Selbstbewußtseins.
I V gl. zum Ganzen eine ausführliche Darstellung im Buch von Litynski, Die Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission für die 11. Republik Polen ("Wydzial Karny Komisji Kodyfikacyjnej 11 Rzeczypospolitej"), Katowice 1991.
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
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11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932 Der endgültigen Fassung des polnischen Strafgesetzbuches sind fünf Vorentwürfe und zwei Gegenentwürfe vorausgegangen. Nach der zeitlichen Reihenfolge sind das der Vorentwurf von Makarewicz, der Vorentwurf des ersten Teiles des Strafgesetzbuches nach der zweiten Lesung, der Vorentwurf des Strafgesetzbuches nach der dritten Lesung und schließlich der Vorentwurf des polnischen Strafgesetzbuches nach der vierten Lesung. Darüber hinaus erscheinen in dieser Zeit zwei Gegenentwürfe, erstens der Gegenentwurf zum Allgemeinen Teil des polnischen Strafgesetzbuches, der von der Strafrechtskommission der polnischen Gesellschaft für die Kriminalgesetzgebung vorgelegt wird, zweitens der Gegenentwurf von Makowski. 2 Im folgenden werden zuerst die ersten vier Vorentwürfe im Hinblick auf die Regelung des Verbrechensbegriffs, des Irrtums und der Rechtfertigungsgründe dargestellt. Der Vorentwurf nach der vierten Lesung bleibt aus der Betrachtung ausgespart, da er lediglich unwesentliche Änderungen des Gesetzestextes formeller Art enthält, die hier nicht interessieren. Zum Schluß werde ich die zwei Gegenentwürfe kurz besprechen.
1. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch von Makarewicz Dieser Vorentwurf ist das Ergebnis einer zweijährigen Arbeit in der Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission, die unter dem Vorsitz von Nowodworski im Januar und Mai 1920 und Makarewicz im Juni und November 1920, im Mai, Juni und Dezember 1921 tagt. Die Referenten, die an der Fassung des Vorentwurfs mitwirken, leiten die Diskussion ein und stellen das Vergleichsmaterial über die Behandlung der einzelnen Rechtsfragen in der polnischen und ausländischen Rechtsordnung dar. 3 Die Regelung des Irrtums und der Rechtfertiungsgründe sieht folgendermaßen aus: Art. 12: Die Tat wird nicht zugerechnet, wenn sie unter Zwang oder in einem entschuldbaren Irrtum begangen wurde.
2lbid. S. 12lff. Makarewicz, Strafrecht - Allgemeiner Teil [Vorentwurf] ("Ustawa kama - CzC(sc og61na [Projekt wstC(pny)") in: PPiA 1922, S. 93. 3
II.Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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Art. 2 § 1: Auf die Unkenntnis einer strafrechtlichen Gesetzesvorschrift kann sich niemand berufen. § 2: Beim entschuldbaren Fehlen des Unrechtsbewußtseins kann der Täter straflos (Art. 65 § 2) bleiben.
Art. 15: Eine Straftat liegt nicht vor, wenn der Täter in Notwehr handelt, indem er einen rechtswidrigen Angriff auf sein oder fremdes Gut abwehrt. Art. 16: Eine Straftat liegt nicht vor, wenn der Täter eine Gefahr abwendet, die einem seiner Güter droht, wenn das erforderlich ist und er nicht die Pflicht hat, die Gefahr hinzunehmen.
Auffallend ist, daß der Vorentwurf fast jeden Irrtum als Schuldausschließungsgrund nach Art. 12 behandelt. Dies gilt jedoch nur, wenn der Irrtum entschuldbar war. War er nicht entschuldbar, so wird der Täter aus dem Vorsatzdelikt bestraft. Eine Durchbrechung der in Art. 12 enthaltenen Regel sieht Art. 2 § 1 beim Irrtum über eine Gesetzesvorschrift vor. Die Unkenntnis einer strafrechtlichen Gesetzesvorschrift ist an sich unbeachtlich; das Gericht hat aber die Möglichkeit bei unverschuldeter Unkenntnis von Strafe abzusehen. Diese Regelung des Irrtums im Vorentwurf hat verblüffende Ähnlichkeit mit der damaligen reichsgerichtlichen Irrtumsjudikatur, d. h. mit der Unterscheidung zwischen dem außerstrafrechtlichen und dem strafrechtlichen Rechtsirrtum und Tatirrtum. Nach dem Reichsgericht sollen der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum und der Tatirrtum den Vorsatz ausschließen, der strafrechtliche ist dagegen völlig irrelevant. Hier stellt also die Ermessensklausel des Art. 2 § 2 die großzügigere Regelung dar. Der Vorentwurf ordnet in Art. 12 die Relevanz des außerstrafrechtlichen Rechtsirrtums und des Tatsachenirrtums an, dagegen in Art. 2 § 1 die grundsätzliche Unbeachtlichkeit des strafrechtlichen Rechtsirrtums. Ziemlich mißverständlich ist die Formulierung des Art. 2 § 2, der beim entschuldbaren Fehlen des Unrechtsbewußtseins ins Ermessen des Gerichts stellt, ob der Täter bestraft wird. Fraglich ist außerdem, ob Art. 2 § 1 ein Schuld- oder lediglich Strafausschließungsgrund ist. Nicht ganz geklärt bleibt auch das Verhältnis des Art. 2 § 1 zum Art. 2 § 2 des Vorentwurfs, was zu einem Streit zwischen seinen Verfassern und mehreren Gutachtern führt. So vertreten die Gutachter aus Lw6w die Auffassung, die Vorschrift des Art. 2 § 2 stelle keine Ausnahme zu der Regelung des Art. 2 § 1 dar, weil der sich auf das fehlende Unrechtsbewußtsein berufende Täter die Unkenntnis einer Strafrechtsvorschrift nicht geltend machen kann. Die Gutachter aus Posen sprechen sich dagegen dafür aus, den Art. 2 § 2 wegen des geplanten Art. 12 des Vorentwurfs zu streichen. Sie stellen sich auf den Standpunkt, daß der Vorentwurf zwischen dem strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Irrtum deutlich unterscheidet. Der strafrechtliche Rechtsirrtum soll wegen des Art 2 § 1 schlechthin unbeachtlich sein, der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum den Rechtsfolgen des Art. 12 unterstellt wer-
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
den. 4 Die ungeschickte Formulierung des Art. 2 § 2 verrät zugleich seine widersprüchliche Struktur. Ist das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit entschuldbar, so muß die Schuld und damit die Strafbarkeit automatisch entfallen. Art. 2 § 2 ist jedoch als "Kann"-Vorschrift ausgestaltet. Das bedeutet, daß im Falle des entschuldbaren Fehlens des Unrechtsbewußtseins die Schuld oder zumindest ein Rest der Schuld gegeben ist, da der Richter einen Ermessensspielraum hat und unter Umständen eine volle Strafe verhängen kann. Die kritische Stellungnahme der Gutachter aus Posen und Lw6w löst eine Reaktion von Makarewicz aus. Ihm zufolge besteht zwischen dem Tatsachenirrtum (Art.12) und dem Irrtum über die Rechtswidrigkeit ein grundlegender Unterschied. Die Ausdehnung des error facti auf den Rechtsirrtum wäre unzulässig. Die Vorschrift des Art. 2 § 2 des Vorentwurfs besagt, daß in Ausnahmefällen auch der Irrtum über die strafrechtliche Vorschrift relevant wird. Die Tat bleibe rechtswidrig, der Täter werde von der strafrechtlichen Verantwortung befreit oder seine Strafe gemildert. 5 Dieser Schluß nötigt zu der Frage, warum beim entschuldbaren Fehlen des Unrechtsbewußtseins die Schuld nicht entfällt. Diese Ungereimtheit könnte vielleicht so behoben werden, den Begriff "entschuldbar" nicht im üblichen Sinne als schuldverneinend zu deuten. Außerdem bleibt völlig rätselhaft, warum Makarewicz den Art. 12 nur auf den Tatsachenirrtum beschränken will. Art. 15 und 16 des Vorentwurfs regeln die Fälle der Notwehr und des Notstandes und sehen bei ihnen wortlautgemäß die gleichen Rechtsfolgen vor. Sie bedienen sich der Formulierung: "Eine Straftat liegt nicht vor". Dem Vorentwurf kann nicht direkt entnommen werden, ob diese Identität bezüglich der Rechtsfolge auch in der Sache besteht. Eine Straftat ist positiv existent, wenn alle ihre Bausteine vorliegen, d. h. wenn sie (im Sinne des damaligen Verständnis des Verbrechensaufbaus) tatbestandsmäßig, rechtswidrig, schuldhaft und strafbar ist. Sie ist nicht vorhanden, wenn es mindestens an einem Verbrechenselement fehlt. Aus diesem Grund ist die Formulierung "Eine Straftat liegt nicht vor" ziemlich unpräzise. Sie weist bereits auf eine bestimmte Gesetzestechnik hin, die in das polnische Strafgesetzbuch von 1932 später Eingang findet und offensichtlich auf Makarewicz zurückgeht.6 Der Vorentwurf von Makarewicz enthält keine Regelung des Irrtums über die Rechtfertigungsgründe.
4 Stellungnahme der Gutachter aus Posen und Lw6w zu Art. 2 § 2 des Vorentwurfs in: PPiA 1922, S. 109. 5 Makarewicz, PPiA 1922, S. 110. 6 Ich verdanke diese Erkenntnis Auskünften der Professoren Buchala und Zoll.
11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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2. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch nach der ersten Lesung
Der Vorentwurf hat nach der ersten Lesung folgende Fassung der hier in Betracht kommenden Bestimmungen: Art. 12: Es begeht keine Straftat, wer eine Tat im Irrtum über die Umstände begeht, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, es sei denn, daß der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt beruhte. Art. 14 § 1: Es begeht keine Straftat, wer in Notwehr handelt, indem er einen rechtswidrigen Angriff auf ein eigenes oder fremdes Gut abwehrt. Art. 15 § 1: Es begeht keine Straftat, wer eine Gefahr für ein eigenes Gut abwendet, sofern dies erforderlich ist und keine Pflicht zur Hinnahme der Gefahr besteht. Art. 27 § 2: Die Vorsatzschuld liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter einen strafbaren Erfolg oder Zustand herbeiführen wollte, sondern auch dann, wenn er den Eintritt des strafbaren Erfolges oder Zustandes voraussah und sich damit abgefunden hat.
Der Unterschied zu dem Vorentwurf von Makarewicz besteht schon darin, daß Art. 12 den Gegenstand des Irrtums auf die Umstände beschränkt, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Damit soll der Rechtsirrtum aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausgeklammert werden. Art. 12 bedient sich zum ersten Mal der Formulierung: "Es begeht keine Straftat". Auffallend ist, daß der Vorentwurf nach der ersten Lesung auf die Regelung des Rechtsirrtums gänzlich verzichtet. Es ist nur nicht ganz klar, ob das bereits seine Irrelevanz impliziert. Der Vorsatz und die Fahrlässigkeit als Schuldformen sind im Vorentwurf positiv umschrieben. Auffällig ist, daß sich sowohl der Vorsatz als auch die Fahrlässigkeit auf einen "strafbaren Erfolg oder Zustand" beziehen, was später Anlaß zum Streit geben wird.? Um vorsätzlich zu handeln, muß der Täter nicht nur den tatsächlich geplanten Erfolg, sondern auch seine Strafbarkeit in seinen Vorsatz aufnehmen. Wann ein Erfolgs(delikt) strafbar ist, ist eine Wertungsfrage, die Kenntnis der Verbrechensstruktur voraussetzt. Wäre der Täter dann nicht geistig überfordert? Aber vielleicht wollen die Verfasser des Vorentwurfs damit zum Ausdruck bringen, daß der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung das Bewußtsein der RechtswidrigkeitJStrafbarkeit haben muß, um vorsätzlich handeln zu können? Auf diese Fragen wird später bei der Besprechung der Irrtumsvorschriften des neuen polnischen Strafgestzesbuches von 1932 und des Meinungsstreits um ihre Auslegung Bezug genommen. 8 Wie der Vorentwurf von Makarewicz enthält auch der Vorentwurf nach der ersten Lesung keine Regelung des Irrtums über einen rechtfertigenden Sach-
7 8
Vgl. unten Kap. E.V. Vgl. dazu unten Kap. E.V.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
verhalt. Die Rechtsfolgen weichen im Falle der Notwehr und des Notstandes noch nicht voneinander ab.
3. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch nach der zweiten Lesung Nach der zweiten Lesung enthält der Vorentwurf folgende Regelungen in dem hier zur Diskussion stehenden Bereich: Art. 1: Strafrechtlich verantwortlich macht sich, wer eine durch ein Gesetz, das zum Zeitpunkt der Tatbegehung gilt, mit Strafe bedrohte Tat begeht. Art. 13 § 1: Eine vorsätzliche Straftat liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter sie begehen will, sondern auch, wenn er den Eintritt des strafbaren Erfolges oder die strafbare Handlung flir möglich hält und sich damit abfindet. Art. 15: Das Gericht kann die Strafe außerordentlich mildem, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ..gerechtfertigt,,9 war. Art. 18: Es begeht keine Straftat, wer sich im Irrtum über Umstände befindet, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, es sei denn, daß der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte. Art. 19 § 1: Es begeht keine Straftat, wer in Notwehr handelt, indem er einen rechtswidrigen Angriff auf ein eigenes oder fremdes Gut abwehrt.
Art. 20 § 1: Nicht strafbar macht sich, wer eine gegenwärtige Gefahr für ein eigenes oder fremdes Gut beseitigt, wenn die Gefahr nicht anders abwendbar war.
Die amtliche Begründung ergibt zu den einzelnen Gesetzesvorschriften folgendes Bild: Art. 13: Der polnische Gesetzentwurf soll deutlich auf dem Boden der Willenstheorie stehen. 10 Den früheren Protokollsitzungen ist zu entnehmen, daß die Schuldformen auf zwei Typen, d. h. auf Vorsatzschuld und Fahrlässigkeitsschuld beschränkt werden. I I Darin besteht weitergehend Einigkeit. Art. 15: Für die Frage der Verantwortung ist das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit von grundlegender Bedeutung. Der Täter muß wissen, daß die betref9 Schwierigkeiten bereitet besonders, daß die Übersetzung des Wortes ..usprawiedliwiony" wörtlich ..gerechtfertigt" bedeutet. Doch kann dieses Wort in einer bloßen Strafmilderungsvorschrift sicher nicht eine Bedeutung haben wie in dem Satz: ..Die Tötung ist durch Notwehr gerechtfertigt". Das Verhalten, das Art. 15 beschreibt, ist gewiß rechtswidrig. Gemeint ist, daß nicht jedes Fehlen des Unrechtsbewußtseins mildernd berücksichtigt werden kann. Es muß vielmehr auf rechtlich anerkannten Erwägungen beruhen. In diesem Sinne soll dieser viel verwendete Ausdruck ..usprawiedliwiony" im entsprechenden Zusammenhang verstanden werden. Die wörtliche Übersetzung ..gerechtfertigt" wird bei den folgenden Zitaten im folgenden daher in Ausführungszeichen gesetzt, vgl. näher dazu Kap. E.V.8.a).bb). 10 K.R.P., Bd. V, Heft 3, Warszawa 1930, S. 21. 11 K.R.P., Bd. I, Heft 1 (Protokollsitzungen), Warszawa 1921, S. 105.
11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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fende Tat verboten ist und daß er wirklich ein Tun oder Unterlassen begeht. Das Gesetz bekennt sich in der Regel zu dem Grundsatz: "Niemand kann sich auf die Unkenntnis einer strafrechtlichen Vorschrift berufen." Ein Festhalten an diesem Grundsatz wird als grotesk empfunden, da ein durchschnittlicher Staatsbürger oder sogar Jurist oft nicht weiß, was zu einer bestimmten Zeit als Straftat gilt. 12 Es muß dabei die Regel konsequent durchgeführt werden, daß für die strafrechtliche Verantwortung das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit erforderlich ist. 13 "Rechtswidrigkeit bedeutet nicht notwendig die Strafbarkeit". Daraus folgt, daß der Begriff der Strafbarkeit die Rechtswidrigkeit zu ihrer logischen Voraussetzung hat. Eine strafbare Tat muß daher rechtswidrig sein, aber nicht umgekehrt. Eine rechtswidrige Tat braucht nicht strafbar zu sein, wenn z. B. ein Schuld- oder Strafausschließungsgrund eingreift. In der Begründung heißt es weiter, dem Täter brauche eine strafrechtliche Gesetzesvorschrift nicht bekannt zu sein. Für die Zurechnung der Tat genügt, daß sich sein Handeln dem allgemeinen Rechtsgefühl widersetzt. Ein Beispiel: Wer eine Fahne eines anderen Staates von einem Gebäude abnimmt, in dem sich seine Vertretung befindet, braucht nicht zu wissen, daß seine Tat auswärtige Interessen und internationale Beziehungen seines Staates beeinträchtigt. Es ist ausreichend, daß der Täter das Bewußtsein hat, für sein Handeln steht ihm kein Rechtstitel zur Seite. 14 Hier ist offensichtlich das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit angesprochen. Was bedeutet jedoch die Formulierung, der Täter habe keinen Rechtstitel zum Handeln? Weiß er das, so hat er das Unrechtsbewußtsein. Es stellt sich nun die Frage, ob auch Rechtfertigungsgründe einen Rechtstitel darstellen können. Im Falle der Notwehr könnte sich der Täter denken, ich kann meinen Angreifer außer Gefecht setzten, ihn gegebenenfalls verletzen, da ich dazu befugt bin. Oder um bei dem Beispiel mit der Fahne eines ausländischen Staates zu bleiben: Jemand kann die Fahne abnehmen, um sie zu retten, weil das auswärtige Gebäude in Flammen steht. Die Berufung auf den gesetzlichen Notstand und damit auf einen Rechtstitel wäre hier durchaus denkbar. In der amtlichen Begründung lesen wir weiter, daß sich jeder auf die fehlende Kenntnis der Rechtswidrigkeit seines Handeins berufen könne. Er müsse es jedoch beweisen. Der polnische Gesetzentwurf lasse aber eine volle Rechtfertigung und damit die Straffreiheit nicht zu. Er vertrete vielmehr den Standpunkt, jedem Staatsbürger obliege die Pflicht, geltende Vorschriften kennenzulernen,
K.R.P., Bd. V, Heft 3, S. 24. Ibid. S. 25. 14 Ibid. S. 25. 12
13
5 Lewandowski
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
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bevor er eine gesellschaftlich riskante Handlung vornimmt. 15 Ansonsten laufe er Gefahr, eine Tat zu begehen, die entweder seine Mitbürger oder die Gesellschaft schädigt. Fazit: In der Begründung wird die Abgrenzung des Unrechtsbewußtseins von dem Strafbarkeitsbewußtsein nicht genau durchgeführt. Soll vielleicht das Bewußtsein der Strafbarkeit bedeuten, daß der Täter die einschlägigen Gesetzesvorschriften kennt und weiß, daß ihm kein Rechtstitel zur Seite steht? Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit läge dagegen vor, wenn der Täter eine bestimmte Rechtsnorm nicht kennt, sich aber sagt, sein Handeln widersetzt sich dem allgemeinen Rechtsgefühl, was mit dem identisch ist, daß ihm kein Rechtstitel zur Seite steht? Eine solche Unterscheidung kann nicht befriedigen, weil damit der qualitative Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit verwischt und letzten Endes aufgehoben wird. Art. 18 (Irrtum): Der polnische Gesetzentwurf bedient sich einer allgemeinen Formulierung: "Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören". Diese Bestimmung umfaßt eine ganze Reihe von Fällen bezüglich des Tatsachenirrtums, z. B. das Handeln gegen einen Menschen in der irrigen Vorstellung, es handelt sich um ein Tier, das Handeln, das auf die Entwendung einer fremden Sache gerichtet sei, in dem falschen Glauben, die Sache gehöre dem Täter. Diese Formel kann sich auf einen Irrtum über ein Rechtsverhältnis beziehen, wenn z. B. jemand eine andere Person heiratet und dabei nicht weiß, daß eine erste Ehe noch fortbesteht. 16 Damit bringt die Begründung deutlich zum Ausdruck, daß Art. 18 des Vorentwurfs eigentlich den Tatbestandsirrtum regelt. Art. 19 (Notwehr) und Art. 20 (Notstand): Bereits früher wird das Verhältnis zwischen Notwehr und Notstand in den Sitzungen der Kodifikationskommission oft diskutiert. Der Vorsitzende der Kommission, Makarewicz, ist der Auffassung, daß diese Frage im künftigen Gesetz eindeutig geregelt werden muß. Er spricht sich dafür aus, dem in Notwehr handelnden Täter nicht nur keine zivilrechtlichen, sondern auch keine strafrechtlichen Folgen aufzuerlegen. Im Falle des Notstandes entfalle dagegen die Strafe; es verbleibe aber die Rechtswidrigkeit mit allen ihren Konsequenzen. 17 Der Vorschlag von Makarewicz orientiert sich dabei an Regelungen des Notstandes im österreichischen Strafgesetzbuch und im Vorentwurf zum schweizerischen Stratkodex. 18 Ein anderer Kommissionsmitglied, Rappaport, vertritt den Standpunkt, daß die Unterscheidung zwischen bei den Rechtsinstituten dogmatisch von Wichtigkeit ist. Er will Ibid. S. 25. Ibid. S. 31. 17 K.R.P., Bd. I, Heft 3,1922, S. 103. 18 Ibid. S. 104. 15
16
11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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jedoch zwischen der Notwehr und dem Notstand nicht näher differenzieren und neigt eher dazu im Falle ihres Vorliegens die Rechtswidrigkeit auszuschließen. Makowski beruft sich dagegen auf das deutsche Strafgesetzbuch von 1871, das zwischen der Notwehr und dem Notstand keine Unterscheidung macht. Er ist dabei der Ansicht, daß die Strafbarkeit in beiden Fällen verneint werden soll. Nach der Meinung von Mogilnicki wäre der Ausschluß der Strafbarkeit beim Notstand nicht richtig. Aus praktischen Gründen soll ihm zufolge kein Unterschied zwischen den beiden Fällen bestehen. Bei der Abstimmung sprechen sich vier Kommissionsmitglieder dafür aus, den Notstand und die Notwehr in den Rechtsfolgen gleichzustellen und beide als Rechtswidrigkeitsausschließungsgründe zu behandeln. 19 Interessant ist, daß in diesem Zusammenhang der Fall der Putativnotwehr erörtert wird. Derjenige, der diesen Vorschlag einbringt, ist Prlldzynski. Seiner Ansicht nach soll beim Irrtum über die Notwehrvoraussetzungen der psychische Zustand des Täters Berücksichtigung finden. 2o Makowski will dagegen die Regelung dieser strittigen Frage der Literatur überlassen und nicht im künftigen Gesetz explizite bestimmen. In Wirklichkeit handelt es sich hier um einen Irrtumsfall. 21 Auffallend ist, daß der Irrtum über Rechtfertigungsgründe auch in der Kodifikationskommission lediglich im Rahmen der Putativnotwehr diskutiert wird. Das kann vielleicht so erklärt werden, daß die rechtliche Qualifizierung des Notstandes als Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- oder Strafbarkeitsausschließungsgrund bis zum Schluß nicht feststeht. In der amtlichen Begründung zur Notwehr lesen wir weiter, daß der polnische Gesetzentwurf das Handeln in Notwehr als rechtmäßig wertet. 22 Wer einen rechtswidrigen Angriff auf ein Gut abwehrt, begeht kein Unrecht, sondern verteidigt die Rechtsordnung. Da die Rechtswidrigkeit in der polnischen Rechtslehre der objektiven Seite der Handlung zugeordnet wird, soll es bei der Notwehr am objektiven Unrecht fehlen. Im Endergebnis beschließen die Entwurfsverfasser, den Notstand als Strafausschließungsgrund zu behandeln. 23 Dieses Ergebnis wird durch eine systematische Auslegung der einschlägigen Gesetzesvorschriften untermauert. Art. 20 § 1 des Vorentwurfs bedient sich nicht mehr der Formulierung "es begeht keine Straftat", sondern spricht davon,
191bid. S. 105. Ibid. S. 108. 21 Ibid. S. 108. 22 K.R.P., Bd. V, Heft 3,1930, S. 32. 23 Ibid. S. 33. 20
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daß sich der Notstandstäter nicht strafbar macht. Die Formulierung "es begeht keine Straftat" wird dagegen bei dem Irrtum (Art.18) und der Notwehr (Art. 19) verwendet. Im Falle des Tatbestandsirrtums kann das nur bedeuten, daß die Tat objektiv tatbestandsmäßig und rechtswidrig bleibt, aber infolge des Irrtums dem Täter nicht zugerechnet wird. Der Irrtum wirkt sich daher als Schuldausschließungsgrund aus. Anders bei der Notwehr. Hier ist die Tat rechtmäßig, so daß die Frage nach der Zurechnung nicht gestellt zu werden braucht. Die Formel "es begeht keine Straftat" kann damit im Vorentwurf (auch im künftigen Gesetz) sowohl einen Schuld- als auch einen Rechtswidrigkeitsausschließungsgrund bezeichnen.
4. Der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch nach der dritten Lesung Der strafrechtliche Gesetzentwurf, der durch die Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission vorgelegt wird, enthält nach der dritten Lesung nur unwesentliche Änderungen. Die Fassung des Art. 13 § 1 und § 2 bleibt unverändert. 24 Der Inhalt von Art. 15 (fehlendes Unrechtsbewußtsein) wird beibehalten, aber dem Art. 18 integriert. 25
5. Der Gesetzentwurf der Strafrechtskommission der Polnischen Gesellschaft für Kriminalgesetzgebung Den Vorentwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, der der Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission nach der dritten Lesung präsentiert wird, unterzieht die Strafrechtskommission der Polnischen Gesellschaft für Kriminalgesetzgebung einer kritischen Würdigung. Zugleich legt sie einen Gegenentwurf zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches vor. Dieser Gegenentwurf enthält ganz neue Regelungen im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung, die von dem Vorentwurf der Kodifikationskommission in vielen Punkten abweichen. 26 Art. 15 § 1: Verantwortlich kann nur sein, wer eine Tat vorsätzlich oder fahrlässig begeht.
K.R.P., Bd. 5, Heft 5,1931, S. 6. K.R.P., Bd. 5, Heft 6, 1931, S. 8. 26 Gegenentwurf zum Allgemeinen Teil des polnischen StGB, vorgelegt durch die Strafrechtskommission der Polnischen Gesellschaft für die Kriminalgesetzgebung (Projekt przygotowawczy cz~sci og6lnej kodeksu kamego - opracowany na podstawie uchwalonego w trzecim czytaniu przez sekcj~ prawa kamego Komisji Kodytikacyjnej projektu oraz oceny tegoz projektu w komisji prawa kamego Polskiego Towarzystwa Ustawodastwa Kryminalnego") in: GSW 1926, S. 630ff. 24 25
11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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§ 2: Vorsatzschuld liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter einen strafbaren Erfolg oder Zustand verwirklichen wollte, sondern auch dann, wenn er die Möglichkeit des Eintritts des strafbaren Erfolges voraussah und sich mit ihm abgefunden hat.
Art. 17: Wer keine Kenntnis von der Strafbarkeit seines HandeIns hat oder die Möglichkeit des Einritts eines strafbaren Erfolges nicht voraussieht oder meint, den Erfolg vermeiden zu können, obwohl er im Hinblick auf die Tatumstände oder persönliche Eigenschaften und Pflichten das Bewußtsein der Strafbarkeit besitzen sollte, wird wegen fahrlässiger Begehung zur Verantwortung gezogen. Art. 18: Der Irrtum über die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, schließt ihre Zurechnung aus, es sei denn, daß der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt beruhte.
Bezeichnend für diesen Gegenentwurf ist, daß er in Art. 17 nicht vom Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, sondern von dem der Strafbarkeit spricht. Die Unkenntnis der Strafbarkeit soll dann nach Art. 17 immer die Bestrafung wegen fahrlässiger Begehung zur Folge haben, wenn ein Vorwurf erhoben werden kann. Dem fehlenden Bewußtsein der Strafbarkeit wird daher so Rechnung getragen, daß der Täter nicht aus dem Vorsatz-, sondern aus dem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft werden kann. Art. 17 differenziert dabei nicht deutlich, ob es auf die Vermeidbarkeit oder Unvenneidbarkeit der Unkenntnis ankommen soll. Es wäre freilich sehr bedenklich, wenn der Vorentwurf die beiden Irrtumsfälle gleich behandeln wollte. Außerdem ist nicht ganz klar, was es mit dem Begriff der Strafbarkeit auf sich hat. Konsens dürfte darüber bestehen, daß die Strafbarkeit die Rechtswidrigkeit zur Voraussetzung hat. Auf diesem Hintergrund wäre dann die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Irrtum über die Rechtswidrigkeit und die Strafbarkeit zu stellen, der erst später nachgegangen werden soll.27 Jedenfalls: Der Gegenentwurf der Polnischen Gesellschaft für die Kriminalgesetzgebung dürfte keinen qualitativ besseren Lösungsvorschlag im Irrtumsbereich darstellen.
6. Der Gegenentwurf von Makowski Der zweite Gegenentwurf,28 den Makowski in dieser Zeit der Öffentlichkeit unterbreitet, sieht folgende Regelungen im Bereich des Irrtums und der Rechtfertigungsgrilnde vor: Art. 9 § 2: Wer im Bewußtsein handelt, eine Straftat willentlich zu begehen oder voraussieht, daß sein Handeln einen strafbaren Erfolg verwirklichen kann und sich mit dieser Möglichkeit abfindet, begeht eine vorsätzliche Straftat. Vgl. unten Kap. E.V.8.b). Vgl. Vorentwurf von Waclaw Makowski ("Projekt odr~bny Prof. Waclawa Makowskiego") in: RPEiS 1925, S. 904ff. 27
28
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
§ 3: Wer sich der Strafbarkeit seines Handeln nicht bewußt ist oder seine möglichen Folgen nicht voraussieht oder glaubt die Folgen vermeiden zu können, obwohl er aufgrund der Umstände oder persönlichen Eigenschaften das Bewußtsein der Strafbarkeit seiner eigenen Tat haben sollte, begeht eine fahrlässige Straftat. Art. 10 § 3: Beim "gerechtfertigten,,29 Fehlen des Strafbarkeitsbewußtseins kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildem. Art. 15 § 1: Wer eine gegenwärtige Gefahr abwendet, die dem eigenen oder einem fremden persönlichen Gut oder Vermögensgut droht, wird nicht zur Verantwortung gezogen, wenn das erforderlich war und er in berechtigter Weise das "Erhaltungsgut" fUr wichtiger als das "Eingriffsgut,,30 hielt. Art. 16 § 1: Wer einen rechtswidrigen Angriff auf das eigene oder ein fremdes persönliches Gut oder Vermögensgut abwehrt, wird nicht zur Verantwortung gezogen.
Die erste positive Voraussetzung für die Begründung der strafrechtlichen Verantwortung soll nach Makowski der Vorsatz darstellen. Er gebraucht nicht die Formulierung "Vorsatzschuld", weil sie eine Begriffsverwechslung bedeutet. Der Vorsatz betrifft die Ausführung einer Handlung, die Schuld bezeichnet ein Abstraktum, eine Urteilsform. 31 Gegenstand des Urteils bilde die Absicht des Täters und der durch ihn verwirklichte Erfolg. 32 Vorsatz ist nach Makowski nur die Grundlage für die Verantwortung. Damit wird der Boden der psychischen Schuldlehre verlassen und die Hinwendung zum normativen Schuldbegriff angebahnt. Im Gegenentwurf sollen der Notstand und die Notwehr von der Rechtsfolge her gleich, d. h. dem Wortlaut nach als Schuldausschließungsgründe behandelt werden. Die in Notstand und Notwehr begangene Taten müßten daher rechtswidrig bleiben. Dies würde jedoch bedeuten, daß gegen Notwehr auch Notwehr geübt werden könnte, was Makowski sicherlich nicht will. Er bemerkt nämlich an späterer Stelle, daß er in allen diesen Fällen (gemeint sind sicherlich die Regelung des Notstandes und der Notwehr) die Verantwortung entfallen lassen will, auf die objektiv rechtlichen Unterschiede geht er jedoch nicht näher ein. Nach seiner Auffassung soll die Verantwortung des Täters nicht nur wegen subjektiver, sondern auch wegen objektiver Umstände verneint werden. 33 Das würde allerdings bedeuten, daß die fehlende Verantwortung des Täters im Falle der Notwehr auch auf mangelnder Rechtswidrigkeit beruhen könnte. Man weiß auch nicht, wie Makowski die Rechts-
29 Vgl. oben Kap. E, Fn. 9. ,,Erhaltungsgut" und "Eingriffsgut" sind sehr praktische Begriffe, aber auch in der deutschen Diskussion relativ neu. Die polnischen Formeln lauten: "dobro ratowane" und "dobro pokrzywdzone". 31 Erklärung zum Gegenentwurf des Allgemeinen Teils des StGB von Waclaw Makowski (WyjaSnienie do Projektu odrC(bnego czC(sci ogolnej kodeksu karnego Waclawa Makowkiego) in: RPEiS 1925, S. 921. 32 lbid. S. 922. 33 Ibid. S. 924. 30
11. Entwürfe und die Endfassung des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
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folgen einer Notstandstat bestimmen will: als Rechtswidrigkeits-, Schuld- oder vielleicht als Strafbarkeitsausschließungsgrund. Ganz neu ist bei der Notstandsregelung die Tatsache, daß das Rangverhältnis der widerstreitenden Rechtsgüter subjektiv bestimmt wird. Damit nimmt Makowski eine vom Täter her ausgehende Beurteilung der Notstandsvoraussetzungen vorweg,.die im polnischen Schrifturn der 30er Jahre überwiegend vertreten wird. Nicht ganz geglückt ist die Regelung des fehlendes Strafbarkeitsbewußtseins in Art. 9 § 3 und in Art. 10 § 3 des Entwurfs. Auf der anderen Seite soll es dazu führen, den Täter wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen, auf der anderen Seite ist das "gerechtfertigte" Fehlen des Strafbarkeitsbewußtseins als Strafmilderungsgrund ausgestaltet. Ähnlich wie im Gegenentwurf der Strafrechtskommission der Polnischen Gesellschaft für Kriminalgesetzgebug ist in Art. 10 § 3 nicht vom fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, sondern von dem der Strafbarkeit die Rede. Konsequent ist vielleicht, daß Makowski in seinem Entwurf das Bewußtsein der Strafbarkeit positiv und negativ (Art. 9 § 2 und § 3) bestimmt. Aus Art. 9 § 2 folgt, daß der Täter bei der Tatbegehung auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit haben muß, da es im Strafbarkeitsbewußtsein immer mit enthalten ist. Daraus erklärt sich wiederum der Verzicht auf eine explizite Regelung des Tatbestandsirrtums, weil er ein. Unterfall des Irrtums über die Strafbarkeit ist. Der Gegenentwurf erwähnt auch nicht den Fall der Putativrechtfertigung. Nach Makowski soll er im Gesetz nicht geregelt werden.
7. Das polnische Strafgesetzbuch von
1~32
in seiner Endfassung
Das polnische Strafgesetzbuch tritt am 1. September 1932 in Kraft. Es umfaßt 293 Artikel, 92 Artikel davon entfallen auf den Allgemeinen Tei1. 34 Die Vorschriften über den Vorsatz, den Irrtum, die Notwehr und den Notstand haben folgende Fassung: Art. 14 § I: Eine vorsätzliche Straftat liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter sie begehen will, sondern auch dann, wenn er den Eintritt des strafbaren Erfolges oder die strafbare Handlung für möglich hält und sich damit abfindet. § 2: Eine fahrlässige Straftat liegt sowohl vor, wenn der Täter die Möglichkeit des strafbaren Erfolgseintritts voraussieht und ohne Grund auf seine Vermeidbarkeit vertraut, als auch wenn der Täter den Eintritt des strafbaren Erfolges oder der strafbaren Handlung nicht voraussieht, obwohl er ihn oder sie voraussehen konnte oder sollte.
34 Vgl. dazu Wusatowski, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen und Materialien der Kodifikationskommission ("Kodeks karny z objasnieniami oraz materialami Komisji Kodyfikacyjnej"), Krak6w 1932.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
Art. 20 § I: Keine Straftat begeht, wer sich im Irrtum über Umstände befindet, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, es sei denn, daß es ein fahrlässiger Vergehenstatbestand besteht und der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte. § 2: Das Gericht kann die Strafe außerordentlich mildern, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt,,35 war. Art. 21 § 1: Keine Straftat begeht, wer in Notwehr handelt, indem er einen unmittelbar drohenden und rechtswidrigen Angriff auf eigenes oder fremdes Gut abwehrt.
§ 2: Im Falle der Überschreitung der Notwehrgrenzen kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildern oder sogar von ihr absehen. Art. 22 § 1: Nicht strafbar macht sich, wer zum Zwecke handelt, eine gegenwärtige Gefahr für eigenes oder fremdes Gut abzuwehren, wenn das erforderlich war.
§ 2: Wer die besondere Pflicht hat, die Gefahr hinzunehmen, handelt nicht im Notstand. § 3: Das Eingriffsgut kann freilich keinen höheren Wert als das Erhaltungsgut darstellen. § 4: Im Falle der Überschreitung der Notstandsgrenzen kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildern.
111. Zum Verbrechensaufbau in der polnischen Lehre dieser Zeie 6 1. Die Auffassung von Glaser und Mogilnicki
Unter Verbrechen verstehen Glaser und Mogilnicki eine Tat des Menschen, die einen gesetzlichen Tatbestand erfüllt und in ihren Eigenschaft rechtswidrig, schuldhaft und durch das Gesetz unter Strafe gestellt ist. 37 Mit Rechtswidrigkeit ist die Nichtübereinstimmung mit der objektiven Rechtsordnung gemeint. 38 Eine rechtswidrige Tat liegt also dann vor, wenn sie der Rechtsordnung widerspricht. Das Rechtswidrigkeitsurteil stellt zugleich ein Werturteil dar. Die Grundlage dafür bilden alle Rechtsnormen, also nicht nur strafrechtliche Gesetzesvorschriften. Nach Glaser und Mogilnicki bedeutet die Schuld im UnterVgl. oben Kap.E, Fn. 9. Für den Zeitraum von 1932 bis 1939 sollen auch die Lehrbücher von Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematische!l Darstellung von 1947 ("Prawo kame. Zarys wykladu systematycznego") und von Sliwinski, Polnisches Strafrecht von 1946 ("Polskie Prawo Kame") mit herangezogen werden. Sie sind zwar erst nach dem Krieg erschienen, gehören aber wegen ihrer Fragestellung der Zwischenkriegszeit an. 37 GlaserlMogilnicki, Strafgesetzbuch, Kommentar ("Kodeks kamy, Komentarz"), Krak6w 1934, S. I; so auch Glaser in: Polnisches Strafrecht im Grundriß ("Polskie Prawo Kame w zarysie"), Krak6w 1933, S. 104. 38 GlaserlMogilnicki, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1; so auch Makowski, Strafgesetzbuch, Kommentar ("Kodeks kamy, Komentarz"), Warszawa 1937, S. 26; Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 128. 35
36
III. Zum Verbrechensaufbau in der polnischen Lehre dieser Zeit
73
schied zu der Rechtswidrigkeit die innere Tatseite. Sie ist ein täterbezogenes Verdikt über die Tat. Wenn das Gesetz ein bestimmtes Verhalten für rechtswidrig hält, so heißt das nur, daß die psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat aus diesem Urteil herausgenommen wird. 39 Damit wird die Distinktion zwischen der Schuld und der Rechtswidrigkeit besiegelt. Glaser und Mogilnicki geben jedoch zu, daß die Rechtswidrigkeit auch von subjektiven Momenten abhängen kann. Ein äußerlich identisches Verhalten kann einmal als rechtswidrig, ein anders Mal als rechtmäßig eingestuft werden, je nachdem, was der Täter damit beabsichtigt. Es soll sich dabei um psychisch vermittelnde Sachverhalte handeln, die die Tat begleiten. Sie treten bei den sog. Absichtsdelikten auf, d. h. dort, wo neben der Schuld eine bestimmte Absicht beim Täter verlangt wird, und gehören zu den subjektiven Unrechtselementen. 40 Werden aber diese sog. Absichten als subjektive Unrechtselemente qualifiziert, so ist damit die Regel durchbrochen, nach der die Rechtswidrigkeit lediglich objektiven Charakter hat. Der klassische Verbrechensbegriff wird dadurch in seiner logischen Klarheit erschüttert. An seine Umformung kann zu dieser Zeit noch nicht gedacht werden. Vorsatz und Fahrlässigkeit sinken bei Glaser und Mogilnicki zu bloßen Schuldformen herab. 41
2. Die Auffassung von Wolter Das Verbrechen besteht nach Wolter aus folgenden Elementen: Erstens der inneren (psychischen) Tatseite, zweitens der äußeren (physischen) Tatseite und drittens dem äußeren Erfolg. 42 Die innere Tatseite muß das Ergebnis eines psychischen Prozesses sein. 43 Die äußere Tatseite setze sich aus dem Erfolg und der Handlung zusammen, wobei die Handlung in einem Tun oder Unterlassen bestehen kann. Der Erfolg und die Handlung werden durch ein kausales Band miteinander verknüpft. 44 Die objektive Tatseite ist nicht nur Grundlage einer
Glaser/Mogilnicki, Strafgesetzbuch, S. 2. Ibid. S. 3. 41 Ibid. S. 59; vgl. auch Glaser, Über das neue polnische Strafgesetzbuch, MonKrimPsych 1933, S. 7; so wie Glaser und Mogilnicki auch Nisenson/Siewierski, Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz C"Kodeks kamy i Prawo 0 wykroczeniach"), 2. Aufl., Warszawa 1935, S. 14. 42 Wolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, Allgemeiner Teil, Bd. I, Krak6w 1933, S. 46. 43 Ibid. S. 46. 44 Ibid. S. 54. 39
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
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Bewertung, sondern drückt auch selbst ein Werturteil aus. Nach Wolter unterliegt die Tat der nonnativen Qualifizierung als objektive Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit. 45 Eine Tat sei nur dann "objektiv rechtmäßig", wenn sie, unabhängig von der subjektiven Tatseite, mit der Rechtsordnung im Einklang steht. Die Rechtswidrigkeit soll im umgekehrten Fall vorliegen. Rechtswidrigkeit und Rechtmäßigkeit bedeuten also im Ergebnis die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit einer Rechtsnonn. 46 In Anlehnung an Makowski lehnt Wolter eine subjektive Rechtswidrigkeit ab. Der Begriff der objektiven Rechtswidrigkeit impliziert jedoch nicht, daß nur objektive Momente Gegenstand der rechtlichen Wertung darstellen. Wolter ist vielmehr der Ansicht, daß auch subjektive Momente die objektive Tatseite charakterisieren können. Ein subjektives Elemente gehöre dann zu der objektiven Rechtswidrigkeit, wenn es nur die Tat und nicht den Täter kennzeichnet. Würde es dagegen den Täter charakterisieren, so müßte er richtigerweise der subjektiven Tatseite zugerechnet werden. 47 Dem Problem der Schuld mißt Wolter besondere Bedeutung zu. In Anlehnung an Goldschmidt versucht er die Schuld unter nonnativem Aspekt zu betrachten. Von Goldschmidt stammt der oft zitierte Satz: "Die Schuld muß nicht als Wollen der Pflichtwidrigkeit, sondern als pflichtwidriges Wollen, nicht als Wollen des Nicht-Sein-Sollenden, sondern als Nicht-Sein-SollendesWollen aufgefaßt werden,,48 , an dem sich auch Wolter orientiert. Er sieht in der Schuld eine Relation zur Nonn, die man als Vorwerfbarkeit bezeichnen kann. 49 Ihm zufolge verdient eine vorsätzlich oder fahrlässig begangene Tat in aller Regel den Schuldvorwurf. Das heißt jedoch nicht, den Vorsatz und die Fahrlässigkeit mit der Schuld zu identifizieren. Nach Wolter entscheiden über die Schuld noch andere Umstände, wie z. B. die Motive des Täters und seine ganze Individualität. 5o Er sieht im Vorsatz und der Fahrlässigkeit lediglich Elemente, die für den Schuldvorwurf konstitutiv sind, aber mit der Schuld nicht gleichgesetzt werden dürfen. 51
45 Ibid. S. 75 46
Ibid. S. 76
471bid. S. 78 48Goldschmidt, Der Notstand ein Schuldproblem, Wien 1913, S. 13. 49 Damit schlägt Wolter zugleich eine Brücke zum Frankschen Aufbau des Schuldbegriffs, der die Schuld als Vorwerfbarkeit auffaßt. Nach Frank ist ein verbotenes Verhalten jemanden zur Schuld anzurechnen, wenn man ihm einen Vorwurf daraus machen kann, daß er es eingeschlagen hat, vgl. dazu Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, Giessen 1907, S. 11, Wolter, Grundriß, S. 164. 50 Wolter, Grundriß, S. 174. 51 Die Frage nach dem normativen Schuldbegriff wird in jener Zeit von vielen Autoren diskutiert. So wendet Makowski ein, daß man in manchen Gesetzen oder wissenschaftlichen Abhandlungen auf den Begriff der "Vorsatzschuld" stößt. Diese Verbindung sei nicht richtig, weil die Schuld die Grundlage für die Verantwortung darstelle (vgl. Makowski, Kommentar, S. 67). Glaser bemerkt in einem seiner Aufsätze, wenn
III. Zum Verbrechensautbau in der polnischen Lehre dieser Zeit
75
3. Die Auffassung von Sliwinski Das Verbrechen definiert Sliwinski als eine von einem Menschen begangene rechtswidrige, schuldhafte, rechtsgutsverletzende und strafbare Tat. 52 Er unterscheidet dabei zwischen einer formellen und einer materiellen Verbrechensseite. Die formelle Seite besteht in der von einem Menschen begangenen rechtswidrigen, schuldhaften und strafbaren Tat. Ihre materielle Seite, die sich aus diesen Elementen zusammensetzt, enthält zusätzlich das Merkmal der Rechtsgutsverletzung. 53 Die Rechtswidrigkeit der Tat liegt nach Sliwinski dann vor, wenn die Tat zu der objektiven Rechtsordnung im Widerspruch steht. 54 Über die Rechtswidrigkeit der Tat soll dann grundsätzlich eine Rechtsnorm entscheiden. Die Rechtswidrigkeit der Tat oder ihre Übereinstimmung mit dem Recht (Rechtmäßigkeit) sind objektiver Natur. Es gibt nach Sliwinski keine subjektive Rechtswidrigkeit. 55 Obwohl er die Rechtswidrigkeit der Tat nicht zur subjektiven, sondern zur objektiven Tatseite rechnet, kann es ihm zufolge vorkommen, daß auch subjektive Momente auf die objektive Rechtswidrigkeit von Einfluß sein können. 56 Unter subjektiven Momenten werden dabei psychische Zustände beim Täter verstanden. Durch die Feststellung der Schuld wird nach Sliwinski die Verurteilung des Täters besiegelt. Die Schuld sei erst dann gegeben, wenn der Täter das 13. Lebensjahr beendet hat, zurechnungsfahig ist, vorsätzlich oder fahrlässig handelte und keine Schuldausschließungsgründe eingreifen. 57 Sliwinski betont, daß die Schuld ein psychologischer Sachverhalt
bisher die Auffassung herrschend gewesen sei, Schuld in einen Zusammenhang mit der Zurechnungsfahigkeit zu bringen, werde nun verlangt, daß das Verhalten samt seinem psychischen Prozeß dem Täter zugerechnet werde (Glaser, Die normative Schuldlehre ["Normatywna nauka 0 winie"], Warszawa 1934, S. 3f.). Der normative Schuldbegriff wird auch in einer Arbeit von Stomma erörtert (vgl. Stomma: Schuld und Kausalzusammenhang in der Entwicklung des Strafrechts ["Wina i zwi!\.Zek przyczynowy w rozwoju prawa karnego"] - Dissertation, Wilno 1938). Es gibt aber auch die entgegengesetzte Tendenz, am psychologischen Schuldbegriff festzuhalten. So spricht Makarewicz in seinem Kommentar noch von der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsschuld (v gl. Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 4. Aufl., 1935, S.59; derselbe, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 5. Aufl., 1938, S. 75, 80). Auch rückt das Oberste Polnische Gericht von der tradierten Unterscheidung in Fahrlässigkeits- und Vorsatzschuld und damit vom psychologischen Schuldbegriff nicht ab, vgl. Urteil vom 5. 05. 1932, Zb. O. S. N. 1932, S. 505ff.; Urteil vom 10.07. 1932, Zb. o. S. N. 1932, S. 54ff.; Urteil vom 24. 06. 1938, Zb. O. S. N. 1938, S. 64lff. 52 Sliwifzski, Polnisches materielles Strafrecht ("Polskie Prawo Karne Materialne"), Allgemeiner Teil, Warszawa 1946, S. 63. 53 Ibid. S. 63. 54lbid. S. 140. 551bid. S. 141, auch S. 142. 561bid. S. 142. 57 Ibid. S. 210.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
sei, der täterbezogen ist. Er nimmt in seinen Schuldbegriff wertende Elemente auf, was bereits für den normativen Schuldbegriff kennzeichnend ist.
4. Zusammenfassung
Auch in den 30er Jahren wird im Verbrechensaufbau nach wie vor an der Dichotomie zwischen der objektiven und der subjektiven Tatseite festgehalten. Die Demarkationslinie zwischen den beiden Bereichen wird trotz der neuesten Erkenntnisse innerhalb der Verbrechenslehre nicht korrigiert. Von vielen Autoren dieser Zeit werden subjektive Elemente, insbesondere bei den sog. Absichtsdelikten, entdeckt. Schwierigkeiten bereitet aber ihre Einordnung in die damals herrschende Verbrechensstruktur. Da sie subjektiv vermittelt sind, müßten sie eigentlich dem Schuldbreich zugeordnet werden. Das kann jedoch nicht aufgehen, weil nur Vorsatz und Fahrlässigkeit nach dem psychologischen Schuldbegriff als Schuldelemente angesehen werden. Um diesen Widerspruch in einem Verbrechenssystem zu vermeiden, in dem die Rechtswidrigkeit nach wie vor eine objektive Größe ist, wird versucht, diese Merkmale zu objektivieren, um sie dann der objektiven Tatseite zurechnen zu können. Charakteristisch ist auch in jener Zeit die Diskussion um den normativen Schuldbegriff, die von vielen Autoren thematisiert und problematisiert wird. Diese allmähliche Abkehr vom psychologischen und die Hinwendung zum normativen Schuldbegriff wird in den 30er Jahren noch nicht vollzogen. Die psychologische Schuldauffassung nimmt nach wie vor eine Vorrangstellung in der Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts ein.
IV. Die Irrtumslehre 1. Zum Begriff des Irrtums
In der Enzyklopädie des Strafrechts finden wir folgende Umschreibung des Irrtumsbegriffs: "Ein Irrtum liegt vor, wenn Vorstellung und Wirklichkeit einander widersprechen. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich der Irrtum von der Unkenntnis, die durch das Fehlen jeglicher Vorstellung gekennzeichnet ist."s8 Dem Unterschied zwischen dem Irrtum (error) und der Unkenntnis (ignorantia) wird jedoch keine Bedeutung beigemessen. Diese zwei Bewußtseinsformen des Irrtums werden auch in den 30er Jahren dem Irrtumsbegriff zugrundegelegt.
58 Enzyklopädie des Strafrechts ("Encyklopedia Podr~czna Prawa Kamego"), unter der Redaktion von Makowski in 3. Bd., Warszawa 1932, S. 131.
IV. Die Irrtumslehre
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2. Zum Stand der polnischen Irrtumslehre (allgemeine Übersicht) a) Rechtslehre Bevor die Irrtumsunterscheidung im polnischen Schrifttum dieser Zeit erörtert wird, soll zur Erinnerung noch einmal die Irrtumsregelung im polnischen Strafgesetzbuch von 1932 aufgeführt werden. Art. 20 pStGB hat folgenden Wortlaut: § 1: Keine Straftat begeht, wer sich im Irrtum über Umstände befindet, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, es sei denn, daß es ein fahrlässiger Vergehenstatbestand besteht und der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte. § 2: Das Gericht kann die Strafe außerordentlich mildem, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt"s9 war.
Art. 20 bildet den Ausgangspunkt für die damalige Irrtumsdifferenzierung. In § 2 dieser Vorschrift kommt zunächst zum Ausdruck, daß der Gegenstand des Irrtums Umstände sein können, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Darunter versteht man nach allgemeiner Auffassung die tatsächlichen Umstände und einfache Rechtsverhältnisse. 60 Der in Art. 20 § 1 pStGB geregelte Irrtum wird als Tatsachenirrtum (..error facti") bezeichnet. Im Unterschied dazu soll Art. 20 § 2 pStGB den sog. Rechtsirrtum (..error iuris") regeln. 61 Die Abgrenzung zwischen error iuris und error facti beruht auf der Überlegung, daß im Falle des Rechtsirrtums der Täter alle zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände kennt. Er ist jedoch davon überzeugt, daß die Tat erlaubt ist. Im Falle des Tatsachenirrtums weiß er um die einschlägige Rechtsnorm, er verletzt sie nur deswegen, weil er sich in einem Irrtum über einen Umstand befindet, der zu ihrem gesetzlichen Tatbestand gehört. 62 (Natürlich ist auch der Fall denkbar, daß der im Tatsachenirrtum Handelnde auch die Rechtsnorm nicht kennt). Unter Art. 20 § 2 sollen alle Fälle subsumiert werden, in denen der Täter von der Rechtswidrigkeit seiner Tat keine Kenntnis hat.
59 Vgl. Kap. E, Fn. 9. 6OWolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, S. 151; Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 1935, 4. Aufl., S. 81; Berger, Die Tat und ihr Wesen ("Czyn i jego istota") Bemerkungen zu Art. I und 20 § 1 pStGB, Lublin 1936, S. 45; vgl. auch das
Urteil des Obersten Gerichts vom 10. 01. 1,935, Kap. E. IV. 2. b) bb). 61 Makowski, Strafgesetzbuch, Kommentar, 3. Aufl., Warszawa 1937, S.95, ; Sliwiliski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 243; Makarewicz, StGB, Kommentar, 4. Aufl., 1935, S. 82; Nisenson/Siewierski, Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Aufl., Warszawa 1935, S. 19; Berger, Die Tat und ihr Wesen, S. 53. 62 Als stellvertretend kann hier die Auffassung von Berger gelten, der sie in seiner Abhandlung "Die Tat und ihr Wesen" geäußert hat, vgl. S. 53.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
b) Die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts
aa) Urteil vom 23. 08. 193463 Aus dem Verteidigungsvorbringen des Angeklagten vor dem Berufungsgericht geht hervor, daß er sich auf Umstände und Beweise stützt, die im Falle ihrer Wahrheit bestätigen, daß sich der Angeklagte nach seiner Rechtsauffassung im Rahmen der Rechtsordnung gehalten hat. Das Revisionsgericht vertritt die Ansicht, der zivilrechtliehe Irrtum entspreche nicht dem Tatsachenirrtum und nehme damit der Tat nicht ihren strafrechtlichen Charakter. Trotzdem obliegt dem Gericht die Pflicht, solche Verteidigung im Licht des Art. 20 § 2 pStGB über das fehlende Unrechtsbewußtsein zu würdigen. 64 Das Revisionsgericht bestätigt damit das Urteil vom 11. Februar 1929, in dem die reichsgerichtliehe Unterscheidung zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum bereits damals verworfen wurde65
bb) Urteil vom 10.01. 1935 Das Oberste Gericht stellt in der Entscheidung fest, der Irrtum über die Fremdheit der weggenommenen Sache betreffe einen tatsächlichen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört und die Strafbarkeit gern. Art. 20 § 1 pStGB ausschließt. Das fehlende Unrechtsbewußtsein von der Tat urnfaßt lediglich den Rechtsirrtum, d. h. die Unkenntnis von strafrechtlichen Vorschriften. Die Unkenntnis eines tatsächlichen Umstandes oder eines Umstandes, der die rechtlichen Verhältnisse betrifft (z. B. die Frage, ob eine Person noch verheiratet ist - Fall der sog. Doppelehe) lasse die Strafbarkeit der Tat entfallen und habe mit dem fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nichts zu tun. Im
63Das ist die einzige mir bekannte Entscheidung des Obersten Gerichts in der Zeit von 1932 bis 1939, die zu dem kontroversen Problem der Unterscheidung zwischen dem außerstrafrechtlichen und dem strafrechtlichen Rechtsirrtum und Tatirrtum Stellung bezieht. 64 Zb. o. S. N. 1935, Nr. 64, S. 112. 65 Vgl. dazu S. 33ff.; nicht nachvollziehbar daher die Meinung von Karol Kowalski in seiner Besprechung der Entscheidungen des Obersten Polnischen Gerichts: "Neben dem Tatsachenirrtum im engeren Sinne gibt es im Rahmen des Art. 20 pStGB Fälle, in denen die Angeklagten Umstände geltend machen, die den (bösen) Vorsatz entfallen lassen. Zu solchen Umständen gehört u. a. die Unkenntnis oder falsche Interpretation von zivilrechtlichen Vorschriften", vgl. Kowalski, Polnisches Strafgesetzbuch in der Gerichtspraxis ("Polski kodeks kamy w praktyce setdziowskiej") in: es 1935, S. 36. Das würde darauf hinauslaufen, daß der außerstrafrechtliche Rechtsirrtum (Irrtum über eine zivilrechtliche Vorschrift) dem Tatirrtum gleichgestellt werde. Kowalski zitiert jedoch dazu keine Entscheidung des Obersten Gerichts, die seinen Befund belegen könnte.
IV. Die Irrtumslehre
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vorliegenden Fall handele es sich um einen Tatsachenirrtum und nicht um die Rechtsunkenntnis. 66
cc) Urteil vom 20. 04. 1936 Dem zur Entscheidung stehenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Das erkennende Gericht legt dem Angeklagten eine Straftat gern. Art. 286 § 267 pStGB zur Last. Er habe seine Befugnisse als Beamter überschritten, indem er anderen Personen rechtswidrig Unterstützung gewährt habe, was den Verfahrensvorschriften des Amtes für Arbeitsvermittlung widerspricht. 68 Das erkennende Gericht hatte Art. 20 § 2 pStGB auf diesen Fall angewandt; es ging davon aus, daß sich der Angeklagte in einem Rechtsirrtum befand. Die Annahme des Irrtums wurde darauf gestützt, daß Personen, die Unterstützung erhielten, über eine materielle Berechtigung zu ihrer Auszahlung verfügten und eine solche Praxis sich auf diesem Amt eingebürgert hatte. 69 Deswegen konnte der Angeklagte nach der Auffassung des erkennenden Gerichts sein Handeln für rechtmäßig halten. Das Revisionsgericht verwirft die Anwendung des Art. 20 § 2 pStGB auf diesen Fall. Die Tatsachen sprechen vielmehr für die Heranziehung des Art. 20 § 1 pStGB über den Irrtum bezüglich der Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Der Angeklagte irrte nicht über eine Rechtsnorm, sondern über die tatsächliche Reichweite seiner Befugnisse. Zum gesetzlichen Tatbestand i. S. des Art. 286 pStGB gehört die Überschreitung der "Machtbefugnisse". Ein Beamter, der sich im Irrtum über die Grenzen seiner Machtbefugnisse befindet und der Auffassung ist, er handelt rechtmäßig, unterliegt einem Irrtum nach Art. 20 § 1 pStGB und nicht nach Art. 20 § 2 pStGB. Der Rechtsbegriff "Machtbefugnisse" gehört zum gesetzlichen Tatbestand des Art. 20 § 1 pStGB. Die letzten zwei Entscheidungen des Obersten Polnischen Gerichts bestätigen zugleich, daß der Art. 20 § 2 pStGB über den Rechtsirrtum sehr eng, nämlich als Unkenntnis einer Gesetzesvorschrift, ausgelegt wird.
Zb. O. S. N. 1935, Nr. 328, S. 328. Art. 286 § I lautet: Ein Beamter, der seine Befugnisse überschreitet oder seinen Pflichten nicht nachkommt, schädigt das gemeine Wohl und macht sich daher strafbar ( ... ). § 2 Wenn der Täter handelt, um sich oder einem Dritten einen Vermögensvorteil oder einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, macht er sich (... ) strafbar. 68 Zb. O. S. N. 1936, Nr. 408, S. 945. 69 Ibid. S. 946. 66
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c) Zusammenfassung
Als Ergebnis läßt sich feststellen, daß sowohl im polnischen Schrifttum als auch in der polnischen Rechtsprechung jener Zeit die Unterscheidung nach error facti und error iuris dominiert. Auch nach der Schaffung eines neuen polnischen Strafgesetzbuches wird Art. 20 § 1 auf den Tatsachenirrtum angewandt, obwohl der Tatsachenbegriff einen erweiterten Bedeutungsumfang aufweist. Davon war bereits bei der Besprechung der polnischen Irrtumslehre in den 20er Jahren die Rede. 70 Art. 20 § 2 soll dagegen nur die Unkenntnis einer Rechtsnorm erfassen. Die bereits vorher aufgestellte These bestätigt sich demnach auch bei der Auslegung des neuen Gesetzes durch das Oberste Polnische Gericht: Art. 20 § 1 regelt im Kern den bereits sogenannten Tatbestandsirrtum, Art. 20 § 2 dagegen den Verbotsirrtum7 ). Das Gesetz, die Lehre und die Rechtsprechung gehen daher mehr oder weniger bewußt von einer vertikalen Irrturnsunterscheidung aus im Gegensatz zu der horizontalen Irrtumsunterscheidung des Reichsgerichts. 72 Die polnische Judikatur nimmt also schon in der Zwischenkriegszeit das vorweg, was der Bundesgerichtshof in den 50er Jahren in seiner bekannten Entscheidung vom 18. 03. 195273 getan hat. Das polnische Oberste Gericht hat sich damit - weit über das damals vorhandene dogmatische Instrumentarium hinaus- die Abgrenzung zwischen Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum in der Sache zu eigen gemacht.
v. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB Im Folgenden soll der Meinungsstreit über die Deutung des Art. 14 § 1 und des Art. 20 § 2 pStGB nun im Einzelnen dargestellt werden. Er ist für die Behandlung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe von großer Bedeutung und spiegelt zugleich den damaligen Wissensstand und das Verständnis der polnischen Irrtumslehre wider. Gegenstand der Kontroverse ist die Frage, ob das Rechtswidrigkeitsbewußtsein ein Bestandteil des Vorsatzes ist. Damit hängt die Frage zusammen, ob Art. 20 § 2 pStGB auf Vorsatztaten oder nur auf Fahrlässigkeitstaten AnwenVgl. oben Kap.D.III.3.a). Vgl. oben Kap.D.III.3.b).dd). 72 Vgl. Fn. 73. 73 BGHSt 2, 194; der Bundesgerichtshof hat im Beschluß des Großen Strafsenats mit der reichsgerichtlichen Rechtsprechung gebrochen. Die Unterscheidung von Tatbestands- und Verbotsirrtum wurde jedoch vom BGH 1952 als Konsequenz der rein normativen Schuldauffassung angenommen. Im polnischen Strafrecht der Zwischenkriegszeit war der Vorsatz nach wie vor ein Schuldelement. Daraus ergibt sich zugleich der dogmatische Unterschied, vgl. dazu auch später Kap. G.II.I. 70 71
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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dung finden soll. Hier noch einmal der Wortlaut der strittigen Gesetzesvorschriften: Art. 14 § 1: Eine vorsätzliche Straftat liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter sie begehen will, sondern auch dann, wenn er den Eintritt des strafbaren Erfolges oder die strafbare Handlung für möglich hält und sich damit abfindet. Art. 20 § 2: Das Gericht kann die Strafe außerordentlich mildem, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt" war.
1. Die Auffassung von Wolter Bei Wolter ist eine erste und eine weitere Auslegungsstufe zu unterscheiden: Zunächst ist er der Auffassung, daß das vorsätzliche Handeln nicht nur die Kenntnis des gesetzlichen Tatbestandes, sondern auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit mit einschließt. Das ergibt sich für ihn aus Art. 14 § 1 pStGB. 74 Wenn nun, so führt er aus, die Verantwortung für ein vorsätzliches Delikt vom Vorliegen des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit abhänge, so folge daraus a contrario, daß das Fehlen des Rechtswidrigkeitsbewußtseins die Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt entfallen läßt. Es sei dabei gleichgültig, ob das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit entschuldbar ("gerechtfertigt") oder nicht entschuldbar (nicht "gerechtfertigt,,)75 ist. Die nicht entschuldbare ("nicht gerechtfertigte") Unkenntnis der Rechtswidrigkeit bedeute zugleich Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit. Im Hinblick auf diesen normativen Standpunkt werde der Täter nur wegen einer fahrlässigen Begehung zur Verantwortung gezogen. 76 Nach Wolter besteht jedoch ein Widerspruch zwischen dem so ausgelegten Art. 14. § 1 pStGB und Art. 20 § 2 pStGB.77 Für ihn hat das entschuldbare ("gerechtfertigte") Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zur Folge, daß der Täter aus dem Fahrlässigkeitstatbestand nicht bestraft werden kann. 78 Der Text des Art. 20 § 2 besagt jedoch, daß das entschuldbare ("gerechtfertigte") Rechtswidrigkeitsbewußtsein nur eine außerordentliche Strafmilderung vorsieht. Sogar der entschuldbare ("gerechtfertigte") Irrtum würde danach die Strafbarkeit 74 Wolter, Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ("Nieswiadomosc bezprawnosci"), (Referat, das Wolter in der Gesellschaft für Rechtswesen am 22. 11. 1934 in Krakau vorgetragen hat), S. 225. 75 Vgl. Kap. E, Fn. 9; wiederum geht es um das Verständnis des Wortes "usprawiedliwiony" (in unserer Wiedergabe "gerechtfertigt"), daß Wolter hier mit "zawiniony" (nicht "entschuldbar") [Übersetzung des Verfassers] für synonym erachtet), vgl. dazu unten Kap. E.V.8.a)bb). 76 Wolter, Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, S. 225. 77 Ibid. S. 226. 78 Ibid. S. 225. 6 Lewandowski
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nach sich ziehen, während der Irrtum über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, die Straflosigkeit begründet, wenn er nicht auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruht. Außerdem sage Art. 20 § 2 nichts darüber aus, welche Begehungsform in Betracht komme, da er ja nur von einer fakultativen Strafmilderung spreche. Nach Wolter bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Täter aus einem Vorsatzdelikt bestraft; im Falle des fehlenden und entschuldbaren ("gerechtfertigten") Unrechtsbewußtseins wird die Strafe gemildert, im Falle des fehlenden und nicht entschuldbaren (nicht "gerechtfertigten") Unrechtsbewußtseins muß sich der Täter wegen vorsätzlicher Tat voll verantworten; oder dem Täter wird eine fahrlässige Tat zur Last gelegt mit der Möglichkeit der Strafmilderung, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit entschuldbar war. Wolter entscheidet sich im Ergebnis für die erste Alternative. Dieser Widerspruch veraniaßt Wolter zu der Revision seiner Auslegung, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz gehöre. Entscheidend sind für ihn systematische Gründe: Ordnet man nämlich das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit dem Vorsatzbereich zu, so hätte das zur Folge, daß der Täter in vielen Fällen straflos bleibt. Nicht jedes vorsätzliche Delikt sei ja durch einen Fahrlässigkeitstatbestand flankiert. Vom Standpunkt des Rechtsgüterschutzes aus kann das Bedürfnis nach einer Strafsanktion im Hinblick auf fahrlässige und vorsätzliche Tatbegehung verschieden sein. Aus diesem Grunde stelle der Gesetzgeber die Fahrlässigkeit nicht immer unter Strafe. Den verschiedenen, mit Bewußtsein der Rechtswidrigkeit durchgeführten Taten, steht nach Wolter beim fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit eine einzige Tatform der Rechtsfahrlässigkeit gegenüber. Diese sei ein delictum sui generis, gewissermaßen als Extrakt aller vorsätzlich begangenen Taten in Bezug auf deren Rechtsgut. Die gesetzgeberische Umsetzung dieses Gedankens kann nur so aussehen, daß im Falle des fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtseins die Verantwortung für eine vorsätzliche Tat eintritt. Es besteht aber die Möglichkeit der Strafherabsetzung. Die Beibehaltung dieser Strafmilderung soll dann alle Fälle des Rechtsirrtums betreffen. 79 Wolter kommt zum Schluß, daß die Bestrafung beim fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtsein nicht davon abhängen kann, ob die Fahrlässigkeit im Gesetz unter Strafe gestellt ist. 8o Faßt man die Argumente von Wolter zusammen, so ergeben sie folgendes Bild: Er gelangt erstens zu der Auffassung, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht zum Vorsatz gehört. Für dieses Ergebnis sprechen für ihn vor al-
79 80
Ibid. S. 229. Ibid. S. 230.
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lern systematische Gründe, aber auch kriminal politische Erwägungen. Zweitens stellt das Gesetz fest, daß das "gerechtfertigte" fehlende Rechtswidrigkeitsbewußtsein lediglich die Grundlage für eine Strafmilderung darstellt. 81 Wolter beruft sich auf die amtliche Begründung zu Art. 20 § 2 pStGB, nach welcher die Strafmilderung des Art. 20 § 2 nicht auf fahrlässige Straftaten beschränkt bleiben soll.82
2. Die Auffassung von Makarewicz Makarewicz wirft Wolter vor, daß dieser dem polnischen Gesetzgeber Mangel an Stringenz unterstellt. Der (böse) Vorsatz beziehe sich im polnischen Strafgesetzbuch begrifflich auf das Bewußtsein der Strafbarkeit. Wenn ein entschuldbares oder nicht entschuldbares Fehlen des Strafbarkeitsbewußtseins gegeben sei, liege kein (böser) Vorsatz vor. Eine vorsätzliche Straftat scheide dann aus. 83 Ist es so, dann könne sich Art. 20 § 2 pStGB nicht auf vorsätzliche Taten erstrecken. Er betreffe nur die Fahrlässigkeitsschuld. Neu ist in diesem Zusammenhang, daß Makarewicz nicht vom Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, sondern vom Bewußtsein der Strafbarkeit spricht. Dem Wortlaut nach betrifft Art. 20 § 2 pStGB eigentlich nur den ersten Fall, darauf wird noch zurückgekommen sein. 84 Im Rahmen der kritischen Besprechung einer Entscheidung des Obersten Polnischen Gerichts vom 21. 04. 193485 , das eine Auslegung im Sinne Wolters getroffen hatte, erläutert Makarewicz seine Auffassung im einzelnen: Er ist der Ansicht, für diese Auffassung spreche weder eine grammatische noch eine logische Auslegung von Art. 14 und Art. 20 pStGB. Die Auffassung des Gerichts führe im Ergebnis dazu, daß eine dieser Gesetzesvorschriften entbehrlich wäre. 86 Seine These entwickelt er am folgenden Beispiel: Wer in ein fremdes Haus eindringt, handelt in der Kenntnis, daß er eine Straftat gern. Art. 252 pStGB begeht; er hat also nicht nur das Bewußtsein der Strafbarkeit, sondern
81 Vgl. dazu auch die Polemik zwischen Wolter und Makarewicz in: RPEiS 1933, Heft 4, S. 1054ff. ß2 Ibid. S. 1055. 83 Makarewicz, Der Realismus im Strafrecht ("Realizm w Prawie Kamym") in: RPEiS 1933, Heft 2; S. 51; vgl. auch derselbe, Das Strafgesetzbuch für die Republik Polen in: ZfO 1933, Heft 3, S. 317. 84 Vgl. unten Kap. E.V.8.b). 85 Vgl. zu dieser Entscheidung Kap. E.V.7. 86 Makarewicz, Der Irrtum über die Strafbarkeit der Handlung ("Bl~d co do przestctpnosci dzialania") in: RPEiS 1936, Heft I, S. 34.
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auch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. Und deutlicher noch heißt es: alles, was das Strafrecht für strafbar erklärt, stelle ein Unrecht dar. 87 Dieser Schluß ist selbstverständlich, da das Urteil über die Strafbarkeit einer Tat abschließend ist. Falsch wäre eine umgekehrte Folgerung. Makarewicz geht der Frage nach, welche Bedeutung dem Art. 20 pStGB zukommt. Diese Gesetzesvorschrift nehme Bezug auf Art. 14, nach dem das Bewußtsein der Strafbarkeit zum Vorsatz gehören soll. Es sei daher unzulässig, Art. 20 § 2 isoliert, d. h. nicht im Zusarnrnenhang mit Art. 20 § 1 und Art. 14 § I und § 2 pStGB zu betrachten. 88 Der Art. 20 § 1 spreche vom Irrtum über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören; § 2 betreffe dagegen das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. In beiden Fällen könne nur von Fahrlässigkeitsschuld die Rede sein. Wenn der Irrtum über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehöre, auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte, werde der Täter aus dem Strafrahmen eines Fahrlässigkeitsdelikts zur Verantwortung gezogen. Beruhe die fahrlässige Straftat dagegen auf dem fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, so bestehe eine außerordentliche Strafmilderung, wenn der Täter die Schuld zu ,,rechtfertigen,,89 vermag. 9O Makarewicz führt dazu das weitere Beispiel an: Nach österreichischem Recht darf ein Polizist nach drei Warnschüssen einen tödlichen Schuß abfeuern. Ein Polizist wurde freigesprochen, obwohl er schon nach zwei Warnschüssen jemanden erschossen hatte. Sein Vorgesetzter hatte ihn in diesem Sinne falsch instruiert. Makarewicz löst diesen Fall auf der Grundlage des neuen polnischen Strafgesetzbuches folgendermaßen: Die Bestrafung des Polizisten aus dem Vorsatzdelikt müsse ausscheiden, weil er kein Unrechtsbewußtsein hatte. In diesem Fall könne nur Fahrlässigkeitsschuld nach Art. 14 § 2 vorliegen. Nach Makarewicz ist das der klassische Fall, auf den Art. 20 § 2 Anwendung findet. Die falschen Angaben des Vorgesetzten können die Schuld des Polizisten nicht gänzlich aufheben, seine Schuld werde jedoch herabgemindert, anders ausgedrückt "gerechtfertigt,,91 i. S. des Art. 20 § 2, weil der Polizist Grund hatte, seinem Vorgesetzten zu vertrauen. 92
87 Ibid. S. 35. 88Ibid. S. 41. 89 "Rechtfertigen" wird hier wieder im Sinne von "berechtigt", d. h. rechtlich gestützter Erklärung verstanden, vgl. dazu Kap. E, Fn. 9 und unten Kap. E.V.8.a).bb). 90 Makarewicz, Der Irrtum über die Strafbarkeit der Handlung, S. 41. 91 Vgl. wieder Kap. E, Fn. 9. 92 Makarewicz, Der Irrtum über die Strafbarkeit der Handlung, S. 42.
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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Es fragt sich nun, warum die Schuld des Polizisten nicht ganz entfällt. Worin besteht eigentlich dieser restliche Schuldgehalt, der trotzdem die Bestrafung nach Art. 14 § 2 und Art. 20 § 2 rechtfertigt? Einer hier sich abzeichnenden Inadäquanz von Makarewiczs Auffassung und der Gesetzeslage wird noch nachgegangen werden. 93 Insgesamt gelangt Makarewicz zu folgenden Thesen: 1. Es gibt keine vorsätzliche Straftat ohne das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. 2. Das Bewußtsein der Strafbarkeit kann mit der Vorsatzschuld in der Form dolus eventualis zusammen auftreten. 3. Im Falle der fahrlässigen Straftat läßt das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit die Verantwortung nicht entfallen, wenn der Täter die strafbare Tat voraussehen konnte oder sollte. 4. Ist eine Nachlässigkeit auf Seiten des Täters gegeben, so kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildern, wenn der Täter weder das Bewußtsein der Stratbarkeit noch das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatte. 94
3. Die Auffassung von Plawski Nach Plawski tritt eine vorsätzliche Straftat in zwei Formen auf: Erstens, wenn der Täter sie begehen will (dolus directus), zweitens, wenn er den Eintritt eines mit Strafe geahndeten Erfolges für möglich hält oder die stratbare Tätigkeit voraussieht und sich damit abfindet (dolus eventualis).95 Plawski geht es um die Frage, ob der Täter auch die Stratbarkeit seiner Tat in den Vorsatz aufnehmen muß. Er beruft sich zunächst auf den Grundsatz der subjektiven Verantwortung, der dem Strafrecht zugrunde liegt. Das Strafrecht stehe auf dem Standpunkt, daß der verbrecherische Täterwille nur dann vorliegen kann, wenn der Täter die Absicht hat, eine stratbare Tat zu begehen. 96 Wenn nun umgekehrt der Täter nicht weiß, daß seine Tat eine Straftat ist, könne ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden. 97 Plawski interpretiert Art. 14 § 1 pStGB folgendermaßen: Der erste Satz dieser Vorschrift beginne mit den Worten: "Eine vorsätzliche Straftat liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter sie begehen will ( ... )". Auf die Frage, was der Täter begehen will, laute die Antwort: eine 93
Vgl. unten Kap. E.V.8.b).
Makarewicz, Der Irrtum über die Strafbarkeit der Handlung, S. 44f. 95 Plawski, Das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit und die Schuld ("Nieswiadomosc przestl\!pnosci a wina"), Lw6w 1939, S. 24. 94
96 97
Ibid. S. 28. Ibid. S. 28.
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"Straftat". Nach Plawski will der Täter eine Tat ausfUhren, von der er nicht nur weiß, daß sie in ethischer Hinsicht verwerflich ist, sondern deren Strafbarkeit ihm ebenfalls gen au bewußt ist. 98 Zur Untermauerung seiner These zieht er sodann die gesetzliche Regelung des dolus eventualis in Art. 14 pStGB heran, in der das Tatbestandsmerkmal der "Strafbarkeit" erwähnt ist. Im Falle des dolus eventualis unterscheide das polnische Strafgesetzbuch zwei Verbrechensperspektiven, die materielle und die formelle. Eine Straftat im materiellen Sinne liege dann vor, wenn der Täter den Eintritt des strafbaren Erfolges für möglich hält und sich mit ihm abfindet; eine Straftat im formellen Sinne sei dann gegeben, wenn das gleiche für die strafbare Handlung zutrifft. 99 Ob diese Unterscheidung in die formelle und materielle Verbrechensperspektive berechtigt ist, sei dahingestellt. Wichtig ist, daß Plawski den Satzteil: "Eine Straftat begehen will" weit faßt und auf beide Verbrechensperspektiven anwendet. 1oo Diese Deutung führt zu der Schlußfolgerung, daß das Bewußtsein der Strafbarkeit ein Bestandteil des Vorsatzes i. S. des Art. 14 ist. Beschränkt sich die Kenntnis des Täters nur darauf, daß seine Tat unter Strafe gestellt ist, oder muß er vielleicht mehr wissen? Plawski will diese Frage im ersten Sinne beantworten. 101 In diesem Zusammenhang geht er auf den Art. 20 § 2 ein, der ihm zufolge den Art. 14 § 2 logisch erweitert. Dort, wo der Täter die Gesetzesvorschriften nicht kannte und seine Unkenntnis "gerechtfertigt" erscheint, komme Art. 20 § 2 zum Zuge. I02 Es entsteht nun die Frage, warum in Art. 20 § 2 vom fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und nicht vom fehlenden Bewußtsein der Strafbarkeit die Rede ist. Plawski meint, daß der Begriff des ,,Bewußtseins der Strafbarkeit" viel enger als der des "Bewußtseins der Rechtswidrigkeit" sei. Das Bewußtsein der Strafbarkeit bedeute, daß die betreffende Tat eine Straftat darstelle. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit betreffe dagegen die konkrete Tat, die sich der Rechtsordnung im allgemeinen, nicht nur dem Strafrecht widersetze. 103 Plawski ist daher der Auffassung, daß das Unrechts bewußtsein ebenso die Voraussetzung für das Vorliegen der Vorsatzschuld sei wie das Strafbarkeitsbewußtsein. Der Rechtsirrtum (error iuris) und der Tatsachenirrtum schließen nach seiner Meinung das Unrechtsbewußtsein aus. Also sei das Unrechtsbewußtsein ein Vorsatzelement. I04 98 Ibid. S. 29. 99lbid. S. 29. 100 Ibid. S. 3l. 101 Ibid. S. 40. 102lbid. S. 39. 103 Ibid. S. 40. 104 Plawski, Das Verhältnis des Art. 20 § 2 zu Art. 14 des Strafgesetzbuches ("Stosunek artykutu 20 § 2 do artykutu 14 k.k.") in: es 1935, S. 232.
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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4. Die Auffassung von Bzowski Aus Art. 14 § 1 folgt nach Bzowski, daß das Merkmal der "Strafbarkeit" zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Im Begriff des Strafbarkeitsbewußtseins stecke auch der Begriff der Rechtswidrigkeit. Es gebe daher keine Strafbarkeit ohne Rechtswidrigkeit, obwohl eine Tat rechtswidrig sein kann, ohne strafbar zu sein. lOS Er ist aber der Meinung, in Art. 20 § 2 pStGB entspreche die Rechtswidrigkeit immer der Strafbarkeit. 106 Dieser Schluß ist nicht ganz verständlich, nachdem Bzowski bereits feststellte, eine Tat könne rechtswidrig sein, ohne strafbar zu sein. Ihm zufolge begehen die Anhänger der Auffassung, ein notwendiger Bestandteil einer vorsätzlichen Tat sei nach Art. 14 pStGB das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, den Fehler, der in der Logik als "Akzentfehler" bezeichnet wird. Er beruht darauf, den Akzent auf eine falsche Satzstelle zu setzen. 107 In der Gestzesvorschrift des Art. 14 § 1 pStGB sollen seiner Meinung nach nicht das Wort "sie" (d. h. die Straftat), sondern die Wörter "will", "für möglich hält" und "findet sich ab" hervorgehoben werden. Auf ihnen liege der Schwerpunkt der Bedeutung des Art. 14 § 1. 108 An dieser Stelle beruft sich Bzowski auf den Vorentwurf zum Strafgesetzbuch von Makarewicz, dessen Art. 2 § 2 folgenden Wortlaut hatte: "Beim entschuldbaren Fehlen des Unrechtsbewußtseins kann der Täter straflos bleiben". Danach konnte fehlendes Unrechtsbewußtsein die Strafbarkeit ausschließen. Von diesem Vorentwurf wurde dann Abstand genommen. Nach der heutigen Gesetzeslage könne das fehlende Unrechtsbewußtsein nie die Straflosigkeit zur Folge haben. Es bestehe lediglich die Möglichkeit einer außerordentlichen Strafmilderung (Art. 20 § 2). Wie kann also, fragt sich Bzowski, behauptet werden, daß ohne das Unrechtsbewußtsein keine Vorsatzschuld möglich sei, wenn Art. 20 § 2 die Strafbarkeit im Falle "gerechtfertigten" Fehlens des Unrechtsbewußtseins sowohl bei vorsätzlichen wie fahrlässigen Straftaten nicht entfallen läßt und jedes fehlendes Unrechtsbewußtsein dem fehlenden Strafbarkeitsbewußtsein gleichsteht? Bzowski kommt schließlich zum Ergebnis, beim fehlenden Strafbarkeitsbewußtsein sei eine Straftat möglich, auch eine vorsätzliche. 109 In Art. 14 § 1 könne "eine Straftat begehen will", "sich mit der strafbaren Handlung abfindet" nur bedeuten, daß der Täter die Merkmale einer Straftat
lOS Bzowski, Über das Verhältnis des § 1 Art. 14 zu Art. 20 pStGB (,,0 stosunku § 1 Art. 14 do § 2 Art. 20 k.k. 1932") in: GS 1936, S. 768. 106 Ibid. S. 768. 1071bid. S. 769. 108 Ibid. S. 769. 109 Ibid. S. 770.
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verwirklichen will. I1O Wenn man Art. 14 § I so verstehe, so ergebe sich daraus kein Widerspruch zu Art. 20 § 2. 111 Insbesondere sei es nicht zulässig, den Begriff der Rechtswidrigkeit in Art. 20 § 2 durch den der Strafbarkeit zu ersetzen. Es gebe keinen Grund, diese Gesetezesvorschrift nur auf vorsätzliche oder nur auf fahrlässige Delikte anzuwenden. 112 Das Rechtswidrigkeitsbewußtsein gehöre nicht zur Vorsatzschuld und auch nicht zum gesetzlichen Tatbestand. Der gesetzliche Tatbestand sei vielmehr im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches geregelt. I 13 Resümiert man die vorstehenden Ergebnisse, so ist Bzowski der Ansicht, daß das Unrechtsbewußtsein kein Bestandteil des Vorsatzes ist. Daraus folgt wiederum, daß der Anwendungsgegenstand von Art. 20 § 2 auch Vorsatztaten ohne Unrechtsbewußtsein sind. 114
5. Die Auffassung von Aker Eine vorsätzliche Tat liegt nach Aker dann vor, wenn der Täter sie begehen will und das Bewußtsein der Strafbarkeit hat. Art. 14 § 1 und Art. 20 § 1 lassen nach seiner Ansicht die Vorsatzschuld entfallen, wenn sich der Täter in einem Irrtum über ein tatsächliches oder normatives Element des Tatbestandes befindet. Zum gesetzlichen Tatbestand rechnet Aker ein tatsächliches Element ("Handeln") und ein normatives Element ("Gesetzesvorschrift,,).115 Art. 20 § 1 besagt, daß im Falle des Irrtums über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, die Tat straflos bleibt, es sei denn, daß der Irrtum unentschuldbar ("zawiniony") sei, wenn nämlich der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Fahrlässigkeit beruhte. 116 Art. 20 § 2 kommt nur zur Anwendung, wenn Art. 20 § 1 nicht einschlägig ist. ll7 Nach Aker ist das der Fall, wenn ein eigener Fahrlässigkeitstatbestand im Strafgesetz nicht besteht und das fehlende Unrechtsbewußtsein beim Täter nicht entschuldbar sei. Ohne Art. 20 § 2 würde ansonsten ein Ungleichgewicht entstehen. Seine zu Art. 14 und Art. 20 gemachten Ausführungen bringt Aker auf folgende Formel: Wenn dem Täter das Ibid. S. 770. Ibid. S. 770. 112 Ibid. S. 771. 113 Ibid. S. 771. 114 Man könnte sich fragen, ob Vorsatztaten ohne Unrechtsbewußtsein im Sinne Bzowskis nicht praktisch der einzige Anwendungsgegenstand ist. Die Fahrlässigkeitstaten ohne Unrechtsbewußtsein werden zu dieser Zeit noch nicht näher diskutiert. 11S Aker, Der Irrtum auf dem Hintergrund des polnischen Strafrechts (,,Zagadnienia bI~du na tle polskiego prawa kamego") in: GSW 1937, Heft 15, S. 212. 116 Ibid. S. 212. 117 Ibid. S. 213. 110 111
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unentschuldbare ll8 Unrechtsbewußtsein (nämlich bezogen auf das nonnative Element) fehlt und das Gesetz keinen Fahrlässigkeitstatbestand vorsieht, so wird er aus dem Vorsatzdelikt mit der Möglichkeit einer außerordentlichen Strafmilderung bestraft. 119 Es ist an dieser Stelle empfehlenswert, sich für das Verständnis folgendes klar zu machen - Aker führt das nicht im einzelnen aus - für welche Irrtumsfälle nach seiner Konzeption Art. 20 § I gilt. Außer dem unproblematischen Fall des Tatirrtums gilt er im Falle des entschuldbaren, d. h. nicht auf mangelnder Sorgfalt beruhenden Irrtums über die Gesetzesvorschrift (nonnatives Element nach Aker), sodann aber auch im Falle des unentschuldbaren Irrtums über die Gesetzesvorschrift, wenn nämlich ein gesetzlicher Fahrlässigkeitstatbesta"nd existiert, der dann angewendet wird. Nicht einschlägig ist Art. 20 § 1 und gibt daher Raum für Art. 20 § 2 in dem Fall, daß der Täter sich in einem Irrtum über die Gesetzesvorschrift befindet, der nicht entschuldigt ist und ein gesetzlicher Fahrlässigkeitstatbestand nicht existiert. Dann wird der Täter gern. Art. 20 § 2 zwar aus dem Vorsatztatbestand bestraft jedoch mit der Möglichkeit außerordentlicher Strafmilderung. Aker geht in diesem Zusammenhang auf die gesetzliche Einschränkung nicht ein, daß ein Irrtum "gerechtfertigt" ("usprawiedliwiony") sein muß, um das Privilegium der außerordentlichen Strafmilderung zu verdienen. Er erläutert diesen Begriff jedoch an anderer Stelle. "Usprawiedliwiony" ist nicht gleichzusetzen mit "nieobarczony win~" (entschuldigt). Den Begriff im weitesten Sinne zu verstehen bedeute nur, daß die Gründe, auf denen der Irrtum beruhte, nicht imaginär sein dürfen. Sie müssen gewissennaßen greifbar sein. 12o Aker kommt somit zu folgenden Ergebnissen: 1. Bei Begehung einer vorsätzlichen Straftat muß der Täter neben dem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit auch das Bewußtsein der Strafbarkeit haben. 2. Ein nicht entschuldbarer Irrtum über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, d. h. entweder bezüglich eines tatsächlichen oder 118 Eigentlich erwartete man hier das polnische Wort "gerechtfertigt", vgl. Kap. E, Fn.9 und den Wortlaut des Art. 20 § 2. Stattdessen benutzt Aker "zawiniony" ("nicht entschuldbar") also den Begriff, mit dem er den Fahrlässigkeitstatbestand des Art. 20 § 1 umschrieben hatte. Das scheint ein Versehen von Aker zu sein, denn er selbst bekräftigt auf S. 213 "usprawiedliwiony" ("gerechtfertigt") sei nicht gleichzusetzen mit "nicht zawiniony". Es besage, daß der Irrtum des Art. 20 § 2, um überhaupt rechtliche Bedeutung zu erlangen, auf greifbare Umstände gestützt werden müsse. 119 Aker, Der Irrtum auf dem Hintergrund des polnischen Strafrechts, S. 213. 120 Ibid. S. 213; es versteht sich, daß "usprawiedliwiony" ("gerechtfertigt") nicht mit "entschuldigt" ("niezawiniony") in dem Sinne verwechselt werden darf, in dem ihn Aker oben als nun formal für einen nicht auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhenden Irrtum verwendete. In diesem Sinne ist "usprawiedliwiony" allerdings bei verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche mißverstanden worden, vgl. Kap. E, Fn. 160.
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nonnativen Elements (Gesetzesvorschrift), begründet die Fahrlässigkeitsschuld in den Fällen, in denen das Gesetz eine fahrlässige Begehung unter Strafe stellt. 3. Der "nicht entschuldbare" Irrtum über ein "nonnatives Element", bei dem das Gesetz keine Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitstatbestand anordnet, begründe die Verantwortung gern. Art. 20 § 2 in Verbindung mit dem einschlägigen Vorsatzdelikt. 1Z1
6. Die Auffassung von Sliwinski Sliwinski versucht, Art. 14 und 20 pStGB neu auszulegen. Er beginnt mit der grammatischen Auslegung. Die Fassung des Art. 14 ("eine Straftat begehen will") , ("die strafbare Handlung für möglich hält") lege die Vennutung nahe, diese Vorschriften wie folgt zu interpretieren: Im Falle der Vorsatzschuld, sagt Sliwinski, müsse dem Täter bewußt sein, daß sein Handeln (Tun oder Unterlassen) unter Strafe gestellt sei. Das fehlende Strafbarkeitsbewußtsein würde daher an sich die Vorsatzschuld nach Art. 14 entfallen lassenYz Nun geht Sliwinski aber auch davon aus, daß die Strafbarkeit die Rechtswidrigkeit und das Bewußtsein der Strafbarkeit das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit voraussetze. Aus Art. 20 § 2 gehe hervor, daß die Vorsatzschuld bei fehlendem Rechtswidrigkeitsbewußtsein unberührt bleibt, was aber auch für das Strafbarkeitsbewußtsein zu gelten habe. 123 Sliwinski ist der Auffassung, daß Art. 20 § 2 unter dem fehlenden Rechtwidrigkeitsbewußtsein nicht nur die Unkenntnis der einschlägigen Gesetzesvorschriften erfassen will. Das fehlende Rechtswidrigkeitsbewußtsein kann auf einern Rechtsirrtum, aber auch auf einern Tatsachenirrtum wie z. B. beim Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen der Notwehr beruhen. l24 Der Wortlaut des Art. 20 § 2 würde ergeben, daß das Fehlen der subjektiven Tatseite nur eine außerordentliche Strafmilderung, nie dagegen den Schuldausschluß nach sich ziehen kann. Sliwinski folgert daraus, wenn nun das fehlende Unrechtsbewußtsein, von dem in Art. 20 § 2 die Rede sei, zu dem subjektiven Tatbestand (Gesetzestatbestand) gehöre, der in Art. 20 § 1 angesprochen werde, so entstehe ein Zustand, demzufolge § 1 und § 2 des Art. 20 einander widersprechen und sich gegenseitig ausschließen. 1Z5 Im Rahmen der historischen Auslegung geht er auf die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs durch die Kodifikationskommission ein. Dort findet man Vgl. Aker, Der Irrtum auf dem Hintergrund des polnischen Strafrechts, S. 215. Sliwifzski, Der Irrtum in Lichte der strafrechtlichen Vorschriften ("Bll\d w swietle przepis6w Kodeksu Kamego") in: GSW 1934, Heft 22-23, S. 329ff. \23 Ibid. S. 329. \24 Vgl. Kap. E.VIl.2.a)dd)(2). \25 Vgl. Sliwifzski, Der Irrtum im Lichte der strafrechtlichen Vorschriften, S. 330. \2\
\22
v. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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folgende Formulierung, die nach Sliwinski ausschlaggebend ist: "Rechtswidrigkeit bedeutet nicht notwendig die Strafbarkeit. Es muß jedoch die Regel konsequent durchgeführt werden, daß für die strafrechtliche Verantwortung das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit erforderlich ist." Sliwinski kommt dann zum folgenden Zwischenergebnis: Wenn sich der Angeklagte auf das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit beruft und dabei nicht einwendet, daß er seine Tat für rechtmäßig gehalten habe, so kann ein solcher Irrtum die Zurechnung der Tat nicht ausschließen. Dagegen läßt das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (das für ihn auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum beruhen kann) die Vorsatzschuld entfallen. 126 Sliwinski versucht sodann den Widerspruch zu überwinden und Art. 14 und Art. 20 aufeinander abzustimmen. Das ist seiner Auffassung nach nur möglich, wenn man bereit ist anzunehmen, Art. 14 gebrauche den Begriff der Strafbarkeit (oder besser der "Straftat") im objektiven Sinne. Der Satz, der Täter erfülle den objektiven Tatbestand, bedeutet nach Sliwinski, daß er die objektive Seite der Straftat verwirklichen will, die subjektive Seite dagegen (die Kenntnis der Umstände oder der Rechtsnorm) sei in Art. 14 ohne Bedeutung; auf den Irrtum nehme diese Norm keinen Bezug. Art. 20 bringe indirekt zum Ausdruck, in Art. 14 gehe es nicht um die subjektive Tatseite, weil diese dem Art. 20 zugeordnet sei. 127 Zum gesetzlichen Tatbestand i. S. des Art. 20 § 1 rechnet Sliwinski alles, was für das Bestehen einer Straftat konstitutiv ist. Dazu gehören also die subjektive Tatseite, insbesondere das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (im Falle der Vorsatzschuld), wie auch die objektive Tatseite samt der Existenz der Strafrechtsnorm. 128 Unter Art. 20 § 1 falle an sich jeder Irrtum, auch der Rechtsirrtum, unabhängig davon, ob er entschuldbar oder nicht entschuldbar sei. 129 Das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit würde demzufolge i. S. des Art. 20 § 1 die Vorsatzschuld ausschließen, sofern sich nicht aus einer anderen Gesetzesvorschrift ergibt, daß allein das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit bei Vorliegen des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit die Vorsatzschuld nicht entfallen läßt. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ist für die Vorsatzschuld jedenfalls erforderlich. 130 Auf der anderen Seite muß nach Sliwinski auch Art. 20 § 2 berücksichtigt werden, der gerade vom fehlenden Bewußtsein der Rechtswidrigkeit spricht. Dieser Gesetzesvorschrift könne jedoch nicht entnommen werden, ob das feh-
Ibid. Ibid. 128 Ibid. 129 Ibid. 130 Ibid. 126 127
S. S. S. S. S.
330. 332. 332. 333. 333.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
lende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum (Rechtswidrigkeit im weitesten Sinne) beruhe, ihren Grund in einem Rechtsirrtum (Rechtswidrigkeit im engeren Sinne) oder nur im strafrechtlichen Rechtsirrtum (Rechts widrigkeit im engsten Sinne) habe. Wenn Art. 20 § 2 das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit im wietesten Sinne regeln wollte, würde das der Bestimmung des Art. 20 § 1 widersprechen, denn Art. 20 § 2 würde dann alle Irrtumsarten erfassen. Man wüßte nicht, welcher Irrtumsfall Art. 20 § 1 unterfallen sollte. 13l Diese Auslegung führt zu dem Ergebnis, daß jeder Irrtum die Fahrlässigkeitsschuld in der Regel entfallen läßt, auch dann wenn er nicht entschuldbar war. 132 Nach § 2 Art. 20 schließt der Irrtum über die Strafbarkeit der Tat l33 (bei Vorliegen des Unrechtsbewußtseins) die Vorsatzschuld dagegen nicht aus. Er ist sogar strafrechtlich unerheblich, wenn er nicht entschuldbar ist. Ist er entschuldbar, kann die Strafe außerordentlich gemildert werden. 134 Die Zusammenfassung dieser Ergebnisse ergibt folgendes Bild: 1. Art. 14 betrifft die objektive, Art. 20 die subjektive Tatseite. 2. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (nicht der Strafbarkeit) gehöre zum gesetzlichen Tatbestand. 3. Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (nicht der Strafbarkeit), das auf einem Tatsachen- oder Rechtsirrtum beruhe, regelt Art. 20 § 1. Die Vorsatzschuld entfallt auch dann, wenn der Irrtum nicht entschuldbar war (d.h. auf Fahrlässigkeit beruht). 4. Das fehlende Bewußtsein des strafrechtlichen Unrechts (das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit) und bei vorhandenem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit kann nur dann eine außerordentliche Strafmilderung nach sich ziehen, wenn das fehlende Bewußtsein "gerechtfertigt" war. 135 Sliwinski beruft sich auf § 13 des Amtlichen Entwurfes des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbu-
Ibid. S. 333. Sliwiflskis Ausnahme von der Regel, daß auch bei schuldhaftem Irrtum keine Fahrlässigkeitsschuld gegeben ist, dürfte der Fall sein, daß ein Fahrlässigkeitstatbestand besteht. 133 Sliwiflski, Der Irrtum im Lichte der strafrechtlichen Vorschriften, S. 334. 134 Ibid. S.334. Sliwiflski verwendet in diesem Zusammenhang nicht das Wort "usprawiedliwiony" (gerechtfertigt) des Gesetzestextes. Er spricht von "zawiniony" ("nicht entschuldbar"); inhaltlich dürfte kein Unterschied bestehen. vgl. aber der differenzierende Sprachgebrauch bei Aker; siehe oben Kap. E, Fn. 118. 13S Sliwiflski, Der Irrtum im Lichte der strafrechtlichen Vorschriften, S. 335f. 13l
132
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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ches 1925, der die Vorsatztheorie einführen wollte, eine Lösung, der SliwiIlskis Konzeption in der Tat gleichkommt. 136
7. Die Auffassung des Obersten Polnischen GerichtsUrteil vom 21. 04. 1934 Das Oberste Gericht muß sich in dieser Entscheidung mit der Frage auseinandersetzen, ob es zur Annahme der Vorsatzschuld erforderlich ist, daß der Angeklagte das Bewußtsein der Strafbarkeit hat (Art. 14 i. V. m. Art. 20 § 2). Im Tenor stellt das Gericht fest: Die Annahme der Vorsatzschuld setze nicht voraus, daß der Täter das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hatte. \31 Die Begründung dazu: Die Strafbarkeit des Handeins, von der in Art. 14 die Rede sei, habe mit dem Begriff der "Rechtswidrigkeit" nichts zu tun, der in § 2 Art. 20 erwähnt werde. Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit bedeute die Unkenntnis des Gesetzes (iuris ignorantia). Das fehlende Strafbarkeitsbewußtsein bedeute dagegen, der Täter sei sich nicht bewußt, daß er das Recht verletze, das ihm im übrigen sehr gut bekannt sein kann. 138 Das Oberste Gericht beruft sich an dieser Stelle auf den Art. 48 russ. StGB von 1903, in dem bei der Bestimmung des dolus eventualis die Formulierung "das strafbare Handeln" nach seiner Auffassung nicht vorhanden war. 139 Diese Formulierung wurde erst durch die Kodifikationskommission (die sich übrigens bei der Ausgestaltung des Art. 14 an Art. 48 russ. StGB orientierte) hinzugefügt. Die Ministerial-
136 Ibid. S. 335; der amtliche Entwurf 1925 distanziert sich von der Irrtumsregelung des Vorentwurfs, der die Unterscheidung des Reichsgerichts nach strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum kodifizieren wollte. Auch Sliwinski verneint, daß man diese reichs gerichtliche Lösung in seinem Konzept wiederfinden könne, vgl. Sliwinski, Der Irrtum im Lichte der strafrechtlichen Vorschriften, S. 335. 137 Zb. O. S. N. 1934, Nr. 102, S. 175. 138 Ibid. S. 177. 139 Das Strafgesetzbuch, das im polnischen Königreich seit dem 7. September 1917 in Kraft war und eine Übersetzung des russ. StGB vorn 22. März 1903 nach vorgenommenen Änderungen und Ergänzungen darstellte, bestimmte bereits in Art. 48, daß dolus eventualis dann vorliegt, "wenn der Täter bewußt hinnimmt, daß der für das strafbare Handeln vorausgesetzte Erfolg eintritt". Vgl. Strafgesetzbuch - vorläufig in Kraft im polnischen Königreich ("Kodeks karny - tyrnczasowo obowi!\ZujllCY w Kr61estwie Polskirn"), Warszawa 1917; ferner Reinhold, Grundriß des in polnischen Gebieten geltenden Strafrechts, S. 36. Bernstein übersetzt Art. 48 russ. StGB von 1903 auch in diesem Sinne: "Eine strafbare Handlung ist nicht nur dann als eine vorsätzliche zu betrachten, wenn der Schuldige ihre Begehung wollte, sondern auch, wenn er bewußt den Eintritt des die Strafbarkeit der Handlung bedingenden Erfolges gestattete." (Hervorhebungen vom Verfasser). Vgl. Das neue russische Strafgesetzbuch ("Ugolovnoje Uo:zenje"), allerhöchst bestätigt am 22. März 1903, aus dem Russischen übersetzt von Bernstein in: Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher, ZStW 28 (1908), S. 24. Es ist daher fraglich, ob dieses Argument des Obersten Gerichts zutreffend ist.
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
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kommission habe (so das Oberste Gericht) zu Recht vorgeschlagen, diese Formulierung zu streichen, da sie künftig zu Mißverständnissen und Zweifeln führen könne. Nach Ansicht der Ministerialkommission gäbe es keinen plausiblen Grund, zwischen "Erfolgsdelikten" und "Tätigkeitsdelikten" zu unterscheiden, weil jede Straftat ohne Ausnahme einen Erfolg herbeiführe. Ganz anderes stehe es dagegen mit dem Begriff des "fehlenden Unrechtsbewußtseins" in Art. 20 § 2. Nach der Auffassung des Obersten Gerichts regelt diese Vorschrift den Fall der "iuris ignorantia". Der Gesetzgeber befürchte bis heute, daß der Bruch mit dem Grundsatz "ignorantia iuris semper nocet, legis ignorantia non exusat" die Rechtsordnung gefährden und die strafende Gewalt erschüttern könne. Vor allem sei das heute besonders gefährlich, wenn Hunderte von Gesetzen in der ganzen Welt erlassen werden, die bis jetzt als straflos geltendes Verhalten verbieten. Fast jeder Bürger könnte sich dann der Verantwortung entziehen, indem er sich auf die Unkenntnis von Gesetzen beriefe. Aus zweckmäßigen und kriminalpolitischen Gründen habe der Gesetzgeber einen Kompromiß finden müssen. Einen solchen Kompromiß stelle § 2 Art. 20 dar, der sich am japanischen Strafgesetzbuch orientiert. Art. 20 § 2 habe die Regel "iuris ignorantia semper nocet" im vollen Umfang aufrechterhalten. 140 Niemand könne sich daher darauf berufen, daß er die einschlägige Gesetzesvorschrift nicht kannte. Er werde aus dem Vorsatzdelikt bestraft, auch wenn ihm der Nachweis gelinge, daß er die Vorschrift nicht kennen konnte. Die Schärfe dieser bedingungslosen Regel werde dadurch abgestumpft, daß das Gericht im Falle des fehlenden und "gerechtfertigten" Bewußtseins der Rechtswidrigkeit die Strafe auf ein Minimum reduzieren oder sie zur Bewährung aussetzen kann. 141
Vgl. dazu Kap. E.V.8.b). Zb. O. S. N. 1934, Nr. 102, S. 178; die Frage der Auslegung des Art. 14 und des Art. 20 und die Frage, ob das Unrechtsbewußtsein ein Bestandteil des Vorsatzes ist, beschäftigte in der Zwischenkriegszeit auch andere Autoren. So schrieb Makowski, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ein Element des Vorsatzes sei (vgl. Makowski, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 69.) Diese Auffassung teilte auch Berger; ihm zufolge soll das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit die Vorsatzschuld ausschließen (vgl. Berger, Versuch bei Fahrlässigkeitstaten ["Usilowanie przestrepstw nieumyslnych"] Bemerkungen zu Art. 23 § 1,20 pStGB von 1932 in: Studien über das Strafgesetzbuch, Lublin 1934, S. 12.) Auch Glaser ordnete das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit dem Schuldbegriff zu (vgl. Glaser, Die Behandlung des Rechtsirrtums im polnischen Strafrecht in: SchwZStr, Bd. 53., 1939, S. 216). Myrcha war der Meinung, daß die These des Obersten Gerichts, nach der das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit kein Bestandteil des Vorsatzes sei, mit dem Naturrecht in Widerspruch stehe (vgl. Myrcha, Unrechtsbewußtsein und Schuld im Strafrecht und im kanonischen Recht ["Nieswiadomosc bezprawnosci a wina w karnym ustawodawstwie kanonicznym i Polskim"] in: Polonia Sacra, Warszawa 1956, S. 117f.]). Dworzak schloß sich in seinem Aufsatz von 1939 der übrwiegenden Meinung in der polnischen Rechtslehre an: "Gemäß dem polnischen Strafgesetzbuch ist die Verantwortung für eine vorsätzliche Straftat zu verneinen, wenn der Täter nicht wußte, daß sein Verhalten eine Straftat darstellt" (vgl. Dworzak, Die Organisation der Vorbeugung gegen Verbrechen in Polen im Rahmen der Verfassung 140 141
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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8. Kritik Im folgenden werden die gewonnenen Ergebnisse kritisch gewürdigt. Danach versuche ich, einen eigenen Auslegungsvorschlag der strittigen Vorschriften des Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 zu entwickeln; diese Vorschriften haben ja das heutige Irrtumsverständnis mit geprägt, so daß eine bessere Auslegung der damaligen Irrtumsnormen heute ihren Sinn behält.
a) Exkurs zu den Begriffen der "Straftat" und "gerechtfertigt"
Bevor Kritik geübt wird, müssen vorerst zwei Begriffe geklärt werden, vom deren Verständnis die Deutung der einschlägigen Normen abhängt. Es handelt es sich um den Begriff der "Straftat" in Art. 14 § 1 ("Eine vorsätzliche Straftat liegt nicht nur dann vor, wenn der Täter sie begehen will [... ]") und um den Begriff "gerechtfertigt" in Art. 20 § 2.
["Organizacja profilaktyki kryminalnej w Polsee w ramach systemu konstytucyjnego"] in: PWP 1939, S. 75). Er merkt noch an, daß Art. 20 § 2 pStGB nur fahrlässige Taten betreffe (a.a.O. , S. 75, Anm.ll). Vereinzelt blieb die Auffassung von Nisenson und Siewierski, Art. 20 § 2 pStGB regele den sog. Rechtsirrtum. Diese Norm gehe von der Regel aus, auf Unkenntnis des Rechts könne sich niemand berufen. Gemäß diesem Grundsatz könne der Täter aus dem Vorsatzdelikt bestraft werden (vgl. NisensonlSiewierski, Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz ["Kodeks karny i Prawo 0 wykroczeniach"], 2. Aufl., Warszawa 1935, S. 19). Eine ähnliche Ansicht findet sich auch bei Peiper (vgl. Peiper, Kommentar zum Strafgesetzbuch, ["Komentarz do Kodeksu Karnego"], Krak6w 1933, S. 80, 81). Auch deutsche Autoren haben die Irrtumsregelung im polnischen Strafgesetzbuch von 1932 einer kritischen Würdigung unterzogen. So schrieb Busch: "Aus dem Vergleich der Artikel 14 und 20 geht es unserem Erachten nach deutlich hervor, daß zum Vorsatz das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht gehört, denn selbst entschuldbare [An dieser Stelle wird es deutlich, daß Busch für die Umschreibung des umstrittenen Begriffs "usprawiedliwiony" die Formel "entschuldbar" bemüht, anstatt sie besser mit "gerechtfertigt" zu übersetzen. - Anmerkung des Verfassers] Unkenntnis der Rechtswidrigkeit führt lediglich zu einer ins Ermessen des Richters gestellten Strafmilderung" (vgl. Busch, Kritische Bemerkungen zum polnischen Strafgesetzbuch in: ZStW 55 (1935), S. 629). Auch Grafv. Gleispach übte Kritik an der Regelung des Art. 20 § 2. Er rügte das seiner Meinung nach unklare Verhältnis zwischen dem Bewußtsein der Strafbarkeit und dem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (vgl. dazu v.Gleispach, Das polnische Strafgesetzbuch, MonKrimPsych 1933, S. 335). Nach Wirschubski wäre es dagegen konsequent und mit dem Schuldprinzip vereinbar, im Falle des Art. 20 § 2 die Straflosigkeit eintreten zu lassen (vgl. Wirschubski, Das polnische Strafgesetzbuch vom 11. Juli 1932 und die kriminalpolitischen Forderungen der Gegenwart in: MonKrimPsych 1933, S. 269 Anm. 1).
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
aa) Der Begriff der "Straftat" Im polnischen Schrifttum der 30er Jahren herrscht keine Einigkeit darüber, was eigentlich unter dem Begriff der Straftat zu verstehen ist. So wendet Stanislaw Witunski, Richter am Obersten Polnischen Gericht, bereits 1925 ein, daß viele Gründe dafür sprechen, unter der Straftat einen objektiven Zustand ohne Schuld und Verantwortung des Täters zu verstehen, der strafrechtliche Gesetzentwurf sei in diesem Sinne zu gestalten. 142 Witunski hat hier den Vorentwurf zum Strafgesetzbuch nach der ersten Lesung und seine Regelung in Art. 10 und 12 im Auge. Dort ist bestimmt, daß der Täter im Falle seiner Unzurechnungsfähigkeit oder eines Irrtums keine Straftat begeht. Nach Witunski ist diese Formulierung unangebracht, da sie den Täter und seine Tat äußerst negativ bewertet. 143Es stellt sich nun die Frage, warum? Die Antwort kann nur lauten: Weil der Begriff der Straftat schon logisch. voraussetzt, daß der Täter schuldhaft gehandelt hat. Makarewicz ist der Auffassung, daß das Strafgesetzbuch dort, wo es von einer "Straftat" spreche, die volle subjektive Verantwortlichkeit eines erwachsenen Menschen verlange, dort dagegen, wo es von einer mit Strafe bedrohten "Tat" spreche, die subjektive Verantwortung irrelevant sei; das Gesetz bringe damit zum Ausdruck, daß zwischen der Tat und der Rechtsordnung objektiv ein Widerspruch bestehe. l44 Im ähnlichen Sinne argumentiert auch Peiper: Der Begriff der Straftat enthalte auch die subjektive Tatseite, so daß für eine bestimmte Tat strafrechtliche Verantwortung erforderlich sei. 145 Nach Peiper wird jedoch der Begriff der "Straftat" im Gesetz nicht einheitlich gebraucht. Nach einer Analyse der einzelnen Gesetzesvorschriften kommt er zum Ergebnis, daß der polnische Gesetzgeber das Wort "Straftat" einmal als eine mit Strafe bedrohte Tat (ohne Bezugnahme auf die Schuld) in anderen Fällen als eine schuldhafte und strafbare Tat versteht. 146 In seiner Entscheidung von 11. Dezember 1934 legt das Oberste Gericht dar, der Begriff der "Straftat" bei der Kennzeichnung der Vortat in Art. 160 pStGB über die Hehlerei sei auf die objektive Seite (ohne Bezugnahme auf die Schuld) beschränkt,147 d. h. ohne die Schuld des Vortäters. 142 Witwiski, Bericht des Richters am Obersten Gericht über die Abschnitte I und 11 des Allgemeinen Teils des Gesetzentwurfs, der von der Strafrechtsabteilung der Kodifikationskommission vorgelegt wurde ("Streszczenie uwag s~dziego Sltdu Najwyi:szego Stanislawa Witwiskiego nad rozdzialami I, 11 Projektu cz~sci og6lnej polskiego kodeksu kamego w redakcji sekcji prawa kamego Komisji Kodyfikacyjnej") in: GSW 1925, S. 5. 143 Ibid. S. 5. 144 Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 4. Aufl., 1935. 145 Peiper, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Krak6w 1936, S. 25. 146 Ibid. S. 26, Anm. lO zu Art. 1. 147 Urteil vom 11.12.1934 in: OSP 1935, Nr. 452, S. 443.
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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Glaser übt an dieser Entscheidung Kritik. Er geht davon aus, daß die Schuld ein elementares Verbrechensmerkmal sei. Ohne die Schuld sei eine Straftat nicht existent. Das Erlangen einer Sache durch eine rechtswidrige, aber nicht schuldhafte Tat stelle keine Straftat dar. Der Erwerb könne daher auch nicht den Tatbestand des Art. 60 pStGB erfüllen. 148 Das polnische Strafgesetzbuch teilt nach Glaser die Straftaten in Vergehen und Verbrechen auf (Art. 12 pStGB). Danach kann eine Straftat nur ein Vergehen oder ein Verbrechen sein. Gern. 13 pStGB müssen sie schuldhaft begangen werden. Andere Straftaten kenne das Gesetz nicht. A contrario ergebe sich daraus, eine nicht schuldhaft verübte Tat sei keine Straftat i. S. des polnischen Strafgesetzbuches. Deswegen ist nach Glaser Art. 20 § 1 über den Tatbestandsirrtum fehlerhaft formuliert, 149 der die Umkehrseite der Vorsatzschuld sei. Statt "es begeht keine Straftat" sollte es besser heißen: "es handelt nicht schuldhaft". Diese Entscheidung des Obersten Gerichts orientiert sich bei der Bestimmung des Straftatbegriffs noch am Spezialfall der Hehlerei. 1936 ergeht ein neues Urteil des Obersten Gerichts, in dem unmittelbar auf den Begriff der "Straftat" in Art. 14 § 1 Bezug genommen wird. Dort heißt es, im Begriff der "Straftat" stecke auch der Begriff der "Rechtswidrigkeit", während eine rechtswidrige Tat keine Straftat zu sein brauche. 150 Die Anhänger der Auffassung, für eine vorsätzliche Tat sei das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit erforderlich, begingen einen Fehler, der in der Logik als Fehler der falschen Akzentsetzung bezeichnet werde. l5l "Eine Straftat begehen will", "sich mit der Strafbarkeit seines Handeins abfinden" kann i. S. des Art. 14 nur bedeuten, daß der Täter die Merkmale eines bestimmten Delikts verwirklichen will, sei es, daß er einen Menschen töten oder ein Gebäude in Brand setzen will usw. Natürlich hätten diejenigen Recht, die behaupteten, Art. 14 betreffe die subjektive Tatseite (Wille und Voraussicht). Dennoch gehe es in dieser Vorschrift um die Straftat nur im objektiven Sinne. 152 Das subjektive Element sei dagegen in Art. 14 ohne Relevanz. 153 So verstanden stehe Art. 14 § 1 nicht im Widerspruch zu Art. 20 § 2. 154 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Oberste Gericht den Begriff der Straftat im objektiven Sinne faßt. In der Literatur stößt diese Entscheidung, 148 Glaser, Anmerkung zum Urteil vom 11.12.1934 ("Glosa do wyroku z 11.12. 1934") in: OSP 1935, Nr. 452, S. 443. 149 Ibid. S. 443. 150 Urteil vom 27.08.1936 in: OSP 1937, Nr. 310, S. 280. 151 Ibid. S. 281; das Oberste Gericht hat sich hier die Argumentation von Bzowski zu eigen gemacht, vgl. dazu Kap. E.VA. 152 Urteil vom 27. 08. 1936 in: OSP 1937, Nr. 310, S. 281. 1531bid. S. 281. 154 Ibid. S. 282. 7 Lewandowski
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
z. B. bei Sliwinski, auf Ablehnung. Im Lehrbuch spricht Sliwinski sogar von einem irreführenden Urteil. I55 Er selbst ist der Meinung, im polnischen Recht gebe es keine Straftat im objektiven Sinne. Wenn von einer Straftat die Rede sei, so müsse die Schuld des Täters mit einbezogen werden, d. h. die objektive und subjektive Tatseite zugleich. Mit ähnlichen Argumenten, die bereits Glaser ins Feld gefUhrt hatte, kommt auch Sliwinski zum Ergebnis, das Strafgesetzbuch verfüge nicht über einen Begriff der Straftat im objektiven Sinne. 156 Nur dort, wo das Gesetz von der unter Strafe gestellten Tat spreche, sei nach Sliwinski die Straftat im objektiven Sinne gemeint. 157 Zum Schluß noch die Auffassung von Walfisz, der vielleicht den Begriff der Straftat am treffendsten faßt. Drei Elemente sind ihm zufolge unentbehrlich, damit eine Straftat im formellen Sinne vorliege. Es müsse sich um ein menschliches Verhalten handeln, das schuldhaft, rechtswidrig und durch das Gesetz unter Strafe gestellt sei. Das gegenseitige Verhältnis dieser Elemente und ihre logische Einordnung würden natürlich vom theoretischen Standpunkt abhängen. Auf jeden Fall soll zunächst die Rechtswidrigkeit und erst dann die Schuld als subjektives Element festgestellt werden. Von diesem Standpunkt aus kann die Straflosigkeit in drei Fällen eintreten: Erstens, wenn abgesehen von der Schuld und der Rechtswidrigkeit, der Gesetzgeber es für angebracht hält, von der Verhängung der Strafe abzusehen, oder zweitens, wenn konkrete Umstände die objektive Rechtswidrigkeit entfallen lassen und schließlich drittens, wenn die Rechtswidrigkeit besteht und nur die Schuld als subjektives Element ausgeschlossen ist. 158 Der Auffassung des Obersten Gerichts und derjenigen Autoren, die den Begriff der Straftat nur auf die objektive Tatseite beschränken wollen, kann hier nicht gefolgt werden. Die Schuld ist ein konstitutives Merkmal jeder Straftat. Dies entspricht auch dem damaligen Verbrechensaufbau.
bb) Der Begriff ..gerechtfertigt" in Art. 20 § 2 Das ..gerechtfertigte" Fehlen des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit bedeutet nach Makarewicz in Art. 20 § 2 nicht ..entschuldbar". Dieser Begriff entspricht
Sliwiliski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 65. Ibid. S. 65; es handelt sich dabei nicht um einen Widerspruch zu der objekitivierenden Auslegung von Art. 14 § 1, vgl. dazu auch Kap. E.V.6. 157 Ibid. S. 65. 158 Walfisz, Zum Begriff der Rechtswidrigkeit in: Enzyklopädie des Strafrechts, Bd. I, Warszawa 1932, S. 108. ISS
IS6
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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der Bedeutung "wirklich vorliegend", "nicht imaginär", "greifbar".159 Einen Fehler begeht, wer den Begriff "gerechtfertigt" als "entschuldbar" deutet. l60 Dadurch wird die Vorschrift des Art. 20 § 2 noch mißverständlicher. Wäre der Begriff "gerechtfertigt" im Sinne von entschuldbar zu verstehen, so müßte die Tatschuld und damit die Strafbarkeit entfallen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Regelung des Art. 20 § 2 in sich schlüssig und sachlich widerspruchsfrei ist. Dazu später.
b) Kritischer Teil und eigener Lösungsversuch Im folgenden werde ich von der Prämisse ausgehen, daß der Begriff der Straftat nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Tatseite involviert (1. Prämisse). Der Begriff "gerechtfertigt" ist nicht i. S. von "entschuldbar" zu interpretieren (2. Prämisse). Fassen wir noch kurz die Ergebnisse des Meinungsstreits zusammen. Erstens: Das Unrechtsbewußtsein ist nach Auffassung von Makarewicz, Plawski, Sliwiilski und Aker ein wesentlicher Bestandteil des Vorsatzes. Aker behauptet, vorsätzliches Handeln erfordere auch das Bewußtsein der Strafbarkeit. Eine völlig entgegengesetzte Meinung vertritt das Oberste Polnische Gericht. Zweitens: Makarewicz (wie auch Plawski) wollen im Falle des fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtseins nur aus dem Fahrlässigkeitstatbestand bestrafen. Auch darin besteht ein Unterschied zu der Auffassung des Obersten Gerichts. Drittens: Im Falle des "gerechtfertigten" Unrechtsbewußtseins ist nach Makarewicz eine Strafmilderung für eine fahrlässige Straftat vorgesehen. Sliwiilski will dagegen die Strafe nur dann herabsetzen, wenn es trotz des Rechtswidrigkeitsbewußtseins am Bewußtsein der Strafbarkeit fehlt (strafrechtliches Unrechtsbewußtsein). Der Strafrahmen soll dann dem Vorsatzdelikt entnommen werden. Dem Bewußtsein der Strafbarkeit wird von Sliwiilski und Aker strafrechtliche Relevanz beigemessen. Für Makarewicz und das Oberste Gericht ist es dagegen ohne Bedeutung.
159 Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 5. Aufl., 1938, S. 100; vgl. auch Aker, Der Irrtum auf dem Hintergrund des polnischen Strafrechts in: GSW 1937, Heft 15, S. 213. 160 So spricht z. B. Wirschubski irreführend von "entschuldbarer Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Tat" (vgl. Wirschubski, MonKrimPsych 1933, S. 268); auch Busch geht von der "entschuldbaren" Unkenntnis der Rechtswidrigkeit aus, er erkennt immerhin, das Verständnis der Vorsatz- und Irrtumsregelung leide unter den Schwierigkeiten der Übersetzung (vgl. dazu Busch, ZStW 55 (1935), S. 629).
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Viertens: Eine Sonderstellung nimmt die Auffassung von Wolter ein. Grundsätzlich ist er zwar der Meinung, zum Vorsatz gehöre das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit; um den Widerspruch zwischen dem Art. 14 § 1 und dem Art. 20 § 2 zu vermeiden, schließt er sich der Ansicht des Obersten Gerichts an. Es stellt sich zunächst die Frage, worin eigentlich der Widerspruch bestehen soll, von dem Wolter immer wieder gesprochen hat. Wenn bei der Annahme, das Bewußtsein der Strafbarkeit gehöre zum Vorsatz, Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 aufeinander bezogen werden, werde die Ungereimtheit deutlich: Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit könne eine außerordentliche Strafmilderung nach sich ziehen, obwohl das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit impliziert. Auf der anderen Seite soll aber das fehlende Bewußtsein der Strafbarkeit, das dem Unrechtsbewußtsein nicht zu entsprechen braucht, eine vorsätzliche Straftat ausschließen. 161 Soweit Wolter. In dieser knappen Formulierung bringt Wolter zugleich die Widersprüchlichkeit der beiden Vorschriften auf den Punkt. Um ihre Unvereinbarkeit voll und ganz zu verstehen, ist es notwendig, zuerst die Begriffe "Strafbarkeitsbewußtsein" und "Rechtswidrigkeitsbewußtsein" zu interpretieren. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit bezeichnet positiv, daß der Täter eine Tat begeht (einen gesetzlichen Tatbestand erfüllt) und dabei weiß, daß er etwas Unrechtes tut. Er hat damit das Unrechts bewußtsein. Das Strafbarkeitsbewußtsein hat er erst dann, wenn er zusätzlich weiß, daß das, was er tut, schuldhaft und strafbar ist. Folglich müssen zwei Irrtumsfälle unterschieden werden. Der erste Fall liegt vor, wenn der Täter kein Unrechtsbewußtsein und damit kein Strafbarkeitsbewußtsein hat. Der zweite Fall wäre dann gegeben, wenn er zwar das Unrechtsbewußtsein, aber kein Strafbarkeitsbewußtsein hat. Untersuchen wir zunächst den ersten Fall: Hat der Täter kein Bewußtsein der Rechtswidrigkeit , so hat er auch keines der Strafbarkeit (so zutreffend Wolter). Das Strafbarkeitsbewußtsein kann allerdings schon dann verneint werden, wenn mindestens ein Element des Verbrechensaufbaus fehlt, sei es die Rechtswidrigkeit, die Schuld oder die Strafbarkeit. Aus Art. 14 § 1, nimmt man ihn wörtlich, ergibt sich, daß der Täter bei der Tatbegehung immer das Bewußtsein der Strafbarkeit haben muß. A contrario folgt daraus: Fehlt das Bewußtsein der Strafbarkeit, so entfällt die Vorsatzschuld. Unser erster Fall ist so gelagert, daß das fehlende Strafbarkeitsbewußtsein die Folge des fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtseins ist. Art. 14 § 1 ordnet in diesem Fall an, noch die Fahrlässigkeitsschuld gesondert zu prüfen. Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zieht eine Schuld-und Strafherbsetzung automatisch nach sich. Es kommt an dieser Stelle überhaupt nicht darauf an, ob dieses fehlende Unrechtsbewußtsein "gerechtfertigt" oder nicht "gerechtfertigt" ist. Betrachten wir zunächst den ersten 161
Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, 1947, S. 242.
V. Auslegung der Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 pStGB
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Unterfall, in dem das Gesetz eine fahrlässige Begehung nicht unter Strafe stellt. Der Täter beleibt dann straflos. Da er jedoch kein Unrechtsbewußtsein hatte, ist Raum für die Anwendung des Art. 20 § 2 eröffnet. Diese Vorschrift bringt folgenden Gedanken zum Ausdruck: Das Gericht kann die Strafe außerordentlich mildem, wenn das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt" war. Das heißt: War das fehlende Unrechtsbewußtsein nicht "gerechtfertigt", muß der Täter aus dem vollen Strafrahmen bestraft werden. Die Wertung, die dem Art. 20 § 2 zugrunde liegt, besagt: Fehlt das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und ist sein Fehlen nicht "gerechtfertigt", so kann das die Strafzumessung nicht beeinflussen. Der Fall ist einfach unbeachtlich. Anders wertet diesen Unterfall dagegen Art. 14 § 1. Schon beim fehlenden "ungerechtfertigten" Unrechtsbewußtsein läßt er den Schuldgehalt und den Strafrahmen sinken. Da es keinen Fahrlässigkeitstatbestand gibt, sinkt der Strafrahmen auf Null; nach Art. 20 § 2 soll er dagegen aufrechterhalten bleiben. Daraus folgt die erste Antinomie. Wäre jedoch in unserem Unterfall das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt", so könnte nach Art. 20 § 2 die Strafe unter Umständen gemildert werden. Dadurch wäre zwar die Diskrepanz zwischen den Rechtsfolgen des Art. 14 § 1 und denen des Art. 20 § 2 etwas geringer, die Widersprüchlichkeit in der Wertung bleibt jedoch auch hier bestehen. Nur wenig anders sieht dagegen die Rechtslage im zweiten Unterfall aus, wenn nämlich das Gesetz einen Fahrlässigkeitstatbestand vorgesehen hat. Beim "ungerechtfertigten" Fehlen des Unrechtsbewußtseins wird der Täter dann nicht aus dem Vorsatz-, sondern aus dem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft. Art. 20 § 2 meint das Gegenteil, d. h. sogar die Strafmilderung wird verneint. Nur beim "gerechtfertigten" Fehlen des Unrechtsbewußtseins nähern sich Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 in ihren Rechtsfolgen etwas an. Dadurch wird jedoch die Antinomie zwischen den beiden Vorschriften nicht aufgehoben. Wenden wir uns nun dem zweiten Fall zu, daß der Täter das Unrechtsbewußtsein, aber kein Strafbarkeitsbewußtsein hat, weil er irrig an das Vorliegen eines Schuld- oder Strafbarkeitsausschließungsgrundes denkt. Die Wertung, die dem Art. 14 § 1 zugrunde liegt, ist hier klar und eindeutig: Eine vorsätzliche Straftat kann nur dann gegeben sein, wenn der Täter sie, d. h. die (vorsätzliche) Straftat begehen will. In allen Erörterungen des Verhältnisses des Art. 14 § 1 zu Art. 20 § 2 wurde im polnischen Schrifttum vergessen, daß das Prädikat "vorsätzlich" vor dem Begriff der Straftat i. S. des Art. 14 § 1 steht. Auch, wenn man mit der Judikatur, den Begriff der Straftat nur auf die objektive Tatseite beschränkt, so ergibt sich aus Art. 14 § 1, daß der Täter seinen Vorsatz auf sich selbst beziehen muß. Art. 14 § 1 geht darüber hinaus, indem er verlangt, daß der Täter auch das Fehlen von etwaigen Strafbarkeitsausschlie-
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
ßungsgründen bedenken muß. Betrachtet man Art. 14 § 1 isoliert für sich, so würde das polnische Strafgesetzbuch sogar der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Vorschub leisten, da es fordert, daß der Täter jedesmal an das Fehlen von Rechtfertigungsgründen bei der Tatbegehung denken muß, um im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit handeln zu können. Eigentlich müßte man Makarewicz, Plawski und allen anderen recht geben, die das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz rechneten. Das folgt direkt aus Art. 14 § 1. Der Fehler, den diese Autoren machen, besteht erstens darin, den Begriff der "Strafbarkeit" in dieser Gesetzesvorschrift nicht dogmatisch aufzuschließen. Warum traute sich niemand, diesen Schritt zu tun? Vielleicht geschah das aus Angst vor den Folgen einer solchen Auslegung? Muß der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung jedes Verbrechensmerkmal wirklich kennen, so käme im Ergebnis niemals ein Vorsatz zustande. Der zweite Fehler beruht darauf, das in Art. 14 § I Gesagte nicht auf Art. 20 zu beziehen. Erst aus der Zusammenstellung der beiden Vorschriften könnte die Widersprüchlichkeit, von der Wolter so oft sprach, teilweise oder vielleicht gänzlich behoben werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Fassung des Art. 20 § 2 nicht ganz geglückt war. Ist das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit "gerechtfertigt" und gemäß dieser Regelung die Schuld doch nicht gänzlich aufgehoben, so stellte sich die Frage, worin eigentlich dieser restliche Schuldgehalt bestehen soll. Viele Autoren jener Zeit sind der Auffassung, daß diese Regelung mit der subjektiven Grundrichtung des Gesetzes im Widerspruch steht. 162 Vielleicht ist das auf die formelle Auffassung der Rechtswidrigkeit zurückzuführen. Art. 20 § 2 bringt zumindest eins deutlich zum Ausdruck, daß das polnische Strafgesetzbuch von 1932 an dem Grundsatz "iuris ignorantia nocet" festhielt. 163 Die Unkenntnis der Rechtswidrigkeit soll schlechthin unbeachtlich bleiben, von der Strafmilderung bei greifbaren Anhaltspunkten für den Irrtum ("gerechtfertigt") abgesehen. Die Antinomie zwischen den beiden Vorschriften kann nur "dialektisch"l64 aufgelöst werden. Der erste und einzige, der kurz davor steht, ist Wolter in sei162 Statt vieler Busch, Kritische Bemerkungen zum polnischen Strafgesetzbuch, S.631. 163 So im Ergebnis auch Sqsiadek, Ignorantia iuris in Art. 20 § 2 pStGB ("Ignorantia iuris z Art. 20 § 2 ") in: WPP 1938, S. 385. 164 Die "dialektische" Vorgehensweise besteht hier darin, daß man die einschlägigen Gesetzesvorschriften nicht in ihrer Schwäche zu treffen versucht, sondern sie erst durch ein immanentes Befragen und Aufeinanderbeziehen zu ihrer wahren Stärke bringt. Die Auslegung von Rechtsnormen im Sinne einer "dialektischen" Interpretationsmöglichkeit ist dem Rechtsdenken nicht so ganz fremd. So spricht Larenz von ,,Auslegung und Anwendung der Normen als dialektischem Prozeß" (Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin 1983, S. 92). Unter "Dialektik" versteht er dabei eine solche Auslegung, die neben bereits vorhandener auch neue Auslegungen zuläßt, durch die der Inhalt der Normen weiter konkretisiert, präzisiert und abgewandelt wird (a.a.O., S. 95).
VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit
lO3
nem Aufsatz: "Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit" . Dort soll das Unrechtsbewußtsein einmal zum Vorsatz gehören und später doch wieder nicht. Wie bereits erwähnt, schloß sich Wolter, aus kriminalpolitischen und systematischen Gründen, der Auffassung des Obersten Gerichts an. Um Art. 14 § 1 und Art. 20 § 2 aufeinander abzustimmen, wäre die erste Voraussetzung, das in Art. 14 § 1 Gesagte nicht als etwas absolut Gesetztes zu betrachten, sondern im Verhältnis zu Art. 20 zu relativieren. Das Gesetz geht in Art. 14 § 1 grundsätzlich davon aus, daß der Täter zum Zeitpunkt der Tatbegehung das Bewußtsein der Strafb.arkeit mit allen dazu gehörenden Konsequenzen haben muß. Diese Forderung wird zugleich in ihrer Gültigkeit und in ihrem Umfang durch den Art. 20 § 1 und § 2 eingeschränkt. Art. 20 § 1 besagt, daß nur der Irrtum über die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, rechtlich relevant sein soll. Art. 20 § 2 stellt dagegen klar, daß der Irrtum über die Rechtswidrigkeit unbeachtlich ist. Eigentlich ist es gleichgültig, ob der Täter bei der Tatbegehung an das Unrechtmäßige seines Tuns denkt; das hat lediglich deklaratorische Bedeutung. Dasselbe betrifft den Fall, in dem der Täter zwar das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit hat, aber im konkreten Fall an das Eingreifen eines Schuld- oder Strafbarkeitsausschließungsgrundes denkt. Unter dem Gesichtspunkt der Irrtumsrelevanz wird diesem mangelnden Strafbarkeitsbewußtsein keine Beachtlichkeit zugesprochen. Art. 20 § 2 wirkt sich daher als ein Korrektiv des in Art. 14 § 1 Gesagten aus. Man kann deswegen nicht apodiktisch meinen, das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit sei oder sei nicht ein Bestandteil des Vorsatzes. Beide Auffassungen sind richtig zugleich und reziprok aufeinander angewiesen. In eine Aporie gerät man erst dann, wenn man sich für eine von ihnen entscheidet. 165
VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit 1. Das Verhältnis der Rechtswidrigkeit zum Tatbestand Im Schrifttum der 30er Jahre wird nach wie vor an dem Begriff der objektiven Rechtswidrigkeit festgehalten. 166 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Der erste, der ihr nachgeht, ist Wolter. Er unterscheidet zunächst zwischen der formellen
165
Angesichts dieser Ungereimtheit bei der Formulierung des Art. 14 § 1 und des
Art. 20 § 2 müßte Wolter und dem Obersten Polnischen Gericht aus Praktikablitätsgrün-
den recht gegeben wereden, die das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht zum Vorsatz rechnen wollen. 166 So u. a. Glaser/Mogilnicki, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 1; Wolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, S. 77; Makowski, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 26; Sliwinski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 141 und 142.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
und der materiellen Rechtswidrigkeit. Unter formeller Rechtswidrigkeit versteht er den Widerspruch zu einer Gesetzesvorschrift. 167 Die materielle Rechtswidrigkeit setzt eine Rechtsgutsverletzung voraus. 168 Eine Tat sei daher im materiellen Sinne rechtswidrig, wenn sie sich über eine strafrechtliche Vorschrift hinwegsetzt und das durch sie geschützte Objekt verletzt. 169 Die Gesamtheit der Merkmale, die das Spezifische eines Delikts ausmachen, nennt Wolter den gesetzlichen Tatbestand, der in Art. 20 § 1 angesprochen sei. Eine Tat sei nur dann formell rechtswidrig, wenn sie alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes erfüllt. Die Rechtswidrigkeit der Tat sei dabei ein Verbrechensmerkmal. 170 Damit dürfte der gesetzliche Tatbestand nach Wolter über das Merkmal der Rechtswidrigkeit der Tat vorentscheiden. Interessant ist dabei, wie Wolter den Gedanken, die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit fast auf die gleiche Stufe zu stellen, mit den Rechtfertigungsgründen vereinbaren will. Im Falle der Erlaubnissätze haben wir mit einer Ausnahme von der Regel zu tun. Zur Begründung führt er folgendes Beispiel an: Wenn die Tötung eines Menschen regelmäßig in Notwehr passieren würde, so hätte der Gesetzgeber nicht von Totschlag gesprochen. Wenn nun die Notwehr eine Ausnahme darstelle, so muß eo ipso eine Regel vorhanden sein und wenn diese Regel nicht in der materiellen Rechtswidrigkeit zu finden sei, dann müsse sie in einer Gesetzesnorm liegen. Wenn nur der deliktische Straftatbestand die Gesetzesvorschrift ausmache, so müsse dieser gesetzliche Tatbestand eine Regel darstellen, er sei auch die Grundlage der Rechtswidrigkeit. 171 Kurz gesagt: Von der Notwehr als einem gesetzlichen Merkmal, das die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließt, kann nur dort die Rede sein, wenn der gesetzliche Tatbestand negativer Wertung unterzogen wird. 172 Läuft diese Argumentation auf einen Widerspruch hinaus? Der gesetzliche Tatbestand soll über die Rechtswidrigkeit entscheiden und doch nicht entscheiden. Diese Unbestimmtheit resultiert eher daraus, daß Wolter den Schwerpunkt bei der Rechtswidrigkeit auf den gesetzlichen Tatbestand setzt und dabei übersieht, daß die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes über die Rechtswidrigkeit der Tat noch nicht abschließend entscheiden kann. Um hier einen Ausweg zu finden, sieht sich Wolter zu einer Ausnahme genötigt. Die objektive Rechtswidrigkeit verbinde sich zwar mit dem gesetzlichen Tatbestand, seine Verwirklichung bedeutet jedoch nicht, daß die Tat in objektiver Hinsicht rechtswidrig sei. Aber 167
Walter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, S. 79.
Ibid. 169 Ibid. 170 Ibid. 171 Ibid. I72 Ibid. 168
S. S. S. S. S.
81. 82. 85. 85. 86.
VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit
105
was hat es mit dem Begriff des gesetzlichen Tatbestandes bei Wolter auf sich? Dieser gesetzliche Tatbestand bilde die Grundlage der Rechtswidrigkeit. I73 Er umfasse alle Tatumstände, mit Ausnahme derjenigen, die nicht die Tat, sondern den Täter beschreiben. In erster Linie sind das das Tatobjekt, der Taterfolg, das Tatsubjekt, der Tatort, die Tatzeit, die Tat und ihre Begehungsweise. Schließlich geht Wolter auf den Fall des Tatbestandsirrtums ein und formuliert dabei folgenden bemerkenswerten Satz: Der Irrtum könne nicht nur den gesetzlichen Tatbestand betreffen, sondern auch die Umstände, die die objektive Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, d. h. ihren gesetzlichen Tatbestand. Dieser Satz bereitet dem Verständnis Schwierigkeiten. Als Aussage über die objektive Seite des Tatbestandes wäre er nur eine Wiederholung. Sollte es sich hier bereits um einen Hinweis auf den Irrtum über die objektiven Rechtferigungsvoraussetzungen handeln? Soll sich daraus etwa ergeben, daß auch die Rechtfertigungsgründe zum gesetzlichen Tatbestand gehören? Das will Wolter zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht, wie eine Bemerkung des Lehrbuches im Kapitel über die Rechtfertigungsgründe bestätigt: Die Rechtfertigungsgründe haben einen gesetzlichen Erlaubnistatbestand, der zusammen mit dem gesetzlichen Verbotstatbestand die objektive Rechtswidrigkeit neutralisiereY4 In diesem eher schwer zu verstehenden Satz ist auch von "ihrem" Tatbestand die Rede, d. h. dem Tatbestand der Rechtfertigungsgründe, den Wolter schon vorher als Erlaubnistatbestand bezeichnet hatte. Es ist daher unwahrscheinlich, daß er die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu dieser Zeit vertritt. Einen Gesamttatbestand im Sinne dieser Lehre bildet er jedenfalls nicht. Ein dogmatisch besonders wichtiges Ergebnis Wolters in jener Zeit ist die Zurückdrängung des formellen, auf die Normwidrigkeit der Rechtsverletzung abstellenden zugunsten eines materiellen, am Rechtsgut orientierten Rechtswidrigkeitsbegriffs.
2. Die subjektiven Rechtfertigungselemente Es wurde bereits gesagt, daß die Rechtswidrigkeit in den 30er Jahren noch formell-objektiv verstanden wird. Trotzdem gibt es immer wieder Versuche, die Frage nach der Berechtigung von subjektiven Rechtfertigungsgründen und der Kenntnis der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen zu stellen. Der erste, der sie in der polnischen Lehre aufwirft, ist Wolter. Ihm zufolge verbindet sich die objektive Rechtswidrigkeit nicht nur mit objektiven Umständen. Es können dabei auch subjektive und normative Momente auftreten. Das Vorliegen oder Nichtvorliegen der objektiven Rechtswidrigkeit kann davon ab173
Ibid. S. 86. S. 124f.
1741bid.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
hängen, ob ein subjektives Moment gegeben oder nicht gegeben ist. Wolter setzt sich mit der in der deutschen Doktrin damals sehr umstrittenen Frage des Verteidigungswillens bei der Notwehr auseinander. 175 Er will das Notwehrrecht jedoch auf die objektiven Notwehrvoraussetzungen beschränken. Trotzdem gelangt er für den Fall, daß kein Verteidigungswille vorliegt und die objektiven Notwehrvoraussetzungen gegeben sind, zu dem zunächst überraschenden Ergebnis, daß der Täter das Notwehrrecht für sich nicht in Anspruch nehmen kann. Dies begründet er allerdings aus einer ganz anderen Perspektive. Er ist der Auffassung, daß das Prinzip des Subjektivismus 176, das dem polnischen Strafgesetzbuch von 1932 zugrunde liegt, das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements nicht unberücksichtigt lassen kann. In diesem Fall wäre daher die objektive Rechtswidrigkeit durch das Vorliegen der objektiven Notwehrlage nicht aufgehoben. Das steht jedoch im Widerspruch zu seiner früheren Aus17S Ibid. S. 127; die Frage, ob im Rahmen der Rechtfertigungsgründe das subjektive Rechtfertigungselement erforderlich ist, wurde damals in der deutschen Strafrechtlehre unterschiedlich beurteilt. Wolter beruft sich u. a. auf die Auffassungen von Mezger und Hegler. So erklärt Mezger: ,,Der Begriff der Verteidigung ist unabhängig von "subjektiven Elementen", das Vorliegen einer Verteidigung beurteilt sich nach der äußeren Lage, nicht nach der inneren Stellung des Handelnden. Weder gehört zur Verteidigung die Kenntnis vom Angriff noch das Vorliegen einer Verteidigungsabsicht" (vgl. Mezger, Ein Lehrbuch, 2. Aufl., München und Leipzig 1933, S.235f.). Diese Auffassung gibt Mezger allerdings später auf (vgl. Mezger, Deutsches Strafrecht, ein Grundriß, 2. Aufl., Berlin 1941). Dort heißt es: "Sie [die Verteidigung] muß von einem Verteidigungswillen als subjektivem Rechtfertigungselement getragen sein (a.a.O., S. 74). Hegler eröffnet zu dieser Zeit die Diskussion über die subjektiven Rechtswidrigkeitsmerkmale, die die Rechtswidrigkeit begründen oder steigern (vgl. Hegler, Subjektive Rechtswidrigkeitsmomente im Rahmen des allgemeinen Verbrechensaufbaus in: Festgabe für Frank, Bd. I, Tübingen 1930, S. 306ff.). 176 Vgl. zum Grundsatz des Subjektivismus auch Wolter, Strafgesetzbuch von 1932 ("Kodeks karny z 1932"), Krak6w, S. 5. Das neue Strafgesetzbuch spiegelte das Prinzip des Subjektivismus wider, indem es u.a. der Persönlichkeit des Täters besondere Aufmerksamkeit widmete, und es ennöglichte, durch die sogenannte Zweispurigkeit der strafrechtlichen Sanktionen die schuldangemessene Strafe durch die Sicherungsmaßregeln, die der Gefahrlichkeit des Täters entsprachen, zu ergänzen. Den Ausgangspunkt der starfrechtlichen Verantwortung stellt nach diesem Gesetz die verschuldete Begehung einer Tat dar, die zur Tatzeit durch ein geltendes Gesetz unter Strafe gestellt war. Als Folge der strafrechtlichen Verantwortung war eine der Tat angemessene Strafe vorgesehen, wobei bei der Bewertung der Straftat der Schwerpunkt auf der subjektiven Seite lag. Für die Verwirklichung der Forderungen des Subjektivismus sah das Gesetz ein ausgebautes System von Maßregeln der Sicherung vor; diese waren teilweise medizinischer, teilweise auch nichtmedizinischer Art. So konnten mehrfache Rückfalltäter, Berufstäter und Gewohnheitstäter nach Verbüßung ihrer Strafe flir die Zeit von mindestens fünf Jahren in einer "Anstalt für Unverbesserliche" untergbracht werden, wobei die Unterbringung noch um weitere Zeiträume von je fünf Jahren verlängert werden konnte. Darüber hinaus räumte das neue Strafgesetzbuch dem Täterverhalten als einem Willensakt eine zentrale Bedeutung für die Strafbarkeit ein, was in den Vorschriften über den Versuch (Art. 23) und die Teilnahme (Art. 29) besonders zum Ausdruck kam. Damit wurde zugleich dem Erfolgseintritt eine selbständige Bedeutung für die Strafbarkeitsbegründung abgesprochen.
VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit
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sage, daß nämlich die Frage nach der Rechtswidrigkeit einer Tat sich nur an der objektiven Rechtslage orientiere. Diese Unstimmigkeit kann ihm jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, da zu diesem Zeitpunkt die Frage der rechtlichen Einordnung von subjektiven Rechtfertigungselementen im Verbrechensaufbau noch nicht endgültig beantwortet war und große Schwierigkeiten bereitete. Aber Wolter ist nicht der einzige, der das Problem der subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen erörtert. Auch Cypin befaßt sich mit dieser Frage. Ihm zufolge muß der im Notstand handelnde Täter das Bewußtsein haben, daß er sich in einer kritischen Lage befindet und die Gefahr abwenden will. Cypin fordert, daß der Notstandstäter in Kenntnis der objektiven Notstandsvoraussetzungen handelt. Wenn nun jemand eine Sache zerstöre, ohne zu wissen, daß von ihr eine Gefahr für eine andere Person ausgeht, könne er sich in diesem Fall nicht auf Notstand berufen. Er muß sich für die Tat voll verantworten. 177 Sliwinski fragt, ob die Notwehr nur dann besteht, wenn der Täter mit dem Willen handelt, einen Angriff abzuwehren oder ob es ausreichend ist, daß die objektiven Notwehrvoraussetzungen gegeben sind. 178 Ihm zufolge kann sich nur derjenige "verteidigen", der im Bewußtsein handelt, einen Angriff abzuwehren. Bessere Grunde sprechen also dafür, die Ausübung der Notwehr vom Rechtfertigungsbewußtsein und vom Rechtfertigungswillen abhängig zu machen. 179 Aus damaliger Sicht lag freiwillig der Einwand nahe: Seien die objektiven Notwehrvoraussetzungen gegeben, so müßte folgerichtig die objektive Rechtswidrigkeit verneint werden. Auf das Vorliegen der subjektiven Rechtfertigungselemente käme es nicht an. Dies entspricht jedenfalls dem damaligen Verbrechensbegriff. Nun überlegt in diesem Zusammenhang Sliwinski, ob nicht sogar die objektive Rechtswidrigkeit der Tat von subjektiven Momenten (das Fehlen von Rechtfertigungsbewußtsein und Verteidigungswille) abhängen soll. Er neigt demnach dazu, das Vorliegen von subjektiven Elementen zur Voraussetzung der objektiven Rechtswidrigkeit zu machen. 180
177 Cypin, Der Notstand im Strafrecht ("Stany wyi:szej koniecznosci w Prawie Karnym"), Warszawa 1932, S. 100; so wie er auch GoczalkowskilWqsowski, Notstandsfälle im polnischen Strafgesetzbuch ("Stan koniecznosci w polskim prawie kamym") in: WPP 1934, S. 15. 178 Sliwiizski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 157. 179 Ibid. S. 157. 180 Ibid. S. 157 und 142; auch das Oberste Polnische Gericht hat in einigen seiner Entscheidungen das Vorliegen von subjektiven Rechtfertigungselementen gefordert. Im dem Urteil vom 10. 12. 1930 heißt es: "Die Notwehr könne nur dann gegeben sein, wenn der wirkliche und nicht vermeintliche Angriff noch fortdauert und wenn der Angegriffene handelt, um diesen Angriff abzuwehren. Andere Beweggrunde seien dagegen unbeachtlich (Zb. O. S. N. 1931, Nr. 216, S. 491). Dies bestätigen auch zwei Entschei-
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Aber diese durchaus kritische Wendung in der polnischen Rechtslehre ist noch zu sehr auf die Begriffe des klassischen Verbrechensbegriffs angewiesen, dessen Statik sich erst dynamisch verwandeln muß, um den Bruch mit der bisherigen Verbrechensstruktur und der Dichotomie zwischen der subjektiven und objektiven Tatseite voranzutreiben. Trotz der Entdeckung von subjektiven und objektiven Merkmalen wird nach wie vor an dem überlieferten Verbrechensaufbau festgehalten. An seine Berichtigung kann zu dieser Zeit noch nicht gedacht werden. Denn die dogmatische Lokalisierung subjektiver Rechtfertigungselemente im Unrecht führt notwendig zur Einbeziehung des Vorsatzes in den Unrechtsbegriff und damit zum Umdenken in den Grundlagen der strafrechtlichen Dogmatik.
3. Zu der Lehre von den Konträrtypen In seinem im Jahre 1947 181 veröffentlichten Lehrbuch entwickelt Wolter zum ersten Mal die "Lehre von den Konträrtypen", die für die polnische Strafrechtslehre der Nachkriegszeit von großer Bedeutung iSt. 182 In diesem Lehrbuch faßt Wolter den gesetzlichen Tatbestand noch rein objektiv auf. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind aus ihm ausgeklammert. Dieser im Gesetz nach abstrakten Merkmalen umschriebene Tatbestand steht nach Wolter zu der Rechtswidrigkeit in einem nicht leicht zu fassenden Verhältnis. Als die Konkretisierung der abstrakten materiellen Rechtswidrigkeit stelle er zugleich einen Typus dieser materiellen Rechtswidrigkeit dar. Anders ausgedrückt sind Totschlag, Diebstahl oder Bestechung im Amt Typen, die ein sozialschädliches Verhalten umschreiben. Die materielle Rechtswidrigkeit hat einen außergesetzlichen Charakter, sie umfaßt alles, was sozial schädlich ist. 183 Deswegen bedarf sie der Einbindung in die formelle gesetzliche Rechtswidrigkeit,l84 die den Widerspruch der Tat zu einer strafrechtlichen Gesetzesnorm ausdrückt. 185Die Festsetzung von gesetzlichen Typen besteht darin, sie einerseits möglichst genau zu bestimmen und andererseits die Notwendigkeit ihrer Korrektur zu beschränken. Je unbestimmter ein Typus sei, desto mehr werde er die
dungen aus dem Jahre 1937 nach dem Inkrafttreten des neuen polnischen Strafgesetzbuches von 1932 (vgl. GS 1938, Heft 4). 181 Vgl. Kap. E, Fn. 36. 182 Bei der Lehre von den Konträrtypen dürfte Wolter stark unter dem Einfluß von Sauer gestanden haben (Sauer, Grundlagen des Strafrechts, BerlinlLeipzig 1921, S. 293ff.), auf den er sich immer wieder beruft. Die Verwendung des Typusbegriffs für die RechtfertigungsgrUnde ist jedoch originale Leistung von Wolter. 183 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 124. 184 Ibid. S. 130. 185 Ibid. S. 123.
VI. Rechtfertigungsgründe und die Frage der Rechtswidrigkeit
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"Konträrtypen" mißachten, zu denen gewisse rechtswidrigkeitsausschließende Umstände (wie die Notwehr) zählen. 186 Nach Wolter werden daher die Rechtfertigungsgründe als Konträrtypen den Deliktstatbeständen des Besonderen Teils gegenüber gestellt. Die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, korrigieren zugleich die in den strafrechtlichen Gesetzesnormen involvierte Rechtswidrigkeit. 187 Diese Umstände werden typisiert und bilden im Verhältnis zu den Deliktstypen die "Konträrtypen". Solche Konträrtypen haben auch ihren besonderen Tatbestand, der sich aus deskriptiven Merkmalen (z. B. bei der Notwehr sei das der "unmittelbar drohende Angriff') und normativen Merkmalen ("Rechtswidrigkeit des Angriffs") zusammensetzen. 188 Damit weisen sie nach Wolter eine ähnliche Struktur auf wie die Deliktstatbestände. So weit Wolter zu der Lehre von der Konträrtypen. Faßt man sie zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Die Lehre von den Konträrtypen setzt voraus, daß der Tatbestand diejenigen Merkmale urnfaßt, die die jeweilige Verbrechensart als solche kennzeichnen. Wolter spricht hier von Typen verbrecherischen Verhaltens, die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches aufgestellt sind. Diese Tatbestände sind somit Träger des typischen Rechtswidrigkeitsgehalts der jeweiligen VerbrechensArt. Sie geben darüber Auskunft, was die konkrete Tat zum Totschlag, zum Diebstahl oder zur Bestechung usw. macht. Diese Deliktstatbestände enthalten jedoch nicht die Gründe, die im Einzelfall die Tat als nicht rechtswidrig (Rechtfertigungsgründe) erscheinen lassen. Wolter bringt deutlich zum Ausdruck, daß die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen, wie z. B. die Notwehr, nicht als negative Tatbestandsmerkmale zum gesetzlichen Tatbestand gehören. 189 Einem als Unrechtstypus verstandenen Gesetzestatbestand des Besonderen Teils stehen die Rechtfertigungsgründe als Konträrtypen gegenüber. Nicht ganz eindeutig ist, wie sich Wolter den Wertungsvorgang denkt, wenn ein Deliktstypus und Erlaubnistypus aufeinandertreffen. Soll das bedeuten, daß der konträre Charakter eines Rechtfertigungsgrundes auch die dem Tatbestand zugrunde liegende materielle Wertung aufhebt? Oder soll vielleicht ein konkretes Verhalten, das sich als Tatbestandsverwirklichung und damit als "Verbrechen" darstellt, unter dem Blickwinkel eines Konträrtypus lediglich negativ ausgeglichen werden? Das bedarf noch der Klärung. l90
1861bid. S. 130. 187 Ibid. S. 184. 1881bid. S. 190. 189 Ibid. S. 133. 190 Vgl. unten Kap. G.III.l.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe 1. Zur Rechtsnatur der Notwehr- und Notstandshandlung a) Die Notwehrhandlung Art. 21 § 1, der die Notwehr regelt, hat folgenden Wortlaut: "Keine Straftat begeht, wer in Notwehr handelt, indem er einen unmittelbar drohenden und rechtswidrigen Angriff auf ein eigenes oder fremdes Gut abwehrt". In Art. 22 § 1 über den Notstand heißt es dagegen: "Nicht strafbar macht sich, wer eine gegenwärtige Gefahr für ein eigenes oder fremdes Gut abwendet, wenn das erforderlich war".
Auffallend ist, daß die beiden Vorschriften die Rechtsfolgen verschieden beschreiben. In Art. 21 § 1 ist von "begeht keine Straftat" die Rede, Art. 22 § 1 spricht dagegen von "macht sich nicht strafbar". In der polnischen Rechtslehre und Judikatur dieser Zeit ist man sich weitgehend darüber einig, daß die Notwehr im Gesetz als Rechtfertigungsgrund ausgestaltet ist. Die Formulierung "begeht keine Straftat" ist jedoch ziemlich mehrdeutig. Walfisz ist z. B. der Auffassung, daß dieser Satz eigentlich nichts über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der in Notwehr begangenen Tat besagt. Aufgrund des Art. 21 wissen wir nur, daß die in Notwehr begangene Tat keine Straftat darstellt. 191 Der Täter bleibe daher straflos. Der Gesetzesvorschrift lasse sich jedoch nicht direkt entnehmen, ob die Tat rechtmäßig sei. Nach Walfisz sollte der Gesetzgeber in diesem Fall besser die Formulierung "es handelt nicht rechtswidrig" verwenden. 192 Auch Goczalkowski und W~owski meinen, daß die Rechtmäßigkeit der Notwehr aus ihrer gesetzlichen Regelung nicht ableitbar ist. 193 Trotz dieser kritischen Stimmen wird an der Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung einhellig festgehalten. l94 Strittig ist vielmehr die Frage nach der Rechtsnatur der Notstandstat.
191 In einer Entscheidung aus dem Jahre 1934 formuliert das Oberste Polnische Gericht in diesem Sinne: "Die Notwehr [Art. 21 § 1 pStGB] ist nach dem Strafgesetzbuch ein Umstand, der die Strafbarkeit der Tat ausschließt" (Hervorhebung vom Verfasser). Vgl. Zb. O. S. N. 1935, Nr. 296, S. 483. So auch später im Urteil vom 24. 01. 135, vgl. Zb. O. S. N. 1935, Nr. 359, S. 596. 192 Waljisz, Enzyklopädie des Strafrechts, S. 22. 193 GoczalkowskilWqsowski, Die Notstandsfalle im polnischem Strafrecht ("Stany koniecznosci w polskim prawie karnym") in: WPP 1934, S. 21. 194 So u. a. Sliwifzski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 149; Waljisz, Enzyklopädie, S. 108; Wolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, S. 127f.; gemäß der amtlichen Begründung sollte das Handeln in Notwehr als rechtmäßig gewertet werden, vgl. oben S. 67.
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
111
b) Die Notstandshandlung
aal Meinungsstand in der polnischen Lehre Im polnischen Schrifttum besteht bereits ein breites Spektrum hinsichtlich der rechtlichen Qualifizierung der Notstandshandlung. Makarewicz läßt die Frage, wie Art. 22 zu verstehen sei,195 in seiner Kommentierung offen. Die in der Formulierung "es macht sich nicht strafbar" enthaltene Negation könnte dreierlei bedeuten. Sie könnte erstens so verstanden werden, daß der Täter straflos bleibt, weil die Notstandstat rechtmäßig, zweitens rechtswidrig, aber nicht schuldhaft, und schließlich drittens rechtswidrig und schuldhaft, aber nicht strafbar ist. Dieser letzte Fall soll nach Walfisz dann eintreten, wenn der Notstandstäter begnadigt wird oder auf dem Wege der Amnestie die Strafe erlassen bekommt. 196 Für die erste Fallgruppe spricht sich Glaser aus. Er meint, die im Notstand begangene Tat sei rechtmäßig und nicht nur nicht strafbar, wenn die ganze Existenz des Menschen (Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit) bedroht ist. In anders gelagerten Fällen dagegen könne die Rechtmäßigkeit dann bejaht werden, wenn das geschützte Interesse höherrangig als das beeinträchtigte seL 197 Ähnlich argumentiert auch Walfisz. Die Notstandsfälle, in denen ein minderwertiges Gut zugunsten eines höherwertigen Gutes geopfert wird, bleiben rechtmäßig. Anders sehe es aus, wenn zwei gleichrangige Güter miteinander kollidieren. In diesem Fall soll die im Notstand begangene Tat zwar rechtswidrig, aber nicht strafbar sein. 198 Es ist jedoch nicht ganz klar, ob im letzten Fall die Schuld oder die Strafbarkeit verneint werden soll. In der ersten Auflage seines Lehrbuches stellt Wolter lediglich fest, daß die Notstandstat zwar rechtswidrig bleibt, aber nicht bestraft werde. Deshalb ist der Notstand nicht als klassischer Rechtfertigungsgrund im Gesetz ausgestaltet. Wolter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das polnische Strafgesetzbuch Notstandsfälle regele, bei deren Vorliegen die objektive Rechtswidrigkeit verneint werde. Das sind die Fälle einer medizinischen Indikation (Art. 233), Offenbarung eines Geheimnisses mit Rücksicht auf berechtigtes, öffentliches oder privates Interesse und der Fall der Wahrnehmung berechtigter Interessen (Art. 255 § 2).199 In der zweiten Auflage seines Buches faßt er den gesetzlichen Notstand insgesamt als Schuldausschließungsgrund auf. 2OO
Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 1938,5. Aufl., S. 115. Walfisz, Enzyklpädie des Strafrechts, S. 22. 197 Glaser, Einige Bemerkungen über die Rechtsgrundlage für ärztliche Tätigkeit ("Kilka uwag 0 podstawie prawnej dzialalnosci lekarskiej"), Lwow 1920, S. 7. 198 Walfisz, Enzyklopädie des Strafrechts, S. 24. 199 Wolter, Grundriß des strafrechtlichen Systems, S. 142; bereits früher vertrat Wolter die Auffassung, daß die Notstandshandlung entweder rechtmäßiges oder rechtwidri195
196
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
Peiper sieht dagegen in Art. 22 keinen Schuld-, sondern lediglich einen Strafausschließungsgrund. Das Handeln in Notstand ist für ihn rechtswidrig und schuldhaft, aber nicht stratbar. Das Fehlen der Stratbarkeit versucht er dadurch zu erklären, daß im Notstand niemand auf die Rettung eines ihm wertvollen Gutes verzichten würde, auch, wenn das Gesetz ein solches Handeln verböte. 201 Dies entspricht auch der Meinung der Verfasser des polnischen Strafgesetzbuches. In der amtlichen Begründung heißt es, der Notstand sei ein Rechtsinstitut, das im Gesetz als Strafausschließungsgrund ausgestaltet sei. 202
bb) Standpunkt der Rechtsprechung Im Urteil vom 22. Januar 1938 konstatiert das Oberste Gericht: "Die in Art. 17 § 1/°3 in Art. 22 pStGB verwendete Formulierung, es macht sich nicht stratbar, läßt die Schuld des Täters entfallen (... )". In der Begründung legt das Gericht dar, daß das polnische Strafgesetzbuch grundsätzlich den Schuldbegriff nicht erwähnt. Der Schuldbegriff tritt nur gelegentlich in eher allgemeiner Bedeutung in Art. 18 § 2 pStGB auf. 204 Im Falle des Art. 22 pStGB begeht der Täter eine mit Strafe bedrohte Tat in einer psychisch anormalen Lage. Das sei zugleich der Grund für den Ausschluß der Stratbarkeit. 205 Das Gericht vertritt dabei den Standpunkt, daß es sich im Falle des Art. 22 um einen Rechtswidrigkeitsausschließungsgrund handele. Es erklärt dies durch die Kollisionslage, in der die Rechtsordnung ihre an den einzelnen gerichteten Anforderungen nicht wie in einer normalen Lage stellen kann. Der Ausschluß der Rechtswidrigkeit habe daher zur Folge, daß die Tat des Notstandstäters keine Straftat darstelle ( ... ). Es sei selbstverständlich, daß eine solche Tat dem Täter nicht zugeges Tun sein kann, vgl. Wolter, Das Notrecht in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. XXII, Nr. 1, S. 72. 200 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 292; so auch SliwiIlski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 288. 201 Peiper. Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., 1936, S.87. Dawid legt Art. 22 wohl als Strafbarkeitsausschließungsgrund aus, vgl. Dawid, Das Fehlen der Strafbarkeit, des straflosen Verbrechens und der gerichtliche Straferlaß ("Brak przest~p nosci, bezkamosc przest~pstwa i s~dziowskie darowanie kary") in: es 1932, S. 284. Die Notstandshandlung bleibt nach Wroblewski rechtswidrig. Er sagt jedoch nicht, ob der Notstand die Schuld oder die Strafbarkeit ausschließt (vgl. Wroblewski, Bemerkungen zum Entwurf des polnischen Strafgesetzbuches ["Uwagi do projektu polskiego kodeksu kamego"] Wilno 1931, S. 7). 202 K.R.P. ,Bd. V, 1930, Heft 3, S. 33. 203 Art. 17 § 1 lautet: "Es macht sich nicht strafbar, wer infolge der Geistesschwäche oder eines anderen psychischen Unvermögens nicht in der Lage war, die Bedeutung seiner Tat zu erkennen oder sein Handeln zu steuern." 204 Zb. O. S. N. 1938, Nr. 56, S. 113. 205 Ibid. S. 116.
VII. Der Irrtum über die RechtfertigungsgrUnde
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rechnet werden kann, weder als Vorsatz- noch als Fahrlässigkeitsschuld. Wird daher in einer gerichtlichen Verhandlung festgestellt, daß die Voraussetzungen des Art. 22 § 1 pStGB vorliegen, so soll das Gericht in seinem Urteil die Unschuld des Angeklagten aussprechen. Materiell gesehen bleibt eine in Notstand begangene Tat rechtmäßig. 206 Das Oberste Gericht sah daher in Art. 22 § I einen gewöhnlichen Rechtfertigungsgrund, obwohl systematische Gründe (Vergleich mit Art. 21 § 1) dagegen sprechen. 207
2. Putativrechtfertigung a) Rechtslehre
aa) Die Auffassung von Makarewicz In seiner Kommentierung des Art. 20 § 1 rechnet Makarewicz zum Irrtum über die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, auch den Fall der Putativrechtfertigung. Jemand schießt auf einen Polizisten, der ihn festnehmen will; weil er ihn nicht als Polizeibeamten erkennt, glaubt er in Notwehr zu handeln. 208 Das kann auf den ersten Blick verwundern, weil gerade Makarewicz zu jenen Autoren gehört, die das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit für einen Bestandteil des Vorsatzes halten. Auch bei der Besprechung des Art. 21 § 1 kommt Makarewicz auf den Fall des Irrtums über die Notwehrvoraussetzungen zu sprechen. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Obersten Gerichts will er den Fall des Irrtums über die Notwehrvoraussetzungen im Rahmen des Art. 20 § 1 beurteilen. 209 Art. 20 § 1 bestimmt, daß keine Straftat begeht, wer sich im Irrtum über die Umstände befindet, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, es sei denn, daß der Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte. Daraus folgt, daß der Tatbestandsirrtum die Vorsatzschuld entfallen läßt und unter Umständen die Fahrlässigkeitsschuld zu begründen vermag. Da die in Putativnotwehr begangene Tat an und für sich objektiv rechtswidrig bleibt, kann das nur bedeuten, daß der Irrtum über Rechtfertigungsgründe im Ibid. S. 117. So auch bereits im Urteil vom 15.02.1934; Zb. O. S. N. 1934, Nr. 171, S. 301ff.; das Verhältnis zwischen Rechtfertigungsgrund und Entschuldigungsgrund wird auch in dieser zu Art. 22 § 1 ergangenen Entscheidung nicht ganz klar. So wie das Oberste Gericht auch NisensonlSiewierski, Strafgesetzbuch und Ordnungswidrigkeitengesetz, 6. Aufl., L6di 1947, S. 32. 208 Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 1935,4. Aufl., S. 81. 209 Ibid. S. 89. 206
207
8 Lewandowski
E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
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Rahmen des Art. 20 § 1 als Schuldproblem erörtert wird. Der Fall des Putativnotstandes wird allerdings von Makarewicz in seinem Kommentar nicht thematisiert.
bb) Die Auffassung von Glaser Ähnlich wie Makarewicz geht Glaser davon aus, daß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz gehört. 2lO Im Unterschied zu Makarewicz wird der Irrtum über Rechtfertigungsgrunde zunächst nicht im Zusammenhang mit Art. 20 § 1 diskutiert. Nach Glaser betrifft Art. 20 § 2 den Rechtsirrtum. Unter Rechtsirrtum versteht er den Irrtum über das Unrechtmäßige der Tat. Er kann seinen Grund in einem Tatsachenirrtum (z. B. der Fall der Putativnotwehr) oder in einem Rechtsirrtum (Rechtsirrtum sensu stricto) haben (z. B. die aufgrund der Unkenntnis des Gesetzes falsche Vorstellung, die Tat sei erlaubt).211 Wenn der Rechtsirrtum auf einer Tatsache beruht (z. B. Putativnotwehr), so haben wir es hier eigentlich mit zwei Irrtümern zu tun, nämlich mit einem Tatsachenirrtum, der gern. Art. 20 § 1 beurteilt werden muß und zum Vorsatzausschluß führt und zweitens mit einem Rechtsirrtum, der für die Beurteilung der Tat gleichgültig ist. 212 Wenn der Rechtsirrtum nur auf der Unkenntnis des Gesetzes beruht, so werde er nach Art. 20 § 2 gemäß der Regel "ignorantia iuris nocet" für unbeachtlich erklärt. Zu Art. 21 führen Glaser und Mogilnicki folgendes aus: Eine Putativnotwehr liege dann vor, wenn der Täter glaube, daß ihn jemand angreife, obwohl in Wirklichkeit kein Angriff vorliege. 213 Gebe es keinen Angriff, so gebe es auch keine Notwehr. Im Bewußtsein des Täters bestehe ein Zustand, der ihn zur Annahme der objektiven Notwehrvoraussetzungen berechtige. Es handele sich hier um einen Irrtum über eine Tatsache, der nach Art. 20 § 1 den Vorsatz ausschließe. 214 Glaser gehört zu den Pionieren der Entwicklung der Strukturen des Erlaubnistatbestandsirrtums. Seine Schlüsse gehen allerdings zu weit, wenn die tatsächliche Seite des Irrtums über Rechtfertigungsvoraussetzungen dem Art. 20 § 1 unterstellt werden soll. Richtig ist jedenfalls, daß er im Irrtum über Rechtfertigungsgrunde einen Doppelirrtum erkennt. Einmal geht es um den Irrtum über eine Tatsache als Rechtfertigungselement (primärer Irrtum), zweitens um die sich daran anschließende Bewertung der begangenen Tat, die einen Rechtsirrtum darstellt (sekundärer Irrtum).
210
Glaser/Mogilnicki, Strafgesetzbuch, Kommentar, 1934. S. 61. 102. 102. 112. 113.
211 Ibid. S. 212 Ibid. S. 213 Ibid. S. 214 Ibid. S.
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgrunde
115
Schon hier läßt sich ein vorläufiges Resümee bilden: Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe unterscheide sich vom Tatbestandsirrtum und dem Rechtsirrtum gerade in diesem Punkt. Er vereinigt sozusagen die zwei Irrtumsarten in sich und ist ein Irrtum sui generis, der nicht einfach mit dem Tatbestandsirrtum oder Rechtsirrtum gleichgesetzt werden kann. Die Struktur des Tatbestandsirrtums besteht darin, daß der Täter einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, es ist nun gleich, ob dieser Umstand tatsächlicher oder rechtlicher Art ist. Bei einem Irrtum dieser Art bewertet der Täter nie die Tat als ganze, weil er überhaupt nicht weiß, daß so etwas wie eine Tat vorliegt. Es kann sich höchstens um eine partielle Bewertung eines einzelnen Tatumstandes handeln. Anders ist es beim Rechtsirrtum. Hier hat der Täter die ganze Tat vor Augen; er muß sich jetzt nur fragen, ob das, was er tut, rechtlich erlaubt ist. Die Grundlage für sein Urteil ist ein konkreter Sachverhaltsausschnitt, über den er in voller Kenntnis ist. Tatbestands- und Rechtsirrtum stehen sich daher gegenüber. Dazwischen liegt der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, der weder Tatbestands- noch Rechtswidrigkeitsirrtum ist und trotzdem wesentliche Elemente beider Irrtumsarten in sich aufnimmt. Um diesem Irrtum gerecht zu werden, müßte man ihn zwischen den beiden genannten Irrtumsarten auflösen. Dächte man unter Vorwegnahme späterer Entwicklungen an eine Analogie, so könnte sie durchaus in beide Richtungen gezogen werden.
cc) Die Auffassung von W olter (1) Zum Irrtum über die Rechtfertigungsgründe im allgemeinen
Nach Wolter schließen die Konträrtypen die Rechtswidrigkeit und damit die Strafbarkeit der Tat aus, wenn der Täter in Kenntnis ihres Vorliegens, d. h. in Bezug auf einen Konträtypus vorsätzlich handelt. 215 Damit verlangt Wolter, daß der Täter jedes Rechtfertigungselement ähnlich wie bei Tatbestandsmerkmalen bewußt in seinen Willen aufnimmt. Da der Vorsatz zu dieser Zeit dem Schuldbereich zugerechnet wird, wird dadurch zum ersten Mal über den Vorsatz eine Verbindung zwischen Rechtfertigungsgründen und Schuld hergestellt. Nach Wolter sind die Fälle zu unterscheiden, daß der Täter einen Konträrtyp irrig annimmt (z. B. die Putativnotwehr) oder daß er in Unkenntnis eines wirklich vorliegenden Konträrtypus handelt (z. B. das Einverständnis des Verletzten). Im ersten Fall habe die irrige Annahme eines Konträrtypus zur Folge, daß der Täter wegen fahrlässiger Straftat zur Verantwortung gezogen werden kann. Im zweiten Fall ist ein umgekehrter Irrtum im Rahmen des untauglichen Versuchs zu erörtern. 216 Die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der 215 216
Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 190. Ibid. S. 191.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
Tat ausschließen, sind positiver Natur, d. h., sie korrigieren in einigen Fällen als zusätzliche Merkmale die sich aus dem gesetzlichen Tatbestand ergebende Rechtswidrigkeit. Unzutreffend erscheint Wolter die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu sein, die das Fehlen der einzelnen Rechtfertigungsgründe in die gesetzlichen Tatbestände einbaut (der Totschlag bedeute die vorsätzliche Tötung eines Menschen beim Fehlen der Notwehr, nicht in Vollstrekkung eines Todesurteils usw.). Diese Theorie erweise sich als nützlich, wenn es um die Erklärung des fehlenden Rechtswidrigkeitsbewußtseins gehe. Hat der Täter eine rechtfertigende Sachlage angenommen, so entfalle der Vorsatz , bei Existenz eines Fahrlässigkeitstatbestandes kommt eine fahrlässige Begehung in Betracht. Außerdem sei diese Theorie von Nutzen, wenn das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit von dem Bewußtsein der Tatbestandsmäßigkeit nicht unterschieden wird. Sehe man in den Rechtfertigungsgründen negative Tatbestandsmerkmale, so muß der Täter in Kenntnis des gesamten Tatbestandes (positiver und negativer Tatbestandsmerkmale) handeln, was wiederum für das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit spreche (der Täter sei sich dessen bewußt, daß er töte, daß keine Notwehrlage oder Vollstreckungslage wegen eines Todesurteils gegeben sind). In dieser Auseinandersetzung mit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen erkennt Wolter erstmals, daß das Unrechtsbewußtsein fehlen kann, wenn der Täter irrig an das Vorliegen eines Erlaubnissatzes glaubt, und nicht nur dann, wenn er sein Verhalten für erlaubt hält, weil ihm eine Verbots norm unbekannt ist. Er meint allerdings, daß dies eher ein schwacher Punkt der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen sei. Derjenige, der seinen Feind tötet, denkt überhaupt nicht daran, daß z. B. keine Notwehrvoraussetzungen vorliegen. Er hat von ihnen kein aktuelles Bewußtsein. Wenn bei einer vorsätzlichen Straftat die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale erforderlich sei, so müßten die negativen Tatbestandsmerkmale in dem Sinne eine Ausnahme bilden: In Bezug auf ihr Fehlen dürfe kein aktuelles Bewußtsein verlangt werden. 2I7 Im Falle des Irrtums über Rechtfertigungsgründe existiert nach W olter im Bewußtsein des Täters mehr als in Wirklichkeit. 218 Das irrig Vorgestellte würde sein Handeln dann rechtfertigen, wenn es als Konträrtyp wirklich existent wäre. Hierhin rechnet W olter den Fall der Putativnotwehr. Er unterscheidet zwei Unterfälle: Der Täter glaubt irrig, daß er angegriffen wurde, d. h. daß ein Angriff auf sein eigenes Gut vorliege. Der Irrtum betreffe hier das tatsächliche Rechtfertigungsmerkmal "Angriff', das zum Notwehrtatbestand gehöre. Möglich sei jedoch eine andere Situation, wo sich der Täter zwar nicht über den Angriff, sondern über das Rechtferti217 Wolter beruft sich an dieser Stelle auf die Arbeit von Zimmerl ,,zur Lehre vom Tatbestand", der einen solchen Standpunkt in der Tat vertreten hat. Auf diese Arbeit werde ich später bei der Erörterung der Lehre von den negativen Tatbesandsmerkmalen zurückkommen, vgl. Kap. F.II.1.b)ee) und Kap. F, Fn. 101. 218 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 235.
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
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gungselement ,,rechtswidrig" irre (z. B. jemand gehe irrig davon aus, einem bestimmten Organ stehe das Festnahmerecht nicht zu). Der Täter befindet sich hier im Irrtum nicht über ein deskriptives, sondern über ein wertbezogenes Merkmal. Spreche man von der Putativnotwehr, so denke man in erster Linie an den ersten Unterfall. Nach seiner Meinung nehmen auf diesen Fall auch die Entscheidungen des Obersten Gerichts Bezug, in denen zum Ausdruck gebracht wird, die Putativnotwehr könne die Straflosigkeit aufgrund der Vorschriften über den Irrtum nach sich ziehen.2\9 Kritisch beurteilt Wolter eine Lösung, daß dieser Irrtum den Vorsatz ausschließe und eine fahrlässige Begehung zur Folge haben könne. Wenn der in Putativnotwehr Handelnde hätte erkennen können, daß kein wirklicher Angriff vorliege, so solle er im Falle der Tötung seines vermeintlichen Angreifers wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden, obwohl er ihn vorsätzlich getötet hat. Nach Wolter ist das unhaltbar. Für ihn ist es unwiderruflich, daß der in Putativnotwehr handelnde Täter sein Opfer vorsätzlich und nicht fahrlässig tötet. Legt man ihm eine fahrlässige Straftat zur Last, so läuft das notwendigerweise auf eine Fiktion hinaus. Der Täter töte sein Opfer vorsätzlich, ihm sei nur nicht bewußt, daß er rechtswidrig handele. Damit bringt Wolter zum ersten Mal die Bewußtseinslage eines in Putativnotwehr agierenden Täters auf den Punkt: Der Täter weiß ohne Zweifel nicht, daß er rechtswidrig handelt, aber nicht deswegen, weil er nicht weiß, außerhalb des Notwehrrechts sei die Tötung eines Menschen nicht erlaubt (dies wäre ein Irrtum über die Rechtswidrigkeit), sondern deshalb, weil er an das Vorliegen eines Angriffs glaubt. 22o Diese Analyse ist folgerichtig. Der Täter irrt sich darüber, daß er angegriffen worden ist. Aufgrund dieses primären Irrtums unterliegt er jedoch einem zweiten (sekundären) Irrtum, indem er von der Rechtmäßigkeit seines Tuns überzeugt ist. Wolter verläßt diesen Argumentationsstrang aber wieder. Die Notwehr beseitigt nicht den Tatbestand einer Tötung, schließt aber ihre Rechtswidrigkeit aus. Die Tötung in Notwehr unterscheide sich von jeder anderen Tötung darin, daß im ersten Fall die Tat nicht rechtswidrig sei. W olter führt fort, eine falsche Vorstellung vom Vorliegen der Notwehr habe zur Folge, daß es sich bei der Tötung des Menschen um eine vorsätzliche Tötung, hinsichtlich des Fehlens der Notwehr dagegen um eine fahrlässige Tötung handeln müsse. Daraus müßte sich eigentlich ergeben, daß der in Putativnotwehr handelnde Täter zugleich einen vorsätzlichen und fahrlässigen Totschlag beginge, was wegen des exklusiven Charakters beider Formen der subjektiven Zurechnung nicht möglich ist. 219 Wolter ist völlig zuzustimmen. Alle veröffentlichten Entscheidungen des Obersten Gerichts von 1917 bis 1939 zum Fall der Putativnotwehr betreffen den Irrtum über das Vorliegen des "Angriffs". 220 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 236.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
Um diesen Widerspruch zu vermeiden, sieht sich Wolter zu einem Kunstgriff gezwungen: Weil die Fahrlässigkeit bezüglich jedes einzelnen Merkmals zur Folge hat, daß die ganze Tat als fahrlässig anzusehen ist, so müßte im Ergebnis das Ganze als fahrlässige Begehung gewertet werden. Der Täter werde daher wegen fahrlässiger Tötung nach Art. 230 § I bestraft. 221
(2) Exkurs: Die zeitliche Struktur der Rechtfertigung und die Umkehr des Verhältnisses von Wissen und Wollen bei Vorsatz und Rechtfertigungsbewußtsein. Einige kritische Anmerkungen zur These von Wolter
Die Fahrlässigkeitslösung von Wolter enthüllt zugleich die Fragwürdigkeit der ganzen Begründung. Zunächst ist problematisch, ob man Vorsatz und Fahrlässigkeit beim Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes auf den Erlaubnistatbestand einfach übertragen kann. W olter tut das, indem er behauptet, daß der Täter in Bezug auf jeden Konträrtyp vorsätzlich handeln muß. In der polnischen, aber auch in der deutschen Strafrechtslehre ist man sich darüber einig, daß der Irrtum entweder eine falsche Vorstellung (error) oder eine fehlende Vorstellung (ignorantia) bedeuten kann. 222 Geht man von der Prämisse aus, daß bei allen Rechtfertigungsgründen die Kenntnis ihrer objektiven Voraussetzungen gegeben sein muß, so folgt daraus, daß auch ein Irrtum auf dieser Verbrechensstufe möglich ist. Die Bezugsobjekte, die Gegenstand des Irrtums sind, stellen die einzelnen Rechtfertigungsmerkmale wie z. B. bei der Notwehr die Merkmale "Angriff' oder "Erforderlichkeit" dar. Kenntnis setzt immer ein Erkennen, ein Sichaneignen des Sinngehalts eines Sachverhalts voraus. Freilich ist hier das Erkennen nicht mit dem Ziel der Wahrheitsfindung, sondern mit dem sinnlich-intellektuellen Erfassen eines Zustandes verbunden. Die positive Kenntnis dieses Zustandes wird verlangt. Daraus ergibt sich wiederum, daß der Irrtum nur in der Form einer falschen Vorstellung, als "error", auftreten kann. Wer sich keine Vorstellung macht ("ignorantia"), der kann sich nicht im Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund befinden. Im Unterschied zu der Tatbestandsebene erfährt der Umfang des Irrtumsbegriffs auf der Rechtswidrigkeitsebene eine Einschränkung. 223 Darüber hinaus ist bezüglich der einzelnen objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen sowohl die Wissens- als Ibid., S. 237. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, Tübingen 1983, S. 27, mit weiteren Nachweisen. 223 Dieses Ergebnis spricht eindeutig gegen die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen; nimmt man an (wie es diese Lehre tut), daß sich der Vorsatz auch auf das Nichtvorliegen der Rechtfertigungsgründe erstrecken muß, so läßt man unbewußt die Irrtumsform "ignorantia" auch auf der Rechtswidrigkeitsebene zu, was ad absurdum führt. 221
222
VII. Der Irrtum über die RechtfertigungsgrUnde
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auch die Willenskomponente so verschieden ausgeprägt, daß sie der Vorsatzstruktur nicht adäquat ist, auch wenn sie sich ebenfalls aus voluntativen und kognitiven Momenten zusammensetzt. Dies vennag die folgende Betrachtung einer Deliktshandlung beim Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes (z. B. der Notwehr) zu veranschaulichen. Genau genommen entspricht die Prüfungsreihenfolge tatbestandsmäßiger Handlung vor der Notwehrlage nicht dem zeitlichen Ablauf der Begebenheiten. Die Notwehrlage und in ihr der rechtswidrige Angriff sind der erste Akt des Geschehens, auf den die tatbestandsmäßige Handlung, zugleich die erforderliche Abwehrreaktion, als zweiter Akt folgt. Der Täter vennag in Bezug auf die Notwehrlage keinen Willen zu bilden. Er ist außerstande, die Notwehrlage herbeizuführen, weil sie völlig unabhängig von ihm auftritt224 • Im Hinblick auf sie kann er lediglich das Bewußtsein ihres Vorliegens haben. 225 Etwas anders gilt dagegen für die erforderliche Notwehrhandlung. Sie wird von dem Täter ausgeführt und damit von ihm nicht nur gewußt, sondern auch gewollt. Die Notwehrhandlung und ihre einzelnen Momente nimmt der Täter nicht nur in sein Bewußtsein, sondern auch in seinen Willen auf. Nun gibt es auch bei der Tatbestandsverwirklichung Umstände, die der Täter nur hinnehmen und nicht wollen kann, wie z. B. das Vorhandensein des anderen Menschen als Adressaten einer Körperverletzung oder die Fremdheit einer Sache beim Diebstahl; erst die Zufügung der Wunde oder die Entwendung der Sache sind vom Willen abhängig. Dieser Veränderungswille, die Sache zu nehmen, jemanden zu verwunden, ist es aber erst, der überhaupt den Blick auf das fremde Recht an der Sache, auf das Gegenüberstehen des Anderen, lenkt. Der Wille löst die Erkenntnisgewinnung aus. Anders bei der Notwehr. Hier wird das Wissen aufgedrängt, ohne Einfluß von Interesse und Tendenz zur Veränderung. Die entstehende Handlung ist daher nur reaktiv auf die erlangte Erkenntnis hin. Überspitzt fonnuliert folgt bei der tatbestandsmäßigen Handlung das Erkennen dem Wollen, beim Rechtfertigungsverhalten das Wollen dem Erkennen. Nun sind erforderliche Verteidigungshandlung und Tatbestandshandlung dasselbe. Die Koinzidenz dreht das Verhältnis von Wissen und Wollen daher auch für die rechtmäßige Tatbestandshandlung insgesamt um; auch bei ihr folgt der Wille aus der Erkenntnis der Lage. Der Vorsatz und die subjektive Tatseite der Rechtfertigung sind hinsichtlich des intellektuellen Moments und voluntativen Moments gegensätzlich strukturiert. Übergeht man
Von der provozierten Notwehrlage sei hier abgesehen. Die Frage, ob der bloße Wahmehmungsakt vielleicht auch durch den Willensfaktor vermittelt ist, kann an dieser Stelle unerörtert bleiben. Auf jeden Fall unterscheidet er sich von der Apperzeption einer tatbestandsmäßigen Lage, die von dem voluntativen Moment gänzlich mitbestimmt wird. 224 225
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
das, so liegt der Vorwurf des Schematismus nahe. Dieser Einwendung ist die Lösung von Wolter ausgesetzt. 226
(3) Zum Irrtum über ein wertbezogenes und deskriptives Rechtfertigungselement Auch W olter will freilich sein Ergebnis, den Irrtum über die Rechtfertigungsvoraussetzungen im Rahmen des Art. 20 § 1 zu behandeln (Vorsatzausschluß und Fahrlässigkeitsprüfung), einschränken. Er neigt jedoch dazu, davon eine Ausnahme zu machen. Wenn der Täter irrig annimmt, der Angriff sei ,,rechtswidrig", dann betreffe sein Irrtum ein Rechtfertigungsmerkmal des Konträrtypus, dessen Erfassen eine rechtliche Wertung voraussetzt. 227 Nur dann, wenn der Täter die Bewertung des Umstandes kennt und ihn individuell als rechtswidrig einstuft (wenn er sich also von einer ihm bekannten allgemeinen Wertung distanziert), sei sein Irrtum unbeachtlich. Wenn dagegen der Täter eine generelle rechtliche Wertung nicht kenne, dann stehe sein Irrtum auf der gleichen Stufe mit jedem anderen Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal. 228Wolter überträgt dieses Ergebnis auf das Bewußtsein des Konträrtypus. Er prüft, ob der Täter in Bezug auf ein wertbezogenes oder, anders ausgedrückt, normatives Merkmal die rechtliche Wertung kennt, die sich auf sein Wissen von Tatumstand (Rechtfertigungsumstand) bezieht. Kennt er sie, so wird seiner individuellen Auslegung und Wertung keine rechtliche Relevanz beigemessen; kennt er sie dagegen nicht, so müßte nach W olter sein Irrtum beachtlich sein. Auf diese Weise wird jedoch ein Täter privilegiert, der sich über die Gesetzeslage und die ihr zugrunde liegende Wertung keine Gedanken macht. Aus kriminal-politischen Gründen ist diese Unterscheidung sehr bedenklich. In einem anderen Zusammenhang erörtert Wolter das an zwei Beispielen: Der erst Fall liegt dann vor, wenn sich der Täter über das Vorliegen des Angriffs irrt (er hält einen Scherz für einen wirklichen Angriff). Der zweite Fall ist gegeben, wenn dem Täter ein Irrtum über das Prädikat ,,rechtswidrig" unterläuft. Der erste Fall der Putativnotwehr betreffe den Irrtum über ein deskriptives Element ("gegenwärtig"), der zweite Fall dagegen den über ein wertbezogenes Element (,,rechtswidrig"). Art. 20 § 1 soll auf den ersten Irrtumsfall zur Anwendung kommen. Wenn ich Wolter richtig verstehe, bleibt es bei der
226 Erst recht trifft sie die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen; zu der Lehre vgl. unten Kap. F.II.l.c). 227 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 237. 228 Ibid. S. 237.
VII. Der Irrtum über die RechtfertigungsgrUnde
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Verantwortung des Täters im Falle des Irrtums über die Rechtswidrigkeit des Angriffs, wenn der Täter die allgemeine Bewertung des Merkmals "rechtswidrig" kennt und sein Urteil VOn ihr trotzdem abweicht. 229 Die Unterscheidung zwischen deskriptiven und wertbezogenen Merkmalen kommt bei Wolter bereits im Tatbestandsbereich vor. So lange deskriptive Tatbestandsmerkmale in Betracht kommen, bereitet Wolter der Irrtum über sie keine großen Schwierigkeiten. Komplizierter sieht es bei dem Irrtum über wertbezogene Merkmale aus. Es fragt sich, ob der Täter den Gesetzestatbestand verwirklicht, wenn er die Situation anders wertet. Dazu folgendes Beispiel: Ein Verleger gibt ein Buch heraus, dem pornographischer Inhalt vorgeworfen wird. Der Herausgeber hält jedoch den Inhalt des Buches nicht für Pornographie (Art. 214 § 1). Nach Wolter ist sein Irrtum irrelevant, wenn er die tatsächlichen Grundlagen kennt, auf die sich die Wertung stützen kann und wenn er weiß, daß nach dem Urteil eines objektiven Dritten das Buch als pornographisch angesehen würde. 23o Anders ausgedrückt ist die subjektive Wertung des Täters nicht maßgebend, es ist insbesondere unerheblich, wenn er die Wertung nach dem objektiven Dritturteil für unrichtig hält. 23I In diesem Sinne will Wolter auch bei anderen wertbezogenen Merkmalen vorgehen. 232 Auch bei ihnen ist es erforderlich, daß der Täter erstens die Tatsachen (Umstände) kennt, zweitens muß er auch das Urteil des objektiven Dritten kennen, mag er selbst auch anders werten. Kennt er dieses Urteil nicht, so handelt er ebensowenig vorsätzlich, wie wenn er die Tatsachen nicht kennt. Es ist in dieser Lehre problematisch, daß Wolter die beiden oben genannten Voraussetzungen kumulativ zusammendenkt. Eine Fehlvorstellung des Täters über einen konkreten Sachverhalt wäre schon dann beachtlich, wenn der Täter zwar alle Umstände kennt, wenn ihm aber das objektive Dritturteil unbekannt ist. Es wurde bereits gesagt, daß diese Auffassung aus kriminal-politischen Gründen nicht haltbar ist. 233 Es ist hinzuzufügen, daß Wolter einer der ersten polnischen Autoren ist, der den Fall der Putativrechtfertigung nicht nur für die Notwehr, sondern auch für andere Rechtfertigungsgründe durchdenkt. 234
Vgl. dazu unten Kap. F.ll.l.b)bb) und Kap. F, Fn. 78. Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 233f. 231 Ibid. S. 234. 232 Ibid. S. 234. 233 Vgl. dazu Kap. E.VII.2.a)cc)(3). 234 Wolter, Strafrecht. Grundriß einer systematischen Darstellung, S. 237, 238.
229
230
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939 dd) Die Auffassung von Berger und Sliwinski
(J)
Berger
In einem seiner ersten Aufsätze will Berger die Vorsatzschuld nach § 1 Art. 20 verneinen, wenn sich der Täter im Irrtum über einen Umstand befindet, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört und dieser Irrtum tatsächliche Umstände ("error facti") betrifft. 235 Dieser "error facti" kann sich ihm zufolge auf reine Tatsachen beziehen, er kann aber auch in der Form des Irrtums über die Rechtswidrigkeit auftreten, wenn das Moment der Rechtswidrigkeit selbst in den gesetzlichen Tatbestand aufgenommen wurde. Berger ist dabei der Auffassung, daß der Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt rein tatsächlicher Natur sei. Der Täter könne daher nur wegen fahrlässiger Begehung zur Verantwortung gezogen werden. 236 Es ist dabei nicht ganz klar, ob nach Berger die Rechtfertigungsgründe zum gesetzlichen Tatbestand i. S. des Art. 20 § 1 gehören. Die Fassung des Art. 14 § 1 legt es freilich nahe, den Vorsatz auch auf das Fehlen von Rechtfertigungsgründen (aber auch auf das Fehlen von Entschuldigungsgründen und Stratbarkeitsausschließungsgründen) zu erstrecken. Interessant ist dabei, daß der Irrtum über die Rechtswidrigkeit nach Berger auch dann möglich ist, wenn das Moment der Rechtswidrigkeit selbst in den gesetzlichen Tatbestand Eingang findet. Als Beispiel führt er Art. 195 237 an, der die Kenntnis der Änderung einer zivilrechtlichen Rechtslage verlangt. Berger will diesen Irrtum den Rechtsfolgen des Art. 20 § 1 unterstellen. Daraus folgt, daß er jedes Merkmal, das den Unrechts gehalt der betreffenden Deliktsart mitbestimmt, als Tatbestandsmerkmal auffaßt. 238 Gleichgültig ist dabei, wie weit der Gesetzgeber den Verbotstatbestand im Rahmen jedes einzelnen Tatbestandes bestimmt hat. 235 Berger, Versuch bei Fahrlässigkeitstaten ("UsHowanie przest~pstw nieumyslnych"), Bemerkungen zu Art. 23 § 1; 20 pStGB von 1932, Lublin 1934 in: Studien über das Strafgesetzbuch von 1932, Heft V, S. 7. 236 Ibid. S. 8. 237 Art. 195 lautet: Wer rechtswidrig seinen oder einen fremden zivilrechtlichen Personenstand verändert, macht sich strafbar (... ). 238 Darin liegt eine Differenz zu Wehel, der neben den zum Tatbestand gehörigen Merkmalen noch besondere Rechtswidrigkeitsmerkmale unterscheidet, die an und für sich keine Tatbestandsmerkmale mehr sind, aber den deliktischen Charakter der Handlung mitbestimmen. Zu ihnen rechnet Welzel u. a. das Rechtswidrigkeitserfordernis in §§ 240, 253, die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung in § 110 (vgl. Wehel, Deutsches Strafrecht, 3. Aufl., Berlin 1954, S. 59f.). Diese Unterscheidung ist dabei von praktischer Bedeutung. Die Tatbestandsmerkmale und besondere Rechtgswidrigkeitsmerkmale werden in der Irrtumslehre verschieden behandelt. Im ersten Fall soll es sich um einen Tatbestands-, im zweiten dagegen um einen Verbotsirrtum handeln (a.a.O., S. 155).
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
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Der Fall des Irrtums über die RechtfertigungsgTÜnde beschäftigt Berger auch in späteren Veröffentlichungen. Beim Totschlag im Falle der Putativnotwehr gehört der Angriff für ihn zwar nicht zum Leitbildtatbestand des Besonderen Teils. Der Tatbestand muß aber zugleich auch im weiteren Sinne verstanden werden; er umfaßt dann einen Komplex aller tatsächlichen Umstände des konkreten Falles. Erst aus dieser Komplexität erwächst eine Straftat. Im Falle der Putativnotwehr gehöre zum Tatbestand nicht nur der Schuß auf den vermeintlichen Angreifer, sondern u. a. auch die irrtümliche Abwehr des vermeintlichen Angriffs?39 Berger beruft sich auf v. Hippel: "Das Wollen bezieht sich ( ... ) auf die zu stehlende, nicht auf die "gestohlene Sache" ( ... ) Selbstverständlich kann niemand "wollen", daß die Sache eine "fremde", der Angegriffene ein "Mensch" ist usw. Denn wollen kann man nicht Vorhandenes, sondern nur durch die Handlung zu Verwirklichendes." Das sei vergleichbar mit der Situation beim Diebstahl; auch dort gehöre nicht das Eigentum eines Anderen zum Tatbestand, sondern die gegen dasselbe gerichtete Handlung des Täters. 240 Diese Konstruktion hilft Berger einen Irrtumstatbestand begrifflich aufzubauen. Man darf bezweifeln, ob ihm das gelungen ist. 241 Zum gesetzlichen Leitbildtatbestand i. S. des Art. 20 § 1 sollen zwar Angriff und andere objektive Rechtfertigungselemente nicht gehören. Dies ändert sich jedoch, wenn sich der Täter im Irrtum über ihr Vorliegen befindet. Der gesetzliche Tatbestand wird dann um die irrig vorgestellten Merkmale erweitert. Zu diesem Zeitpunkt will Berger aber noch die RechtfertigungsgTÜnde nicht als negative Tatbestandsmerkmale auffassen. 242 Sein Irrtumstatbestand erscheint sehr konstruiert und entspricht nicht dem Gesetz. Er ist deswegen bedenklich, weil der Umfang des Tatbestandes davon abhängen soll, ob sich der Täter im Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt befindet oder nicht. Das einmal soll es sich nur um einen objektiven, dann wieder soll es sich um einen objektiv-subjektiven Tatbestand handeln. Das bringt zugleich eine Relativierung des Tatbestandsbegriffs mit sich. 243
239 Berger, Über die Auslegung des Art. 20 pStGB (,,0 wykladnie Art. 20 k. k. ") in: GS 1934, Heft 12, S. 907. 240 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, Das Verbrechen, Berlin 1930, S.307, Anm.1. 241 Ob Berger sich hier mit Recht auf v. Hippel beruft, ist immerhin zweifelhaft. v. Hippei wollte mit der zitierten Bemerkung nur Mißverständnisse der von ihm vertretenen sog. Willenstheorie zurückweisen, aber keineswegs "Vorhandenes" aus dem Tatbestand ausschließen. 242 Berger, Über die Auslegung des Art. 20 pStGB, S. 907. 243 Sliwifzski wirft Berger dann auch vor, daß dieser Art. 20 § 1 auf den Fall der Putativnotwehr anwenden wolle. Nach Berger befinde sich der in Putativnotwehr handelnde Täter in einem Irrtum über Umstände tatsächlicher Art. Daraus ergibt sich nach Sliwifzski, daß der Täter subjektiv im Rahmen eines Rechtsinstituts (hier der Notwehr) handelt und objektiv eine Straftat verwirklicht (Tod eines Menschen). Diese Argumen-
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
In einem späteren Aufsatz entwickelt Berger einen Tatbestandsbegriff, in dem er drei Arten der Tat unterscheidet: Die Tat als historischer Lebensvorgang in seiner logischen Ganzheit, die Tat als Verwirklichung der objektiven Tatseite in ihrer konkret-individuellen Form und schließlich die Tat als die Summe der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Merkmale. 244 Unter dem dritten Typus versteht er die Tat, die im Besonderen Teil nach abstrakten Merkmalen umschrieben wird. Diese Merkmale können tatsächlicher oder rechtlicher Art sein. Zu der ersten Gruppe rechnet er solche Merkmale wie: Mensch, Alter unter 15 Jahren, zu der zweiten Gruppe sollen dagegen rechtliche Verhältnisse, Institutionen oder Situationen wie z. B. Ehe, Urkunde gehören. 245 Bei diesen Merkmalen rechtlicher Art unterscheidet er wieder diejenigen Begriffe, die nur rein rechtlichen Gehalt aufweisen wie z. B. die Fremdheit der Sache beim Diebstahl, der Beamtenbegriff, und die, die sich aus tatsächlichen und rechtlichen Merkmalen zusammensetzen. 246 Auffallend ist, daß Berger neben dem Begriff der "Urkunde" und der "Unzucht" in diesem Zusammenhang auch die Notwehr erwähnt. Die tatsächliche Seite der Notwehr soll ihm zufolge darin bestehen, daß jemand einen rechtswidrigen Angriff auf eigenes oder fremdes Gut abwehrt. Das Merkmal "rechtswidrig" sei jedoch nicht tatsächlicher Natur. 247 Ob man schon daraus schließen kann, daß die Notwehrvoraussetzungen zum gesetzlichen Tatbestand i. S. des Art. 20 § 1 gehören? Hier zeigt sich bereits der erste Annäherungsversuch an die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, zu der sich Berger 1937 in seinem Aufsatz: tation setze sich über den Wortlaut des Art. 20 § I hinweg, als sie den Wortlaut der Formulierung "Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören" außer acht lasse. Nach Sliwinski hat Berger das entweder übersehen oder er sei der Auffassung, daß der Angriff (und andere objektive Rechtfertigungselemente) zum gesetzlichen Tatbestand des Totschlags nach Art. 225 pStGB zählen würde (vgl. Sliwiflski, Noch einmal zur Auslegung des Art. 14 und des Art. 20 pStGB [,)eszcze 0 wyldadni Art. 14 i 20 k. k. "] in: GSW 1934, S. 661). M. E. trifft weder das eine noch das andere zu. Berger war zu dieser Zeit bemüht, einen Irrtumstatbestand zu konstruieren, um den Irrtum über den rechtfertigenden Sachverhalt in ihm einzufangen. Erst später hat er diese Auffassung zugunsten der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen aufgegeben. 244 Berger, Die Tat und ihr Wesen ("Czyn i jego istota"). Bemerkungen zu Art. 1 und 20 § 1 pStG", Lublin 1936, S. 7f. 245 Ibid. S. 42. 246 Diese Unterscheidung lehnt sich stark an die von v. Hippel herausgearbeiteten Kriterien zu den sog. Rechtsbegriffen und Komplexbegriffen an: "Sehr häufig sieht sich der Gesetzgeber veranIaßt, im einzelnen Deliktstatbestand Rechtsbegriffe zu verwerten (wie z. B. Beamter, Pfandung, Beschlagnahme, fremde Sache, öffentliche Urkunde (... ). Der Gesetzgeber kann (... ) Rechtsbegriffe im Tatbestand verwerten, um damit kurz und verständlich eine Reihe von tatsächlichen bzw. rechtlichen Merkmalen zusammenzufassen, deren Verwirklichung unter Strafe gestellt werden soll (sog. Komplexbegriffe) (... ). So z. B. bei den Begriffen der "Urkunde", der "Unzucht" (vgl. dazu v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 332). Berger geht noch ein Stück über v. Hippel hinaus, indem er auch die Notwehr als einen Komplexbegriff auffaßt. 247 Berger, Die Tat und ihr Wesen, S. 43.
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
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"Der negative Tatbestand" offen bekennt. 248 Seine These lautet: Die Rechtfertigungsgrunde gehören als negative Tatbestandsmerkmale zum gesetzlichen Tatbestand (Art. 20 § 1 pStGB).249 Den Ausgangspunkt bildet für ihn die Rechtsprechung des Obersten Gerichts zum Fall der Putativnotwehr. Danach wird die irrige Annahme der objektiven Notwehrvoraussetzungen dem Tatsachenirrtum in Art. 20 § 1 unterstellt. Manche Autoren, Berger denkt hier in erster Linie an Sliwinski, sind der Meinung, daß die Rechtsprechung des Obersten Polnischen Gerichts der Kritik nicht standhält. Ihm zufolge erweist sich die Behandlung der Putativrechtfertigung durch die Judikatur als stichhaltig, wenn der Umstand, über den sich der Täter im Irrtum befindet, zum Element des gesetzlichen Tatbestandes erklärt wird?50 Die Erfüllung eines bestimmten 248 Die in Deutschland Ende des 19 Jhs. entwickelte Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (eine eingehende Darstellung der Dogmengeschichte findet sich bei Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, Bonn 1960, S. 2lff.) beruht einmal auf der Voraussetzung, daß der sog. Leitbildtatbestand des Besonderen Teils bereits das konkrete Unwerturteil über die Tat selbst einschließt. Er setzt sich aus den unrechtsbegründenenden Merkmalen und unrechtsausschließenden Merkmalen der RechtfertigungsgrUnde zusammen. Dieser Unrechtstatbestand ist dann (bis auf den Vorsatz) mit dem Irrtumstatbestand des § 16 StGB identisch. Wenn die Rechtfertigungsgründe als negative Merkmale in den Leitbildtatbestand (Irrtumstatbestand) einbezogen werden, so läßt sich der Irrtum über deren Voraussetzungen ohne weiteres als Tatbestandsirrtum behandeln, der zum Vorsatzausschluß führt. Für die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen sind also zwei Voraussetzungen konstitutiv: Unterbringung der unrechtsbegrlindenden und unrechtsausschließenden Elemente im Leitbildtatbestand und Identifizierung des Leitbildtatbestandes (ohne Vorsatz) mit dem Irrtumstatbestand. An dieser Stelle muß folgendes angemerkt werden, was für die Rezeption der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen in Polen von großer Bedeutung ist: Die Feststellung des Irrtumstatbestandes braucht die Ausformung des Leitbildtatbestandes des Besonderen Teils nicht notwendig zu präjudizieren. Es ist keineswegs ausgeschlossen, den Vorsatz von der Kenntnis aller unrechtsbestimmenden (unrechtsbegrUndenden und unrechtsvemeinenden) Elementen abhängig zu machen und den Leitbildtatbestand nur auf die positiven (unrechtsbegründenden) Merkmale zu beschränken. Möglich wäre auch der umgekehrte Weg, den Irrtumstatbestand lediglich auf die positiven Merkmale zu reduzieren und trotzdem den Leitbildtatbestand zu einem Unrechtstatbestand zu kreieren. Wird eine dieser zwei letzten Möglichkeiten gewählt, so erscheint die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen in einer gebrochenen Form. Unter den polnischen Autoren, für welche die irrige Annahme von unrechtsausschließenden Umständen den Vorsatz ebenso ausschließen soll, wie der Irrtum über die unrechtsbegründenden Umstände, sind die meisten nicht bereit, die RechtfertigungsgrUnde systematisch als Elemente des Leitbildtatbestandes anzusehen. Dazu später. Um Mißverständnissen vorzubeugen, wird folgende Terminologie vorgeschlagen: Beschränkt ein polnischer Autor den Unrechtstatbestand lediglich auf den Irrtumstatbestand oder nur auf den Leitbildtatbestand, so werde ich von der "Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen in ihrer gebrochenen Form" sprechen. Wird dagegen der Unrechtstatbestand sowohl mit dem Leitbild- als auch dem Irrtumstatbestand identifiziert, so bleibt es bei dem Namen: ,,Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen". 249 Berger, Der negative Tatbestand ("Ujemna cecha istoty czynu") in: GS 1937, Heft 11, S. 848. 250 Ibid. S. 849.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
Deliktstypus ist nach Berger rechtswidrig, es sei denn, daß ein Rechtfertigungsgrund eingreife. 251 Die Rechtswidrigkeit selbst gehöre nicht zum gesetzlichen Tatbestand, sie stelle lediglich seinen Reflex, seine Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Rechtsordnung dar. 252 Zu den notwendigen objektiven Verbrechensvoraussetzungen zählen dann: Die Erfüllung eines gesetzlichen Tatbestandes (positive Voraussetzungen) und das Fehlen von Rechtfertigungsgründen (negative Voraussetzungen), die die Rechtswidrigkeit entfallen lassen. Sowohl die positiven wie die negativen Voraussetzungen können sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Elementen zusammensetzen. Wenn es um positive Voraussetzungen gehe, so können sie rein tatsächlicher Natur (der Begriff des Menschen), rein rechtlicher Natur (der Begriff der Fremdheit der Sache beim Diebstahl) oder rechtlicher Natur auf einer faktischen Grundlage (der Begriff der Urkunde oder der Unzucht) sein. Das gleiche betrifft auch die negativen Voraussetzungen. Das Einverständnis des Verletzten als Rechtfertigungsgrund sei ein Umstand rein faktischer Natur, die Ausführung einer Amtshandlung durch einen Beamten rein rechtlicher Natur/53 und die Notwehr schließlich sei ein Rechtsinstitut, das zwar rechtlichen Charakter habe, jedoch auf einer tatsächlichen Lage beruhe als Abwehr eines unmittelbaren gegenwärtigen Angriffs auf ein eigenes oder fremdes Gut. Diese Aufteilung ist jedoch fragwürdig. Der Fehler besteht darin, daß Berger bei den positiven Voraussetzungen einer Straftat von einzelnen Tatbestandsmerkmalen spricht. Die Rechtfertigungsgründe als die negativen Voraussetzungen betrachtet er dagegen nicht auf einzelne Merkmale hin, sondern geht auf die Erlaubnissätze im allgemeinen ein. Die Rechtfertigungsgründe haben die Bedeutung, die Rechtswidrigkeit einer Tat objektiv auszuschließen. Sie bewirken nach Berger, daß die betreffende Tat rechtlich neutral bleibt. In der Lehre spreche man von den negativen Tatbestandsmerkmalen. 254 Ibid. S. 849. Ibid. S. 849/Anm. 3. 253 Ibid. S. 849. 254 Berger beruft sich an dieser Stelle auf Merkei, der als geistiger Vater dieser Lehre gilt. Merkel ist der Meinung, daß von vorsätzlich begangener Tat nicht die Rede sein kann, wenn der Handelnde Verhältnisse voraussetzt, "deren Nichtvorliegen zum gesetzlichen Tatbestand gehört (negative Tatbestandsmerkmale), also z. B. Verhältnisse, welche, wenn sie vorliegen, die Tat als durch Notwehr (§ 53 StGB) gerechtfertigt erscheinen lassen würden (vgl. dazu Merkel, Lehrbuch, Stuttgart 1889, S.32). Hirsch weist darauf hin, daß Merket die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen nur auf eine "präzisere" Formel brachte, indem er die Bezeichnung "negatives" Tatbestandsmerkmal einführte" (Vgl. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, S.32). Die Zugehörigkeit der Rechtfertigungsgründe zum Tatbestand war bereits mit dem Gesamttatbestand gegeben. Diese Lehre ist in Deutschland zur Zeit immer mehr zur Minderheitsauffassung geworden. Zum Teil räumen ihre Vertreter ein: ,,Zu ihm (dem Un251
252
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
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Auf den Punkt gebracht: Die Tötung eines Menschen in Notwehr nimmt der Tötung die rechtliche Relevanz, entfärbt sie sozusagen rechtlich. Der Begriff des negativen Tatbestandes sei dabei sehr nützlich. Der Schwerpunkt in der irrtümlichen Vorstellung des Täters, der in Putativnotwehr handelt, liege nicht im Bestehen des Angriffs als solchen, sondern im Bestehen einer Rechtfertigungslage, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließt. Die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat entfallen lassen, gehören nach Berger zum gesetzlichen Tatbestand. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe (z. B. über das Vorliegen der Notwehrlage oder anderer rechtfertigender Umstände) stelle daher einen Irrtumsfall nach Art. 20 § 1 pStGB dar. Das sei im Ergebnis nichts anderes als ein Irrtum über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Wer seinen vermeintlichen Angreifer in Putativnotwehr töte, handle im error facti, d. h. eigentlich im Tatbestandsirrtum. Nach Berger hat das auch eine erhebliche praktische Relevanz. Würde man nämlich den Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt dem Art. 20 § 2 pStGB unterstellen, so müßte der Täter wegen vorsätzlicher Tat mit der Möglichkeit einer außerordentlichen Strafmilderung zur Verantwortung gezogen werden. Das letztere wäre nur dann zulässig, wenn das fehlende Unrechtsbewußtsein "gerechtfertigt,,255 war. Im Falle des Art. 20 § 1 werde dem Täter dagegen nur eine fahrlässige Straftat zur Last gelegt und das nur im Fall, wenn sein Irrtum auf mangelnder Sorgfalt oder Nachlässigkeit beruhte. 256 Berger ist einer der ersten polnischen Autoren, der die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen übernimmt, um die Anwendung des Art. 20 § 1 auf den Erlaubnistatbestandsirrtum dogmatisch zu fundieren. Die Schwächen dieser Lehre werden von ihm nicht erkannt. Berger beruft sich dabei auf die Entscheidung des Obersten Gerichts zum Fall der Putativnotwehr. Ob der Schluß zulässig ist, daß das Oberste Polnische Gericht den Art. 20 § 1 auf den Irrtum über rechtfertigenden Sachverhalt direkt anwenden will, muß im Augenblick noch dahingestellt bleiben.
rechtsvorsatz) gehört die Kenntnis der Umstände des gesetzlichen Tatbestandes (§ 16 I) sowie zusätzlich die Nichtannahme rechtfertigender Umstände" (vgl. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 3. Aufl., München 1997, S.528f.). "Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen besitzt (... ) eine hohe Evidenz" (vgl. Schünemann, "Die deutschsprachliche Strafrechts wissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars" in: GA 1985, S. 347). Aber der Täter, der zum Zeitpunkt der Tatbegehung die rechtfertigenden Umstände nicht annimmt, ist ein geistiges Abstraktionsprodukt, ein Mensch minus aller menschlichen Bedingtheit. 255 Vgl. dazu oben Kap.E.II.3. und Kap. E, Fn. 9. 256 Berger, Der negative Tatbestand, S. 850.
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
(2) Sliwinski
Sliwiilski ist, ähnlich wie Glaser, zunächst der Auffassung, das fehlende Unrechts bewußtsein könne seinen Grund in einem Tatsachenirrtum haben. Das sei z. B. dann der Fall, wenn der Täter irrig davon ausgeht, daß ein rechtswidriger Angriff vorliege (Putativnotwehr) und seine Tat für rechtmäßig hält. Das fehlende Bewußtsein der Rechtswidrigkeit kann darüber hinaus auf einem Rechtsirrtum beruhen. 257 Sliwiilski behauptet nämlich, unter Art. 20 § 1 falle jeder Irrtum, auch der Rechtsirrtum, der strafrechtliche wie der außerstrafrechtliche und auch dann, wenn dieser Irrtum nicht entschuldbar war. Dazu gehöre auch das fehlende Unrechtsbewußtsein, das auf dem Tatsachenirrtum beruht. Alles führe zum Vorsatzausschluß. Das sei auch unabhängig davon, welchen Grund der Rechtsirrtum habe. Nur wenn man den gesetzlichen Tatbestand in dieser Weise verstehe, könne eine Person entschuldigt werden, die einen Totschlag in Putativnotwehr begangen hat. Dieser Totschlag beruhe auf dem Einfluß eines Tatsachenirrtums. 258 Nicht der Irrtum über das Vorhandensein des Angriffs kann entlastend wirken, da der Angriff i. S. von Art. 225 nicht zum gesetzlichen Leitbildtatbestand des Art. 225 (Totschlag) gehöre, sondern das ..gerechtfertigte" Fehlen des Rechtswidrigkeitsbewußtseins. Sliwiilski ist der Auffassung, daß man sonst den in Putativnotwehr handelnden Täter aus einem Vorsatzdelikt bestrafen müsse?59 Sliwiilski behandelt den Erlaubnistatbestandsirrtum im Ergebnis nicht als Tatsachenirrtum, sondern als Rechtsirrtum, der nur durch einen Sachverhalt vermittelt ist. Allerdings löst er diesen Irrtumsfall über den Art. 20 § I, da er die Meinung vertritt, zum gesetzlichen Tatbestand i. S. dieser Vorschrift gehöre das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. Darin unterscheidet er sich von Glaser, der auf den Fall der Putativrechtfertigung auch Art. 20 § 1 anwendet, aber das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit zum Schuldbegriff rechnet. 260 Die Auffassung von Sliwiilski läßt eine allgemeine Tendenz im polnischen Schrifttum erkennen, den Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt den Rechtsfolgen des Art. 20 § 1 zuzuordnen. So fragt sich auch Busch, wie der Erlaubnistatbestandsirrtum nach dem polnischen Strafgesetzbuch aufgefaßt werden müsse. Die Anwendung des Art. 20 § 2 auf diesen Irrtumsfall würde für ihn zu einem unannehmbaren Ergebnis führen, da nach Art. 20 § 2 dieser
257 Sliwiliski, Der Irrtum auf dem Hintergrund der Vorschriften des Strafgesetzbuches, S. 329f. 258 Sliwinski nennt dazu das Beispiel, daß jemand seinen vermeintlichen Angreifer in Putativnotwehr töte, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um einen Scherz handelte. 259 Ibid. 333. 260 Glaser, Die Behandlung des Rechtsirrtums im polnischen Strafrecht, in: SchwZStr 53 (1939), S. 216.
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgründe
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Irrtum bestenfalls außerordentliche Strafmilderung, nicht aber Straffreiheit zur Folge hat. Das zwinge zu der Auffassung, daß das Gesetz in Art. 20 § 2 den Verbotsirrtum im engeren Sinne, nicht aber die Fälle irrtümlicher Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts im Auge habe. 261 Das ist der Hauptgrund, warum der Rechtfertigungsirrtum mit allen möglichen Mitteln in den Art. 20 § 1 hineingepreßt wird. Eine andere Alternative besteht nach der damaligen Gesetzeslage nicht. Das erkennt auch Sliwinski, der die Begründung für die Anwendung des Art. 20 § 1 auf den Erlaubnistatbestandsirrtum jedoch wesentlich modifiziert. So heißt es bei ihm, Art. 20 § 1 bediene sich der Formulierung "gesetzlicher Tatbestand". Dieser gesetzliche Tatbestand könne eine weitere und eine engere Bedeutung haben. Der Tatbestand im weiteren Sinne erfaßt nach Sliwinski alle Umstände, die eine bestimmte Deliktsart kennzeichnen. Zum gesetzlichen Tatbestand im weiteren Sinne gehören Tun oder Unterlassen, objektive Rechtswidrigkeit, Strafbarkeit der Tat, Nichtübereinstimmung mit einer Gesetzesvorschrift, Schuld, strafbarer Erfolg, Kausalzusammenhang, Rechtsnorm. Von diesem Tatbestandsbegriff werden also Gesetzesmerkmale erfaßt, die sich nicht auf einen Deliktstyp beschränken. Insbesondere gehören hierher rechtliche Regeln über den Kausalzusammenhang zwischen der Tat und dem Erfolg, die Rechtswidrigkeit, die Strafbarkeit und die Schuld. Den besonderen Gesestzestatbestand (engere Bedeutung) machen dagegen die Umstände aus, die einen bestimmten Deliktstypus charakterisieren. 262 Unter dem gesetzlichen Tatbestand i. S. des Art. 20 § 1 soll nach Sliwinski der Gesetzestatbestand im weiteren Sinne verstanden werden, der die allgemeine, besondere, subjektive und objektive Tatseite urnfaßt. Zu diesem gesetzlichen Tatbestand können sowohl positive Tatbestandsmerkmale, die für das Bestehen einer Straftat existent sind (z. B. der Mensch als Tatopfer in Art. 225 pStGB) als auch negative Tatbestandsmerkmale gehören, die fehlen müssen, damit von einer Straftat überhaupt die Rede sein kann, und deren Vorliegen einmal die Rechtswidrigkeit, ein anderes Mal nur die Strafbarkeit der Tat ausschließe. 263 Wenn wir nun den Art. 20 § 1 auf negative Umstände erstrecken, die zum gesetzlichen Tatbestand zählen, dann kommen wir unvermeidlich zum Ergebnis, daß das Handeln in Putativnotwehr keine vorsätzliche Straftat darstellen kann. Die gleichen Regeln will Sliwinski auch auf den Fall des Putativnotstandes angewandt wissen, weil er zum gesetzlichen Tatbestand i. S. dieser Vorschrift nicht nur Rechtswidrigkeits- , sondern auch die Schuldausschließungsgründe rechnet. Diese negativen Tatbestandsmerkmale können allgemeiner Natur sein, wenn sie auf alle Straftaten passen (all-
261 Busch, Kritische Bemerkungen zum polnischen Strafgesetzbuch. in: ZStW 55 (1935), S. 631. 262 Sliwifzski, Polnisches materielles Strafrecht. S. 133. 263 Ibid. S. 135. 9 Lewandowski
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
gemeine negative Tatbestandsmerkmale). Zu ihnen gehören die Umstände, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen (z. B. die Notwehr Art. 21) aber auch der Notstand Art. 22, der einmal die Rechtswidrigkeit, ein anderes Mal die Schuld entfallen läßt. 264 SliwiIiski ist nach Berger der zweite polnische Autor, der die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen vertritt, allerdings in ihrer gebrochenen Form265 , da er den Leitbildtatbestand des Besonderen Teils nicht mit dem Unrechtstatbestand in eins setzt. SliwiIiski bringt deutlich zum Ausdruck, daß das aus dem besonderen Tatbestand herausgenommen werden soll, was zum allgemeinen Gesetzestatbestand gehört, der seinerseits alle Regeln über die Rechtswidrigkeit, Schuld und Strafbarkeit der Tat im allgemeinen enthält. Eine solche Bestimmung des Tatbestandes des Besonderen Teils (Leitbildtatbestand) kann daher noch kein konkretes Unwerturteil über die Tat mit einschließen. SliwiIiski geht dabei im Hinblick auf den Irrtumstatbestand des Art. 20 § 1 ein Stück weiter als Berger, indem er ihn nicht nur um das Fehlen von Rechtfertigungsgründen, sondern auch um das Fehlen von Schuld- und Strafbarkeitsausschließungsgründen erweitert.
ee) Putativnotstand Auffallend ist, daß der Gegenstand der damals in der Lehre geführten Diskussionen über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums fast immer auf den Fall der Putativnotwehr beschränkt bleibt. Von dem Irrtum über die Notstandsvoraussetzungen wird fast gar keine Notiz genommen. Dafür sind zwei Gründe zu nennen. Der erste mag sicherlich in dem geführten Streit über die Rechtsnatur des gesetzlich geregelten Notstandes liegen?66 Die Meinungen gehen weit auseinander, ob der Notstand als Rechtswidrigkeits-, als Schuld-, oder vielleicht als Strafbarkeitsausschließungsgrund behandelt werden soll. Würde man ihn als einen Rechtfertigungsgrund qualifizieren, so müßte Art. 20 § 1, ähnlich wie im Falle der Putativnotwehr, zur Anwendung kommen, was dem damaligen Verständnis über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums durchaus entspricht. Fraglich wäre nur die Behandlung des Irrtums über die Notstandsvoraussetzungen, wenn man von einem Schuld- oder Strafbarkeitsausschließungsgrund ausgeht.
Ibid. S. 136. Darauf hat als erster Zoll hingewiesen, vgl. Zoll, Das Verhältnis der Konträrtypen zum gesetzlichen Tatbestand ("Stosunek kontratyp6w do ustawowej okreslonosci czynu") in: PiP 1975, Heft 4, S. 87. 266 Vgl. dazu Kap. E.VII.l.b). 264 265
VII. Der Irrtum über die Rechtfertigungsgrunde
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Der zweite Grund liegt sicherlich in einer zunehmenden Subjektivierung der objektiven Notstandsvoraussetzungen in dieser Zeit. So wird nach Makowski, das Wertverhältnis der kollidierenden Güter so bestimmt, daß neben der objektiven Wertung auch das subjektive Element berücksichtigt werden muß. Makowski meint, daß die Formulierung "freilich" in Art. 22 (Notstand) dafür spreche, daß neben der objektiven, auch eine subjektive Wertung von Bedeutung sei. 267 Glaser und Mogilnicki stellen fest, wenn das Eingriffsgut nicht zweifelsfrei höherwertig als das Erhaltungsgut sei, solle eine plausibel begründete Auffassung des Täters über das Rangverhältnis zugrunde gelegt werden. 268 Auch Makarewicz bestimmt das Wertverhältnis der kollidierenden Güter unter Berücksichtigung der subjektiven Wertung. 269 Dadurch wird die Auslegung des Art. 22 zunehmend subjektiv ausgerichtet. Auch das ist einer der Gründe, warum der Fall des Putativnotstandes im polnischen Schrifttum nicht so oft thematisiert wird: Der Täter kann sich über das Rangverhältnis der widerstreitenden Rechtsgüter praktisch nur selten irren, wenn seine Vorstellung maßgebend sein soll.270 Außerdem mag auch die Fassung des Notstandes im Gesetz von 1932 "zum Zwecke handelt ( ... )" zu der Subjektivierung seiner Voraussetzungen beigetragen zu haben. 271
Makowski, Strafgesetzbuch, Kommentar, S. 114, Anm. 12 zu Art. 22. GlaserlMogilnicki, Stragesetzbuch, Kommentar, Art. 22 § 3, S. 124f. 269 Makarewicz, Strafgesetzbuch mit Kommentar, 5. Aufl., 1938, S. 116; anders aber Sliwiftski, Polnisches materielles Strafrecht, S. 172, Vogel/anger, Der Notstand ("Wyzsza koniecznosc") in: GP 1927, Heft 6, S. 226 und das Oberste Polnische Gericht in: OSP 1936, S. 620, S. 563. 270 Ebenso schon Auscaler, der darauf hinwies, daß das Rangverhältnis der widerstreitenden Rechtsgüter nicht objektiv, sondern vielmehr subjektiv gefaßt wurde (vgl. Auscaler, Der Notstand im Strafrecht ["Stan wyzszej koniecznosci w Prawie Karnym"], Warszawa 1953, S. 119f.). Auscaler hat zu Recht die Subjektivierung der Notstandsvoraussetzungen kritisiert und sich für ihre Objektivierung ausgesprochen (a.a.O., S. 119f.). 271 Das polnische Strafgesetzbuch von 1932 regelte nicht den Fall des Handeins aufgrund eines militärischen Befehls. Eine solche Regelung enthielt dagegen das polnische Wehrstrafgesetz vom 21. 10. 1932; Art. 9 dieses Gesetzes lautete: § 1 Ein Soldat, der eine Tat in Ausführung eines Befehls begeht, macht sich nicht strafbar. § 2 Die Vorschrift des § 1 findet keine Anwendung, wenn a) die Straftat unter Überschreitung der Befehlsgrenzen begangen wurde oder b) der Täter davon wußte, daß der Befehl eine Tat zum Gegenstand hatte, die ein Verbrechen oder Vergehen ist. In diesen Fällen kann das Gericht die Strafe außerordentlich mildem. Die Zusammenfassung des Art. 9 § 1 und Art. 9 § 2 Buchst. b) spricht dafür, daß der polnische Gesetzgeber den Fall des verbindlichen Befehls als Rechtfertigungsgrund ausgestalten wollte. Bedenklich ist, daß der Fall der Unverbindlichkeit des Befehls (Strafbarkeit des aufgetragenen Verhaltens) davon abhängig gemacht wurde, ob der Untergebene sie positiv kannte oder nicht. Eine solche Konstruktion birgt die Gefahr der Subjektivierung der Rechtfertigungsmaßstäbe in sich. Denkbar ist nämlich der Fall, daß ein Befehl die Rechtsordnung offensichtlich 267
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E. Der Zeitraum von 1932 bis 1939
b) Zusammenfassung
In den 30er Jahren wird der Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt immer mehr zu einem Diskussionsgegenstand. Dies zeigen u. a. die Arbeiten von Wolter oder Berger. In der rechtlichen Behandlung der Putativrechtfertigung ändert sich zwar nicht viel; nach wie vor ist es allgemein anerkannt, den Erlaubnistatbestandsirrtum den Rechtsfolgen des Art. 20 § 1 unterzuordnen. Neu sind allerdings die Bemühungen, die Anwendung dieser Gesetzesvorschrift auf den fraglichen Irrtumsfall dogmatisch zu begründen. Dies hat zur Folge, daß die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen immer mehr Anhänger findet. Ihre Heranziehung soll die Behandlung der Putativnotwehr im Rahmen des Tatbestandsirrtums untermauern. Diejenigen, die die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ablehnen, fehlt es noch an einer kritischen Reflexion darüber, ob die Anwendung des Art. 20 § 1 im Wege der Analogie berechtigt oder nicht berechtigt ist. Die Versuche, den Irrtum über einen rechtfertigenden Sachverhalt unter dem Blickwinkel des Verbotsirrtums zu erörtern, bleiben auch in dieser Zeitphase aus. Das ist sicher auf die Regelung des Art. 20 § 2 zurückzuführen, der den Verbotsirrtum grundsätzlich für unbeachtlich hält.
c) Rechtsprechung
aa) Urteil vom 6. 12. 1932 In dieser Entscheidung befaßt sich das Oberste Gericht mit einem Fall der Putativnotwehr. Zwischen dem Angeklagten und der Familie des Opfers kam es zu Tätlichkeiten. Der Angeklagte wurde in eine Flurecke gedrängt. Um sich zu verteidigen, griff er nach einem Spaten. In diesem Moment erschien W, der seiner Familie helfen wollte. Der Angeklagte nahm irrtümlich an, daß W vorverletzt (z. B. ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenwürde). Nach Art. 9 § 1 hätte der ausführende Untergebene in diesem Fall rechtmäßig gehandelt, wenn er von der Unverbindlichkeit keine Kenntnis hatte! Die Frage, wie der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Befehls behandelt werden soll, erörtert Glaser. Er neigt dazu, diesen Irrtum den Rechtsfolgen des Art. 20 § 1 zu unterstellen. (vgl. Glaser, Der bindende rechtswidrige Befehl ["Willi