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German Pages 520 Year 2022
Schriften zum Internationalen Recht Band 234
Die Mitgliederpartei im britischen Parteienrecht Geschichte – Organisation – innerparteiliche Demokratie unter besonderer Berücksichtigung der Parteiführerwahl
Von
Johannes M. Jäger
Duncker & Humblot · Berlin
JOHANNES M. JÄGER
Die Mitgliederpartei im britischen Parteienrecht
Schriften zum Internationalen Recht Band 234
Die Mitgliederpartei im britischen Parteienrecht Geschichte – Organisation – innerparteiliche Demokratie unter besonderer Berücksichtigung der Parteiführerwahl
Von
Johannes M. Jäger
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.
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© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-18400-2 (Print) ISBN 978-3-428-58400-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Für Florentine und Valerie
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors beider Rechte angenommen. Zunächst danke ich herzlich meinem Doktorvater, Herrn Univ.-Professor Dr. Ralf Brinktrine, für die vielen Gespräche über das Verhältnis von Recht und Politik und die Besonderheiten des britischen Liberalismus, die mich nicht nur zu diesem Thema, sondern auch durch die Zeit der Erstellung der Arbeit führten. Daneben danke ich Frau Univ.-Professor Dr. Stefanie Schmahl für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Frau Univ.-Professor Dr. Nicole Bolleyer gebührt mein Dank für die Betreuung meines Forschungsaufenthaltes an der University of Exeter, in dessen Rahmen sie mir fruchtbare Kontakte zu englischsprachigen Parteienforschern hergestellt hat. Zudem sei Herrn Dr. Felix-Christopher v. Nostitz für die freundliche Aufnahme in den Kreis der dortigen Doktoranden gedankt. Meiner Schwägerin, Katharina v. Nesselrode, bin ich dankbar für zahlreiche Literaturbeschaffungen in der Bibliothek des University College London. Die sprachliche Korrektur der Arbeit nahm mein Schulfreund Christoph Wilden geduldig vor, während mir mein Studienfreund Luke E. K. Sheppard immer wieder half, die Kultur- und Rechtsgeschichte seines Heimatlandes richtig zu verstehen und darzustellen. Auch meinem Bonner Kommilitonen und Freund Dr. Alexander Kustermann danke ich sehr für unzählige motivierende Gespräche zu fachlichen wie organisatorischen Fragen während des gemeinsamen Doktorandendaseins. Meiner lieben Ehefrau, Christiane v. Nesselrode, möchte ich für ihre unermüdliche Unterstützung aller meiner akademischen und beruflichen Vorhaben – insbesondere dieser Dissertation samt den Auslandsaufenthalten – danken. All dies wäre ebenso ohne die Hilfe und den Rückhalt meiner Eltern, Wolfgang und Klaudia Jäger, nicht möglich gewesen. Zuletzt gebührt mein Dank der Deutsch-Britischen Juristenvereinigung für einen großzügigen Druckkostenzuschuss sowie dem Prof.-Linhardt-Verein und der K. d. St. V. Aenania München für die Ehrung mit dem Pelkhovenpreis 2022. Frankfurt, im Januar 2022
Johannes M. Jäger
Inhaltsübersicht Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wandel der Gesellschaft, der Verfassung und der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Party change statt party decline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Britische Parteien als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . IV. Fehlende Bearbeitung des Rechtsproblems der innerparteilichen Demokratie . . . V. Recht, Realität und Grenzen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Thematische Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 32 35 37 40 43 46 47
Erstes Kapitel Entwicklung von Parteien und Parlament
49
A. Parlament und Verfassung seit dem späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Parlamentssouveränität und Unkodifiziertheit der Verfassung als Grundsteine für das politische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehen der Parteien im Parlament nach der Glorious Revolution . . . . . . . . . . II. Entwicklung des Wahlrechts ab 1832: von der Vorherrschaft des Adels zur Volldemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entwicklung der Parteien aus dem Parlament in die Wahlkreise . . . . . . . . . . . . . IV. Nationale Parteiorganisationen ab 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Nationale Parteien als Massenorganisationen am Ende des 19. Jahrhunderts . . . . VI. Parteiführer als Vorsitzender der Partei im und außerhalb des Parlaments sowie als Premierminister der Krone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis: evolutionäre Entwicklung des Parteienwesens . . . . . . . . . . . .
56 56 59 63 68 79 81 84
D. Heutige Strukturen und Programmatik der Parteien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Die zwei großen Parteien: Conservative Party und Labour Party . . . . . . . . . . . . . 86 II. Liberal Democrats als „dritte“ Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 E. Heutiges britisches Parteiensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Zwei- oder Mehrparteiensystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Exkurs: Mehrparteiensysteme in den Devolutionsvolksvertretungen . . . . . . . . . . 107 F. Zwischenergebnis: weiterhin ein Zweiparteiensystem auf nationaler Regierungsebene 108
10
Inhaltsübersicht Zweites Kapitel Definition, Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
110
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erforderlichkeit einer umfassenden Definition der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Parteibegriff und Parteifunktionen in der internationalen Parteienforschung . . . . III. Definitionen und Funktionen der britischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 110 111 113
B. Status und Rechtsnatur der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz der Parteienfreiheit als Parteigründungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Privatrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfassungsrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124 125 125 148
Drittes Kapitel Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht A. Kein zwingendes Gebot innerparteilicher Demokratie in der Verfassung . . . . . . . . . . I. Keine Verpflichtung aus Gesetzesrecht und Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Innerparteiliche Demokratie als Prinzip im Parteisatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis: innerparteiliche Demokratie als innerparteiliche Angelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 222 222 258 262
B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I. Keine innerparteiliche Demokratie im Parteiengesetz von 2000 . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Exkurs: Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie aus dem Companies Act 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsnatur des Mitgliedschaftsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Arten der Mitgliedschaft nach dem Parteisatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einzelne Rechte des (potenziellen) Mitglieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306 306 327 348
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stellung des Parteiführers zwischen Verfassungs-, Wahl-, Parteien- und allgemeinem Vereinsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wahl des Parteiführers nach Gesetzes- und Verfassungskonventionalrecht . . . . . III. Wahl und Abwahl des Parteiführers: parteiübergreifende Grundlagen . . . . . . . . . IV. Mitgliederbeteiligung bei der Parteiführerwahl in der Labour Party und der Conservative Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388 388 393 398 403
Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Anhang: Parteiführerwahlordnung der Labour Party (2016 und 2015) . . . . . . . . . . . 455
Inhaltsübersicht
11
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Sonstige Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Fundstellen parteisatzungsrechtlicher Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Verzeichnis der zitierten Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Wandel der Gesellschaft, der Verfassung und der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Party change statt party decline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Britische Parteien als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . 37 IV. Fehlende Bearbeitung des Rechtsproblems der innerparteilichen Demokratie . . . 40 V. Recht, Realität und Grenzen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 VI. Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 VII. Thematische Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Erstes Kapitel Entwicklung von Parteien und Parlament
49
A. Parlament und Verfassung seit dem späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Parlamentssouveränität und Unkodifiziertheit der Verfassung als Grundsteine für das politische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Entstehen der Parteien im Parlament nach der Glorious Revolution . . . . . . . . . . 56 II. Entwicklung des Wahlrechts ab 1832: von der Vorherrschaft des Adels zur Volldemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Entwicklung der Parteien aus dem Parlament in die Wahlkreise . . . . . . . . . . . . . 63 IV. Nationale Parteiorganisationen ab 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Birmingham Caucus: die erste lokale Parteiorganisation im modernen Sinne 69 2. Birmingham-Modell im gesamten Land: keine einheitliche Organisation . . . . 70 3. Kontrolle der Birmingham Federation über die Politikformulierung und Kandidatenauswahl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4. Caucus-Idee in beiden großen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Grundsätzlicher Aufbau der Wahlkreisvereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Recht und Realität der Kandidatenselektion in den Wahlkreisvereinigungen 73 5. National Union of Conservative and Constitutional Associations . . . . . . . . . . 74 a) Außerparlamentarische Partei als handmaid für die Parlamentsfraktionen
75
b) Versuch einer Binnendemokratisierung im Jahre 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . 76
14
Inhaltsverzeichnis V. Nationale Parteien als Massenorganisationen am Ende des 19. Jahrhunderts . . . . 79 VI. Parteiführer als Vorsitzender der Partei im und außerhalb des Parlaments sowie als Premierminister der Krone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Zentrale Stellung des Premierministers und Parteiführers im Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Parteiführerauswahl im 19. Jahrhundert: liberale Wahl oder konservative Ernennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 VII. Zwischenergebnis: evolutionäre Entwicklung des Parteienwesens . . . . . . . . . . . . 84
D. Heutige Strukturen und Programmatik der Parteien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Die zwei großen Parteien: Conservative Party und Labour Party . . . . . . . . . . . . . 86 1. Labour Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Gründung der Partei außerhalb des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Heutige Gliederung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Zentrale Aspekte der inneren Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d) Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Conservative Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Formale Gründung der Partei im Jahre 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Heutige Gliederung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Zentrale Aspekte der inneren Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Programmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II. Liberal Democrats als „dritte“ Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 E. Heutiges britisches Parteiensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Zwei- oder Mehrparteiensystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Zumindest ein Zweieinhalb-Parteiensystem im House of Commons . . . . . . . . 102 2. Chancen für SNP und UKIP als neue Kräfte im House of Commons? . . . . . . 105 II. Exkurs: Mehrparteiensysteme in den Devolutionsvolksvertretungen . . . . . . . . . . 107 F. Zwischenergebnis: weiterhin ein Zweiparteiensystem auf nationaler Regierungsebene 108
Zweites Kapitel Definition, Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
110
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Erforderlichkeit einer umfassenden Definition der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Parteibegriff und Parteifunktionen in der internationalen Parteienforschung . . . . 111 1. Drei zentrale Parteienfunktionen: Personal-, Betriebs- und Interessensvermittlungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Drei Parteiorganisationsebenen der Parteien nach Peter Mair . . . . . . . . . . . . . 112 3. Zwischenergebnis: Stellung der Parteien zwischen Staat und Gesellschaft . . . 113
Inhaltsverzeichnis
15
III. Definitionen und Funktionen der britischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Nur funktionale Teildefinitionen der britischen Parteien in Gesetzen . . . . . . . 113 2. Teildefinitionen im PPERA 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Verwendung des Begriffs der political party in Gesetzen vor 1998 . . . . . . . . . 115 4. Verwendung von political purposes und political objects in Gesetzen vor 1998 117 5. Zwischenergebnis: sukzessive Anerkennung von Parteibegriff und Parteifunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 6. Parteiendefinitionen in der britischen Parteienforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Definitionen des Parteibegriffs im juristischen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Funktionale Definitionen im britischen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Zwischenergebnis: keine umfassende Definition aus der Literatur . . . . . . . 124 B. Status und Rechtsnatur der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Grundsatz der Parteienfreiheit als Parteigründungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Privatrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Organisationsfreiheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Häufigste Rechtsform der Parteien: die unincorporated association . . . . . . 126 aa) Geschichte und Definition der unincorporated association . . . . . . . . . . 126 bb) Konkludente oder ausdrückliche Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 cc) Rechtliche Besonderheiten der unincorporated association . . . . . . . . . 129 (1) Keine eigene Rechtspersönlichkeit der Vereinigung . . . . . . . . . . . . 129 (2) Konsequenzen im Außenverhältnis: unbeschränkte Mitgliederhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (3) Konsequenzen im Innenverhältnis: Anwendung von Equity und Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Parteienautonomie: keine zwangsläufige Organisation als unincorporated associations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Labour Party als unincorporated association . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Conservative Party bis 1998 nicht als eine einzige unincorporated association, sondern als politische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 c) Zwischenergebnis: Parteiengründungsfreiheit und Parteienorganisationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Privatrechtliche Parteienautonomie und alternative Organisationsformen . . . . 139 a) Parteien als gemeinnützige Organisationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 aa) Unzulässigkeit der Rechtsform der charity für Parteien . . . . . . . . . . . . 139 bb) Unzulässigkeit der Rechtsform der friendly society für Parteien . . . . . . 140 (1) Parteiorganisationen im 19. Jahrhundert als friendly societies . . . . 141 (2) Berücksichtigung der friendly societies-Gesetzgebung in Parteiengesetzentwürfen im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Mögliche alternative Rechtsform: private company limited by guarantee
143
aa) Definition und Rechtsnatur der private company limited by guarantee 144
16
Inhaltsverzeichnis bb) Juristische Person als Lösung der Haftungsproblematik bei der unincorporated association . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Überlegungen zur Gründung einer „Labour Party Ltd.“ im Jahr 2008
146
dd) Status der Öffentlichkeit bei Parteien unter dem Companies Act 2006 147 3. Zwischenergebnis: privatrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Verfassungsrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Verständnis, Rechtsnatur und Definition der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Quellen der britischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Bedeutung der Gesetze als Verfassungsrechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) Parteieninnenrecht als Verfassungsquelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 aa) Meinungsstand: Parteisatzungen als Verfassungsquellen i. w. S. nach John Alder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Bewertung: Achtung des Parteibinnenrechts als politische Tradition mit der wohl h. M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Status der Parteien nach dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Parteien in Gesetzen und untergesetzlichen Regelungen vor 1998: pecunia nervus rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 aa) Fraktions- und Abgeordnetenfinanzierung: erste Anerkennung der Parteiendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (1) Finanzierung der Labour Party durch die Gewerkschaften . . . . . . . 166 (a) Parteienzwangsabgabe der Gewerkschaftsmitglieder bis zum Osborne-Urteil von 1909 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (b) Finanzierungsregime der Labour Party nach dem Trade Union Act 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (2) Ministers of the Crown Act 1937: öffentliche Finanzierung der parlamentarischen Parteiendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (3) Short Money als Ausweitung der Oppositionsfinanzierung ab 1975 173 bb) Short Money-Voraussetzungen und die Finanzierung von Parteitagen ab 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 cc) Positive Geschlechterdiskriminierung in den Parteien nach dem Sex Discrimination Act 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 dd) Sukzessive Anerkennung der Parteien im Wahlrecht vor 1998 . . . . . . . 177 (1) Verbot des Parteinamens auf dem Wahlzettel als „Illusion“ einer Individualwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (a) Explizites Verbot der Parteiidentifikation ab 1948 . . . . . . . . . . 179 (b) Beifügung auf Wahlzetteln ohne Schutz von Parteinamen ab 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (c) Folge des fehlenden Namensschutzes: spoiler candidates . . . . . 183 (2) Zwischenergebnis: sukzessive Anerkennung der Parteiendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
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b) Konstitutionalisierung der Parteien in der Verfassungsreform ab 1998 . . . . 187 aa) Registration of Political Parties Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (1) Sinn und Zweck: Namensschutz und Ermöglichung von Listenwahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (2) De jure fakultatives, de facto unumgängliches Registrierungsregime 188 (3) Parteiengesetz von 1998 im Vergleich zum Entwurf von 1969 . . . . 189 (4) Zugeständnis an die Conservative Party: Unberührtheit der inneren Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (5) Zwischenergebnis: Parteiengesetz von 1998 als Interimslösung . . . 191 bb) PPERA 2000 als Parteienfinanzierungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (1) Diskussionen um staatliche Parteienfinanzierung seit den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (2) Weg zum Gesetz: Finanzierungsskandale in den 1990er Jahren . . . 194 (3) Zentrale Regelungsinhalte: Registrierung und Finanzierung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (a) Aufhebung des freiwilligen Registrierungsregimes von 1998
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(b) Electoral Commission als Aufsichtsbehörde für die Parteien 196 (c) Regulierung der Spendenfinanzierung von Parteien, Abgeordneten und Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Zwischenergebnis: Parteienrecht der ersten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Common Law-Status der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Status der Öffentlichkeit der Parteien im Außenverhältnis . . . . . . . . . . . . . 200 b) Parteiengleichheit über den PPERA 2000 hinaus? Bevorzugung registrierter Parteien durch jüngste Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5. Verfassungskonventionalrechtlicher Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Verfassungskonventionalregeln: Definition, Rechtsnatur und Erkennung 205 b) Beispiele für Verfassungskonventionalregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Verfassungskonventionalregeln und Parteibinnenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 aa) Verhältnis zwischen Krone und Parteien: Wahl des Premierministers 209 (1) Status und Auswahl des Premierministers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (a) Stellung des Premierministers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (b) Grundsatz: Ernennung durch die Krone, Auswahl durch die Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (2) Zwischenergebnis: keine Einschränkung der royal prerogative durch Parteisatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 bb) Salisbury-Convention: Umsetzung von Parteiprogrammen der Regierung ohne eigene Mehrheit im House of Lords qua Verfassungskonventionalregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (1) Reduzierte Rolle des House of Lords nach den Parliament Acts 1911/1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (2) Keine demokratische Legitimation des House of Lords . . . . . . . . . 217
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Inhaltsverzeichnis (3) Zwischenergebnis: Verfassungskonventionalregel als Bindeglied zur innerparteilichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6. Zwischenergebnis: Status der Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit . . . . . . . 219 a) Freiheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Gleichheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 c) Öffentlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Drittes Kapitel Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
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A. Kein zwingendes Gebot innerparteilicher Demokratie in der Verfassung . . . . . . . . . . 222 I. Keine Verpflichtung aus Gesetzesrecht und Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Britische Besonderheit der rechtlichen Parlaments- und politischen Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Organisation der Parteien und gesellschaftliches Demokratieverständnis . . . . 227 a) Organisation des Staates und der Parteien als Ausdruck des gesellschaftlichen Demokratieverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Gesetzliche Interventionen nur bei konkreten Verstößen gegen die „Spielregeln der Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Rechtsschutz nur bei vereinbarten satzungsrechtlichen Rechten . . . . . . . . . . . 229 a) Früher nur bei Verstößen gegen Equity, Eigentums- oder Vermögensrecht 229 b) Parteisatzungen als bindendes Vertragsrecht ab den 1960er Jahren . . . . . . . 238 c) Rechtsnatur und Reichweite der richterlichen Überprüfung . . . . . . . . . . . . 241 aa) Rechtsnatur der natural justice: Gewährleistung eines fairen Verfahrens 242 bb) Materiellrechtliche Prüfung: Zweckmäßigkeitsprüfung nur in Extremfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 cc) Rechtsfolgen: keine Ersetzungsbefugnis und möglicher Schadensersatz 246 dd) Ausschluss und Anwendung von natural justice im Einzelfall? . . . . . . 246 ee) Reichweite der gerichtlichen Überprüfung von Parteisatzungsrecht . . . 247 (1) Grundsätzliche Bindung des Parteisatzungsrechts inter partes . . . . 248 (2) Kein judicial review-Verfahren für parteiinterne Streitigkeiten . . . . 249 (3) Breach of contract- und judicial review-Verfahren . . . . . . . . . . . . . 251 (4) Stellungnahme zur Forderung nach judicial review-Verfahren in Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 II. Innerparteiliche Demokratie als Prinzip im Parteisatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs der innerparteilichen Demokratie . . . . . . . 258 2. Bedeutung des parteisatzungsrechtlichen Prinzips der innerparteilichen Demokratie für die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 III. Zwischenergebnis: innerparteiliche Demokratie als innerparteiliche Angelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
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B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I. Keine innerparteiliche Demokratie im Parteiengesetz von 2000 . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Transparenz- und Rechenschaftsgebot im Außen-, nicht im Innenverhältnis 264 2. Zwingende Regelungen der inneren Ordnung aus Publizitätsgründen . . . . . . . 265 a) Pflicht zur Einreichung einer Satzung bei der Electoral Commission . . . . . 265 b) Erforderliche Positionen: Parteiführer, nominating officer und Schatzmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Fakultative Regelungen der inneren Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 a) Mitgliedschaftsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 aa) Mitgliederpartei als parteienrechtliche Universalie . . . . . . . . . . . . . . . . 268 bb) Kein Bekenntnis des britischen Parteiengesetzes zur Mitgliederpartei 270 b) Keine Pflicht zur horizontalen oder vertikalen Gliederung der Partei . . . . . 272 aa) Zulässigkeit zentraler oder dezentraler Parteiorganisationen . . . . . . . . . 272 bb) (Un-)verbindliche Vorschläge der Electoral Commission zur Parteienorganisation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Zwischenergebnis: Mitgliederprinzip nur im Hintergrund des Parteiengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 4. Indirekte Auswirkungen der Parteiengesetze von 1998 und 2000 . . . . . . . . . . 279 a) Satzungsreform und Gründung der Conservative Party . . . . . . . . . . . . . . . . 279 b) Keine Obergrenze für korporative Mitgliedsbeiträge: keine Umorganisation der Labour Party nötig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 5. Zwischenergebnis: Parteisatzungen als responses to specific challenges . . . . . 281 II. Exkurs: Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie aus dem Companies Act 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Randparteien in der Rechtsform der private company limited by guarantee 283 2. Weitgehende Nichtbeachtung dieser Rechtsform in der Parteienforschung . . . 284 3. Member democracy bzw. innerparteiliche Demokratie nach dem Companies Act 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 a) Gesellschaftsrechtliches Mitgliedschaftsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Rechtsnatur des Gesellschaftsvertrages und der Mitgliederrechte . . . . . . . . 289 aa) Majority rule und minority protection vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Gerichtliche Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen anhand der natural justice? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 cc) Keine Anwendung der ultra vires-Doktrin nach dem Companies Act 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 c) Publizitätspflichten im Innen- und Außenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4. Besonderheiten der Organisation einer Partei als private company limited by guarantee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Transparenz- und Publizitätspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Veröffentlichungspflichten nach außen aus dem Parteien- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
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Inhaltsverzeichnis bb) Transparenzpflichten im Innenverhältnis nur nach dem Companies Act 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 b) Organisationsrechtliche Trennung von Partei als „Bewegung“ und der Partei als private company limited by guarantee am Beispiel von UKIP . . . . 298 aa) UKIP als Ltd. und UKIP als unincorporated association . . . . . . . . . . . 298 bb) Zweck der UKIP Ltd.: Aufbau einer Partei im wahl- und parteienrechtlichen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 cc) Zweck der UKIP als unincorporated association und als wahlrechtlich registrierte Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 dd) UKIP als wahlrechtliche Partei und als Unternehmen vor den Gerichten 300 ee) Mitgliederprinzip bei zwei getrennten Parteiorganisationen . . . . . . . . . 302 5. Zwischenergebnis: Unbeachtlichkeit der Rechtsformfrage vor Gerichten . . . . 304
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 I. Rechtsnatur des Mitgliedschaftsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. Vertragliche Begründung des Mitgliedschaftsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Anwendung des Human Rights Act 1998 auf das Mitgliedschaftsverhältnis? 308 a) Parteien zwischen Gesellschaft und Staat als Grundrechtsverpflichtete? . . 308 b) Normativer Anknüpfungspunkt: Parteien als public authorities? . . . . . . . . 311 aa) Human Rights Act 1998 als erster britischer Grundrechtskatalog . . . . . 311 bb) Umfang der inkorporierten Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 cc) Regelungsmechanismus des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . 312 dd) Geltendmachung von konventionsrechtlichen Verstößen . . . . . . . . . . . . 313 (1) Grundsatz der vertikalen Bindungswirkung des Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 (a) Parteien nicht als core public authorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 (b) Parteien als hybrid bzw. functional public authorities? . . . . . . . 315 (2) Horizontaler Effekt des Human Rights Act 1998? . . . . . . . . . . . . . 320 (a) Grundsätzlich nur eine „mittelbare Drittwirkung“ . . . . . . . . . . . 320 (b) Potenzielle Bedeutung für Streitigkeiten aus dem Mitgliedschaftsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 c) Zwischenergebnis: Parteien nicht grundrechtsverpflichtet . . . . . . . . . . . . . . 324 II. Arten der Mitgliedschaft nach dem Parteisatzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 1. Individuelle Vollmitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Parteimitgliedschaft in der Conservative Party seit 1998 . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Labour Party: direkt-individuelle Mitgliedschaft seit 1918 . . . . . . . . . . . . . 330 c) Altersgrenzen für den Parteieintritt und die Mitgliedschaft von Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 2. Außerordentliche Mitgliedschaft: registered supporter der Labour Party . . . . 334
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3. Kollektivmitgliedschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Gewerkschaften in der Labour Party: keine individuelle Parteimitgliedschaft der Gewerkschaftsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 aa) Labour Party als (fast) rein korporative Bewegung bis 1918 . . . . . . . . 339 bb) Öffnung für Individualmitglieder und Einführung des Parteiführeramtes 341 cc) Gewerkschaftsmitglieder als individuelle affiliated supporter seit 2014 342 b) Korporative Mitgliedschaft in der Conservative Party . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4. Zwischenergebnis: sukzessive politische Entwicklung zum heute vorherrschenden Typus der Mitgliederpartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 III. Einzelne Rechte des (potenziellen) Mitglieds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 1. Beitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 a) Grundsatz der Parteienfreiheit: keine Pflicht zur Aufnahme von Mitgliedern 348 b) Einschränkung der Parteienfreiheit durch die Antidiskriminierungsgesetze 349 aa) Equality Act 2010 als zentrales Antidiskriminierungsgesetz . . . . . . . . . 349 (1) Regelungsinhalt des Gesetzes und gerichtliche Durchsetzung . . . . 349 (a) Direct discriminations: ausnahmsweise Rechtfertigung möglich für altersmäßige Beschränkungen und positive Diskriminierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 (b) Indirect discriminations: Rechtfertigung grundsätzlich möglich 352 (c) Prozessuale Geltendmachung von Diskriminierungen durch Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 (d) Stellung der Equality and Human Rights Commission in Bezug auf Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 bb) Anwendbarkeit des Equality Act 2010 auf die Parteien . . . . . . . . . . . . 354 (1) Vereinigungen mit mehr als 25 Mitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 (2) Nur für wahlrechtlich registrierte Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (3) Parteien und das Recht auf „Tendenzreinheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 cc) Beispiele für (un-)gerechtfertigte Diskriminierungen durch Parteien vor Inkrafttreten des Equality Act 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 (1) Zulässige altersmäßige Diskriminierung minderjähriger Parteimitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 (2) Equality and Human Rights Commission gegen BNP: unzulässige Diskriminierung von Mitgliedern durch ethnische Aufnahmekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (3) McAlister v The Labour Party: keine Mitgliedschaft für Nordiren als verbotene Diskriminierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Austritt und Ausschluss von Mitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) Austritt als unilaterale Erklärung des Mitgliedes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) Mitgliederausschluss: Parteienfreiheit zwischen natural justice im Regelfall und Ermessenskontrolle in Extremfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 aa) Pflichten der Partei bei einem Parteiausschlussverfahren . . . . . . . . . . . 374 (1) Redliche Ausübung satzungsgemäßer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . 374
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Inhaltsverzeichnis (2) Die ultra vires-Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 (3) Natural justice und nemo iudex in sua causa am Beispiel der Militant Tendency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 bb) Zwischenergebnis: Demokratisierung des Verfahrens zum Parteiausschluss in der Labour Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 I. Stellung des Parteiführers zwischen Verfassungs-, Wahl-, Parteien- und allgemeinem Vereinsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 1. Verfassungsrechtliche Stellung und Funktion des Parteiführers . . . . . . . . . . . . 389 a) Früher keine Vertretungsbefugnis für die Partei in verfassungsrechtlichen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 b) Gesetzliche Stellung des Parteiführers seit der Verfassungsreform von 1998/ 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Vereinsrechtliche Stellung: Kollegialvorstand oder elective dictatorship möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 II. Wahl des Parteiführers nach Gesetzes- und Verfassungskonventionalrecht . . . . . 393 1. Parteiführerwahl: formelles Vereinsrecht und materielles Verfassungsrecht . . 393 2. Keine anwendbaren spezialgesetzlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 3. Achtung der allgemeinen Gesetze, insbesondere des Equality Act 2010 . . . . . 396 4. Keine Common Law-Regelungen des Wahlverfahrens: u. a. Zulässigkeit von Online-Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 III. Wahl und Abwahl des Parteiführers: parteiübergreifende Grundlagen . . . . . . . . . 398 1. Parteiführer als Premierminister: keine turnusmäßige Wahl in Regierungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 2. Feste Wahlperiode in der Labour Party in Oppositionszeiten: kein formelles Misstrauensvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 3. Keine feste Wahlperiode in der Conservative Party: Vertrauensfrage und Misstrauensvotum möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 IV. Mitgliederbeteiligung bei der Parteiführerwahl in der Labour Party und der Conservative Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. Labour Party . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 a) Vom Fraktionsvorsitzenden zum Parteiführer: Wahl durch die Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 b) Wahl des Parteiführers zwischen 1981 und 2014: Parteimitglieder im Electoral College . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 c) Wahl des Parteiführers seit 2015: one member one vote-Prinzip . . . . . . . . . 409 aa) Satzungsreform 2014: Attraktivitätssteigerung der Partei für Mitglieder und Wähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 bb) Beseitigung der Folgen der diversifizierten Mitgliedschaftsformen . . . 410 (1) Geringe Wahlbeteiligung der Gewerkschafter: Einführung des sog. double opting-in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Inhaltsverzeichnis
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(2) Mehrfachstimme bei Parteiführerwahlen im Electoral College bis 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 cc) Parteiführerwahl 2015 als größte britische Online-Wahl: der unerwartete Wahlerfolg von Jeremy Corbyn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 dd) Parteiführerwahl 2016 vor Gericht und ein erneuter Wahlsieg für Corbyn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 (1) Labour-Parteiführerwahl in Oppositionszeiten: 20-%-Nominierungsquorum auch für den Amtsinhaber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 (2) Zulässigkeit eines Eintrittsstichtages für das aktive Wahlrecht . . . . 420 2. Wahl des Parteiführers in der Conservative Party: von den grey suits zu den grassroots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 a) Auswahl vor 1965: keine formelle Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 b) Wahl ab 1965: nur das 1922 Committee aktiv wahlberechtigt . . . . . . . . . . . 428 c) Wahl – nur ggf. unter Beteiligung der Parteimitglieder – seit Gründung der Partei im Jahr 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 3. Zwischenergebnis: gegenseitige Beeinflussung in der Satzungsentwicklung durch beide großen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Anhang: Parteiführerwahlordnung der Labour Party (2016 und 2015) . . . . . . . . . . . 455
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Sonstige Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Fundstellen parteisatzungsrechtlicher Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Verzeichnis der zitierten Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. Abs. AC Admin AEUV a.F. All ER Anm. d. Verf. App. APSR A.Q. ARPS Art. Artt. ASLEF Aufl. BAME BBC BCLC Bd. BEPR BGB BJPIR B.P. bspw. BVerfG BVerfGE BWahlG c. CA ca. cc. CCP Ch. Ch. D. CJICL cl. CLB CLJ CLP
andere Ansicht am angegebenen Ort Absatz Law Reports, Appeal Cases High Court Administrative Division Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung All England Law Reports Anmerkung des Verfassers Appendix American Political Science Review Advocates’ Quarterly Annual Review of Political Sciences Artikel Artikel Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen Auflage Black, Asian and Minority Ethnic British Broadcasting Corporation Butterworths Company Law Cases Band British Elections and Parties Review Bürgerliches Gesetzbuch British Journal of Politics and International Relations British Politics beispielsweise Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundeswahlgesetz column Court of Appeal circa columns Commonwealth & Comparative Politics Chapter Chancery Division Law Reports Cambridge Journal of International and Comparative Law clause Commonwealth Law Bulletin Cambridge Law Journal Constituency Labour Parties
Abkürzungsverzeichnis CLR Clr Cmnd. Co. CPL CRISPP Deb ders. dies. D.L.J. DLR DUP ECHR E&E EGMR EHRC EHRLR E.H.R.R. EJoCLI EJPR ELJ E.M.L.R. EMRK
25
Columbia Law Review Commonwealth Law Reports Command Paper Company Conveyancer and Property Lawyer Critical Review of International Social and Political Philosophy Debate derselbe dieselbe/n Denning Law Journal Dominion Law Reports Democratic Unionist Party Equality and Human Rights Commission Ellis & Ellis’ Queen’s Bench Reports Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Equality and Human Rights Commission European Human Rights Law Review European Human Rights Reports European Journal of Current Legal Issues European Journal of Political Research Election Law Journal Entertainment and Media Law Reports Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten EMRK-ZProt Zusatzprotokoll zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten eng. englisch EPL European Public Law ESM European Stability Mechanism et al. et alii EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EuZA Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht e.V. eingetragener Verein EWCA Civ England and Wales Court of Appeal (Civil Division) EWCA Crim England and Wales Court of Appeal (Criminal Division) EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWHC England & Wales High Court f. folgende/r/s F. 2d Federal reporter, 2nd series FA The Football Association Ltd. FDP Freie Demokratische Partei ff. fortfolgende franz. französisch F. Supp. Federal Supplement GBP Great Britain Pound GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls
26 GLJ GMC HC Herv. d. Verf. Herv. i.O. HL HLR HM h.M. H.M.S.O. HRH HRLR Hrsg. ICR i. d. R. i.E. i. e.S. i.H.v. IJDL IJPP ILJ ILP ILR insb. IPSR IRA I.R.L.R. i.S. i.S.v. i.w.S. J JC JFS JJ JuS Kap. KAS K.B. lat. LCJ LGL LJ LJ Ch. LLJ L.Q.R. LQR LR Eq LS Gaz R.
Abkürzungsverzeichnis German Law Journal General Medical Council House of Commons Hervorhebung(en) des Verfassers Hervorhebung(en) im Original House of Lords Harvard Law Review His/Her Majesty’s herrschende Meinung His/Her Majesty’s Stationery Office His/Her Royal Highness Human Rights Law Review Herausgeber Industrial Cases Reports in der Regel im Ergebnis im engeren Sinne in Höhe von International Journal of Discrimination and the Law The International Journal of Press/Politics Industrial Law Journal Independent Labour Party Industrial Law Review insbesondere International Political Science Review Provisional Irish Republican Army Industrial Relations Law Reports im Sinne im Sinne von im weiteren Sinne Justice Judiciary Cases (Scotland) Jewish Free School Justices Juristische Schulung Kapitel Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Law Reports, King’s Bench Lateinisch Lord Chief Justice Local Government Lawyer Lord Justice Law Journal, Chancery Lord Justices Law Quarterly Review Law Quarterly Review Law Reports, Equity Cases Law Society’s Gazette
Abkürzungsverzeichnis Ltd. MA MLR MP MR MSFU m.w.N. NEC NGO NICh NIJB No. Nr. NZLR OJLS P.A. p.a. para. paras. PartG PCC P.L. Plc PLP P.P. PPERA 2000 P.Q. P.S. PVS PVV QB Q.B.D. QdR r. R. RCS reg. Rn. R.P.C. RSPCA RuP S. s. SA SASR Sch. S.C.R. SDLP
Limited Massachusetts Modern Law Review Member of Parliament Master of the Rolls Manufacturing, Science and Finance Union mit weiterem/n Nachweis(en) National Executive Committee Non-governmental Organisations High Court of Jusice in Northern Ireland Chancery Division Northern Ireland Judgments Bulletin Number Nummer New Zealand Law Reports Oxford Journal of Legal Studies Parliamentary Affairs per annum paragraph paragraphs Parteiengesetz Parochial Church Council Public Law Public Limited Company Parliamentary Labour Party Party Politics Political Parties, Elections and Referendums Act 2000 The Political Quarterly Political Studies Politische Vierteljahresschrift Partij voor de Vrijheid Queen’s Bench Queen’s Bench Division Queensland Reports rule Rex/Regina Review of Constitutional Studies regulation Randnummer Reports of Patent, Design and Trade Mark Cases Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals Recht und Politik Seite section South Australia South Australian State Reports Schedule Supreme Court Review Social Democratic and Labour Party
27
28 S.J. S.L.T. SNP s. o. sog. SPD ss. s. u. TEU T.L.R. T.S.O. u. a. u. ä. UCLR UK UKEAT UKHL UKIP UKSC US U.S. USA USFLR u. U. v v. VC Verf. vgl. VJHS vol. VVDStRL WA WL W.L.R. ZaöRV z. B. ZParl ZRP z. T.
Abkürzungsverzeichnis Solicitors Journal Scots Law Times Scottish National Party siehe oben sogenannte/r/s Sozialdemokratische Partei Deutschlands sections siehe unten Treaty on European Union Times Law Reports The Stationery Office unter anderem und ähnliche/r/s University of Chicago Law Review United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland United Kingdom Employment Appeal Tribunal United Kingdom House of Lords United Kingdom Independence Party United Kingdom Supreme Court United States United States Reports United States of America University of San Francisco Law Review unter Umständen versus von/m Vice-Chancellor Verfasser(s) vergleiche Valahian Journal of Historical Studies volume Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Written Answers Westlaw Weekly Law Reports Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil
Vorbemerkungen Da es sich bei dem vorliegenden Werk um eine auslandsrechtskundliche Arbeit handelt und der Umgang mit Quellen und Terminologie ein anderer ist als in der deutschen Jurisprudenz üblich, bedarf es einiger einleitender Vorbemerkungen. Soweit nur möglich werden Zitate, insbesondere solche aus Gerichtsentscheidungen, im englischen Original wiedergegeben und im Kontext durch die jeweiligen Ausführungen hierzu erläutert. Auch wird der einer jeder Übersetzung innewohnenden terminologischen Ungenauigkeit, die sich selbst bei dem linguistisch passend empfundenen deutschen Begriff zumindest aus einem anderem (rechts-)kulturellen Begriffsverständnis ergeben kann, die britische Rechtsterminologie soweit nur möglich beibehalten. Einen deutschen Leser mag die hier gewählte Bezeichnung des Parteiführers in der deutschen Sprache an Parteien unrühmlicher Abschnitte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnern. Jedoch entspricht diese der in der deutschen (vergleichenden und auslandkundlichen) Parteienforschung1 verwendeten Bezeichnung und stellt in diesem Fall die wortgetreue Übersetzung des britischen Begriffs des party leader dar, der ebenso im britischen Parteiengesetz verwendet wird.2 Es wäre an dieser Stelle sogar juristisch ungenau in deutscher Sprache von einem Parteivorsitzenden zu sprechen; dieses Amt, das wohl mit party chairman zu übersetzen wäre, existiert nämlich in den britischen Parteien auch. Anders als bei den deutschen Pendants handelt es sich beim party chairman indessen um eine Art Generalsekretär, der für die Organisation der Vorstands- und Parteiarbeit zuständig ist.3 Nicht sinnverändernde Begriffsverkürzungen bleiben hiervon unberührt. So wird die Conservative and Unionist Party4, wie in den Medien und der politischen wie juristischen Literatur üblich, schlicht als Conservative Party bezeichnet. Daneben wird etwa verkürzt vom Vereinigten Königreich (und von Deutschland anstelle von der Bundesrepublik Deutschland) gesprochen. Die staatsrechtlich korrekte Bezeichnung lautet United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland (Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland). Das Vereinigte Königreich umfasst die Landesteile England, Schottland, Wales und Nordirland, s. 2(2) Royal and Parliamentary Titles Act 1927, s. 5 und Sch. 5 Interpretation Act 1978. 1 2 3
(13). 4
Siehe dazu auch Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 12. So in s. 24(1)(a), (2) PPERA 2000. Vgl. Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 Siehe Art. 1 Constitution der Conservative Party.
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Vorbemerkungen
Nicht Teil des Vereinigten Königreichs sind die Kanalinseln und die Insel Man.5 Adjektivisch und adverbial wird in dieser Arbeit für das Vereinigte Königreich von „britisch“ gesprochen, sodass neben Großbritannien auch Nordirland und – im historischen Teil – die gesamte irische Insel mit der heutigen Republik Irland (Unabhängigkeit im Jahre 1921) gemeint ist. Wo es von juristischem Belang ist, wird allerdings von Großbritannien mit den Landesteilen England, Schottland und Wales gesprochen. Gesetze und untergesetzliche Normen werden mit ihrem vollständigen Gesetzesnamen zitiert. Eine Ausnahme wird ob der Häufigkeit der Zitierung und der damit verbundenen Unübersichtlichkeit beim Political Parties, Elections and Referendums Act 2000 gemacht. Dieser wird, wie in der britischen Literatur und Rechtsprechung nicht unüblich, als PPERA 2000 abgekürzt.6 Zu keinen Abweichungen von der britischen Standardzitierweise kommt es etwa bei den Protokollen britischer Parlamentsdebatten, die im Hansard geführt werden und online abrufbar sind.7 Sie werden geführt nach folgendem System: Bezeichnung des Hauses, Debatte vom Tag Monat Jahr Ausgabe Spalte(n) (bspw.: HC Deb 11 March 1975 vol. 888 cc. 291 – 293). Ebenso werden britische Gerichtsentscheidungen nach britischer Methode zitiert. Im Folgenden finden sich allerdings einzig die Entscheidungsbezeichnungen wieder, die in Literatur und Rechtsprechung am verbreitetsten sind.8 So wird etwa der Fall Conservative and Unionist Central Office v James Robert Samuel Burrell (HM Inspector of Taxes)9 nur als Conservative Central Office v Burrell geführt, da er hauptsächlich so in der britischen Literatur wiedergegeben wird.10 Derweil kommt es zu Abweichungen hinsichtlich der Zitierweise von Zeitschriften und anderen Periodika. Freilich finden sich in dieser Arbeit insbesondere solche Quellen aus dem englischsprachigen Raum. Zugleich wird auf Zeitschriftenbeiträge aus dem deutschsprachigen Raum zurückgegriffen. Dies allein zeigt die Notwendigkeit einer einheitlichen Zitierweise, schon um die Übersichtlichkeit zu wahren. Hinzu tritt, dass für die Verfassungs-, Demokratie- und Parteienforschung im Vereinigten Königreich auf Quellen aus den verschiedensten akademischen Disziplinen zurückgegriffen werden muss. Mithin kann nicht wie in den einzelnen Disziplinen üblich zitiert werden. Daher findet folgendes System Anwendung bei
5 Nach s. 50(1) British Nationality Act 1981 sind diese aber staatsbürgerschaftsrechtlich Teil des Vereinigten Königreichs, d. h. ihre Bürger haben die britische Staatsbürgerschaft. 6 Statt vieler Ewing, Cost of Democracy, S. 1. 7 Zu finden unter https://hansard.parliament.uk und für die historischen, archivierten Debatten siehe http://www.parliament.uk/business/publications/hansard/commons/ (beides letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 8 Vgl. Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. XXVI für ebendiese Vorgehensweise. 9 [1982] 1 W.L.R. 522. 10 Statt vieler Ewing, Cost of Democracy, S. 74.
Vorbemerkungen
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Zitaten aus Zeitschriften: Autorennachname(n), Kurztitel des Werkes, Abkürzung der Zeitschrift, Jahrgang, erste Seite, Seite der Fundstelle. Hinsichtlich der satzungsrechtlichen Dokumente11 wird die Terminologie der jeweiligen Partei eingehalten, wenn es spezifisch auf diese ankommt. So heißt die Parteisatzung der Labour Party etwa Rule Book und die der Conservative Party wie der Liberal Democrats Constitution. Werden nur generelle Aussagen getroffen, so wird z. B. von (Partei-)Satzungen gesprochen. Dies gilt mutatis mutandis für die besonderen Bezeichnungen für vertikale und horizontale Gliederungsebenen sowie Postenbezeichnungen innerhalb der einzelnen Parteien. Hinsichtlich der Verfügbarkeit, der Veröffentlichung wie auch der Verwendung von parteisatzungsrechtlichen Dokumenten siehe die Verzeichnisse am Ende zu dieser Arbeit.
11 Diese Quellen und ihre Fundorte im Internet finden sich im Verzeichnis sonstiger Materialien bzw. im Verzeichnis der Fundstellen parteisatzungsrechtlicher Materialien.
Einleitung
„[A] party is a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national interest upon some particular principle in which they are all agreed.“ – Edmund Burke (1770)1
I. Wandel der Gesellschaft, der Verfassung und der Parteien In den Parteien spiegelt sich der stetige Wandel der Gesellschaft. Mit der gemeinhin bekannten Erosion sozioökonomischer und religiöser Milieus – und neuerdings mit den Möglichkeiten des Web 2.02 – ist in zahlreichen westlichen Demokratien3 eine neue Partizipationskultur entstanden.4 Dies gilt etwa für das Ver1 Burke, Thoughts, in: Langford (Hrsg.), Edmund Burke, S. 241 (317). Der irisch-britische Philosoph und Politiker der Aufklärung, Edmund Burke, sprach in seiner im Jahr 1770 erschienenen Schrift „Thoughts on the Cause of the Present Discontents“ erstmals das Konzept von (parlamentarischen) Parteien an und definierte sie gleichsam erstmalig. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil er die Parteien als soziale und politische (Massen-)Phänomene positiv bewertete. Anders zu dieser Zeit statt vieler der erste Präsident der USA, George Washington: „Let me now take a more comprehensive view and warn you in the most solemn manner against the baneful effects of the Spirit of Party.“ So in seiner Farewell Address vom 19. September 1796, zitiert nach Gardner, Can Party Politics Be Virtuous?, CLR 2000, S. 667 (667 f.). 2 Zur Begriffserklärung siehe Schmitt, in: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 3 Rn. 125 f.: „Web 2.0 ist ein Schlagwort, das für eine Reihe interaktiver und kollaborativer Elemente des Internets, speziell des World Wide Webs, verwendet wird.“ Und: „Die Inhalte werden nicht mehr nur zentralisiert von großen Medienunternehmen erstellt und über das Internet verbreitet, sondern auch von einer Vielzahl von Nutzern, die sich mit Hilfe sozialer Software zusätzlich untereinander vernetzen.“ Für die politische Nutzung in Deutschland etwa Kersten, Schwarmdemokratie, JuS, 2014, 673 ff. passim. Und für diese Nutzung im Vereinigten Königreich siehe Dunleavy/Kippin, Political Input Processes, in: Dunleavy/Taylor (Hrsg.), 2017 Audit of UK Democracy, S. 45 (59): „The conventional wisdom of ,parties in decline‘ does not now fit the recent history of the UK well, with some membership levels growing, and others fairly stable. Some ,new party‘ trends emerged (for a while) within Labour and the SNP, utilizing different, more digital ways of mobilising and stronger links to parts of civil society. Internal party elections of most key candidates (not leaders) are generally stronger now than in earlier decades (except within UKIP). So parties are not yet just the selfserving ,cartels‘ that critics often allege.“ 3 Vgl. für eine Erklärung des Begriffs der „western liberal democracy“ im Zusammenhang mit der Beteiligung der Bürger Parvin/McHugh, Defending Representative Democracy, P.A. 2005, S. 632 (632). Neben den politischen Grundrechten ist das „right of citizens to participate in the process of law making […] a central feature of democratic systems“.
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einigte Königreich5 wie auch für Deutschland. Eine neue Partizipationskultur heißt auch, dass die traditionelle Form des bürgerschaftlichen Engagements ein Stück weit untergegangen ist. Denn anders als dies im 20. Jahrhundert weithin üblich war, engagieren sich heutzutage viele Bürger nicht mehr dauerhaft in Vereinen und Verbänden, Kirchen oder eben in den Parteien.6 Vielmehr hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Bereitschaft zu einem eher punktuellen Engagement bei gesellschaftlichen und politischen Themen entwickelt, für das sich direktdemokratische Verfahren besonders gut zu eignen scheinen.7 Auf staatlicher Ebene wurden im Vereinigten Königreich allein in den Jahren 2014 bis 2016 zwei Volksentscheide zu existenziellen Fragen der Staatsorganisation – der Unabhängigkeit Schottlands und der Mitgliedschaft in der EU – durchgeführt. Diese Volksentscheide sind Ergebnis von politischen und rechtlichen Reformen. Sie sind Teil eines Wandels des Verfassungsrechts und damit des Staates, indem sie bisher repräsentativ durchgeführte politische Willensbildungsprozesse ergänzen und teilweise ersetzen. In der Parteiendemokratie8, als welche jede westliche Demokratie gilt, stellen die politischen Parteien schlechthin die Verbindung zwischen Gesellschaft und Staat dar (sog. Linkage-Modell9). Die zentrale Funktion der Parteien ist es, den politischen Willen und das entsprechende Personal aus der Gesellschaft in den Staat zu trans4
Vgl. für Deutschland nur Kersten, Reformperspektiven, in: KAS (Hrsg.), Analysen, S. 1. Vgl. Gordon Brown, späterer Premierminister, im Jahre 1992 im Rahmen eines Projekts der Fabian Society unter dem Titel „Making Mass Membership Work“: „In the past, people interested in change have joined the Labour Party largely to elect agents of change. Today they want to be agents of change themselves“, zitiert nach Bogdanor, Constitutional Reform, P.Q. 2011, S. S53 (S60) [sic!], Herv. d. Verf. 6 Vgl. statt vieler dazu Morlok, Probleme des Parteienrechts, in: v. Alemann/ders./Roßner (Hrsg.), Politische Parteien in Frankreich und Deutschland, S. 71 (81). Für eine empirische Analyse der Situation vor allem junger Menschen und politischer Parteien im Vereinigten Königreich siehe Hay, Why We Hate Politics, S. 1. 7 Zur allgemeinen Entwicklung um die modernen Kommunikationsmittel und dem dadurch gestiegenen demokratischen Anspruch der Bürger sowie speziell zu E-Mail-Abstimmungen in Parteien nur Morlok, Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (56 ff., 59). Siehe insgesamt zur Herausbildung einer Mediendemokratie Bieber, Mediendemokratie, Herb/Hidalgo (Hrsg.), Demokratie, S. 61 (65 f.), der u. a. neben Online-Wahlen und Online-Gesetzgebungsverfahren auch Online-Parteigliederungen als eine Möglichkeit der Weiterentwicklung der Demokratie sieht. 8 Vgl. zu den Unklarheiten über diesen Begriff, der zahlreichen Definitionsversuche und mit einem eigenen Definitionsversuch Wiesendahl, Parteiendemokratie, in: Niedermayer/ Höhne/Jun (Hrsg.), Abkehr von den Parteien?, S. 9 (10): „Dabei stellt die Parteiendemokratie eine durch institutionelle Arrangements strukturierte repräsentativdemokratische Herrschaftsordnung dar, die den Parteien im Sinne der ,primacy of party‘ […] eine Schlüsselstellung […] einräumt.“ 9 Dies ist das sog. Linkage-Modell. Konzeption und Begriff stammen von Lawson, Political Parties and Linkage, in: dies. (Hrsg.), Political Parties and Linkage, S. 3 passim; in Deutschland wird dieser etwa bei Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, § 5 Rn. 232 verwendet. 5
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portieren.10 Der politische Willensbildungsprozess in Sachfragen wie in der Personalauswahl beginnt demzufolge gemeinhin in den Parteien. Innerhalb der Parteien wiederum findet er seinen Ursprung in den zur gesellschaftlichen Sphäre gehörenden außerparlamentarischen Parteiorganisationen. Das Volk legitimiert schließlich die von den Parteien vorausgewählten Kandidaten für staatliche Ämter durch den öffentlich-rechtlichen Wahlakt. Somit vermitteln Parteien Personal und Politik über die Volksvertretungen von der gesellschaftlichen in die staatliche Sphäre.11 Bereits in den 1950er Jahren stellte Ernst Fraenkel die These auf, dass sich das westliche Modell der repräsentativen Demokratie nur dann entfalten und dauerhaft erhalten könne, wenn innerhalb der Parteien den plebiszitären Kräften ausreichend Spielraum gewährt werde.12 Heutzutage wird diese Forderung von zahlreichen Parteien- und Demokratieforschern aus der Rechts-13, vor allem aber aus der Politikwissenschaft14 erhoben. Diese (Re-)Vitalisierung des Binnenlebens der Parteien dient auch als Mittel zur Sicherung der repräsentativen Demokratie im Staate. Damit kann durchaus gesagt werden, dass der Wandel der Parteien und jener der Verfassungen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Diesem Wesen der Parteiendemokratie folgend setzen basisdemokratische Verfahren bereits in den Parteien an. Hiermit ist der zentrale Aspekt dieser Arbeit angesprochen: der Wandel der Parteien bzw. in den Parteien.
10
Die Staat-Gesellschaft-Dichotomie besteht im Vereinigten Königreich nicht so wie sie konzeptionell in anderen Staats- und Gesellschaftsordnungen vorhanden ist. Ein Grund für die fehlende Dichotomie ist die fehlende Verfassungskodifizierung. So merkte Sedley LJ in A v Head Teacher and Governors of Lord Grey School [2004] EWCA Civ 382 (para. 3), an, dass „the law of England and Wales does not know the state as a legal entity“. 11 In zahlreichen Rechtsordnungen wurden Funktionskataloge der Parteien durch die juristische und politikwissenschaftliche Literatur wie auch durch die Rechtsprechung entwickelt. Daher variiert die Anzahl und Unterteilung der Funktionen. Elmar Wiesendahl etwa nennt 18 Funktionen (Wiesendahl, Parteien und Demokratie, S. 188). Für die Parteien im Vereinigten Königreich benennt Keith Ewing nur drei Funktionen: „[T]hey organise, they represent, and they govern.“ So Ewing, Funding of Political Parties, S. 1 ff. Siehe auch den Überblick für die verschiedenen Funktionskataloge im internationalen Kontext bei Morlok, Zukunft, in: Tsatsos/ Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (40 ff.). 12 Fraenkel, Verfassungsstaat, in: ders. (Hrsg.), Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 113 (151). 13 Für Deutschland nur Kersten, Reformperspektiven, in: KAS (Hrsg.), Analysen, S. 1; v. Arnim, Gemeinwohl, ZRP 2002, S. 223 (227, 330); ausdrücklich ablehnend aber Stolleis, Parteienstaatlichkeit, in: VVDStRL (Hrsg.), Bd. 44, S. 35 m. w. N. auf die grundlegenden Werke zur Binnendemokratisierung der Parteien. 14 Grundlegend für Deutschland etwa Abendroth, Innerverbandliche Demokratie, PVS 1964, S. 307 passim. Siehe vergleichend mit dem Vereinigten Königreich Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 151 ff.
Einleitung
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II. Party change statt party decline In Deutschland wird seit den 1980er Jahren in der breiten Fach- und allgemeinen Öffentlichkeit von einer Politik-, Politiker-, ja einer Parteienverdrossenheit gesprochen. Im englischen Sprachraum hat sich ebenfalls seit den 1980er Jahren für dieses, im akademischen Diskurs festgestellte, Phänomen der Begriff des decline of parties15, des Niedergangs der Parteien, etabliert. Ein Symptom dieses Verdrusses seien die massiv sinkenden Mitgliederzahlen der Parteien.16 Mit den oben skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen geht also, soweit die These, die Abstinenz vieler Menschen von einer Parteimitgliedschaft einher.17 In der heutigen Zeit noch von dem daraus abgeleiteten, vor einigen Jahrzehnten prophezeiten Niedergang der Parteien zu sprechen, würde gleichwohl weder der verfassungsrechtlichen noch der verfassungsrealen Situation in der westlichen Welt gerecht.18 Die Parteiendemokratie 15
Vgl. zum Begriff nur v. Beyme, Parteien im Wandel, S. 10 ff. Kritisch zu dieser apologetischen Niedergangsthese anhand einer Analyse des Mitgliederschwundes in Europa äußern sich Schmitt/Holmberg, Political Parties in Decline?, in: Klingemann/Fuchs (Hrsg.), Citizens and the State, S. 95 (122): „As we are sceptical about sweeping theories of this grandeur and remain faithful to an old and wise rule in political science, we refrain from trying to foretell the future. We suspect, however, that political parties will prove to be far more tenacious than many expect.“ Speziell zu der These im Vereinigten Königreich siehe etwa Dunleavy/Kippin, Political Input Processes, in: Dunleavy/Taylor (Hrsg.), 2017 Audit of UK Democracy, S. 45 (59). 16 Siehe für einen europäischen Überblick van Biezen/Mair/Poguntke, Decline of Party Membership, EJPR 2012, S. 24 passim; ferner auch van Biezen/Poguntke, Membership-based Politics, P.P. 2015, S. 205 (206): „At the turn of the twenty-first century, the average ratio of party membership to the electorate across (old and new) European democracies hovers around 5 percent […]. In 1980, by contrast, an average of almost 10 percent of the electorates of the older democracies was affiliated to a political party, and at the beginning of the 1960s the average party membership ratio stood at almost 15 percent.“ Konkret für Deutschland waren einstmals, im Jahre 1970, ca. 5 % der Wahlberechtigten Parteimitglieder. Im Jahre 2013 waren es nur noch ca. 2 %. Selbst in dem von einer hohen Politisierung geprägten Bundestagswahljahr 2013 lag der Verlust von Mitgliedern aller Parteien immer noch bei 0,9 %, während für das Vorjahr ein Verlust von nahezu 3 % evaluiert wurde, so Niedermayer, Parteimitgliedschaften, ZParl 2014, S. 416 (416). Fu¨ r eine profunde Analyse der Daten seit 1946 siehe ders., Parteimitgliedschaften, in: ders. (Hrsg.), Parteienforschung, S. 147 passim. Im Vereinigten Königreich sehen die Zahlen ähnlich aus. Ein Überblick über die einzelnen Parteien in Leach/Coxall/ Robins, British Politics, S. 95. Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 4: Im Jahr 2015 waren ca. 1 % der Wahlberechtigten Mitglied in einer der drei großen Parteien, das waren 0,2 % mehr als der historische Tiefstand des Jahres 2013, jedoch 2 % weniger als noch im Jahr 1983 (3,8 %). Alle zitierten Autoren weisen darauf hin, dass es zwischen den Parteien massive Unterschiede im Auf und Ab der Mitgliederzahlen gibt, wie auch zwischen den nationalen Parteiensystemen. Dies hat mit der Tradition der bürgerschaftlichen Organisationsformen, dem Wahlrecht und auch aktuellen parteiinternen Entwicklungen, wie etwa der Ausweitung basisdemokratischer Teilhabe, zu tun. 17 Vgl. exemplarisch die Situation von Young Labour im Vereinigten Königreich Berry, Labour’s Lost Youth, P.Q. 2008, S. 366 passim. Siehe für die Situation der Conservative Party zwischen 2005 und 2013 z. B. Conservative Membership Has Nearly Halved Under Cameron, BBC News, 18. September 2013 (Internetquelle). 18 So auch für westliche Parteiensysteme v. Beyme, Parteien im Wandel, S. 10 f., 191 ff., mit der Erklärung vom Wandel der Parteien vom Typus der Massenpartei über den der Volkspartei
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existiert realiter weiter und stellt dabei das politische Spiegelbild jenes verfassungsrechtlichen Leitbildes dar. Der Politikwissenschaftler und Parteienforscher Klaus v. Beyme bringt es auf den Punkt: Existierten die(se) Parteien nicht, so müssten sie erfunden werden.19 Vielmehr sieht v. Beyme, wie zahllose andere Parteienforscher, die Notwendigkeit zur Reform der Parteien. Diesen Rufen nach Reformen sind Parteien in den letzten Jahren gefolgt, wie in dieser Arbeit anhand der britischen Parteien gezeigt wird. Demnach ist ungeachtet des Faktums des Verlusts eines größeren Teils der mitgliedschaftlichen Basis der Parteien eher von einem party change20 zu sprechen. Der Wandel der Parteien, von dem diese Untersuchung ausgeht, findet in vielen westlichen Parteiensystemen statt. Entscheidende Grundlage dafür ist, dass nicht nur die Parteiendemokratie in Recht und Realität fortexistiert, sondern darüber hinaus auch das Leitbild der Mitgliederpartei normatives und politisches Ziel der allermeisten21 Parteien, respektive der allermeisten nationalen Parteienrechtsordnungen ist. Wie bereits angedeutet, begegnen einige Parteien dem seit Jahrzehnten fortschreitenden Verlust ihrer Mitglieder – und damit ihres personellen Substrats, das sie als Vereinigung22 von Bürgern benötigen – durch konkrete Maßnahmen. Im Vereinigten Königreich etwa wurde die Beteiligung von Mitgliedern und bisweilen sogar von Nichtmitgliedern an Kandidaten- und Parteiführerwahlen ausgeweitet oder teilweise überhaupt eingeführt. Letztlich steht dahinter das oben beschriebene Ziel im fraenkelschen Sinne, nämlich die von den Parteien selbst getragene repräsentative Demokratie zu stabilisieren. bis hin zur professionalisierten Wählerpartei der Berufspolitiker. Für Deutschland ders., Parteienforschung, in: Krüper/Merten/Poguntke (Hrsg.), Parteienwissenschaften, S. 9 (23) m. w. N.; ebenso Niedermayer, Keine Parteienverdrossenheit, aber Parteienkritik, in: ders./ Höhne/Jun (Hrsg.), Abkehr von den Parteien?, S. 45 (61). 19 v. Beyme, Parteien im Wandel, S. 12; grundlegend dazu der amerikanische Politologe Elmer Schattschneider im Jahre 1942: „[P]olitical parties created democracy and that modern democracy is unthinkable save in terms of the parties.“ Schattschneider, Party Government, S. 1. 20 Eine Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen aus der Politikwissenschaft bei Wiesendahl, Party Change-Forschung, in: Gehne/Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel, S. 92 passim. Auf die näheren Konzeptionen des Wandels der Parteien soll hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur auf die berühmte Kartellparteien-These der beiden Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair verwiesen, nach der die Parteien ihre schwindende gesellschaftliche Verankerung durch neue staatliche Ressourcen zu schließen suchen und dabei die existierenden Parteien quasi mit dem Staat verschmelzen (Katz/Mair, Changing Models of Party Organization, P.P. 1995, S. 5 passim). Kritisch dazu Detterbeck, Wandel politischer Parteien, passim. 21 Sieht man von den wenigen größeren Parteien ab, die wie die niederländische PVV nur ein Mitglied haben (dies ist ihr Gründer Geert Wilders), denn bei diesen stellt sich die Frage der innerparteilichen Demokratie a priori nicht. Siehe statt vieler Carty, Meant to be Internally Democratic?, in: Katz/Cross (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 11 (20) m. w. N. 22 Zum Mitgliederverlust im europäischen Vergleich van Biezen/Mair/Poguntke, Decline of Party Membership, EJPR 2012, S. 24 passim.
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Vor dem Hintergrund des in diesem Kontext zu sehenden Linkage-Modells wird parteiinterner direktdemokratischer Einfluss heute sowohl in der Programmformulierung als auch in der Aufstellung von Kandidaten zu staatlichen Wahlen, insbesondere zu Parlamentswahlen, ausgeübt. Selbiges gilt für parteiinterne Wahlen des Spitzenpersonals, der Vorstände und Spitzenkandidaten.23 Bei der Sondierung neuer Beteiligungsmöglichkeiten für Parteimitglieder (und ggf. für Parteifremde) wird nicht selten auf die Erfahrungen der Parteien und des Parteienrechts anderer Staaten rekurriert. Nicht überraschend ist, dass auch deutsche Politikwissenschaftler, Parteienrechtler und Praktiker hierfür oftmals Rat bei den Parteien und den Parteirechtsordnungen der drei großen westlichen Demokratien – der USA, Frankreichs und auch des Vereinigten Königreichs – suchen.24
III. Britische Parteien als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft In der vorliegenden Arbeit wird der Fokus auf das zuletzt genannte Vereinigte Königreich gelegt, denn dieses bietet sich aus mannigfaltigen Gründen für eine Analyse der innerparteilichen Demokratie aus Sicht eines Juristen an: Zunächst gilt das Vereinigte Königreich als das Mutterland des modernen Parteienwesens und des Parlamentarismus, was auch und gerade deutsche Verfassungsjuristen wertzuschätzen wissen.25 Dabei wirkt die Organisationsgeschichte der drei großen britischen Parteien – der Conservative Party26, der früheren Liberal Party27 bzw. der heutigen Liberal Democrats sowie der Labour Party28 – prima vista als nicht besonders alt und lang. Die drei Parteien entstanden in ihrer heutigen Form als Mas23 Vgl. aber Schattschneider, für den „[t]he nominating process has become the crucial process of the party. He who can make the nominations is the owner of the party“. Schattschneider, Party Government, S. 101. 24 Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 151 ff.; v. Arnim, Wahl ohne Auswahl, ZRP 2004, S. 115 (115 f.); ders., Gemeinwohl, ZRP 2002, S. 223 (227, 330). Für einen rechtsvergleichenden Vorschlag mit Blick auf Frankreich siehe Steinberg, Direkte Demokratie, ZParl 2014, S. 402 (413 ff.). Unter dem Axiom, dass der Entwicklungsgrad der innerparteilichen Demokratie abhängig ist vom Grad der Dezentralisierung, galten die USA lange als der benchmark für andere westliche Demokratien. So verfügen sie bereits lange über dezentrale Kandidatenaufstellung und Vorstandswahlen, die von einer dezentralen Parteienfinanzierung eingerahmt werden. Erklärungen dafür werden in der Größe des Landes, dem Förderalismus und der Gewaltenteilung gefunden, so etwa v. Beyme, Parteien im Wandel, S. 155 m. w. N. 25 Vgl. die besondere Würdigung des Vereinigten Königreichs für das Entstehen der Institution der politischen Parteien etwa von Klein, in: Maunz/Du¨ rig (Hrsg.), GG, Art. 21, Rn. 27 ff. 26 Siehe Art. 1 Constitution of the Conservative Party. 27 Diese fusionierte im Jahre 1988 mit der Social Democratic Party zu den Liberal Democrats. Zur Bezeichnung als Liberal Democrats siehe Art. 1 para. 1.1 der Federal Constitution. 28 Ch. 1 cl. I. 1. Labour Party Rule Book.
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senmitgliederparteien erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damit sind sie nicht viel älter als die SPD. Das Interesse an den britischen Parteien wird aber dadurch geweckt, dass ihre Wurzeln Jahrhunderte weiter zurückreichen, als dies in anderen Nationen der Fall ist. Im ausklingenden 17. Jahrhundert haben sich erstmalig Parlamentsparteien, also Fraktionen im britischen Parlament,29 entwickelt. Dies geschah in jenem Parlament, das eines der am längsten ununterbrochen zusammentretenden Parlamenten der Welt ist. Außerdem waren es die britischen Parteien – in Form der Liberal Party – die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten dauerhaft existierenden und binnendemokratischen Massenorganisationen außerhalb eines Parlaments gründeten. Gleichzeitig fehlt es im Vereinigten Königreich an einer kodifizierten Verfassung. Parteien, Parlament und Verfassung und ihr jeweiliger Wandel in der Vergangenheit haben sich in gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt. Dabei haben die Parteien den Weg von der elitären Kaderorganisation hin zur innerparteilich demokratisch organisierten Massenmitgliederpartei über die Zeit vollzogen. Doch dabei behielt die Conservative Party bis in das 20. Jahrhundert hinein ihren ursprünglichen und unveränderten elitär-aristokratischen Charakter. Dies äußerte sich etwa in den fehlenden satzungsrechtlichen Regeln zur Wahl des Parteiführers, die überhaupt erst 1965 eingeführt wurden. Bedenkt man, dass qua Verfassungskonventionalregel30 der Parteiführer der stärksten Partei auch Premierminister wird, so ergeben sich hieraus interessante Fragestellungen für die innerparteiliche Demokratie, die sich nur vor dem politisch- und rechtlich-evolutiven Hintergrund dieses politischen Systems überhaupt verstehen lassen. Insofern sind auch die heutigen Veränderungen im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit des Vereinigten Königreichs zu berücksichtigen. Das Land befindet sich seit dem Beginn der Verfassungsreformen unter Premierminister Tony Blair Ende der 1990er Jahre in einem Prozess der Regionalisierung31 des bisherigen britischen Einheitsstaates. Dieser Prozess wird in britischer Diktion devolution genannt. Dieser ist, auch im Lichte der Bestrebungen Schottlands nach dem sog. BrexitReferendum 2016 um Zuweisung von mehr Kompetenzen, wenn nicht gar nach Unabhängigkeit, noch längst nicht beendet.32 Die devolution, die insbesondere – aber 29 Das britische Parlament besteht nicht nur aus dem House of Commons und dem House of Lords, sondern auch aus dem Monarchen. Allgemein wird jedoch von einem bikameralen Parlament gesprochen, da es so international besser zu vergleichen ist. Dass der Monarch auch Teil des Parlaments ist, drückt Yardley, British Constitutional Law, S. 11, treffend aus: „[I]t is strictly correct to consider all three elements as part of the whole, for no legislation can come into being without the participation of the monarch.“ 30 Die deutsche Terminologie für constitutional conventions ist nicht einheitlich. Eine Übersetzung als Konvention wäre verwirrend, da sie die juristische Bedeutung im britischen Verfassungsrecht ignoriert. Aus dem Grunde wird in dieser Arbeit der Begriff der Verfassungskonventionalregel verwendet, vgl. auch Meyn, Verfassungskonventionalregeln, S. 2 f. 31 Dazu grundlegend v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, passim. 32 Siehe hierzu nur die Berichterstattung unter dem Titel David Mundell: Brexit will ,Change‘ UK Devolution, BBC News, 12. Oktober 2016 (Internetquelle).
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nicht ausschließlich – die Legislativkompetenzen der regionalen Volksvertretungen betrifft, ist eingebettet in eine umfassende Reform der Staatsorganisation. Diese ist freilich auch Grund für Reformen der Parteiorganisationen der großen britischen Parteien auf nationaler und regionaler Ebene.33 Insgesamt vermag der geneigte Zeitungsleser in Deutschland die von britischer Partei zu Partei bisweilen extrem variierenden Konzepte der innerparteilichen Demokratie zu verfolgen: ob in der Nominierung von Kandidaten für Wahlen (man denke etwa an die Primaries34 [Vorwahlen] in der Conservative Party bei den Nominierungen zur Wahl zum House of Commons 2010 und 2015) oder in der unterschiedlich großen Einbeziehung der Mitglieder in die Neuwahl der Parteiführer der Conservative Party oder der Labour Party nach dem sog. Brexit-Referendum im Jahr 2016. Es gibt zahlreiche jüngere Entwicklungen des britischen Parteienwesens, die international, allgemein medial betrachtet und auch akademisch rezipiert wurden. Martin Morlok stellt in Anlehnung an Joseph Schumpeter35 fest, dass Parteienrecht nichts anderes als Wettbewerbsrecht ist.36 Das gesetzliche Parteienrecht gewährleistet dabei nur den normativen Rahmen, um Chancengleichheit zwischen den Parteien zu erreichen. Das Parteiinnenrecht setzt die Mittel fest, die eine jede Partei im Wettbewerb um die knappe Ressource von Parteimitgliedern wählt. Dieser Wettbewerb ist hart und potenzielle Parteimitglieder versprechen sich heute mehr als früher einen konkreten Mehrwert durch ihre Mitgliedschaft. Ging es früher, es sei an die obigen Worte des zwischenzeitlichen Premierministers Gordon Brown erinnert, vor allem um die Teilhabe an der Auswahl politischen Personals auf lokaler Ebene sowie um einen Informationsvorsprung in der notorisch zeitunglesenden und daher im Prinzip auch ohne Parteimitgliedschaft gut informierten britischen Gesellschaft,37 so hat sich eben dies heute gewandelt. Der Mehrwert eines parteipolitischen Engagements äußert sich heute in der Möglichkeit zur Mitgestaltung von Politik und Wahlen. Dies zeigte sich im Vereinigten Königreich etwa bei der ersten basisdemokratischen Wahl des Parteiführers der Labour Party, Jeremy Corbyn, dessen parteiinterner Wahlkampf im Jahr 2015 zu einem lang ersehnten Zuwachs an Mitgliedern – konkret von über 100.000 – führte. 33 Für einen gesamten Überblick zur devolution und ihrer Auswirkungen auf die Parteien siehe Hopkin/Bradbury, British Statewide Parties, Publius 2006, S. 135 passim. Vgl. speziell für die Entwicklung der Conservative Party in Schottland Convery, Scottish Conservative Party Leadership Election, P.A. 2014, S. 306 passim. 34 Zum Begriff der Vorwahlen im US-amerikanischen Recht bei Henkel, Auswahl der Parlamentsbewerber, S. 43 m. w. N. 35 Vgl. für die Demokratie als Wettbewerb Schumpeter, Kapitalismus, S. 428. 36 So auch Brettschneider, Ökonomische Theorie, S. 49 f., welcher die innerparteiliche Demokratie für keine notwendige Bedingung für einen modernen zwischenparteilichen Wettbewerb hält. Zu innerparteilicher Demokratie als Mittel des Wettbewerbs siehe Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 26 m. w. N.; ders., Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (53, 56 ff.). 37 Siehe historisch Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. XXVII und für das Zitat Browns s. o. Fußnote 5.
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Bei der Wiederwahl Corbyns nach dem sog. Brexit-Votum im Jahr 2016, das in allen Parteien zu Führungswechseln führte, kam es nicht nur zu juristisch höchst interessanten innerparteilichen Streitigkeiten, die sogar vor Gericht gebracht wurden, sondern bei der Labour Party unter dem basisdemokratischen Wahlmodus zu einem erneuten Wachsen der Mitgliederanzahl von erneut über 100.000 Personen. Die neue Parteiführerin der Conservative Party und Premierministerin von 2016 bis 2019, Theresa May, wurde hingegen nur von den Mitgliedern der konservativen Fraktion aus dem House of Commons gewählt – um zum Votum aller Parteimitglieder zu kommen, hätten sich mindestens drei Kandidaten der Auswahl durch die Fraktion stellen müssen. Führende Mitglieder der konservativen Fraktion im House of Commons haben inzwischen angekündigt, sich für eine Parteireform einzusetzen, um die Parteimitglieder nicht weiter an der Entscheidung um die Parteiführerwahl zu beteiligen. Letztlich wollen die Parteiführungszirkel damit einen „Jeremy Corbyn of the right“38, also einen von den Mitgliedern, aber nicht von der Parteiführung unterstützten Kandidaten, verhindern. Allerdings war die Conservative Party mit ihrem damals geltenden Satzungsrecht die erste und einzige Partei, die bei den Nominierungen für die Wahlen zum House of Commons im Jahre 2010 und 2015 ihren Wahlkreisvereinigungen die Option bot, offene oder geschlossene Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild durchzuführen oder die traditionelle Nominierung unter Einbeziehung der Parteizentrale beizubehalten. In der Labour Party wiederum erstarkte nach der Wiederwahl von Corbyn auch der Ruf nach einer erneuten Reform des Parteisatzungsrechts. Damit sollen die registered supporters wieder von der Wahl des Parteiführers ausgeschlossen werden.39
IV. Fehlende Bearbeitung des Rechtsproblems der innerparteilichen Demokratie Soweit es die politische Aktualität des Themas betrifft, spricht auf den ersten Blick einiges dafür, den Politologen dieses Forschungsfeld zu überlassen. Dies war auch eine lange Zeit im Vereinigten Königreich und in anderen Ländern so.40 Während das deutsche Parteienrecht als gut erforscht gilt, hat das britische eine solche Beachtung nicht erfahren. Dies mag daran liegen, dass Deutschland mit seinem umfassenden einfachgesetzlichen Parteienrecht und seiner im internationa-
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Zitiert nach Wright, Strip Grassroots of Powers, The Times v. 3. September 2016, S. 2. Vgl. Labour’s NEC Fails to Agree How Shadow Cabinet Should Be Formed, BBC News, 20. September 2016 (Internetquelle). 40 Vgl. nur van Biezen, Constitutionalizing Party Democracy (Internetquelle), S. 2 m. w. N. Dies lag auch daran, dass die Parteien lange Zeit in vielen Verfassungsordnungen unreguliert waren. 39
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len Vergleich frühen verfassungsrechtlichen Anerkennung als „heartland of party law“41 in der internationalen Parteienforschung gilt. Der britische Gesetzgeber führte erst in den Jahren 1998 und 2000 Parteiengesetze ein. Bis heute ist das Parteienrecht umfassend im PPERA 2000 geregelt. Im Wesentlichen stellt dieser, wie noch ausführlich gezeigt wird, ein Parteienfinanzierungsgesetz dar. Welche Annahmen und Intentionen dem Gesetz zugrunde liegen hinsichtlich der inneren Ordnung der Parteien, ist daher zu untersuchen. Hierbei ist festzuhalten, dass der vom Vereinigten Königreich am Ende des letzten Jahrhunderts eingeschlagene Weg der Verrechtlichung des Parteienwesens zunächst ein Instrument darstellt, um Demokratie und Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen den Parteien zu sichern. Jedoch darf der Prozess der Verrechtlichung im Vereinigten Königreich wie andernorts durchaus weiter, nämlich als ein Indikator dafür verstanden werden, dass die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Sachverhalte höhere demokratische Ansprüche an den politischen Willensbildungsprozess stellt.42 Obwohl die britischen Parteien innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens des Vereinigten Königreichs existieren, sich organisieren und operieren, hat die britische Rechtswissenschaft die Parteien und das Parteienrecht insgesamt für eine lange Zeit nicht bzw. nicht ausführlich gewürdigt.43 Darauf weist der Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler Vernon Bogdanor im Jahre 2004 in einem Aufsatz hin. Grund dafür war, dass sein kurz zuvor veröffentlichtes Lehrbuch mit dem Titel „The British Constitution in the Twentieth Century“ gänzlich ohne ein Kapitel zum Parteiwesen auskam.44 Die britische Verfassung war lange Zeit schlicht keine Rechtsquelle für das Parteienrecht.45 In einer gewachsenen liberalen Demo41 „Despite the increased relevance of the constitution for the place of political parties in modern democracy, the process of party constitutionalization and its implications have received little systematic scholarly attention from political scientists or constitutional lawyers. Germany, the ,heartland of party law‘ forms a possible exception.“ So van Biezen, Constitutionalizing Party Democracy (Internetquelle), S. 2 m. w. N. auf Müller/Sieberer, Party Law, in: Katz/Crotty (Hrsg.), Handbook, S. 435 (435 f.). 42 So Morlok in seinem mündlichen Beitrag zu v. Alemann/Morlok/Roßner (Hrsg.), Diskussion, Politische Parteien in Frankreich und Deutschland, S. 86 (91 f.). 43 Zu Common Law-Jurisdiktionen insgesamt Gauja, Political Parties and Elections, S. 2 ff.; van Biezen, Constitutionalizing Party Democracy (Internetquelle), S. 2; mit Bezug auf die britische Verfassungsrechtslehre Janda, Political Parties, S. 5 f. 44 Und das, wohlgemerkt, obschon das Buch anlässlich des 100. Geburtstages der British Academy erschien. So Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (718): „[I]t is perhaps because the law has been so late in recognizing political parties that constitutional lawyers and other writers on the constitution have taken insufficient note of the fact that parties are so central to our constitutional arrangements.“ Eine sehr frühe Ausnahme dazu war Parry, British Government, S. 3 ff. 45 Der britische Verfassungsrechtler Eric Barendt schreibt dazu noch 1998: „One might […] expect constitutions to lay down some framework rules for political parties, at least to prevent them from adopting totalitarian policies and to safeguard the rights of individual members. But constitutions rarely say much about parties, while some have totally ignored their existence. The
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kratie, in der sich Parlament, Parteien und Verfassung gemeinsam entwickelt hatten, bestand kein Regelungsbedarf für die Parteien; nicht einmal für die Anerkennung ihrer Existenz bestand eine Notwendigkeit.46 Somit fanden die Parteien als Organisationen außerhalb des Parlaments etwa in zahlreichen Verfassungsrechtslehrbüchern, kaum47 bis gar keine48 Berücksichtigung. Wenn doch, dann oftmals nur mit Blick auf die Parteienfinanzierung und die rechtlichen Probleme in der Wahlkampfführung, z. B. der Wahlwerbung von Parteien und einzelnen Kandidaten.49 Indessen blieb der juristische Blick auf die parteisatzungsrechtlich interessanten Kandidatenaufstellung, aber auch die Programmformulierung und die Parteiführerwahlen unberücksichtigt. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert, sodass Parteien in der britischen Rechtswissenschaft mehr Aufmerksamkeit genießen. Dies jedoch erfolgt auch überwiegend nur im Lichte des PPERA 2000 als Parteienfinanzierungsgesetz.50 Somit besteht weiterhin Forschungsbedarf für die innerparUnited States Constitution has never taken any notice of them, an attitude which is shared by the uncodified arrangements in the United Kingdom.“ Barendt, Constitutional Law, S.149. 46 Gauja, Political Parties and Elections, S. 3. Es sei an dieser Stelle auf das in dieser Untersuchung noch näher diskutierte, in den 1960er Jahren von der britischen Regierung vorgeschlagene, Registrierungsregime von Parteien verwiesen. Dieses hätte den Parteien Namensschutz verliehen und sie vor spoiler candidates geschützt. Hiergegen regte sich heftiger Widerstand von Verfassungsrechtlern, Politikwissenschaftlern und Politkern. Der Parteienforscher David Butler hielt in The Times der Registrierung von Parteinamen entgegen, „by making the ownership of a party description a justiciable matter, the law is, quite unnecessarily, brought into politics“. Zitiert nach Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (726). 47 So etwa in Yardley, British Constitutional Law, S. 14 f., der nur darauf eingeht, dass die überwiegende Mehrheit der Kandidaten zu den Wahlen für das House of Commons den großen Parteien angehört. Er meint dazu: „But in law, a candidate’s or member’s affiliation to a party is ignored.“ Daneben: „The existence of political parties is, however, apparently assumed by the terms of the Ministers of the Crown Act 1937, and the post of Leader of the Opposition is recognised in that statute“ (a. a. O., S. 15). Auch hier zeigt sich eine Fokussierung auf die Existenz von und Zugehörigkeit zu Parlamentsfraktionen bzw. Parlamentsparteien. 48 Noch im Jahr 1971 schreibt der britische Verfassungsrechtler Stanley De Smith ausdrücklich, Parteien und ihre Funktionen seien kein Thema für ein verfassungsrechtliches Werk. Gleichwohl beschreibt er – deskriptiv und ohne den Parteien eine verfassungsnormative Bedeutung zukommen zu lassen – die Wahl des Parteivorsitzenden. Dabei insbesondere das weiland erst kurz zuvor, im Jahr 1965, aufgehobene discretion (Ermessen) der Krone. Zuvor oblag es ihr insbesondere für die Conservative Party mangels offizieller Parteiführerschaft einen geeigneten Premierminister selbst auszuwählen (De Smith, Constitutional and Administrative Law, S. 260 f.). 49 Eine Ausnahme dazu stellte bereits 1982 die britische Verfassungsrechtlerin Dawn Oliver dar, die in dem bis heute fortgeführten Werk zum Verfassungsrecht mit Jeffrey Jowell – Jowell/ Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution – auf die innerparteilichen Wahlen einging. Erwähnt und zitiert von Loveland, Constitutional Law, S. 208. 50 Von den führenden Verfassungsrechtslehrbüchern widmen etwa Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 ff. den Parteien ein Kapitel. Auch andere Autoren, wie Bogdanor, haben in jüngerer Zeit die Parteien und ihre innere Ordnung juristisch aufgearbeitet. Nach der Koalitionsentscheidung im Jahr 2011 diskutierte auch Blackburn die
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teiliche Demokratie im Vereinigten Königreich: Die Kandidatenauswahl wird bisweilen nur zu konkreten Anlässen besprochen, etwa zu den Primaries in der Conservative Party.51 Lange Zeit galt sie als ein „secret garden of politics“52. Eine generelle rechtliche Konzeption für die Kandidatenauswahl als eine der Kernfragen der innerparteilichen Demokratie ist, soweit ersichtlich, bisher nur von einer juristischen Autorin eingebracht worden.53 Auch der Umfang der Betrachtung der Parteiführerwahlen fällt selbst in größeren Werken zum britischen Verfassungsrecht eher klein aus und nimmt als genereller Überblick meist nur einige Zeilen bis wenige Seiten in Anspruch.54
V. Recht, Realität und Grenzen der Untersuchung Zunächst einmal beschränkt sich der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit auf die Frage der innerparteilichen Demokratie in den beiden großen Parteien: die Labour Party und die Conservative Party. Nur wo es für das Verständnis des britischen politischen Systems notwendig ist, wird auch Bezug auf die kleineren Parteien genommen.55 Aufgrund der thematischen Weite des Rechtsproblems der innerparteilichen Demokratie kann in dieser Arbeit nur auf allgemeine Prinzipien eingegangen werden. Eine Auseinandersetzung mit den konkreten Ausgestaltungen in den Parteisatzungen erfolgt aus ebendiesem Grunde anhand der Parteiführerauswahl. Es betrifft im Kern das Recht der Parteiorganisationen, nicht aber die Aspekte der innerparteilichen Demokratie i. w. S. Im Parlamentsrecht wäre dies etwa die Frage des gebundenen oder freien Mandats. An geeigneter Stelle wird gleichwohl auf die innerparteilichen Entscheidungen zur Koalitionsregierung als satzungsrechtliche und politische Momentaufnahme, siehe Blackburn, The 2010 General Election, P.L. 2011, S. 30 (53). 51 Vgl. grundlegend und ausführlich aus der juristischen Literatur, allerdings in Teilen überholt Blackburn, Electoral System, S. 157 ff.; siehe aus der politikwissenschaftlichen Literatur Alexandre-Collier, Open Garden of Politics, BJPIR 2016, S. 706 passim. 52 „Candidate selection in comparative perspective: the secret garden of politics.“ So lautet der Titel des 1988 erschienenen vergleichenden Werkes zur Kandidatenauswahl unter Herausgeberschaft des Politikwissenschaftlers Michael Gallagher. 53 Siehe etwa für die Einordnung von Kandidatenauswahl als öffentlich-rechtliches oder privatrechtliches Handeln der Parteien unter der Maxime der Verhinderung von Diskriminierungen aufgrund von Rasse und Geschlecht Morris, Parliamentary Elections, S. 101 ff. Sie bezieht sich hierbei auch auf das vorgenannte Werk von Michael Gallagher. 54 Statt vieler hier nur Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 242 ff. 55 Weil das britische Wahlrecht (sog. relative Mehrheitswahl) dazu führt, dass die Wählerschaft auf zwei Parteien polarisiert wird und andere Parteien eliminiert werden, wird auf die Betrachtung anderer Parteien a priori verzichtet. Für den Einfluss des britischen Wahlrechts auf die Herausbildung eines Zweiparteiensystems Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 87 ff.; Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 117 ff. Außerdem würde eine Betrachtung aller Parteien aufgrund der unterschiedlichen Organisationsformen der Parteien zu weit führen. Vgl. hier bereits zum unterschiedlichen Aufbau, aber nach der alten Rechtslage vor 1998/2000, und ohne weitere Begründung Schuster, Großbritannien, in: Wolfrum/Schuster (Hrsg.), Kandidatenaufstellung, S. 93.
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Fragen des Abgeordneten- und Fraktionsrechts eingegangen. So lässt sich anhand der Wahl von Fraktionsvorsitzenden (i. S. d. Parteiführerwahl) erst die Einordnung parteiinterner Entscheidungen in den verfassungsrechtlichen Kontext vornehmen. Klassischerweise dürfen Hinweise auf die Schwierigkeit und die Grenzen des gewählten Themas nicht fehlen. Zunächst soll Anspruch dieser Arbeit nicht sein, den Utopien einer parteienlosen Demokratie zu folgen.56 Ebenso muss darauf hingewiesen werden, dass der Ausgangspunkt dieser Untersuchung der innerparteilichen Demokratie nur der normativ-rechtliche Standpunkt sein kann. Da der Verfasser dieser Arbeit von Hause aus Jurist ist, gebietet dies bereits die wissenschaftliche Aufrichtigkeit. Eine Verengung des Begriffs der Demokratie und speziell der innerparteilichen Demokratie auf eine Les- und Spielart nimmt diese Arbeit ebenso wenig vor. Dass nämlich Demokratie ein interpretationsoffener Rechtsbegriff ist,57 gilt nicht nur für den Begriff innerhalb der Grenzen des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG, sondern gilt in allen politischen Systemen58 der Welt. Parteien werden gemeinhin definiert als Vereinigungen von Bürgern, die der gesellschaftlichen Sphäre angehören und als Vereine im jeweiligen zivilrechtlichen Sinne qualifiziert sind. Dies ist in den meisten westlichen Jurisdiktionen und auch im Vereinigten Königreich so. Daher muss die Ausgestaltung der jeweiligen vereinsinternen Demokratie nach dem Willen der Vereinsmitglieder, freilich im Rahmen der vom Staat gesetzten Grenzen, hier als Grundlage und Grenze der Untersuchung genommen werden. Insoweit werden im Folgenden auch keine neuen demokratietheoretischen Ansätze entwickelt, wie diese oder jene Partei
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Für eine parteienlose Demokratie spricht sich aus Towfigh, Parteien-Paradox, passim. Vgl. Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, § 5 Rn. 254; Morlok, Mehr innerparteiliche Demokratie wagen?, RuP 2012, 65 passim. 58 Unter dem Begriff des politischen Systems versteht die Politikwissenschaft „die Gesamtheit jener staatlichen und außerstaatlichen Einrichtungen und Akteure, Regeln und Verfahren, die innerhalb eines […] abgegrenzten Handlungsrahmens an fortlaufenden Prozessen der Formulierung und Lösung politischer Probleme sowie der allgemein verbindlichen Durchsetzung politischer Entscheidungen beteiligt sind“. So Holtmann, Politisches System, in ders. (Hrsg.), Politik-Lexikon, S. 546 (546 f.). Diese Konzeption umfasst gleichsam das Verfassungsrecht wie die Verfassungswirklichkeit, Staatsform und das Regierungssystem. Doch müssen Staatsform und Regierungssystem nicht nur terminologisch, sondern auch inhaltlich unterschieden werden. Karl Loewenstein zeigt dies am Beispiel des Vereinigten Königreichs in Loewenstein, Monarchie, S. 18: „Es wird häufig, und nicht nur von Laien, mißverstanden, daß Staatsform und Regierungsform nicht dasselbe sind. Ein Staat kann, wie Großbritannien, der Staatsform nach eine Monarchie, der Regierungsform nach eine Demokratie sein, während ein anderer, etwa die Sowjetunion, mit der Staatsform der Republik die Regierungsform der Autokratie oder Diktatur verbindet. Als Staatsform sind Monarchie und Republik weder ,gut‘ noch ,schlecht‘, sondern an sich neutral im Sinne politischer Wertfreiheit.“ Definitionen bei Abromeit/Stoiber, Demokratien im Vergleich, S. 20 ff. Juristisch definiert umfasst der Begriff die in der Verfassung genannten Staatsorgane, während akteurstheoretisch (politikwissenschaftlich) gesehen darunter auch gesellschaftliche Institutionen, etwa die politischen Parteien, fallen (a. a. O., S. 23). 57
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oder gar das britische Parteiengesetz ausgestaltet sein sollte.59 Diese Arbeit fokussiert auf die derzeit geltende Rechtslage im Vereinigten Königreich. Überdies verlangt es das hier gewählte auslandsrechtskundliche Thema, dass die Fragestellung unabhängig von Terminologien und Konzeptionen des deutschen Rechtsverständnisses formuliert und untersucht wird.60 Im Lichte der Vagheit des Begriffs betrachtet ist die konkrete Ausprägung der Demokratie stets von der politischen Kultur einer jeden Nation und jeder Partei abhängig. Keineswegs will damit gesagt sein, dass die Betrachtung der Verfassungswirklichkeit unterbleibt. Das Spannungsverhältnis von Norm und Wirklichkeit ist ein ewig aktuelles Thema in Politik und in der Wissenschaft.61 So liefe eine rein normative Darstellung des Rechts, die jeglicher Betrachtung seiner Einhaltung in der politischen Praxis entbehrt, Gefahr, praktisch unbrauchbar zu sein. Auch die rein szientistische Wirklichkeitsbetrachtung ohne den rechtlichen Bezugspunkt der Norm ist für den Juristen nicht zielführend. Auf die Parteien und das Parteienrecht blickend gilt daher, dass je deskriptiver eine Darstellung ist, desto schneller sie vom Wandel der Zeit überholt wird und nur noch als Material der Geschichtswissenschaft dienen kann.62 Auch darf die Forschung zu Politik, Parteien und Parlament nicht der Politikwissenschaft allein überlassen bleiben.63 Im Recht der Politik, im Wahl-, Parlaments- und auch im Parteienrecht bleibt es jedoch wiederum dabei, dass sich viele Fragen der Wirklichkeit in der Parteiendemokratie nicht mit der Lektüre von Gesetzesbüchern, überhaupt nicht am Schreibtisch, sondern nur unter Zuhilfenahme der empirischen Forschung klären lassen.64 Gerade im Hinblick auf die innere Ordnung der Parteien ist festzustellen, dass sich Verfassungsrecht und Verfassungsrealität nicht voneinander trennen lassen, sie gemeinsam ja erst das Verfassungsleben konstituieren. Im Ergebnis bedarf es der Gesamtschau des „constitutional law in books“ wie auch des „constitutional law in action“.65 Aus diesen Gründen kontrastiert das vorliegende Werk, wo für das Verständnis der britischen Parteien nötig, Verfassungsrecht und Verfassungsrealität. All dies geschieht vor dem Hintergrund, 59 So arbeitet etwa die australische Parteienrechtlerin Anika Gauja. Sie geht davon aus, dass sich Parteien ihrerseits nicht an Demokratietheorien orientieren. Vielmehr entspringe die konkrete Ausformung der innerparteilichen Demokratie der jeweiligen Parteistrategie, vgl. Gauja, Political Parties and Elections, S. 90 ff. 60 Siehe für die Methode der Rechtsvergleichung nur Starck, Rechtsvergleichung, JZ 1997, S. 1021 (1026 f.). 61 Vgl. v. Arnim/Heiny/Ittner, Politik zwischen Norm und Wirklichkeit, in: Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer (Hrsg.), Discussion Paper, S. 1. 62 Ebenso v. Beyme, Parteien im Wandel, S. 12. 63 Siehe für die Historie des Instituts für internationale Parteienrechtsforschung an der Fernuniversität Hagen (heute Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) v. Beyme, Parteienforschung, in: Krüper/Merten/Poguntke (Hrsg.), Parteienwissenschaften, S. 9 (9 f., 28 ff.). 64 Vgl. Tsatsos/Morlok, Parteienrecht, S. 164. 65 Vgl. Häberle, Rechtsvergleichung, S. 5; Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 3.
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Einleitung
dass die Mitgliederpartei eine rechtliche condicio sine qua non für die auch im Vereinigten Königreich etablierte Form der modernen Demokratie westlichen Typus ist. Die empirischen Erkenntnisse über den Erfolg oder Misserfolg von Reformen zur Steigerung der innerparteilichen Partizipation werden daher ebenfalls betrachtet. Der staatlich gesetzte rechtliche Rahmen muss gewährleisten, dass sich innerhalb der Parteien die Eigengesetzlichkeiten des Politischen entfalten können müssen. Diesen Eigengesetzlichkeiten schrieb Heinrich Triepel einst die Tendenz zur innerparteilichen Oligarchisierung durch die herrschenden politischen Akteure in den Parteien zu.66 Demzufolge müssen diese Kräfte innerhalb der Parteien normativ beschränkt werden. Gleichermaßen darf das Recht nicht unbeirrt und um jeden Preis an einem möglicherweise überholten Leitbild festhalten, als das sich jenes der Massenmitgliederpartei herausstellen könnte. Letztlich müssen die Normen aller potenziellen Normgeber, welche die innerparteiliche Demokratie regulieren, den Ausgleich der widerstrebenden Kräfte – einer nach Partizipation drängenden Basis und einer nach Dominanz drängenden Parteielite – suchen. Dabei können Normen lediglich die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich Spontaneität und politische Dynamik innerhalb der Parteien entfalten können. Hier handelt es sich gewissermaßen um das forum internum der Parteien. Indem diese Normen etwa innerparteiliche Verfahrensrechte (z. B. Antrags- und Rederechte auf Parteitagen, die schiedsgerichtliche Überprüfung parteiinterner Streitigkeiten) garantieren, kommt der Minderheit die rechtliche Chance zu, sich zu artikulieren und im politischen Kräftespiel möglicherweise zur Mehrheit zu werden. Erst wenn diese Chance normativ-rechtlich gewährleistet ist, so besteht die tatsächliche Möglichkeit, dass ein nach rechtsstaatlichen Prinzipien verlaufender und auf allseitiger Akzeptanz fußender innerparteilicher Konflikt die Partei dazu befähigt, nach außen hin – im forum externum – geeint zu stehen, um im Wettbewerb der Parteien um Wählerstimmen zu reüssieren.
VI. Gliederung der Arbeit Im ersten Schritt dieser Untersuchung wird die Entwicklung des Parteienwesens ab dem 17. Jahrhundert bis zur Herausbildung ihrer außerparlamentarischen Organisation im späten 19. Jahrhundert dargestellt. Daran schließt sich die Verortung der Parteien im Verfassungsgefüge an. Die Rechtsquellen des Parteienrechts werden sodann untersucht, wobei allgemeine Ausführungen zur britischen Verfassung und zu den Quellen des Verfassungsrechts unerlässlich sind. Dieser Teil umfasst auch Definitionen, den zivil- und den öffentlich-rechtlichen Status der Parteien sowie ihre verfassungsrechtlichen Funktionen. Im zweiten Schritt analysiert die Arbeit die innere Ordnung der großen Parteien. Hierbei wird zunächst auf das Mitgliedschaftsverhältnis eingegangen. Dies umfasst die Darstellung grundsätzlicher Rechte 66
Triepel, Staatsverfassung, S. 12.
Einleitung
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und Pflichten zwischen Mitglied und Partei. Abschließend folgt die Darstellung der Parteiführerwahlen in Vergangenheit und Gegenwart.
VII. Thematische Eingrenzung Wiewohl die Frage der staatlichen und privaten Parteifinanzierung und ihrer Auswirkungen auf die innerparteiliche Demokratie in der Praxis von höchster Relevanz ist, als es die „Sauberkeit“ der Politik betrifft, ist es nicht möglich, dies in der vorliegenden Arbeit auszuführen. Aspekte der Parteienfinanzierung, die auf die innerparteiliche Demokratie – und die Entwicklung der britischen Parteien und des Parteienrechts – ausstrahlen, werden, wo unabdingbar, nur kurz dargelegt. Daneben wird auf die Werke aus sämtlichen Disziplinen der Parteienforschung – zumal anhand von komparativen Analysen – verwiesen, in denen die mit der privaten Finanzierung verbundene Frage der Machtverteilung zugunsten von großen, institutionellen Spendern, wie verminderte Abhängigkeit von Mitgliedern und Spendern bei einer ausgeweiteten staatlichen Finanzierung untersucht wurde.67 Selbiges gilt für die Untersuchungen zu den Auswirkungen des Wahlrechts auf die innerparteiliche Demokratie.68 Bei der Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der Parteien können ebenfalls nur einzelne Wegmarken dargestellt werden. Eine erschöpfende Untersuchung der Organisationsgeschichte der Parteien bleibt anderen (Sub-)Disziplinen, etwa einer rein rechtshistorischen oder einer historischen Arbeit, vorbehalten. Die hieran anschließende Einführung zur Geschichte des Parteienwesens außerhalb des Parlaments beschränkt sich im Wesentlichen auf die Darstellung von 1832 bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Die sich in den vorhergehenden Jahrhunderten etablierenden verfassungsgeschichtlichen Referenzpunkte – die Entwicklung des Parlaments, der Parlamentssouveränität und der Kabinettsregierung – werden kurz benannt und historisch eingeordnet. Soll die heutige innerparteiliche Demokratie dargestellt werden, müssen gerade in dem flexiblen politischen System des Vereinigten Königreichs die grundlegenden Daten und Fakten vorab bekannt sein. An späterer Stelle wird sodann die Darstellung der weiteren Entwicklung der Parteiorganisationen im 20. Jahrhundert bis zum heutigen Tage im Rahmen der Erläuterungen zu den einzelnen Parteien erfolgen. Ein letztes Wort gilt hier den Verfassungskonventionalregeln, welche das politische Geschehen im Vereinigten Königreich zu einem sehr großen Teil begründen, gestalten und begrenzen. Der Autor kann zur Erläuterung dieser nur auf die Erkenntnisse des Schrifttums (zuvorderst der britischen Verfassungsrechtslehre und der
67 Hier nur Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (249) m. w. N. auf die zahlreichen Quellen im englischsprachigen Raum. 68 Statt vieler Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, passim.
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politischen Wissenschaft) zurückgreifen.69 Dies liegt daran, dass Verfassungskonventionalregeln nicht kodifizierte Regeln und damit nicht nachprüfbare Normen sind. Sie sind jedoch mehr als nur Gewohnheiten, was im Weiteren zu zeigen sein wird. In gewisser Weise erweist sich die Frage des Verhältnisses von Verfassungskonventionalregeln und politischer Praxis als redundant, denn der Ursprung der Verfassungskonventionalregeln ist in der politischen Praxis in der Vergangenheit zu suchen, während die Verfassungskonventionalregeln ihrerseits die politische Praxis in der Gegenwart gestalten. Bezüglich der für das Parteienwesen relevanten Verfassungskonventionalregeln böte sich zur Lösung der Frage, welche Konventionen nun als verfassungsrechtlich bindende Regeln zu betrachten sind, die Methode der Befragung von Politikern an. Auch darauf wird hier verzichtet. Denn nur „selten wird […] [ein Politiker] ,sine ira et studio‘ denken können“.70 Ein politisches Bonmot im Vereinigten Königreich besagt, dass, wenn man einen Vertreter der Opposition nach dem Handeln der Regierung befrage, die Antwort immer sein werde, dass die jeweils regierende Partei entgegen den Verfassungskonventionalregeln, und damit verfassungswidrig, handele.71 Allerdings wurden für andere einzelne rechtliche Würdigungen der britischen Rechtspraxis durchaus Gespräche mit juristischen Experten im Vereinigten Königreich geführt, die als Quellen auch stets in den Fußnoten angegeben werden. Weiterführende, kurze Erläuterungen und Literaturhinweise zu nicht in extenso in dieser Arbeit erklärbaren Punkten – bspw. des britischen Verfassungsrechts oder des Prozessrechts – finden sich im Fußnotenapparat.
69 Es ist im Vereinigten Königreich nicht unüblich, dass Monografien, die sich mit der Rechtspraxis in Parlament und Politik beschäftigen, von (ehemaligen) Politikern zumindest mitgestaltet werden. Vgl. Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 passim. 70 Vgl. aus der älteren Literatur Meyn, Verfassungskonventionalregeln, S. 8, der deshalb auch auf eine Befragung der politischen Szene verzichtete. 71 Dazu auch die gegenteilige Feststellung bei Bogdanor, Constitution, S. 15: „What the governing party enacts thus becomes, ipso facto, constitutional.“
Erstes Kapitel
Entwicklung von Parteien und Parlament Die Entwicklung der britischen Parteien begann bereits im 17. und 18. Jahrhundert im Parlament. Die außerparlamentarischen Parteiorganisationen aber betraten erst im 19. Jahrhundert die politische Bühne. Weder die Parlamentsparteien noch die außerparlamentarischen Organisationen verfügten ursprünglich über schriftliche Gründungsdokumente.1 Aus diesem Grunde bereits kann rechtshistorisch von einer konkreten Geburtsstunde der Parteien in der britischen (Rechts-) Geschichte nicht die Rede sein. In anderen Disziplinen der Parteienforschung wird hingegen die Geburt des britischen Parteienwesens zum Teil in der Zeit der Glorious Revolution 1688/1689, zum Teil in den Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts (1832, 1867, 1884) verortet.2 Freilich sind all diese Daten nicht zu unterschätzende historische Wegmarken in der Entwicklung der britischen Parteien. Sie haben einen zentralen Einfluss auf die Parteiorganisationen im und außerhalb des Parlaments3 genommen und wirken teilweise bis heute fort.4 Für die innere Ordnung, die Entwicklung als Mitgliederpartei und ihre Ausgestaltung der innerparteilichen Demokratie gilt besonders der Ursprung der Parteien im Parlament zu beachten.5 Orga1 Vgl. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 61, der konkret auf die damalige rechtliche Perspektive eingeht: „We must remember that in Britain a party is not a legal entity except in the sense that any association having funds vested in trustees or a committee is a legal entity […]. If a party were a legal entity created by charter or legislation, like a college or a public company, we could give it an age and celebrate its birthday.“ 2 Siehe für diese Wertung statt vieler nur Blake, Conservative Party, S. 1. Ähnlich auch Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (232). 3 Das Parlament des Vereinigten Königreichs kann als de facto bikameral bezeichnet werden. Vgl. nur Griffith/Ryle, Parliament, S. 3. Die verfassungsrechtliche Besonderheit der britischen Gewaltenverschränkung wie auch der Souveränitätsdoktrin der Crown-in-Parliament drückt sich allerdings dadurch aus, dass auch die Krone de jure weiterhin Teil des Parlaments ist, vgl. Yardley, British Constitutional Law, S. 10 f. 4 Für eine ältere, aber bis heute im Grundsatz gültige Feststellung aus dem Jahr 1981 siehe Hartley/Griffith, Government and Law, S. 11: „The foundations of the present political system in the United Kingdom were laid in the middle years of the nineteenth century […]. […]. Parliamentary democracy came into being. And the main differences between the nature and structure of the two major political parties as they exist today are the result of the fact that the Conservative party had its origins in the period before these reforms took place, whereas the Labour party was the heir to those reforms.“ 5 Gleichwohl gilt, dass die Staat-Gesellschaft-Dichotomie des kontinentaleuropäischen Rechtsverständnisses im Vereinigten Königreich so nicht existent ist. Ein Grund dafür ist die fehlende Verfassungskodifizierung. So A v Head Teacher and Governors of Lord Grey School [2004] EWCA Civ 382 (para. 6) – Sedley LJ: „[T]he law of England and Wales does not know
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
nisationsrechtlich betrachtet sind die Parteien überdies Produkte einer sukzessiven rechtlichen und politischen Entwicklung, die im Folgenden kurz nachgezeichnet werden soll.
A. Parlament und Verfassung seit dem späten Mittelalter Die zuerst rein englische6 Parlamentsgeschichte reicht bis in das 13. Jahrhundert zurück und damit weit vor die Ausweitung des Wahlrechts, die so eng mit der Parteientwicklung verbunden ist. Diese über 700-jährige Geschichte des heute britischen Parlamentarismus ist von nur wenigen Zäsuren geprägt. Überwiegend sind das Staatsrecht7 und die Staatspraxis nicht Produkte revolutionärer,8 sondern evolutionärer Entwicklungen.9 In diesem Kontext ist insbesondere die seit jeher fehlende the state as a legal entity.“ Im allgemeinen, auch juristischen, Sprachgebrauch ist es aber freilich statthaft, zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden. 6 Bis zum Act of Union 1707 gab es ein eigenes schottisches Parlament in Edinburgh. Das britische Parlament trat erstmals am 23. Oktober 1707 zusammen, vgl. Bogdanor, Constitution, S. 11. 7 Die Begrifflichkeit des Staats- bzw. Verfassungsrechts im Vereinigten Königreich ist vage. Dies liegt zum einen an dem fehlenden Verfassungsdokument als formales Abgrenzungskriterium für das formelle Verfassungsrecht. Materiell ist die Abgrenzung deshalb nicht unproblematisch, weil viele dem Staatsrecht zugehörige Materien, die in anderen Rechtsordnungen kodifiziert sind, wie etwa das Parteienrecht, im Vereinigten Königreich über nicht justiziable Traditionen bzw. Verfassungskonventionalregeln geregelt werden. So kann an dieser Stelle zunächst nur auf weite Definitionen des britischen Staats- bzw. Verfassungsrechts zurückgegriffen werden. Als Verfassungsrecht gilt „that part of national law which governs the system of public administration and the relationships between the individual and the state“ (Bradley/ Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 9 m. w. N.). Aufgrund der fehlenden formalen Abgrenzbarkeit muss stets die materielle Bedeutung des jeweiligen Rechtsgebietes berücksichtigt werden. So sind auch in klassischerweise (nach kontinentaleuropäischem Rechtsverständnis) dem Zivilrecht zugeordneten Rechtsgebieten, wie dem Familienrecht, bestimmte konstitutionelle Grundwerte und Grundentscheidungen immanent. Daher schreibt der Rechtshistoriker Frederic Maitland in seinem Lehrbuch zur Verfassungsgeschichte: „[T] here is hardly any department of law which does not, at one time or another, become of constitutional importance.“ (Maitland, Constitutional History, S. 538). 8 Allerdings wird neuerdings darauf hingewiesen, dass die althergebrachte, evolutive Entwicklung der britischen Verfassung durch die Verfassungsreformen von 1997 bis 2007 – u. a. devolution, Einführung des PPERA 2000 und des Human Rights Act 1998 – zu einem Bruch der Verfassungstradition geführt haben. Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 276: „The constitutional reforms of the years since 1997 cannot, then, be understood in evolutionary terms.“ 9 Zur gesamten historischen Entwicklung des Parlamentarismus und der Parteien siehe nur Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 586 ff.; Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 121 ff.; Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 passim; Setzer, Parteienentwicklung in England, passim. Für das Wahlrecht, dessen „origins […] lie in tradition, and the voting system is not a matter of law, but of past political practice“, so Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 76. Für Wahlrecht, Parlament und Parteien Blackburn, Electoral System, S. 1.
A. Parlament und Verfassung seit dem späten Mittelalter
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Kodifizierung der britischen Verfassung relevant,10 was Wesensmerkmal und nahezu Alleinstellungsmerkmal für die britische Verfassung im Vergleich zu den allermeisten westlichen Verfassungsstaaten ist.11 Zudem begründet dies das bemerkenswerte Spannungsfeld der britischen Verfassungsordnung zwischen Flexibilität und Innovation12 einerseits sowie Stabilität und Tradition andererseits.13 Für die rechtliche wie politische Stabilität stehen z. B. die bis heute geltende Trennung zwischen dem House of Commons und dem House of Lords und die Fortgeltung zahlreicher anderer parlamentarischer Traditionen.14 Schon im späten Mittelalter waren im House of Lords die aristocracy (der höhere Adel) und der Klerus qua Erbfolge bzw. Ernennung vertreten. Die Vertreter der Städte, Grafschaften, Märkte und Burgflecken wurden dagegen in das House of Commons gewählt.15 Neben den Vertretern der Gebietskörperschaften waren die Vertreter im House of Commons vor allem die gentry, also der niedere Adel i. S. der Ritterschaft der Grafschaften. Daher ist der Begriff der Commons in der englischen Rechtsgeschichte doppeldeutig zu verstehen, insofern er für das soziale Repräsentationsorgan aller Stände außer dem höheren Adel, als auch für die Repräsentation der Gebietskörperschaften stand. Deshalb kann verkürzt davon gesprochen werden, dass das House of Commons das Parlamentshaus der Gemeinen und der Gemeinden war.16 Deren Vertreter mussten von 1295 bis 1429 einstimmig gewählt werden, bis König Henry VI. dies aufhob, sodass damit der Grundstein für das bis heute geltende zweite Merkmal der britischen Verfassungsordnung gelegt wurde: das sog. relative Mehrheitswahlrecht.17 Früh schon nutzte das Parlament geschickt die chronischen 10 Es sei ergänzend darauf verwiesen, dass mit dem Agreement of the People 1653 von Oliver Cromwell die erste kodifizierte Verfassung Europas entwickelt wurde. Siehe Bogdanor, Constitution, S. 11. 11 Weitere Ausnahmen sind Israel und Neuseeland, siehe dazu Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 4. 12 Vgl. nur Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 42 m. w. N. 13 Zur Flexibilität und Stabilität statt vieler Dickinson, British Constitution, VJHS 2011, S. 177 (177). 14 So hatten sich die writs, die Einladungsschreiben, des Lord Chancellor zu Sitzungen des House of Commons von 1294 bis 1872 nicht geändert (siehe Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 12 f.). Ähnlich auch die jährliche throne speech (bzw. heute präziser Queen’s speech) des britischen Monarchen im House of Lords zur Parlamentseröffnung. Hierzu werden seit Jahrhunderten die Abgeordneten des House of Commons „summoned to the Lords“, so ausdrücklich Peele, Governing, S. 147. Diese Tradition untermalt die historisch gewachsene, repräsentative Bedeutung der nicht gewählten Lords und des Monarchen höchstselbst. Letzterer verliest nur eine Rede seines Premierministers bzw. seiner Regierung, vgl. dazu Sturm, Politik in Großbritannien, S. 121. 15 Nach Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 12 f., verstanden die Gebietskörperschaften die Repräsentation im House of Commons weniger als Recht denn als Pflicht, da sie ihren Vertretern hohe Tage- und Reisegelder für die Sitzungstage in London zahlen mussten. 16 So treffend Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (77). 17 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 1 f.; zum Wahlrecht im Mittelalter und der Zusammensetzung des House of Commons siehe Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 44 ff.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Geldnöte der Krone und setzte ab 1340 durch, dass nicht-feudale Abgaben der parlamentarischen Zustimmung beider Häuser bedurften. Dies als Gesetzgebungskompetenz des Parlamentes zu verstehen wäre vermessen. Es war nur Ergebnis einer politischen (weil finanziellen) Notwendigkeit der Krone als fortwährender Souverän, denn rechtlich – und das ist entscheidend – blieb die Krone weiterhin der alleinige Träger der Souveränität. In den nächsten 200 Jahren entbrannte ein Machtkampf zwischen den beiden Parlamentshäusern. Im Jahre 1407 erließ das House of Commons eine Resolution, nach welcher es selbst allein zuständig sei, Steuergesetze ins Parlament einzubringen.18 Zwar akzeptierte das House of Lords dies vorerst, doch versuchte es dieses Vorrecht im Jahre 1593 durch eine eigene Resolution zu beeinträchtigen – im Ergebnis erfolglos. Im Jahre 1671 sicherte sich das House of Commons dieses gegenüber dem House of Lords endgültig.19
B. Parlamentssouveränität und Unkodifiziertheit der Verfassung als Grundsteine für das politische System Im 17. Jahrhundert durchzogen religiöse wie auch finanzpolitische Konfliktlinien das Vereinigte Königreich. Diese betrafen auch das Verhältnis von der Krone zum House of Commons. In der politischen Gemengelage kam es zum Aufstand der Commons gegen König James I. und dieser mündete schließlich im englischen Bürgerkrieg (1642 – 1651).20 Nach der daraufhin folgenden monarchischen Restauration durch Charles II. kam es zur sog. Glorious Revolution von 1688, welche die erste veritable Zäsur in der englischen Parlaments- und Verfassungsgeschichte darstellt und die als wohl bekanntestes Resultat die Bill of Rights 1688 hervorbrachte. Letztere beinhaltete u. a. die Pflicht der Krone zur Beteiligung des Parlaments bei Erlass und Aufhebung von Gesetzen21 und speziell das Budgetrecht des Parlaments.22 Daneben wurde im Zuge der Revolution die verpflichtende Zusammenkunft des Parlaments auf Einberufung der Krone alle drei Jahre (ss. 1 – 2 Meeting of Parliament Act 1694) festgelegt.23 Mit dem Septennial Act 1716 wurde die Höchstdauer der 18 Siehe zur gesamten Entwicklung ab 1340 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 8 f. 19 Vgl. zum Ganzen Meyn, Verfassungskonventionalregeln, S. 80 f. m. w. N. 20 Ausführlich zur englischen Parlamentsgeschichte des 17. Jahrhunderts statt vieler Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 9 ff, 61 ff. 21 Bill of Rights 1688: „By assuming and exercising a power of dispensing with and suspending of laws and the execution of laws without consent of Parliament.“ 22 Bill of Rights 1688: „That levying money for or to the use of the Crown by pretence of prerogative, without grant of Parliament, for longer time, or in other manner than the same is or shall be granted, is illegal.“ 23 Siehe s. 1 Meeting of Parliament Act 1694 legte die mindestens alle drei Jahre stattfindende Zusammenkunft fest: „From henceforth a Parliament shall bee holden once in Three
B. Parlamentssouveränität und Unkodifiziertheit der Verfassung
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Wahlperiode des House of Commons auf sieben Jahre festgelegt.24 Es lässt sich daher festhalten, dass ab den Jahren 1688/1689 die Grundsätze regelmäßiger Wahlen – noch bar jedweden egalitär-demokratischen Ideals – wie einer freien parlamentarischen Debatte und der zentralen Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsprozess erstmals teilweise kodifiziert wurden. Hinter diesen politischen Erfolgen des Parlaments gegenüber der Krone durch die und in Folge der Glorious Revolution 1688/ 1689 verbirgt sich nichts weniger als die bis heute zentrale Doktrin der britischen Verfassung: die Parlamentssouveränität. Diese wurde allerdings erst von Albert Venn Dicey, dem Doyen der britischen Verfassungsrechtslehre, am Ende des 19. Jahrhunderts als solche bezeichnet.25 Um mit Diceys Worten selbst zu sprechen, meint diese konzeptionell „neither more nor less than this, namely, that Parliament […] has, under the English constitution, the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament.“26
Mithin ist das britische Parlament omnikompetent. Wenn man das Parlament trefflicher27 mit dem Begriff der Crown-in-Parliament (oder King- bzw. Queen-inParliament) beschreibt, wird darüber hinaus deutlich, dass eine Gewaltenteilungsdogmatik nach den heutigen kontinentaleuropäischen Vorstellungen nicht existiert. Vielmehr liegt im Vereinigten Königreich bis heute eine Gewaltenfusion bzw. zumindest eine -verschränkung vor. Die Exekutive und Judikative sind, wenn auch heutzutage nur noch formell, von der Krone abhängig, die sie ernennt und auf die sie years att the least.“ Die s. 2 beinhaltete, dass die Krone das Parlament einberuft: „And within Three yeares att the farthest from and after the Dissolution of this present Parliament and soe from time to time for ever hereafter within Three yeares att the farthest from and after the determination of every other Parliament legal Writts under the Great Seal shall bee issued by directions of your Majesties your Heires and Successors for calling assembling and holding another new Parliament.“ 24 So die komplette Regelung des Gesetzes: „Parliaments shall have Continuance for seven Years, unless sooner dissolved by the King.“ 25 Vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 23; ausführlich dazu auch Wicks, Evolution of a Constitution, passim. 26 Dicey, Constitution, S. 39 f. Herv. d. Verf. 27 Für die aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung keineswegs als larmoyante obiter dicta zu sehenden Ausführungen der Gerichte, die an der Parlamentssouveränität festhalten: Vgl. das aktuelle Urteil des Supreme Court zum sog. Brexit. Dies betraf die Frage, ob die Regierung diesen ohne Parlamentsvotum einleiten darf. Nach Ansicht der Regierung sind die EU-Verträge völkerrechtlicher Natur und fallen dem Kernbereich des exekutiven Handelns anheim. Diese wiederum stellen eine royal prerogative dar. Der Supreme Court entschied sich mehrheitlich für das Erfordernis eines Parlamentsbeschlusses und begründete dies mit der unumstößlich fortgeltenden Parlamentssouveränität. Hier wird auch auf den Begriff der Crownin-Parliament rekurriert: „Thus, Parliament, or more precisely the Crown in Parliament, lays down the law through statutes – or primary legislation as it is also known – and not in any other way.“ R. v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5 (para. 43) – Neuberger, Hale, Mance, Kerr, Clarke, Wilson, Sumption, Hodge LLJ.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
vereidigt sind. Indes sind die gestaltenden Kräfte in Exekutive und Legislative heute faktisch die politischen Parteien.28 Gleichzeitig ist die Krone zumindest zeremoniell Teil der Legislative, und nachgerade setzt sich das Parlament weiterhin aus ihr und den beiden Häusern zusammen, von denen das House of Lords bis Ende des 20. Jahrhunderts auch die oberste rechtsprechende Gewalt ausübte.29 In Diceys Worten ist einerseits die positive Seite der Parlamentssouveränität enthalten, wonach das Parlament in seiner Gesetzgebungskompetenz und in den Fragen des Gesetzgebungsverfahrens keinerlei verfassungsrechtlichen Beschränkungen unterworfen ist. Andererseits enthält dieses die negative Seite der Parlamentssouveränität. Sie flankiert die positive Seite, indem sie keinem Gericht die Kompetenz zuspricht, Parlamentsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren. Nichtsdestoweniger ergibt sich aus der Judikative ein gewisses Gegengewicht zur Parlamentssouveränität. Das von den Gerichten geschaffene Common Law30 steht als Rechtsquelle der Verfassung unabhängig neben dem Gesetzesrecht. Jedoch kann es als den Parlamentsgesetzen in der Normenpyramide gleichgeordnetes Recht ipso jure kein Kontrollmaßstab für die Gesetze sein; allenfalls können Kollisionen zwischen beiden Rechtsquellen durch richterliche Interpretation des Gesetzesrechts oder durch entsprechende Entwicklung des Common Law vermieden werden.31 28 Die Regierung war noch juristisch und praktisch der Krone gegenüber verpflichtet. Die moderne Form der Kabinettsregierung, die dem Parlament gegenüber verpflichtet ist, hat sich erst im Laufe der nächsten Jahrhunderte herausgebildet. Für die Gewaltenverschränkung und die Abhängigkeit von Parlament und Regierung von den Parteien Barendt, Separation of Powers, P.L. 1995, S. 599 (614). 29 Vertiefend dazu Griffith/Ryle, Parliament, S. 3 ff. 30 Der Begriff des Common Law wird in verschiedener Weise verwendet. Erstens als Bezeichnung des angelsächsischen Rechtskreises im Gegensatz zum Civil Law-Rechtskreis, also jener des kontinentaleuropäischen Rechts. Zweitens als das von Richtern entwickelte Recht in Abgrenzung zum geschriebenen Recht, das durch das Parlament gesetzt wird (statute law). Drittens historisch als gemeines Rechts, welches von reisenden Richtern (itinerant justices oder justices in eyre) des königlichen Gerichts zu Westminster gebildet wurde. Es ist damit der Gegenbegriff zur Equity, dem Recht, das von dem zentralen Court of Chancery entwickelt wurde. Vgl. nur Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 185; Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 57 f. 31 Eine Begrenzung der Parlamentssouveränität stellt auch das Common Law nicht dar. Zum einen ist es im Grunde auch eine top down-Rechtsetzung, da sie von Richtern gemacht wird. Zum anderen ist sie seit jeher eher herrrschaftsbegrenzend für das zumindest noch im 19. Jahrhundert aristokratisch und großbürgerlich zusammengesetzte und in deren Sinne handelnde Parlament verstanden (Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 60, 67 f. m. w. N.). Dass aber das Common Law seinerseits durch die Parlamentssouveränität begrenzt wird, zeigt die Entscheidung des Supreme Court zum sog. Brexit in prägnanter Weise: „The independence of the judiciary was formally recognised in these statutes. In the broadest sense, the role of the judiciary is to uphold and further the rule of law; more particularly, judges impartially identify and apply the law in every case brought before the courts. That is why and how these proceedings are being decided. The law is made in or under statutes, but there are areas where the law has long been laid down and developed by judges themselves: that is the common law. However, it is not open to judges to apply or develop the common law in a way which is in-
B. Parlamentssouveränität und Unkodifiziertheit der Verfassung
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Hier ist für die weitere Entwicklung des Parlamentarismus und des Parteienwesens entscheidend, dass sich die Parlamentssouveränität im Rahmen der Unkodifiziertheit der britischen Verfassung entwickelt hat.32 Obwohl niemals kodifiziert, hat sich die Parlamentssouveränität zum zentralen Prinzip33 der britischen34 Verfassung entwickelt.35 Sie wird gleichermaßen von der h. M. in der Literatur36 und, im Vereinigten Königreich ungleich wichtiger, der Rechtsprechung37 akzeptiert. So wird Albert Venn Diceys gesamtes Opus, insbesondere dabei die von ihm beschriebene Parlamentssouveränität, zuweilen sogar als Substitut für eine Verfassungskodifikation angesehen.38 Ganz im Sinne des diceyschen Verfassungsverständnisses könnte consistent with the law as laid down in or under statutes, ie by Acts of Parliament.“ R. v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5 (para. 42) – Neuberger, Hale, Mance, Kerr, Clarke, Wilson, Sumption, Hodge LLJ. 32 Ob es einen Zusammenhang zwischen Unkodifiziertheit der Verfassung und der Existenz und Akzeptanz der Parlamentssouveränität gibt, ist im Schrifttum umstritten (dafür etwa Barendt, Constitutional Law, S. 105). Doch ist keines der beiden Merkmale eine condicio sine qua non für das jeweils andere, vgl. v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 31 m. w. N. 33 Siehe dazu auch Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 62: „[I]st die Maxime der Parlamentssouveränität ein politisches Glaubensbekenntnis oder Dogma. Paradoxerweise beruht der Grundsatz weder auf einem Parlamentsgesetz noch könnte das Parlament ihn heute in ein Gesetz einkleiden oder gar abschaffen. […] Das Verständnis der Lehre von der Parlamentssouveränität kann nur geschichtlich als Ergebnis von drei und mehr Jahrhunderten der politischen Entwicklung erschlossen werden. Die Empirik einer tief in der Vergangenheit wurzelnden politischen Dynamik wurde dann erst nachträglich der Verfassungstheorie bewußt.“ 34 Auch Dicey sprach von der englischen Verfassung als Synonym für das von England wirtschaftlich, kulturell und politisch dominierte Vereinigte Königreich. 35 Zu den heutigen Einschränkungen der Parlamentssouveränität siehe Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 49 ff., 65 ff. 36 Statt vieler nur Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 28. Kritik dazu von Craig, Public Law and Democracy, S. 15, 42 und Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 73 f.: „[W]as immer die Lehrbücher postulieren mögen, im heutigen politischen Prozess der Voll-Demokratie, [ist] das Dogma von der Parlamentssouveränität verblaßt und von der Volkssouveränität überlagert […]. Verfassungsstrukturell gesehen drückt sich in diesem Wandel der Niedergang des Parlaments […] und der […] Aufstieg der anderen Machtträger, der Exekutive […] und der Wählerschaft aus.“ 37 Vgl. nur Madzimbamuto v Lardner-Burke [1969] 1 AC 645 (para. 723) – Reid LJ: „It is often said that it would be unconstitutional for the United Kingdom Parliament to do certain things, meaning that the moral, political and other reasons against doing them are so strong that most people would regard it as highly improper if Parliament did these things. But that does not mean that it is beyond the power of Parliament to do such things. If Parliament chose to do any of them, the courts could not hold the Act of Parliament invalid.“ Ebenso zum Verhältnis zwischen den Gerichten und dem Parlament Liversidge v Anderson [1942] AC 206 (para. 260 f.) – Wright LJ: „Parliament is supreme. […] In the constitution of this country there are no guaranteed or absolute rights. The safeguard of British liberty is in the good sense of the people and in the system of representative and responsible government which has been evolved.“ 38 Bogdanor, Constitution, S. XI m. w. N.: „Dicey’s word […] almost served as a surrogate written constitution.“ Daneben nennt Steyn LJ im Fall R. (Jackson and others) v Attorney General [2006] 1 AC 262 (para. 95) Dicey „our greatest constitutional lawyer“. Kritisch dazu McLean, British Constitution, S. 9, 337.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
die britische Verfassung gar in acht Wörtern zusammengefasst werden: „[W]hat the Queen in Parliament enacts is law.“39 Abschließend ist zu konstatieren, dass die Glorious Revolution mit all dem nicht weniger als die normativ-rechtliche wie verfassungskonventionale Festigung der konstitutionellen Monarchie als Staats- und Regierungsform des (heutigen) Vereinigten Königreichs besorgte.40 Diese ist als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Parteien zu betrachten.
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884 Die Bedeutung des Wahlrechts als institutioneller Rahmen für die Herausformung moderner politischer Parteien ist in der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft anerkannt.41 Deshalb kann die Entstehung des britischen Parteiwesens im Wesentlichen in drei Phasen gegliedert werden, die sich an der Entwicklung des Wahlrechts orientieren. Die erste Phase betrifft die Zeit zwischen der Glorious Revolution 1688/1689 und des ersten der sog. Reform Acts im Jahre 1832, in welcher sich die Parlamentsfraktionen etablierten. Die zweite Phase umfasst den Zeitraum zwischen dem Reform Act (oder auch Representation of the People Act) 1832 und den beiden Folgereformen von 1867 und 1884. Er beinhaltet die Gründung lokaler, und später auch nationaler, Parteivereinigungen. In der dritten Phase nach 1884 kam es zur Konsolidierung der Parteiorganisationen.42
I. Entstehen der Parteien im Parlament nach der Glorious Revolution Mit der gestiegenen Bedeutung des Parlaments im Zuge der Glorious Revolution von 1688/1689 bildeten sich die damals noch losen parlamentarischen Gruppen der königs- und staatskirchentreuen Tories, die später als Konservative bezeichnet wurden, und der eher monarchie- bzw. kirchenkritischen und reformorientierten Whigs, die später als Liberale bekannt wurden.43 Indes waren zwei wesentliche
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Diese Schlussfolgerung zieht Bogdanor, Constitution, S. XII, 13. Vgl. nur Kastendiek, Verfassungsdenken in Großbritannien, in: Glaeßner/Reutter/Jeffery (Hrsg.), Verfassungspolitik, S. 29 (31). 41 Statt vieler Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, passim; Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (75). 42 Für diese Gliederung siehe etwa Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 passim. 43 So vereinfacht dargestellt auch bei Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (305); Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 49. Ausführlich zu dem Gegensatz zwischen Whigs und Tories Evans, Political Parties, S. 7 ff. Der schottische Philosoph David Hume schrieb dazu: „Factions were indeed extremely animated 40
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884
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Aspekte, die eine jede moderne Parteiendemokratie auszeichnen, in dieser Zeit noch nicht herausgebildet. Es fehlte an dauerhaften Fraktionen44 samt einer Fraktionsdisziplin und Programmatik und an Parteiorganisationen außerhalb des Parlaments.45 Beides lässt sich durch die damals herrschenden rechtlichen und politischen Umstände erklären. Die im vorigen Kapitel dargelegten historischen Wegmarken der Entwicklungen des Parlaments und das Dogma der Parlamentssouveränität nach der Glorious Revolution führten also noch nicht zu einer vom Parlament (bzw. einer Parlamentsmehrheit) getragenen Regierung, wie dies ein Wesensmerkmal der heutigen britischen und einer jeden parlamentarischen Demokratie ist.46 Die Regierung war weiter der Krone gegenüber verantwortlich.47 Jedoch wurden im Kontext der Aufklärung, die kurz nach der Glorious Revolution ihren Siegeszug durch Europa antrat, die philosophischen Grundlagen für das sich ebenfalls später in ganz Europa ausbreitende Parteienwesen im Vereinigten Königreich gelegt. Der irisch-britische Philosoph und Politiker Edmund Burke sprach in seiner im Jahr 1770 erschienenen Schrift „Thoughts on the Cause of the Present Discontents“ erstmals das Konzept von (parlamentarischen) Parteien an. Bemerkenswert ist dies deshalb, weil er es als gutzuheißende Entwicklung betrachtete.48 So entwarf er das Leitbild von Fraktionen, welche die auf Prinzipien und Programmen beruhenden Antagonisten der Regierung und der Opposition formten. Von einer Parteiendemokratie, wie sie heute existiert und die auch außerparlamentarische Organisationen umfasst, war weder von ihm noch von den anderen – gegenüber Fraktionen –ablehnend eingestellten politischen against each other. The very names, by which each party denominated its antagonist (Whig and Tory), disclose the virulence and rancour which prevailed.“ Hume, History, Bd. 2, S. 532. 44 Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 594 spricht davon, dass sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert „[d]urch die lange Herrschaft der Whigs das wichtigste Element des Parteisystems herausbildet: die Organisation der Partei“. 45 Vgl. für Großbritannien und andere Common Law-Staaten Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (248) m. w. N.: „Structured parties within Britain and its colonies did not emerge until the late 1800s […]. Before this time, organisational groupings were formed to serve the interests of individual parliamentarians, but these ,factions‘ were transient, prone to destabilisation through lack of any party discipline and based on pragmatism rather than on principle or ideology.“ 46 Siehe nur Pickles, Democracy, S. 148: „The essential requirement in a parliamentary democracy is that Parliament shall retain the power to dismiss Governments.“ Zum Vereinigten Königreich Leibholz, Verfassungsstaat, S. 57. 47 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 15 ff. 48 Parteien wurden weder in der politischen Theorie noch in der politischen Praxis akzeptiert. Pars pro toto kann hier die Rede des ersten Präsidenten der USA, George Washington, genannt werden: „Let me now take a more comprehensive view and warn you in the most solemn manner against the baneful effects of the Spirit of Party.“ So in seiner Farewell Address vom 19. September 1796, zitiert nach Gardner, Can Party Politics Be Virtuous?, CLR 2000, S. 667 (667 f.). Ausführlich dazu Gauja, Political Parties and Elections, S. 31 m. w. N.: „Parties were criticized as unnecessarily divisive, the cause of needless social conflict, appealing to and acting as the instruments of narrow and special interests (the tyranny of the minority).“
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Philosophen gedacht worden.49 In seinen Gedanken über das weiland aktuelle politische Leben gab Burke auch eine erste Definition einer Partei, auf die später noch zurückzukommen sein wird.50 In der politischen Praxis des Vereinigten Königreichs wird es Anfänge einer Trennung zwischen zwei Parlamentsparteien, zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion, erst ab ca. 1806 geben.51 Die heute als His/Her Majesty’s Opposition firmierende größte Minderheitsfraktion bzw. das Konzept der Antagonisten von Oppositions- und Regierungsfraktion insgesamt war noch nicht entwickelt. Zudem war es begrifflich wie konzeptionell den damaligen zeitgenössischen Politikern wie Philosophen völlig fremd.52 Allerdings ist für das Jahr 1780 eine ad hoc-Opposition anlässlich eines konkreten historischen Ereignisses, des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, dokumentiert. Es gab aber weder einen Oppositionsführer, noch folgten jene Abgeordnete, die gegen den Krieg waren, einem gemeinsamen Programm. Als im House of Commons im Jahre 1780 ein Abgeordneter über eine „Opposition“ zur Regierung seiner Majestät sprach, führte dies zu wohlfeilem spöttischen Gelächter des Hauses.53 Gleichsam verdeutlicht das Beispiel der Regierung von William Pitt dem Jüngeren, dass sich das Regierungssystem am Ende des 18. Jahrhunderts in einer Übergangszeit von monarchischer zu parlamentarischer Regierung befand – und zwar rund ein halbes Jahrhundert vor Herausbildung der Parteien im modernen Sinne. Gründe dafür gab es zahlreiche, für die in der vorliegenden Studie nicht ausreichend Raum ist. Doch als ein Inkubator für die weitere Entwicklung von Parlamentarismus und Kabinettsregierung und damit auch der Parteien ist das wachsende Interesse immer größer werdender Bevölkerungsteile am Politischen hervorzuheben. Befördert durch die Erfindung des mit der Industrialisierung verbundenen maschinellen Zeitungsdrucks und der bürgerlichen Revolutionsbewegungen in der westlichen Welt (im revolutionären Frankreich) fanden politische Themen auch in der britischen Gesellschaft rasch Verbreitung.54 So kam es, dass William Pitt der Jüngere zwar 1783 durch Ernennung von König George III. Premierminister wurde. Er benötigte aber vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung des Parlaments bzw. der beiden Gruppen eine eigene Mehrheit seiner Tories im House of Commons, die er bis dahin noch nicht hätte 49
Vgl. Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 436. „[A] party is a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national interest upon some particular principle in which they are all agreed“, Burke, Thoughts, in: Langford (Hrsg.), Edmund Burke, S. 241 (317). 51 Dies war noch spöttisch gemeint, so die Debatte im House of Commons zitiert in Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. XV. 52 Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 437: „The expression ,His Majesty’s Opposition,‘ said to have been coined by John Cam Hobhouse before the Reform Bill, would not have been understood at an earlier period.“ 53 Nachweise auf die Debatte bei Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. XIV f. 54 So etwa bei Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 16 f. 50
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884
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vorweisen können. Diese eigene Mehrheit im House of Commons erreichte er erst mit den Wahlen im folgenden Jahr. Mit dieser politischen Legitimation durch das zugegebenermaßen noch sehr kleine Wahlvolk wurde die heutige britische Kabinettsregierung, also eine von einer Mehrheit im House of Commons getragene Regierung,55 und die Verfestigung des Parlamentsparteiensystems verfassungsgeschichtlich begründet. Nichtsdestotrotz war die Legitimierung der Pitt-Regierung durch das Wahlvolk keineswegs eine Anerkennung einer (heute unbestrittenen) politischen Volkssouveränität. Es war schließlich das Parlament, das sich seine verfassungsrechtliche und -politische Stellung gegenüber der Krone über Jahrhunderte erkämpft hatte. Aus dem Grunde wurde es selbst stets nur von einem mangelhaft repräsentierten Volkswillen getragen. Indessen lag und liegt die rechtliche Souveränität nicht im britischen Volk, als da sind die Krone und das Parlament, die zusammen die souveräne Crown-in-Parliament bildeten und bis heute bilden.56 Die Akzeptanz der rein politischen Volkssouveränität erfolgte sogar erst im Jahre 1868. Denn nach der verlorenen Wahl unter Beteiligung einer nach heutigen Maßstäben in Ansätzen repräsentativen Wahlbevölkerung stellte Benjamin Disraeli, der amtierende konservative Premierminister, sein Amt seinem liberalen Opponenten zur Verfügung. Dies wird heute als erste Anerkennung der Volkssouveränität verstanden.57 Zuvor kam es in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Französischen Revolution, der Aufklärung und der Industrialisierung zu zahlreichen weiteren politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen. Im Jahre 1830 kulminierten diese darin, dass zum ersten Mal seit der Union mit Schottland 1707 eine Regierung seiner Majestät, hier des Königs William IV., abgewählt wurde.58 An dieser Stelle setzen die Wahlrechtsreformen an, die zur Herausbildung der Parteien als Massenorganisationen und einer politischen Volkssouveränität führen werden.
II. Entwicklung des Wahlrechts ab 1832: von der Vorherrschaft des Adels zur Volldemokratie Den aufgezeigten historischen Linien und der Idee der Parlamentssouveränität folgend, gab es im frühen 19. Jahrhundert noch immer einen „exklusiven Zugang zur Wahlberechtigung“59. Hiernach wurden im Jahre 1830 die 656 Abgeordneten des 55
Evans, Political Parties, S. 3, 51. Vgl. zur Bedeutung der Parlamentssouveränität für die Entwicklung der Parteien Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 5 f. 57 Dass der Premierminister auf die Mehrheit des Parlaments, speziell des House of Commons, angewiesen ist, wurde erst durch den Rücktritt Disraelis nach den Wahlen 1867 deutlich: „Disraeli publicly acknowledged the effective sovereignty of the electorate“, so Evans, Political Parties, S. 51. Dies stellt die politische Akzeptanz der ebenfalls politisch zu verstehenden Volkssouveränität dar. 58 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. XXIII. 59 Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 49. 56
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
House of Commons von ca. 435.000 wahlberechtigten Männern aus einer Gesamtbevölkerung von ca. 14 Millionen gewählt.60 Das House of Commons war weiterhin eine feudale Ständevertretung, der einzelne Abgeordnete noch ein „durch königliche Patronage in die Commons gebrachte[r] Höfling.“61 Die Wahlkreise waren ungleich über das Land verteilt, die boroughs (Städte) waren gegenüber den ländlichen counties (Grafschaften) benachteiligt, sodass große, industriell geprägte Städte wie Manchester oder Birmingham mit hohem Bevölkerungsanteil aus den niederen Klassen über gar keinen eigenen Wahlkreis verfügten (sog. rotten boroughs).62 Neben der Patronage hatte sich ein System eingebürgert, in dem bspw. Stimmen schlicht gekauft wurden. Letzteres wurde allein dadurch ermöglicht, dass der Wahlakt – noch bis zum Ballot Act 1872 – öffentlich und damit manipulierbar war.63 In vielen der Wahlkreise wurde vor 1832 überhaupt nicht gewählt, die Sitze blieben uncontested64. Zudem waren in beiden Parlamentsparteien damals fast ausschließlich Aristokraten vertreten, was ein Ausfluss aus dem beschränkten passiven Wahlrecht war. Die Gründung von Fraktionen, von außerparlamentarischen Parteiorganisationen ganz zu schweigen, war aus praktischen wie juristischen Erwägungen bei einer derart homogenen Schicht, die Wähler und Gewählte bildeten, schlechthin unnötig. So wäre es aus diesen Gründen verfehlt, bis zum frühen 19. Jahrhundert überhaupt von Parteien im heutigen Sinne zu sprechen.65 Stellt sich nun aber die Entwicklung der Parteien im modernen Sinn als direkte Folge der Wahlgesetzgebung ab dem 19. Jahrhunderts dar,66 so sind die Wahlrechtsreformen ihrerseits nur im Spiegel der bereits genannten technischen, wirtschaftlichen und politischen Revolutionen zu verstehen.67 Mit diesen ging auch ein starkes Bevölkerungswachstum einher. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den Städten wuchs auch der politische Gestaltungs- und Teilhabewille der prosperierenden städtischen Bürger60 Loveland, Constitutional Law, S. 196 mit einer Gesamtübersicht über die Entwicklung des Wahlrechts von 1830 bis 1949. 61 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 2. 62 Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 252; Loveland, Constitutional Law, S. 195; Manchester hatte zu der Zeit immerhin 180.000 Einwohner, so McKenzie, Parteien in England, S. 12. 63 Vgl. dazu Mares, Secret Voting, S. 15, 236 ff.; Self, Party System, S. 23. Dies geschah bis dahin sowohl durch die Parteien bzw. ihre electoral agents (d. h. anfänglich Solicitors und nach 1867 hauptamtliche Parteiangestellte). 64 Evans, Political Parties, S. 3, spricht von ca. 70 %. Ausführlich dazu auch Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983 S. 71 (83). Siehe zu den verfassungskonventionalrechtlichen Gründen später in dieser Arbeit. 65 Ähnlich bei Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (305); Ingle, Party System, S. 8 f. 66 Vgl. etwa McKenzie, Parteien in England, S. 15; Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (73 f.). 67 Zum Hintergrund der Ideen der Französischen Revolution und des Klassendenkens auf die Parteienentwicklung im Vereinigten Königreich Evans, Political Parties, S. 12 ff.
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884
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schicht, die bereits mit der Wahlrechtsform von 1832 ihr Wahlrecht erlangte, sowie der Arbeiter und kleinen Bauern, die durch die folgenden Reformen 1867 und 1884 wählen durften. Politisch herrschte weiterhin die adelige und altreiche großbürgerliche Klasse. Als probates Mittel zur Sicherung der eigenen politischen Vormachtstellung sah man die Bindung der ehedem wahlrechtlich vernachlässigten – aber zahlenmäßig großen – unteren Klassen.68 Zunächst führte die erste Wahlrechtsreform durch s. 27 Reform Act 183269 zur Ausweitung der Wahlberechtigung auf eine fortan ca. 700.000 Männer zählende Gruppe, die zu der Zeit etwa 4,4 % der erwachsenen Gesamtbevölkerung repräsentierte.70 Darunter fielen „small land-owners, tenant farmers and shopkeepers.“71 In einigen städtischen Wahlkreisen stellten Handwerker sogar schon große Anteile an der Wahlbevölkerung, in 47 boroughs sogar ca. 33 % der Wahlberechtigen.72 Die darauffolgenden Representation of the People Acts 1867 und 1884 waren „further milestones on the road to democracy“73. Indem sie das aktive Wahlrecht an kleinere Summen von Pacht bzw. Miete und die damit verbundene Zahlung von rates74 an constituency boroughs und county constituencies (d. h. Kommunalabgaben) knüpften, ermöglichten sie auch weiten Teilen der Arbeiterschaft das Wahlrecht.75 Schon die Reform im Jahre 1867 erhöhte die Zahl der Wahlberechtigten auf ca. 1,9 Millionen, was einer prozentualen Verdopplung auf 8,7 % der erwachsenen Gesamtbevölkerung entsprach.76 Schließlich waren durch den Representation of the People 68 Mit der Wahlrechtsausweitung auf die unteren Klassen zielten weder Disraeli noch William Gladstone auf eine Demokratisierung der Parteien oder des gesamten politischen Systems ab. Sie sollte schlicht die Machtbasis der Aristokraten und reichen Bürgerlichen ausweiten, vgl. zum Ganzen Loveland, Constitutional Law, S. 201. Speziell zu Disraeli siehe Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 104 f., 226 ff. 69 Zur relativen Bedeutung der Wahlrechtsreform von 1832 und 1867 aus heutiger Sicht, Parvin/McHugh, Defending Representative Democracy, P.A. 2005, S. 632 (633): „Thus the socalled Great Reform of 1832 only enfranchised a few hundred thousand middle-class men who met certain property requirements and the franchise debates 1866 – 67 were likewise initially framed in terms of property qualifications.“ 70 Der Besitz von „any house, warehouse, counting-house, shop, or other building […] either separately, or jointly with any land“ begründete das Wahlrecht, wenn dazu noch der erforderliche Zensus von 10 GBP gezahlt wurde. Siehe den Normtext bei Salmon, Electoral Reform, S. 30. 71 Self, Party System 1885 – 1940, S. 8. 72 Dazu Salmon, Electoral Reform, S. 66 m. w. N. 73 House of Commons (Hrsg.), The House of Commons and the Right to Vote (Internetquelle), S. 5. 74 Siehe die Terminologie in ss. 3 – 8 Representation of the People Act 1867. 75 House of Commons (Hrsg.), The House of Commons and the Right to Vote (Internetquelle), S. 5. So s. 2 Representation of the People Act 1884: „A uniform household franchise and a uniform lodger franchise at elections shall be established in all counties and boroughs throughout the United Kingdom“, zitiert in Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S. 134. 76 Vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 196 m. w. N. Etwas geringere Zahlen für die Wahlberechtigten (ca. 220.000) bei McKenzie, Parteien in England, S. 12. Zum Vergleich stieg die Gesamteinwohnerzahl, nicht die von Loveland berücksichtigte erwachsene Bevölkerung,
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Act 1884 etwa 66 % der englischen, 60 % der schottischen und 50 % der irischen erwachsenen Männer wahlberechtigt.77 Das vollständig demokratische Wahlrecht nach dem Prinzip one man, one vote, one value78 unter Einbeziehung aller erwachsenen Frauen wurde erst mit dem Representation of the People Act 1948 erreicht.79 Die Wahlrechtsreform 1884/1885 hatte aber noch zwei für die Entwicklung der Parteien wesentliche Neuerungen gebracht. So etablierte sie den Grundsatz gleich großer Wahlkreise. Wichtiger noch: Durch den Redistribution of Seats Act 1885 wurde der Einpersonenwahlkreis in vielen Wahlkreisen etabliert. Hieraus entwickelte sich dies als Grundsatz des durch den Representation of the People Act 1948 eingeführten und bis heute geltenden britische Wahlrecht zum House of Commons.80 Damit wuchs die Bedeutung der städtischen Wahlkreise mit hohem Bevölkerungsanteil aus den niederen Klassen gegenüber den dünn besiedelten ländlichen Wahlkreisen an. Die Folge war, dass es für die Parteien interessant wurde, in diesen Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen und diese Wahlkreise auch zu gewinnen.81 Das britische Wahlrecht unterlag einer allmählichen Entwicklung, die sich stets an neue politische und gesellschaftliche Gegebenheiten anpasste.82 Somit verbietet es sich, an den Ausgangspunkt für die sukzessive Ausweitung des Wahlrechts zwischen 1832 und 1884 das aufklärerische Ideal eines allgemeinen Wahlrechts zu setzen. Königin Victoria sprach noch in den späten 1880er Jahren: „I cannot and will not be the Queen of a democratic monarchy.“83 Begriffe wie „Demokratie“ und „gleiches Wahlrecht“ waren bis zur Reform von 1884 noch veritable Schimpfwörter für zahlreiche (vor allem konservative) Politiker.84 des Vereinigten Königreichs von 1801 bis 1901 von 10,5 auf 37 Millionen. Zahlen nach Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 227. Setzer weist ebenso auf die Auswirkungen auf den Demokratisierungsprozess hin. Wiederum leicht differierende Zahlen bei Ingle, Party System, S. 8, 12, der hingegen von 500.000 Wahlberechtigten vor 1832 und ca. 1,3 Millionen nach 1867 ausgeht. 77 Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 50 m. w. N. 78 Vgl. zu diesem Diktum Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 59. 79 Siehe für einen kurzen wahlrechtshistorischen Überblick nur Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 50 ff. 80 So s. 1(1) Representation of the People Act 1948: „[T]here shall be for the purpose of parliamentary elections the county and borough constituencies, each returning a single member.“ Vgl. auch in Self, Party System, S. 8. 81 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 17. 82 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 2; Ewing, Electoral Reform, in: Orr/Mercurio/ Williams (Hrsg.), Realising Democracy, S. 26 (26 ff.). 83 Zitiert nach Briggs, Parties, in: Birke/Brechtken (Hrsg.), Politikverdrossenheit, S. 19 (21). 84 So war ein Teil der Parteimaxime der Tories: „Do not extend the franchise […]. […] [S]tand no nonsense about democratic institutions.“ So nach Young, Stanley Baldwin, S. 54. Inhaltlich sind die Begriffe Tory und Conservative nicht identisch. Darauf weist eindrucksvoll das Zitat des Abgeordneten des House of Commons, John Welsh, von 1836 hin: „The Con-
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884
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Vielmehr war der Hintergrund aller Reformen des Wahlrechts im 19. Jahrhunderts das machtpolitische Kalkül der jeweiligen parlamentarischen Gegenspielerin, mithin der Parteien selbst. Die erste Reform des Jahres 1832, deren Urheber die bürgerlichen Whigs waren, hatte keinesfalls zum Ziel, die konstitutionelle Monarchie zu unterminieren. Es ging einzig darum, die Kardinalfehler des aristokratisch dominierten Wahlsystems zu beseitigen. Dazu zählten die Kandidatenselektion durch Honoratioren, die Wahlkorruption, die Verbesserung der Repräsentation von schnell wachsenden industriell geprägten Städten und damit der städtischen Mittelschichten durch Abschaffung der rotten boroughs.85 Der konservative Politiker Disraeli sprach selbst davon, die erneute Ausweitung des Wahlrechts im Jahre 1867 zugunsten der Arbeiterschaft auf seine Initiative hin sei nur ein Mittel „to dish the Whigs“86. Tatsächlich sollte sich dies mittelfristig auch bewahrheiten.87
III. Entwicklung der Parteien aus dem Parlament in die Wahlkreise Um 1832 gründeten sich zunächst zwei politische Klubs, der Carlton Club im Jahre 1832 und der Reform Club im Jahre 1836. Ersterer war der konservative, letzterer der liberale Klub.88 Die Bezeichnung als Parteiorganisationen wäre auch für die beiden Klubs verfehlt, denn es waren informelle regelmäßige Zusammenkünfte politisch gleichgesinnter Parlamentarier i. S. v. social clubs.89 Nichtsdestoweniger hatten sie für die Chief Whips90, d. h. die Einpeitscher der Fraktionen,91 eine zweite
servative party is not identical with the Tory party. It […] is a more comprehensive term […] consist of all that part of the community who are attached to the constitution in Church and State and who believe […] that the march of democracy, with its eternal warfare against all that exists, is a retrograde one“, zitiert nach Evans, Political Parties, S. 36. 85 Vgl. Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (80). 86 So bei Evans, Political Parties, S. 50. Siehe auch die Kapitelüberschrift bei Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 124 ff. 87 Bei den Wahlen 1874 kam die Conservative Party wieder für eine volle Legislaturperiode an die Regierung. 88 Zur Etymologie der umgangssprachlichen Begriffe für die beiden Parteien ist sich die Geschichtswissenschaft einig, dass dieser Parteiname erstmals im Januar 1830 in der Zeitschrift Quarterly Review 1830, S. 276 von einem anonymen Autor verwendet wurde: „We now are, as we always have been, decidedly and conscientiously attached to what is called the Tory, and which might with more propriety be called the Conservative Party.“ Als Autor wird zumeist der irische Autor und Politiker John Croker vermutet, so etwa Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 59 (a. A. zur Urheberschaft bei Blake, Conservative Party, S. 6). 89 Siehe zur Eigenbezeichnung Major, Conservatism, S. 42. Für den liberalen Reform Club Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (103). 90 Die Chief Whips (oder nur Whips im House of Lords) der Regierungs- und der Oppositionsfraktion sind die „links […] between the party leaderhips and the ordinary Members of the parliamentary party in the House of Commons“. So Griffith/Ryle, Parliament, S. 113.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Funktion. Insofern dienten sie dazu, Mehrheiten innerhalb des Parlaments zu organisieren. Außerdem nahmen sie bereits eine zusätzliche dritte Funktion außerhalb des Parlaments wahr, indem sie die informelle Aufsicht über die zur gleichen Zeit gegründeten Wahlkreisvereinigungen ausübten. Vor allem hielten die Klubs Kandidatenlisten mit als geeignet befundenen Personen für die Wahlkreise bereit,92 und zwar bis zu der ebenfalls noch zu diskutierenden Gründung der nationalen Parteizentralen, des Conservative Central Office im Jahre 1870 und der Liberal Registration Association im Jahre 1860.93 Der Carlton Club formierte sich sogar schon vor Inkrafttreten der Wahlrechtsreform 1832, wenn auch nur kurz zuvor. Dass dessen Gründung zuvor erfolgte, erwies sich als entscheidender Vorteil im Wahlkampf. Vermöge dieses organisatorischen Vorteils konnten die Tories die Wahl gewinnen und erstmals die Bedeutung einer noch rudimentären Parteiorganisation unter Beweis stellen.94 Die eigentliche Gründung von außerparlamentarischen Parteiorganisationen auf nationaler Ebene begann zwar erst mit den Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts, speziell mit jener von 1867.95 Derweil war eine gestiegene Abhängigkeit der politischen Führer von der Wählerschaft nach 1832 bereits zu verzeichnen. Dies galt zwar nicht quantitativ, als immer noch ein marginaler Prozentanteil der (männlichen) Bevölkerung überhaupt wahlberechtigt war. Jedoch hatte es institutionelle Verschiebungen im Verfassungsgerüst gegeben. Das Parlament hatte sich bereits am Ende des 17. Jahrhunderts neben und gegenüber der Krone als Souverän und allkompetentes Gesetzgebungsorgan etabliert und avancierte zusätzlich rund einhundert Jahre danach zum Träger der Regierung (parlamentarische Kabinettsregierung). Diese gewachsene Bedeutung des House of Commons – damit jedes einzelnen Abgeordneten – führte dazu, dass es als das 91
McKenzie, Parteien in England, S. 12, wonach die Whips vor 1832 die Parteiorganisation darstellten, danach die Klubs. 92 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 206. Als party agents wählte man örtliche SolicitorKanzleien aus, denn diese kannten die Wahlkreise gut und konnten Wahlprüfverfahren bzgl. vorsätzlicher falscher Eintragungen von Wählern in die Wahllisten vor dem zuständigen Barrister’s Revising Court vorbringen (Evans, Political Parties, S. 41 f.). Die Aufsicht über die Kandidatenselektion führten aber die Whips bis Ende der 1860er Jahre, so Blake, Conservative Party, S. 142, 146. 93 Blake, Conservative Party, S. 7. 94 Vgl. dazu Blake, Conservative Party, S. 7. 95 So ausdrücklich Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 7, 110 f.; Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 305 (305) und Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 604, weisen darüber hinaus auf die Bedeutung der Wahlrechtsform von 1832 hin. Diese beinhaltete eine erste signifikante Ausweitung des Wahlrechts und förderte die Gleichheit der Wahl. So wurden im Zuge der Reform von 1832 schon die ersten registration societies, zur parteipolitisch motivierten Eintragung der Wähler in Wählerlisten, außerhalb des Parlaments gegründet. Diese waren allerdings autarke Organisationen auf Wahlkreisebene, siehe dazu auch Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 125 f. Im Ergebnis kann allerdings offengelassen werden, welche Reform die entscheidende war, vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 4 ff.
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gewählte der beiden Häuser einer qualitativ und quantitativ höheren Legitimation durch das Volk bedurfte. Aufgrund des althergebrachten Prinzips des britischen Wahlrechts mit dem Mehrheitswahlrecht auf Wahlkreisebene setzte auch in den Wahlkreisen die Entwicklung des modernen Parteienwesens an. Tories und Whigs, d. h. die baldige Conservative Party und Liberal Party96, gründeten in Folge der Wahlrechtsausweitung und Zweiparteiensystems im Parlament eigene registration societies97 in den Wahlkreisen. Diese waren Vereinigungen, welche die Eintragung in die Wählerlisten fördern sollten.98 Dies machten die bereits in den Londoner Klubs organisierten Abgeordneten und Honoratioren aus wohlverstandenem Eigeninteresse.99 Die Eintragung in das electoral register, das Wahlregister, war nach dem neuen Wahlrecht von 1832 für die Wahlberechtigung nämlich erforderlich100 und musste gegen Zahlung eines kleineren Betrages von einem Schilling im Jahr vorgenommen werden.101 Der konservative Premierminister Robert Peel prägte in seinen berühmten Reden in seinem Wahlkreis Tamworth den Ausspruch „register, register, register!“102, der nicht nur an die Wähler, sondern zuvörderst als Auftrag an die registration societies zu verstehen war. Dies wurde zur zentralen Funktion der registration societies.103 Die Vereinigungen bedienten sich örtlicher Solicitors. Diese, als Juristen vertraut mit den Komplexitäten der wahlrechtlichen Vorschriften zur Wählerregistrierung, übernahmen diese Funktion der Vereinigungen zu jener Zeit noch auf Basis einer Mandatsbeziehung.104 In den wenigen zu jener Zeit umkämpften Wahlkreisen, in denen überhaupt gewählt wurde, waren die registration societies zum Teil von dauerhafter Organisation.105 Eine schriftliche Satzung gab es zumeist nicht.106 Dass die zwischen den Wahlen bzw. den vorgelagerten Wahlkämpfen diese Vereinigungen faktisch fort96 Der Name Liberal Party wird etwa in den Briefwechseln der führenden Parlamentsmitglieder zur Gründung der registration societies verwendet, vgl. Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (227) m. w. N. 97 Vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 125 f. 98 Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 101 f., 127 f. 99 So geschah dies zum Zweck ihrer jeweiligen Machtsicherung. Vgl. dazu Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (227) m. w. N. 100 Die obligatorische Eintragung in die Wählerlisten war mit dem Gesetz von 1832 eingeführt worden, um Wahlfälschungen zu verhindern, so z. B. Loveland, Constitutional Law, S. 206. 101 Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 95; speziell zu den Tories nach 1832 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 112; Evans, Political Parties, S. 42. 102 Bspw. in Tamworth am 7. August 1837, so nach Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 75. 103 Vgl. Salmon, Electoral Reform, S. 66; Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 468. 104 Self, Party System, S. 22 f., später wurden diese dann zu den electoral agents, d. h. festangestellten Parteisekretären. 105 Siehe nochmals Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (83). 106 Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 467.
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existierten, lag in der gesetzlich nicht festgelegten Mindestdauer der Legislaturperiode107 und dem Erfordernis der Wählerregistrierung begründet. Mithin war eine kurzfristige Organisation der Eintragung der Wählerschaft für die jeweiligen Kandidaten schwierig zu erreichen, wenn der Premierminister der anderen Partei Neuwahlen spontan ansetzte.108 Außerhalb des Wahlkampfes dienten diese Vereinigungen den gewählten Abgeordneten in ihren Wahlkreisen dazu, für ihre Unterstützer Dinner zu geben oder Reden zu halten. Am Beispiel der Abendessen zeigt sich, dass es nur eine kleine Gruppe politisch aktiver und interessierter Männer aus den höheren Klassen überhaupt war, die Mitglieder dieser Vereinigungen waren.109 Wenig später nahmen die registration societies die Namen der späteren Parteien an, nannten sich also im weiteren Sinne Conservative Associations110, wobei für die Bezeichnung der konservativen Vereinigungen zwischen ihrer klassenmäßigen Orientierung zu unterscheiden ist: Für die unteren Klassen wurden die Loyal and Constitutional Associations gegründet, für die höheren Klassen, die Gentlemen der Wahlkreise, die Conservative Operatives Societies.111 Die liberalen Vereinigungen indessen kannten diese Unterschiede nicht und nannten sich Liberal Registration Societies, zuweilen auch Liberal Association.112 Im Hinblick auf die innere Ordnung dieser Wahlkreisvereinigungen verfügten manche konservativen unter ihnen seit ihrer Reorganisation im Jahre 1848 zum Teil über gewählte Vorstände.113 Dagegen blieben Großteile der konservativen wie auch die liberalen Vereinigungen in keiner Weise repräsentativ „but self-elected and selfperpetuating“114. Die meisten dieser Vereinigungen blieben aber inoffizielle Zirkel von örtlichen Honoratioren.115 107 Gesetzlich erfolgte dies gar erst mit s. 1(3) Fixed-term Parliaments Act 2011, der eine fünfjährige Wahlperiode anordnet. Für die alte Rechtslage siehe auch Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 208. 108 Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 467. 109 Ähnlich bei Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 204. Angeführt wurden die Vorstände der Wahlkreisvereinigungen nicht selten von Geistlichen der anglikanischen Staatskirche, vgl. Salmon, Electoral Reform, S. 70 m. w. N. 110 Siehe Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 204. Die Begriffe Conservative und Constitutional wurden in Presse und Politik synonym für die konservativen Organisationen verwendet, obwohl es in der klassenmäßigen Zugehörigkeit unterschiedliche Bedeutungen der jeweils so bezeichneten Vereinigung gab. 111 Siehe zu den Begriffen auch Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (231). 112 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 75. 113 Siehe dazu Ingle, Party System, S. 12: „Conservatives in Liverpool, for example, organised originally in 1832, reorganised themselves in 1848 into a representative constitutional association based upon wards with elected officials, each holding positions in the associations.“ Generalisierende Aussagen können vor dem Hintergrund der fehlenden satzungsrechtlichen Verankerung in einzelnen Wahlkreisvereinigungen sowie einer flächendeckenden Organisation nicht getroffen werden. 114 Ingle, Party System, S. 12 m. w. N.; ähnlich Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (103).
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Was die Kandidatenauswahl betrifft, so wäre es nicht falsch, von einer Zuständigkeit der frühen Wahlkreisvereinigungen für die Nominierung zu sprechen. Das damalige Verfahren der Kandidatenaufstellung kann gleichwohl nicht an heutigen demokratischen Maßstäben gemessen werden. Nominierung und Vorauswahl von Kandidaten gab es nur dort, wo nicht nach der mittelalterlichen Verfassungstradition gehandelt wurde, die einem sitting Member of Parliament (ein in der letzten Wahl gewählter Abgeordneter), das Recht zusprach, ohne eine Wiederwahl im Parlament zu verbleiben. Nur dort, wo ein Abgeordneter seinen Verzicht auf dieses althergebrachte Recht – aus welchen Gründen auch immer, sei es erzwungen oder aus freien Stücken – erklärte, wurden Nominierungs- und ein anschließendes Wahlverfahren der Kandidaten durch das Wahlvolk durchgeführt. In jedem Fall aber dominierten die lokalen großgrundbesitzenden Adeligen das Ob und ggf. das Wie der Nominierung und anschließenden Wahl eines Abgeordneten.116 Gleichzeitig griff bspw. der nicht minder aristokratische konservative Carlton Club aus London ab ca. 1835 auch in diese „Auswahl“ von Kandidaten ein, indem er im Wahlkampf Gelder an die lokalen Vereinigungen gab.117 Dies blieb naturgemäß nicht ohne Einflussnahme auf die Nominierung der jeweils von den Londoner Politikern für geeignet gehaltenen Kandidaten in den Wahlkreisvereinigungen.118 Bei allem Einfluss „von oben“ wurden im Zeichen des Wahlrechts und der gewachsenen Bedeutung des House of Commons und jedes seiner Abgeordneten in den Wahlkreisvereinigungen bereits politische Themen besprochen. Diese waren indessen mehr auf die lokale als auf die nationale Ebene bezogen119 und auch ein Mittel der Sondierung, durch welchen Kandidaten sich die Honoratioren vor Ort am besten im Parlament vertreten sahen. Somit handelte es sich bei der Kandidatenauswahl um ein Zusammenspiel des jeweiligen Londoner Klubs und seiner Wahlkreisvereinigungen. Es wurden auf diesem Wege solche Kandidaten gewählt, die den führenden Köpfen in London und jenen politisch interessierten Gentlemen der lokalen Vereinigungen gerecht wurden. Als die nur kurzlebige Conservative Registration Association 1862 als erste konservative nationale Parteiorganisation gegründet wurde, hielt diese eine Liste mit verfügbaren Kandidaten bereit, von der sich die Wahl115 Besonders pointiert bei Self, Party System, S. 22: „Until at least 1867 […] local ,associations‘ were invariably informal and largely ephemeral bodies composed of self-electing committees of notables who hired a solicitor to conduct the necessary registration and electoral work.“ 116 So Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 468 klarstellend: „The nomination of candidates did not necessarily form any part of their functions. The old theory prevailed, […] that a candidate offered himself for election, or was recommended by some influential friend.“ 117 Siehe für diese beiden clubs anstelle vieler Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (96). 118 Nach Evans, Political Parties, S. 42, gab es bei der Wahl zum House of Commons im Jahre 1841, bei der die Conservative Party in der Opposition war, schon zahlreiche Conservative Clubs and Associations, wobei landlords (also großgrundbesitzende gentry) die Nominierung von Kandidaten faktisch dominierten. 119 Salmon, Electoral Reform, S. 60 ff.
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kreisorganisationen einen geeigneten Kandidaten aussuchen konnten.120 Auch die Liberal Registration Association (gegründet 1861) überwachte bzw. beriet die Wahlkreisvereinigungen bei der Wählerregistrierung und der Auswahl von Kandidaten.121 Im Ergebnis orientierte sich die Auswahl zu einem großen Teil an der Erwartung, wie gut der von London aus gewissermaßen vorausgewählte Kandidat die lokalen Bedürfnisse im Parlament vertreten würde.122 Diese enge Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis gilt bis heute als ein Ausfluss aus dem britischen relativen Mehrheitswahlrecht und eo ipso der politischen Kultur des Landes.123
IV. Nationale Parteiorganisationen ab 1867 Die Zusammenfassung der lokalen Entitäten unter dem Dach nationaler Parteiorganisationen erfolgte unmittelbar auf die Wahlrechtsreform 1867. Der Hauptgrund dafür war nicht juristischer, sondern praktischer Natur. Denn mit der zunehmenden Polarisierung der Wählerschaft unter dem Eindruck der Industrialisierung und der zahlenmäßig wachsenden Wählerschaft wurden allmählich die Wahlkämpfe national und nicht mehr nur in den einzelnen Wahlkreisen geführt. Der konservative Parteiführer Disraeli sprach zwar davon, das Wahlgesetz von 1867 habe „no tendency in the direction of democracy“124. Jedoch gingen aus den Wahlrechtsreformen von 1867 und der von 1884/85 die Arbeiter und Kleinbürger endgültig als zahlenmäßig bedeutsamste Wählergruppe hervor.125
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Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (96). Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S. 107. 122 Evans, Political Parties, S. 44. 123 Vgl. auch Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 264: „The constituency is the linchpin of our electoral system.“ Ebenso bei Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 148. 124 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 18 f. 125 Dem sodann eingeführten Wahlrecht mit nur noch minimalen Zensuserfordernissen lag eine politische Gemengelage zugrunde. Disraeli legte dem House of Commons den Gesetzesentwurf „in der harmlosen Gestalt eines Haushaltsstimmrechtes“ vor, sodass diese Reform vor den konservativ-aristokratischen Kritikern in der eigenen Partei gar nicht erst revolutionär aussah. Geschickt nutzte der liberale Gegenspieler, Gladstone, das Spannungsfeld zwischen der für die Conservative Party erforderlichen Ausweitung der Wählerschaft bei gleichzeitiger Ablehnung einer wahren Demokratisierung der Wahl. Er brachte in der Plenardebatte die noch weitergehende Absenkung der für das Wahlrecht erforderlichen rates ein. Ohne eine Unterbrechung der Sitzung, die wiederum das Risiko eines innerparteilichen Konfliktes mit den ohnehin der Wahlrechtsausweitung kritisch gesonnenen aristokratischen Abgeordneten seiner Partei bedeutet hätte, konnte Disraeli im Plenum nicht umhin, diesem Änderungsvorschlag zuzustimmen, siehe Evans, Political Parties, S. 50; ähnlich Loveland, Constitutional Law, S. 200 f. 121
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1. Birmingham Caucus: die erste lokale Parteiorganisation im modernen Sinne Die Liberal Party gewann trotz des Kalküls der konservativen Initiatoren der Reform die folgende Wahl, was besonders eng mit der Etablierung ihrer lokalen und nationalen außerparlamentarischen Organisation zusammenhing. In der neuen Form der liberalen Wahlkreisvereinigungen begannen die Mitglieder mehr und mehr eine Rolle zu spielen. Vor 1867 noch unterschieden sich die beiden Parteien, insbesondere ihre Fraktionen im House of Commons, nicht, insoweit sie beide „in a broad sense aristocratical parties“126 waren. Dies sollte sich aber zunächst für die Liberal Party und sodann im Zuge der Zusammenschlüsse zu nationalen Parteiorganisationen nach 1867 auch für die Conservative Party ändern.127 Den Anfang machte die Liberal Party mit ihrem Birmingham Caucus, also einer dauerhaften Wahlkreisorganisation zur Nominierung von Kandidaten und vor allem zur effizienten und effektiven Führung des Wahlkampfes.128 Dieser entstand als eine unmittelbare Reaktion auf die wahlrechtlichen Vorschriften des Representation of the People Act 1867, der noch immer Mehrpersonenwahlkreise vorsah. Zudem barg dieser die wahlrechtliche Besonderheit, dass es (außer in der City of London, die vier Mandate zu vergeben hatte) in den städtischen Wahlkreisen bis zu drei Mandate zu erlangen gab, während die Wähler nur zwei Stimmen zu vergeben hatten129 (vgl. ss. 9, 10, 18 Representation of the People Act 1867).130 Die Herausbildung einer organisierten und disziplinierten Parteimaschinerie wurde also zur condicio sine qua non, um alle Mandate in einem Wahlkreis zu erlangen.131 Überdies war eine Beeinflussung der Wähler noch bis zum Ballot Act 1872 nicht illegal, da und insoweit der noch öffentliche Wahlakt an der Urne auf einfachem Wege durch Parteiaktivisten überwachbar war.132 Die Liberal Associations aus der Zeit vor 1867 waren schlicht nicht gut genug organisiert, um alle Wähler zu erreichen, es bedurfte einer „aktionsfähige[n] Organisation“133. So gründeten die liberalen Politiker Francis Schnadhorst, Joseph Chamberlain und William Harris in der Stadt Birmingham den ersten caucus. Dieser verfügte über eine schriftliche Satzung. Sie sah vor, dass jeder wahlberechtigte Anhänger der Liberal Party, der eine Mitgliedsgebühr von einem Schilling zahlte, in 126
Briggs, Parties, in: Birke/Brechtken (Hrsg.), Politikverdrossenheit, S. 19 (26) m. w. N. So gab es eben noch keinerlei innerparteiliche Demokratie zu dieser Zeit. 127 Vgl. Briggs, Parties, in: Birke/Brechtken (Hrsg.), Politikverdrossenheit, S. 19 (25). 128 Zur Bedeutung des Wortes caucus i. S. einer Wahlkreisorganisation Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (231). 129 Siehe Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (231). 130 Siehe exemplarisch den Wortlaut der s. 9: „At a contested Election for any County or Borough represented by Three Members no Person shall vote for more than Two Candidates.“ 131 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 204. 132 Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 85. 133 Vgl. Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (103).
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die ward, die Vereinigung auf Ebene des Stadtteils bzw. der Ortsgruppe, eintreten konnte. Diese wählten Delegierte in das General Committee. Das General Committee und die Mitgliederversammlungen der wards wählten auf Ebene des Stadtverbandes, des caucus, ein Managing Committee bzw. Executive Committee.134 Die Komitees wurden erweitert um nicht gewählte kooptierte Mitglieder.135 Die Vereinigung nominierte Kandidaten für die Wahl zum House of Commons und formulierte das lokale Parteiprogramm.136 2. Birmingham-Modell im gesamten Land: keine einheitliche Organisation Nach dem Modell des Birmingham Caucus organisierten sich in den nächsten Jahren 93 andere Wahlkreisorganisationen, die sich 1877 in der National Liberal Federation zusammenschlossen.137 Diese sog. Birmingham Federation strebte nach der Kontrolle über Programmatik und Vorstandswahlen sowie über die Parteiführerwahl.138 Im Jahr 1878 wurden die Orders of the Caucus (Satzung) beschlossen, die als Ziel einer landesweiten Vereinigung vorsahen „to assist in the organisation throughout the country of Liberal Associations based on popular representation“139. Dem Zeitgeist des Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts entsprechend forderte Art. 15 dieser Satzung von einem jeden Kandidaten, dass er den Entscheidungen seiner Wahlkreisorganisation Folge leisten wollte. Dies war also die in jener Zeit in der politischen Philosophie wie in der Praxis nicht unübliche Forderung nach einem imperativen Mandat.140 Diese Forderung blieb aber rechtlich folgenlos, da die Parlamentsfraktion jegliche Einflussnahme auf ihr Abstimmungsverhalten ablehnte.141 134 Genaueres zur Wahl der committees bei Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 471 m. w. N. 135 Die Mitglieder wählten vier Mitglieder des Managing Committees und 3/4 von ihnen wurden durch das Executive Committee nominiert. Das Executive Committee wiederum war teilweise kooptiert. 30 wurden durch 80 Delegierte gewählt. Diese Delegierten wurden zu 4/5 von den Ward Committees (d. h. Vorstände der Ortsverbände) gewählt. Diese Ortsvorstände wiederum hatten keine Begrenzung an kooptierten Mitgliedern. Zum Ganzen Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 83. 136 Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 472 ff. m. w. N. und mit positiver wie negativer Kritik mit Blick auf innerparteiliche Basisdemokratie wie auch Effizienz der Parteiführerzentrierung. 137 Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 477; Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (104). 138 Lloyd, General Election, S. 67; Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (307). 139 Zitiert nach Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 477. 140 Vgl. Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (105) m. w. N. u. a. auf Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 96 ff., dieser wiederum mit Verweis auf die Idee eines gebundenen Mandats, der obedience to party. 141 So mit kurzer Erläuterung bei Ball, Political Parties, S. 29.
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Die Orders of the Caucus waren als Musterstatut der National Liberal Federation für die lokalen Vereinigungen vorgesehen, die fortan in ihrer Organisation dem Birmingham Caucus nacheifern sollten. Vor dem Hintergrund dereinst fehlender gesetzlicher Normierungen oder einer richterrechtlich konturierten Organisationsgrundform für (politische) Vereinigungen war eine Uniformität auf lokaler Ebene nicht gegeben, sondern es gab im gesamten Vereinigten Königreich „endless variations in detail and in nomenclature“142. Jedoch bleibt bei all diesen lokalen Variationen zu konstatieren, dass auf Grundlage des Birmingham Caucus mit der National Liberal Federation im Jahre 1877 die erste flächendeckende, binnendemokratisch organisierte außerparlamentarische Partei im Vereinigten Königreich gegründet wurde.143 3. Kontrolle der Birmingham Federation über die Politikformulierung und Kandidatenauswahl? Nach der enttäuschend verlorenen Wahl 1878, in der sich die – noch streng hierarchisch und aristokratisch dominierte144 – Organisation der Conservative Party als wahlentscheidend herausgestellt hatte, bemühte sich Joseph Chamberlain, die National Liberal Federation zu stärken. Er wollte die gesamte Liberal Party von William Gladstones personalisierter Parteiführung befreien und ein Parteiprogramm als Leitlinie einführen.145 Letztlich diente, wie bereits oben anhand der repräsentativen Struktur des Birmingham Caucus gezeigt, auch die gesamte National Liberal Federation insbesondere Joseph Chamberlain als seine persönliche pressure group.146 Er beabsichtigte sie zu nutzen, um seine Politik und seine Person in hohe Staatsämter zu bringen.147 Allerdings wurde dieser Plan bei der ersten Jahreskonferenz der National Liberal Federation durch einen fulminanten Auftritt Gladstones durchkreuzt.148 Dort schaffte er es, dass der Parteiführer weiterhin die Kontrolle über das Parteiprogramm behielt und dass das Hauptquartier der National Liberal Federation von Birmingham nach London, in die unmittelbare Nähe der Liberal Central Association, verlegt wurde. Letztere unterstand dem Parteiführer direkt und ihr Ge142
Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 481. Siehe nur Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (105). 144 Vgl. Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 485. 145 Es kam zur Demokratisierung der NLF auf Initiative Joseph Chamberlains. Er führte programme politics nach der verlorenen Wahl des Jahres 1874 ein. Der Birmhingham Caucus wurde das nationale Vorbild mit seiner Abkehr von der unbedingten Oligarchie der höheren Klassen und einer Dezentralisierung von Personal- und Programmpolitik. So Belchem, Class, Party, S. 37 f. 146 Zum Begriff: „Pressure groups are bodies of persons organised to exert influence or pressure upon government without themselves seeking, through the electoral process, to assume governmental responsibility. In general they are clearly distinguishable from political parties, which hope to enter government,“ so Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 550. 147 Vgl. Blake, Conservative Party, S. 156. 148 Belchem, Class, Party, S. 37 spricht von „captivating“. 143
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neralsekretär übte diese Funktion fortan ex officio in der National Liberal Federation aus.149 Überdies hatte die Liberal Central Association auch weiterhin einigen politischen Einfluss auf die Kandidatenauswahl. Es wurde weiterhin eine zentrale Liste mit geeigneten Kandidaten in London geführt und ca. jeder zweite liberale Kandidat in den Wahlkreisen wurde auf Empfehlung der National Liberal Federation nominiert.150 4. Caucus-Idee in beiden großen Parteien Der Birmingham Caucus der Liberal Party wurde also zum Ausgangspunkt für die in Grundzügen bis heute gültige Organisation der britischen Parteien außerhalb des Parlaments. Waren die alten registration societies noch ausschließlich für die Wählerregistrierung gegründet, übernahm die neue Wahlkreisvereinigung massiven Einfluss in der Partei. Dies geschah zuvorderst aus ihrer Zuständigkeit für die Durchführung des Wahlkampfes, beginnend bei der Kandidatennominierung. Der Aufwuchs der aktiven Wählerschaft durch die Reformen ab 1832 bis 1867 zeigte sich auf staatlicher Ebene, nur durch die Stimmabgabe im Turnus mehrerer Jahre. Die Idee des Birmingham Caucus erlaubte es aber den niederen Klassen, „who only yesterday were nobodies“151, auch in der Zwischenzeit Einfluss auf die Kandidatenauswahl und zumindest die lokale Politikgestaltung zu nehmen.152 Eine tiefergreifende Umorganisation der außerparlamentarischen Partei gab es bei der Liberal Party erst 1936, als die National Liberal Federation zur Liberal Party Organisation umgewandelt wurde.153 a) Grundsätzlicher Aufbau der Wahlkreisvereinigungen Die Wahlkreisvereinigungen etablierten sich bis Ende des 19. Jahrhunderts landesweit. In beiden Parteien gilt, dass die Modellsatzungen nur die grundsätzlichen Prinzipien beinhalteten und es Variationen in zahlreichen Fragen der inneren Ordnung gab.154 Im Grundsatz gilt bis heute, dass es auf unterster Ebene, die nach Stadtvierteln oder kleinen Gemeinden organisierten ward associations oder polling district associations stehen. Sie waren bereits im 19. Jahrhundert de jure demokratisch organisiert. Oftmals wählten sie oberhalb der direktdemokratischen Mitgliederversammlung Delegierte, die wiederum die Vorstände der nächsthöheren 149
Belchem, Class, Party, S. 37 f., 40; Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 207. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 234. Juristisch sind die lokalen Vereinigungen frei gewesen. Es handelte sich eher um eine Empfehlung exzellenter Kandidaten aus der Sicht der Parteiführung in London. 151 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 174. 152 Ähnlich auch bei Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 485 ff. 153 Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (107). 154 Vgl. diese Beobachtung mit weiteren Details für beide Parteien bei Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 487, 490. 150
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Gebietsgliederung wählten. De facto gab es oft auf der Ebene der örtlichen Mitgliederversammlung weniger teilnehmende Mitglieder als zu wählende Delegierte.155 Dies lag nicht zuletzt daran, dass ein allgemeines Wahlrecht auch nach der Reform von 1884 noch nicht erreicht war. Immer noch waren alle Frauen sowie rund ein Drittel der männlichen Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Council oder General Committee wählte ein Executive oder Management Committee als Vorstand. Diesem stand ein President vor, der häufig ein Mann aus der „well-todo middle class“156 war. In den Parteien war die Alleinherrschaft des Adels mithin gebrochen, zumal auch die sonstigen aktiven Mitglieder der Mittelklasse angehörten. Es waren „shopkeepers, clerks, superior artisans“157. Die working class stellte zwar schon Mitglieder, diese waren aber längst noch in der Unterzahl gegenüber den politisch aktiveren höheren Klassen. b) Recht und Realität der Kandidatenselektion in den Wahlkreisvereinigungen Die lokalen Wahlkreisvereinigungen beider Parteien übten die Kandidatenauswahl im Grundsatz autonom aus.158 Die Vorstellung der Kandidaten erfolgt im Council oder General Committee, damit der Mitgliederversammlung. Die Mitglieder also wählten den Kandidaten aus.159 Örtliche und von der Parteizentrale vorgeschlagene ortsfremde Kandidaten mussten ihre Identifikation mit dem Wahlkreis und der Vereinigung erklären. In der Rechtspraxis der Kandidatenselektion galt aber faktisch eine Tradition seit dem mittelalterlichen englischen Parlament weiter, nämlich jene, die einen sitting member automatisch zum Kandidaten für die nächste Wahl macht.160
155 Es gab häufig mehr zu wählende Delegierte als anwesende Wähler. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 167, nennt das Beispiel von 20 anwesenden Personen bei 75 zu Wählenden. 156 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 172. 157 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 173. 158 Siehe dazu pointiert Ball, Political Parties, S. 29: „Both organisations did share one common weakness: neither found it easy to influence the local associations, particularly in the area of candidate selection.“ 159 Vor den Mitgliedern erfolgte die Präsentation. Anschließend entschieden die Mitglieder (nicht zuletzt wurde dieses Verfahren so eingeführt, da auch ortsfremde und damit unbekannte Kandidaten von der Zentralpartei vorgeschlagen wurden). Siehe bei Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 211. Auch hier war in der Realität das Executive Committee entscheidend tätig, da es die Organisationshoheit über die Vorstellung der Kandidaten, Terminierung von Veranstaltungen hatte und auch sonst auf informellem Wege die einfachen Mitglieder beeinflussen konnte. Vgl. dazu gleichfalls Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 488. 160 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 210. Die Labour Party führte dies erst in den 1980er Jahren ein.
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Zwar führte das Conservative Central Office eine zentrale Liste mit geeigneten Kandidaten, die es einer Wahlkreisorganisation benennen konnte, falls sie sich an das Conservative Central Office wendete. Diesbezüglich aber bestand kein Zwang.161 Da Wahlkampf und Ausübung des Mandats eines Abgeordneten im House of Commons kostspielig und zugleich gering entschädigt waren, fanden sich oftmals keine Kandidaten aus dem eigenen Wahlkreis. Man griff oftmals auf die zentrale Kandidatenliste zurück, auf denen sich Namen finanzstarker Personen aus der Oberschicht fanden.162 Mit dieser Organisationsstruktur wählte Disraeli den Weg zwischen einer „modernen Massenpartei und der Erhaltung alter Überzeugungen von der Berufung eines bestimmten Typs von Persönlichkeiten zur Führung der politischen Geschäfte.“163 Die Funktion der Wahlkreisvereinigungen war und ist es bis heute, die Anzahl der Wählerstimmen zu maximieren. Dabei sind die inaktiven Parteimitglieder nicht hilfreicher als außenstehende Wähler außer dahingehend, dass sie Mitgliedsbeiträge bezahlen. Hingegen sind die aktiven Mitglieder das „salt of the earth“164, zumal sie im und außerhalb des Wahlkampfes als Multiplikatoren dienen, Veranstaltungen organisieren und in ihrem Umfeld für die Partei werben. Die Gliederung der konservativen Wahlkreisvereinigungen ähnelte jener der Liberal Party. Sie basiert(e) auf dem Modell, das Disraeli nach 1868 eingeführt hatte, und gilt im Grundsatz bis heute fort.165 Jede Vereinigung hält ein Annual General Meeting (Mitgliederversammlung). Dieses wählt ein Executive Council (Vorstand) und verschiedene Committees (Ausschüsse), die schon Ende des 19. Jahrhunderts etwa das Finance and General Purposes Committee, Publicity Committee, Political Education Committee, Trade Unionist Committee, Young Conservative Committee und Women Committee umfassten.166 5. National Union of Conservative and Constitutional Associations Zunächst wollten führende Köpfe der Conservative Party auch nach der verlorenen Wahl des Jahres 1874 die Idee des Birmingham Caucus nicht kopieren, da es sich ja um eine zu binnendemokratische Organisationsform handelte, die dem alt161
Zum Ganzen Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 59. Die Autonomie der Wahlkreisorganisationen der Conservative Party führte bisweilen auch dazu, dass Kandidaten des Parteiestablishments zurückgewiesen wurden. So geschehen im Jahr 1923, als Winston Churchill trotz der Unterstützung von Austen Chamberlain einem Hauptmann der Armee unterlag, der Neffe des zuvor zurückgetretenen Abgeordneten war. Solche Vorfälle führten allmählich zu einer Ausweitung der zentralen Steuerung des Kandidatenprozesses. Detailliert bei Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 58 ff., 60. 163 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 112. 164 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 209 f. 165 Zur Satzungs- und Organisationslage in den 1950er Jahren siehe McKenzie, Parteien in England, S. 178: „Disraeli unternahm eine Neuorganisierung […], die sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat.“ 166 Jennings, Party Politics, Bd. 1, S. 209 f. 162
C. Entstehung des Parteienwesens zwischen 1688 und 1884
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hergebrachten aristokratischen Führungsanspruch zuwider lief.167 Die Parteistruktur war noch jene, die Disraeli nach der verlorenen Wahl im Jahr 1868 etablierte. Die bereits kurz zuvor (1867) mit einer Satzung168 begründete National Union of Conservative and Constitutional Associations führte jedoch nicht zum gewünschten Wahlerfolg. Eine ungeordnete zahlenmäßige Vermehrung der registrierten konservativen Wähler, wie sie von einigen lokalen Wahlkreisvereinigungen erreicht wurde, reichte nicht mehr für einen nationalen Wahlerfolg gegen die nach dem BirminghamModell streng durchorganisierte, zugleich innerparteilich demokratisch organisierte Liberal Party.169 a) Außerparlamentarische Partei als handmaid für die Parlamentsfraktionen So verfügte Disraeli, dass jede Wahlkreisvereinigung einen Kandidaten für den Fall vorzeitiger Wahlen bereithalten solle (die Auflösung des Parlaments war weiterhin nach dem nur die Obergrenze definierenden Septennial Act 1716 jederzeit auf Veranlassung der Krone – d. h. faktisch des Premierministers – hin möglich). Dies hatte zur Folge, dass die Wahlkreisvereinigungen auch zwischen den Wahlen aktiv bestehen blieben. Zudem wurde unter dem jungen Barrister170 John Gorst das Conservative Central Office gegründet, das den Carlton Club ablöste. Dieses führte fortan eine shortlist, eine Liste mit geeigneten Kandidaten. Somit sollte jeder Wahlkreis einen – im Zweifel externen – konservativen Kandidaten zur Verfügung gestellt bekommen können.171 Dabei hatte auch der Chief Whip der Fraktion im House of Commons Einfluss. Denn auch er verfügte über Parteigelder, die er Kandidaten bzw. deren Wahlkreisorganisationen zur Verfügung stellen konnte.172 Auf diesem Wege blieb die Kandidatennominierung auch nach 1867 zentral aus London beeinflusst. Die Wahlkreisvereinigungen hatten zwar die Aufstellungsprärogative inne, diese lag aber in den personell rudimentär organisierten Wahlkreisvereinigungen weiterhin in der 167 Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 126. Jedoch organisierten sich trotz der Ablehnung durch die Londoner Parteielite, vor allem in Person Disraelis, bereits 1880 einige Wahlkreisvereinigungen in größeren und umkämpften städtischen Wahlkreisen nach dem Birmingham-Modell. Vgl. gleichermaßen Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 486. 168 Siehe etwa McKenzie, Parteien in England, S. 105 f. 169 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 112. 170 Barristers und Solicitors organisierten weitgehend das Parteileben, jedenfalls wo es auf ihre Funktion in Wahlkämpfen ankam. Unveränderter Hintergrund seit der Reform 1832 war, dass juristische Expertise für die Eintragung in die Wählerverzeichnisse benötigt wurde. Siehe Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 119; Blake, Conservative Party, S. 146. 171 Dazu nur Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 131 f. m. w. N. 172 Zweites Zentralorgan der Conservative Party blieben die beiden Whip im Parlament, die Einfluss auf die Kandidatenauswahl behielten. All dies war gleichwohl in keiner Satzung geregelt, vgl. Blake, Conservative Party, S. 146.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Hand der oberen Klassen,173 obschon das (staatliche) Wahlrecht auf eine größere Wählergruppe ausgeweitet wurde. Die Organisation der Conservative Party nach 1867 stellte sich wie folgt dar: Die National Union of Conservative and Constitutional Associations hatte zum Ziel, die konservative Bewegung im gesamten Land zu organisieren, neue Wahlkreisvereinigungen zu gründen und die existierenden durch Wahlkampfmaterialien und die Verteilung von Rednern im Wahlkampf zu unterstützen. So stieg auch die Anzahl der Wahlkreisorganisationen von 289 auf 447 allein in den Jahren 1871 bis 1874 an. Sie verfügte über eine jährlich stattfindende Konferenz, für welche die lokalen Delegierten jährlich wiedergewählt wurden. Dabei wurden keine programmatischen Fragen erörtert: „The union has been organized rather as a handmaid to the party than to usurp the function of party leadership“174, sagte gar der Vorsitzende des Gründungskongresses, H. Cecil Raikes, höchstselbst. Aus ihm sprach der aristokratische Geist des alten Toryismus. Es wurden ein Präsidentenamt und 15 Vizepräsidentenämter geschaffen, zu denen aber einzig die konservativen Mitglieder des House of Lords zur Wahl standen.175 Für die Ämter des Exekutivorgans der Union waren Adelige aus höchsten Kreisen, vornehmlich Herzöge, nominiert. Um die Arbeiterschaft einzubeziehen, wurde angeordnet, dass diese Liste um „einige […] Arbeiter, von denen mancher von der angebotenen Ehre geradezu überwältigt war“176, zu ergänzen war. Damit waren nicht viele Delegierte einverstanden. Dies war ganz im Sinne Disraelis, der zu jener Zeit einmal sagte: „The Tory party is nothing if it is not a national party. It is not a confederation of nobles, nor is it a democractic mob, it is a party composed of all numerous classes in the Kingdom.“177
Es gab also einen integrativen Ansatz für die niedrigeren Klassen, von einer aus heutiger Sicht minimalen demokratischen Anforderungen genügenden Organisation war diese aber noch weit entfernt. b) Versuch einer Binnendemokratisierung im Jahre 1883 Schon 1883, wenige Jahre nach der Wahlrechtsreform von 1867 und der ersten Organisationsphase der Conservative Party, kam es zu einem Machtkampf um die Demokratisierung der Partei. Ein Auslöser dafür war, dass es nach dem Tode Disraelis einen Generationenumbruch und Machtkampf um seine Nachfolge in der
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Vgl. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 132 f. m. w. N.; ähnlich Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 119: „Voluntary organisations devoid of a representative character, modelled on the usual pattern of registration societies.“ 174 Zitiert nach Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 118. 175 Siehe McKenzie, Parteien in England, S. 106. 176 McKenzie, Parteien in England, S. 106. 177 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 122, Herv. d. Verf.
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Parteiführung gab.178 Eine Gruppe junger Parlamentarier um Randolph Churchill, dem Vater des späteren Premierministers Winston Churchill, wollte der National Union of Conservative and Constitutional Associations sach- und personalpolitische Entscheidungskompetenz zubilligen: Das Hauptmotiv dieses Demokratisierungsversuchs – daran besteht in der Geschichtswissenschaft kaum ein Zweifel – war persönliches Karrierestreben der handelnden Personen.179 Denn derjenige, der Nachfolger als Parteiführer werden sollte, sollte eine Nominierung im Wege einer Wahl durch das Council der National Union of Conservative and Constitutional Associations erhalten und im Einvernehmen mit der Parlamentspartei ernannt werden.180 Nach den verlorenen Wahlen gegen die Liberal Party wurde von diesen der Vorwurf erhoben, die Parteiführung inklusive der Mitglieder im House of Commons rekrutiere sich nur aus den höchsten Klassen, nämlich aus der gentry und der aristocracy.181 So gründeten sie eine nationale Vereinigung nach dem Birminghamer Vorbild der Liberal Party mit permanenten Organisationen bis in die Orts- bzw. Stadtteile. Die nationale Dachorganisation verfügte mithin selbst und bis hinunter zu ihren lokalen Untergruppierungen über eine innerparteilich-demokratische Legitimationskette.182 Die Idee von Tory democracy war es, Wahlerfolge im Land zu erzielen durch, mit und nicht nur stellvertretend für die unteren Klassen. Dabei vereinte die neue Konzeption der Tory democracy zwei Aspekte. Im Außenverhältnis meinte dies eine Politik, eine Programmatik, die insbesondere auf die urban middle class ausgerichtet war. Im Innenverhältnis ging es um die demokratische Kontrolle über die gesamte Parteiorganisation durch ebendiese städtische Mittelklasse.183 Diesen Auftrag bekam es 1883 durch die jährliche Delegiertenkonferenz gegenüber dem Council der National Union of Conservative and Constitutional Associations wörtlich. Das Ziel war „to obtain for this body its legitimate share in the control of the organisation of the party.“184 Damit war das Ziel Randolph Churchills und der Seinigen, das dem Par178
Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 106 ff. So ausdrücklich McKenzie, Parteien in England, S. 115. 180 Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 135. Offen ist, da dem hier nicht nachgegangen werden kann, inwieweit dieser Wahlmodus in der Satzung der außerparlamentarischen und der Parlamentspartei verrechtlicht werden sollte. 181 Hierzu etwa Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 127: „[U]nfortunately to Conservatism, its leaders belong solely to one class, they are a clique composed of members of the aristocracy, landowners, and adherents whose chief merit is subservicency.“ 182 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 130. 183 Siehe Blake, Conservative Party, S. 148: „Tory democracy was about party organisation just as much as sanitary legislation for the lower orders.“ Randolph Churchill hatte die Idee einer Partei „of the people, for the people, by the people“. Im Jahre 1884 sagte er: „I look to the Associations to popularize the organization of our party. Our object is to obtain a representative executive who will hold itself responsible to the electors who appoint it. In fact my idea, […] is that the tory party shall be like the English people.“ Zitiert nach Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 132. 184 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 136. 179
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
teiführer unterstehende Conservative Central Office, das bekanntlich über die Parteifinanzen und mittelbar über die Kandidaturen in den Wahlkreisen wachte, aufzulösen und dessen Stellung durch die National Union of Conservative and Constitutional Associations – unter Kontrolle der aufbegehrenden Gruppe – einnehmen zu lassen. Diese Forderungen nach innerparteilicher Demokratisierung führten zu heftigen Diskussionen zwischen den Führungspersönlichkeiten in beiden Fraktionen, zu denen der britische Politikwissenschaftler Robert McKenzie in seinem Opus über die Machtverteilung in den britischen Parteien notiert: „Lord Salisbury sprach es unverblümt aus; er tadelte Lord Randolph Churchill wegen des Versuches, die Konservative Partei durch ,Volks‘-Kontrolle ihrer Tätigkeit im Parlament zu ,demokratisieren‘, und erinnerte ihn daran, daß die wahre Aufgabe jeder Außenorganisation der Partei darin bestehe, die Fraktion zu unterstützen und ihr zu dienen.“185
Am Ende erreichte die revoltierende Gruppe dieses Ziel nicht. Vielmehr wurde ein Memorandum unterzeichnet, in welchem einerseits zugunsten der Parteiführung Abstand von einer programmatischen Einflussnahme der außerparlamentarischen Organisation, und damit von einem gebundenen Mandat genommen wurde. Das grundlegende Prinzip der konservativen außerparlamentarischen Organisation war jenes der „non-interference on the part of political associations with the direction of matters incident to the duties and policy of our members in Parliament.“186 Die Parteiprogrammatik verblieb bei den Parlamentsfraktionen respektive bei dem Parteiführer.187 Andererseits sicherte man die Unabhängigkeit der Wahlkreisvereinigung in Fragen der lokalen Politik, ihrer Parteifinanzen und in der Kandidatenselektion.188 In der Folge wurde die National Union of Conservative and Constitutional Associations reorganisiert. Im Council waren fortan nur noch zwei Repräsentanten vom Parteiführer ernannt worden. Nur kurze Zeit später wurde die Kooptierung von Mitgliedern des Councils völlig abgeschafft und die National Union of Conservative and Constitutional Associations ein „self-governing body“.189
185 Nach McKenzie, Parteien in England, S. 16 f., Herv. i. O.; so auch bei Parry, Government, S. 7 im englischen Original. 186 Zitiert nach Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 136. 187 Vgl. nur für die heutige Rechtslage Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 236: „The Conservative party conference has no policy-making powers.“ 188 So lag die Macht über die Kandidatenauswahl bei den Wahlkreisorganisationen, sofern sie denn im Einzelfall wollten, vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 137. 189 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 138.
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V. Nationale Parteien als Massenorganisationen am Ende des 19. Jahrhunderts Am Ende des 19. Jahrhunderts etablierten sich die nationalen Parteien als Massenorganisationen. Nach 1910 erst nahm die Conservative Party ihre bis 1998 im Grunde endgültige Formierung ein. Schon im Jahr 1885 war das Ziel der parteiinternen Reformen, mit Hilfe des Conservative Central Office die außerparlamentarische Massenorganisation unter die Kontrolle des Parteiführers zu bringen.190 Im Hinblick auf die Gestaltung politischer Inhalte hat sich im späten 19. Jahrhundert etabliert, dass der konservative Parteiführer nicht auf dem eigentlichen Delegiertenkongress der National Union of Conservative and Constitutional Associations spricht, sondern erst im unmittelbaren Anschluss an diese Veranstaltung zu einer publikumswirksamen Massenversammlung auftritt und eine Rede ohne anschließende Aussprache hält.191 Formell anders war die Liberal Party organisiert. Sie richtete zumindest einen jährlichen Parteikongress aus, auf dem sachpolitische Resolutionen gefasst wurden.192 Doch ist in der Frage der Politikformulierung zu berücksichtigen, dass den Vertretern der Wahlkreisvereinigungen wenig Verantwortung zukam. Zwar nahmen sie am jährlichen Kongress der National Liberal Federation teil. Der Vorstand der Föderation informierte die Delegierten derweil erst kurz vor dem Kongress über die Themen der Tagesordnung. Die schriftlich einzureichenden Stellungnahmen zu den Tagesordnungspunkten der Wahlkreisvereinigungen wurden nicht veröffentlicht. Zudem wurden in der Praxis ab 1888 nur noch solche Resolutionen verabschiedet, für die es ohnehin grundsätzlichen Konsens in der Partei gab.193 Ähnlich stellte sich die Lage bei der Conservative Party dar. Der von Randolph Churchill maßgeblich ausgelöste Machtkampf zwischen der National Union of Conservative and Constitutional Associations und des Conservative Central Offices wurde einstweilen mit dem o. g. Kompromiss gelöst. Das Conservative Central Office hatte keinen Einfluss auf die (lokal-)politischen Inhalte der Wahlkreisvereinigung und vice versa. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Liberal Party und der Conservative Party war indes, dass die National Union of Conservative and Constitutional Associations im Wesentlichen nur ein show body194 war. Schließlich wurde sie von Disraeli als seine eigene Wahlkampfmaschine konzipiert.195 Bis zum heutigen Tage tritt der Parteiführer nur auf, um eine Rede zu halten. Es folgt darauf keine Aussprache und auch die großen Leitlinien der Politik wurden niemals hier gemacht, 190
Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 229. McKenzie, Parteien in England, S. 130 f. 192 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (307), stellt dies ohne weitere Ausführungen fest. 193 Vgl. Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S.150 f. 194 Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 249 f. 195 Siehe dazu Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S. 157 f. 191
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
sondern in den Führungszirkeln der Parlamentspartei und des Conservative Central Office.196 Ein Grund, dass dies – als gentlemen’s agreement bar jeglicher Parteisatzung197 – eingehalten wurde, lag wohl auch daran, dass die Delegierten zum großen Teil aus dem Mittelbau der Partei rekrutiert wurden.198 Die herrschende Meinung unter Politikern der Conservative Party war zu jener Zeit mithin, dass jeder Teilorganisation eine bestimmte Aufgabe zukomme und es schlechthin nur den Fraktionen vorbehalten sei, „Politik zu betreiben“.199 In beiden Parteien fehlten noch bis nach 1900 formale party manifestoes, also Parteiprogramme.200 Wenn davor inhaltlich-programmatische Fragen debattiert wurden, so waren dies Einzelfragen, wie etwa die Home Rule für Irland im Jahre 1891.201 Hierzu gab es kein Pateiprogramm und die innerparteiliche Entscheidung entfaltete auch keinerlei Bindungswirkung gegenüber dem Parteiführer. Für beide Parteien galt, dass die Parteiführer und die Abgeordneten an die Resolutionen der außerparlamentarischen Organisationen nicht gebunden waren. Selbst wenn derartige Beschlüsse seitens der außerparlamentarischen Partei gefasst wurden, so sahen sich Parteiführer und die Abgeordneten jedenfalls nicht an diese gebunden.202 196
Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 249 f. Vgl. McKenzie, Parteien in England, S. 105. 198 So nahmen hieran nur wenige Personen teil, bei der Liberal Party waren es aber grundsätzlich deutlich mehr. Anfänglich waren die Tagungen der Liberal Party nicht anders als die der Conservative Party. Obwohl man den liberalen Jahreskongress 1868 bewusst nach Birmingham, der liberalen Hochburg, legte, waren hier nur sieben von über 3.000 Mitgliedern der örtlichen Wahlkreisvereinigung anwesend. Hierzu McKenzie, Parteien in England, S. 107; Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 249 f. 199 Für die Conservative Party siehe McKenzie, Parteien in England, S. 16 f. Für die Liberal Party siehe Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (307). 200 Siehe nur Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 5. 201 Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S. 151. 202 Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 250. Ein formales Fehlen einer Bindungswirkung gilt erneut in Ermangelung satzungsrechtlicher Normierungen bei der Conservative Party. In der Tat verfügte die National Liberal Federation über eine Satzung, in der stipuliert wurde, dass „the participation of all members of the party in the formation and direction of its policy, and in the selection of those particular measures of reform and progress to which priority shall be given“, so Bulmer-Thomas, Party System, Bd. 1, S. 149. Doch entfaltete dies keine rechtliche Bindung für den Parteiführer (vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 236 ff.). Die Entscheidungen der National Liberal Federation um einzelne politische Themen wie auch die Verabschiedung des ersten Wahlprogrammes einer britischen Partei in Form des sog. Newcastle-Programms im Jahr 1891 hatte keinen Einfluss auf den Parteiführer oder die Parlamentsfraktionen. Im Jahr 1896 aber ging es, ohne weiter beachtet zu werden, politisch unter. Schon kurz zuvor, im Jahre 1885, legte Chamberlain ein von Gladstone als Parteiführer nicht genehmigtes Parteiprogramm vor, dem also auch politisch keinerlei Bedeutung beigemessen wurde. Siehe Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 199; Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (111). Die sachpolitischen Entschließungen der außerparlamentarischen Parteiorganisationen beider Parteien waren auch aus juristischer Sicht nicht bindend für den Parteiführer. Traditionell waren Wahlmanifeste noch Sache des Partei197
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VI. Parteiführer als Vorsitzender der Partei im und außerhalb des Parlaments sowie als Premierminister der Krone 1. Zentrale Stellung des Premierministers und Parteiführers im Regierungssystem Parallel zur nur schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts entwickelten sich die Parteiorganisationen als oligarchische Institutionen mit einer starken Parteiführerzentrierung. Diese ist nicht nur Merkmal des Parteibinnenrechts und der politischen Praxis, sondern auch des britischen Verfassungsrechts.203 Der britische Verfassungstheoretiker William Bagehot formulierte es einstmals so: „The principle of parliament is obedience to leaders.“204 Seit Entstehen des Parteiwesens nach der Wahlrechtsreform von 1832 etablierte sich die Verfassungskonventionalregel, dass die Premierministerschaft und Parteiführerschaft der stärksten Partei im Parlament in einer Person vereint werden. Das Zusammenfallen beider Positionen ist eine Konsequenz aus dem Zweiparteiensystem, das ja im Grundsatz nur eine Mehrheits- und eine Minderheitspartei kennt.205 Es wird schon dabei deutlich, dass eine rechtliche Unterteilung des Parteibegriffs in eine zur Gesellschaft zählende, privatrechtlich organisierte Institution und eine Fraktion – als Teil des Parlaments – im Staatsverständnis des Vereinigten Königreich nicht durchzuhalten wäre. Als politische Konsequenz aus seiner verfassungskonventionalrechtlichen Stellung vermag ein Parteiführer nicht das Amt des Premierministers an eine andere Person aus seiner Partei zu delegieren, um sich auf die Parteiarbeit zu konzentrieren. Diese andere Person wäre als Premierminister von ihm als Führer der parlamentarischen Partei politisch abhängig.206 Die politische Handlungsfreiheit des (konservativen) Parteiführers in der Politikformulierung und seine bis 1965 fehlende formelle Wahl hat zusammen mit dem relativen Mehrheitswahlrecht in Einpersonenwahlkreisen zu einer spezifischen Sensibilität für die Belange des Volkes geführt. Auch hier gilt seit dem späten 19. Jahrhundert für die Conservative Party, dass sie Mehrheiten nur mit, niemals aber gegen die Stimmen der working class erzielen konnte. Dies wird freilich dadurch verstärkt, dass der öffentliche Diskurs schon im 19. Jahrhundert in den parteipolitisch orientierten Zeitungen ausgetragen wurde.207
führers, es sei an das Tamworth Manifesto von 1834 erinnert, rein persönliche Appelle des Parteiführers an das Wahlvolk in seinem Wahlkreis. 203 Siehe an dieser Stelle nur Parry, Government, S. 9: „The act of choosing the party leader of either of the major parties is of the utmost constitutional significance.“ 204 Bagehot, English Constitution, S. 141. 205 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 119. 206 So etwa Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 119. Vgl. vice versa bei Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 111: „It can also give rise to an extreme form of dissent, as when in 1990 Margaret Thatcher was deposed as party leader (and so as Prime Minister).“ 207 Siehe nur Stewart, Foundation of the Conservative Party, S. 129 m. w. N.
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Programmatische Auseinandersetzungen der verschiedenen Strömungen in der Conservative Party gab es auch deshalb auf der jährlichen Parteikonferenz nicht.208 Für beide Parteien galt, dass die jeweilige Parteizentrale, die für die Formulierung von Wahlprogrammen (und das Vorhalten der Kandidatenlisten) zuständig war, vom jeweiligen Parteiführer kontrolliert wurde.209 Archetypen des modernen britischen Politikers, der dank einer disziplinierten Parteimaschinerie und vermöge einer von dieser ermöglichten hohen Bekanntheit im Volk gewählt wurde, waren Disraeli und Gladstone.210 Die (in modernen Worten) politische Bildungsarbeit, stellte damals zuerst einmal eine politische Erziehung durch die herrschenden Klassen dar und sie ging der Ausdehnung des Wahlrechts voraus. Waren auch viele der Arbeiter und Kleinbürger, die den charismatischen Parteiführern Disraeli oder Gladstone in den Wahlkämpfen zujubelten, bis 1884 noch nicht wahlberechtigt, so war dies doch der Beginn der Massenpolitisierung211 und damit der Ursprung der heutigen Massenparteien, die bei aller Entwicklung in Richtung von innerparteilich demokratischen Vereinigungen freier Bürger stets parteiführerzentriert blieben.
2. Parteiführerauswahl im 19. Jahrhundert: liberale Wahl oder konservative Ernennung Aus der verfassungsrechtlichen Stellung des Parteiführers und im Lichte der sozioökonomischen und kulturellen Hintergründe im Vereinigten Königreich des 19. Jahrhunderts ergab sich eine Gemeinsamkeit bei der Parteiführerwahl in der Liberal Party und der Conservative Party, die darin lag, dass in beiden Parteien die außerparlamentarischen Parteiorganisationen keinerlei Mitspracherecht hatten. Der Parteiführer wurde nur von der Parlamentspartei gewählt. Zugleich ist dies eine Konsequenz aus der Parlamentssouveränität.212 Der Parteiführer war daher der Vorsitzende der Parlamentspartei, de jure nicht aber der außerparlamentarischen Parteiorganisation.213 Außerdem war der Premierminister, wenn er von dieser Partei gestellt wurde, in beiden Parteien kraft Amtes Parteiführer. Die Parteiführerschaft war nur ein Annex zur Premierministerschaft. Nur wenn kein aktueller oder ehemaliger (Schatten-)Premierminister vorhanden war, wurde ein Parteiführer „gewählt“. Der wesentliche Unterschied war hierbei, dass die Liberal Party ihren Par208
Zum Ganzen Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 113 f. Vgl. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 269. 210 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 8 f. m. w. N. 211 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 9. 212 So Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 19: „It is not surprising that the parliamentary party is the group most often found to have a vote in the leadership choice. Given the nature of Westminster parliamentary democracy, rooted in the notion of parliamentary supremacy […], this is in essence the default position.“ Ähnlich Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/ Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 (12 f.). 213 Mit Blick auf die Conservative Party siehe sogleich. Eingehend dazu auch Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 19 f. 209
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teiführer formal durch die Abgeordneten aus beiden Häusern des Parlaments wählte.214 Das Auswahlverfahren der Conservative Party war gänzlich anders konzipiert. Die Parteiführerschaft in der Conservative Party unterlag nämlich keiner formalisierten Wahl,215 sodass es damit streng formell genommen keinen Wechsel der Parteiführerschaft gab. Der neue Parteiführer war schlicht „da“, indem er von dem sog. magic circle als Führungsperson akzeptiert wurde. Dieses mystisch anmutende „Erscheinen“ des politischen Führers von Partei und Staat war derweil nichts anderes als eine Entscheidung der informell organisierten Führungspersönlichkeiten der Partei aus beiden Häusern des Parlaments.216 Interessanterweise blieb dieser Modus ohne jegliche Reform bis 1965 erhalten.217 Doch erste Reformbestrebungen zur Einführung einer formellen Wahl des Parteiführers durch die Parlamentsfraktionen und die außerparlamentarischen Parteiorganisationen gab es bereits in den 1880er Jahren. Es waren jene des vorgenannten Randolph Churchill, der bekanntlich innerparteiliche demokratische Strukturen einzuführen versuchte. Interessanterweise endeten diese Bestrebungen, als er sich anschickte, selbst Parteiführer zu werden.218 Wie bereits angedeutet, wurde zwischen dem Ende des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts wegen des Zusammenfallens von Premierministerschaft und Parteiführerschaft ein Mann automatisch Parteiführer, wenn er zuvor von der Krone als Premierminister ernannt worden war.219 So waren von William Pitt dem Jüngeren bis Disraeli alle Premierminister zuerst in dieses Amt berufen worden und erhielten das Amt des Parteiführers uno actu.220 Erstmals im Jahre 1885 wurde mit Robert Cecil (Lord Salisbury) ein bereits von der Krone berufener Premierminister nachträglich als Parteiführer durch die informellen Führungskreise der Conservative Party zum Parteiführer ernannt.221
214
Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 (71); Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983 S. 71 (107). Praktisch gab es allerdings in den Jahren 1896, 1898, 1908 und 1926 nur Wahlen per Akklamation in der Liberal Party, da es keinen Gegenkandidaten gab und die Autorität des einzigen erfolgreichen Kandidaten nicht in Zweifel gezogen werden sollte. 215 Vgl. Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (232). 216 Siehe McKenzie, Parteien in England, S. 201. 217 So etwa Parry, Government, S. 15 mit Abdruck der ersten Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative and Unionist Party von 1965. 218 Siehe dazu Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (233). 219 Hier etwa Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 62. 220 So auch Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 62. 221 Vgl. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 227.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
VII. Zwischenergebnis: evolutionäre Entwicklung des Parteienwesens Die einzelnen Schritte in der Ausweitung des Wahlrechts waren anlassbezogene gesetzgeberische ad hoc-Maßnahmen.222 Eine in strict law223 implementierte und zuvor durchdachte Theorie lag also nicht vor. Die Entwicklung der Parteien außerhalb des Parlaments ist damit auch nur ein Produkt des klassisch liberalen britischen rechtspolitischen Ansatzes, der Lösungen nur für konkret in der Praxis sich stellende Fragen bzw. Probleme sucht. Somit ist auch die Entwicklung der Parteien in ihrer Funktion, für Parlament und Premierministeramt Personal zu rekrutieren, nicht rechtlich indiziert. Sie ist vielmehr aus politischen Notwendigkeiten heraus zu verstehen. Inkubatoren für die Entwicklung der Parlamentsparteien und der Parteiführer waren die festgestellten Strukturmerkmale der britischen Verfassung. Neben der Unkodifiziertheit der Verfassung war dies vor allem die Parlamentssouveränität. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis diese Position überholt wurde und die nationale Parteiorganisation in personellen und teilweise auch in inhaltlichen Fragen zur Trägerin der Parteien avancierte. Dies geschah ein Stück weit durch die Labour Party am Anfang des 20. Jahrhunderts. Den Parlamentsfraktionen und den Parteiführern kommt in allen drei Parteien seit jeher eine zentrale Rolle in der Organisation ihrer jeweiligen Partei im und außerhalb des Parlaments zu.224 Bildlich gesprochen kreisen die außerparlamentarischen Parteiorganisationen wie Trabanten um den Pulsar aus Parlamentsfraktion und Parteiführer. Sie fungierten und fungieren bis heute prinzipiell als Rekrutierungs- und Wahlwerbungsvehikel. Mit Recht stellte der deutsche Verfassungsrechtler Julius Hatschek am Anfang des 20. Jahrhunderts fest: „Das lenkt uns auf den […] Punkt der englischen Parteientwicklung, wie er seit dem 18. Jahrhundert in den Vordergrund tritt: in der Parteiorganisation bedeuten die Führer alles, das einzelne Parteimitglied nichts.“225
Diese grundlegenden Richtungsentscheidungen der Organisation der politischen Parteien wurden im 19. Jahrhundert gelegt. Im Lichte dieser verfassungsrechtlichen und -praktischen Fixpunkte sind auch die heutigen Entwicklungslinien der innerparteilichen Demokratie in den Parteien – in den drei etablierten und auch in den neu hinzutretenden Parteien – im Vereinigten Königreich bis zum heutigen Tage zu betrachten. Das Wahlsystem führt zu einer gewissen Kohärenz in der inneren Ordnung der Parteien, wenngleich es bis heute in dem Aufbau der Parteien, ihrer 222
Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 17. Strict law sind gesetzliche und richterrechtliche Regelungen, die gerichtlich durchsetzbar sind. Dies unterscheidet sie von Verfassungskonventionalregeln und politischen Traditionen. Vgl. Alder, Constitutional Law, S. 23 f., 30 f. In Bezug auf die Parteiführerwahlen Brazier, Constitutional Practice, S. 13. 224 Vgl. Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 50. 225 Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 597, Herv. d. Verf.; ähnlich Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (233 f.). 223
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Kandidatenselektion, Parteiführerauswahl und Programmformulierung auch Unterschiede gibt. Zusammenfassend ist für die beiden britischen Parteien im 19. Jahrhundert bei allen festgestellten Unterschieden im Grundsatz festzustellen: erstens ein hohes Maß an Zentralisierung in der Programmformulierung und zweitens eine hierzu vergleichsweise hohe Dezentralisierung der Kandidatenaufstellung. Drittens erfolgte die Wahl der zentralen Figur des Parteiführers in beiden Parteien – formell oder informell – durch die elitären Zirkel der Parlamentsfraktionen. Die britischen Parteien waren und sind, sofern es die Parlamentsparteien und die Parteiführer in der Regierung betrifft, Ort gleichsam der Staatswillensbildung und der innerparteilichen Willensbildung.226 Darüber hinaus war das Prinzip der Parteienregierung schon etabliert, als das demokratische Partizipationsprinzip noch unter zahlreichen Beschränkungen stand. Das Wahlrecht war zu jener Zeit nicht ein jedem Bürger a priori zustehendes Recht, sondern ein von Parteien, Parlament und Krone verliehenes Privileg. Die britischen Parteien verfügten daher schon über eine jahrzehntelange Erfahrung und Prägung als Parlaments- und Regierungsparteien, bevor sie sich selbst der Herausforderung einer modernen Parteiendemokratie stellen mussten, d. h. sich der Wählerschaft mit Programmen und einer straffen, aber auch binnendemokratischen Organisation zu präsentieren, um Menschen politisch zu mobilisieren und zu integrieren.227
D. Heutige Strukturen und Programmatik der Parteien im Überblick Die Parteien im Vereinigten Königreich können schematisch in drei Organisationselemente unterteilt werden. Im Parlament finden sich die Abgeordneten einer Partei in der jeweiligen parliamentary party (Fraktion) zusammen. Außerhalb des Parlaments organisieren sich die Mitglieder in den lokalen bis nationalen Parteiorganisationen. Daneben existiert eine Parteizentrale.228
226 Vgl. mit Blick auf die Abgeordneten Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 70: „Aufgrund der dualen Funktionen von Parteien zur Kanalisierung des Volkswillens und gleichzeitig zur Bildung eines Staatswillens stehen hinsichtlich der Tätigkeitsebenen der Wahlkreis und das Parlament im Vordergrund.“ 227 So auch Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 50 m. w. N. 228 „In fact, a party is a very amorphous entity because, in the broader sense, it includes the politicians of that party in Parliament, the central organisations outside, and the local associations which select parliamentary candidates“, Jennings, Party Politics Bd. 2, S. 61. Ebenso Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (131). Siehe dazu ausführlich unten im Rahmen der Definition des Parteibegriffs sowie der Erläuterungen zu Funktionen und Status der Parteien.
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I. Die zwei großen Parteien: Conservative Party und Labour Party 1. Labour Party In der vorliegenden Untersuchung noch keine Würdigung hat die Labour Party erfahren. Der Grund dafür ist, dass ihre Organisationsgeschichte anders verlief als die der beiden älteren Parteien. Die Labour Party hat ihre Wurzeln außerhalb des Parlaments. a) Gründung der Partei außerhalb des Parlaments Die Labour Party wurde im Jahr 1900 als Labour Representation Committee gegründet und trägt seit 1906 den heutigen Namen.229 Ideen- und organisationsgeschichtlich geht die Partei auf die Zeit der Massenbewegung der Gewerkschaften zurück,230 die sich 1868 zum National Trade Union Congress zusammengeschlossen hatten und nach einer parlamentarischen Vertretung suchten, die sie nicht in den beiden etablierten Parteien sahen. Der Trade Union Congress votierte im Jahre 1900 mit 129 Delegierten, die mehr als eine halbe Million Gewerkschaftsmitglieder repräsentierten,231 für einen Antrag der Amalgamated Society of Railway Servants – die im Übrigen in der weiteren Geschichte der Labour Party und des Parteienrechts noch eine Rolle spielen wird – zur Einrichtung des Labour Representation Committee. Mit der Gründung des Vorläufers der Labour Party im Jahre 1900 nahm die Entwicklung der Parteiorganisation und der innerparteilichen Demokratie im Vereinigten Königreich einen neuen Weg. Wie bereits gezeigt, war die Teilhabe der Arbeiter in den beiden etablierten Parteien beschränkt oder fehlte gänzlich, da sie zuallererst als Wähler zur Mehrheitsbeschaffung für die herrschenden Klassen dienten.232 Die sozioökonomische Herkunft der Politiker unterstreicht dies. Denn die Abgeordneten der Conservative Party und der Liberal Party waren ausnahmslos Privatschulabsolventen sowie Absolventen der beiden altehrwürdigen OxbridgeUniversitäten (in Oxford oder Cambridge). Sie waren demnach von großbürgerlicher oder adeliger Familienherkunft. Die politische Führung des Vereinigten Königreichs setzte sich damit aus einer wenige Tausend Personen umfassenden homogenen
229 Statt vieler nur Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 129; Fisher, British Political Parties, S. 9 f. 230 Vgl. Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (308 f.); McKenzie, Parteien in England, S. 298 f. 231 Siehe etwa Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (238), Näheres bei Thorpe, Labour Party, S. 5. 232 So nur Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 230.
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Schicht zusammen.233 Dem setzte die Labour Party inhaltlich-programmatische und personelle Neuerungen entgegen. Insbesondere legte die Partei schon im Jahre 1900 die unmittelbare Repräsentation der Arbeiterschicht als Ziel der Bewegung fest.234 Erstmals ins House of Commons gewählt, bestand die Parliamentary Labour Party tatsächlich hauptsächlich aus Abgeordneten mit working class-Hintergrund, die teilweise sogar nur über Grundschulbildung verfügten.235 Doch dies ist heute auch in der Labour Party anders. Es handelt sich bei den heutigen Labour-Mitgliedern und Labour-Abgeordneten auch um überwiegend „middle-class professionals, often out of touch with the party’s core manual working-class voters in northern urban housing estates.“236 In den Parlamentsfraktionen der Labour Party sind Privatschul- und Oxbridge-Absolventen ebenfalls im Vergleich zur Gesamtgesellschaft überdurchschnittlich vertreten.237 b) Heutige Gliederung im Überblick Die Labour Party hat seit jeher eine formale schriftliche Satzung, die als Ziel der Partei festlegt „to organise and maintain in Parliament and in the country a political Labour Party“.238 Die Partei ist zudem seit jeher föderativ aufgebaut. Auf unterster Ebene besteht sie aus den lokalen Wahlkreisvereinigungen, den CLP.239 Als nächste Ebene folgen die Verbände in Schottland, Wales und den einzelnen englischen Regionen.240 Die nationale Parteiorganisation besteht aus dem Parteivorstand, dem NEC241, der Labour Party Conference als Parteitag und dem National Policy Forum
233 Schmitt, Parteifinanzierung in Großbritannien, S. 8 spricht von 5.000 Personen. Ähnlich Gwyn, Democracy in Britain, S. 90. So beschrieb Bagehot diese homogene Herkunft der Abgeordneten: „[T]hey were educated at the same schools, know one another’s family name from boyhood, form a society, are the same kind of men, marry the same kind of women.“ Zitiert nach Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 51. 234 Schmitt, Parteifinanzierung in Großbritannien, S. 19; Jennings, Party Politics, Bd. 2, 191, S. 233 ff.; Cole, British Working Class Movement, S. 261 ff., 286 ff.; McKenzie, Parteien in England, S. 299 mit Hinweis auf das Labourmanifest. 235 Vgl. Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 236; Thorpe, Labour Party, S. 20. 236 Für die heutige Zeit Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 107. 237 Schon für die 1960er Jahre mit der Feststellung, dass 18 % der Labour-Abgeordneten im House of Commons Privatschulen besucht haben, siehe Rush, Candidate Selection in: Lee/ Kimber (Hrsg.), Political Parties, S. 85 (85). 238 Heute Ch. 1 cl. I. 2. Rule Book. 239 Heute Ch. 1 cl. II. 2. A. Rule Book. 240 Eine eigene englische Labour Party existiert damit nicht. Nur für die einzelnen englischen Regionen sind regionale Parteigliederungen vorgesehen, Ch. 1 cl. II 2. D. Rule Book. Vgl. auch Convery, Scottish Conservative Party Leadership Election, P.A. 2014, S. 306 (310): „Unlike in the territorial Labour Party there have been no major instances of the statewide party explicitly attempting to influence leadership selection.“ 241 Ch. 1 cl. II. 1. Rule Book.
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als Parteiausschuss für das Partei- und Wahlprogramm.242 Im Parlament, genauer gesagt im House of Commons, finden sich die Labour-Abgeordneten in der PLP zusammen. Daneben sind die assoziierten Gewerkschaften, sozialistischen Gesellschaften und die Co-operative Party in der Parteiorganisation integriert, was eine parteienrechtliche Besonderheit darstellt und noch ausführlicherer Analyse bedarf.243 c) Zentrale Aspekte der inneren Ordnung Die Partei entstand als erste Mitgliederpartei des Vereinigten Königreichs, wobei einige Besonderheiten zu beachten sind:244 Obschon sich die Labour Party als demokratische Massenbewegung verstand, kannte sie bis 1918245 nur die korporative Mitgliedschaft der Gewerkschaften (und anderer sozialistischer und sozialdemokratischer Vereinigungen, bspw. der Fabian Society246).247 Es gab nur in zwei Wahlkreisen im gesamten Vereinigten Königreich Wahlkreisvereinigungen, die sich aus Individualmitgliedern zusammensetzten.248 Die Labour Party war damit einzig eine föderative Bewegung der in ihr korporativ organisierten Vereinigungen. Zur Erreichung ihrer kollektivistisch-sozialistischen, zumindest sozialdemokratischen Ideen benötigten sie eine politische Partei. Auf den Labour-Parteitagen entschieden die Gewerkschaften deshalb mit ihren Delegierten die Politik ihrer eigenen Bewegung, mithin der Labour Party. Darin liegt die Abkehr von der Funktion der außerparlamentarischen Partei als dienende Magd,249 wie es in den beiden alten Par-
242 Ch. 1 cl. V. 2. und für die Zusammensetzung Ch. 4 cl. III. D. Rule Book. Vgl. zum NPF Ewing, Cost of Democracy, S. 266 f. 243 Die Co-operative Party ist eine eigene Partei. Ihre Unterstützung bzw. Stellung von einer gewissen Anzahl von Labour-Kandidaten ist vertraglich mit der Labour Party geregelt, vgl. nur Finer, Changing Party System, S. 73. Für die Integration der Gewerkschaften in die Labour Party über die Trade Unions and Labour Party Liaison Organisation (TULO), siehe die Ausführungen von Ewing, Cost of Democracy, S. 266 f. 244 Ausführlich dazu auch Webb, British Party System, S. 199 ff.: „Compared to many of its European socialist counterparts, Labour has always been a somewhat unorthodox mass party.“ 245 Bei den Gewerkschaften galt bis zum Osborne-Urteil eine Zwangsmitgliedschaft, sodass die Partei im Jahre 1900 noch 353.000 mittelbare Mitglieder, also solche der Gewerkschaften, hatte. Im Jahr 1910 wuchs die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf 1,394 Millionen an. Dazu statt vieler Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 270; Cole, British Working Class Movement, S. 480. 246 Die Fabian Society, die 1884 gegründet wurde, war aber keine Massenorganisation. Sie war ein von Intellektuellen gegründeter Think Tank, vgl. Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (117); Thorpe, Labour Party, S. 10 f. 247 Siehe dazu etwa Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 193; McKenzie, Parteien in England, S. 310, spricht von „ein oder zwei Ausnahmen“. Ähnlich bei Ewing, Cost of Democracy, S. 37 m. w. N. 248 Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 70 m. w. N. 249 Zitat nach Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 110.
D. Heutige Strukturen und Programmatik der Parteien im Überblick
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teien, vornehmlich bei der Conservative Party, der Fall war.250 Für die Entwicklung des Parteiwesens ist dabei u. a. von Bedeutung, dass unter dem Titel „Labour and the New Social Order“ das erste langfristig ausgelegte Parteiprogramm einer britischen Partei vom Parteitag beschlossen wurde und die Labour Party damit die Entwicklung der Programmparteien im Vereinigten Königreich initiierte.251 Das Amt des Parteiführers gab es anfangs nicht in der Labour Party. Nachdem im Jahre 1906 insgesamt 29 Abgeordnete der Labour Party (bei 670 Sitzen im House of Commons) gewählt wurden, schlossen sich diese zur PLP zusammen.252 Die PLP wählte jährlich einen Chairman (Vorsitzenden).253 Das in Personalunion besetzte Amt des Parteiführers als Vorsitzender der parlamentarischen und außerparlamentarischen Partei blieb satzungsrechtlich noch gänzlich unbekannt.254 Im Jahre 1921 wurde es notwendig, eine Person auf längere Zeit zur Führungsperson innerhalb der PLP zu wählen, da die Partei kurz vor einer ersten Regierungsbeteiligung stand. Zwischen 1921 und 1970 wurde dieser Chairman of the PLP in der Praxis gelegentlich als Parteiführer bezeichnet und als solcher wahrgenommen. Erst im Jahr 1980 wurde das heutige Amt des Leader of the Labour Party eingeführt, der seitdem Vorsitzender der PLP und zugleich der außerparlamentarischen Partei ist. Dieser wurde zwischen 1980 und 2014 von einem – zuletzt255 – paritätisch besetzten Electoral College gewählt. Dieses bestand zu einem Drittel aus Mitgliedern der PLP und Labour-Abgeordneten im Europäischen Parlament, zu einem weiteren Drittel aus Delegierten der Gewerkschaften und anderer sozialistischer Vereinigungen und schließlich zu einem Drittel aus individuellen Mitgliedern der Labour Party an sich.256 Seit 2015 wird unter dem one member one vote-Prinzip
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Ingle, Party System, S. 65. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 274 f. 252 Siehe nur Onken, Parteiensysteme, S. 195 m. w. N. 253 Dieser wird von allen Labour-Abgeordneten gewählt, nicht nur von backbencher (einfachen Fraktionsmitgliedern), sondern auch von den Mitgliedern des (Schatten-)Kabinetts. Dies unterscheidet die Partei von der Conservative Party, siehe etwa Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 107 f. 254 Zur Geschichte des Parteiführers der Labour Party siehe Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 2 ff.; Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 270, wonach der Chairman schon damals ex officio Mitglied des NEC war. 255 Zunächst hatten die Gewerkschaften 40 % der Stimmen. Dies wurde 1993 dahingehend korrigiert, dass der block vote der Gewerkschaften zugunsten eines one member one votePrinzips abgeschafft wurde. Damit korrespondierend kam neben den einzelnen Gewerkschaftsdelegierten auch den Individualmitgliedern und den PLP-Abgeordneten das gleiche Stimmrecht zu. Vgl. Sturm, Politik in Großbritannien, S. 170 f. m. w. N. 256 Hierzu mit Nachweis des damaligen Labour Rule Book Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (809 f.); Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 244. 251
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
der Parteiführer von allen Gewerkschaftsmitgliedern, Parteimitgliedern und registrierten Unterstützern gewählt.257 Anders als in den beiden älteren Parteien soll der Parteiführer ein primus inter pares im Geiste des Gleichheits- und Kollegialitätsdogmas der Arbeiterbewegung sein.258 Partei- und Wahlprogramme wurden niemals durch den Parteiführer allein aufgestellt, wie dies in der Conservative Party (und der Liberal Party mit Abstrichen) üblich war, sondern vom Parteitag, der damit „the fountain of authority“259 der Partei ist. Seit unter dem späteren Premierminister Blair eine weitreichende Parteireform (im Rahmen von New Labour) durchgeführt wurde, wurde die Kompetenz zur Erarbeitung des Parteiprogrammes der Labour Party vom NEC auf das NPF übertragen. Die Letztentscheidungskompetenz hat seit Gründung der Partei weiterhin der jährliche Parteitag. Parlamentskandidaten werden von den Wahlkreisorganisationen, den CLP, aufgestellt, sodass dies ihre Kernfunktion darstellt,260 wobei hier zwei Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind: Zum einen erhalten Kandidaten finanziell und personell Unterstützung von den Gewerkschaften, zum anderen übt die nationale Labour Party Einfluss aus. Die nationale Partei hat dabei das Recht, einen nominierten lokalen Kandidaten zurückzuweisen.261 Von 2001 bis 2010 wurde ein zentrales Assessment Center für Bewerber um Kandidaturen durchgeführt262 und seit den 1990er Jahren – mit Unterbrechung – all-women shortlists als verpflichtende Kandidatenlisten zur Gleichberechtigung der Geschlechter bei Parlamentskandidaten, die bereits Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen waren.263 Von den einstmals über eine Million direkten Mitgliedern in den 1950er Jahren waren schon in den 1980er Jahren nur noch zwischen 280.000 bis 300.000 Mitglieder übrig.264 Die jüngeren Entwicklungen weisen aufwärts, sodass die Partei im Juli 2016 257 Die Aufgabe der PLP ist es dabei aber noch, durch eine Reihe von Wahlgängen die Zahl der Kandidaten für den Parteivorsitz auf zwei zu reduzieren, die sich dann dem Votum der Parteimitglieder stellen. So auch Sturm, Politik in Großbritannien, S. 171. 258 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 120. 259 Blackburn, Electoral System, S. 8 f. 260 Ingle, Party System, S. 65. 261 Aus der jüngeren Literatur dazu Russell, Building New Labour, S. 81 ff. Aus der älteren Literatur siehe Rush, Candidate Selection, in: Lee/Kimber (Hrsg.), Political Parties, S. 85 (95) m. w. N. Vgl. für die heutige Satzungslage Ch. 5 cl. IV. 8. A. Rule Book: „The selection of a parliamentary candidate shall not be regarded as completed until the name of the member selected has been placed before a meeting of the NEC and her or his selection has been endorsed.“ 262 Siehe Russell, Building New Labour, S. 83; Williams/Paun, Party People, S. 31. 263 Vgl. statt vieler Davis, All-Women Shortlists, P.L. 1995, S. 207 passim. 264 Sturm, Politik in Großbritannien, S. 169 jeweils m. w. N. Zwischenzeitlich gab es ein neues Hoch auf über 400.000 Mitglieder, als unter dem Parteiführer Blair die Möglichkeit der direkten Individualmitgliedschaft auf nationaler Ebene, anstelle wie bisher auf CLP-Ebene, eingeführt wurde. Dies war Mitte der 1990er Jahre. Dazu Ingle, Party System, S. 122: „In 1995 a new national membership scheme allowed people to join directly, for example by simply
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ca. 515.000 Mitglieder zählte. Sie hat damit einen massiven Zuwachs von ungefähr 250.000 Personen allein durch die Öffnung der Wahl des Parteiführers für alle Mitglieder in den Jahren 2015 und 2016 zu verzeichnen.265 Zwischenzeitlich verließen aber bis März 2017 ca. 26.000 Mitglieder die Partei wieder.266 Die Zahl der indirekten Parteimitglieder,267 vermittelt durch ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft, liegt traditionell höher. Im Jahr 2018 waren es etwa 3 Millionen,268 im Jahr 1996 etwa ca. 4,1 Millionen und im Jahre 1980 waren es gar noch ca. 6 Millionen.269 d) Programmatik Die Labour Party war ursprünglich als Arbeiterpartei gegründet. Sie war auch in ihren Ursprüngen eher reformistisch-sozialdemokratisch als marxistisch orientiert wie andere europäische sozialdemokratische Parteien zu jener Zeit.270 Ihre Ziele sollten nicht gegen demokratische Regeln, sondern auf demokratischem Wege mit den bestehenden staatlichen Strukturen erreicht werden.271 Dies war bereits mit dem ersten britischen Parteiprogramm überhaupt im Jahr 1918 dokumentiert worden, das mehr von den praktisch orientierten und ideologisch gemäßigten Gewerkschaften inspiriert war als von den orthodoxen sozialistischen Vereinigungen wie der Fabian
answering a newspaper advert. Prescott promoted a ,recruit a friend‘ campaign, which was responsible for 28 per cent of new recruits.“ Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 79 nennt das Jahr 1993 als Öffnungszeitpunkt für eine Mitgliedschaft auf nationaler Ebene. Dies jedoch ohne weiteren Nachweis. Das entsprechende Dokument ist tatsächlich zwar 1993 erarbeitet worden, es wurde aber erst ab 1995 in die Parteisatzung übernommen, vgl. Pemberton/Wickham-Jones, Labour’s Lost Grassroots, B.P. 2013, S. 181 (182 f., 185). 265 Aamodt, Unincorporated Associations and Elections, LGL 2015 (Internetquelle): „Since the General Election in May, over 350,000 people have joined the Labour Party, with 106,000 as new party members, 148,000 new trade-union affiliated supporters and 113,000 £3 registered supporters.“ 266 So Labour Party Has Lost Nearly 26,000 Members Since Mid-2016, Report Claims, The Guardian v. 2. März 2017 (Internetquelle): Allein 7.000 Mitglieder sollen aus der Partei ausgetreten sein, als Corbyn die Fraktionsmitglieder anwies, für das Gesetz zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs zu stimmen. 267 Indirekte Parteimitglieder heißt, dass nicht die Gewerkschaftsmitglieder, sondern die Gewerkschaften selbst Parteimitglieder sind. Zu dieser Besonderheit und den Auswirkungen auf Wahlen, in denen die Gewerkschaften von ihrem Stimmgewicht (aufgrund ihrer Mitgliederanzahl) Gebrauch machen, im Einzelnen später. Hier bereits Ewing, Cost of Democracy, S. 265 f. 268 So die Zahl laut der Webseite der Trade Union and Labour Party Liaison Organisation (LUSO) http://www.unionstogether.org.uk (letzter Abruf: 10. Oktober 2018): „Together, the 14 affiliated trade unions bring the voices of almost 3 million union members to the heart of the Labour Party.“ 269 Vgl. die Zahlen aus früheren Jahren etwa bei Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 53 m. w. N. 270 Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 71. 271 Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 52 m. w. N.
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Society.272 Seit den 1950er Jahren wurden die sozialistische Elemente – Personen und Programm – in der Partei schrittweise zurückgedrängt.273 Dieser Prozess wurde letztlich durch Blair in den 1990er Jahren vollendet. Er setzte das Konzept einer New Labour274 um. Dabei handelt es sich u. a. um ein neues Parteikonzept: Eine nach innen auf individueller Mitgliedschaft basierende Massenpartei statt einer korporativen Bewegung der Gewerkschaften.275 In diese Zeit fallen somit auch Reformen in der Parteiführer- und Kandidatenwahl. Seither versteht sich die Labour Party als eine moderne sozialdemokratische Partei, die im politischen Meinungsspektrum zwischen Sozialismus und Kapitalismus einen „Third Way“276 wählt. Für diesen Dritten Weg steht pars pro toto die Abschaffung der berühmten cl. IV der Parteisatzung, die seit Bestehen der Partei das Ziel der Verstaatlichung von Produktionsmitteln postulierte.277 Die Partei schlug vielmehr einen marktwirtschaftlichen Kurs ein, machte sich so für große Teile der Bevölkerung wählbar und wurde nach fast zwei Jahrzehnten in der Opposition (seit 1979) im Jahr 1997 in die Regierung gewählt, die sie bis 2010 stellte.278 Die New Labour-Ära wird in Bezug auf die wirtschafts- und finanzpolitische Ausrichtung der Partei zumindest seit dem Jahr 2015 mit der Wahl von Corbyn, 272 So Ingle, Party System, S. 48, Herv. i. O.: „Reforms undertaken by the party in 1918 saw the gradualist trade union movement, and not the fundamentalist socialist societies, becoming the dominant force in party affairs. The party’s agenda was set out in a document Labour and the New Social Order in which, says Coates, Labour ,appealed to the working class electorate for the first time in its history as a socialist party‘. This document, with its grand claims, may have been little more than totemic, yet perhaps totems were what the emerging party needed.“ 273 Vgl. dazu bis in die späten 1980er Jahre Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/ Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (310 ff.). 274 New Labour ist ein umfassendes Konzept, das sowohl die Partei, den Staat, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft betraf (vgl. Budge/McKay/Newton/Bartle, British Politics, S. 64 ff.). Eine allumfassende Definition ist nicht ersichtlich. Zu den einzelnen Aspekten aber das gesamte Werk. 275 Vgl. Pemberton/Wickham-Jones, Labour’s Lost Grassroots, B.P. 2013, S. 181 (182 f., 185); Onken, Parteiensysteme, S. 230 f., der feststellt, es habe eine Einschränkung der Mitgliederbeteiligung gegeben. 276 Siehe dazu Sturm, Politik in Großbritannien, S. 159: „Dritter Weg Konsens: Konservative/Labour Party: Privatisierungen, Entstaatlichung, Verantwortung des Einzelnen für sein Schicksal, Chancengleichheit nicht Ergebnisgleichheit (welfare to work). Law and order, keine besondere Rolle für Gewerkschaften, ausgeglichener Haushalt, Akzeptieren der Globalisierung. Neuer Akzent von New Labour: Soziale Korrekturen des Thatcherismus (Steuerpolitik, Mobilisierung in den Arbeitsmarkt, Mindestlöhne), Dezentralisierung durch Devolution“ (Herv. i. O.). 277 Dieses wurde mit Blick auf die innerparteiliche Demokratie vom Parteitag, unter Einschluss der PLP und der außerparlamentarischen Organisation auf Druck der Gewerkschaften (und ihres block vote), beschlossen. Im Jahre 1995 wurde die Mitgliederabstimmung in der Labour Party über die schließlich erfolgte Abschaffung der cl. IV zum ersten in der Praxis angewendeten Element plebiszitärer Demokratie in den britischen Parteien unter Parteiführer Blair und seinem Konzept von New Labour. Siehe dazu Webb, British Party System, S. 205. 278 Einen Überblick gibt Ingle, Party System, S. 54 ff.
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einem dem linken Parteiflügel zugehörigen vormaligen backbencher (dies ist die weit überwiegende Mehrzahl der Abgeordneten, die kein Regierungsamt – oder im Falle der Oppositionszeit kein Schattenkabinettsamt – innehaben)279 als beendet angesehen. Doch auch schon unter dem vorhergehenden Parteiführer Ed Miliband war ein neuer Kurs der Sozialdemokratie eingeschlagen worden. Freilich geschah dies in der Opposition und war nur von kurzer Dauer, da Miliband nur von 2010 bis 2015 Parteiführer war.280 Die Labour Party nimmt unter ihm jüngst wieder ausgewiesene sozialdemokratische und kapitalismuskritische Positionen ein.281 2. Conservative Party a) Formale Gründung der Partei im Jahre 1998 Der Ursprung der Conservative Party liegt im Toryismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Als Gründungsdatum der Conservative Party wird zuweilen auch in der juristischen Literatur die Veröffentlichung des Tamworth Manifesto im Jahre 1834 genannt.282 Dieses Datum stellt aber keine Gründung im juristischen Sinne dar.283 Die 279
Eine gesetzliche Definition für backbencher existiert nicht. Auch die parlamentsinternen Standing Order No. 152 J para. (5) definieren diese nicht. Sie halten lediglich fest, dass „[n]o Member who is a Minister of the Crown or parliamentary private secretary or a principal opposition front-bench spokesperson shall be eligible to be the chair or a member of the [backbench business] committee“. Der Begriff leitet sich davon ab, dass die (Schatten-)Kabinettsmitglieder die Plätze der ersten Reihe auf beiden Seiten des jeweiligen Hauses einnehmen („Hence ministers and shadow ministers are often referred to as ,frontbenchers‘. Members not holding governmental office or shadow positions are ,backbenchers‘“, so Loveland, Constitutional Law, S. 122). Allerdings darf der Begriff des backbencher keinesfalls mit dem pejorativ besetzten deutschen Begriff des Hinterbänklers gleichgesetzt werden. Backbencher haben eine nicht zu unterschätzende Macht. Sie sind im Lichte des Wahlsystems betrachtet Rückhalt der Regierungsmehrheit und ob ihrer direkten Legitimation durch das Volk selbstbewusste Vertreter ihres Wahlkreises. Aus der Opposition heraus nutzen sie die wöchentliche Prime Ministers Question Time, um den Premierminister mit aktuellen politischen Fragen zu konfrontieren, vgl. Rush, Engaging with the Enemy, P.A. 2014, S. 751 passim. Ausführlich zur generellen Bedeutung der backbencher bei Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 602 ff. 280 Siehe Bratberg, Labour Party under Ed Miliband, P.A. 2016, S. 434 passim. Ausführlich dazu Bale, Five Year Mission, passim und insb. S. 9 f., 17 f., 20; Jones/Norton, Politics UK, App. A1-A11. 281 Vgl. Wilkinson, Jeremy Corbyn’s Policies, The Telegraph, 4. August 2016 (Internetquelle). 282 So aus der jüngeren deutschen Literatur Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 54 m. w. N. Aus der britischen Literatur siehe z. B. Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (305): „So gründete Sir Robert Peel die Torypartei neu unter dem Titel Conservative Party. Seine große Wahlrede, das Tamworth Manifesto von 1834, kennzeichnete den Beginn moderner Wahlprogramme.“ 283 Auch die Behauptung, es sei das erste Wahlprogramm gewesen, bedarf einer wesentlichen Korrektur, denn das Tamworth Manifesto wurde von Peel erst nach der Wahl, nämlich zwei Jahre später, gehalten. Vgl. etwa Blake, Conservative Party, S. 39 ff. m. w. N. Dieses galt
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Conservative Party ist nicht als rechtliche Entität284 gegründet worden, sondern vielmehr ist der Name in der politischen Praxis etabliert worden. Ein erstes formelles Gründungsdatum der (außerparlamentarischen) Partei ist der 12. November 1867. An jenem Tag wurde die nationale Mitgliederorganisation, die bereits erwähnte National Union of Conservative and Constitutional Associations, gegründet. Diese wurde aber niemals als Conservative Party bezeichnet oder hat sich selbst als solche verstanden.285 Unter den Terminus der Conservative Party wurden in der politischen Praxis bzw. im medialen Sprachgebrauch einzig die Fraktionen im Parlament subsumiert. Doch auch hierzu ist zu vermerken, dass selbst die Fraktionen sich niemals konstituiert hatten.286 Eine formale Gründung einer Fraktion – im politisch entscheidenden House of Commons – erfolgte erst in den Jahren 1922/23.287 Die Abgeordneten waren zuvor in ca. 20 Ausschüsse unterteilt gewesen. Mit der Zeit wurde ein formaler Rahmen notwendig, um die Parlamentsarbeit zu koordinieren. Aus diesem Bedarf entstand das zum heutigen Tage existierende sog. 1922 Committee, das seinen Namen auf die Wahlen zum House of Commons im Jahr 1922 bezieht, obwohl es 1923 erstmals zusammentrat.288 Dieses Komitee, das korrekt Conservative Private Members’ Committee heißt, wird auch in offiziellen Parteidokumenten als 1922 Committee tituliert.289 Es umfasste bis zum Jahr 2010 nur die backbencher, also die Abgeordneten ohne (Schatten-)Regierungsamt.
den 586 (sic!) Wählern im Wahlkreis Tamworth, denen er stellvertretend zurief für „that great and intelligent class of society of which you are a portion […] – to that class which is much less interested in the contentions of party, than in the maintenance of order and the cause of good government“ (a. a. O., S. 39) wählen zu gehen. 284 So auch Conservative Central Office v Burrell [1982] 2 All ER 1. Vgl. aus der juristischen Literatur Ewing, Electoral Reform, in: Orr/Mercurio/Williams (Hrsg.), Realising Democracy, S. 26 (30) und aus der politikwissenschaftlichen Literatur siehe nur Garner/Kelly, British Political Parties, S. 98 f. 285 Vgl. nochmals oben zum Verständnis der außerparlamentarischen Parteiorganisation als handmaid. Im Übrigen scheidet somit auch Disraeli, der die National Union of Conservative and Constitutional Associations gründete, als Gründer der Partei aus: „No contemporary Conservative would have regarded him as the founder of the party – least of all Disraeli himself.“ Blake, Conservative Party, S. 7. 286 Siehe für die Rechtslage vor 1998 mit einem kurzen Verweis nur Hartley/Griffith, Government and Law, S. 11 m. w. N. 287 Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (244). Im House of Lords wählen seit 1922 die Mitglieder der Association of Conservative Peers (ACP), vormals Association of Independent Unionist Peers, einen Fraktionsvorsitzenden (Chairman). Diese Organisation ist dem 1922 Committee nachgebildet. Vgl. Griffith/Ryle, Parliament, S. 467. 288 Die deutsche Literatur ist hier bisweilen etwas ungenau und datiert die Gründung des Komitees auf das Jahr 1922, obwohl es erst 1923 zusammentrat. So etwa bei Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 61; Hartmann, Regierungssysteme, S. 82. 289 Vgl. nur Sch. 1 Art. 1.2 Constitution: „,[T]the 1922 Committee‘ means a committee comprising all Members of Parliament.“
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Im Jahr 2010, als es zur Koalitionsregierung mit den Liberal Democrats kam, regte Premierminister David Cameron an, die gesamte Fraktion mitsamt den Regierungsmitgliedern zu den Sitzungen des 1922 Committee einzuladen. Nach einem Disput über die Frage der Stimmberechtigung für die Regierungsmitglieder konnte man sich darauf einigen, diese als beratende Mitglieder ohne Stimmrecht aufzunehmen.290 Somit umfasst das 1922 Committee heute sämtliche konservative Abgeordnete im House of Commons.291 Letztlich erfolgte die formale Gründung der Conservative Party als Gesamtpartei am 28. März 1998. An diesem Tage trat die erste Parteisatzung, die Constitution of the Conservative Party, in Kraft.292 b) Heutige Gliederung im Überblick Bei ihrer im Vergleich zur Labour Party späten Gründung im Jahre 1998 kristallisierten sich schon in den 1870er Jahren jene Konturen der Parteiorganisation heraus, die bis heute im Wesentlichen erhalten geblieben sind und vor allem nur formell neue Bezeichnungen durch die Einführung der ersten Parteisatzung erhalten haben.293 In Anlehnung an die einleitende schematische Unterteilung der Parteiorganisationsebenen findet man die folgenden organisatorischen Elemente in der Conservative Party vor. Zum Ersten ist dies die Parliamentary Party, von der das vorgenannte 1922 Committee zu unterscheiden ist, insoweit die Parliamentary Party aus allen konservativen Abgeordneten ungeachtet eines (Schatten-)Kabinettsamtes besteht.294 Zum Zweiten ist die außerparlamentarische Parteiorganisation wie folgt gegliedert: 290 Zu dieser neueren Entwicklung siehe Brady Elected as Tories’ 1922 Committee Chairman, BBC News, 26. Mai 2010 (Internetquelle); Hartmann, Regierungssysteme, S. 82. 291 Zur früheren Lage (bis 2010) siehe Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 109: „In opposition, every Conservative MP is a member of this committee; when the party is in government, it is usual for ministers and Whips not to attend unless invited.“ Zur Hausmacht der backbencher bzw. eines jeden Abgeordneten im House of Commons siehe Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 112 ff. 292 Gemäß Art. 94 Constitution i. V. m. Sch. 10; einen Überblick zur Gründung der Conservative Party bzw. der Parteireform aus politikwissenschaftlicher Sicht liefert Bale, Conservative Party, S. 66 ff.; siehe ebenfalls die Ausführungen mit durchaus rechtlichem Fokus von Webb, British Party System, S. 195 ff. 293 Manche Bezeichnung für Parteiorgane änderte sich zwar bis heute. Jedoch blieb die Parteiorganisation im Wesentlichen nach der Revolte von Churchill 1885 bis in die 1950er Jahre nahezu unverändert, vgl. McKenzie, Parteien in England, S. 124. Die National Union wurde dann unter Bonar Law mit dem Conservative Central Office verschmolzen. Diese Struktur behielt sie bis 1998. Außerdem fusionierte die Conservative Party noch mit der Unionist Party, wodurch sie ihren heutigen vollständigen Namen erhielt. Die Wahlkreisvereinigungen blieben bis 1998 rechtlich unabhängig von der Parteizentrale und der Parlamentspartei. Zum Ganzen Belchem, Class, Party, S. 33; Webb, British Party System, S. 196. 294 Vgl. die Definition in den 1960er Jahren des Conservative Central Office. Demnach besteht die Parliamentary Party aus all jenen Mitgliedern beider Häuser „who take the Conservative Whip, thereby signifying their acceptance of the policy of the Party as declared by the Leader“, abgedruckt in Parry, Government, S. 18.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Auf unterster Ebene stehen die landesweit organisierten Constituency Associations, also die Wahlkreisvereinigungen. Diese sind in Area Councils (regionalen Verbänden) organisiert.295 Oberhalb von diesen Regionalverbänden existieren „Landesverbände“ in Schottland und Wales, die beide von der nationalen Partei in unterschiedlichem Maße in Personal- und Sachpolitik abhängig sind.296 Mit der Parteisatzung von 1998 wurde die National Union of Conservative and Unionist Associations297 zur National Conservative Convention umgetauft.298 Der Parteitag der Gesamtpartei ist die Annual Party Conference, der einmal jährlich stattfindet und als Delegiertenversammlung organisiert ist.299 Zum Dritten existiert eine Parteizentrale in London. Das frühere Conservative Central Office wurde im Jahre 1998 in Conservative Campaign Headquarters umbenannt.300 Dabei dient es wie zuvor als Zentrale für den vom Parteiführer ernannten Chairman of the Conservative Party (eine Art Generalsekretär) der Partei,301 sowie für das gesamte Board of the Conservative Party (Parteivorstand).302 Die außerparlamentarische Mitgliederorganisation verfügte im Jahr 2010 über 177.000 Mitglieder. Zwischen 2005 und 2010 verlor sie allein ca. 80.000 Mitglieder.303 Nach den jüngsten verfügbaren Zahlen der Conservative Party zählte sie ca. 149.800 Mitglieder im Jahr 2013. In ihren Hochzeiten konnte die Conservative Party ungefähr 2,8 Millionen Parteimitglieder verzeichnen (1953).304 Die Mitgliedszahlen bis 1998 sind deshalb nur Schätzungen, da eine zentrale Mitgliederkartei nicht existierte und sie erst mit der Satzungsreform eingeführt wurde.305
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Siehe Art. 26 ff. und Sch. 5 Constitution. Ausführlich dazu Convery, Scottish Conservative Party Leadership Election, P.A. 2014, S. 306 (310); ders., Devolution and the Limits of Tory Statecraft, P.A. 2014, S. 25 (34 f.); Detterbeck, Multi-Level Party Politics, S. 180, 202. Nur die schottische Gliederung ist Teil der britischen Conservative Party. Sie genießt aber weitgehende Freiheiten in der Aufstellung von Parlamentskandidaten, der Wahl des schottischen Parteiführers und ihrer Finanzen. 297 Noch immer mit den alten Bezeichnungen arbeitend dagegen Hartmann, Regierungssysteme, S. 83. 298 Vgl. nur Art. 20 Constitution. 299 Siehe Sch. 4 paras. 3, 6 Constitution. 300 Seine Einrichtung wird in der Parteisatzung nicht ausdrücklich geregelt. Erwähnt wird es nur an einer Stelle und zwar in Sch. 7 A para. 5.11. 301 Vgl. zu dessen Ernennung Art. 12.1 Constitution. 302 Siehe Art. 12 Constitution für die Zusammensetzung und Art. 17 Constitution für die administrativen Aufgaben. 303 So Bale, Conservative Party, S. 407. 304 Vgl. Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6; Smith, Parteienfinanzierung in Großbritannien, in: Tsatsos (Hrsg.), Parteienfinanzierung, S. 232 (241) spricht für die 1970er schon von nur noch 700.000 Mitgliedern. 305 Vgl. nur Peele, Governing, S. 226 hinsichtlich der Einführung der Mitgliederkartei durch Art. 9 Constitution. 296
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c) Zentrale Aspekte der inneren Ordnung Die Conservative Party versteht sich bis heute als staatstragende Institution. Ursprung dieses Selbstverständnisses ist der beschriebene Toryismus, welcher einen exklusiven, elitären Herrschaftsanspruch des Adels und des Großbürgertums zum Wohle des Landes bedeutete. Heutzutage betont die Partei allerdings ihren demokratisch-inklusiven Anspruch. Aufgrund der engen historischen Verknüpfung der Conservative Party mit der Entwicklung des britischen Parlamentarismus ist auch diese Partei organisch bzw. evolutionär gewachsen. Die Conservative Party verfügte zudem über 150 Jahre lang über keine Satzung. Sie tendiert daher bis heute im Grundsatz dazu, parteiinterne Konflikte außerhalb von formalen Verfahren, insbesondere staatlichen Gerichtsverfahren, zu lösen. Im Lichte ihres eigenen Führungsanspruchs sind daher Konventionen und ad hoc getroffene Arrangements Grundlage für innerparteiliche Entscheidungs- und Streitbeilegungsprozeduren. Den Unterschied zur Labour Party drückte ein namentlich nicht näher genannter ehemaliger Funktionär der Partei aus, der Anfang der 1990er Jahre sagte: „There are virtually no absolute rules, that’s why – unlike Labour – we tend not to get bogged down in procedural wrangles. We have family squabbles instead.“306 Diese Einstellung drückt sich in den drei in dieser Untersuchung dargestellten Bereichen der parteiinternen Willensbildung aus, insbesondere in der Parteiführerauswahl, wie noch zu zeigen sein wird. Ein weiterer Ausdruck ihres Selbstverständnisses ist die hierarchische Ausrichtung der Partei auf den Parteiführer. Bis 1965 erfolgte bekanntlich gar keine Wahl im formalen Sinne, sodann blieb diese bis 1998 allein dem 1922 Committee vorbehalten.307 Schließlich wurde sie im Jahr 1998 unter bestimmten Voraussetzungen auf alle Mitglieder der außerparlamentarischen Parteiorganisation erweitert. Seither können die Mitglieder nach dem one member one vote-Prinzip über die Kandidaten um die Parteiführerschaft abstimmen.308 Voraussetzung dafür ist, dass zuvor von der Fraktion im House of Commons alle bis auf zwei Kandidaten in diversen Wahlgängen eliminiert worden sind – gibt es nur einen, der von der Fraktion das notwendige Quorum erhält, so ist dieser gewählt. Die Conservative Party war die letzte der drei großen Parteien, als sie im Jahr 1998 die Mitglieder in die Parteiführerwahl aufnahm, somit zwei Dekaden nach der Liberal Party (1976) und der Labour Party (1981).309
306 Garner/Kelly, British Political Parties, S. 98 f.; siehe auch Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 59. 307 So zusammenfassend ebenfalls Ball, Political Parties, S. 38. 308 Art. 10 i. V. m. Sch. 2 Constitution. 309 Siehe nur Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 45 f.
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Die Programmformulierung liegt in den Händen des Parteiführers, eine Tradition der Conservative Party,310 die seit dem berühmten Tamworth Manifesto etabliert und seit der gescheiterten parteiinternen Revolte unter Randolph Churchill vertraglich niedergeschrieben war. Entscheidend ist an dieser Stelle, zwischen einem dauerhaften Parteiprogramm, das die Leitlinien der Partei für einige Jahre bestimmt, und einem Wahlprogramm, das konkrete Forderungen für die nächste Legislaturperiode enthält, zu unterscheiden. Die Conservative Party verfügt traditionell über kein grundsätzliches Partei-, wohl aber über ein anlassbezogenes Wahlprogramm.311 Denn durch ein Parteiprogramm wäre die Handlungsfreiheit des Parteiführers derart eingeschränkt, dass er nicht auf die spezifischen Belange des Königreichs ad hoc eingehen könnte. Die Formulierung des Wahlprogramms obliegt aus ebendiesem Grunde dem Parteiführer, dem damit eine sachpolitische Allkompetenz zukommt.312 Die Kandidatenauswahl findet dem Grunde nach in den Wahlkreisen statt. Dies war, wie eingangs beschrieben, seit dem 19. Jahrhundert so, wiewohl ein Einfluss durch nationale Auswahlverfahren des früheren Conservative Central Office bereits immer ausgeübt worden ist, insbesondere durch die Listen der Parteizentrale (vormals dem Carlton Club) mit für geeignet befundenen Kandidaten. Die zentralen Vorauswahlprozedere reichten von informellen Bewerbungsgesprächen zu Tisch (sog. fork-and-knife-rounds) bis in die 1970er Jahre, über ein von der Royal Military Academy Sandhurst, der britischen Heeresoffizierschule, inspiriertes Assessment Center in den 1980er Jahren. In beiden Fällen fand eine Rekrutierung von zumeist von Hause aus wohlhabenden und an den renommierten Universitäten des Landes ausgebildeten Kandidaten statt. Mit der Fresh Future-Reform unter William Hague, die nach dem Unterliegen in der Wahl des Jahres 1997 gegen die auch innerparteilich in Richtung demokratischer Teilhabe reformierte Labour Party durchgeführt wurde, ist die Kandidatenauswahl
310 Vgl. etwa Detterbeck, Multi-Level Party Politics, S. 179. Heute geregelt in Art. 11 Constitution, der den Parteimitgliedern und dem Conservative Policy Forum zumindest ein Konsultationsrecht einräumt, siehe dazu nochmals sogleich. 311 Vgl. aus der deutschen Literatur Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 55 f. 312 Vgl. zu den einzelnen der drei großen Parteien noch ausführlich bei Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 541 ff.; in der 7. Auflage ist es nur noch reduziert auf generelle Aussagen, dass Parteien überhaupt Programme aufstellen, vorhanden, so Turpin/ Tomkins, Government and Constitution, S. 549. Siehe ferner zur Conservative Party Kelly, Farewell Conference, P.Q. 2001, S. 329 (332 ff.). Der Parteiführer Hague, dem nach der von ihm eingeführten Parteisatzung weiterhin die uneingeschränkte Kompetenz in der Politikformulierung zukam, stellte seine Pläne zur Besteuerung von Paaren mit der Frage der Öffnung für andere Formen der Partnerschaft (homosexuelle und andere nichteheliche Lebensgemeinschaften) den Parteimitgliedern vor und führte eine Mitgliederbefragung durch. Seine Pläne fanden nur geringe Zustimmung, sodass er – so folgert Kelly – diese zurücknahm. Als offizieller Grund wurde ein Vorschlag seines Schattenkabinetts genannt. Kelly äußert dazu: „Yet it is unlikely that such a change would have occurred without Hague being sure it would not enrage the party’s grass roots. In this sense, the policy forums played a crucial role“ (a. a. O., S. 334).
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zunächst formalisiert und zudem ein Stück weit demokratisiert worden.313 Unter anderem werden seit 2001 moderne arbeitspsychologische Auswahltests auf nationaler Ebene durchgeführt.314 Die hierbei erfolgreichen Kandidaten werden von der nationalen Partei in eine Approved List of Conservative Candidates (kurz: A-List, Approved List oder z. T. auch General List) aufgenommen, aus der sich die Wahlkreisvereinigungen bedienen können.315 Der spätere Premierminister Cameron sah kurz nach seiner Wahl zum Parteiführer im Jahre 2005 für die nächsten Wahlen zum House of Commons ein besonderes Augenmerk auf die Frauenförderung zusätzlich zur A-List durch die sog. Priority List vor. Im Zuge seiner Reform der Kandidatenauswahlverfahren wurde im Jahre 2009 die Option eröffnet, in den Wahlkreisvereinigungen Primaries, offene oder geschlossene316 Vorwahlen, durchzuführen.317 Von der Möglichkeit der Nominierung im Wege von Vorwahlen wurde im Jahr 2009 landesweit bei 118 Kandidaten Gebrauch gemacht.318 Im Jahr 2015 war dies nurmehr bei weniger als 20 Wahlkreisvereinigungen der Fall.319 d) Programmatik Die Conservative Party führte die von der Labour Party begonnene Verstaatlichung in der Wirtschaft und vor allem die Sozial- und Gesundheitspolitik nach 1945 fort. Unter Margaret Thatcher schwenkte die Conservative Party auf eine wirtschaftsliberale Politik um. Dabei standen der Abbau von sozialstaatlichen Leistungen, die Privatisierung von staatlichen Betrieben und die Zurückdrängung des 313 Zur Kritik, dass die Formalisierung des Auswahlprozesses zugleich ein Mehr an Einfluss für die Parteizentrale und den Parteiführer bedeuteten, siehe Low, Candidate Selection in the Conservative Party, B.P. 2014, S. 401 (410): „This emulated Mair’s (1994, p. 17) argument that ,democratisation on paper may actually co-exist with powerful elite influence in practice‘.“ So auch Turner/Wigbers, Reformen der Kandidatenauswahl in Großbritannien und Deutschland, in: Münch/Kranenpohl/Gast (Hrsg.), Parteien und Demokratie, S. 57 (63 f.), m. w. N. 314 Zu diesen allen siehe Turner/Wigbers, Reformen der Kandidatenauswahl in Großbritannien und Deutschland, in: Münch/Kranenpohl/Gast (Hrsg.), Parteien und Demokratie, S. 57 (61 ff.) m. w. N.; Williams/Paun, Party People, S. 14 m. w. N. 315 Williams/Paun, Party People, S. 14 f. m. w. N. 316 Zur Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Vorwahlen: „The main distinction in types of primaries are between open primaries, where participants do not have to be a member of the relevant political party to vote, and closed primaries, which are restricted to party members.“ So Gay/Jones, Candidate Selection-Primaries, in: House of Commons Library (Hrsg.), Standard Note, S. 3. 317 Dabei soll die Kandidatenauswahl im Wege einer offenen Vorwahl für Wahlkreisvereinigungen mit weniger als 300 Mitgliedern die Standardprozedur sein. Dazu übersichtlich Jones/Norton, Politics UK, S. 210. Ebenfalls eine Übersicht bei Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 107. 318 Zum Ganzen Turner/Wigbers, Reformen der Kandidatenauswahl in Großbritannien und Deutschland, in: Münch/Kranenpohl/Gast (Hrsg.), Parteien und Demokratie, S. 57 (63), die von insgesamt 116 durch Primaries aufgestellte Kandidaten sprechen. Daneben auch Bale, Conservative Party, S. 301. 319 So Alexandre-Collier, Open Garden of Politics, BJPIR 2016, S. 706 (712) m. w. N.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Einflusses der Gewerkschaften auf der politischen Agenda.320 Die Conservative Party war stets eine Gegnerin der Kompetenzverschiebung vom britischen Parlament und der Regierung hin in die einzelnen Landesteile (sog. devolution) und hat sich ebenso gegen eine Wahlrechtsreform in Form der Einführung eines Verhältniswahlrechts321 für das House of Commons eingesetzt.
II. Liberal Democrats als „dritte“ Partei Im Vereinigten Königreich sind für die Wahlen zum House of Commons im Jahr 2015 insgesamt 428 Parteien registriert gewesen.322 Darunter fielen u. a. Parteien wie die SNP, UKIP, Plaid Cymru oder die Greens. Aus historischen Gründen (für die Entwicklung des Parteienwesens, speziell der innerparteilichen Demokratie) sowie wegen ihrer Beteiligung in der Koalitionsregierung von 2010 bis 2015 soll hier in aller Kürze auf die Liberal Democrats eingegangen werden: Die heutigen Liberal Democrats sind ein Produkt aus der Fusion der Liberal Party mit der Social Democratic Party im Jahre 1988.323 Sie hat Strukturelemente der beiden Parteien übernommen. Neben den freilich vorhandenen Parlamentsfraktionen (Parliamentary Party324) ist diese außerhalb des Parlaments als eine föderale Partei organisiert, die über eine nationale Partei sowie drei autonome Landesverbände in England, Wales und Schottland verfügt.325 Ihren nationalen Parteiführer, der zugleich Fraktionsvorsitzender ist,326 wählen die Mitglieder nach dem one member one votePrinzip. Dies übernahm die neue Partei von ihrer Vorgängerpartei, der Liberal 320
Vgl. zum Ganzen Hartmann, Regierungssysteme, S. 81 f. Dennoch wurde im Jahr 2011 ein Referendum über die Einführung eines gemischten Wahlsystems nach dem Alternative Vote System, das die Benachteiligung der Liberalen abgeschwächt hätte, durchgeführt, da dies im Koalitionsvertrag mit den Liberal Democrats vereinbart worden war. Dieses wurde mehrheitlich von der Bevölkerung abgelehnt. Vgl. Onken, Parteiensysteme, S. 233, 235. Aus der juristischen Literatur zu dem Referendum nur Loveland, Constitutional Law, S. 224. Vgl. auch Fisher, British Political Parties, S. 51 ff. zur Parteiprogrammatik bis Ende der 1990er Jahre und für die jüngere Zeit nur Onken, Parteiensysteme, S. 229 ff. 322 Davon haben gleichwohl nicht alle auch Kandidaten für die Wahlen im Jahr 2015 aufgestellt. Siehe dazu http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/generalelection/generalelection-2015-explained-parties-10217027.html (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 323 Vgl. Seyd/Whiteley/Billinghurst, Third Force, S. 3. Die Bezeichnung Liberal Democrats, siehe Art. 1.1 der Federal Constitution der Liberal Democrats, wurde erst 1989 angenommen, so Fisher, British Political Parties, S. 94. 324 Art. 16.1 Federal Constitution Liberal Democrats. 325 Art. 2.1 Federal Constitution Liberal Democrats, die hier State Parties genannt werden. In England gibt es zudem Regional Parties, die auf Antrag vom nationalen Parteitag zu State Parties ernannt werden können. Die Gründung einer nordirischen State Party wird dem Parteitag ebenfalls anheimgestellt. Eine Gründung als solche ist aber bisher nicht erfolgt. 326 Art. 16.1 Federal Constitution Liberal Democrats. 321
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Party.327 Ferner ist hervorzuheben, dass die Social Democratic Party selbst erst 1981 aus ehemaligen Mitgliedern der Labour Party gegründet worden war, welche die Einführung der Parteiführerwahl durch das Electoral College, an dem auch außerparlamentarische Parteimitglieder beteiligt waren, noch abgelehnt hatte.328 Für die Vorbereitung des Parteiprogramms ist das Federal Board (Parteivorstand) im Benehmen mit dem Parteiführer verantwortlich. Die Entscheidung über das Programm liegt indessen beim Parteitag.329 Dass der Parteitag die Hoheit über die Programmformulierung ausübt, ist ein Erbe der Social Democratic Party.330 Die Kandidatenaufstellung für das House of Commons folgt seit Bestehen der Partei einem Modus, der z. T. jenem der Conservative Party nicht unähnlich ist. Bewerber um Kandidaturen melden sich bei den Landesverbänden, die eine Liste mit approved candidates erstellt.331 Gleichwohl haben die Liberal Democrats aus ihrer voluntaristischen Tradition des politischen Liberalismus heraus bewusst auf eine positive Diskriminierung von Frauen und ethnischen Minderheiten verzichtet, wie dies die Labour Party einführte.332 Die Letztentscheidung, welche der auf der Liste eingetragenen Personen in einem Wahlkreis kandidiert, obliegt der jeweiligen Wahlkreisvereinigung.333Anfänglich hatten die Liberal Democrats ca. 80.000 Mitglieder (1988). Diese Zahl stieg bis Mitte der 1990er auf über 100.000 an, fiel sodann auf einen heute weitgehend konstanten Mitgliederstand von ca. 76.000.334 Inhaltlich ist sie sozialliberal orientiert. Bezogen auf die Staatsordnung setzt sie sich in Anlehnung an ihre liberale Vorgängerpartei für weitreichende verfassungsrechtliche 327 Die Liberal Party war die erste Partei, die eine direkte Mitgliederwahl im Vereinigten Königreich im Jahre 1976 einführte. Zudem war sie die erste föderal organisierte Partei, vgl. zum Ganzen Ingle, Party System, S. 137 ff.; Quinn, Electing and Ejecting, S. 131 ff. 328 Dies allerdings, da man eine linke Unterwanderung der Parteieliten fürchtete. Zudem wurde befürchtet, dass gemäßigte Kandidaten für das Parteiführeramt aus der Mitte der Fraktion im House of Commons keine Chance haben gegen linke Gewerkschaftskandidaten. Grund dafür war die Aufteilung der Stimmen im Electoral College, von denen die PLP nur noch ein Drittel innehatte. 329 Art. 5.1, 8.1, 8.4 Federal Constitution Liberal Democrats. 330 Fisher, British Political Parties, S. 95 f. Dies ist anders als in der Liberal Party, in welcher der Parteiführer seine historisch starke Stellung de jure und de facto behalten hatte. 331 Siehe Art. 18.1.(a) Federal Constitution Liberal Democrats. 332 Vgl. Williams/Paun, Party People, S. 34, 38 m. w. N., wobei bei anderen Wahlen – Kommunal- und Europawahlen – durchaus mit diversen Methoden gearbeitet wurde, um eine Gleichstellung zu erreichen. So wurde das sog. zipping erprobt, wonach auf den Listen für die Europawahl Frauen und Männer im Wechsel aufgestellt werden. Siehe dazu noch ausführlich Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 541. In der aktuellen 7. Auflage ist dieser Abschnitt nur noch mit einer generellen Aussage vorhanden, dass die einzelnen Parteien eigene Kandidatenauswahlverfahren haben (Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 549). 333 Vgl. nur Art. 18.4(b) Federal Constitution Liberal Democrats. Zum Ganzen ein Überblick bei Ingle, Party System, S. 143. 334 So Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 3, 8.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
Reformen ein, wie etwa für Wahlrechtsreformen hin zu einem proportionalen Wahlsystem335 sowie für eine weitere Föderalisierung des britischen Zentralstaates.336
E. Heutiges britisches Parteiensystem I. Zwei- oder Mehrparteiensystem? 1. Zumindest ein Zweieinhalb-Parteiensystem im House of Commons Das Vereinigte Königreich gilt gemeinhin als Modelldemokratie des Westminster-Systems und damit als ein klassisches Zweiparteiensystem.337 Einerseits handelt es sich hierbei um das „Standardmissverständnis der britischen Politik“338 schlechthin. Insofern ist die Teilnahme einer Vielzahl von Parteien an Wahlen und das Vorhandensein kleinerer Fraktionen bzw. einzelner Abgeordneter aus kleinen Parteien im House of Commons zu berücksichtigen. Andererseits ist die Klassifizierung als Zweiparteiensystem in Bezug auf die Regierungsbeteiligungen sehr wohl berechtigt. Das britische Zweiparteien-Regierungssystem gründet nämlich historisch auf dem althergebrachten Dualismus zwischen Whigs und Tories, der sich im aufkommenden Parteiensystem des 19. Jahrhunderts mit der Conservative und der Liberal Party institutionell festigte. Rechtlich wird das Zweiparteiensystem durch das britische Wahlrecht gefördert, dem sog. first past the post-System.339 Das gesetzgeberische Ziel hinter dem relativen Mehrheitswahlrecht in Einpersonenwahlkreisen ist es, dass nur eine geringe Anzahl von Parteien bzw. Fraktionen im House of Commons vertreten sein soll, was letztlich stabile Einparteienregierungen garantieren soll.340 335
Vgl. Hartmann, Regierungssysteme, S. 84. Einen Überblick geben Ingle, Party System, S. 130, 135 ff., sowie Jones/Norton, Politics UK, S. 86. 337 Diese Perzeption wird durchaus von der – vornehmlich älteren – britischen Literatur beeinflusst, vgl. etwa Parry, Government, S. 3. Siehe auch die angesehene Analyse der Organisation der „Politische[n] Parteien in England“ von Robert McKenzie, der von insgesamt 421 Seiten vier (sic!) der Organisation und Bedeutung der Liberal Party widmet. Etwas differenzierender in der aktuellen Literatur Wright, British Politics, S. 68 ff., der für die Feststellung eines Zweiparteiensystems insofern nur auf die Regierungsbeteiligung abstellt. Ebenso Ingle, Party System, S. 18; Heffernan, Political Parties, in: Dunleavy/Gamble/Heffernan/Peele (Hrsg.), Developments, S. 119 (121). 338 Sturm, Politik in Großbritannien, S. 150; ähnlich für dieses pauschale Urteil im Vereinigten Königreich Ingle, Party System, S. 18. 339 Siehe hierfür nochmals Barnett, Constitutional Law & Administrative Law, S. 76. 340 Dazu aus der politikwissenschaftlichen Forschung Helms, Parteiensystem Großbritanniens, in: Niedermayer/Stöss/Haas (Hrsg.), Parteiensysteme Westeuropas, S. 213 (218, 221); Kalitowski, Hung-Up Over Nothing?, P.A. 2008, S. 396 (396 f.). Aus der juristischen Literatur 336
E. Heutiges britisches Parteiensystem
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Wie die Geschichte des Aufstiegs der Labour Party zur Alternierungspartei neben der Conservative Party im beginnenden 20. Jahrhundert zeigt, ist das Wahlrecht zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für die Bildung einer Alleinregierung aus einer einzigen Mehrheitsfraktion. Als die Situation noch ungeklärt war, welche der beiden anderen Parteien sich als die zweite Kraft neben der Conservative Party etablieren würde und welche fortan nur noch die „dritte“ Partei sein sollte, bildeten die Liberal Party und die Labour Party eine Allianz gegen die Conservative Party in dem sog. Gladstone-MacDonald-Pakt im frühen 20. Jahrhundert.341 Infolgedessen kam es im Jahre 1924 zu einer gemeinsamen Koalitionsregierung.342 Möglich und nötig war die Koalitionsregierung, weil aus dem Wahlergebnis des Jahres ein hung parliament entstand.343 Als hung parliament wird in der britischen Verfassungs- und Politikwissenschaft jene Situation verstanden, in welcher keine Partei eine Mehrheit der Sitze im House of Commons erlangt hat und daher eine Koalitions- oder eine Minderheitsregierung die Folge ist. Schon von 1910 bis 1915 gab es eine solche Situation, was weiland zu einer Minderheitsregierung der Liberal Party unter Tolerierung durch die Labour Party führte. Programmatisch standen sie der Liberal Party näher. Als eine Folge aus der Kooperation beider Parteien garantierte die Liberal Party im Gegenzug eine gesetzliche Regelung in Form des Trade Union Act 1913 einzuführen. Hiermit sollte die Finanzierung der Labour Party bzw. ihrer Abgeordneten durch Gewerkschaftsspenden legalisiert werden.344 Der Abstieg der Liberal Party vollzog sich rasch.345 Das Zweiparteiensystem mit der Conservative Party und der Labour Partei als alternierende Alleinregierungsparteien dominierte zwischen 1924 und 1974.346 Bei den Wahlen vom Februar 1974 kam es erneut zu einem hung parliament. Zwischen den Neuwahlen im Oktober 1974 und dem Mai 2010 regierte entweder die Conservative Party oder die Labour Party allein, sodass für diese Zeit erneut von einem Zweiparteiensystem gesprochen etwa Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 73; Blackburn, Electoral System, S. 10 f.; Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 94. 341 Siehe dazu eine komprimierte Darstellung Onken, Parteiensysteme, S. 195. 342 Hier nochmals Wright, British Politics, S. 68 f. 343 Vgl. Brazier, Constitutional Practice, S. 6. Siehe daneben Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 228 mit einer Erklärung der Besonderheit des hung parliament anhand von historischen Wahlausgängen. Die verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Regierungsbildung sind nach Carroll, dass der Krone vier Möglichkeiten verbleiben: sie kann (1) den amtierenden Premierminister weiter in der Regierung belassen, (2) den Führer der größten Minderheitsfraktion zur Regierungsbildung einladen, (3) wenn nichts davon erfolgreich war, einen anderen Parteiführer hierzu einladen oder (4) das Parlament auflösen und eine Neuwahl ermöglichen. 344 Vgl. Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (719). 345 Dazu ausführlich Laybourn, Rise of Labour and the Decline of Liberalism, History 1995, S. 207 passim; Onken, Parteiensysteme, S. 198 ff. 346 Siehe den Überblick über den gesamten Zeitraum zwischen 1906 und 2004 bei Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 passim, der den 28. Februar 1974 als den Tag benennt, an dem das Zweiparteiensystem zusammenbrach (a. a. O., S. 727).
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
wurde. Die Situation im Frühjahr 1974 wurde nur als Ausnahmeerscheinung gewertet. Ein Bruch mit der Zweiparteientradition ergab sich im Jahre 2010, als das Wahlergebnis eine Koalitionsregierung erforderte, die aus der Conservative Party und den Liberal Democrats gebildet wurde. Im Nachgang zu den Wahlen des Jahres 2010 konstatierte ein Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des House of Commons, „that coalitions are an established form of government in western Europe and the UK.“347 Die Erklärungen der Politikwissenschaft und Soziologie für die Notwendigkeit von Mehrparteienregierungen sind im Vereinigten Königreich wie allenthalben in Westeuropa sich auflösende Wählermilieus, die sich auch in sinkenden Mitgliederzahlen der großen Parteien äußern und letztlich zu den sinkenden Ergebnissen der beiden großen Parteien über die letzten Jahrzehnte führen.348 Schließlich konnte die Conservative Party bei den Wahlen 2015 – entgegen den Wahlprognosen, die ein hung parliament für wahrscheinlich hielten –349 wieder die Mehrheit der Sitze im House of Commons erringen und regierte bis zu den erneuten Wahlen nach dem Brexit-Referendum allein. Die erreichte Sitzmehrheit im 2015 gewählten House of Commons basierte nicht auf einem entsprechenden absoluten Stimmenergebnis.350 Auch nach 2017 regierte die Conservative Party weiter, jedoch – bis zu den nächsten Wahlen im Winter 2019 – unter Duldung ihrer Minderheitsregierung durch die nordirische DUP, da sie bei den Wahlen die Sitzmehrheit verfehlte.351 In jedem Fall ist es statthaft, mit Blick auf die Kandidaturen in den einzelnen Wahlkreisen und die Stimmenverteilung von einem Mehrparteiensystem zu sprechen. Im Hinblick auf die Sitzverteilung im House of Commons und auf die Regierungskoalitionen seit 1974 ist daher von einem „suppressed two-and-a-half 347
Booth, Coalition Statistics, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 1. Diese verweist auch darauf, dass in den Volksvertretungen in Wales, Schottland und Nordirland eine Einparteienregierung ungewöhnlich ist. Dies hängt vor allem mit dem Wahlrecht zusammen. 348 Für eine Analyse der Fragmentierung der gesellschaftlichen Konfliktstruktur und zu den Auswirkungen auf die britischen Parteien seit den 1990er Jahren statt vieler Onken, Parteiensysteme, S. 232 ff. 349 Nach den Analysen der Meinungsforschungsinstitute und nach Ansicht vieler politischer Kommentatoren bestand damit eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer erneuten Koalitionsregierung, siehe nur Nardelli, Election Polls, The Guardian v. 28. Januar 2015 (Internetquelle). Zu einem solchen kam es dann nach den Wahlen im Jahr 2017. 350 Mit 36,8 % erreichte die Conservative Party im Jahr 2015 eine Mehrheit von 12 Sitzen. Im Vergleich dazu erlangte sie im Jahr 2010 36,1 % und ihr fehlten damit 19 Sitze zur erforderlichen Mehrheit, siehe Hawkins/Keen/Nakatudde, General Election 2015, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 4. 351 Eine ausführliche Würdigung der Wahlergebnisse bei Apostolova/Audickas/Baker/Bate et al., General Election 2017, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Briefing, passim. Zu dem offiziellen „Agreement between the Conservative and Unionist Party and the Democratic Unionist Party on Support for the Government in Parliament“, siehe Conservatives Agree Pact With DUP to Support May Government, BBC News, 26. Juni 2017 (Internetquelle).
E. Heutiges britisches Parteiensystem
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system“352 zu sprechen.353 Dies bestätigt sich zumindest dadurch, dass auch nach den Wahlen zum House of Commons im Jahr 2015 die Conservative Party und die Labour Party die an Sitzen und Wählerstimmen stärksten Parteien im Vereinigten Königreich geblieben sind. Die Conservative Party erreichte 2015 bei 36,8 % der Stimmen 330 der 650 zu vergebenden Sitze, während die Labour Party 232 Sitze bei 30,4 % der Stimmen erlangte. Seit dem Jahr 2017 sitzen 317 konservative Abgeordnete im House of Commons und 262 von der Labour Party. Zusammen gewannen die beiden großen Parteien 82,3 % der Stimmen, was das höchste prozentuale Ergebnis seit 1970 darstellt.354 2. Chancen für SNP und UKIP als neue Kräfte im House of Commons? Regelmäßig vermögen es aufgrund des skizzierten relativen Mehrheitswahlrechts nur sehr wenige Parteien, die erlangten Wählerstimmen in Sitze im House of Commons umzusetzen. Bei der letzten Wahl zum House of Commons im Jahr 2015 war – neben den drei etablierten Parteien – insbesondere die separatistische SNP erfolgreich. Ihr relatives Gesamtergebnis lag extrapoliert auf das gesamte Vereinigte Königreich bei nur 4,8 %, während es in Schottland ca. 50 % waren. Auch gingen fast alle schottischen Wahlkreise an SNP-Kandidaten. Dahingegen wurden die Liberal Democrats weitgehend marginalisiert, indem sie im gesamten Vereinigten Königreich zwar 7,9 % der Stimmen, aber – im britischen Wahlrecht entscheidend – nur neun Sitze gewinnen konnten. In der Wahlperiode von 2010 bis 2015 gab es noch 57 liberaldemokratische Abgeordnete.355 Dem Ganzen stand das bei 12,6 % relativ hohe Wahlergebnis von UKIP gegenüber.356 Trotz dieses hohen nationalen relativen Stimmenergebnisses konnte UKIP nur einen einzigen Wahlkreis gewinnen, 2017 allerdings verlor sie auch diesen.357 Allerdings hatte UKIP in der Legislaturperiode 352 Webb/Fisher, The Changing British Party System, in: Broughton/Donovan (Hrsg.), Party System Change S. 8 (27), Herv. i. O. 353 So Heffernan, Political Parties, in: Dunleavy/Gamble/Heffernan/Peele (Hrsg.), Developments, S. 119 (121). Dabei ist nicht zu unterschlagen, dass die Stärke einiger Parteien durch das Wahlrecht verzerrt wird, weil sich auch hohe Stimmenanteile nicht in gewonnene Sitze umsetzen lassen. Dazu auch Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 71 f. 354 Siehe Apostolova/Audickas/Baker/Bate et al., General Election 2017, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Briefing, S. 3. 355 Vgl. Hawkins/Keen/Nakatudde, General Election 2015, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, passim. 356 So Shephard/Rose, SNP Breakthrough, in: Cowley/Kavanagh (Hrsg.), The British General Election of 2015, S. 126 (127 f., 136 ff.); Apostolova/Audickas/Baker/Bate et al., General Election 2017, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Briefing, S. 6. 357 Vgl. Hawkins/Keen/Nakatudde, General Election 2015, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 5. Es sei erwähnt, dass UKIP im gesamten Königreich kandidiert, die SNP nur in Schottland. Dort erzielte die SNP einen Stimmenanteil von 50,0 %. Die erreichten 4,8 % sind demnach ein kumuliertes Ergebnis auf nationaler Ebene.
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
von 2010 bis 2015 bei einzelnen by elections, den Nachwahlen in einzelnen Wahlkreisen, zwei von 21 Wahlkreisen gewinnen können.358 Dabei ist aber zu beachten, dass UKIP seine Wahlerfolge allesamt in England und zwar vor dem BrexitVotum hatte. Zwar kandidiert die SNP nur in Schottland, aufgrund der hohen Anzahl gewonnener Sitze bei gleichzeitigem Einbruch der Sitze der Liberal Democrats ist für die Wahlperiode ab 2015 zu konstatieren, dass die SNP sich anders als UKIP „abruptly transformed from a largely irrelevant minority party to one with a major impact on British politics.“359 Dass die SNP unter allen (nicht nur den kleineren) Parteien besonders hervorsticht, ist nicht erst ihrem Erfolg an den Wahlurnen geschuldet, sondern gründet bereits im Vorfeld auf der gewachsenen Relevanz als Vereinigung von Bürgern. So zählte die außerparlamentarische Mitgliederorganisation der SNP im September 2014, zum Zeitpunkt des i. E. erfolglosen schottischen Unabhängigkeitsreferendums, noch ca. 25.000 Mitglieder. Bis zu den Wahlen zum House of Commons im Mai 2015 war der Mitgliederstand auf ca. 100.000 angestiegen.360 Im Vergleich dazu hatte der schottische Landesverband der Labour Party im Jahr 2015 ca. 13.000 Mitglieder.361 Ähnliches gilt für die Conservative Party in Schottland, deren Mitgliederanzahl Ende 2010 bei ca. 10.000 lag.362 Daran ändert auch das Wahlergebnis 2017 nichts Wesentliches, da die SNP auch mit nur noch 35 von 59 schottischen Mandaten (bei 36,9 % anstelle von 50 % noch 2015) die drittstärkste Kraft im House of Commons bleibt.363 The Scottish National Party (SNP) retained its position as the third-largest party in the Commons, winning 35 of 59 Scottish seats 358 Vgl. Ayres/Hawkins, By-elections 2010 – 15, in: House of Commons Library (Hrsg.), Standard Note, S. 19, 23. 359 Shephard/Rose, SNP Breakthrough, in: Cowley/Kavanagh (Hrsg.), The British General Election of 2015, S. 126 (126). Für eine zwischenzeitlich gesteigerte Bedeutung von UKIP im politischen Systems des Vereinigten Königreichs spricht zwar nicht mehr der relativ hohe Prozentsatz (12,6 %) der Wählerstimmen bei den Wahlen zum House of Commons im Jahr 2015, der 2017 nur noch 1,8 % betrug. Entscheidend für ihre vorübergehende Bedeutung ist aber der massive elektorale Erfolg bei den letzten Wahlen zum Europaparlament im Vereinigten Königreich im Jahre 2014. Hier konnte UKIP mit 26,77 % das beste Stimmenergebnis aller Parteien erreichen. Aufgrund des für Europawahlen angewendeten Verhältniswahlrechts entspricht dies 24 der insgesamt 73 britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament. Ergebnisse abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/elections2014-results/en/country-resul ts-uk-2014.html (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 360 Siehe Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 11 m. w. N. 361 Vgl. Shephard/Rose, SNP Breakthrough, in: Cowley/Kavanagh (Hrsg.), The British General Election of 2015, S. 126 (137). Weder die Scottish Conservative Party noch die Scottish Labour Partei veröffentlichen ihre Mitgliederzahlen. Kritisch dazu Ramsay, Party Memberships in the UK (Internetquelle), passim. 362 Scottish Conservative Party (Hrsg.), Building for Scotland, S. 10. Beachte, dass aktuelle Informationen über den Mitgliederstand der Scottish Conservative Party nicht verfügbar sind. 363 Vgl. Apostolova/Audickas/Baker/Bate et al., General Election 2017, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Briefing, S. 6.
E. Heutiges britisches Parteiensystem
107
and taking 36.9 % of the Scottish vote, down from 56 seats and 50.0 % of the vote in Scotland in 2015.
II. Exkurs: Mehrparteiensysteme in den Devolutionsvolksvertretungen Im Lichte der soeben nachgezeichneten historischen und aktuellen Entwicklung der Parteien im House of Commons betrachtet spräche zunächst vieles dafür, von einem einheitlichen britischen Parteiensystem auszugehen; diese Wahrnehmung des Vereinigten Königreichs als Zentralstaat ist angesichts der staatsrechtlichen Entwicklung der vergangenen 20 Jahre überholt. Aufgrund der devolution, der QuasiFöderalisierung364 des britischen Einheitsstaates, durch Schaffung von Volksvertretungen und Regierungen in Nordirland, Schottland und Wales, sind subnationale Parteisysteme geschaffen worden. Devolution ist eine „unscharfe Sammelbezeichnung für verschiedene Formen der widerrufbaren Delegation von Regierungsgewalt an eine subnationale Ebene.“365 Hierbei muss zwischen exekutiver, administrativer und legislativer devolution unterschieden werden. Entscheidend ist mit Blick auf die hier interessierenden (regionalen) Parteien die legislative devolution, durch die Kompetenzen aus dem britischen Parlament in die untergeordneten Volksvertretungen in Nordirland, Schottland und Wales übertragen wurden.366 Am größten ist die Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen auf das schottische Parlament, das auch die größte regionale Volksvertretung im überdies nach England zweitgrößten Landesteil des Vereinigten Königreichs darstellt. Übertragen wurden im Grundsatz alle Gesetzgebungskompetenzen, die zuvor dem Parlament in London zentral zugestanden hatten. Nur die abschließend aufgezählten reserved matters nach Sch. 5 Part I Scotland Act 1998 bleiben dem britischen Parlament gänzlich vorbehalten, zu denen u. a. auch das Recht der politischen Parteien gehört. Daneben werden in Sch. 5 Part II Scotland Act 1998 einzelne Fragen der grundsätzlich devolvierten Gesetzgebungskompetenzen dem schottischen Parlament nicht zugesprochen.367 Ein eigenes Parteienrecht existiert damit für Schottland – wie auch für die übrigen von der devolution profitierenden Landesteile – nicht. Damit ist das in der vorliegenden Untersuchung analysierte britische Parteienrecht auch auf die subnationalen Parteien und -systeme anwendbar.368 In Wales und in Schottland stellen sich neben 364
Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 89. v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 25. Vgl. dazu auch die Definition des Kilbrandon Report: „[A] delegation of central government powers without the relinquishment of sovereignty“, H.M.S.O. (Hrsg.), Royal Commission on the Constitution, Cmnd. 5460, S. 165. 366 Wobei dies das Prinzip der Parlamentssouveränität nicht berührt, vgl. Bogdanor, Constitution, S. 112. 367 Ausführlich dazu statt aller Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 29 f. 368 Dazu ist zu bemerken, dass sich das Vereinsrecht (d. h. das Recht der unincorporated associations) in den britischen Common Law-Jurisdiktionen – also in England, Wales und 365
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1. Kap.: Entwicklung von Parteien und Parlament
den jeweiligen Regionalparteien, Plaid Cymru (Wales) und der SNP (Schottland), auch die gesamtbritischen Parteien für die Volksvertretungen zur Wahl und sind dort mit Mitgliedern vertreten. Die Regierungsverantwortung lag in Schottland und Wales seit 1998 meist in Koalitionen der regionalen Parteien mit einer der drei etablierten gesamtbritischen Parteien. Dass Koalitionen in Schottland und Wales häufiger sind, liegt am vom britischen relativen Mehrheitswahlrecht abweichenden personalisierten Verhältniswahlrecht,369 das wohlgemerkt teilweise auch auf dem deutschen Bundestagswahlrecht basiert.370 Wie beschrieben, sind die drei großen gesamtbritischen Parteien mit mehr oder weniger autonomen „Landesverbänden“ in Wales und Schottland vertreten.
F. Zwischenergebnis: weiterhin ein Zweiparteiensystem auf nationaler Regierungsebene Die in fast allen westlichen Ländern festzustellenden gesellschaftlichen Entwicklungen, die Auflösung von Sozial- und damit Wählermilieus, haben auch im House of Commons und damit auf nationaler Ebene im Vereinigten Königreich zu Veränderungen der Parteienlandschaft geführt. Diese äußern sich zuweilen in hohen Stimmenanteilen für kleinere Parteien wie der SNP oder UKIP.371 Trotz dieser Erkenntnisse bleibt die vorliegende Untersuchung auf das nationale Parteiensystem fokussiert, da auch nach den jüngsten Wahlergebnissen nicht von einem Mehrparteiensystem im House of Commons gesprochen werden kann. Vielmehr wurden die Liberal Democrats bzw. die frühere Liberal Party von der SNP als dritte Partei abgelöst. Die Regierungen werden überwiegend weiterhin alternierend von der Labour Party und der Conservative Party gestellt. Die Regierungsbeteiligung anderer Parteien, die durch die liberal-konservative Koalition von 2010 bis 2015 an Aktualität gewonnen hat, stellt gleichwohl keinen Dauerzustand dar, wie die Wahlergebnisse im Jahr 2015 zeigten. Aus der ersten, eine gesamte Legislaturperiode überdauernden Koalitionsregierung seit dem Zweiten Weltkrieg folgen für eine politikwissenschaftliche Analyse prädestinierte Forschungsfragen. Hierzu ist aber zu bemerken, Nordirland und in Schottland mit seinem hybriden Rechtssystem – im Grunde gleichen. Neuerdings gibt es aber in Schottland eine gesetzgeberische Bewegung zur Kodifizierung des Rechts der Vereinigungen. Vgl. dazu Scottish Law Commission, Discussion Paper, CLB 2009, S. 121 passim. 369 Für die Einflüsse der regionalen Wahlrechtsreformen 1998/1999 auf das Parteiensystem halten Hazell/Russell/Croft/Seyd/Masterman, The Constitution, P.A. 2001, S. 190 (202) fest: „The year marked a midpoint in the process of reforming the UK’s electoral and party system.“ 370 Bogdanor, Constitutional Reform in Britain, ARPS 2005, S. 73 (86); Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 (186). 371 Im Weiteren erfolgt die Darstellung von regionalen bzw. kleineren nationalen Parteien nur, wenn es im Kontext für das Verständnis des britischen Parteien- und Verfassungsrechts erforderlich ist.
F. Zwischenergebnis
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dass Koalitionsregierungen auch parteienrechtliche Fragen aufwerfen.372 In erster Linie ist für die parteienrechtliche Untersuchung die Frage relevant, ob und wenn ja nach welchem Modus die Parteien, d. h. Fraktionen und hier insbesondere die außerparlamentarische Partei, innerparteilich in die Entscheidung über das Eingehen373 und die Auflösung374 einer Koalition eingebunden werden. Diese Fragen bleiben anderen Untersuchungen vorbehalten, da hier nur die Parteiführerwahl exemplarisch für die innerparteiliche Willensbildung untersucht wird.
372 So die Frage, wie sich Koalitionen in die Verfassungskonventionalregeln der britischen Verfassung einfügen. Dies ist etwa im Hinblick auf die Einladung der Krone an einen der Parteiführer aus dem House of Commons, die Regierung zu bilden, relevant. Ebenso wird der Frage nachgegangen, ob und wann die Krone ein Auswahlrecht hierzu hat. Vieles ist hierzu nicht gesetzlich geregelt. Erst vor einigen Jahren wurde das Recht des Premierministers, auch nach einer Parlamentswahl ohne eigene Mehrheit im Amt zu verbleiben, durch feste Wahlperioden von fünf Jahren im Fixed-term Parliaments Act 2011 eingeschränkt. Blackburn, The 2010 General Election, P.L. 2011, S. 30 (53) hält daher unter der pointierten Überschrift „The constitution is what happens – The durability of the coalition and the New Politics“ fest, dass Recht und Realität im britischen Regierungs- und Parteiensystem ineinander übergehen. 373 Dass diese Fragen durchaus von britischen Rechtswissenschaftlern diskutiert werden, zeigt etwa Blackburn, The 2010 General Election, P.L. 2011, S. 30 (53) zur Abfolge der Koalitionsverhandlungen und zur Bedrohung des von der Führung ausgehandelten Koalitionsvertrages durch innerparteiliche Mitspracherechte der Parlamentsfraktionen und der außerparlamentarischen Parteiorganisation. Eine Abstimmung über den Koalitionsvertrag durch einen Delegiertenparteitag erfolgte nur bei den Liberal Democrats entsprechend der Art. 6 Abs. 6 i. V. m. 1 Federal Constitution i. V. m. Standing Order 9 der Verfahrensordnung, siehe dazu Cooper, Liberal Democrat Conference Approves Coalition Agreement (Internetquelle). Eine Mitgliederabstimmung in Form eines Parteitages wurde nach der verlorenen Wahl 2015 eingeführt. Bei der Conservative Party sorgte das (satzungskonforme) Vorgehen Camerons, ohne die Partei – im und außerhalb des Parlaments – zu befragen, für Unmut. Insbesondere forderte die Gruppe der Conservative Private Members’ Committee (sog. 1922 Committee), in der im Falle einer konservativen Regierung die backbencher der Fraktion organisiert sind, vor den Wahlen 2015, in die Koalitionsverhandlungen und -entscheidungen eingebunden zu werden. Siehe dazu Stratton, Tory MPs ,Expect Key Role‘, BBC News, 28. Januar 2015 (Internetquelle). Einige konservative Think Tanks setzen sich darüber hinaus auch für die Öffnung der Koalitionsentscheidung zu den Parteimitgliedern ein. Im Jahre 1997 schon bot Blair den Liberal Democrats eine Koalition an, vgl. Mair, Party System, in: Flinders/Gamble/Hay/Kenny (Hrsg.), Handbook of British Politics, S. 283 (295 f.). 374 Maer/Gay, The 2010 Coalition Government, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 23, wonach im Vereinigten Königreich und in anderen westeuropäischen Staaten Koalitionen u. a. aufgrund innerparteilicher Streitigkeiten aufgelöst wurden. Ebenso Bogdanor, Coalition and Constitution, S. 79: „[H]istorically, coalitions have come under pressure from below, not from the top.“
Zweites Kapitel
Definition, Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien I. Erforderlichkeit einer umfassenden Definition der Parteien Die Parteien stehen im Vereinigten Königreich wie in jeder anderen parlamentarischen Demokratie im Mittelpunkt der politischen Willensbildung.1 Aus dieser Stellung ergibt sich die Notwendigkeit einer Definition für den Forschungsbegriff der politischen Partei.2 Ohne die Schaffung dieses nötigen Vorverständnisses von Definition, Funktion und im Weiteren auch des Status (dabei insbesondere von der Rechtsform) der Parteien kann eine Analyse der innerparteilichen Demokratie im Vereinigten Königreich nicht erfolgen. Politik- und Sozialwissenschaften bieten mit Vertretern wie Max Weber, Maurice Duverger oder Giovanni Sartori zahlreiche funktionale Definitionen an, um sich dem Phänomen der Parteien aus der Perspektive der Verfassungswirklichkeit zu nähern.3 Eine allgemein anerkannte Parteiendefinition konnte sich aber nicht etablieren. In jedem Einzelfall sind die politischen und rechtlichen Gegebenheiten eines jeden Landes für die Beschreibung der Funktionen von Parteien und der daraus gebildeten Definition zu berücksichtigen.4 1 Mit einem pathetischen Einschlag H.M.S.O. (Hrsg.), Report of the Committee on Financial Aid to Political Parties, Cmnd. 6601/1976, para. 9.1, zitiert nach Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 548 f.; dazu auch Blackburn, Electoral System, S. 4: „Effective political parties are the crux of democratic government. […] Parties are the people’s watchdog, the guardian of our liberties.“ 2 Vgl. Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 20. 3 Für die zahlreichen Definitionen siehe Detterbeck, Wandel politischer Parteien, S. 11 ff.; Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 22 f.; vgl. für die Erforderlichkeit einer juristischen Definition Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, S. 167 f. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das Wort Partei (franz. partie, eng. party) vom lat. Nomen pars sowie dem Verb partire abgeleitet ist, was so viel wie „Teil“ bedeutet. Die Etymologie des Wortes hilft allerdings nicht für eine rechtliche Definition weiter. 4 So für die rechtliche Betrachtung des Parteigeschehens und des Parteienrechts Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (192 f.), unter Erwähnung der Abweichung der Common Law-Tradition und insbesondere des britischen Parteiengesetzes gegenüber den kontinentalen Regelungen. Morlok definiert im Übrigen für seine vergleichende Arbeit Parteien minimal „als Organisationen, die
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Überdies wäre eine unreflektierte Übernahme einer Parteiendefinition aus einer der angrenzenden Disziplinen der Parteienforschung problematisch, weil deren Definitionsversuche zuweilen dazu tendieren, juristische Trennlinien zu missachten. Das freie Mandat von Abgeordneten etwa, das ein ius internationale commune darstellt, steht von Rechts wegen zwischen den Parteien im Parlament (Fraktionen und Abgeordneten) und den außerparlamentarischen Parteiorganisationen. So werden Parteien politikwissenschaftlich nicht als Phänomen in den verschiedenen rechtlichen Sphären, in der außerparlamentarischen gesellschaftlichen Organisation (zumeist nach Vereinsrecht) und der parlamentarischen Organisation (nach Parlamentsrecht) wahrgenommen, sondern als einheitliches politisches und soziales Phänomen.5 Wie dieses Beispiel illustriert, ist der Jurist versucht sich mit seinem Rechtsbegriff der politischen Partei und ihrer Funktionen von den übrigen Disziplinen in der Parteienforschung abzugrenzen.
II. Parteibegriff und Parteifunktionen in der internationalen Parteienforschung 1. Drei zentrale Parteienfunktionen: Personal-, Betriebsund Interessensvermittlungsfunktion In der internationalen Parteienforschung werden, wie schon beim Parteibegriff, unzählige Funktionskataloge aufgestellt, die teilweise bis zu 18 Funktionen umfassen.6 Der deutsche Politikwissenschaftler und Parteienforscher Uwe Jun spricht sich für eine Konzentration auf fünf zentrale Funktionen aus, die er wie folgt kategorisiert: (1) die Wählerbindung und Rekrutierung des politischen Personals, (2) die Regierungsbildung und Oppositionsarbeit, (3) die Responsivität durch Interessenartikulation, -repräsentation und -aggregation, (4) die Bestimmung von politischen Inhalten sowie (5) die Mobilisierung und Integration der Wähler- und
darauf spezialisiert sind, die institutionalisierten Einflusskanäle einer Demokratie zu benutzen“ (a. a. O., S. 193 m. w. N.). 5 So auch in der früheren juristischen Literatur. Für eine frühe Befassung mit dem Spannungsfeld zwischen Art. 21 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG – im Lichte der von ihm entwickelten Parteienstaatsdoktrin – siehe Leibholz, in: 38. DJT (Hrsg.), Stellung und innere Ordnung, S. C 2 passim. Nach Leibholz galt es, dieses aufzulösen zugunsten der Parteienstaatsdoktrin und zulasten des Prinzips des freien Mandats. Dieses Ergebnis stellt er rechtsvergleichend fest, wobei er neben Deutschland speziell auf das Vereinigte Königreich blickt. Leibholz, Strukturprobleme, S. 102 ff. Für die heutige h. M., nach der die These vom Spannungsverhältnis zwischen Parteiendemokratie und Mandatsfreiheit der (heute weit überwiegenden) Auffassung gewichen ist, dass sich beide Prinzipien sinnvoll ergänzen, statt vieler Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 38 Rn. 197 ff. 6 Vgl. Morlok, Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (40) m. w. N.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Mitgliedschaft.7 Etwas prägnanter ist die Formulierung der Funktionen von Morlok,8 nach der die Parteien erstens Organisationen der Zivilgesellschaft sind, die zweitens die Interessen der Bürger in die staatlichen Institutionen hereintragen und drittens die parteipolitischen Programme durch ihr Personal durchsetzen. Das Parteienpersonal wird ebenfalls aus der Bürgerschaft rekrutiert, von den Parteien kanalisiert und katalysiert und, von den Bürgern mit einem abschließenden demokratischen Votum durch die Wahlen versehen, in die staatlichen Organe entsendet. Kurzum: „Man kann bei Parteien also von der personellen Funktion der Parteien sprechen, von der Betriebsfunktion für das politische System und von der Interessensvermittlungsfunktion.“9
2. Drei Parteiorganisationsebenen der Parteien nach Peter Mair In der internationalen Parteienforschung ist eine mit den zuvor gefundenen Funktionen korrespondierende dreigliedrige organisatorisch-funktionelle Unterteilung der Parteien anerkannt. Der irische Parteienforscher Peter Mair,10 der vor allem für die Kartellparteienthese11 bekannt wurde, unterscheidet zwischen der (1) party in public office, also der Partei bzw. ihren Exponenten im Parlament und in der Regierung, (2) der party on the ground, d. h. der außerparlamentarischen Parteiorganisation als mitgliedschaftsbasierte (oder je nach rechtlichen Rahmenbedingungen stammwählerbasierte)12 Massenorganisation und (3) der party in central office. Die party in central office ist trotz ihrer begrifflichen Nähe organisatorisch von der party in public office zu unterscheiden. Die party in central office bezeichnet funktionell die Führungsebene der party on the ground, also der außerparlamentarischen Parteiorganisation. Je nach politischem und rechtlichem System kann die Führungsebene der Partei aus dem Parteivorstand außerhalb des Parlaments als auch aus der 7 Vgl. Jun, Funktionen von Parteien, in: Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Parteienforschung, S. 119 (123). 8 Siehe für diese Funktionsunterteilung im deutschen juristischen Schrifttum statt vieler Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 21, der von einer (1) Funktion der Erfassung, Aggregation und Artikulation von Interessen, sodann (2) von einer Transformationsfunktion in Entscheidungen staatlicher Organe und (3) der Rekrutierungsfunktion politischen Personals zur Umsetzung derselben spricht. 9 Morlok, Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (41), Herv. d. Verf. 10 So Mair, Party Organizations, in: Katz/Mair (Hrsg.), How Parties Organize, S. 1 (4 ff.) m. w. N. 11 Grundlegend der Aufsatz von Katz/Mair, Changing Models of Party Organization, P.P. 1995, S. 5 passim. In einer juristischen Arbeit kann dieser Ansatz aber nicht ausführlich gewürdigt werden, da hier normativ-rechtlich argumentiert wird. 12 In Bezug auf die Teilhabe Parteifremder an der Willensbildung und die Möglichkeit, gar keine Parteimitglieder zu haben (vgl. nur die niederländische PVV, die neben ihrem Gründer Geert Wilders keine weiteren Parteimitglieder hat), sodass sich die Frage der innerparteilichen Demokratie schon nicht stellt, siehe Carty, Meant to be Internally Democratic?, in: Katz/Cross (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 11 (20) m. w. N.
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Fraktionsführung im Parlament bestehen. Nicht zu verwechseln ist die party in central office daher mit den Parteivertretern in staatlichen Ämtern.13 3. Zwischenergebnis: Stellung der Parteien zwischen Staat und Gesellschaft Diese vertikale wie horizontale Einordnung der unterschiedlichen Entitäten in den Parteiorganisationsebenen nach Mair offenbart, dass bereits aufgrund der personellen Überschneidungen zwischen Parteien, Parlament und Regierung das Konzept der Parteien zwangsläufig zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre changiert, ohne sich eindeutig in diese dichotomisierenden Kategorien einordnen zu lassen.14 Die Frage, wie die Trennlinien zwischen party on the ground, der außerparlamentarischen Parteiorganisation, und der party in public office juristisch wirksam gezogen werden können und wie sich dies auf die innerparteiliche Demokratie auswirkt, sind in diesem Spannungsfeld bereits angelegt.
III. Definitionen und Funktionen der britischen Parteien 1. Nur funktionale Teildefinitionen der britischen Parteien in Gesetzen Die dreigliedrige Unterteilung der Parteifunktionen, wie sie Morlok oder Mair beschreiben, findet auch in der britischen Parteienforschung der Sache nach Anerkennung. Das Neill-Komitee, dessen Empfehlungen das Parlament für den Erlass des PPERA 2000 fast vollständig annahm,15 benennt eben jene Funktionen der Parteien als Grund für seine weitreichenden Empfehlungen in der Kontrolle der privaten und Ausweitung der staatlichen Parteienfinanzierung: „The parties contribute substantially to the making of public policy. They offer voters alternative policies and candidates from which to choose at elections. They make possible the 13 „In the first place, there are quite a number of parties which now reveal an increasing tendency for membership of the central office organs, and particularly the various national executive bodies, to be made up by representatives and/or ex-officio members of the party in public office rather than by representatives of the party on the ground.“ So Mair, Party Organizations, in: Katz/Mair (Hrsg.), How Parties Organize, S. 1 (12 ff.) (Herv. i. O.). Jedenfalls, so stellt Mair selbst fest, gilt dies in den Ländern bzw. in den Parteien, in denen das Parteienrecht (das staatliche Recht und das Satzungsrecht) eine derartige Überschneidung von Kompetenzen und Personen zulässt. 14 Vgl. für diese uneindeutige Stellung des Parteienrechts etwa Tsatsos/Morlok, Parteienrecht, S. 32 f. 15 Im Wesentlichen hat es als einziger substantieller Vorschlag die Steuervergünstigung von Parteispenden nicht in den Regierungsentwurf zu dem Parteiengesetz geschafft. HC Deb, 10 January 2000, vol. 343, c. 114, Mike O’Brien; dazu auch Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 158; Brändle, Parteienförderung, S. 94 ff., 99.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
conduct of effective parliamentary government. Not least, political parties are the principal means through which ordinary citizens can, and do, become involved in the democratic process. One of our principal aims throughout this report has been to strengthen the parties in this country and to lead them to being held in higher, not lower, esteem by the general public.“16
Die Parteien sind demzufolge in ihrer Funktion als mitgliedschaftliche Organisationen außerhalb des Parlaments genannt, die Interessen und Personal aggregieren und diese in die staatlichen Institutionen entsenden. Allerdings ist auch festzuhalten, dass es im Vereinigten Königreich niemals eine gesetzliche oder richterrechtliche umfassende Definition für die politischen Parteien gegeben hat.17 An dieser Situation haben weder der Registration of Political Parties Act 1998 noch der PPERA 2000 etwas grundlegend geändert.18 Diese beiden Gesetze sind im Rahmen der Verfassungsreform unter Premierminister Blair am Ende der 1990er Jahre erlassen worden; der Registration of Political Parties Act 1998 war das erste britische Parteiengesetz, wurde jedoch nur zwei Jahre später durch den PPERA 2000 aufgehoben. Seit dem Jahr 2000 stellt der PPERA 2000 das britische Parteiengesetz dar. 2. Teildefinitionen im PPERA 2000 Tatsächlich beinhaltet der PPERA 2000 (wie schon der Registration of Political Parties Act 1998) Definitionen für die Parteien in einzelnen Normen, die auf den ersten Blick vermuten ließen, der britische Gesetzgeber habe den rechtlichen Parteibegriff umfassend konturiert. Jedoch sind die Parteien nur im Hinblick auf den jeweiligen sachlichen Regelungsgegenstand des betroffenen Teils des Gesetzes definiert. Im Einzelnen bedeutet dies: Für den Erhalt von policy development funds (eines der raren Instrumente staatlicher Parteienfinanzierung im Vereinigten Königreich19) ist etwa eine represented registered party nach s. 12(1)(b) PPERA 2000 eine solche, die mindestens zwei Mitglieder im House of Commons stellt, die wiederum den oath of allegiance (parlamentarischen Eid auf die Krone)20 abgelegt 16
H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, para. 2.2, Herv. d. Verf. 17 Für die Zeit vor der Verfassungsreform ab 1998 siehe Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 6: „While the term ,political party‘ exists on the Statute Book, there appears to be no comprehensive definition of it in legislation.“ 18 Davis, Political Freedom, S. 59. Zu den einzelnen Definitionsmerkmalen, die diese und andere Gesetze aber beinhalten, siehe umgehend. 19 Siehe hier statt vieler Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 285 m. w. N. 20 Für den Wortlaut des Schwurs, s. 2 Promissory Oaths Act 1868 in der heute gültigen Fassung: „I, , [sic!] do swear that I will be faithful and bear true allegiance to Her Majesty Queen Elizabeth II., her heirs and successors, according to law. So help me God.“ Historisch war das wichtig für die Mitglieder des House of Commons, die der Sinn Féin angehörten, und die in Ablehnung der Zugehörigkeit Nordirlands den Eid auf die Krone nicht schwören wollten, vgl. Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 27. Obwohl der Text der
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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haben und die nicht von der Teilnahme an Sitzungen und Abstimmungen im House of Commons ausgeschlossen sind.21 Eine derartige Definition fand sich ceteris paribus in den Short/Cranborne Money-Regimes.22 Bei genauerem Hinsehen verengt diese Definition nämlich den Parteibegriff auch auf Parlamentsparteien, hier i. S. v. Fraktionen im House of Commons.23 Eine andere Definition der Parteien enthält das Gesetz nur einige sections weiter. Eine qualifying registered political party, die berechtigt ist, unter ihrem Namen und mit einem Parteilabel versehene einzelne Kandidaten aufzustellen oder Wahllisten einzureichen (s. 22(1) PPERA 2000) liegt, vor, wenn die Voraussetzungen der Registrierung i. S. v. s. 28(1)-(2) PPERA 2000 erfüllt sind, die u. a. eine Erklärung verlangen, „that the party intends to contest one or more relevant elections in Great Britain and one or more such elections in Northern Ireland“ gemäß s. 28(2)(a)(i) PPERA 2000. Diese Definition, die an das Kriterium der Ernsthaftigkeit (in Form einer angestrebten Teilnahme an Wahlen) anknüpft, umfasst mithin die außerparlamentarische Parteiorganisation.24 3. Verwendung des Begriffs der political party in Gesetzen vor 1998 Auch andere gesetzliche Regelungen, die bereits vor 1998/2000 in Kraft waren, verwendeten die Begrifflichkeit der political party.25 Sie betrafen bzw. betreffen Resolution diese Voraussetzung nicht erwähnt, ergibt sie sich para. 1 und 6 der ursprünglichen Resolution, die Parteien unterstützt „in carrying out its Parliamentary business“. Hierzu ausführlich Kelly, Short Money, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 23. 21 Wortlaut s. 12(1)(b) PPERA 2000: „[A] registered party is ,represented‘ if there are at least two Members of the House of Commons belonging to the party who – (i) have made and subscribed the oath required by the Parliamentary Oaths Act 1866 (or the corresponding affirmation), and (ii) are not disqualified from sitting or voting in that House.“ 22 Vgl. erneut Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 27; Kelly, Short Money, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 23. 23 Kritisch dazu in Bezug auf die Verengung gegenüber dem Houghton-Report. Dieser Report legte drei alternative anstelle der nunmehr vom Gesetzgeber gewählten kumulativen Kriterien für die Qualifikation dieser Art der staatlichen Parteienfinanzierung zu Grunde, nämlich die Mitgliedschaft von zwei Parteimitgliedern im House of Commons oder eines Mitgliedes, das 150.000 Stimmen erreicht hat oder dass es die erforderlichen deposits (Sicherheitsleistungen) für eine Kandidatur in einem Wahlkreis erhalten hat. Vgl. dazu Ewing, Cost of Democracy, S. 242 f. 24 Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass daneben auch eine Definition für minor parties in s. 34 PPERA 2000 enthalten ist; diese dürfen nicht an Parlamentswahlen teilnehmen, sondern nur an lokalen Wahlen, und sind nach deutscher Terminologie als sog. Rathausparteien bzw. kommunale Wählervereinigungen zu bezeichnen. Dazu etwa Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (249). Im Jahre 2003 waren nur sieben minor parties im gesamten Vereinigten Königreich registriert. Diese unterliegen nicht dem strengen Kontrollsystem der Parteifinanzen, vgl. Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.7. 25 Beachte, dass es auch andere gesetzliche Normierungen, insbesondere im Bereich der Parteienfinanzierung gab, die den Begriff der political purposes verwendeten, dazu sogleich.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
insbesondere die finanziellen Zuwendungen Privater an Parteien.26 So orientiert sich s. 24 Inheritance Tax Act 1984, der die steuerliche Privilegierung von Schenkungen von Todes wegen an politische Parteien regelt, für die Qualifikation einer Vereinigung als political party an den Voraussetzungen des Short Money und wendet sich damit ebenfalls ausschließlich an die Parteien im Parlament.27 Einen anderen Weg ging der Gesetzgeber bei dem Sex Discrimination Act 1975. Dieser griff als erstes Gesetz überhaupt den Begriff der political party auf, indem er die Parteien vom Anwendungsbereich des Antidiskriminierungsprinzips zugunsten von Frauen in den außerparlamentarischen Parteiorganisationen ausnahm, wenn diese Partei „has as its main object, or one of its main objects, the promotion of parliamentary candidatures for the Parliament of the United Kingdom“ gemäß s. 33(1)(a) Sex Discrimination Act 1975. Mithin beschrieb diese Norm die Parteien als gesellschaftliche Vereinigungen und in ihrer Funktion der Rekrutierung politischen Personals.28 Die Besonderheit des Sex Discrimination Act 1975 für den rechtlichen Parteibegriff lag aber darin, dass die Funktion der Personalrekrutierung durch das Gesetz in zweifacher Hinsicht erfasst wurde. Erstens wies die Intention des Gesetzgebers, die in der Parteisatzung für Vorstandswahlen privilegierte Frauenvereinigung der Labour Party zu erhalten, darauf hin, dass er die außerparlamentarische Parteiorganisation in ihrer Bedeutung für das politische System als solche anerkannte. Das Parlament sah sie nicht zwangsläufig nur als eine temporär existierende oder zumindest nur im Abstand von mehreren Jahren aktiv werdende Wahlkampfmaschine an.29 Deshalb waren positive Diskriminierungen für die „constitution, organisation and administration of political parties“ (ss. 33, 29 Sex Discrimination Act 1975), also in Parteivorständen und dergleichen, zulässig.30 Dagegen wies die Definition der Parteien nach dem Sex Discrimination Act 1975 gerade auf die Funktion der Aufstellung von 26 Dazu tiefergehend Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 6 f. 27 Wortlaut der Norm lautet: „A political party qualifies for exemption under this section if, at the last general election preceding the transfer of value, – (a) two members of that party were elected to the House of Commons, or (b) one member of that party was elected to the House of Commons and not less than 150,000 votes were given to candidates who were members of that party.“ Siehe zu dieser Definition der politischen Partei auch den Bericht des Neill-Komitees, H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, App. VI Nr. 7. 28 Vgl. Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 7. 29 Die Labour Party, die, nota bene, im Jahr 1975 selbst die Regierung stellte, verfügt schon seit den 1910er Jahren über eine Frauenorganisation (Women’s Forum). Für diese LabourFrauenorganisation waren nach der damals geltenden Parteisatzung fünf von 25 Sitzen im NEC reserviert. Siehe nur Ewing, Funding of Political Parties, S. 6 m. w. N. auf die Parteisatzung. Heute geregelt in Ch. 4 cl. III. A. i. a. c. Rule Book, die jeweils einen Mindestanteil von Frauen im NEC von 50 % vorsehen (so ausdrücklich in Ch. 4 cl. III. A. iv. Rule Book). 30 Zum Ganzen Ewing, Funding of Political Parties, S. 7.
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Kandidaten und damit ihre Bedeutung als Linkage zwischen Wahlvolk und Parlament, zwischen Gesellschaft und Staat, hin. Der Gesetzgeber kombinierte diese beiden Ansätze in der Definition einer Partei, indem er das Ziel einer Partei, parlamentarisch repräsentiert zu sein, zur konstitutiven Voraussetzung für die Privilegierung in ihrer außerparlamentarischen Tätigkeit machte.31 Damit erkannte der britische Gesetzgeber zumindest implizit die Möglichkeit einzelner Parteien an, sich außerparlamentarisch zu organisieren. Eine Pflicht dazu bestand indes nach dem Sex Discrimination Act 1975 nicht.32 Im Jahr 1996 urteilte ein Gericht, dass die positive Geschlechterdiskriminierung33 durch die Labour Party und ihre all-women shortlists gegen den Sex Discrimination Act 1975 verstieß, da die Kandidatenauswahl nicht von ss. 33, 29 erfasst war. Hierbei waren die Parteien nicht vom Diskriminierungsverbot ausgenommen. Mit s. 2 Sex Discrimination (Election Candidates) Act 2002 reagierte der Gesetzgeber hierauf. Mit der Mehrheit der Labour Party verabschiedete er dieses Gesetz und lässt seither positive Diskriminierungsmaßnahmen bei Kandidatenauswahlverfahren ausdrücklich zu.34 4. Verwendung von political purposes und political objects in Gesetzen vor 1998 Bei anderen gesetzlichen Regelungen verwehrte der britische Gesetzgeber eine Definition der Begrifflichkeit der politischen Partei. Stattdessen sprachen die Normen von political purposes oder political objects. Dies war z. B. bei der Finanzierung der Parteien durch Gewerkschafts- oder Unternehmensspenden lange Zeit der Fall. Zu nennen sind hier die ss. 3 ff. Trade Union Act 1913, die als erste gesetzliche Regelungen die Parteien zum Gegenstand hatten. Die Parteien erwähnten sie gleichwohl nicht ausdrücklich. Bis zum Trade Union Act 1984 blieb es bei der Terminologie der political objects.35 Auch der Companies Act 1985, der die Zu31 Bis zur ersten Reform der Satzung im Jahre 1918 – bis dahin existierte einzig die korporative Parteimitgliedschaft – bestand das NEC aus 16 gewählten Mitgliedern. Die zu vergebenden Ämter waren das des Schatzmeisters sowie des Vertreters der Mitgliedsorganisationen, eines Vertreters für die trade councils (Genossenschaften), für die lokalen Arbeitervereinigungen und eben die Labour-Frauenvereinigungen zusammen, dreier Vertreter sozialistischer Gruppen wie etwa der Fabian Society sowie der elf Vertreter der Mitgliedsgewerkschaften. Hierzu nur Thorpe, Labour Party, S. 44. 32 Grund dafür ist der rechtliche Status als unincorporated association, s. u. 33 Jepson v Labour Party [1996] I.R.L.R. 116. 34 Heute ist dies geregelt in s. 104 f. Equality Act 2010. Zur Historie siehe Gauja, Political Parties and Elections, S. 121 f.; nur bis zur 6. Auflage noch ausführlich behandelt von Turpin/ Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 541 f. 35 Die Terminologie des Trade Union Act 1913 i. S. v. political objects war mit dem geänderten Trade Union Act 1984 sowie dem Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 und damit weit vor dem Jahr 2000 und dem Erlass des PPERA aufgegeben worden. Die zur Zeit der Änderung des Gesetzes im Jahre 1984 regierende Conservative Party unter
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
wendungen von Unternehmen an Parteien regelte, faktisch zumeist an die Conservative Party,36 verwendete noch den Begriff der political purposes.37 Geändert wurde dies erst durch den PPERA 2000, der in ss. 139 ff. den Begriff der political party einführte.38 Die Regelung wurde unterdessen in den neuen Companies Act 2006 übernommen, der nunmehr in s. 363(1)(a) an die Registrierung der politischen Partei zum Zwecke der Aufstellung von Kandidaten und damit an die o. g. Legaldefinition für eine außerparlamentarische Parteiorganisation aus dem PPERA 2000 anknüpft.39 5. Zwischenergebnis: sukzessive Anerkennung von Parteibegriff und Parteifunktionen Auch bei der Frage der Erwähnung und Definition der Partei als Rechtsbegriff ist eine historische kategorische ablehnende Haltung des britischen Gesetzgebers gegenüber den Parteien zu konstatieren. Mitte der 1970er Jahre wurde der Begriff der political party das erste Mal explizit in einem Gesetz verwendet. Diese ursprüngliche Ablehnung ist einer vorsichtigen Erwähnung und Ende der 1990er Jahre einer Konstitutionalisierung gewichen, ganz so wie es der deutsche Verfassungsrechtler Heinrich Triepel bereits Anfang des 20. Jahrhunderts für die schrittweise rechtliche Anerkennung der Parteien formulierte.40 Wenn auch eine umfassende gesetzliche Definition der Partei und ihrer Stellung fehlt, sind zwei der wichtigsten Funktionen einer politischen Partei in der parlamentarischen Demokratie genannt: die Rekrutierung politischen Personals (vgl. Sex Discrimination Act 1975) außerhalb des Parlaments und die Formierung von parlamentarischen Fraktionen durch die von der Partei aufgestellten erfolgreichen Kandidaten (vgl. nur Inheritance Tax Act 1984).
Premierministerin Thatcher hatte „no difficulty about expressly referring to political parties in its legislation on political funding“ und dies ungeachtet der weiland fehlenden verfassungsrechtlichen Anerkennung der Parteien. Siehe das Zitat bei und dazu insgesamt Blackburn, Electoral System, S. 345. 36 Ein historischer Überblick ist zu finden bei Grant, Party and Election Finance, P.A. 2005, S. 71 (85); Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 524 ff. 37 Siehe dazu auch Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 7: „The perhaps more well-known provision relating to disclosure of company donations over £200 in the Companies Act 1985 is in terms of ,political purposes‘ and there is no definition of ,political party‘ where it appears in that Act (Sch. 7 paras. 3 – 6).“ (Herv. i. O.). Ebenfalls dazu Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245), der das Fehlen des Parteibegriffs schon für den Companies Act 1967 feststellt. 38 Vgl. zu der Rechtslage zwischen den Jahren 2001 und 2006 und auch zu den mittlerweile strengen Voraussetzungen, u. a. der jährlichen Abstimmung der Hauptversammlung, für die Zulässigkeit von Unternehmensspenden. Speziell zur Änderung des Companies Act 1985 Torres-Spelliscy/Fogel, Corporate Political Spending, USFLR 2011, S. 525 (542 ff.). 39 Wortlaut der Norm: „This Part applies to a political party if – (a)it is registered under Part 2 of the PPERA 2000 (c. 41).“ Siehe auch die Erläuterung bei Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 414. 40 So Triepel, Staatsverfassung, S. 12.
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Eine umfassende Definition und Konzeption der politischen Parteien, ihres Status und der Funktionen hat der britische Gesetzgeber bislang nicht geliefert.
6. Parteiendefinitionen in der britischen Parteienforschung a) Definitionen des Parteibegriffs im juristischen Schrifttum Im Hinblick auf die britischen Parteien sieht sogar das deutsche41 juristische Schrifttum darüber hinweg, die britischen Parteien streng juristisch zu definieren. Nicht zuletzt besteht nämlich die Gefahr – zumindest bei rechtsvergleichenden Arbeiten – darin, einem Rechtsvergleich seine Grundlage zu entziehen, wenn man auch für die fremde Rechtsordnung an dem vom Staat-Gesellschaft-Gegensatz geprägten deutschen formalen Rechtsverständnis als Ausgangspunkt für die Untersuchung des ausländischen Parteiwesens festhält.42 Aus dem Grund erscheint es nur folgerichtig, dass nicht-britische Autoren den aus der internationalen nicht-juristischen Parteienforschung bekannten weiten Ansatz für rechtsvergleichende Untersuchungen verwenden. Danach sind Parteien „Organisationen, die sich unter Beteiligung des Volkes rekrutieren und deren regelmäßig erreichtes Ziel es ist, in den zur Einflussnahme zur Verfügung gestellten Organen politische Entscheidungen zu formen.“43 Eine für das politik- und rechtswissenschaftliche Schrifttum44 minimalkonsensfähige Definition, die überdies als die erste Parteiendefinition aus dem Vereinigten 41
Vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 123, der festhält: „Es gehört zur heutigen Begriffsbestimmung […], daß sie […] eine Gruppe Gleichgesinnter ist, die gemeinsam im nationalen Interesse handeln […] [und dass sie über eine, Anm. d. Verf.] nicht nur für den Wahlkampf aktivierte Organisation zur Verfolgung der Parteiziele verfügt.“ Becker, der zwar dem politikwissenschaftlichen Schrifttum zuzuordnen ist, vergleicht juristisch-normativ die britische und die deutsche innerparteiliche Demokratie. Er definiert die deutschen Parteien politikwissenschaftlich und nach dem PartG sowie der Rechtsprechung mit BVerfGE 3, 383 (403). Eine Definition der britischen Parteien unterlässt er dabei, diese werden vielmehr funktional und je Organisation einzeln en détail betrachtet. Siehe dazu auch Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 20 ff., S. 59 ff. 42 Siehe abstrakt zum deutschen Verfassungsverständnis und der Rechtskultur nochmals v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 34; Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 98 m. w. N. Siehe konkret zum Rechtsvergleich des Parteienrechts und dem Ausgangspunkt der deutschen Legaldefinition von Parteien nach § 2 PartG den Gliederungsplan der Kompilation des umfassenden europäischen Parteienrechtsvergleichs in Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Gliederungsplan, Parteienrecht im europäischen Vergleich, S. 11 (12). 43 Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 24; vgl. auch seinen Bezug auf Platone, Les Partis Politiques, S. 5: „Les partis politiques sont des associations volontaires de personnes, organisées de façon durable et implantées sur l’ensemble du territoire, afin de conquérir et d’exercer directement le pouvoir au niveau national.“ 44 Berücksichtigung in der juristischen Literatur etwa bei Loughlin, British Constitution, S. 53 f.; Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 123. Siehe in der politikwissenschaftlichen Literatur Sartori, Parties and Party Systems, Bd. 1, S. 9; Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 20 m. w. N. auf die deutsche Literatur.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Königreich gilt, stammt vom britischen Philosophen und Politiker Edmund Burke. Für Burke ist eine Partei „a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national interest upon some particular principle in which they are all agreed.“45
Diese Definition aus dem 18. Jahrhundert wird freilich der modernen Parteiendemokratie in vielerlei Hinsicht nicht mehr gerecht, insbesondere im Lichte von Burkes Konzeption einer ausschließlich aristokratischen Herrschaft im Parlament,46 aus der schon keine Notwendigkeit erwuchs, dauerhafte außerparlamentarische Parteiorganisationen, überdies keine binnendemokratische, vorzuhalten. Ausgehend von den heutigen Funktionen der Parteien im politischen System hat auch das englischsprachige juristische Schrifttum zahlreiche Umschreibungen des Konzepts der politischen Parteien entwickelt: Der britische Politikwissenschaftler und Parteienforscher Gordon Smith sieht in einem Beitrag zum vergleichenden europäischen Parteienrecht die Parteien, die zentral für das politische System des Vereinigten Königreichs sind, in einer dualistischen Rolle. Sie agieren zum einen als parlamentarische Kraft, zum anderen operieren sie als eine der Kräfte in der pluralistischen Gesellschaft.47 Freilich ist hierin doch die kontinentale Unterscheidung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Ebene fassbar,48 wenngleich sie nicht ausdrücklich artikuliert wird. Nach der australischen Parteienrechtlerin Anika Gauja sind die Parteien speziell in den Staaten des Common Law-Rechtskreises „organisations which aim to influence public policy in favour of an ideology or set of interests, primarily by attempting to gain control of public office.“49 45
Burke, Thoughts, in: Langford (Hrsg.), Edmund Burke, S. 241 (317), Herv. d. Verf. Siehe dazu Loughlin, British Constitution, S. 54, der es wie folgt formuliert: „The form of government Burke was defending was aristocratic, confined to a small elite of landed families: he promoted the case for government of the people and for the people, but certainly not government by the people.“ Dies war nicht nur das Konzept von Burke, es entsprach im 19. Jahrhundert auch der rechtlichen Norm wie politischen Realität. Darüber hinaus ist die Formulierung des government of the people, for the people, with, but not by, the people angelehnt an den britischen Politiker und Journalisten Leopold Stennett Amery, vgl. auch King, British Constitution, S. 47 mit Nachweis auf die Originalquelle. 47 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 305 (318). 48 Diese ist auch eine condicio sine qua non der heutigen allgemeinen Staatslehre. So spricht die verfassungsrechtliche Literatur etwa auch von den Parteien als Möglichkeit des Bürgers, sich gegenüber dem bzw. im Staate zu betätigen. Vgl. den Verfassungsrechtsvergleich, der u. a. auch das Vereinigte Königreich umfasst, unter der Überschrift „Citizens and the State“, bei Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 95 f. 49 Gauja, Political Parties and Elections, S. 1, 68, Herv. d. Verf. An dieser Stelle nennt sie auch andere Definitionen, vorrangig aus der Politikwissenschaft: „Epstein (1980: 9) defines a party as ,any group, however loosely organized, seeking to elect government office holders under a given label‘; Aldrich (1995: 19) argues that ,political parties can be seen as coalitions of elites to capture and use public office‘; whereas Smith (1997: 157) conceives parties as ,or46
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Einige Autoren, darunter der britische Verfassungs- und Parteienrechtler Oonagh Gay50 sowie Gauja51, ziehen für eine Definition der Parteien auch komparativ die Regelungen anderer Common Law-Jurisdiktionen heran. Die kanadische Regelung des Parteienwesens, vor allem die Parteienfinanzierung und Registrierung – und damit die Voraussetzung für das Aufstellen von Kandidaten – waren zudem Gegenstand im Gesetzgebungsverfahren zu den beiden britischen Parteiengesetzen.52 Daneben werden in der britischen Literatur von Keith Ewing die gesetzlichen Regelungen in Kanada zur innerparteilichen Demokratie – speziell zur Wahl des Parteiführers – rezipiert, auf die später noch eingegangen wird.53 Nach dem bei all diesen Erwägungen zentralen s. 2 Canada Elections Act 2000 ist eine politische Partei „an organization one of whose fundamental purposes is to participate in public affairs by endorsing one or more of its members as candidates and supporting their election“. Diese Definition weist ebenfalls eine funktionale Verengung auf die parlamentarische Repräsentanz auf. Die party on the ground, ihre Bedeutung als gesellschaftliche Kraft in der Aggregation von Interessen (s. o.), in der Diskussion um sachpolitische Themen, wird hier gänzlich außer Acht gelassen. Einen auf die Funktion der Personalauswahl beschränkten Definitionsvorschlag bietet Robert Blackburn in seinem Werk zum britischen Wahlsystem: „Political party means an association, organisation or affiliation of voters comprising a political organisation whose prime purpose is the nomination and support of candidates at elections.“54
Dabei liegt die Motivation von Blackburn darin, dass sich diese Parteien für eine von ihm favorisierte staatliche Parteienfinanzierung qualifizieren können, die u. a. die Wahlkampfkosten ersetzen soll. b) Funktionale Definitionen im britischen Schrifttum Mangels einer gesetzlich verbindlichen oder allgemein anerkannten Definition sparen auch einige englischsprachige55 Autoren bereits die Frage nach einem juristischen Parteibegriff für das Vereinigte Königreich aus. ganisations which aim to influence public policy in favour of an ideology or set of interests, primarily by attempting to gain control of public office‘“ (a. a. O., S. 1 f.). 50 Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (249). 51 Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251). 52 Vgl. Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (252). 53 Vgl. Ewing, Cost of Democracy, S. 86, 197 ff. 54 Blackburn, Electoral System, S. 360, Herv. d. Verf. 55 Aus dem parteienrechtlichen Schrifttum siehe nur Smith, Parteienfinanzierung in Großbritannien, in: Tsatsos (Hrsg.), Parteienfinanzierung, S. 232 (232 ff.); ders., Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 305 (318). Smith konstatiert das Fehlen einer Legaldefinition. Sodann stellt er auf die funktionale Analyse ab. Aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum und hier gänzlich fehlend bei Loveland, Constitutional Law, S. 205 ff. Trotz rechtsvergleichenden Ansatzes fehlend bei Finer/Bogdanor/
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Ewing etwa stellt am Anfang seines ersten umfassenden Werkes (1987) zum Parteienrecht, das den Fokus auf die Parteienfinanzierung legte, fest: „The function of parties is essentially threefold: they organise, they represent and they govern.“56
Ewing führt diese drei Rollen weiter aus und stellt die innerparteiliche Mitwirkung des Bürgers in den Mittelpunkt. Die Aufgabe zu organisieren besagt demnach, auch den einzelnen Bürger durch die Parteien in eine Aktivrolle zu bringen, indem er teilnimmt am „policy-making process, either directly by working for the return of a party whose policies and principles they support, or directly by participating in the internal decision-making life of the party“57.
Die Repräsentationsaufgabe nehmen die Parteien durch die Aufstellung ihrer Kandidaten zu öffentlichen Ämtern ein, die gesellschaftliche Strömungen aufnehmen und den Wählern Partei- und Wahlprogramme anbieten. Diese Kandidaten werden von den Parteien in ihren Aufstellungsverfahren nominiert. Die Regierungsfunktion der Parteien ist hiernach deckungsgleich mit der party in public office, also der Parteivertreter in staatlichen Ämtern. Bezüglich des im Vereinigten Königreich politisch wichtigsten Amtes, das des Premierministers, stellt Ewing die Verbindung zwischen Verfassungskonventionalregeln und parteiinterner Demokratie her: Wie bereits herausgearbeitet worden ist, wird Premierminister für gewöhnlich der Parteiführer der stärksten Partei aus dem House of Commons, während er zugleich – seit 1965 – bei allen Parteien formalisiert und demokratisch gewählt wird. In dem gemeinsamen Lehrbuch zum Verfassungsrecht von Anthony Bradley und Ewing findet sich keine Parteiendefinition, ja nicht einmal ein Aperçu ihrer Funktionen. Die beiden Autoren belassen es bei der einleitenden Feststellung, dass „they provide the policies and personnel of government (and opposition) and have other important functions as well“58. Rudden, Comparing Constitutions, S. 1, 96. Etwas anders dagegen Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 548 ff., die es auch bei der Feststellung belassen, dass Parteien für die Demokratie unerlässlich sind, als Definition dabei indessen nur auf Blondel, Voters, Parties and Leaders, S. 87, zurückgreifen, wonach sie „private associations to which the law does not give more rights and duties than to other private organisations“ sind. Siehe zu einer rein auf Spenden bezogenen Definition der politischen Partei auch den Bericht des Neill-Komitees, H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/ 1998, App. VI Nr. 7, der ansonsten keinen Versuch einer Definition der Parteien unternimmt und nur festhält: „In Edmund Burke’s words, Parties must ever exist in a free country“ (a. a. O., para. 2.1 m. w. N.). 56 Ewing, Funding of Political Parties, S. 1 ff. m. w. N. auf den Bericht des Houghton-Komitees und der Hansard Society, Herv. d. Verf. 57 Ewing, Funding of Political Parties, S. 1, Herv. d. Verf. 58 Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 155 m. w. N., Herv. d. Verf.
A. Definitionen und Funktionen der politischen Parteien
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Für die anderen wichtigen Funktionen verweisen sie auf die einschlägige politikwissenschaftliche Literatur.59 Dagegen übernimmt Ewing in einem anderen Beitrag über die Bedeutung des PPERA 2000 für die Funktion der Parteien im Vereinigten Königreich die vom deutschen Politikwissenschaftler Carl Böhnet entwickelte Transmissionsriemenmetapher: „Political parties in Britain as elsewhere provide one of the principal (albeit imperfect) means by which individuals participate in representative democracy: they are a transmission belt for the development and carriage of policy into legislation and practice.“60
Die Parteien, zumal die außerparlamentarischen Organisationen, sind also viel mehr als reine politisch notwendige Vehikel für die Organisation eines Wahlkampfes. Ewing, der sich explizit auf das Werk des britischen Politologen Justin Fisher bezieht, greift damit auch die Möglichkeit des Bürgers auf, sich in den Parteien zu engagieren, und zwar bei der Aufstellung von Kandidaten und dem Schöpfen von Partei- und Wahlprogrammen.61 Auch in der normativ-juristisch orientierten politikwissenschaftlichen Forschung werden die Funktionen der Parteien eingehend erläutert. So stellt Bogdanor eine Reihe von Funktionen auf, die u. a. enthalten „offering basis for electoral choice, representing the main segments of opinion in a country, recruiting candidates for office, and acting as a channel for political participation.“62Ähnlich stellen die britischen Politologen John Lees und Richard Kimber die Funktionen der Parteien in der britischen Demokratie dar.63 Hierbei halten sie die Funktionen für je nach politischer Partei variierend. Mithin definiere jede einzelne Partei ipso jure die Funktionen selbst, die sie erfüllen wolle. Dies geschehe normativ-rechtlich durch die interne Organisation der Parteien, dies bezieht sich also auf die Frage, ob die Parlamentspartei oder die außerparlamentarische Parteiorganisation nach der parteiinternen Wahlordnung entscheidend für die Wahl des Parteiführers sein soll. 59 Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 155 m. w. N. auf Webb, British Party System, passim, und Fisher, British Political Parties, S. 194 ff. 60 Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (544), Herv. d. Verf.; dies wurde später übernommen von Morris, Conceptualising Candidate Selection, P.L. 2008, S. 415 (426). 61 So verweist Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (544) auch hier auf Fisher. Letzterer konstatiert: „Moreover, with internal policies such as quotas and in the case of the Labour Party, the one time compulsory inclusion of women on candidate short-lists, political parties can help influence the composition of Parliament.“ Diese Feststellung bezüglich einer innerparteilich demokratischen Mitwirkung der Mitglieder an der Politikformulierung am Beispiel der Labour Party: „Thus formally, the Labour Party conference can determine party policy. However, empirical evidence seems to suggest that party leaderships act with much more independence than the constitutional position would suggest.“ Beide Zitate aus Fisher, British Political Parties, S. 23 f. 62 Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (127). 63 Zum Ganzen Lees/Kimber, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Political Parties, S. 1 (3 ff.).
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
c) Zwischenergebnis: keine umfassende Definition aus der Literatur Keine der hier aufgezählten rechtswissenschaftlichen Definitionen der politischen Partei wählt einen umfassenden Ansatz, der hinreichend konkret ist, die Rolle der Partei in der britischen parlamentarischen Demokratie zu skizzieren. Einerseits sind die vagen, nahezu prosaischen Begrifflichkeiten von Gauja und Smith, für eine rechtliche Analyse der Parteifunktionen nicht fruchtbar zu machen. Andererseits verengen die Rezeption des kanadischen Parteien- und Wahlgesetzes sowie der Vorschlag von Blackburn die Bedeutung der Parteien auf die Funktion der Aufstellung von Parlamentskandidaten. Eine konzise Definition der Parteien ohne eine ausführlichere Betrachtung einzelner Funktionen ist damit nicht möglich. Es bleibt im Vereinigten Königreich mangels einer umfassenden Funktionsbeschreibung die Verfassungskonventionalregeln im Auge zu behalten. Dies sind die Erwartungen, die sich für die Parteien aus der Verfassung ergeben. Die Parteien operieren innerhalb der Parlamentssouveränität und sind gleichzeitig Ausdruck und Begründer dieser Souveränität. Daneben ist vornehmste Aufgabe der britischen Parteien im Parlament und in der Regierung, eine stabile Regierung zu gewährleisten. Die Institution der His/Her Majesty’s Opposition und die zuweilen harten Auseinandersetzungen zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion(en) im Parlament würden dabei zuerst darauf hindeuten, dass dem nicht so sei. Doch diese Stellung als alternative Regierung zeigt gerade, dass das System stets in Balance bleibt. Wechselt die eine Partei an die Regierung, übernimmt die andere automatisch die Funktion der Opposition. Dies wiederum hängt mit dem britischen Wahlsystem zusammen.64
B. Status und Rechtsnatur der Parteien Entscheidend für die Analyse der Demokratie innerhalb der Parteien ist der rechtliche Status der Parteien insgesamt und speziell der außerparlamentarischen Parteiorganisationen. Da die außerparlamentarischen Parteiorganisationen im Vereinigten Königreich – nicht anders als in anderen Ländern – de facto zumindest Vereinigungen von Bürgern sind, bezieht sich diese Frage auf ihren verfassungsrechtlichen und auch auf ihren privatrechtlichen Status.
64 Vgl. hier nur Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (319).
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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I. Grundsatz der Parteienfreiheit als Parteigründungsfreiheit Parteien unterscheiden sich im britischen Recht seit ihrem ersten Erscheinen auf der politischen Bühne nicht von anderen freien gesellschaftlichen Vereinigungen.65 Die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die normative Ausgangspunkte für bürgerschaftliche Vereinigungen sind, wurden im Vereinigten Königreich aus dem Common Law entwickelt.66 Dieses Faktum hat für das britische Verfassungsrecht und die Verfassungsrealität eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Denn im Sinne Diceys hat der Staat durch die Rule of Law nur den äußeren Rahmen zu schaffen, in welchem sich die gesellschaftlichen Kräfte frei entfalten können.67 Vor dem Hintergrund des spezifisch britischen Konzepts des politischen Liberalismus führte dies dazu, dass von einer rechtlichen Positivierung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Abstand gehalten wurde. Erst im Wege der Inkorporierung des Art. 11 EMRK in britisches Recht sind diese politischen Menschen- bzw. Grundrechte durch s. 1(1)(a) und Sch. 1 des Human Rights Act 1998, der im Jahr 2000 in Kraft trat, im Vereinigten Königreich formal eingeführt worden.68
II. Privatrechtlicher Status der Parteien 1. Organisationsfreiheit der Parteien Die Parteien im Vereinigten Königreich haben keinen einheitlichen und allgemeinverbindlichen Status nach dem Gesetzesrecht oder dem Common Law. Ihnen steht mehr als nur eine Rechtsform für ihre außerparlamentarische Organisation zur Verfügung. Deshalb gilt: „Political parties have the status in law of the kind of legal corporation that they are.“69
65 Vgl. aus der Literatur vor der Konstitutionalisierung der Parteien dazu Smith, Parteienfinanzierung in Großbritannien, in: Tsatsos (Hrsg.), Parteienfinanzierung S. 232 (236); ders., Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (320 f.). Siehe in der jüngeren Literatur Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 passim; Ewing, Cost of Democracy, S. 63 ff., 85 f.; Blackburn, Halsbury’s Laws of England, Constitutional and Administrative Law, Bd. 20, Ch. 1. para. (1) 2 (14). 66 So etwa Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.04. 67 Vgl. Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 100 m. w. N. 68 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.04. Grundsätzlich zur Inkorporierung der EMRK in britisches Recht etwa Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 84 f., 240 ff. 69 Dies äußert Youngs, Comparative Law, S. 44, Herv. d. Verf., ohne weiter auf die einzelnen Rechtsformen – mit Ausnahme der Nennung der company limited by guarantee – einzugehen.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
a) Häufigste Rechtsform der Parteien: die unincorporated association aa) Geschichte und Definition der unincorporated association Die Parteien treten heute grundsätzlich70 in der Rechtsform einer unincorporated association in Erscheinung.71 Dabei war diese Rechtsform weder jemals gesetzlich normiert,72 noch nahmen die Gerichte in den ersten Jahrhunderten ihrer faktischen Existenz Notiz von dieser Form des bürgerschaftlichen Zusammenschlusses. Immerhin entstanden die ersten unincorporated associations mit dem Inns of Court im 70 Eine Ausnahme stellte bis 1998 die Conservative Party dar. Eine weitere sind jene Parteien, die eine Unternehmensrechtsform gewählt haben. Dazu sogleich. 71 Vgl. Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 155 für die noch auf die nicht mehr aktuelle besondere Situation der Conservative Party hinweisen. Schließlich verfügt auch die Conservative Party seit 1998 über eine Parteisatzung: „Yet political parties remain voluntary associations in the eyes of the law: bodies exercising a public function but governed by private law.“ Der Begriff der voluntary association ist der Oberbegriff für Vereinigungen von Bürgern in der Common Law-Welt, vgl. Gauja, Political Parties and Elections, S. 2, 45. Siehe aus der parteienrechtlichen Rechtsprechung Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (370 – 371) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „One reason which must contribute in a great degree to produce the result is the general character of the voluntary associations which are likely to be formed without property and without giving to their members any civil right of a proprietary nature. They are for the most part bodies of persons who have combined to further some common end or interest, which is social, sporting, political, scientific, religious, artistic or humanitarian in character, or otherwise stands apart from private gain and material advantage.“ So auch Barendt, Constitutional Law, S. 150; allgemein zu unincorporated associations siehe Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 1.08, 2.65. 72 Für Schottland wurde vor einigen Jahren ein Gesetzesvorschlag zur Normierung der Organisationsform der unincorporated association als solcher ausgearbeitet, siehe Scottish Law Commission, Discussion Paper, CLB 2009, S. 121 passim. Unincorporated associations finden gleichwohl seit einigen Jahrzehnten bereits Erwähnung in britischen Gesetzen (siehe Warburton, Unincorporated Associations, S. 3). Mit Blick auf das Parteienrecht gilt dies insbesondere als Spender nach s. 54(2)(h) Political Parties Act, Elections and Referendums Act 2000. Dieser definiert sie in diesem Kontext als „any unincorporated association of two or more persons which does not fall within any of the preceding paragraphs but which carries on business or other activities wholly or mainly in the United Kingdom and whose main office is there“. Zu den Spenden von wirtschaftlich tätigen unincorporated associations siehe Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (544); Rowbottom, Institutional Donations, in: Ewing/Rowbottom/ Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 11 (S. 25 f.). Das Problem der Transparenz von Spenden seitens und an unincorporated associations stellt sich nämlich dahingehend, dass nach dem jeweils anwendbaren Companies Act verfasste Unternehmen an ein fünfjährlich zu erneuerndes Mandat der Aktionäre/Mitglieder zur Erlaubnis von Parteispenden oberhalb von 5.000 GBP insgesamt gebunden sind und Unternehmen Parteispenden über 200 GBP im Geschäftsbericht öffentlich machen müsssen (vgl. Part 14, besonders ss. 366 ff. Companies Act 2006); eingehend dazu Torres-Spelliscy/Fogel, Corporate Political Spending, USFLR 2011, S. 525 (542 ff.); Ewing, Cost of Democracy, S. 103). Für unincorporated associations gilt seit 2010: Veröffentlichungspflichtig sind Parteien hinsichtlich erhaltener Spenden eines einzigen Spenders erst ab einer Gesamthöhe von 25.000 GBP p. a., ab der jede einzelne Spende oberhalb von 7.500 GBP zu veröffentlichen ist. Kritisch zu dieser Ungleichbehandlung und mit Reformvorschlägen Rowbottom, Institutional Donations, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 11 (26 ff.) m. w. N.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Jahre 138873 oder dem bis heute existierenden Debattierclub, der Society of Antiquaries, gegründet als College of Antiquaries im Jahre 1586.74 Ihre Ziele waren damit ursprünglich keineswegs politischer, vielmehr sozialer bzw. gesellschaftlicher, berufsständischer oder wissenschaftlicher Natur.75 Die unincorporated association ist gleichsam „much a creature by default as it was an intentional, juridical construct.“76 So verwundert es auch nicht, dass von der Rechtsprechung die unincorporated association erstmalig im Jahr 1981, in der Entscheidung Conservative and Unionist Central Office v Burrell, definiert wurde. Der Name des Falles offenbart bereits, dass es die Conservative Party betraf. Konkret betraf es ihre Einordnung als unincorporated association und die sich daraus ergebenden Konsequenzen hinsichtlich der Steuergesetzgebung. Hierin heißt es, dass „,unincorporated association‘ […] mean[s] two or more persons bound together for one or more common purposes, not being business purposes, by mutual undertakings, each having mutual duties and obligations, in an organisation which has rules which identify in whom control of it and its funds rests and upon what terms and which can be joined or left at will“77.
Daneben wird die unincorporated association in der Literatur definiert als „the structure which is used when a group of people wish to co-operate to achieve an objective and where they aim to have a continuing membership“78.
73 Baker, Inns of Court, LQR 1976, S. 184 passim; Lloyd, Unincorporated Associations, S. 28 f. 74 Statt vieler Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.01. 75 Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.01 ff. zur Geschichte der unincorporated associations aus dem deutschen Schrifttum Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 12 ff., 19. Die Entscheidung Hopkinson v Marquis of Exeter [1867] LR 5 Eq 63, 67 betraf den Ausschluss eines Mitglieds aus einem Conservative Club wegen der Ankündigung, bei den anstehenden Wahlen liberale Kandidaten zu unterstützen. In der Entscheidung wurde von Romilly MR indes festgehalten, dass es nicht um eine politische Partei ging: „These clubs are very peculiar institutions. They are societies of gentlemen who meet principally for social purposes, sometimes of a literary nature, sometimes to promote political objects, as in the Conservative or the Reform Club. But the principal objects for which they are designed are social, the others are only secondary It is, therefore, necessary that there should be a good understanding between all the members, and that nothing should occur that is likely to disturb the good feeling that ought to subsist between them.“ 76 Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 334 passim. 77 Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ. Herv. d. Verf. Dies wird in der gesamten Literatur zu den unincorporated associations zitiert, ob im Parteien- oder im Gesellschaftsrecht. Vgl. nur Ridley/Shepherd, Company Law, S. 60; Hudson, Equity & Trusts, 6. Aufl., S. 191. Aus der parteienrechtlichen Literatur siehe Ewing, Funding of Political Parties, S. 3 ff.; aus der Politikwissenschaft vgl. Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717). 78 Picarda, Charities, S. 262, Herv. d. Verf.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Schon aufgrund ihres Alters stellt die unincorporated association den Grundtypus freiwilliger Vereinigungen (nicht-)kommerzieller Art im britischen Recht dar.79 Mit der Herausbildung eines bürgerlichen politischen Selbstbewusstseins im 18. und 19. Jahrhundert wuchs der Wille nach bürgerlichem Engagement in Politik und Gesellschaft und damit auch die Anzahl und die politische Bedeutung der unincorporated associations. So waren bzw. sind neben den Parteien auch die Gewerkschaften und friendly societies (letztere sind gemeinnützige Vereinigungen) als unincorporated associations organisiert.80 Historischer Grund, weshalb sich diese mannigfaltigen bürgerschaftlichen Vereinigungen überhaupt als unincorporated association „verfassten“, war, dass sie keiner royal charter – einer königlichen Satzung – bedurften und nicht in ein Vereins- oder Unternehmensregister eingetragen werden mussten.81 Ihre Gründung war und ist noch heute gänzlich frei. bb) Konkludente oder ausdrückliche Gründung Unter anderem aus ihrer formlos möglichen Gründung ergibt sich die Frage, wie die Existenz einer unincorporated association überhaupt festgestellt werden kann. Problematisch ist das nicht nur deshalb, weil sie keiner königlichen Satzung und keiner amtlichen Registrierung bedürfen, sondern darüber hinaus kein ausdrücklicher, schriftlicher oder mündlicher Gesellschaftsvertrag erforderlich ist.82 Die Möglichkeit der konkludenten Gründung einer unincorporated association erschwert mithin die Abgrenzung von sonstigen Zusammenschlüssen von Menschen im modernen Alltag wie heutzutage etwa eine Fahrgemeinschaft. Wesentlicher Unterschied zu einer der zuletzt genannten Gruppierungen ist, dass letztere nicht auf besondere vertragliche Rechtsfolgen gerichtet sind, die unincorporated association indessen schon.83 Aus diesem Grunde verlangt die Rechtsprechung für die Anerkennung eines Zusammenschlusses von Menschen als unincorporated association, dass zu dem bloßen Realakt des Zusammentretens die äußere Manifestierung des vertraglichen Rechtsbindungswillens der Mitglieder hinzutritt.84 Dieses Erfordernis 79 Mit Blick auf wirtschaftliche Tätigkeiten, für welche die unincorporated association eine Blaupause war, da sie lange vor der gesetzlichen Einführung unternehmerischer Körperschaften existierte, gibt Talbot, Critical Company Law, S. 11 einen historischen Abriss. 80 Vgl. rechtshistorisch aus der älteren Literatur Lloyd, Unincorporated Associations, S. 28 f. Hierzu auch Hudson, Equity & Trusts, 2. Aufl., S. 776 f. m. w. N. 81 Vgl. nur Picarda, Charities, S. 261; Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334). 82 Statt vieler Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (102) – Atkinson LJ: „[V]oluntary associations of individuals merely bound together by contract or agreement, express or implied.“ 83 Dazu Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.04 f. 84 Vgl. grundlegend Steele v Gourley and Davies [1886] 3. T.L.R. 772. Aus der Literatur Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 18. Grundlegend auch aus der australischen Rechtsprechung zu Parteien der Fall Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (370 – 371) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „Such associations are established upon a consensual basis, but, unless
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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dürfte heute bei politischen Parteien selten zum Problem werden, insbesondere dann nicht, wenn sie an Wahlen teilnehmen wollen und sich dem – dafür notwendigen – Registrierungsregime des PPERA 2000 unterwerfen und somit ihre Existenz nach außen hin dokumentieren.85 cc) Rechtliche Besonderheiten der unincorporated association Mit der gewachsenen Anzahl86 der unincorporated associations wurde bald eine richterrechtliche Konturierung dieser Organisationsform notwendig, da sich die Fragen nach dem Außenverhältnis der Vereinigung gegenüber Dritten und dem Innenverhältnis zwischen ihr und ihren Mitgliedern sowie den Mitgliedern zueinander stellten. (1) Keine eigene Rechtspersönlichkeit der Vereinigung Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung des Handelns von und in einer unincorporated association ist ihre fehlende Rechtspersönlichkeit.87 An dieser Stelle ist zwischen der Eintragung in ein Vereins- oder Unternehmensregister, das als solches nur deklaratorischen, keineswegs aber konstitutiven Charakter hat, und der there were some clear positive indication that the members contemplated the creation of legal relations inter se, the rules adopted for their governance would not be treated as amounting to an enforceable contract.“ (Herv. i. O.). 85 Eine qualifying registered political party, die berechtigt ist, unter ihrem Namen und mit einem Parteilabel versehene einzelne Kandidaten aufzustellen oder Wahllisten einzureichen liegt nach s. 22(1) PPERA 2000 vor, wenn die Voraussetzungen der Registrierung i. S. v. s. 28(1)-(2) PPERA 2000 erfüllt sind. Diese verlangen u. a. eine Erklärung, „that the party intends to contest one or more relevant elections in Great Britain and one or more such elections in Northern Ireland“. 86 Vgl. nur Scottish Law Commission, Discussion Paper, CLB 2009, S. 121 (122), die einen Vorschlag zur gesetzlichen Normierung der unincorporated association erarbeitet hat. Ihr zufolge zählte das Scottish Council for Voluntary Organisations im Jahr 2008 ungefähr 45.000 voluntary organisations, die zumindest eine geschriebene Satzung haben und von denen die meisten unincorporated associations sind. 87 Siehe ausdrücklich in der australischen Rechtsprechung Leaby v Attorney-General for New South Wales [1959] AC 457 (477) – Simonds LJ: „It arises out of the artificial and anomalous conception of an unincorporated society which, though it is not a separate entity in law, is yet for many purposes regarded as a continuing entity and, however inaccurately, as something other than an aggregate of its members.“ Vgl. nur Picarda, Charities, S. 262. Zur Konzeption der Rechtspersönlichkeit im britischen gesetzlichen Gesellschaftsrecht und in der Rechtsprechung Dine/Koutsias, Company Law, S. 10 ff.; Dine, Company Law, S. 22 ff. Grundlegend Blackstone, Commentaries, Bd. 1, S. 475, der die Rechtspersönlichkeit einer Gesellschaft anhand von fünf Kriterien definierte: An der Fortexistenz trotz Wechsel des personalen Substrats (perpetual succession), der Aktiv- und Passivlegitimation (power to sue or be sued), der Fähigkeit zu eignen (power to purchase lands and hold them), am Recht ein Siegel zu führen (right to use a common seal) und an einer Rechtsetzungskompetenz im Innenverhältnis (power to make by-laws binding on themselves). Hierzu Lloyd, Unincorporated Associations, S. 15 ff.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
incorporation, welche zur Gründung einer juristischen Person führen würde, zu unterscheiden. Der unincorporated association fehlt es deswegen an Rechtspersönlichkeit, weil – und insoweit im Einzelfall – ihr diese in Form einer incorporation weder von der Krone durch eine royal charter noch durch ein Gesetz (möglich wäre sogar ein Einzelfallgesetz, das einer einzelnen unincorporated association den körperschaftlichen Status einer juristischen Person zubilligt) verliehen wurde.88 Mithin hat eine unincorporated association „no legal existence apart from the members of which it is composed.“89 Eigene Rechtspersönlichkeit haben nur die Mitglieder als natürliche oder juristische Personen, zwischen denen folglich ein vertragliches Rechtsverhältnis entstanden ist, wie es ausdrücklich für die Parteien erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Entscheidung John v Rees – in einem Fall die Labour Party betreffend – konstatiert wurde.90 (2) Konsequenzen im Außenverhältnis: unbeschränkte Mitgliederhaftung Um die sich aus dem Handeln Einzelner für die nicht rechtsfähige Vereinigung ergebenden Probleme zu lösen, wurden einige richterrechtliche Rechtsfiguren entwickelt. Die fehlende Rechtspersönlichkeit bedeutet etwa, dass materiell in ihrem Namen keine Verträge eingegangen werden können und sie etwa auch nicht Eigentümerin von Sachen sein kann91 und sie prozessual weder aktiv- noch passivlegitimiert ist. Damit sind Urteile, die gegen eine unincorporated association ergehen, null und nichtig.92 88 Dies sind die einzigen Möglichkeiten, um den Rechtsstatus der eingetragenen Körperschaft zu erlangen, vgl. nur Lloyd, Unincorporated Associations, S. 97. Aus der Rechtsprechung siehe dazu Worthington Rugby Football Club Trustees v Inland Revenue Commissioners [1985] W.L.R. 409 Ch. D. 413 – Gibson J. 89 So Warburton, Unincorporated Associations, S. 2; vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung: R. v RL, JF [2008] EWCA Crim 1970 (paras. 11, 14) und grundlegend Steele v Gourley and Davies [1886] 3 T.L.R. 772. 90 So ausdrücklich John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (387) – Megarry J: „No question arises whether or not any artificial or juristic person is bound, for there is no such person. Instead, the question is that of the terms of the rules of that association, as constituting the contract which bind the members to each other.“ Die jüngere Rechtsprechung bestätigt dies, vgl. nur Choudhry v Triesman [2003] EWHC 1203 (Comm) (paras. 38, 68) – Burnton J: „Its constitution is contained in its rules contained in the rule book, which constitute a contract to which each member adheres when he joins the party.“ Dies wurde bestätigt in Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 18 f.) – Beatson LJ. Aus der Literatur hierzu Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135. Für die unincorporated associations grundsätzlich Smith, Re Johnson v Bright-Smith [1914] 1 Ch. 937 Ch. D. (948) – Joyce J: „The Courts consider the persons of whom the society or association is composed to be the legatees – the names society or association being in truth only a compendious or conventional designation for the aggregate of the members.“ 91 Daher wird sie in der Literatur auch kurz als „an association of persons that lacks a corporate status“ definiert, so Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334). 92 Minsky, Unincorporated Associations, A.Q. 1992/1993, S. 197 (198) m. w. N.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Bezüglich des Konstrukts, wie für eine unincorporated association Eigentum gehalten werden kann, sind in der Rechtsprechung ab dem späten 19. Jahrhundert mehrere Konzepte entwickelt worden.93 In den letzten Jahrzehnten hat sich dabei die contract-holding theory (bzw. das accretion to assets theory)94 durchgesetzt.95 Dieser dogmatische Ansatz besagt, dass mindestens zwei und maximal vier natürliche Personen, zumeist der Vorsitzende und der Schatzmeister, als trustee96 (Treuhänder) bestellt werden, die formalrechtlich das Eigentum halten. Dieses Eigentum steht gleichwohl wirtschaftlich betrachtet allen Mitgliedern der unincorporated association als Miteigentümern zu. Dieses Auseinanderfallen von rechtlichem und wirtschaftlichem Eigentum firmiert im britischen Recht unter dem Begriff des „Eigentumsdualismus“.97 Zusammengehalten wird das getrennte rechtliche und wirtschaftliche Eigentum dadurch, dass die Rechte und Pflichten in der formalen Eigentümerstellung des einzelnen trustees und Ausübung derselben i. d. R. durch den Gesellschaftsvertrag durch alle wirtschaftlichen Eigentümer bestimmt werden.98 Letztlich können damit nicht alle Probleme gelöst werden. Es bleibt etwa nicht zu regulieren, wenn – wie in jüngerer Zeit in der Entscheidung Hanchett-Stamford v HM Attorney-General and Jordan – eine unincorporated association über nur noch ein Mitglied verfügt, die unincorporated association aufhört zu existieren. Denn dann fällt das Eigentum dem letztverbleibenden Mitglied als nicht mehr verfügungsbeschränktes, wirtschaftlich und formaljuristisch in dieser einen Person konzentriertes Eigentum zu.99
93 Einen Überblick zu den verschiedenen Lehren geben Brown, Unincorporated Associations, D.L.J. 2009, S. 107 (107, 116 ff.) und Warburton, Unincorporated Associations, S. 45 ff. Die Rechtsprechung war nicht immer so deutlich, was das Unvermögen der Vereinigung angeht, selbst Eigentum zu eignen, bspw. in Murray v Johnstone [1896] 23 R. 981 (990) – Moncreiff LJ. Dieser beschrieb das Recht von Mitgliedern am Eigentum als „one of common property“. Allerdings stellte er klar, dass solange die Organisation existierte, ein Mitglied nicht berechtigt ist, über das Eigentum ohne Zustimmung der anderen Mitglieder zu verfügen. Mit anderen Worten könnte dies als joint property (gemeinschaftliches Eigentum) bezeichnet werden. 94 Ausführlich zu dieser Baughen, Dissolution of Unincorporated Associations, CPL 2010, 216 passim. 95 Siehe Warburton, Unincorporated Associations, S. 53 m. w. N. auf die grundlegende Entscheidung Neville Estates Ltd. v Madden [1962] 1 Ch. 832 (849) – Cross J: „Secondly, it may be a gift to the existing members not as joint tenants, but subject to their respective contractual rights and liabilities towards one another as members of the association.“ 96 Zum Eigentumsdualismus im britischen Recht zwischen trustee (formalem Eigentümer) und wirtschaftlich Begünstigtem (hier: die übrigen Mitglieder der unincorporated association) siehe Cutbill/Sturm, England, in: Richter/Wachter (Hrsg.), Internationales Stiftungsrecht, S. 827 (829 ff.). 97 So z. B. Warburton, Unincorporated Associations, S. 51 f.; Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 3.24. 98 Vgl. Picarda, Charities, S. 262. 99 Hanchett-Stamford v (1) HM Attorney-General and (2) William Johnston Jordan [2008] EWHC 330 Ch. D. (paras. 44, 47, 50). Dazu Brown, Unincorporated Associations, D.L.J. 2009, S. 107 (117 f.); Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 4.26 ff.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Um diese vorgenannten und ähnliche Konsequenzen, welche sich aus der fehlenden Rechtspersönlichkeit ergeben, zu korrigieren, haben britische Gerichte oder der Gesetzgeber bereits im 19. Jahrhundert einzelnen Typen von unincorporated associations einen besonderen Status sui generis gewährt. Etwa wurde den Gewerkschaften – obschon sie unincorporated associations bleiben – zunächst durch die Rechtsprechung des House of Lords im Falle Taff Vale Railway v Amalgamated Society of Railway Servants von 1901100 und später durch die Trade Union Acts ein quasi-corporate status verliehen.101 Dieser ist heute in ss. 10(1), 12(1)(2) Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 geregelt und besagt, dass die Vereinigung selbst Eigentum halten kann und auch unter ihrem Namen klagen und verklagt werden kann.102 Für die politischen Parteien ist eine solche besondere Regelung in Teilen mit dem PPERA 2000 erfolgt.103 Dieses Gesetz löst allerdings die o. g. zivilrechtlichen Problemkreise nicht. Hierzu bedienen sich die Parteien anderer gesellschaftsrechtlicher Vehikel, namentlich Unternehmen nach dem Companies Act 2006. Daneben gilt grundsätzlich zu beachten, dass hinsichtlich der Haftung der Mitglieder – d. h. für ihre Handlungen im Auftrag der unincorporated organisation – das general law of agency (Stellvertretungsrecht) anwendbar ist. Im Einzelfall ist entscheidend, ob die Handlung von der Vollmacht aufgrund Beschlusses der Mitglieder im Einzelfall oder generell aufgrund des Gesellschaftsvertrages gedeckt ist. Wenn ein Mitglied für Verbindlichkeiten der Vereinigung gegenüber Dritten haftbar gemacht wird, so haftet es unbeschränkt und ohne Rücksicht auf das möglicherweise beschränkte „Vermögen der Vereinigung“ bzw. ihrer Mitglieder. Aus diesem Grunde ist es üblich, eine Haftungsübernahmeklausel für Mitglieder des Vorstandes und andere möglicherweise nach außen auftretende Mitglieder in der Satzung der Vereinigung zu vereinbaren, wonach die Mitglieder der Vereinigung die Haftung für alle Fälle außer für vorsätzliche Handlungen des Einzelnen übernehmen.104
100 [1901] AC 426, bestätigt durch Bonsor v Musicians Union [1956] AC 104. Ergänzend dazu aus der Literatur anstelle vieler Painter/Holmes, Employment Law, S. 547. 101 Erstmals durch den Trade Union Act 1871. 102 Ausführlich mit Zitaten aus der zahlreichen Rechtsprechung Barrow, Industrial Relations Law, S. 25 ff, 34. Friendly societies können sich seit 1992 als incorporated friendly societies eintragen lassen, sodass diese damit eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten (Part II Friendly Societies Act 1992). Hierzu auch Hudson, Equity & Trusts, 2. Aufl., S. 776 f. m. w. N. 103 Beachte dessen Regelungen, der die Parteien im Hinblick auf die Parteienfinanzierung zu dem Transparenzgebot besonders verpflichteten unincorporated organisations macht. Dabei werden die Parteien selbst für Verstöße haftbar gemacht. Dazu nur Ewing, Cost of Democracy, S. 85: „In this very pragmatic – yet very important – way parties may be said to have an identity and legal personality distinct from their members.“ 104 Siehe dazu Picarda, Charities, S. 263.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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(3) Konsequenzen im Innenverhältnis: Anwendung von Equity und Vertragsrecht Gerichte im Common Law-Rechtskreis folgten einer weitgehend einheitlichen Rechtsprechung, indem sie eine gerichtliche Intervention in die inneren Angelegenheiten von clubs aufgrund des Common Law oder der Equity105 nur dann gestatteten, wenn der Kläger eine Verletzung von proprietary rights (Eigentums- bzw. Vermögensrechten) innerhalb der Vereinigung gelten machen konnte.106 Wie im vorangegangenen Abschnitt ausgeführt, ist die unincorporated association nicht rechtsfähig und „ihr“ wirtschaftliches Eigentum steht rechtlich jedem Mitglied als Miteigentümer oder einer natürlichen Person als trustee für alle Mitglieder zu.107 Anders als bei solchen Rechtsformen, die mit einer körperschaftlichen Rechtspersönlichkeit einhergehen (d. h. die incorporated sind),108 war bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein weder in der britischen Rechtsprechung noch in anderen Common Law-Nationen109 anerkannt, dass die internen Regeln einer unincorporated 105
Zur Erläuterung des Verhältnisses von Common Law zu Equity vgl. nur Slapper/Kelly, English Legal System, S. 3 ff. Während das Common Law von den von der Krone in das Land entsandten Richtern entstand und aufgrund eines hohen Formalisierungsgrades von Klage- bzw. richterlichen Entscheidungsarten (writs) in einigen Fällen dazu führte, dass es für spezifische Lebenssachverhalte keine Rechtsschutzmöglichkeiten durch das Common Law gab, wurde zum Ausgleich dieser Härten die zunächst einzelfallbezogene Equity (Billigkeit) entwickelt. Dieses, bis zu den Judicature Acts 1873 – 75 im Vereinigten Königreich vor eigenen Equity-Gerichten angewendete, Fallrecht entwickelte sich über die Jahrhunderte zu einem eigenen nicht kodifizierten Rechtssystem. Heute hat die Distinktion zwischen Common Law und Equity schon aufgrund des Zusammenfallens in einem Instanzenzug keine praktische Bedeutung mehr. Zur Equity-Rechtsprechung zu eigentumsrechtlichen Konflikten in unincorporated associations siehe etwa Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 3.01 ff.; Chafee, Internal Affairs of Associations, HLR 1930, S. 993 (1000 f.). 106 Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (364) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „Even if there was a breach of contract, the Courts will not interfere unless there is some interference with proprietary rights, and in this case there was none.“ Die Richter des High Court bemühten die britischen Entscheidungen Lens v Devonshire Club, The Times, 4 December 1914 und North London Railway Co. v Great Northern Railway Co. [1883] II Q.B.D. 30. 107 So Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (358) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „The executive of a voluntary association, by passing an unauthorized resolution for the exclusion of a member of the association, or by failing to observe the rules governing the association’s affairs, commits no breach of contract actionable either at common law or in equity, unless the member complaining has under the rules some civil right of a proprietary nature.“ Aus der Literatur dazu Gauja, Political Parties and Elections, S. 92. 108 Zum bundesstaatlichen Recht in Australien, bei dem die incorporation dazu führt, dass die Rechte von Mitgliedern einklagbar sind, siehe Johns, Political Parties, CCP 1999, S. 89 (98): „Incorporation has major ramifications for the right of members to take issue with the decisions of the party hierarchy. For example, Queensland incorporation legislation states that ,the rules of the association shall constitute the terms of a contract between the members [and] where a member is deprived […] of a right conferred on him by the rules […] the Court shall have jurisdiction to adjudicate‘.“ Ansonsten gilt auch in Australien nur das Vertragsrecht. 109 Dazu auch das erste Urteil zu politischen Parteien in Australien, das auch von britischen Gerichten zitiert und in der britischen Literatur ebenso berücksichtigt wird, Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (370 – 71): „Such associations are established upon a consensual basis, but, unless there was some clear positive indication that the members contemplated the creation of
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
association als Vertragsrecht justiziabel sind.110 Einzige Rechtsgrundlage bei vereinsinterner Streitigkeiten war das Common Law bzw. Equity und dies auch nur für eigentumsrechtliche Fragen. Mittlerweile wird die Vereinigungssatzung im Innenverhältnis als bindendes Vertragswerk im gesamten angloamerikanischen Rechtskreis angesehen, sodass die Satzung zwischen den Mitgliedern sowie zwischen den Mitgliedern und der Vereinigung von angerufenen Gerichten angewendet wird, auch unabhängig von wirtschaftlichen bzw. eigentumsrechtlichen Anspruchsgrundlagen.111 b) Parteienautonomie: keine zwangsläufige Organisation als unincorporated associations Dass die Parteien (unzweifelhaft gilt dies für die Organisationen außerhalb des Parlaments)112 als unincorporated associations in Erscheinung treten, ist dem Vorteil der nicht erforderlichen royal charter oder Registereintragung und ihren spezifischen historischen Wurzeln geschuldet. Der Ursprung der beiden ersten Parteien lag bekanntlich im Parlament und die außerparlamentarische Organisation war noch nicht legal relations inter se, the rules adopted for their governance would not be treated as amounting to an enforceable contract.“ Siehe die Entscheidungsbesprechung bei Gauja, Political Parties and Elections, S. 45. 110 Heute ist dies geklärt, vgl. Re Bucks Constabulary Widows’ and Orphans Fund Friendly Society (No. 2) [1979] W.L.R. 936 (952) – Walton J: „I think there is no doubt that, as a result of modern cases springing basically from the decision of O’Connor M.R. in Tierney v Tough [1914] 1 I.R. 142 judicial opinion has been hardening and is now firmly set along the lines that the interest and rights of persons who are members of any type of unincorporated association are governed exclusively by contracts; that is to say rights between themselves and their rights to any surplus assets.“ (Herv. i. O.). Eine historische Übersicht bis zur Anwendbarkeit des Vertragsrechts und der Doktrin von der natural justice und den ultra vires am Beispiel der Gewerkschaften bei Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 129 m. w. N. So äußerte Denning MR in Institution of Mechanical Engineers v Cane [1961] AC 696 (724) zwar im Falle von „a voluntary association of individuals, the doctrine of ultra vires has no place“. Dies ist aber verwirrend, denn Mitglieder können freilich Vertragsbrüche geltend machen, sodass das Gericht den Gesellschaftsvertrag auslegt. Darüber hinaus aber kann das Gericht keine gesetzliche oder richterrechtliche Rechtsgrundlage anwenden, die dazu führte, dass eine vertraglich zulässige Handlung für mit höherrangigem Recht unvereinbar erklärt wird. „There is now no ultra vires doctrine to prevent ratification by the majority [der Mitgliederversammlung, Anm. d. Verf.]“, so in Clarke v Heathfield (No. 2) [1985] 14 ILJ 127 (129). Speziell zu den Parteien Morris, Parliamentary Elections, S. 109 ff. mit einer ausführlichen Analyse der britischen Rechtsprechung zu parteiinternen Konflikten. 111 Das grundlegende Urteil aus dem Vereinigten Königreich ist John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (387) – Megarry J: „The rules of a party constitute a contract which binds its members to each other.“ Aus der Literatur dazu statt vieler Ewing, Funding of Political Parties, S. 3 ff. 112 In der Literatur wird vermutet, dass auch die Parlamentsfraktionen jeweils als unincorporated associations zu sehen sind. Siehe etwa Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135: „This does not, of course deny, that extra-parliamentary organisation and the parliamentary party are likely to be respectively regarded as unincorporated associations like the Labour Party.“
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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von einer verrechtlichten Konzeption eines Vereins- bzw. Parteienwesens getragen.113 Rechtsverbindliche und nötigenfalls gerichtlich einklagbare Regeln über Sachpolitik und Personalauswahl wären der liberalen britischen Politikkonzeption der burkeschen Schule fremd gewesen. Eine nötigenfalls staatliche Intervention in Parteiinterna hätte auch dem toryistischen Konzept der im Parlament zum Wohle aller herrschenden Aristokratie widersprochen, die sich bekanntlich in beiden alten Parteien wiederfand. So wurde nicht nur die Wahl des Parteiführers, sondern auch die Aufstellung von Kandidaten mehr als ein politisches, je nach Partei mehr oder weniger formelles, gentlemen’s agreement verstanden.114 Als aber die Labour Party, als die erste parteipolitische Massenorganisation, die sich außerhalb des Parlaments als gesellschaftliche Kraft formierte, gegründet wurde, erwies sich die Organisation der Partei als unincorporated association als Vorteil für sie. Dieser war dergestalt, dass diese materiell und formell immer noch „essentially untouched by statute law“115 war, was eine Besonderheit des gemeinsamen Vereinsrechts der Common Law-Nationen gegenüber anderen Rechtsordnungen ist.116 Ihre Gründung bedurfte keiner königlichen Erlaubnis und letztlich konnte jede Partei ihren Aufbau gänzlich 113
Es gab zwar massive Dispute, wie etwa die Revolte unter Randolph Churchill, doch wurden diese politisch und nicht juristisch gelöst. In dem Kontext verwundert es auch nicht, dass diese Konflikte um innerparteiliche Rechte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor die Gerichte gebracht wurden. 114 Vgl. dazu Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (335); ders., Regulating Party Affairs, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 245 (253); Morris, Parliamentary Elections, S. 107. In diesem Sinne auch plakativ der Titel der Analyse zur Kandidatenaufstellung u. a. im Vereinigten Königreich von Gallagher (Hrsg.), Candidate Selection in Comparative Perspective: The Secret Garden of Politics. 115 Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334). 116 Oftmals wird mit der Beschreibung der Historie der unincorporated association die Aussage verbunden eine stelle eine Besonderheit des anglo-amerikanischen Rechtskreises dar. So ausdrücklich Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.04. Vgl. für diesen Status der Parteien in anderen Common Law-Staaten Gauja, Political Parties and Elections, S. 53, 56. In Australien und Neuseeland wird diese auch schlicht voluntary organization genannt. Vgl. auch aus der Rechtsprechung Baldwin v Everingham [1993] 1 QdR 10 (17) – Dowsett J: „[W]here an albeit voluntary association fulfils a substantial public function in our society.“ Dem ist nicht so, denn tatsächlich verbirgt sich hinter diesem Terminus nichts anderes als die Bildung einer Gemeinschaft, die sich zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels auf geschriebene oder ungeschriebene Regeln einigt und das, historisch, ohne obrigkeitliche Zustimmung (Definition bei Picarda, Charities, S. 262). Bezüglich der fehlenden Rechtsfähigkeit aufgrund Nichteintragung wäre dies im deutschen Zivilrecht mit dem nicht rechtsfähigen Verein nach § 54 BGB vergleichbar sowie mit Blick auf die stillschweigende Vereinbarung eines Gesellschaftszwecks mit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach §§ 705 ff. BGB; vgl. Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334 f.) mit explizitem Hinweis auf den nichteingetragenen Verein nach deutschem Recht. Hierbei ist zu konstatieren, dass es der Rechtsfähigkeit und Zubilligung einer eigenen Rechtspersönlichkeit auch im deutschen Recht lange mangelte, vgl. Schöpflin, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), Beck’scher OK BGB, § 54 Rn. 2 m. w. N.; Arnold, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg (Hrsg.), Münchener Kommentar BGB, § 54 Rn. 1 f. m. w. N.; für den konkludent geschlossenen BGB-Gesellschaftsvertrag Stürner, in: ders. (Hrsg.), BGB, § 705 Rn. 24 ff.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
selbst bestimmen.117 In Bezug auf die beiden großen Parteien und ihre Einordnungen als unincorporated association liegen zwei grundlegende Gerichtsentscheidungen vor, von denen eine die innere Ordnung der Parteien zum Streitgegenstand hatte. aa) Labour Party als unincorporated association In der Entscheidung Lewis v Heffer118 war der Court of Appeal mit der Frage befasst, ob das NEC der Labour Party dem Vorstand einer CLP Anordnungen auf Grundlage der nationalen Parteisatzung geben könne. Denning MR erklärte in diesem Kontext ausgehend vom individuellen Mitglied die Verbindung zwischen nationaler und lokaler Labour Party, die zur Durchsetzbarkeit der nationalen parteiinternen Regelwerke auf der lokalen Ebene führt: „When a person joins a local constituency party, he becomes automatically a member of the national party. In the eye of the law he enters into two contracts, one with the other members of the local constituency party, the other with the other members of the national party.“119
Wer also Mitglied einer Wahlkreisvereinigung wird, der wird uno actu Mitglied der nationalen Labour Party und unterwirft sich auch deren Regelungen.120 Obwohl es sich bei jeder Wahlkreisorganisation121 und der nationalen Parteiorganisation um eigenständige unincorporated associations122 handelt, sind diese derart „inextricably bound together“123, dass sie eine Einheit darstellen und die Regeln der nationalen Partei ebenfalls Wirksamkeit auf lokaler Ebene entfalten. Entscheidend ist für die Frage der Rechtsnatur der Parteien vorerst nur, dass der Court of Appeal erstmalig eine Partei als unincorporated associations ansah.
117 Bis heute gilt, dass jede Partei selbst entscheidet, welche innere Ordnung sie sich gibt. Hierzu Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334): „Assuming such a formless-form meant that although party officials did not benefit from the corporate veil and limited liability, the organization was as internally free as it could be.“ Zu dem inneren Aufbau und der innerparteilichen Demokratie ausführlich weiter unten. 118 [1978] 1 W.L.R. 1061. 119 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1071) – Denning MR, Herv. d. Verf.; siehe dazu auch Gauja, Political Parties and Elections, S. 56 ff. 120 Vgl. hier nur Ewing, Funding of Political Parties, S. 4; Gauja, Political Parties and Elections, S. 56 ff. 121 Davon geht inzwischen auch der Gesetzgeber aus, siehe s. 264(2)(2) Taxation of Chargeable Gains Act 1992: „In this section ,local constituency association‘ means an unincorporated association (whether described as an association, a branch or otherwise) whose primary purpose is to further the aims of a political party in an area which at any time is or was the same or substantially the same as the area of a parliamentary constituency or 2 or more parliamentary constituencies.“ 122 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061. 123 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1071) – Denning MR.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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bb) Conservative Party bis 1998 nicht als eine einzige unincorporated association, sondern als politische Bewegung Anders war die Rechtslage bis 1998 in Bezug auf die Conservative Party.124 Der Court of Appeal urteilte im Jahre 1981, dass die Conservative Central Office keine unincorporated association war und „die“ Partei im Auge des Rechts gar nicht existierte, vielmehr „a political movement with many parts (some of which are unincorporated associations) which in practice work together to a common end“125 war. Demnach gab es in „der“ Conservative Party rechtlich verschiedene Organisationsbereiche. Mithin waren dies die Parliamentary Party – also die Fraktionen beider Häuser. Daneben gab es die lokalen Mitgliederorganisationen, die sich unter dem Dach der National Union of Conservative and Unionist Associations zusammenfanden. Zudem existierte die Parteizentrale in Form des Conservative Central Office. Im Unterschied zur vorgenannten Rechtsprechung zur Labour Party konnte eine Person der Conservative Party „as such“126 schon nicht beitreten. Es blieb ihr einzig der Beitritt zu einem der Organisationsbereiche, von denen nur einige als unincorporated associations anzusehen waren. Das Gericht erachtete die Verbindung zwischen den einzelnen Organisationselementen der Partei nicht als vertraglich in dem Sinne, dass es sich um eine Organisation handelte. In diesem Zusammenhang stellte das Gericht die vorgenannte Definition einer unincorporated association auf.127 Rechtshistorische Bedeutung erlangte das Urteil zum einen, weil es erstmals die unincorporated association definierte. Zum anderen sind die Gründe des Court of Appeal für die Ablehnung, die Conservative Party als unincorporated association anzusehen, nicht minder bedeutsam. Die streitige Frage in dem Verfahren war, ob das Conservative Central Office auf seine Erträge, die es von den übrigen Organisationsbereichen der Partei erhielt (Mitgliedsbeiträge und dergleichen), corporation tax zu entrichten hatte, also körperschaftsteuerpflichtig war. Denn nach s. 238(1) Income and Corporation Taxes Act 1970 galt damals, dass die „[c]orporation tax shall be charged on profits of companies“. Und nach der Definition aus s. 526(5),(6) war eine „company […] any body corporate or unincorporated association“. Der Court of Appeal urteilte, dass es für das Vorliegen einer unincorporated association die vorgenannte vertragliche Bindung zwischen den Mitgliedern geben muss. Hierfür legte Lawton LJ die o. g. Definition an und sah in der Conservative 124
Dies kann mangels neuerer Gerichtsentscheidungen nicht abschließend geklärt werden. Auf die Gründung der Partei als solcher und ihre Stellung als eine Vereinigung weisen hin Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245); ders./Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 6. 125 So schon der High Court in dem Fall Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1980] 3 All ER 42 (60) – Vinelott J. 126 Ewing, Funding of Political Parties, S. 5. 127 Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ. Vgl. dazu ebenfalls Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 134 f.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Party eine politische Verbindung zwischen der Parlamentspartei einerseits und der außerparlamentarischen Partei (der National Union of Conservative and Unionist Associations), den einzelnen Wahlkreisvereinigungen und den jeweiligen Mitgliedern andererseits. Diese war aber „factual“128. Somit ergab sich für die (de facto freilich existierende) Conservative Party ein juristischer Vorteil aus der Klassifizierung als rechtliches Nullum.129 Ihre Einnahmen wurden nicht mit der Körperschaftsteuer unter dem Income and Corporation Taxes Act 1970, sondern mit dem damals niedrigeren Einkommensteuersatz versteuert.130 Diese Rechtslage, die seit Entstehen der Conservative Party als Bewegung galt, änderte sich erst im Jahre 1998. Die Parteireform unter Hague hatte, wie gesehen, die Einführung einer Parteisatzung zum Gegenstand. Demnach wurde hiermit die Conservative Party als eine einzige Entität geschaffen, während die Wahlkreisvereinigungen ihre vollkommene organisationsrechtliche Selbständigkeit durch die Reform verloren. Insoweit wurde die nationale Partei zur unincorporated association und die Wahlkreisvereinigungen, die unincorporated associations blieben, wurden ihrerseits zu Mitgliedern der nationalen Partei.131 c) Zwischenergebnis: Parteiengründungsfreiheit und Parteienorganisationsfreiheit Grundsätzlich gilt, dass die Parteien als privatrechtliche Institutionen auftreten. Auf das Innenverhältnis zwischen Mitgliedern und der Partei sowie unter den Mitgliedern findet das Vertragsrecht Anwendung. Verbindungen zum Gewerkschaftsund Gesellschaftsrecht ergeben sich bereits aus den angesprochenen steuerrechtlichen Fragen wie auch der aus den aus der fehlenden Rechtspersönlichkeit resultierenden Haftungsproblematiken für Parteifunktionäre. Für die Gewerkschaften sieht der britische Gesetzgeber einen besonderen zivilrechtlichen Status vor, jener quasi-corporate status. Zudem ergibt sich aus der frühen Rechtsprechung zu den 128
LJ.
Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton
129 So auch Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135: „One implication of this […] is that the relationship between ordinary members of extra-parliamentary organisations and the parliamentary party is outside even private law and, thus, altogether beyond state intervention, whether positive or negative.“ Vgl. zu diesem Schluss aus dem Urteil ebenfalls Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717 f.). 130 Eingehend hierzu Ewing, Funding of Political Parties, S. 5 m. w. N. auf die Entscheidung des High Court in erster Instanz. Auf die (bestätigte) Rechtsauffassung von Vinelott J geht auch Brightman LJ am Court of Appeal ein: „The Crown [in Form des HM Revenue & Customs, Anm. d. Verf.] does not allege that the Central Office itself is an unincorporated association. The assertion is that Central Office funds are held for the purposes of an organisation known as the Conservative Party, or more fully as the Conservative and Unionist Party.“ Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (523). 131 Art. 4.2 Constitution of the Conservative Party. Weiterführend Webb, British Party System, S. 196.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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inneren und äußeren Angelegenheiten der Gewerkschaften, die ja weiterhin als unincorporated associations organisiert sind, eine gewisse Übertragbarkeit der zu diesen ergangenen Entscheidungen auf die politischen Parteien.132 Für die Entwicklung des Parteienrechts ist deshalb besonders zu beachten, dass die graduelle Anerkennung der Parteien als unincorporated associations eine richterrechtliche und keine gesetzgeberische Entwicklung war.133 2. Privatrechtliche Parteienautonomie und alternative Organisationsformen Dem Grunde nach kämen für politische Parteien im Vereinigten Königreich auch andere gemeinnützige und unternehmensrechtliche Rechtsformen in Betracht, die sich eignen, um die sich aus der fehlenden Rechtspersönlichkeit der unincorporated association entstehenden Probleme zu umgehen.134 a) Parteien als gemeinnützige Organisationen? aa) Unzulässigkeit der Rechtsform der charity für Parteien Eine Parteigründung als charity, eine Wohltätigkeitsorganisation, die in anderen Common Law-Jurisdiktionen möglich ist, scheidet im Vereinigten Königreich aus.135 Die zulässigen charitable purposes sind durch s. 3(1) Charities Act 2011 festgelegt und zielen ausschließlich auf soziale Zwecke.136 Die Gründung einer Partei als charity ist nach dem Charities Act 2011 nicht möglich, da zwar überparteiliche political activities für eine Wohltätigkeitsorganisation möglich sein sollen,137 eine
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Siehe Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135. Vgl. Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (333). 134 So auch Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 40, der kurzum festhält: „A political party may have any kind of commercial or non-commercial structure.“ Als alternative Organisationsformen für solche Personenmehrheiten, für welche eine unincorporated association passend ist, werden in der einschlägigen vereinsrechtlichen Literatur die private companies limited by guarantee, die friendly societies und charities genannt, vgl. Warburton, Unincorporated Associations, S. 4 ff. 135 Rechtsvergleichend mit speziellem Bezug auf Common Law-Länder Norris, Building Political Parties (Internetquelle), S. 5: „Political parties may be officially registered charities or non-profit organizations.“ 136 Eine charity „is a public benefit, non-government organisation which in the UK is established exclusively for a charitable purpose and is required to ensure that gifts received are used exclusively for the benefit of those defined by that purpose“. O’Halloran/McGregorLowndes/Simon, Charity Law, S. 26. 137 Siehe ausführlicher hierzu Edwards/Stockwell, Trusts and Equity, S. 226 f. und im Vergleich mit Irland Breen, Ireland, in: McGregor-Lowndes/O’Halloran (Hrsg.), Charity Law, S. 74 (90 ff.). 133
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
einseitige parteipolitische Ausrichtung einer charity i. S. eines political purpose138 durch die Rechtsprechung inzwischen aber untersagt wurde. bb) Unzulässigkeit der Rechtsform der friendly society für Parteien Friendly societies waren die ersten gesetzlich normierten freien bürgerlichen Vereinigungen. Erstmalig sind sie durch den Friendly Societies Act 1793 rechtlich anerkannt worden, blieben aber bis zum Jahre 1992 in jedem Falle unincorporated associations. Mit Part II Friendly Societies Act 1992 wurde ihnen die Wahl eingeräumt, sich alternativ als incorporated associations mit dem Vorteil der Erlangung der Rechtspersönlichkeit eintragen zu lassen.139 Deshalb kann eine friendly society – in Ermangelung einer Legaldefinition – heute als eine freiwillige Vereinigung von Individuen mit oder ohne Rechtspersönlichkeit, die sich für Versorgungsleistungen einsetzt, beschrieben werden.140 Die Wahl der Rechtsform einer friendly society entfällt für die Parteien bereits nach der genannten Definition. So sind die zugelassenen Zwecke der friendly society in ss. 5, 7 und Sch. 2 Friendly Societies Act 1992 unter dem Begriff der provident benefits zusammengefasst. Diese sind „Life and annuity, Marriage and birth, linked long term, Permanent health, Tontines, Capital redemption, Pension fund management“. Das Aufstellen von Kandidaten für staatliche Ämter als einer der zentralen Zwecke einer außerparlamentarischen Parteiorganisation141 lässt sich schon nicht unter die genannten sozialen Ziele subsumieren.
138 Vgl. in der Rechtsprechung die Definition eines political purpose aus dem Fall McGovern v Attorney General [1981] 3 All E.R. 493 Ch. D. (508 f.) – Slade J: „[T]o further the interests of a particular political party.“ 139 Ausführlich zu friendly societies heute und zur incorporation etwa Hudson, Equity & Trusts, 2. Aufl., S. 763 ff., 776 ff. 140 Ähnliche Definitionen: „A friendly society is a mutual organisation which exists to provide its members (or their relatives) with benefits such as life and endowment assurance and with relief or maintenance during sickness, unemployment and retirement. Some societies provide not only contractual benefits but also discretionary benefits to members who find themselves in financial difficulties.“ Friendly Societies Commission (Hrsg.), Fact Sheet, S. 3; Fuller, Friendly Societies, S. 1 „Voluntary associations for the purpose of mutual relief and the maintenance of their members in sickness, old age and infirmity, and for kindred purposes.“ 141 Vgl. dazu eine qualifying registered political party, die nach s. 22(1) PPERA 2000 berechtigt ist, unter ihrem Namen und mit einem Parteilabel versehene einzelne Kandidaten aufzustellen oder Wahllisten einzureichen liegt vor, wenn die Voraussetzungen der Registrierung i. S. v. s. 28(1)-(2) PPERA 2000 erfüllt sind. Diese verlangen u. a. eine Erklärung, „that the party intends to contest one or more relevant elections in Great Britain and one or more such elections in Northern Ireland“.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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(1) Parteiorganisationen im 19. Jahrhundert als friendly societies Im 19. Jahrhundert organisierten sich einige der Wahlkreisvereinigungen der Conservative Party als friendly societies.142 Es handelte sich hierbei um konservative Wahlkreisvereinigungen für die unteren Klassen, mithin Conservative Operatives Societies. Sie boten schon vor der größten Wahlrechtsausweitung im Jahre 1867 Freizeit- und politische Bildungsprogramme für Männer aus der Arbeiterklasse an. Die frühe Einbeziehung der Arbeiterschaft in das politische Leben und Bindung an die Conservative Party stellten sich als probates Mittel dar, um die Wahlchancen der Liberal Party und möglicher künftiger Parteien zu marginalisieren.143 Vor allem sollten die in jener Zeit aufkommenden radikaldemokratischen, die aufkeimenden kommunistischen Strömungen in der Arbeiterschaft kontrolliert werden.144 Parallel dazu wurden auch die noch bis 1918 nicht wahlberechtigten Frauen in den örtlichen Vereinigungen eingebunden, jedoch mehr auf der gesellschaftlichen Ebene. So wurden Tanz-, Sport- und Leseveranstaltungen organisiert, an denen meist auch die Ehefrauen aktiver männlicher Mitglieder der Wahlkreisvereinigungen teilnahmen.145 (2) Berücksichtigung der friendly societies-Gesetzgebung in Parteiengesetzentwürfen im 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert wurde vom Parlament in den friendly societies eine Gefahr für die damalige britische Staats- und Gesellschaftsordnung gesehen, insbesondere vor dem Hintergrund der französischen Revolution.146 Denn in ihnen fanden sich bspw. Arbeiter und Bauern zusammen, um sich gegenseitig zur Erreichung besserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu unterstützen.147 Schon die frühe Gesetzgebung zu 142 „Preston’s Operative Conservative Society, based at the Ship Inn, was even more innovative and not only established a ,sick and burial club‘ […], but also a ,building society for the benefit of its members‘. On 4 July 1838 it was officially granted status as a Friendly Society“, Salmon, Electoral Reform, S. 69 m. w. N. Ähnlich zu diesen clubs für recreation as well as knowledge auch Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 485. 143 Zum Ganzen Ingle, Party System, S. 12 m. w. N.; McKenzie, Parteien in England, S. 111. Die Umwandlung von einigen Wahlkreisvereinigungen zu dezidierten Arbeiterclubs erfolgte nach 1875. 144 „Das Kapital“ von Karl Marx wurde 1867, im Gründungsjahr der National Union of Conservative and Constitutional Associations, in London erstmals verlegt. Darauf verweist McKenzie, Parteien in England, S. 104 f., was auch Auswirkungen auf die Einbeziehung der Arbeiterklasse in der Conservative Party hatte. Nach 1867 gründeten z. B. 2.500 Arbeiter in Bradford eine Wahlkreisvereinigung. Näheres bei Lowell, Government of England, Bd. 1, S. 485 ff. 145 Vgl. Salmon, Electoral Reform, S. 69. 146 Siehe Campbell, Rechabite History, S. 379 f.; Hudson, Equity & Trusts, 2. Aufl., S. 764 f. 147 Obwohl die gesetzgeberische Intention ausweislich der Einleitung des Gesetzes „for the Encouragement and Relief of Friendly Societies“ war, wurden Ende des 18. Jahrhunderts diese freien gesellschaftlichen Assoziationen als Gefahr für die herrschende Staats- und Gesellschaftsordnung erkannt, insbesondere vor dem Hintergrund der französischen Revolution. Damit war die friendly societies-Gesetzgebung zwar ein Fortschritt, aber gleichsam ein Weg zur
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
den friendly societies sah aus diesen Gründen Regelungen der inneren Ordnung vor, damit sich die Vereinigungen nicht von einzelnen Personen oder Gruppen nach ihren Vorstellungen formen und instrumentalisieren ließen. Einerseits forderte der Gesetzgeber ein gewisses Maß an vereinsinterner Demokratie, was er in der obligatorischen Mitgliederversammlung zur Aufstellung und Änderung der Satzung (s. 9 Friendly Societies Act 1829148) oder der Wahl eines Vorstands vorsah (s. 10 Friendly Societies Act 1829), wobei der Gesetzgeber einstweilen die Dauer der Wahlperiode offen gelassen hatte.149 Andererseits – und hier drückte sich die Ablehnung der herrschenden feudalen Gesellschaftsordnung gegenüber bürgerlichen Vereinigungen aus – waren friendly societies verpflichtet, ihre Satzungen zunächst durch die Gerichte und später durch einen Barrister bestätigen zu lassen (siehe s. 3 Friendly Societies Act 1829150). Dieses verfahrensrechtliche Erfordernis beinhaltet eine formelle und materielle Prüfung am Maßstab des anwendbaren Gesetzes- und Richterrechts und wurde schließlich in die heutige Kompetenz des Chief Registrar of Friendly Societies überführt. Zwar wurde die Gründung von Parteien als friendly societies weder in der Rechtsprechung noch in Gesetzgebungsverfahren diskutiert, doch fand aufgrund ihrer funktionellen Ähnlichkeiten als freiwillige Vereinigungen nichtkommerzieller Art zumindest ihr Registrierungsregime Berücksichtigung im ersten Gesetzgebungsverfahren für ein Parteiengesetz im Jahr 1967/1968. Hier sollte nach dem Willen der damaligen Labour-Regierung der Chief Registrar of Friendly Societies ebenfalls die Registrierung der Parteien übernehmen.151 Dies zeigt, dass es zumindest strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den friendly societies und den Parteien gibt, die sich rechtlich insbesondere in ihrem grundlegend gleichen privatrechtlichen bzw. Common Law-basierten Status einer unincorporated association und organisatorisch in ihrer Etablierung im gesamten Land und ihrer mitgliedschaftlichen Struktur äußern.
Ausübung obrigkeitlicher Kontrolle. Dies war insbesondere ab der Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall, da friendly societies die einzigen zugelassenen Arbeitervereinigungen anstelle der verbotenen Gewerkschaften waren. Siehe dazu Campbell, Rechabite History, S. 379 f. „In 1834, at Tolpiddle, near Wareham, in the County of Dorset, six labouring men were arrested for being connected with the ,Friendly Society of Agricultural Labourers‘.“ 148 „[T]hat no rule confirmed by the justices of the peace […] shall be altered, rescinded or repealed, unless at a general meeting of the members of such society […].“ Daneben war eine Delegation der Satzungsänderungskompetenz an den Vorstand möglich, s. 12 Friendly Societies Act 1829: „[S]hall and may delegate to such committee all or any of the powers given by this Act.“ 149 Wortlaut der s. 11 Friendly Societies Act 1829: „[S]hall and may from time to time elect and appoint such clerks and other officers.“ 150 Wortlaut: „[A]ny of the rules thereof shall be confirmed by the justices.“ 151 Siehe Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (246); ders./Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 22; HC Deb 18 November 1968 vol. 773 cc. 922 – 923.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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b) Mögliche alternative Rechtsform: private company limited by guarantee In einem in der deutschen Literatur vielbeachteten152 Beitrag zum britischen Parteienrecht schreibt der britische Parteienforscher Gordon Smith: „So werden Parteien vom Gesetz als privatrechtliche Verbände behandelt, und es fehlt ihnen ein spezielles Körperschaftsrecht, wie es z. B. die Handelsorganisationen haben.“153 Dem ist hinzuzufügen, dass es zwar in der Tat kein für die Parteien maßgeschneidertes Körperschaftsrecht gibt. Smith und die überwiegende parteienrechtliche Literatur154 lassen indessen außer Acht, dass sich Parteien im Vereinigten Königreich155 zuweilen als Körperschaften unter dem jeweiligen Companies Act (heute: Companies Act 2006) organisieren.156 Die soweit ersichtlich erste Partei, die sich als private company limited by guarantee organisierte, war die von 1994 bis 1997 existierende Referendum Party.157 Heute ist als einzige der größeren Parteien, die noch bis 2017 im House of Commons vertreten war, UKIP beim Companies House, dem Handelsregister für England und Wales, als Unternehmen registriert.158 Als kleinere Parteien sind aktuell die Radical Party und die English Democrats als
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Mit Bezug auf die Rechtsnatur der Parteien etwa Döring, Großbritannien, S. 108; Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 51. 153 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (320). 154 So sind etwa vereinzelte Anmerkungen zur Referendum Party zu finden bei Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 133; Youngs, Comparative Law, S. 44, die es bei je einer Fußnote belassen. Ausführlich dagegen bei Davis, Political Freedom, S. 50 f., 74 f., 182 ff. Kurz erwähnt überdies bei Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 40: „A political party may have any kind of commercial or non-commercial structure.“ 155 Obwohl im deuschen Schrifttum (vgl. nur Just (Hrsg.), Englisches Gesellschaftsrecht, passim) bisweilen als „englisches“ Gesellschaftsrecht bezeichnet, gilt für den Bereich des Gesellschaftsrechts, dass die devolution wenig Auswirkungen hat, da das Company Law eine reserved matter des britischen Parlaments darstellt. Vgl. dazu: T.S.O. (Hrsg.), Department of Trade and Industry, Company Law Reform, Cmnd. 6456/2005, S. 273. Etwa zu alternativen Möglichkeiten einer künftigen schottischen Gesetzgebung für die im britischen Companies Act 2006 vorgesehenen company limited by guarantee siehe Scottish Law Commission, Discussion Paper, CLB 2009, S. 121 (123 f., 145), i. E. ablehnend. 156 Beispiele dafür sind aktuell die UKIP, daneben die Radical Party und historisch in den 1990er Jahren die Referendum Party. Dazu umgehend. 157 Zum politischen Wirken der Referendum Party siehe Heath/Jowell/Taylor/Thomson, Referendum Party, BEPR 1998, S. 95 passim. Die Rechtsform der damaligen Partei wird im Urteil des High Court in der Sache Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 Q.B.D. (407) – Buckley J diskutiert: Die Referendum Party „is a company limited by guarantee but better known as a new political party which put up 547 candidates at the last election“. Sowie: „For all practical purposes, the second named plaintiff, although incorporated as a company limited by guarantee, is or operates as a political party.“ 158 So heißt es in Art. 2.2.2 UKIP-Constitution: „The Party exists as a Limited Liability Company registered with Companies House (Registration Number: 05090691) in accordance with the Companies Act 2006.“ Vgl. auch: „UKIP is […] a company limited by guarantee“ in: UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
derartige Unternehmen registriert.159 Hierbei gilt, dass eine Partei aufgrund ihres nichtkommerziellen Gesellschaftszweckes nicht als Limited (oder in der Kurzform Ltd.) firmieren muss, sodass ihre Rechtsform oftmals in den Medien und dem politischen Tagesgeschehen nicht unmittelbar erkennbar ist. aa) Definition und Rechtsnatur der private company limited by guarantee Von all den im Companies Act 2006 enthaltenen Rechtsformen ist die für Parteien passende die private company limited by guarantee,160 die in s. 3(1), (3) Companies Act 2006 als eine Unternehmensart definiert wird.161 Bei dieser Unternehmensform ist die Haftung der Mitglieder durch den Gesellschaftsvertrag im Falle der Liquidierung der Gesellschaft auf den Betrag ihrer Garantie beschränkt (limited by guarantee).162 Als private company definiert der Gesetzgeber in s. 4(1) Companies Act 2006 ex negativo eine Gesellschaft, die keine public company ist. Eine public company wiederum ist nach s. 4(2) Companies Act 2006 ein Unternehmen, dessen Anteile öffentlich gehandelt werden.163 Zusammengefasst ist demzufolge eine private company limited by guarantee eine Unternehmensform sui generis, die weder ein Stammkapital noch Anteilseigner kennt.164 Vielmehr sind die in der Gesellschaft organisierten, natürlichen oder juristischen Personen guarantors (Garantiegeber). 159
Siehe etwa http://www.theradicalparty.uk/legal-status (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). Einen guten schematischen Überblick über die Rechtsformen nach dem Companies Act, ihre Funktionen, Eigenschaften und praktische Nutzbarkeit je nach Unternehmenszweck geben Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, para. 1.11. Neuere Rechtsformen, wie die community interest company, sind nicht für politische Parteien wählbar, da die Tätigkeit als politische Partei außerhalb des Definitionsbereich der nach reg. 3(c)(i) Community Interest Company Regulations 2005 zulässigen Ziele dieser Gesellschaftsform liegt („For the purposes of the community interest test the following activities are to be treated as not being activities which a reasonable person might consider are activities carried on for the benefit of the community […] activities which can reasonably be regarded as intended or likely to […] provide or affect support […] for a political party or political campaigning organisation.“); vgl. dazu auch Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 49 f. 161 In der Literatur findet sich keine Definition, die ihre unternehmerischen Ziele umfasst, sondern nur formal anhand der beiden gesetzlichen Kriterien. Vgl. statt vieler Mayson/French/ Ryan, Company Law, S. 52. 162 Wortlaut der Norm s. 3(1) Companies Act: „A company is a ,limited company‘ if the liability of its members is limited by its constitution.“ Subsection (3): „If their liability is limited to such amount as the members undertake to contribute to the assets of the company in the event of its being wound up, the company is ,limited by guarantee‘.“ In der Praxis ist dies oftmals 1 GBP (vgl. Mayson, Company Law, S. 53). Vgl. auch UKIP (Directors’ Report, Company Number 5090691, vom 31. Dezember 2015, S. 4) und die English Democrats (Certificate of Incorporation, Company No. 6132268, hier in Art. 6 Memorandum of Association). Beide Quellen sind abrufbar unter https://www.gov.uk/government/organisations/companies-house (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 163 So s. 4(1), (2) Companies Act 2006: „(1) A ,private company‘ is any company that is not a public company. (2) A ,public company‘ is a company limited by shares or limited by guarantee and having a share capital.“ 164 So auch zusammengefasst bei Hudson, Equity & Trusts, 6. Aufl., S. 1004. 160
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Sie bezahlen einen Beitrag in die Gesellschaft ein, wenn – und nur wenn – die Gesellschaft liquidiert wird, vgl. s. 74(3) Insolvency Act 1986.165 bb) Juristische Person als Lösung der Haftungsproblematik bei der unincorporated association Mit der private company limited by guarantee wird eine juristische Person geschaffen, sodass die im Rahmen der Erläuterungen zur unincorporated association skizzierten Probleme gelöst sind: Die Gesellschaft kann Eigentum selbst halten, sodass es eines trustees (und bei dessen Wechsel eines rechtsgeschäftlichen Eigentumsübergangs an den nächsten) nicht bedarf. Auch ist sie aktiv- und passivlegitimiert und kann Verträge in eigenem Namen schließen, so etwa Arbeitsverträge eingehen und eigenes Personal anstellen.166 Besonders im Hinblick auf die eigentumsrechtlichen Fragen ist sie ein geeignetes modernes Substitut für den Trust, der wie die unincorporated association nicht rechtsfähig ist.167 Im Lichte dieser Eigenschaften betrachtet ist sie besonders für sog. non profitOrganisationen168 attraktiv, wenn sie auch entgegen einem gängigen Missverständnis durchaus für wirtschaftliche Betätigungen verwendet werden kann.169 Im letzteren Falle darf sie sogar Gewinne ausschütten.170 Die Gewinnausschüttung ist nur für solche private companies limited by guarantee ausgeschlossen, die nach s. 60 Companies Act 2006 nicht unter der Bezeichnung Limited oder Ltd. firmieren müssen. Unter diese Einschränkung fallen auch die vorliegend betrachteten politischen Parteien (vgl. die Entscheidung des Court of Appeal in UKIP v Hardy),171 165
Wortlaut der Norm: „[I]n the event of it being wound up.“ Aus der Literatur dazu Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 52 f. 166 Für diese exemplarische Nennung wichtiger Faktoren bei private companies limited by guarantee in der Form von gemeinnützigen Unternehmen, vgl. Picarda, Charities, S. 263 f. Diese lassen sich in ihrer praktischen Bedeutung verallgemeinern und sind auch für die Parteien von Interesse, wie die vor einigen Jahren aus exakt diesen Gründen angestrebte Umorganisation der Labour Party in eine private limited company zeigt. 167 Vgl. Rebsch, Stiftung, S. 11, 133. 168 Siehe nur Hudson, Equity & Trusts, 6. Aufl., S. 1004. Die company limited by guarantee hat aber ihre Funktion für charities verloren, da seit 2006 die Organisation als charitable incorporated organisation möglich ist. Vgl. O’Halloran/McGregor-Lowndes/Simon, Charity Law, S. 575. 169 Siehe dazu Wesiack, Europäisches internationales Vereinsrecht, S. 33 m. w. N. 170 Argumentum e contrario s. 37 Companies Act 2006, der die Gewinnausschüttung an Dritte nur verbietet. 171 Parteien sind gemäß s. 60(1)(b) Companies Act 2006 i. V. m. mit einer regulation des secretary of state ausgenommen von der verpflichtenden Führung der Rechtsform in ihrer Firma. Dies hat auch der Court of Appeal festgestellt: „UKIP is, it appears, an incorporated rather than an unincorporated members’ association. However the word ,Limited‘ does not appear in its title and I proceed upon the basis that it is a company limited by guarantee with a dispensation from that requirement under s.30 of the Companies Act 1985.“ (UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 para. 8 – Potter LJ). Zu der alten Rechtslage mit der Auflistung der
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
obschon die Parteien in Lehrbüchern zum Gesellschaftsrecht in diesem Kontext kaum Erwähnung finden.172 Beispiele für andere non profit-Organisationen, die als private companies limited by guarantee konstituiert sind, sind etwa Bildungsträger, Studentenschaften, Sportverbände, Wohltätigkeitsorganisationen und auch andere politische Organisationen.173 Unter die zuletzt Genannten fallen auch überparteiliche Gruppierungen für politische Kampagnen (wie die Yes Scotland Limited, die sich für das schottische Unabhängigkeitsreferendum im Jahre 2014 einsetzte).174 cc) Überlegungen zur Gründung einer „Labour Party Ltd.“ im Jahr 2008 Auch bietet die für nichtkommerzielle Zwecke vorgesehene private company limited by guarantee einen Ausweg aus der misslichen Lage der fehlenden Haftungsbeschränkung in der unincorporated association, mithin auch für die Parteien.175 Der unmittelbare Haftungsdurchgriff in den Parteien, die historisch als unincorporated associations organisiert waren, auf die Kandidaten, Mitglieder und insbesondere Vorstände der Parteien war schon in den 1840er Jahren in der Praxis relevant geworden, als nach der ersten Ausweitung des Wahlrechts in einigen Wahlkreisen kostspielige Wahlkämpfe um die wenigen contested seats geführt worden waren. Diese Wahlkämpfe hatten bereits einige Wahlkreisvereinigungen respektive ihre persönlich haftenden Mitglieder an den Rande des Bankrotts getrieben.176 Auch in den letzten Jahren ist das Thema auf die politische Tagesordnung gesetzt worden. Im Jahre 2008 berichteten britische Zeitungen, dass die Führungspersonen der Labour Party um den damaligen Premierminister Brown erwogen, die Labour Party in eine „limited company“177 zu überführen. Hintergrund war die sog. cash for honours-Affäre.178 In dieser hatten reiche Persönlichkeiten der Labour Party Kredite i. H. v. insgesamt über 13 Millionen GBP gewährt. Vermittelt wurden diese durch den Labour-Politiker Michael Levy (Lord Levy). Im Gegenzug sollten die Kreditgeber Ämter – vor allem Sitze im House of Lords, welche die Krone auf Anraten des Befreiungstatbestände, die u. a. auch parteipolitische Aktivitäten umfassen, siehe Talbot, Critical Company Law, S. 89 f. 172 Wobei diese in Lehrbüchern zum Gesellschaftsrecht kaum Erwähnung finden, so etwa nicht im Lehrbuch von Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, para. 1.6 ff. 173 Beispiele bei Kershaw, Company Law, S. 12; Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, para. 1.8. 174 Siehe https://www.ofcom.org.uk/__data/assets/pdf_file/0024/55293/yes_scotland_re sponse.pdf (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 175 Hier nochmals Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334). 176 Historisch dazu Salmon, Electoral Reform, S. 60 ff. 177 Webster, Labour Ltd., The Times v. 30. Mai 2008, S. 32. 178 Zur gesamten Affäre und den Auswirkungen in Form des Erlasses des Political Parties and Elections Act 2009 siehe statt vieler Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (160 ff.) m. w. N.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Premierministers (damals der Labour-Parteiführer Blair) vergibt – erhalten. Diese Kredite waren marktüblich verzinst, wiesen dabei jedoch einen ungewöhnlich langen tilgungsfreien Zeitraum von mehreren Jahrzehnten auf und wären vermutlich niemals zurückgezahlt worden. Entscheidend war unter dem damals geltenden s. 50 PPERA 2000 für die Zulässigkeit und Meldepflichtfreistellung dieser Form der Parteienfinanzierung im Rechenschaftsbericht der Partei nur, dass sie zu marktüblichen Zinsen vergeben wurden. Als diese Umstände öffentlich bekannt wurden und die Geldgeber ihre Kredite bis Ende des Jahres fällig stellten, drohten die Partei, respektive der neue Parteiführer und Premierminister Brown, in eine existenzielle finanzielle Krise zu geraten.179 Pointiert stellte eine nicht näher bezeichnete Person aus dem NEC der Labour Party fest: „The party’s constitution is like a five-a-side football club, or the local cricket club. The big difference is that the most club officials and managers could expect to have to fork out is an unpaid bill for hiring the pitch. In Labour’s case, it’s tens of millions of pounds.“180
Fest stand, dass aufgrund der Organisationsform der Partei als unincorporated organisation die handelnden Mitglieder des NEC zur gesamtschuldnerischen Leistung (joint and several) gegenüber den Gläubigern verpflichtet gewesen sind. Dies hätte die Betroffenen, u. a. Brown, über ihre persönliche finanzielle Leistungsfähigkeit hinaus belasten können.181 Da die Finanzierungskrise der Partei aber alsbald überwunden war, wurden die Pläne der Umfirmierung nicht weiter verfolgt. Einstweilen bleibt daher die Frage offen, ob die Labour Party an eine Umwandlung in eine private company limited by guarantee oder eine Kapitalgesellschaft in Form einer public limited company dachte, wie die Times schrieb.182 dd) Status der Öffentlichkeit bei Parteien unter dem Companies Act 2006 Mit der Entscheidung, sich als Körperschaft nach dem Companies Act 2006 zu organisieren, gehen auch die für sämtliche Unternehmensrechtsformen geltenden Transparenzvorschriften aus Part 15 Companies Act 2006 einher. Diese umfassen einen director’s report (Vorstandsbericht) nach s. 415 Companies Act 2006. Dieser kann bei Parteien als vereinfachter Bericht für small companies nach ss. 415(A),
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Verf. 181
Hencke, Labour Cash Crisis, The Guardian v. 29. Mai 2008 (Internetquelle). Hencke, Labour Cash Crisis, The Guardian v. 29. Mai 2008 (Internetquelle), Herv. d.
Vgl. Webster, Labour Ltd., The Times v. 30. Mai 2008, S. 32. Siehe Webster, Labour Ltd., The Times v. 30. Mai 2008, S. 32, Herv. d. Verf.: „Officials are now looking at the option of converting the whole party into a limited company – Labour plc – to avoid individuals being held responsible.“ Offen gelassen dagegen von Hencke, Labour Cash Crisis, The Guardian v. 29. Mai 2008 (Internetquelle), Herv. d. Verf.: „The Labour party is said to be investigating whether it can change its status to a limited liability company to protect its officials and NEC members.“ 182
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
381 ff. Companies Act 2006 ergehen.183 Daneben treten – hierauf wird später nochmals zurückzukommen sein – die Veröffentlichungs- bzw. Rechenschaftspflichten nach ss. 41 ff. PPERA 2000, sofern es sich um eine nach den dortigen ss. 22 ff. registrierte Partei handelt.184 Diese Parteien unterliegen mithin der jährlichen Erstattungspflicht eines Rechenschaftsberichts, die im Außenverhältnis zur allgemeinen Öffentlichkeit wie im Innenverhältnis (d. h. innerparteilich) zu den Mitgliedern wirkt. 3. Zwischenergebnis: privatrechtlicher Status der Parteien Den Parteien kommt ein privatrechtlicher Status der Gründungs- und Organisationsfreiheit zu, der sowohl gesetzlicher als auch richterrechtlicher Natur ist. Die Gründungsfreiheit entspringt der Vereinigungsfreiheit, während die Organisationsfreiheit ihren Ursprung in der Vertragsfreiheit hat, da dem Grundtypus der politischen Vereinigung – der unincorporated association – keine gesetzlichen oder richterrechtlichen Grenzen in der inneren Organisation auferlegt werden. Daneben sind diejenigen Parteien, die sich freiwillig als private companies limited by guarantee organisieren, dem gesellschaftsrechtlichen Transparenzgebot unterworfen.
III. Verfassungsrechtlicher Status der Parteien Für das britische Verfassungsrecht lässt sich kein Statuskatalog erstellen, wie er in Deutschland von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Literatur in der Freiheit, der Gleichheit, der Öffentlichkeit und (teilweise) in der innerparteilichen Demokratie als eigenständiger Status gesehen und dem Art. 21 Abs. 1 GG entnommen wird.185 183 Small companies müssen nach s. 382(3) von den folgenden drei Voraussetzungen zumindest zwei erfüllen. Diese Voraussetzungen sind: 1. Weniger als 10,2 Millionen GBP Jahresumsatz (turnover), 2. weniger als 5,1 Millionen GBP Bilanzsumme (balance sheet total) und/oder 3. weniger als 50 Mitarbeiter (employees). UKIP Ltd. hat davon etwa Gebrauch gemacht, vgl. UKIP Directors’ Report, Company Number 5090691, vom 31. Dezember 2015, S. 4, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/organisations/companies-house (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 184 Ähnliches gilt für charities, die sich als private companies limited by guarantee organisieren: „Charitable companies are subject to dual registration, reporting and regulatory requirement, through the Charity Commission and the Registrar of Companies.“ So Picarda, Charities, S. 267 m. w. N. Vergleichbar dazu unterliegen auch zusätzlich solche Parteien, welche die freiwillige Registrierung nach dem PPERA 2000 unternommen haben – die freilich konstitutiv ist für die Erlaubnis, Kandidaten und Listen unter dem Parteinamen für Wahlen einzureichen – auch den Veröffentlichungspflichten nach dem PPERA 2000. Dies gilt für alle zuvor genannten als private companies limited by guarantee eingetragene Parteien. 185 Statt vieler Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 48 ff. Ob die innerparteiliche Demokratie als eigenständiges viertes Statusmerkmal gesehen wird, ist Gegenstand der Diskussion in der Literatur, i. E. aber nicht entscheidend, da die Parteien ohnehin auf diesen gemäß
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Dies liegt darin begründet, dass es dem Vereinigten Königreich als staatsorganisationrechtlicher Prototyp für den Großteil des Common Law-Rechtskreises bekanntlich an einem Verfassungsdokument fehlt. Damit entfällt die in Deutschland – und in anderen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen – einfach vorzunehmende Verortung der Parteien im Verfassungsgefüge durch einen kurzen Verweis auf eine konkrete Verfassungsnorm (vgl. hierzu nur Art. 21 GG).186 Ungeachtet dieser formal-verfassungsrechtlichen Besonderheit wird auch in der parteienrechtlichen Literatur des Vereinigten Königreichs und des gesamten Common Law-Rechtskreises zur Untersuchung der verfassungsrechtlichen Stellung der Parteien der Dreiklang aus Verfassungsrecht, einfachem Gesetzesrecht und Richterrecht herangezogen.187 Somit ist es nur sinnvoll, auch hier mit der Betrachtung der britischen Verfassung zu beginnen. Denn mangels einer formalen, ausdrücklichen Regelung a priori von gar keiner verfassungsrechtlichen Anerkennung des Parteiwesens in der britischen Verfassung auszugehen wäre zu kurz gegriffen. Dieser Schluss würde dem verfassungsrechtlichen Begriffsverständnis eines kontinentalen Juristen entspringen und die Eigenarten des britischen Rechtssystems unbeachtet lassen. Aus diesem Grunde ist eine Einführung in die britische Verfassungskonzeption unverzichtbar, wenn auch die Fragestellung dieser Arbeit für eine umfassende Beschreibung der britischen Verfassung freilich keinen Raum lässt. Es wird nur auf diejenigen Aspekte eingegangen werden können, die mit dem politischen Prozess und speziell den Parteien – und letztlich mit deren innerer Ordnung – zusammenhängen.188 1. Verständnis, Rechtsnatur und Definition der Verfassung Mangels einer Verfassungskodifikation kann auf keine althergebrachte oder allgemein anerkannte Definition der britischen Verfassung zurückgegriffen werden.189 Namhafte Autoren, insbesondere die beiden Doyens der Verfassungsrechtswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zuvorderst Dicey und Walter Bagehot, haben sich sogar ausdrücklich eines Definitionsversuchs der englischen190 VerfasArt. 21 Abs. 1 Satz 3 verpflichtet sind. Siehe dazu Merten, Rechtliche Grundlagen, in: Decker/ Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, S. 77 (77) m. w. N. 186 Vgl. neben der Regelung des Art. 21 GG jene in zahlreichen europäischen Verfassungen. Dazu die Übersicht bei Piccio, Party Regulation, S. 92 passim; Müller/Sieberer, Party Law, in: Katz/Crotty (Hrsg.), Handbook, S. 435 (438) m. w. N. 187 Siehe nur Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (246) mit Nachweis auf die Verfassungen Neuseelands, Australiens, Kanadas, der USA und des Vereinigten Königreichs. 188 Für umfassende Darstellungen der britischen Verfassung sei auf einige der neueren Standardwerke verwiesen: Turpin/Tomkins, Government and Constitution, passim; Bradley/ Ewing, Constitutional and Administrative Law, passim; Barnett, Constitutional & Administrative Law, passim. 189 Vgl. ebenfalls dazu Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 9. 190 Erklärung zur Titelwahl der englischen Verfassung: Zwar ging die letzte rein englische Verfassung mit der Union von England und Wales 1536 unter und wurde durch den Act of Union
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
sung verwahrt.191 Nach Bagehot sei anders als in Staaten mit kodifizierten Verfassungen, welche die Kompetenzen von Regierung, Parlament und Gerichten als pouvoirs constitués begründen und gleichsam beschränken, ein Definitionsversuch im Vereinigten Königreich nicht mehr als eine Beschreibung, eine Summierung und Generalisierung einzelner Ereignisse, Normen und Traditionen der britischen Rechtsgeschichte.192 Pathetisch drückt der bagehotsche Vergleich den Charakter der britischen Verfassung aus, demzufolge die „ancient and ever-altering constitution […] [is] like an old man who still wears with attached fondness clothes in the fashion of his youth: what you see of him is the same; what you do not see is wholly altered.“193 In dieser materiellen Konzeption von der britischen Verfassung unterschied er zwischen zwei Arten von Elementen, die den Wesenskern der Verfassung ausmachten. Unter die dignified-Elemente fallen symbolisch-repräsentative Institutionen wie das House of Lords, während die efficient-Elemente des politischen Prozesses vor allem das House of Commons und das Kabinett sind. Für Bagehot ist die Kabinettsregierung das politische Zentrum des britischen Verfassungskonstrukts, da diese „the close union, the nearly fusion of executive and legislative powers“194 darstelle. So verbindet diese Erklärung des Wesens der britischen Verfassung politische wie juristische Aspekte miteinander. Diese politische, kulturelle Konzeption der britischen Verfassung hat bis heute Einfluss auf das Verfassungsverständnis im Vereinigten Königreich. Bagehot selbst sieht die Parteien im Parlament als Teil der efficient-Elemente an, die Mehrheiten organisieren und die klügsten Köpfe versammeln.195 1707 zu einer britischen Verfassung; historisch vor dem Auftreten des schottischen und irischen Nationalismus geschrieben, war Bagehot – wie die meisten anderen zeitgenössischen Verfassungsrechtler – anglozentrisch und verzichtete weitgehend auf die Nennung von Irland, Wales oder Schottland. Siehe hierzu Bogdanor, Constitution, S. XII. 191 Vgl. dazu Bagehot, English Constitution, S. 43 f., der die unterschiedlichen Beschreibungen der englischen Verfassung („descriptions of the English Constitution“) erwähnt. Zur zweiten Beschreibung sagt er etwa: „[I]t is insisted that the peculiar excellence of the British Constitution lies in a balanced union of three powers. It is said that the monarchical element, the aristocratic element, and the democratic element, have each a share in the supreme sovereignty, and that the assent of all three is necessary to the action of that sovereignty. Kings, lords, and commons, by this theory, are alleged to be not only the outward form, but the inner moving essence, the vitality of the constitution. A great theory, called the theory of ,Checks and Balances,‘ pervades an immense part of political literature, and much of it is collected from or supported by English experience. Monarchy, it is said, has some faults, some bad tendencies, aristocracy others, democracy, again, others; but England has shown that a government can be constructed in which these evil tendencies exactly check, balance, and destroy one another – in which a good whole is constructed not simply in spite of, but by means of, the counteracting defects of the constituent parts.“ 192 Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 20. 193 Bagehot, English Constitution, S. 42. 194 Bagehot, English Constitution, S. 76. 195 Siehe hierfür Wright, British Politics, S. 67: „In his The English Constitution (1867) Bagehot described the ,impotence‘ of political life without organized parties: ,It is not that you
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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In Anlehnung daran wollen heutige Autoren auch die politischen Parteien in diese Kategorien einordnen, nämlich die außerparlamentarischen Organisationen als dignified und die party in public office, d. h. diejenigen Akteure einer Partei, die Inhaber öffentlicher Ämter sind, als effective.196 Noch mehr Einfluss auf das Verfassungsverständnis im Vereinigten Königreich hat nur Dicey, der als Begründer der britischen Verfassungsrechtswissenschaft gilt.197 Auch sein Werk beinhaltet keine prägnante Formulierung einer Definition für die britische Verfassung. Anders als Bagehot legte er in seinem 1885 erschienen Werk „An Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ den Schwerpunkt seiner Analyse der Verfassung auf drei rechtliche Prinzipien:198 Mit der Parlamentssouveränität, der Rule of Law und den Verfassungskonventionalregeln identifizierte er drei Rechtsprinzipien, welche die Beziehung zwischen den Institutionen – der Krone, dem Parlament, der Regierung und den Gerichten – begründeten und begrenzten. Zugleich begrenzten diese Prinzipien ebendiese Institutionen, um politische Machtungleichgewichte auszutarieren. Oberstes Prinzip ist die Souveränität der Crown-in-Parliament, die noch heute die h. M. in der Literatur199 und der ungleich wichtigeren Rechtsprechung200 darstellt. Nach diesem Konzept kann die britische
will not be able to do any good, but you will not be able to do anything at all. If everybody does what he thinks right, there will be 657 amendments to every motion, and none of them will be carried or the motion either‘.“ (Herv. i. O.). Weiters auch Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 43 zur unterschiedlichen Position Bagehots und Diceys zu den Parteien im Verfassungsgefüge. 196 So Poguntke/Scarrow/Webb, Party Rules, P.P. 2016, S. 661 (661 f.). 197 Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 49 m. w. N. So auch das Urteil von Jennings, demzufolge Dicey als erster „the juridical method to English public law“ anwandte. Jennings, Constitution, S. X. 198 Zum Rechtscharakter der Parlamentssouveränität explizit Bogdanor, Constitution, S. XII: „[F]rom a legal point of view the dominant charateristic of our political institution.“ 199 Kritik dazu etwa von Craig, Public Law and Democracy, S. 15, 42, oder Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 73 f.: „[W]as immer die Lehrbücher postulieren mögen, im heutigen politischen Prozess der Voll-Demokratie, das Dogma von der Parlamentssouveränität verblaßt und von der Volkssouveränität überlagert ist. Verfassungsstrukturell gesehen drückt sich in diesem Wandel der Niedergang des Parlaments […] und der […] Aufstieg der anderen Machträger, der Exekutive […] und der Wählerschaft aus.“ 200 Vgl. nur Madzimbamuto v Lardner-Burke [1969] 1 AC 645 (723) – Reid LJ: „It is often said that it would be unconstitutional for the United Kingdom Parliament to do certain things, meaning that the moral, political and other reasons against doing them are so strong that most people would regard it as highly improper if Parliament did these things. But that does not mean that it is beyond the power of Parliament to do such things. If Parliament chose to do any of them, the courts could not hold the Act of Parliament invalid.“ Ebenso zum Verhältnis zwischen den Gerichten und dem Parlament der Fall Liversidge v Anderson [1942] AC 206 (260 f.) – Wright LJ: „Parliament is supreme. […]. In the constitution of this country there are no guaranteed or absolute rights. The safeguard of British liberty is in the good sense of the people and in the system of representative and responsible government, which has been evolved.“
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Verfassung zusammengefasst werden als „what the Queen in Parliament enacts is law.“201 Insofern gilt zu beachten, dass der sich ständig aktualisierende Wille des Parlaments entscheidet, was überhaupt geltendes Recht ist und gleichsam was Verfassungsrecht ist. Durch den Erlass neuer und die konkludente (sog. implied repeal202 i. S. d. lex posterior-Grundsatzes), ggf. aber auch die ausdrückliche203 Aufhebung alter Gesetze drückt es stets seine unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt, seine konstitutive Omnikompetenz aus.204 Naturgemäß spielen die Parteien, obschon sie von Dicey ebenfalls nicht verfassungsrechtlich, vielmehr nur -politisch berücksichtigt werden, eine zentrale Rolle. Zumindest im Parlament und der Regierung sind sie in der Verfassungsrealität diejenigen, aus deren Reihen sich die Mitglieder beider 201
Diese Schlussfolgerung zieht auch Bogdanor, Constitution, S. XII, S. 13. Die im Common Law-Rechtskreis verbreitete Doktrin gestattet es dem Parlament, eine geltende Norm, i. S. d. lex posterior-Regel, durch eine spätere aufzuheben oder zu ändern. Es gilt der eherne Grundsatz der Parlamentssouveränität „Parliament can do anything except bind its successor“ (vgl. Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 57 ff.). Implied bedeutet in diesem Kontext, dass das Parlament nicht verpflichtet ist, seine Intention – die Aufhebung oder Änderung der betroffenen, noch geltenden Norm – expressis verbis zu benennen. Es reicht schlicht, wenn eine neue Norm einen anderen Regelungsgehalt hat und die bis dato geltende „übertrumpft“. Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 60. 203 Ausnahmen zum implied repeal-Grundsatz finden sich etwa in den Parliament Acts 1911 und 1949. Gemäß s. 7 Parliament Act 1911 kann die Legislaturperiode auch für künftige Parlamente nicht mehr als fünf Jahre betragen. Der Parliament Act 1911 bzw. 1949 regelte nur die zulässige Höchstdauer einer Legislaturperiode. Die Auflösung des Parlaments zu einem früheren Zeitpunkt lag demnach im Belieben des Premierministers. Aus diesem Grunde regelt heute s 1. 1 (3) Fixed-term Parliaments Act 2011, dass die Legislaturperiode nicht mehr, aber auch nicht weniger als fünf Jahre betragen darf. Dies stellt eine (Selbst-)Beschränkung der Parlamentssouveränität dar. Die implied repeal-Doktrin ist ein ungeschriebenes Merkmal der britischen Verfassung, das aus dem Common Law durch die Gerichte entwickelt wurde. So kann das Parlament diese Selbstbindung jederzeit aufheben und auch seine Legislaturperiode implizit oder durch ein Änderungsgesetz oder Aufhebungsbeschluss wieder verändern. Vgl. nur Bogdanor, Constitution, S. 277; Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 95. So in einer Entscheidung des House of Lords zur Bindung des Parlaments an den Human Rights Act 1998: „Parliamentary sovereignty means that Parliament can, if it chooses, legislate contrary to fundamental principles of human rights. The Human Rights Act 1998 will not detract from this power. The constraints upon its exercise by Parliament are ultimately political, not legal.“ Ebenso Secretary of State for the Home Department, ex parte Simms Secretary of State for the Home Department [1999] UKHL 33 – LJ Hoffmann. Das Parlament kann nachgerade jederzeit ein dem Human Rights Act 1998 widersprechendes Gesetz erlassen. Es ist – in Ausnahme von der Doktrin des implied repeal – einzig dazu verpflichtet, die Aufhebung oder Änderung explizit zu kennzeichnen. Der Regelung der s. 3 (2) (a) Human Rights Act 1998 entnimmt die Rechtsprechung und die Literatur, dass zukünftige Gesetze eine explizite Abweichung von den Regelungen des Human Rights Act 1998 beinhalten müssen, vgl. nur Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (83); Bogdanor, Constitution, S. 60. Gleichzeitig sieht s. 3(2)(b) weiterhin die Gültigkeit von mit dem Human Rights Act 1998 unvereinbaren künftigen Gesetzen vor. Auf diese Weise bleibt es bei der uneingeschränkten Parlamentssouveränität. 204 Vgl. auch Becker, Bedeutung der ultra vires-Lehre, ZaöRV 2001, S. 85 (87). 202
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Häuser zu großen Teilen und der Regierung vollständig rekrutieren. In der 1915 erschienenen Auflage, just nach Erlass des Parliament Act 1911, schrieb Dicey, dieses Gesetz, mit dem die politische Stellung des vom Volk gewählten House of Commons als alles entscheidende Institution gegenüber den nichtgewählten Institutionen der Krone und des House of Lords konstituiert wurde, sei „the last and greatest triumph of party government“205, nicht ohne klarzustellen, dass der Begriff der Parteienregierung keineswegs negativ zu bewerten ist und „not the accident or corruption, but, so to speak, the very foundation of our constitutional system“206 ist.207 Auch der verbreitete208 Definitionsversuch der zeitgenössischen Rechtswissenschaft von Adam Tomkins und Colin Turpin, demzufolge die britische Verfassung als „a body of rules, conventions and practices which describe, regulate or qualify the organisation, powers and operation of government and the relations between persons and public authorities“209 zu verstehen ist,210 ist nicht hinreichend. Zwar versuchen auch diese und ähnliche211 materielle Definitionen die Aspekte des law in books und die des law in action zu verbinden,212 indem sie von rules, also positivem Recht, und von conventions und practices, vor allem Verfassungskonventionalregeln, sprechen. Schon ihre Urheber selbst weisen auf die Unzulänglichkeiten ihres Definitionsversuchs hin.213 So ist nicht nur der verwendete Begriff des government vage und unbestimmt. Dieser Begriff umfasst nämlich i. e. S. die Institutionen der beiden Häuser des Parlaments, die Königin, die Gerichte, die Devolutionsvolksvertretungen. Versteht man 205
Dicey, Constitution, S. 68. Dicey, Constitution, S. 68. 207 Vgl. hierzu Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (722). 208 Statt vieler Madgwick/Woodhouse, Constitution, S. 9 mit Würdigung des Wortlauts von Turpins Definitionsversuch. 209 Siehe für diesen Wortlaut Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 4. Für die deutschsprachige Literatur siehe auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 505: „Die Verfassung umfaßt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt.“ 210 Ursprünge für diese Definition lassen sich schon bei staatsphilosophischen Denkern des 18. Jahrhunderts, namentlich etwa beim britischen Politiker und Aufklärer Henry St. John (Lord Bolingbroke), finden. Bolingbroke, Dissertation Upon Parties, S. 88: „By constitution we mean, whenever we speak with propriety and exactness, that assemblage of laws, institutions and customs, derived from certain fixed principles of reason, directed to certain fixed objects of public good, that compose the general system, according to which the community hath agreed to be governed.“ 211 Siehe nur Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 1: Verfassungen sind „codes of norms which aspire to regulate the allocation of power, functions, and duties among the various agencies and officers of government, and to define the relationships between these and the public“. 212 Zu den Begriffen siehe Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 4. 213 Vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 4: „But such a definition, even if formally adequate, would fail to reveal some important features of the constitution.“ 206
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
den Begriff des government umfassender, fallen darunter auch die europäischen Institutionen, wie (noch) die der EU und des EGMR. Möglicherweise fallen hierunter auch politische Parteien, sofern diese als public authorities zu qualifizieren sind.214 Nicht unproblematisch ist die Abgrenzung von Institutionen der staatlichen und gesellschaftlichen Sphäre nämlich, wenn in dem Kontext der staatlichen Institutionen unter Einschluss der Parteien zuweilen vom UK Government die Rede ist. Dies könnte nach einer Lesart u. a. den gesamten staatlichen politischen Willensbildungsprozess umfassen und damit auch die Mitgliederpartei außerhalb des Parlamentes.215 Dies deckt sich insofern auch mit der Feststellung, dass die britische Verfassung nicht als ausschließliche legal constitution oder political constitution zu verstehen, sondern für sie ein vermittelnder Ansatz zu wählen ist. Das Vereinigte Königreich hat hiernach eine mixed constitution.216 Mithin zeigt sich, dass eine rechtlich konturierende Definition der britischen Verfassung nicht möglich ist. Letztlich wird minimalkonsensfähig sein, mit Samuel Finer, Vernon Bogdanor und Bernard Rudden von einer „indeterminate, indistinct and unentrenched“217 britischen Verfassung zu sprechen. Besonders trefflich beschreibt Königin Elizabeth II. die Natur der britischen Verfassung, wenn sie sagt: „The British Constitution has always been puzzling and always will be.“218 Gerade im Hinblick auf den politischen Prozess als Gegenstand dieser Untersuchung ist aus den Erkenntnissen der allgemeinen Verfassungslehre festzuhalten, dass eine jede Verfassung stets als ein Stück Kultur zu verstehen ist. Verfassungen sind damit „nicht nur juristischer Text oder normatives Regelwerk, sondern Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen“.219 Dieses gemischt-kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis (Peter Häberle) gilt insoweit für das Vereinigte Königreich noch mehr als für andere, 214 Dafür Morris, Parliamentary Elections, S. 126 ff. Dagegen aber bereits Ewing, Cost of Democracy, S. 63 mit dem Hinweis, Parteien seien dies noch nicht: „So although they perform public functions, political parties are not yet public bodies.“ 215 Zu dem Ganzen auch Hartley/Griffith, Government and Law, S. 1, mit der Differenzierung zwischen einem formalen Government-Begriff für die Crown-in-Parliament und „that of governing“, d. h. den Willensbildungsprozess und dessen Umsetzung. Daher fallen unter letzteren, funktionalen Begriff auch die politischen Parteien mit ihren außerparlamentarischen Organisationen (die a. a. O., S. 11 ff. ausführlich gewürdigt werden). Siehe auch nochmals für die Definitionen des politischen Systems Abromeit/Stoiber, Demokratien im Vergleich, S. 20 ff. Juristisch definiert umfasst der Begriff die in der Verfassung genannten Staatsorgane. Akteurstheoretisch fallen darunter auch gesellschaftliche Institutionen, etwa die politischen Parteien (a. a. O., S. 23). 216 Dazu etwa Tomkins, Political Constitution?, GLJ 2013, S. 227: „The British constitution is indeed now a ,mixed constitution.‘ […]. If we are to understand the contemporary British constitution, we must understand both its political and its legal dimensions.“ 217 Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 40. 218 Zitiert nach Bogdanor, Constitution, S. 95. 219 Häberle, Verfassungslehre, S. 9.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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insbesondere für formal konstituierte Verfassungsstaaten und ist dem gesamten politischen Prozess, inklusive der innerparteilichen Willensbildung, im Vereinigten Königreich zu Grunde zu legen. 2. Quellen der britischen Verfassung a) Überblick Fehlt es der britischen Verfassung an einem formellen220 Verfassungsdokument, ist materiell221 auf einen Kanon verschiedener Quellen zurückzugreifen. Diese sind zuvorderst das Common Law222 und die legislation (Acts of Parliament, Gesetze). Darüber hinaus sind die constitutional conventions (Verfassungskonventionalregeln), law and customs of the Parliament (Parlamentsinnenrecht) Teil der Verfassung. Unter dem zuletzt Genannten sind als law zunächst einmal die Geschäftsordnungen, aber auch andere parlamentsinterne Regeln mit deklaratorischem Charakter zu verstehen. Unter customs sind ungeschriebene parlamentarische Gepflogenheiten zu subsumieren. Subsidiär wird außerdem auf Lehrmeinungen angesehener Autoren, die sog. books of authorities, zurückgegriffen.223 Letztlich soll nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht sogar das Parteisatzungsrecht224 als Quelle des britischen Verfassungsrechts angesehen werden, wenn es bspw. um die 220 Für die Abgrenzung zur Verfassung im materiellen Sinne und Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 43: „Die in einer Verfassungsurkunde niedergelegten Normen bezeichnet man als ,Verfassung im formellen Sinn‘. Deren Inhalt wird sich weitgehend, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, mit der Verfassung im materiellen Sinn decken.“ 221 Vgl. für den Begriff der „Staatsverfassung im materiellen Sinn“ als „die Gesamtheit der grundlegenden rechtlichen Regeln, nach denen Menschen als staatliche Gemeinschaft zusammenleben, mögen diese Regeln schriftlich niedergelegt sein oder nicht“, nochmals Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 42 f. 222 Der Begriff des Common Law wird in verschiedener Weise definiert: Erstens als Bezeichnung des angelsächsischen Rechtskreises im Gegensatz zum Civil Law-Rechtskreis, also jener des kontinentaleuropäischen Rechts. Zweitens als das von Richtern entwickelte Recht in Abgrenzung zum geschriebenen Recht, das durch das Parlament gesetzt wird (statute law). Drittens historisch als gemeines Rechts, welches von reisenden Richtern (itinerant justices oder justices in eyre) des königlichen Gerichts zu Westminster gebildet wurde. Es ist damit der Gegenbegriff zur Equity, dem Recht, das von dem zentralen Court of Chancery entwickelt wurde. Vgl. nur Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 185; Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 57 f. 223 Vgl. v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 50; Slapper/Kelly, English Legal System, S. 94 mit einigen Beispielen. 224 So ausdrücklich unter die Quellen des Verfassungsrechts subsumiert von Alder, Constitutional Law, S. 24, 33 f., welcher den „rules of political parties“ eine „considerable constitutional importance“ (a. a. O., S. 33) hinsichtlich der Wahl des Parteiführers beimisst. So ist dies im Lichte der Verfassungskonventionalregel zu sehen, nach welcher der Parteiführer der stärksten Partei im House of Commons Premierminister wird. Aus rechtsvergleichender Perspektive betrachtet kann man außerdem Programme politischer Parteien bisweilen als „Lieferant“ für neue Verfassungstexte bezeichnen, vgl. Häberle, Rechtsvergleichung, S. 5, der sich auf programmatische Beispiele wie Sozialstaats- oder Umweltthemen bezieht.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Wahl des Parteiführers und die damit gegebene Qualifikation für die Premierministerschaft geht. b) Bedeutung der Gesetze als Verfassungsrechtsquelle Diese Gesamtschau der Rechtsquellen der britischen Verfassung lässt die Korrektur von zwei naheliegenden Fehlschlüssen, die erneut dem formalen Verfassungsverständnis eines kontinentaleuropäischen Betrachters entspringen, erforderlich werden. Zum einen ist die britische Verfassung entgegen der gängigen und auch unter Juristen verbreiteten Formulierung nicht in Gänze ungeschrieben,225 sondern die diversen verfassungsrechtlichen Quellen sind schlicht nicht in einem Dokument kodifiziert.226 Zum anderen kann der eingangs in diesem Kapitel genannte Dreiklang der Rechtsquellen für das Parteienrecht – Verfassung, Gesetze, Gerichtsentscheidungen – nicht auf diese unkodifizierte britische Verfassung übertragen werden, da ja gerade die Gesetze und Gerichtsentscheidungen Rechtsquellen und damit Teil der Verfassung sind. Daraus ergibt sich auch, dass die implizierte Hierarchisierung der Rechtsquellen, also eine klassische Normenhierarchie zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht, der britischen Verfassungsordnung nach orthodoxer Meinung ebenfalls fremd ist. Dies wurzelt letztlich in der Parlamentssouveränität. Es gilt deshalb zu beachten, dass ausnahmslos alle Gesetze der ständigen Veränderungsmacht des Parlaments (positive Parlamentssouveränität) unterliegen. Zugleich fehlt es an einer Kontrollinstanz der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit (negative Parlamentssouveränität).227 Aus all diesen Gründen ist es schlechthin unmöglich, enumerativ jene Gesetze aufzulisten, die zum Bestand des Verfassungsrechts gehören.228 Sind mangels eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens „Verfassungsgesetze“ ohnehin verfahrens225
So handelt es sich bei dem Begriff der „Ungeschriebenheit“ schon um einen solchen der deutschen Verfassungsrechtsterminologie. Britische Gerichtsentscheidungen sind als richterrechtlich gesetzte Normen zu verstehen und sind damit auch geschriebenes Recht. Somit lässt sich der Vorwurf der fehlenden Normativität der britischen Staatsordnung entkräften. Vgl. dazu v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 41, 45; Barendt, Is There a United Kingdom Constitution?, OJLS 1997, S. 137 (140). 226 Die oftmals vorzufindende Terminologie von der „ungeschriebenen“ britischen Verfassung ist sprachlich verwirrend, juristisch engt sie die Existenz einer Verfassung auf den formalen Verfassungsbegriff ein. Vgl. v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 30 ff., 50 ff. Für die Verwendung des Begriffs der ungeschriebenen Verfassung spricht sich Blackburn, Halsbury’s Laws of England, Constitutional and Administrative Law, Bd. 20, Ch. 1. para. (1) 2. aus. Gleichwohl verweist er auf die Kritik in der Literatur, etwa der von Youngs, Comparative Law, S. 2 f.; King, British Constitution, S. 5. 227 Vgl. Bogdanor, Politics and the Constitution, S. 5 f.; v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 31, 51. 228 So auch Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 41, die feststellen, dass es an einer „authoritative selection of statutes, conventions, common law rules“ mangelt und dass „every author is free to make a personal selection and to affirm that this is the one, even the only one, that embraces all the most important rules“ .
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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rechtlich bereits nicht abgrenzbar,229 führte auch ein in der Literatur zuweilen vorgeschlagener materiell-rechtlicher Ansatz zu Problemen. Nichtsdestoweniger unternehmen bisweilen die Rechtsprechung,230 vorwiegend aber das Schrifttum derartige Versuche. Im Jahre 1992 kompilierten der amerikanische Verfassungsrechtler Albert Blaustein und der Politologe Gisbert Flanz über 300 britische Gesetze, die sie zu den constitutional statutes zählten. Darunter waren etwa die Magna Carta 1215 und die Bill of Rights 1689, die Parliament Acts 1911 und 1949, der Crown Proceedings Act 1947, der Parliamentary Commissioner Act 1967, der European Communities Act 1972 sowie der Race Relations Act 1976.231 Die renommierten232 Blackstone’s Statutes on Public Law and Human Rights beinhalteten im Jahr 2015/ 2016 Auszüge von über 100 Gesetzen, von denen 74 in den letzten 20 Jahren erlassen worden sind und zu denen u. a. das britische Parteiengesetz, der PPERA 2000, zählt.233
229 Siehe für die Rechtsprechung des House of Lords nur Edinburgh and Dalkeith Railway Co v Wauchope [1842] 8 Cl & Fin 710 – Campbell LJ: „[A]ll that a Court of Justice can do is to look to the Parliamentary roll: if from that it should appear that a bill has passed both Houses and received the Royal Assent, no Court of Justice can inquire into the mode in which it was introduced into Parliament, nor into what was done previous to its introduction, or what passed in Parliament during its progress in its various stages through both Houses.“ Siehe dazu und für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 62 ff. 230 In einem obiter dictum der wegweisenden Entscheidung der Queen’s Bench Division des High Court of Justice im Fall Thoburn v Sunderland City Council [2003] ] Q.B.D. 151 entwickelte Laws LJ ein Konzept der Hierarchisierung von Gesetzen im Sinne der Trennung zwischen einfachem Gesetzesrecht und besonderem Verfassungsrecht. Kriterien für die Feststellung der Zugehörigkeit einer gesetzlichen Norm zum Verfassungsrecht sind nach Laws LJ: (1) Eine Regelung der Beziehung zwischen Staat und Bürger in einer grundlegenden Weise oder (2) die Erweiterung oder Verkürzung von Grundrechten durch das in Frage stehende Gesetz. Im Kern drehen sich diese Kriterien mithin um Grundrechte. Sodann nennt er als zum Verfassungsrecht gehörende Gesetze exemplarisch ältere, teilweise seit Jahrhunderten geltende Normen, wie etwa die Magna Charta 1215, die Bill of Rights 1688, den Act of Union 1707, die Reform Acts 1832, 1867 und 1884, aber auch den European Communities Act 1972. Laws LJ schließt dazu auch die jüngeren Gesetze der Verfassungsreform unter Blair ein, wie den Human Rights Act 1998, den Scotland Act 1998 und den Government of Wales Act 1998. Aus der großen Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Gesetze schließt Laws LJ die Nichtanwendbarkeit der implied repeal-Doktrin und das Erfordernis der ausdrücklichen Rücknahme bzw. Änderung durch ein späteres Gesetz. Vgl. für die Rezeption in der Literatur statt vieler Bogdanor, Constitution, S. 277. Soweit ersichtlich, ist in Literatur und Rechtsprechung bisher ungeklärt, ob der PPERA 2000 diesen Test bestehen würde und damit zu den Verfassungsgesetzen zählen würde. 231 Blaustein/Flanz, Constitutions of the Countries of the World, zitiert nach Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 5. 232 Siehe dafür Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 4. 233 Lee (Hrsg.), Blackstone’s Statutes on Public Law, passim (insb. S. 223 für den PPERA 2000).
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
c) Parteieninnenrecht als Verfassungsquelle? aa) Meinungsstand: Parteisatzungen als Verfassungsquellen i. w. S. nach John Alder Nach einer älteren in der britischen juristischen Literatur vertretenen Ansicht wird sogar das Binnenrecht der Parteien, d. h. das Parteisatzungsrecht, expressis verbis234 als Quelle der Verfassung angesehen.235 Einige der von dem Vertreter dieser Ansicht, dem britischen Verfassungsrechtler John Alder, erwähnten Beispiele für die verfassungsrechtliche Relevanz des Parteisatzungsrechts sind in dem vorliegenden Werk bereits aufgeworfen worden. So ist die Frage der Ernennung des Premierministers durch die Krone heute durch die Auswahl in den Parteien prädeterminiert. Auch ein Kandidat für das House of Commons muss heute praktisch immer einer Partei angehören, da es de facto keine realistischen Chancen gibt, ohne eine Parteimitgliedschaft einen Sitz zu erlangen.236 Dass es sich beim Parteisatzungsrecht um eine Quelle der Verfassung im britischen Verfassungsverständnis handelt, belegt Alder auch folgerichtig mit zwei Argumenten: So sind die internen Vorschriften der Parteien, wie andere Quellen der britischen Verfassung, seien es Verfassungskonventionalregeln oder Gebräuche des Parlaments, kein strict law, sondern Regeln i. w. S. Diese Regeln eint, dass sie einen „way of behaving that is felt to be binding“237 beinhalten, der juristisch und politisch 234
Für andere, implizite Einordnungen des Parteisatzungsrechts als Verfassungsrecht siehe sogleich. 235 Alder, Constitutional Law, S. 23 f., 33. In den jüngeren Auflagen seines Standardwerkes erwähnt Alder das Parteisatzungsrecht nicht mehr in dieser ausdrücklichen Form als eigenständige Quelle der Verfassung. So heißt es in der Auflage von 2015 nur noch: „There are also ,practices‘ which maybe of fundamental constitutional significance even though they are not in any sense binding as rules. The most obvious of these is the existence of political parties through which contenders for power organise themselves. There is no legal or conventional requirement that there be political parties. Strictly speaking, a political party is a private voluntary organisation, albeit regulated to prevent parties abusing the electoral process (PPERA 2000). Because the leader of the majority party in the House of Commons normally becomes the prime minister, the internal rules of each party for choosing its leader are of fundamental importance. Indeed it has been said that: parties have substituted for a constitution in Britain. They have filled all the vast empty spaces in the political system where a constitution should be and made the system in their own image.“ Alder, Constitutional Law (10. Aufl.), S. 56 f. 236 Siehe statt vieler Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law, S. 155. So wurde etwa im Jahre 1997 der BBC-Korrespondent Martin Bell für den Wahlkreis Tatton gewählt. Im Jahre 2005 schaffte dies auch der frühere Minister der walisischen Regierung und vormalige Labour-Politiker Peter Law als Unabhängiger für Blaenau Gwent. Beide Fälle zeigen zugleich, dass es zumindest einer gewissen individuellen Popularität bedarf, um als parteiunabhängiger Kandidat gewählt zu werden. 237 Alder, Constitutional Law, S. 23 f.: „Each of these, except for political practices, has the common element of involving a ,rule‘ in a broad sense.“ Als Quellen der Verfassung nennt Alder: 1. The Basic Principle, 2. General political and moral values, 3. Strict law, 4. Conventions of the constitution, 5. Political practices, 6. The rules of the political parties und 7. International law.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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oder eben nur politische Bindungswirkung entfaltet. An dieser Stelle sei an die derzeitige, aber nicht auf ewig ipso jure verpflichtend geltende Akzeptanz der Krone, nur noch einen bereits nach Parteisatzungsrecht gewählten Parteiführer zum Premierminister zu ernennen, zu denken. Aus der Parteizugehörigkeit der Regierungsund Parlamentsmitglieder ergibt sich auch die Folgefrage des gebundenen Mandats in der Legislative und der Exekutive (party in public office). Alder weist in diesem Kontext auf zwei weitere Aspekte hin. Einerseits sind die Regeln der Parteien rechtlicher Natur und damit im Gegensatz zu Verfassungskonventionalregeln durch Gerichte durchsetzbar. Andererseits bleibt zu berücksichtigen, dass sie nur solche des Privatrechts238 sind.239 Dies führe dazu, dass die Freiheit der „Parteivertreter“ in Legislative oder Exekutive juristisch nicht einschränkbar sei.240 So lehnt er mit der h. M. in der Literatur ein imperatives Mandat ab,241 obschon dieses durchaus von Gerichten im Hinblick auf die Umsetzung von Parteiprogrammen auf kommunaler Ebene angewendet wird.242 bb) Bewertung: Achtung des Parteibinnenrechts als politische Tradition mit der wohl h. M. Aus deutscher Perspektive betrachtet klingt die Einordnung des Parteisatzungsrechts als Verfassungsrecht befremdlich, solange von einem formellen Verfassungsverständnis ausgegangen wird.243 Dieses würde aber den Blick auf eine fremde Verfassung unnötig verengen, das Erfassen der fremden Verfassungskonzeption gar behindern. Es ist deshalb nochmals festzustellen, dass ein formelles Verfassungs238 Siehe zur Abgrenzung zwischen dem Privatrecht und dem Öffentlichen Recht im Vereinigten Königreich die Übersicht bei Webley/Samuels, Public Law, S. 4 f. Rechtsprechung und Literatur haben der deutschen Konzeption nicht unähnliche Abgrenzungskriterien entwickelt. Etwa lässt sich auf das Rangverhältnis im personalen Anwendungsbereich abstellen. So gestaltet das Privatrecht die rechtliche Beziehung zwischen zwei Individuen auf horizontaler Ebene, während das Öffentliche Recht die Beziehung zwischen state and state bodies zu Individuen behandelt. Siehe für Darstellung diverser Konzepte zur Abgrenzung auch Loughlin, Public Law, S. 2 ff. Unklar bleibt dabei, was unter state and state bodies oder public bodies oder public authorities zu fassen ist und ob darunter ggf. sogar die politischen Parteien außerhalb des Parlaments fallen. Weiterführend Morris, Parliamentary Election, S. 122 ff. 239 Zum Ganzen Alder, Constitutional Law, S. 33. 240 Vgl. dazu an dieser Stelle Brazier, Constitutional Practice, S. 13 ff. 241 Siehe aus dem Schrifttum hierzu Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 526 ff. m. w. N. auf die parlamentarischen Debatten. 242 Anders aber die Entscheidung des House of Lords in der Sache Secretary of State for Education and Science v Tameside Metropolitan Borough Council [1977] AC 1014 (1051). Wilberforce LJ urteilte, dass die im Wahlprogramm der Conservative Party explizit versprochene Erhaltung einer Schule später auch im Amte (da sie eine Mehrheit in dem Stadtteilparlament erhielt) umzusetzen war („entitled – indeed in a sense bound – to carry out the policy on which it was elected“). 243 Vgl. für das deutsche formelle Verfassungsverständnis erneut v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 37.
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verständnis schlechthin nicht auf die verfassungsrechtliche Situation des Vereinigten Königreichs anwendbar ist. Alder argumentiert für die verfassungsrechtliche Relevanz des Parteisatzungsrechts vom Standpunkt der Verfassungsrealität, weil bspw. ohne von einer Partei aufgestellt zu sein, nahezu keine Chance existiert, in das House of Commons gewählt zu werden. Dies alleine unterscheidet sich auch nicht von der Realität der deutschen Parteiendemokratie.244 Jedoch sind wegen des materiellen Verfassungsbegriffs Verfassungsrealität und Verfassungsrecht im Vereinigten Königreich anders miteinander verbunden als etwa in Deutschland. In Deutschland und anderen formellen Verfassungsstaaten sorgt die Trennung zwischen dem öffentlich-rechtlichen Parlamentsrecht, dem Fraktionen und Abgeordnete unterliegen, und dem zivilrechtlichen Parteienrecht, etwa für die Nominierung von Spitzenkandidaten oder Aufstellung von Parteiprogrammen, dafür, dass sich das Parteienrecht als Teil des Zivilrechts darstellt. Politische Entscheidungen innerhalb der Partei, die sich in Partei- und Wahlprogrammen manifestieren, sind aus deutscher Sicht zwar durchaus „Lieferanten“245 für neue, ja öffentlich-rechtliche Verfassungstexte. Um aber zum Verfassungstext zu werden, bedarf es stets eines formellen Umsetzungsaktes öffentlich-rechtlicher Art, z. B. eines Parlamentsbeschlusses für die Wahl des Regierungschefs oder der Änderung der Verfassung, um diese in Einklang mit einem Wahlprogramm zu bringen. Selbiges gilt vice versa für parteiinterne Personalentscheidungen, etwa die Nominierung eines „Kanzlerkandidaten“. Im Vereinigten Königreich können diese Fragen nicht so einfach der zivilrechtlichen, innerparteilichen Sphäre zugeordnet werden; darauf kommt es aber im Ergebnis auch nicht an. Die Entscheidung über die Parteiführerschaft ist zumindest in den für eine Regierungsbildung aussichtsreichen Großparteien, der Labour Party und der Conservative Party, entscheidend für die spätere Premierministerschaft. Zwar steht hier ein öffentlich-rechtlicher Wahlakt gleichsam dazwischen, diese (theoretische) Problematik wird allerdings durch das Institut der Verfassungskonventionalregel und die damit verbundene freiwillige reziproke Bindung aller beteiligten Akteure an politische Traditionen entschärft. Das britische Verfassungsrecht in toto ist – und nicht nur auf Verfassungskonventionalregeln bezogen – von „very little ,hard law‘“ geprägt als von „what different groups believe to be the role of the state, the extent of individual self-determination, and the differing values of groups within society.“246 Diese rechtspraktische Sichtweise in Anlehnung an Diceys Verfassungsverständnis fasst Blackburn zusammen, wenn er sagt, „that the function of a trained lawyer is not to know what the law was yesterday […] or what it ought to be 244 Nur bei der ersten Bundestagswahl 1949 schafften es drei unabhängige Kandidaten in den Bundestag. Ergebnisse aller Wahlen seit 1949 abrufbar unter http://www.bundeswahlleiter. de/de/bundestagswahlen/fruehere_bundestagswahlen/btw1949.html (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 245 Häberle, Rechtsvergleichung, S. 5, der sich ausdrücklich auf programmatische Beispiele wie Sozialstaats- oder Umweltthemen bezieht. 246 Webley/Samuels, Public Law, S. 5 f.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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tomorrow, but to explain what are the principles of law actually existing in England.“247 Alder steht in dieser Auflage seines Lehrbuchs im Vereinigten Königreich nicht allein da in der Einordnung von Parteisatzungsrecht als Verfassungsrecht, insofern andere Autoren dies zumindest implizit vornehmen. Stellvertretend sei nur genannt, dass bei Turpin/Tomkins248 als auch Bradley/Ewing/Knight249 die Parteien und ihr Parteisatzungsrecht ausführliche Berücksichtigung in diesen Lehrbüchern zum britischen Verfassungsrecht finden. Die Auffassung dieser Autoren scheint Alder in den jüngeren Auflagen seines Lehrbuchs auch zu teilen.250 Einen anderen, aber gleichsam expliziten Ansatz wählt Morris, die in ihrer Monografie zum britischen Wahlrecht die innerparteiliche Kandidatenaufstellung (quasi) öffentlich-rechtlich behandelt sehen will.251 3. Status der Parteien nach dem Gesetz Dass das Parteienrecht i. w. S.252 aufgrund der funktionalen Bedeutung der Parteien im britischen Verfassungskonstrukt bzw. im politischen System zum Verfassungsrecht gehört, ist unbestritten. Deshalb werden der inzwischen aufgehobene 247
Vgl. Blackburn, Dicey, P.L. 1985, S. 679 (681 f.). Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 548 ff. Dabei ist zu vermerken, dass der Abschnitt zu den Parteien noch in der Vorauflage von 2007 wesentlich detaillierter hinsichtlich Kandidatenauswahlverfahren und Programmaufstellung in den drei großen Parteien war. Vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 540 ff. 249 Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 ff. unter der Kapitelüberschrift „The institutions of government“. 250 So erwähnt er in den jüngeren Auflagen seines Standardwerkes das Parteisatzungsrecht nicht mehr in dieser ausdrücklichen Form als eigenständige Quelle der Verfassung. Vielmehr heißt es in der Auflage von 2015 nur noch: „There are also ,practices‘ which maybe of fundamental constitutional significance even though they are not in any sense binding as rules. The most obvious of these is the existence of political parties through which contenders for power organise themselves. There is no legal or conventional requirement that there be political parties. Strictly speaking a political party is a private voluntary organisation, albeit regulated to prevent parties abusing the electoral process (PPERA 2000). Because the leader of the majority party in the House of Commons normally becomes the prime minister, the internal rules of each party for choosing its leader are of fundamental importance. Indeed it has been said that: parties have substituted for a constitution in Britain. They have filled all the vast empty spaces in the political system where a constitution should be and made the system in their own image.“ Alder, Constitutional Law (10. Aufl.), S. 56 f. 251 Am deutlichsten wohl Morris, Parliamentary Elections S. 120 ff., die von einem quasipublic status der Parteien ausgeht, speziell im Hinblick auf die Kandidatenselektion. Dies unterstützt auch Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 140 ff. Dem stehen aber die Rechtsprechung und die h. M. entgegen, siehe statt vieler Rawlings, Electoral Process, S. 107, 125: „[S]election procedures in British political parties are extralegal, in the sense that they are regulated not by public law of the state but by private law.“ 252 Vgl. für Definitionen unter Einschluss des Wahl- und des Parlamentsrechts Janda, Political Parties, S. 3 ff. m. w. N. 248
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Registration of Political Parties Act 1998 und der ihn ersetzende und bis heute geltende PPERA 2000 dem Korpus an Verfassungsgesetzen zugeordnet. Zum einen erfolgte dies politisch, da die beiden Gesetze im Rahmen der Verfassungsreform der Regierung unter Blair erlassen wurden. Zum anderen sehen Rechtsprechung und das juristische Schrifttum dies ebenso.253 Auch einige gesetzliche und untergesetzliche Normierungen des Parteiwesens, die weit vor der Verfassungsreform ab 1998 erlassen wurden, sind dem Verfassungsrecht zuzurechnen. Freilich regelt die materielle britische – wie eine jede – Verfassung „the allocation of powers, functions and duties among the various agencies or officers of government.“254 Sie definiert die demokratischen „rules of the game“255. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass die Parteien im britischen Verfassungsrecht, ja ihre Funktionen und ihr inneres Funktionieren im Recht überhaupt berücksichtigt werden. Denn wenn die unkodifizierte britische Verfassung Staatsform und Regierungssystem, die demokratische Teilhabe256 festlegt, stellen diese Regelungen vor allem den Umriss des Aktionsradius der Parteien dar. Angesichts dessen und der herausragenden Bedeutung der Parteien in der Verfassungsrealität kommentiert der britische Verfassungsrechtler Eric Barendt in seinem Lehrbuch im Jahr 1998: „One might, therefore, expect constitutions to lay down some framework rules for political parties, at least to prevent them from adopting totalitarian policies and to safeguard the rights of individual members. But constitutions rarely say much about parties, while some have totally ignored their existence. The United States Constitution has never taken any notice of them, an attitude which is shared by the uncodified arrangements in the United Kingdom.“257
Diese Nichtbeachtung der Parteien in der formellen Verfassung der USA etwa ist Ausdruck jener liberalen Denkschule des 18. Jahrhunderts, die durch eine Antiparteienhaltung gekennzeichnet war.258 Wenn, wie in den USA, auch im Vereinigten Königreich keine ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Regelungen des Parteiwesens im Allgemeinen und ihrer inneren Ordnung im Besonderen gegeben sind, zeitigt dies – so auch Barendt259 – noch nicht den Schluss, dass die Parteien von diesen Verfassungen in Gänze unberücksichtigt blieben. In den USA bezogen in der Entstehungsgeschichte der Verfassung die Verfassungsväter wie James Madison oder 253
Aus dem umfassenden Schrifttum für die rechtliche Einordnung Ewing, Cost of Democracy, S. 63. Siehe für eine interdisziplinäre Betrachtungsweise Bogdanor, Constitutional Reform in Britain, ARPS 2005, S. 73 (75); ders., Constitutional Reform, in: P.Q. 2011, S. S53 (S54) [sic!]. In den Blackstone’s Statutes zum Public Law wird daher der PPERA 2000 auch auszugsweise als verfassungsrechtlich relevantes Gesetz wiedergegeben, vgl. Lee (Hrsg.), Blackstone’s Statutes on Public Law, S. 223 ff. 254 Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. VIII, 1. 255 Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. VIII, 1. 256 Beispiele bei Gauja, Political Parties and Elections, S. 23 f. 257 Barendt, Constitutional Law, S. 149 m. w. N., Herv. d. Verf. 258 Siehe für die USA Epperson, Changing Legal Status of Political Parties, S. 3. 259 Barendt, Constitutional Law, S. 149 m. w. N.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Alexander Hamilton260 oder später auch George Washington261 das sich abzeichnende bipolare Parteiensystem in ihre staatsphilosophischen Überlegungen ein. In der Folge wurde die Verfassung der USA so konstruiert, dass eklatante Machtgefälle zugunsten einer Partei durch eine elaborierte föderale Struktur und eine Machtbalance zwischen den beiden Häusern des Kongresses, sowie zwischen dem Präsidenten und den Bundesstaaten, ausgeglichen werden sollten (checks and balances).262 All dies gilt für die Verfassung des Vereinigten Königreichs nicht, zumindest nicht in dieser Form.263 Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Sie liegen z. B. in der Organisationsgeschichte der Parteien als Massenorganisationen begründet. Anders als in den USA, in denen sich das Parteiensystem und die Verfassung parallel entwickelten, betraten im Vereinigten Königreich die Parteien erst ab den 1860er Jahren die nationale politische Bühne. Zu diesem Zeitpunkt waren die britische Verfassung und mit ihr das politische System schon Jahrhunderte lang gewachsen. Überdies fehlt nicht nur die für eine ausdrückliche Regelung unabdingbare Verfassungsurkunde, sondern bis 1998/2000 jegliche einfachgesetzliche Spezialregelung. Barendt nennt expressis verbis auch jene zur innerparteilichen Demokratie in Form eines Parteiengesetzes. Auch dieser Umstand hat seinen Ursprung in der britischen Verfassungstradition und insgesamt in dem Rechtsverständnis. Umfassenden Regelungen aller auch nur hypothetisch denkbaren Lebenssachverhalte steht die britische Verfassungstradition „hostile“264 gegenüber. Demnach waren die Par260
Es handelte sich um die Federalist Papers No. 10. Siehe dazu Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (249); Barendt, Constitutional Law, S. 150 m. w. N.; Epperson, Changing Legal Status of Political Parties, S. 3. 261 „Let me now take a more comprehensive view and warn you in the most solemn manner against the baneful effects of the Spirit of Party.“ So George Washington in seiner Farewell Address vom 19. September 1796, zitiert nach Gardner, Can Party Politics Be Virtuous?, CLR 2000, S. 667 (667 f.). Ausführlich hierzu auch Gauja, Political Parties and Elections, S. 31 m. w. N.: „Parties were criticized as unnecessarily divisive, the cause of needless social conflict, appealing to and acting as the instruments of narrow and special interests (the tyranny of the minority).“ 262 Barendt, Constitutional Law, S. 150; Torres-Spelliscy/Fogel, Corporate Political Spending, USFLR 2011, S. 525 (536 f.); Calabresi, Political Parties, UCLR 1994, S. 1479 (1533) mit einem Vergleich zur britischen Parteiendemokratie: „The Framers of the Constitution were opposed to the idea of party-based government, as they understood it, for reasons that remain basically sound today. Accordingly, they deliberately designed our constitutional structure to inhibit all forms of party-based government, thus unintentionally foreclosing any possibility of an emergence in this country of the then-unbeknownst British style of parliamentary government. They did their work better than they knew. The resulting constitutional system of separation of personnel, of geographically centrifugal interests, and of a radically pluralistic social structure makes British-style ,party government‘ almost impossible in this country.“ 263 So Barendt, Constitutional Law, S. 152 f.; gleichfalls prägnant Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717). 264 Barendt, Constitutional Law, S. 153; siehe auch bei Straw, New Labour, P.A. 2010, S. 356 (359). Selbst verfassungsgeschichtlich zentrale Gesetze wie die Bill of Rights 1688 sind
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
teien seit ihrem Entstehen aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht weiter privilegiert; sie waren nichts anderes als private Vereinigungen. Sie hatten keinen besonderen rechtlichen Status im politischen Willensbildungsprozess. Im Innenverhältnis, d. h. zwischen der Partei und den Mitgliedern, fand nur das Vertragsrecht Anwendung. Im Außenverhältnis zwischen Partei und insbesondere dem Staat galt nur jenes Recht der unincorporated associations.265 Zwar findet sich diese Feststellung allenthalben im britischen Schrifttum266 wieder und ist im Grunde – vor allem sofern sie die innere Ordnung und die Rechtsbeziehung der Mitglieder untereinander und zur Partei regelt – mitnichten zu beanstanden. Jedoch birgt diese Aussage die Gefahr einer Verkürzung und Pauschalisierung der damaligen Rechtslage.267 Denn schon im Erscheinungsjahr von Barendts Werk wurde der Registration of Political Parties Act 1998 erlassen, mit dem die Labour Party im Wahlkampf des Jahres 1997 angetreten war.268 Selbst wenn man diese Absehbarkeit einer ausstehenden Regelung im Jahr 1998 außer Acht lässt, ist genauer zu untersuchen, wo sich dereinst Regelungen verbargen, welche die Parteien und ihre innere Ordnung betrafen und welche überdies von Verfassungsrelevanz waren.269 Bereits 1978 schrieb Quintin McGarel Hogg (Lord Hailsham), dass „political parties are no part of our constitution, but no part of our constitution can ignore their existence.“270
wie die gesamte Verfassungsreform unter der Regierung von Blair nur ad hoc-Maßnahmen zur Lösung konkreter Probleme gewesen. 265 So ausdrücklich Barendt, Constitutional Law, S. 153. Ähnlich bei Blondel, Voters, Parties and Leaders, S. 87; Ewing, Cost of Democracy, S. 63. Speziell mit Blick auf die inneren Angelegenheiten der Parteien Hartley/Griffith, Government and Law, S. 29: „It is remarkable how the organization of political parties in the United Kingdom has remained unaffected by the professions of the law. Statutes do affect some of their activities – especially their participation in elections – but their internal working is essentially uncontrolled by legal regulation. This is mainly because they operate as private organizations and so long as they do not infringe the rules of laws applying to people generally there is no immediate reason why the law should seek to lay down rules for their conduct.“ 266 So führt Bogdanor in seinem Aufsatz zu den Parteien in der Verfassung aus dem Jahr 2004 die Ausführung Ewings an, der in seinem Werk „The Funding of Political Parties in Britain“ aus dem Jahr 1987 schrieb, dass „[t]he only statute which deals directly with the affairs of political parties in Britain is the Sex Discrimination Act 1975“. 267 Barendt verweist zwar auf die Entscheidung Jepson v Labour Party [1996] I.R.L.R. 116 bzw. die Regulierung von Kandidatenlisten – hier der Labour Party – unter Beachtung des Sex Discrimination Act 1975. Dem räumt er allerdings nur eine Fußnote ein, siehe Barendt, Constitutional Law, S. 152. 268 Vgl. nur Straw, New Labour, P.A. 2010, S. 356 (358 f.). 269 In diese Richtung auch Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717): „Until then, although parties had of course been mentioned in various Acts of Parliament and in secondary legislation, they hardly existed as legal entities.“ Ähnlich bei Ewing, Cost of Democracy, S. 63 ff. 270 Hailsham, Democracy, S. 37. Siehe ebenfalls Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 147 ff.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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a) Parteien in Gesetzen und untergesetzlichen Regelungen vor 1998: pecunia nervus rerum In Bezug auf das gesamte Parteiwesen ist eine große Anzahl gesetzlicher und untergesetzlicher Regelungen relevant, die sich u. a. im Recht der Vereinigungen (insbesondere der Gewerkschaften), im Gesellschafts-, im Antidiskriminierungs-, im Wahl- und im Parlamentsrecht finden.271 Die Relevanz anderer Teilrechtsgebiete für das Parteienwesen insgesamt und die innerparteiliche Demokratie im Besonderen zeigt, dass vor der Einführung der Parteiengesetze im Jahr 1998/2000 die Parteien nur fragmentarisch berücksichtigt wurden. Obschon die Parteien mit ihrer im frühen 19. Jahrhundert begonnenen Entwicklung unter sukzessiver Ausweitung des Wahlrechts zu festen Institutionen der Staatspraxis avancierten, führte dies noch lange nicht zu einer positiven gesetzlichen Anerkennung der Parteien. Eingedenk dieser Entwicklungsgeschichte der Parteien verwundert es nicht, dass ihre rechtliche Anerkennung ihren Ursprung im Parlamentsrecht nahm. Hierauf soll der Blick gelenkt werden, da es einen engen Zusammenhang zwischen der Finanzierung der Parteien und ihrer inneren Ordnung gibt.272 aa) Fraktions- und Abgeordnetenfinanzierung: erste Anerkennung der Parteiendemokratie Ist ohne Parteien eine moderne parlamentarische Demokratie praktisch undenkbar, so ergibt sich zwangsläufig die Frage nach ihrer Finanzierung, im und auch außerhalb des Parlamentes.273 Speziell in Politik und Parteien bedeutet Geld Einfluss und Macht. Dies macht die Regulierung der Parteienfinanzierung zu einer condicio sine qua non für ihre Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit.274 Im Vereinigten 271 Vgl. Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 85; Schuster, Großbritannien, in: Wolfrum/ Schuster (Hrsg.), Kandidatenaufstellung, S. 90. Ähnlich mit Blick auf die innere Ordnung der Parteien Gauja, Impact of Party Law on Intra-Party Democracy, S. 2: „Rather, to ascertain the extent of the law’s impact on the internal organisation of political parties it is necessary to look at numerous other areas of law: electoral, campaign and finance law, employment law, the law of contract, administrative law and associations law.“ 272 Vgl. für Deutschland Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, S. 391 ff. Diese Aussage gilt mutatis mutandis auch für die Parteien im Vereinigten Königreich. 273 Hierzu speziell zum Vereinigten Königreich aus dem zahlreichen Schrifttum. Grundlegend hierzu Ewing, Funding of Political Parties, S. 1 ff., 11 ff., 130 ff.; Pulch, Parteienfinanzierung in Großbritannien und Frankreich, passim; Tsatsos, Parteienfinanzierung und Verfassung, in: Tsatsos/Elzinga (Hrsg.), Parteienfinanzierung im europa¨ ischen Vergleich, S. 13 ff.; Schmitt, Parteienfinanzierung in Großbritannien, passim; Römmele, Parteien- und Wahlkampffinanzierung, passim. Für die Regelung ab dem Jahr 2000 siehe nur Brändle, Parteienförderung, passim; Ewing/Rowbottom/Tham, Introduction, in: dies. (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 1 ff.; Ewing, Cost of Democracy, passim; Koole, Political Finance, in: Nassmacher (Hrsg.), Democracy, S. 73 ff. 274 Vgl. für das Vereinigte Königreich Rowbottom, Democracy Distorted, passim und speziell zum Einfluss auf Parteien, S. 112 ff.; Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (127).
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Königreich nahm die gesetzgeberische Regulierung der Politikfinanzierung ihren Ausgang bei den Parlamentsfraktionen und -abgeordneten im späten 19. Jahrhundert. Ausgehend von dieser wurde später die Regulierung der privaten Finanzierung der außerparlamentarischen Parteiorganisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert und schließlich Ende der 1990er Jahre eingeführt. Bis heute ist das britische System der staatlichen Parteienfinanzierung eines der am wenigsten elaborierten in Europa. Hingegen unterliegt die private Parteienfinanzierung seit dem Jahr 2000 einem der vergleichsweise strengsten Regulierungsregimes.275 (1) Finanzierung der Labour Party durch die Gewerkschaften Seit ihrer Gründung war die Labour Party gänzlich abhängig von den Zuwendungen der mitgliederstarken Gewerkschaften.276 Dieses Finanzierungssystem wurde jedoch schon bald nach ihrer Gründung Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen, die durch das House of Lords entschieden werden mussten. Darauf folgte der Erlass eines ersten Gesetzes, das die Parteien zumindest auch zum Regelungsgegenstand hatte. (a) Parteienzwangsabgabe der Gewerkschaftsmitglieder bis zum Osborne-Urteil von 1909 In Bezug auf die innere Ordnung, mithin die innerparteiliche Demokratie, war die Stellung der Gewerkschaften in der Labour Party seit jeher besonders stark. Die juristisch relevanten Faktoren, die dazu führten, waren die folgenden. Zunächst wurde auf den Parteitagen die Durchsetzung der politischen Leitlinien im Sinne der Gewerkschaften dadurch gesichert, dass es bis 1918 überhaupt nur eine korporative Mitgliedschaft in der Labour Party gab277 und die Gewerkschaften über die Möglichkeit verfügten, ihre Millionen Stimmen in einem block vote ihrer Delegierten zu bündeln.278 Darüber hinaus setzte die Parteisatzung fest, dass die Abgeordneten und eine Labour-Regierung an die Beschlüsse des Parteitages gebunden waren (r. II., 275 So Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (542) m. w. N.: „The Political Parties, Elections and Referendums Act 2000 will transform British political parties from being one of the least to being one of the most highly regulated in Europe.“ Gleichfalls bei Brändle, Parteienförderung, S. 199 f., der von einer „Überregulierung“ spricht. Siehe auch Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, S. 361 m. w. N. 276 Dies gilt praktisch bis heute. Statt vieler Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 544 f. 277 Vgl. Rowbottom, Institutional Donations, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 11 (23) m. w. N. 278 Siehe Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (109, 110) – Shaw LJ: „[T]he annual conference, which constitutes the ultimate governing body, may be composed according to money contributions by trade councils and local labour associations in such a way as to swamp larger component organisations, including the Amalgamated Society of Railway Servants, whose representation is confined to one voting card per 1,000 members.“ Ausführlich dazu Ewing, Cost of Democracy, S. 65.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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r. XIII. 2. (a) der Parteisatzung von 1906).279 Zudem spiegelte sich dieser Einfluss der Gewerkschaften finanziell mittelbar wie unmittelbar wider. Mittelbar wurde jeder Labour-Abgeordnete ab dem Jahr 1904 finanziell von der Partei unterstützt, die sich aus den Spenden der Gewerkschaften finanzierte. Unmittelbar wurden denjenigen Abgeordneten, die von einer Gewerkschaft aufgestellt wurden, Wahlkampf und ihre Mandatsausübung weitgehend bezahlt.280 Die genannten Zuwendungen der Gewerkschaften an Parteien und Kandidaten bzw. Abgeordnete wurden durch einen parliamentary oder political levy (Sonderbeitrag) der Gewerkschaftsmitglieder finanziert. Zur Entrichtung dieses Sonderbeitrages waren alle Mitglieder der Gewerkschaften, ungeachtet ihrer persönlichen Parteipräferenz, verpflichtet.281 Aus diesem Grunde wurde die zwangsweise Abgabe von einem mittleren Funktionär der Eisenbahnergewerkschaft, jener Gewerkschaft, die die Gründung der Labour Party initiierte, vor die Gerichte gebracht. In seiner Entscheidung in dem Fall Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne sprach das House of Lords im Jahre 1909 ein Finanzierungsverbot für die Parteien durch Gewerkschaften aus. In Anwendung der vornehmlich im Kontext des öf-
279 Auf dem Parteitag 1906 wurde eine Resolution angenommen, die dazu berechtigte, den Abgeordneten im House of Commons Weisungen zu erteilen. Diese wird schon vom Court of Appeal in dem Osborne-Fall zitiert, siehe Osborne v Amalgamated Society of Railway Servants (No. 1) [1909] 1 Ch. D. 163 (166 f.): „Rule II. Government of the Society. 1. For the supreme government of the society there shall be an annual general meeting.“ Sowie r XIII 2 (a): „III. Candidates and Members. – (1.) Candidates and members must accept this constitution; agree to abide by the decisions of the parliamentary party in carrying out the aims of this constitution; appear before their constituencies under the title of Labour candidates only; abstain strictly from identifying themselves with or promoting the interests of any party not eligible for affiliation; and they must not oppose any candidate recognized by the executive committee of the party. (2.) Candidates must undertake to join the Parliamentary Labour Party if elected.“ Vgl. aus dem Schrifttum McKenzie, Parteien in England, S. 319, 393; Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (240); Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (123 f.). Zu der Problematik in Bezug auf den Parteiführer der Labour Party siehe auch Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 236. Zwar ist dieser nach der Parteisatzung an Beschlüsse gebunden, die von mindestens zwei Dritteln der Delegierten des Parteitages getroffen werden, jedoch ist in der Praxis davon selbst bei fundamentalen Fragen abgewichen worden. Wilson und James Callaghan behielten die Atomwaffen in den britischen Streitkräften, obschon es eine klare Resolution ihrer Partei zur unilateralen Atomwaffenabrüstung gab. Vgl. auch den Fall aus dem Jahre 1975, als die Bergbaugewerkschaft sechs von ihr finanzierten Abgeordneten, darunter dem damaligen Secretary of State for Defence, Roy Mason, mit dem Entzug ihrer Gelder drohte, sollten sie sich den neuen programmatischen Richtlinien der Gewerkschaft widersetzen. Der Gewerkschaftsvorstand formulierte es daher so: „MPs must not speak or vote against the union policy“, zitiert nach Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 244 m. w. N. 280 Schmitt, Parteienfinanzierung in Großbritannien, S. 11. Zudem gab es ab 1911 eine Abgeordnetendiät i. H. v. jährlich 400 GBP. Die Unterstützung durch die Partei betrug 200 GBP p. a. 281 Näheres bei Ewing, Funding of Political Parties, S. 49 ff.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
fentlich-rechtlichen282 Handelns staatlicher Autoritäten entwickelten ultra viresLehre283 stellten die Lordrichter fest, dass die Beteiligung von Gewerkschaften am politischen Leben durch finanzielle Unterstützung einer Partei nicht mehr vom Gründungszweck einer Gewerkschaft, die unter den Trade Union Acts 1871 und 1876 registriert war, gedeckt war.284 Im Wege der statutory interpretation folgerten die Lordrichter, dass es nicht darauf ankommen könne, welchen Zweck die Gewerkschaft selbst in ihrer Satzung definierte, sondern darauf, ob parteipolitische Zwecke vom Gesetzgeber in der hier einschlägigen s. 16 Trade Union Amendment Act 1876285 vorgesehen waren.286 Von rechtshistorischer Relevanz ist die Entscheidung nicht nur mit Blick auf das Gewerkschaftswesen, sondern auch (und besonders) als erste Gerichtsentscheidung überhaupt, welche politische Parteien zum Gegenstand hatte.287 So legten die Lordrichter, insbesondere Shaw LJ – wie schon der zuvor mit der Sache befasste Court of Appeal – ein besonderes Augenmerk auf die innere Ordnung der Labour Party, die nach r XIII 2 (a) III. der Parteisatzung von 1906 als eine „federation of trade unions, trade councils, Socialist societies, and local labour associations, who may become affiliated on application“288 organisiert war, in der die außerparlamentari282
Siehe nur bei Davis, Political Freedom, S. 63, die Anwendung der Common Law-Regeln der ultra vires, natural justice bzw. fairness in action auf die inneren Angelegenheiten politischer Parteien, die ursprünglich als Maßstab und zugleich Begrenzung staatlichen Handelns entwickelt wurden. 283 Die ultra vires-Lehre als gerichtlicher Kontrollmaßstab kontrolliert das Handeln einer Behörde im Rahmen ihrer administrative authority, die eine Behörde durch Gesetz oder Common Law erhalten kann. Zur Erklärung und Bedeutung der ultra vires-Lehre im Recht der Gewerkschaften siehe Ewing, Ultra Vires Rule, MLR 1984, S. 57 (66 und passim). Vgl. für die ursprüngliche Anwendung im Öffentlichen Recht Craig, Ultra Vires, CLJ 1998, S. 63 passim; Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 177 ff. m. w. N. 284 Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (97) – Macnagthen LJ: „It can hardly be contended that a political organisation is not a thing very different from a combination for trade purposes. There is nothing in any of the Trade Union Acts from which it can be reasonably inferred that trade union, as defined by Parliament, were ever meant to have the power of collecting and administering funds for political purposes.“ Dazu auch Ewing, Cost of Democracy, S. 67. 285 Wortlaut der Norm: „The term ,trade union‘ means any combination, whether temporary or permanent, for regulating the relations between workmen and masters, or between workmen and workmen, or between masters and masters, or for imposing restrictive conditions on the conduct of any trade or business, whether such combination would or would not, if the principal Act had not been passed, have been deemed to have been an unlawful combination by reason of some one or more of its purposes being in restraint of trade.“ 286 Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (93) – Halsbury LJ: „[W]hat is not within the ambit of that statute, is I think, prohibited to a […] combination; it only exists as a legalised combination having power to act as a person and to enforce its rules within the limits of the statute, whatever those limits are.“ Vgl. die Erläuterungen dazu bei Barrow, Industrial Relations Law, S. 124. 287 Ewing, Cost of Democracy, S. 64. 288 Vgl. die Ausführungen des Court of Appeal, Osborne v Amalgamated Society of Railway Servants (No.1) [1909] 1 Ch. D. 163 (164 ff., 188 ff.) – Fletcher-Moulton, Farwell LLJ.
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sche Partei über die Parteiprogrammatik im und außerhalb des Parlaments verbindlich entschied und in der die Labour-Kandidaten verpflichtet waren, sich dieser unterzuordnen. Zur Begründung der Ablehnung des imperativen Mandats der Labour-Abgeordneten in Form der Bindung an die Beschlüsse des aus Gewerkschaftsvertretern gebildeten Parteitages rekurrierte Shaw LJ in seinem obiter dictum289 auf die rechts- und staatsphilosophischen Grundsätze von William Blackstone, Burke und John Locke, nach denen ein imperatives Mandat nicht mit den Grundsätzen einer liberalen parlamentarischen Demokratie vereinbar sei.290 (b) Finanzierungsregime der Labour Party nach dem Trade Union Act 1913 Die Anwendung der ultra vires-Lehre auf den parliamentary levy der Gewerkschaften stieß politisch auf heftigen Widerstand, zumal sich die Labour Party ihrer Finanzierungsgrundlage und die Gewerkschaften ihrer politischen Aktivitäten beraubt sahen. Folglich nahm sich die Allianz aus Liberal Party und Labour Party der Frage der Parteifinanzierung an, da sie ein Wahlpakt gegen die Conservative Party einte.291 Mit entscheidender Hilfe des damaligen Innenministers und späteren Premierministers Winston Churchill (damals noch Mitglied der Liberal Party) wurde der Trade Union Act 1913 erlassen. Dieses Gesetz legalisierte die Gewerkschaftsspenden an die Labour Party erneut.292 Die Gesetzesänderung war politisch notwendig, zumal die Labour-Abgeordneten in der Mehrzahl aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen stammten. Dies machte sie von den Partei- und Gewerkschaftszuwendungen gänzlich abhängig.293 Auch rechtlich wurde diese Anwendung der ultra vires-Lehre auf Gewerkschaften, die somit als creations of the state gewertet 289 Obiter dicta entfalten nicht die Bindungswirkung vorangegangener Gerichtsentscheidungen (stare decisis), die in der ratio decidendi zu finden sind. Sie haben dennoch eine gewisse argumentative persuasive authority, sodass sich aus ihnen durchaus anerkannte Rechtsprinzipien ergeben können, vgl. nur Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 184 f. m. w. N. 290 Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (109 f.) – Shaw LJ. Ebenso bei Ewing, Trade Union Question, in: ders./Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 54 (55 f.) m. w. N.; ders., Cost of Democracy, S. 65 m. w. N. 291 Siehe für den sog. Gladstone-MacDonald-Pakt, der das Fundament für die kurz darauf folgende erste Koalitionsregierung legte, hier nochmals Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (719). 292 Zur Gesamtwürdigung des Trade Union Act 1913 siehe nur Ewing, Cost of Democracy, S. 64 ff. m. w. N. 293 Die Conservative Party, die an der Eliminierung ihrer beiden politischen Gegner interessiert war, reagierte kurze Zeit später mit einer gesetzgeberischen Gegenmaßnahme und setzte mit dem Representation of the People Act 1918 die Einführung eines deposit i. H. v. 150 GBP durch. Diese Sicherheitsleistung entsprach 1918 einem Geldwert von etwa 2.500 GBP im Jahr 1994. Bei Erreichen von weniger als 12,5 % der Stimmen in einem Wahlkreis wurde diese aber nicht an den Kandidaten zurückgezahlt. Dies betraf vorwiegend Labour-Kandidaten in von der Liberal Party und der Conservative Party ebenfalls umkämpften Wahlkreisen. Vgl. Blackburn, Electoral System, S. 223 f.: „Undoubtedly there were many within the political élite at the time who regarded the fledging Labour Party and its trade-union and working-class candidates, who would be the hardest hit by the requirement of a deposit, as less than top-class parliamentary material and a potential threat to the good government of the country.“
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
wurden, durch die Änderung des Trade Union Act 1913 korrigiert. Anders als im an sich liberalen Vereinigten Königreich üblich griff der Staat (durch das Verdikt der Lordrichter) massiv in die Autonomie der Vereinigungen ein.294 Die dogmatisch im Schrifttum in Zweifel gezogene Übertragung der öffentlich-rechtlichen ultra viresKonzeption – was wohl auch aus parteipolitischer Motivation der (konservativen) Lordrichter erfolgte295 – auf die Gewerkschaften wurde aufgehoben. Nach s. 3 ff. Trade Union Act 1913 war es den Gewerkschaften fortan gestattet, Spenden aus den Beiträgen der Mitglieder zur Finanzierung von Parteien bereitzuhalten. Hieraus durften Beiträge an politische Parteien, die Fraktionen und Abgeordneten, abgeführt werden. Zentrale Voraussetzungen für die Entrichtung der Spende an eine bestimmte Partei waren, dass diese von gesonderten Beiträgen, dem political fund, als den regulären Mitgliedsbeiträgen der Gewerkschaften geleistet wurden. Zusätzlich mussten die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft (einstweilen nur ein Mal für die Zukunft ohne verpflichtende Erneuerung) der Verwendung zustimmen. Zuletzt musste für jedes Gewerkschaftsmitglied die Möglichkeit bestehen, keine Beiträge in diesen Fond einzahlen zu können (sog. contracting out bzw. opting out296).297 Das Gesetz von 1913 verzichtete gleichwohl auf die Nennung von poli294 Davis, Political Freedom, S. 118 f.; ähnlich auch Barrow, Industrial Relations Law, S. 124 f., Herv. i. O.: „The decision was thus viewed with some concern by trade unions, who had for many years engaged in a variety of activities that were authorised under their constitution, but were now illegal as ,ultra vires the statute‘.“ Letztlich verbot die Osborne-Entscheidung den Gewerkschaften auch jede sonstige soziale und bildungspolitische Tätigkeit, die nicht unter die enge Definition der s. 16 Trade Union Amendment Act 1876 fielen. 295 Morris nennt die obigen Ausführungen von Shaw LJ zur politischen Einflussnahme auf die Labour-Abgeordneten durch Gewerkschaftsgelder „decidedly Whiggish“. Morris, Parliamentary Elections, S. 32. 296 Dies wurde schon in den 1920er Jahren durch die nächste konservative Regierung bzw. Mehrheit mit dem Trade Disputes and Trade Union Act 1927 geändert, sodass Gewerkschaftsmitglieder sich aktiv zur Parteiabgabe bereit erklären mussten (sog. contracting in oder opting in). Infolgedessen sank die Zahl der Gewerkschaftler, die in den political levy einzahlten, von 75 % (1925) auf 48 % (1938). Die erste Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg änderte das System wieder zum contracting out (oder opting out) um, vgl. Blackburn, Electoral System, S. 317. Abermals erfolgte jüngst eine Änderung durch den Trade Union Act 2016, sodass seit März 2018 wieder das contracting in durchgeführt werden muss, dazu sogleich. 297 Heute geregelt in Chapters VI – VIIA, ss. e71 – 108C des Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992. Die Abstimmung aller Gewerkschaftsmitglieder über den political fund muss nunmehr nach der dortigen s. 73(3) alle zehn Jahre erfolgen. Erläuterungen hierzu bei Davis, Political Freedom, S. 122 ff.; Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (142 f.). Mit dem Trade Union Act 2016 hat die Regierung bzw. die Parlamentsmehrheit der Conservative Party das vor dem Zweiten Weltkrieg bereits einmal durch sie eingeführte opting in erneut gesetzlich festgelegt. Der Begriff opting in ist nunmehr amtlich, da er in der geänderten s. 84 des Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 nach Maßgabe der s. 11 Trade Union Act 2016 verwendet wird. Zum Inkrafttreten dieser Regelung ab März 2018 und der diesbezüglichen Änderung der Satzungen einiger Gewerkschaften siehe Certification Office for Trade Unions (Hrsg.), Annual Report 2016 – 2017, paras. 7.20). Diese Neuregelung ist auf massiven Widerstand der Labour Party und der Gewerkschaften verstoßen, da ein massiver Einbruch in den Unterstützern der Labour Party
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tischen Parteien und folglich auf eine Definition derselben.298 Die Terminologie des Trade Union Act 1913, von political objects zu sprechen, war mit dem geänderten Trade Union Act 1984 und schließlich dem Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 und damit weit vor dem Jahr 2000 und dem Erlass des PPERA 2000 aufgehoben worden. Die zur Zeit der Änderung des Gesetzes im Jahre 1984 regierende Conservative Party unter Premierministerin Thatcher hatte „no difficulty about expressly referring to political parties in its legislation on political funding“299 und dies ungeachtet der damals noch fehlenden verfassungsrechtlichen Anerkennung der Parteien. Premierministerin Thatcher betonte selbst später einmal, die von ihrer konservativen Regierung durchgeführte Reform der Gewerkschaftsbeziehungen der Labour Party sei ein Mittel, um die Linke zu entwaffnen.300 Die Regulierungen des Parteiwesens von 1913 bis vor 1998 offenbaren in der Tat, dass die gesetzgeberischen Aktivitäten im Rahmen des Parteienrechts von einem ständigen Ping-Pong-Spiel301 der Antagonisten der jeweils in der Regierung und Opposition befindlichen Labour Party und Conservative Party geprägt waren. Damit waren sie auch ein Ausfluss aus dem britischen Wahlrecht, das im 19. Jahrhundert bereits das Zweiparteiensystem festigte. (2) Ministers of the Crown Act 1937: öffentliche Finanzierung der parlamentarischen Parteiendemokratie Ein weiterer Grundstein für die Anerkennung des parlamentarischen Parteiwesens wurde durch den Ministers of the Crown Act 1937 gelegt,302 welcher Fragen der öffentlichen Finanzierung der Fraktionen im House of Commons und der Regierung betraf. Dieses Gesetz sprach erstmalig in der britischen Geschichte der Kabinettsunter den zumeist inaktiven Gewerkschaftsmitgliedern befürchtet wird. Vgl. Ewing/Hendy, Trade Union Act 2016, ILJ 2016, S. 391 (407 – 409); Mason, Labour Predicts Trade Union Bill Would Cut Party Funding, The Guardian v. 4. Februar 2016 (Internetquelle). 298 Siehe den Wortlaut der s. 3(3) Trade Union Act 1913, die den Begriff der Partei nicht enthält: „The political objects to which this section applies are the expenditure of money – (a) on the payment of any expenses incurred either directly or indirectly by a candidate or prospective candidate for election to Parliament or to any public office, before, during, or after the election in connexion with his candidature or election; or (b) on the holding of any meeting or the distribution of any literature or documents in support of any such candidate or prospective candidate; or (c) on the maintenance of any person who is a member of Parliament or who holds a public office; or (d) in connection with the registration of electors or the selection of a candidate for Parliament or any public office; or (e) on the holding of political meetings of any kind, or on the distribution of political literature or political documents of any kind, unless the main purpose of the meetings or of the distribution of the literature or documents is the furtherance of statutory objects within the meaning of this Act.“ (Herv. i. O.). 299 Blackburn, Electoral System, S. 345. 300 Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135 m. w. N. auf Thatchers Autobiografie. 301 Für die Verwendung des Begriffs in der britischen verfassungsrechtlichen Literatur zu Art und Weise der Gesetzgebung zwischen den beiden Häusern noch bei Bradley/Ewing, Constitutional and Administrative Law (14. Aufl.), S. 203 m. w. N. 302 Gauja, Political Parties and Elections, S. 55 m. w. N.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
regierung, mithin dem Premierminister und den übrigen Ministern, Diäten zu. Hinzu kam die erste gesetzliche Regelung der Finanzierung der oppositionellen Fraktionen im House of Commons, indem den Amtsträgern des fortan auch in Gesetzen bezeichneten Leader of the Opposition und des Chief Whip der Opposition gemäß s. 5 Ministers of the Crown Act 1937 ebenso eine Aufwandsentschädigung zuteil wurde.303 Die Einführung dieses Finanzierungsregimes erlaubt die Feststellung der besonderen verfassungsgeschichtlichen Bedeutung des Ministers of the Crown Act 1937. Denn in Bezug auf die Regelungen zur Regierung war dieses Gesetz nach dem Chequers Estate Act 1917 die zweite Regelung zur finanziellen Ausstattung des Amtes des Premierministers.304 Diese zwei Gesetze von 1917 respektive 1937 bauten die Alimentation der Amtsträger in der Regierung sukzessive aus und festigten damit die bis dato nur verfassungskonventionalrechtlich305 gesicherte Anerkennung der Kabinettsregierung durch das geschriebene Recht. Dies gilt bar der materiellrechtlichen Ausfüllung des Begriffes bzw. Amtes des Premierministers und der übrigen Minister in den beiden Gesetzen.306 Für die vorliegende Untersuchung rechtshistorisch ungleich wichtiger ist das Novum der öffentlichen Finanzierung der Oppositionsführung gemäß s. 5 Ministers of the Crown Act 1937.307 Der liberale Abgeordnete und Jurist Dingle Foot sah bereits im Gesetzgebungsverfahren des Jahres 1937 mittels der staatlichen Finanzierung der Opposition ipso facto die Anerkennung der parlamentarischen Parteiendemokratie erreicht. Dies sei die größere verfassungsrechtliche Innovation als die Ausweitung der Finanzierung des Premierministers.308 Nach der erlangten Anerkennung der parlamentarischen Par303 Heute geregelt in s. 1(1)(b) und Sch. 2 Ministerial and other Salaries Act 1975. Für die Definition des Leader of the Opposition siehe s. 2(1): „In this Act ,Leader of the Opposition‘ means in relation to either House of Parliament that Member of that House who is for the time being the Leader in that House of the party in opposition to Her Majesty’s Government having the greatest numerical strength in the House of Commons.“ In s. 10 Intelligence Services Act 1994 wird die Existenz und verfassungsrechtliche wie -politische Bedeutung der Opposition abgesichert, indem dem Premierminister eine Pflicht zur Konsultation des Leader of the Opposition auferlegt wird. Vgl. zum Ganzen Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 594 ff. 304 Mit dem Gesetz von 1917 wurde dem Premierminister eine Wochenendresidenz gewährt, Sch. I und s. I.1.(f) Chequers Estate Act 1917. Siehe auch Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 381; Jennings, Ministers of the Crown Act, MLR 1937, S. 145 (145). 305 Dazu etwa Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 381. 306 Auch der Ministers of the Crown Act 1937 ließ Status und Funktion des Amtes des Premierministers ebenso wie die Begriffsdefinition der Ministerämter unnormiert: „The Prime Minister, as such, has no office known to the law“, so Jennings, Ministers of the Crown Act, MLR 1937, S. 145 (145). 307 Vgl. für diese Wertung im Hinblick auf die Parteien in der britischen Verfassung Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (724). 308 So sagte der Abgeordnete Dingle Foot am 29. April 1937: „It has been pointed out that in this Bill we introduce a number of constitutional innovations. For the first time we have recognised the existence of the Cabinet, and for the first or perhaps the second time in our Statute law we have recognised the existence of the Prime Minister. But there is a bigger constitutional
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teiendemokratie in der Staatspraxis,309 durch Verfassungskonventionalregeln und in der juristischen Literatur310 erfolgte diese ab 1937 schrittweise auch gesetzlich im Staatsrecht.311 (3) Short Money als Ausweitung der Oppositionsfinanzierung ab 1975 Die 1970er Jahre waren durch einige gesetzgeberische bzw. parlamentarische Aktivitäten in Bezug auf den Ausbau der Politik- und Parteienfinanzierung geprägt. In dieser Zeit der Festigung des erweiterten Zweiparteiensystems (mit der Conservative Party, der Labour Party als Alternierungsparteien und der Liberal Party als dritte Partei)312 wurden zwei Fragen virulent. Die erste Frage war, wie Politik, Parlament und Parteien vor einseitiger und unbilliger Einflussnahme Dritter geschützt werden können.313 Als zweites war zu klären, ob und ggf. wie die oppositionellen Parteien einen Ausgleich für den personellen, organisatorischen und finanziellen Vorteil der die Regierung stellenden Mehrheitspartei erhalten könnten.314 Hierfür wurde eine Lösung im Parlamentsrecht gesucht und ein weiteres Mal in der staatlichen Finanzierung der Opposition gefunden. So erklärte die Königin in der Queen’s Speech vom 12. März 1974: „My Ministers will consider the provision of financial assistance to enable Opposition parties more effectively to fulfil their Parliamentary functions.“315
innovation than that. This is the first time in any Statute that we have recognised the existence of a party caucus, because we are placing this sum of £2,000 a year […]. That seems to me the most remarkable innovation in this Bill.“ HC Deb 29 April 1937 vol. 323 c. 649. 309 So ist bereits der Ausspruch des konservativen Premierministers Disreali aus einer Rede vom 3. April 1872 verbürgt: „Without party parliamentary government is impossible.“ Zitiert nach Blackburn, Electoral System, S. 4. 310 So schon Jennings, Cabinet Government, S. 16: „If there be no Opposition there is no democracy. ,Her Majesty’s Opposition‘ is no idle phrase. Her Majesty needs an Opposition as well as a Government.“ Die Legitimität der parlamentarischen Parteiendemokratie ist durch Verfassungskonventionalregeln und die politische Kultur geprägt, die Legalität durch die gesetzgeberischen Maßnahmen ab dem Ministers of the Crown Act 1937. Weiter dazu Turpin/ Tomkins, Government and Constitution, S. 594. 311 Siehe für die Umwandlung einer Verfassungskonventionalregel in Gesetzesrecht Jennings, Ministers of the Crown Act, MLR 1937, S. 145 (145). 312 Siehe den historischen Abriss bei Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (724 f.). 313 So Edward Short in HC Deb 29 July 1974 vol. 878 c. 32. Das von ihm benannte Rowntree scheme bezieht sich auf Zuwendungen des Rowntree Social Services Trust Ltd. an die drei großen Parteien, besonders an die Liberal Party und die Social Democratic Party, in den 1970er und 1980er Jahren, vgl. dazu Pinto-Duschinsky, British Political Finance, S. 197 ff. 314 So wurde schon in der Debatte im House of Commons auf dieses Ungleichgewicht hingewiesen: „[I]t is […] increasingly difficult for Opposition parties to keep up with those who are backed by the vast resources of Government, either in research or administration“, HC Deb 20 March 1975 vol. 888 c. 1871. Siehe auch dazu Ewing, Funding of Political Parties, S. 119. 315 HC Deb 12 March 1974 vol. 870 c. 47.
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Vorgeschlagen hatte eine Ausweitung der Fraktionsfinanzierung der damalige stellvertretende Parteiführer der Labour Party, der Abgeordnete Edward Short, nach welchem das Short Money-Regime in der Folge benannt wurde. Anfang des Jahres 1975 nahm das House of Commons den Resolutionsentwurf316 der Labour-Regierung zur Ausweitung der staatlichen Politikfinanzierung in Form einer Zuwendung an die oppositionellen Fraktionen im House of Commons an. Die aktuell geltende Resolution stammt vom 26. Mai 1999 und gewährt allen oppositionellen Parteien im House of Commons, die mindestens zwei Sitze oder einen Sitz mit mehr als 150.000 Stimmen bei der letzten Wahl erlangt und den parlamentarischen Eid auf die Krone317 geschworen haben, eine Finanzierung von Fraktionsausgaben für inhaltlich-politische Arbeit, Reisekosten und für das Büro des Leaders of the Opposition.318 Auch das Short Money zählt heute zum britischen Verfassungsrecht, obschon es nicht auf gesetzlicher Grundlage, sondern auf einer parlamentarischen Resolution beruht.319 bb) Short Money-Voraussetzungen und die Finanzierung von Parteitagen ab 1987 Wenig Beachtung320 in der recht umfangreichen Literatur zur Politik- und Parteienfinanzierung im Vereinigten Königreich hat bisher der Umstand gefunden, dass den außerparlamentarischen Parteiorganisationen seit 1987 staatliche Gelder für die Gewährleistung der Sicherheit auf Parteitagen durch Polizeikräfte zugänglich gemacht werden. Dabei bedeutet dies nicht weniger als die Einführung einer ersten direkten staatlichen finanziellen Zuwendung für die Parteiaktivitäten außerhalb des 316 „That in the opinion of this House it is expedient that as from 1st January 1975 provision shall be made for financial assistance to any Opposition party in this House to assist that party in carrying out its Parliamentary business.“ HC Deb 25 March 1975 vol. 888 cc. 1869 – 1870. 317 Für den Wortlaut des Schwurs siehe s. 2 Promissory Oaths Act 1868 in der heute gültigen Fassung: „I, , [sic!] do swear that I will be faithful and bear true allegiance to Her Majesty Queen Elizabeth II, her heirs and successors, according to law. So help me God.“ Historisch war das wichtig für die Mitglieder des Unterhauses, die der Sinn Fein angehörten, und die in Ablehnung der Zugehörigkeit Nordirlands den Eid auf die Krone nicht schwören wollten, vgl. Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 27. Gleichwohl der Text der Resolution diese Voraussetzung nicht erwähnt, ergibt sie sich aus para. 1 und 6 der ursprünglichen Resolution, dass sie die Parteien unterstützt „in carrying out its Parliamentary business“. Hierzu ausführlich Kelly, Short Money, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 23. 318 HC Deb 26 May 1999 vol. 332 c. 427 – 429. Zum Resolutionstext und zur gesamten Thematik siehe Kelly, Short Money, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, passim. 319 Eine Resolution eines der beiden Häuser des Parlaments bedarf also nicht der formalen Zustimmung des jeweils anderen Hauses und der Krone, wie dies bei Gesetzen der Fall ist, vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 62. Daneben sei der Vollständigkeit halber das Pendant für die Finanzierung der Opposition im Oberhaus erwähnt. Dieses heißt Cranborne Money, siehe ausführlich Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 599 f. 320 Ausnahmen dazu nennen Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 36 ff.; eine kurze Erwähnung enthält auch Davis, Political Freedom, S. 59.
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Parlaments. Sie geht auf einen Anschlag in Brighton im Jahre 1984 zurück, bei dem irische Separatisten der Provisional Irish Republican Army (IRA) eine Bombe auf dem Parteitag der Conservative Party zündeten. Es gab fünf Tote und 31 Verletzte zu beklagen, teilweise führende Politiker der damaligen Regierungspartei. Premierministerin Thatcher reagierte mit der Zuweisung staatlicher Gelder zur Finanzierung der Sicherheitskonzepte von Parteitagen, da aus Sicht der Regierung „the continuation of party conferences […] essential to the public interest“321 war und die hohen Kosten zur Herstellung der notwendigen Sicherheit nicht den Parteien allein auferlegt werden konnten. Um den Kreis der bezugsberechtigten Parteien einzugrenzen, wurden für die oppositionellen Parteien die Voraussetzungen für die Gewährung des parlamentarischen Short Money-Regimes analog angewendet, während die Regierungspartei diese a priori erhalten sollte.322 Da die Kosten erheblich waren – 1991 wurden von der Conservative Party 330.000 GBP und von der Labour Party 90.500 GBP und im Jahre 1997 nur für den Labour-Parteitag in Brighton 750.000 GBP323 abgerufen – wurde eine gesetzliche Rechtsgrundlage politisch für erforderlich gehalten. Diese wurde bereits im Jahre 1994 mit s. 170 des Criminal Justice and Public Order Act 1994 geschaffen. Die dortige Regelung der s. 170(3) gestattete einer qualifying political party die Zuweisung der entsprechenden Gelder. Die Norm knüpfte erneut an die Voraussetzungen der Short MoneyResolution an, mithin an den Wahlerfolg bei den letzten Wahlen zum House of Commons.324 Mit dem Registration of Political Parties Act 1998 wurde in s. 15 die freiwillige Registrierung von Parteien zur zusätzlichen Voraussetzung für den Bezug der Gelder zur Sicherung von Parteitagen gemacht. Der Criminal Justice and Public Order Act 1994 war nicht nur eine der ersten gesetzlichen Regelungen zur Finanzierung der Parteien außerhalb des Parlaments, sondern enthielt damit auch wenigstens eine implizite Anerkennung der außerparlamentarischen Organisation von Parteien, indem er die Existenz von – formal und 321
HC Deb 25 July 1986 vol. 102 c. 614W. Ausdrücklich zur Anwendung der Voraussetzungen des Short Money damals von der Premierministerin Thatcher: „Under the Government’s proposals the parties that would qualify for assistance would be those eligible under the scheme for financial assistance to opposition parties in their parliamentary work (the ,short money‘ scheme) together with the Government parties.“ Siehe HC Deb 25 July 1986 vol. 102 c. 614W. 323 Schriftliche Antwort des Premierministers, HC Deb vol. 214 c. 456W. 324 Ursprüngliche Fassung: „s. 170 Security costs at party conferences (1) The Secretary of State may, with the consent of the Treasury, pay grants towards expenditure incurred by a qualifying political party, or by a person acting for a qualifying political party, on measures to which this section applies. (2) This section applies to measures which are – (a) taken for the protection of persons or property in connection with a conference held in Great Britain for the purposes of the party, and (b) certified by a chief officer of police as having been appropriate. (3) A political party is a ,qualifying political party‘ for the purposes of this section if, at the last general election before the expenditure was incurred, – (a) at least two members of the party were elected to the House of Commons, or (b) one member of the party was elected to the House of Commons and not less than 150,000 votes were given to candidates who were members of the party.“ 322
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inhaltlich wichtigen – Parteitagen anerkannte, wie die Einlassungen der Premierministerin Thatcher nahelegen.325 cc) Positive Geschlechterdiskriminierung in den Parteien nach dem Sex Discrimination Act 1975 Neben den rudimentären Regelungen zur außerparlamentarischen Parteienfinanzierung war eine gesetzliche Regelung des Parteienwesens in den 1970er Jahren mit dem Sex Discrimination Act 1975 eingeführt worden. Dieses Antidiskriminierungsgesetz blieb bis zur Einführung der Parteiengesetze 1998/2000 die einzige gesetzliche Regelung der Parteiorganisationen außerhalb des Parlaments.326 Dieses wies als erster Legislativakt keinerlei Bezug zur Parteienfinanzierung auf, sondern betraf nur das Wahlrecht für parteiinterne Wahlen. Die Parteien waren vom Anwendungsbereich des Gesetzes nur in Bezug auf die innerparteiliche Ämterbesetzung ausgeschlossen, was der Wortlaut der Norm unter constitution, organisation and administration of political parties (ss. 33, 29 Sex Discrimination Act 1975) fasste. Demgegenüber blieb das Gesetz anwendbar auf die Wahl von Kandidaten, wie später ein Gericht327 feststellte und die starre Festlegung von Frauenquoten der Labour Party in Form der all-women shortlists als für nicht vom Diskriminierungsverbot (s. 13 Sex Discrimination Act 1975) ausgenommen erklärte. Bei dieser Quotierung handelte es sich um eine landesweite Festlegung der Parteizentrale, welcher zufolge in bestimmten für die Labour Party aussichtsreichen Wahlkreisen das Geschlecht des Kandidaten festgelegt wurde, um damit einen geschlechtergerechten Proporz in der Verteilung der Kandidaturen bzw. der daraus resultierenden Abgeordnetenmandate zu erreichen.328 Letztlich steht hinter dieser Regelungslücke die britische Zurückhaltung in der Einmischung in das freie Vereinigungswesen.329 Die s. 33 Sex Discrimination Act 1975 wurde aus einer historischen Malaise heraus eingeführt: Wäre die innere Ordnung der Parteien nicht ausgenommen 325 Es handelte sich damit um keine bindenden Vorgaben des Gesetzgebers für eine bestimmte Form der Parteiorganisation. 326 Aus den zahlreichen Literaturquellen siehe nur Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717 f.) mit Nachweis auf Ewing, Funding of Political Parties, S. 7; Davis, Political Freedom, S. 62 ff., insb. S. 64 ff.; Gauja, Political Parties and Elections, S. 56. 327 Jepson v Labour Party [1996] I.R.L.R. 116. 328 Tiefergehend dargestellt bei Childs, Women and British Party Politics, S. 50; Kelly/ White, All-Women Shortlists, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 15; Krook, Quotas for Women, 133 f.; Nugent/Krook, All-Women Shortlists, P.A. 2015, S. 1 passim. 329 Vgl. zu dem freien Vereinigungswesen mit Fokus auf die Parteien statt vieler Davis, Political Freedom, S. 6 ff.; Rawlings, Electoral Process, S. 107, 125: „[S]election procedures in British political parties are extralegal, in the sense that they are regulated not by public law of the state but by private law.“
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worden, so hätte die Labour Party die den Frauen seit 1906330 reservierten Listenplätze bei der Wahl von Parteivorständen (insb. der fünf aus 25 Plätzen im NEC) nicht mehr zubilligen dürfen. Die damals – nota bene – regierende Labour Party wusste dies über die Einfügung der Norm zu verhindern, antizipierte indessen nicht die Auswirkungen der Formulierung auf die spätere Bevorzugung von Frauen bei der Aufstellung von Kandidatenlisten.331 Es bleibt festzuhalten, dass sich auch hinter der Regelung des Sex Discrimination Act 1975 keine verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien als besondere politische Akteure verbirgt. Vielmehr sollten Parteien ebenso wie Golf- oder Tennisclubs das Recht haben, ihre inneren Angelegenheiten nach eigenen Maßstäben zu regeln.332 Diesem Grundsatz zufolge sind die Kandidatenselektionsprozesse nach orthodoxem britischen Verständnis sogar als extralegal zu verstehen.333 Nichts anderes drückt die vorgenannte Gerichtsentscheidung aus, die gerade wegen des Fehlens einer gesetzlichen oder aus dem Common Law entwickelten speziellen Stellung der Parteien in der Verfassung einer positiven Diskriminierung von Frauen in der Kandidatenaufstellung der Labour Party für das House of Commons eine Absage erteilt bzw. erteilen musste.334 dd) Sukzessive Anerkennung der Parteien im Wahlrecht vor 1998 Mit der Ausweitung des Wahlrechts auf weite Bevölkerungsteile im 19. Jahrhundert und der Entwicklung zur „Voll-Demokratie“335 wurden die Wahlkämpfe personell, programmatisch wie organisatorisch auf nationaler Ebene geführt.336 Dieser faktischen Entwicklung hin zur Parteiendemokratie trug das althergebrachte britische Wahlrecht keine Rechnung. Rechtspolitische Erwägungen, die den Aus330 Bis zur ersten Reform der Satzung im Jahre 1918 – bis dahin existierte einzig die korporative Parteimitgliedschaft – bestand das NEC aus 16 gewählten Mitgliedern. Die zu vergebenden Ämter waren das des Schatzmeisters sowie des Vertreters der Mitgliedsorganisationen, eines Vertreters für die trade councils (Genossenschaften), für die lokalen Arbeitervereinigungen und eben die Labour-Frauenvereinigungen zusammen, dreier Vertreter sozialistischer Gruppen wie etwa der Fabian Society sowie der elf Vertreter der Mitgliedsgewerkschaften, vgl. Thorpe, Labour Party, S. 44. 331 Zum Ganzen Ewing, Funding of Political Parties, S. 7. 332 Ausdrücklich zur Gleichbehandlung von Parteien mit Tennis- und Golfclubs, die einer gewissen Scharfzüngigkeit nicht entbehrt, siehe Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (718). Etwas neutraler formuliert bei Barendt, Constitutional Law, S. 150, der die Parteien mit „religious bodies and trade unions“ vergleicht. 333 Rawlings, Electoral Process, S. 107, 125. 334 Ex negativo ließe sich fragen, ob nicht die positive Förderung von Frauen notwendig und u. U. geboten gewesen wäre, wenn den Parteien eine herausgehobene verfassungsrechtliche Stellung zugekommen wäre. 335 Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 73. 336 Zu den gesamtgesellschaftlichen Hintergründen siehe Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 74 ff.
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schlag für die Anerkennung der politischen Parteien durch die beiden Gesetze von 1998/2000 gaben, betrafen die Finanzierung der politischen Parteien, die Ermöglichung der Teilnahme von Parteien bei Listenwahlen für die Devolutionsvolksvertretungen und für das Europäische Parlament337 sowie den mit der wahlrechtlichen Anerkennung verbundenen Namensschutz. Gemeinhin bekannt ist, dass das britische Wahlrecht lange die Illusion338 einer Wahl parteiunabhängiger Einzelkandidaten aufrecht zu erhalten versuchte.339 In Bezug auf die Beschränkung der Wahlkampfführung, beginnend mit der Kandidatenselektion bzw. -nominierung340 über Wahlkampfkosten bis zur Wahlprüfung, gilt dies zweifellos. Exemplarisch sei nur darauf verwiesen, dass sich in Bezug auf die Wahlkampfkosten das Recht vor der Einführung des PPERA 2000 tatsächlich auf die Wahl von Einzelkandidaten beschränkte. Es ignorierte geradezu die Existenz von nationalen Wahlkämpfen und von durch Parteien organisierten Wahlkämpfen. Die gesetzlichen Vorschriften im Hinblick auf die Wahlkampfausgaben bzw. -einnahmen (in Form von Spenden) bezogen sich ebenso nur auf den einzelnen Kandidaten auf Wahlkreisebene, vgl. etwa s. 75 Representation of the People Act 1983.341 Schon die erste Regelung zu Wahlkampfkosten der Corrupt and Illegal Practices Act 1883342 begrenzte einzig die Ausgaben von Kandidaten, nicht jedoch von den bereits existierenden nationalen Parteiorganisationen.343 Im 20. Jahrhundert begann mit der BBC im Jahre 1924 die Zeit der Wahlwerbung im Radio und später im Fernsehen. Die diesbezüglichen, zunächst nicht gesetzlichen Regelungen, die später im Broadcasting Act 1990 neu geregelt wurden, benannten schließlich die Parteien explizit.344 337
Siehe nur Davis, Political Freedom, S. 59; Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 passim. 338 So wörtlich Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (315). 339 Vgl. auch Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313); Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (726), die zumindest offenlassen, ob es sich um ein Verdikt oder nur um ein faktisches Unterlassen der Parteibezeichnung in der Zeit vor 1968 handelt. Kritisch dazu auch Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 (185): „Traditional descriptions of British electoral law as being rooted in the nineteenth century concept of a series of elections of individual candidates, are rapidly becoming redundant.“ 340 Loveland, Constitutional Law, S. 208; Rawlings, Electoral Process, S. 107 m. w. N., 125. 341 Ursprünglicher Wortlaut: „No expenses shall, with a view to promoting or procuring the election of a candidate at an election, be incurred by a person other than the candidate, his election agent and persons authorised in writing by the election agent.“ Weiter dazu Bradley/ Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 161 ff. 342 Siehe s. 8(1) Corrupt and Illegal Practices Act 1883: „Subject to such exception as may be allowed in pursuance of this Act, no sum shall be paid and no expense shall be incurred by a candidate at an election.“ 343 Ewing, Cost of Democracy, S. 28, 145 m. w. N.; Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 282. 344 Vgl. nur Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 531.
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(1) Verbot des Parteinamens auf dem Wahlzettel als „Illusion“ einer Individualwahl Das britische Wahlrecht erhielt noch bis in die 1960er Jahre lange diese Illusion einer Individualwahl aufrecht. Flankiert wurde dies mit dem Verbot von Angaben der Parteizugehörigkeit eines Kandidaten auf dem Wahlzettel.345 Tatsächlich ließ der Ballot Act 1872, dessen historische Errungenschaft in erster Linie in der Einführung der geheimen Wahl lag,346 nach r. 6 die Beifügung von weiteren Merkmalen zur Beschreibung eines Kandidaten neben dessen Namen zu.347 Die gesetzgeberische Intention hierfür war, dass einem Kandidaten die Möglichkeit der Konkretisierung seiner Person durch die Angabe von Anschrift und seiner beruflichen Tätigkeit gegeben werden sollte. War die Beifügung der aufstellenden Partei nicht intendiert, so ist sie doch nicht explizit untersagt gewesen.348 Es ist demnach vielmehr der politischen Praxis geschuldet, dass daraus das verbreitete Missverständnis des britischen Wahlrechts erwuchs, es sei verboten gewesen.349 Kandidaten unterließen es schlicht regelmäßig, Angaben über ihre Parteizugehörigkeit zu machen. Mit diesem Unterlassen entfaltete die Frage nach der Zulässigkeit der Angabe einer Parteiidentifikation auf dem Wahlzettel für eine längere Zeit keine rechtspraktische Relevanz. (a) Explizites Verbot der Parteiidentifikation ab 1948 In den späten 1940er Jahren gelangte die Nennung von Parteizugehörigkeiten auf dem Wahlzettel auf die gesetzgeberische Agenda, da einige Labour-Abgeordnete 345 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (315). Aus der verfassungsrechtlichen Literatur vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 208: „Permission to add the description was only introduced in 1968. Until then, candidates had not been allowed to identify their party on the ballot paper.“ Aus der deutschen Literatur in Anlehnung an Smith siehe Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 104; Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 57. 346 Für eine ausführliche Würdigung des Ballot Act 1872 vgl. Mares, Secret Voting, S. 15, 236 ff.; Self, Party System, S. 23. 347 Wortlaut der Norm: „Each candidate shall be described in the nomination paper in such manner as in the opinion of the returning officer is calculated to sufficiently identify such candidate, the description shall include his names, his abode, and his rank, profession or calling, and his surname shall come first in the list of his names.“ 348 Vgl. klarstellend dazu, dass es sich um eine Regelungslücke handelte Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245): „This lack of regulation was connected to the state of electoral law characterised elections to the Commons as a series of contests between individual candidates, rather than a battle between national party organisations.“ 349 So Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245); ders./Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 21. Über die Gründe könnte hier nur spekuliert werden; die Einlassungen des Home Secretary Callaghan lassen aber darauf schließen, dass es sich um ein typisches britisches gentlemen’s agreement handelte, die Parteiidentifikation zu unterlassen und damit die rein individualisierte Bedeutung der Wahl auf Wahlkreisebene zu unterstreichen und gewissermaßen diese Illusion aufrechtzuerhalten.
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ihre Parteimitgliedschaft auf dem Wahlzettel erwähnt sehen wollten. Die Wahlrechtsreform von 1948 (Representation of the People Act 1948) zielte darauf, der gesellschaftlichen Realität und dem Anspruch an demokratische Standards der Nachkriegszeit Rechnung zu tragen. Eine Maßnahme war die Förderung der Gleichheit der Wahl durch Abschaffung der zusätzlichen Sitze im House of Commons für Universitäten.350 Indessen lehnte eine Mehrheit des fraktionsübergreifenden Ausschusses zur Wahlrechtsreform in seinem Abschlussbericht (Final Report of the Committee on Electoral Law Reform) die Nennung des Parteinamens auf dem Wahlzettel ab. Der Ausschuss hielt die Nennung des Kandidatennamens für ausreichend, eine Parteimitgliedschaft würde vielmehr „embarrassing controversy“351 provozieren. Der sodann auf dieser Grundlage verabschiedete Representation of the People Act 1948 beinhaltete in Sch. 3 para. 2(3) erstmals das explizite Verbot der Anfügung jeglicher parteipolitischen Aktivitäten und Zugehörigkeiten,352 auf welches die o. g. zahlreichen Autoren rekurrieren. (b) Beifügung auf Wahlzetteln ohne Schutz von Parteinamen ab 1969 Eine erneute Wende ergab sich in der folgenden Wahlrechtsreform. Die 1965 eingesetzte fraktionsübergreifende Konferenz (Speaker’s Conference)353 forderte in ihrem Abschlussbericht (Final Report of the Conference on Electoral Law) im Jahre 1968 die Erlaubnis der Anfügung einer Parteiidentifikation auf dem Wahlzettel und wurde in dieser Haltung auch von der damaligen Labour-Regierung gestützt.354 In 350
Statt vieler Blackburn, Electoral System, S. 74. H.M.S.O. (Hrsg.), Final Report of the Committee on Electoral Law Reform, Cmnd. 7286, para. 12. Wörtlich hieß es hier: „At a recent election there was a question whether the words ,Labour Candidate‘ were a proper description. We understand that the organisations representing the chief political parties are not in favour of the use of party labels on nomination papers. We concur in this opinion. A man’s claim to membership of a party might sometimes provoke embarrassing controversy. In any event we think the nomination paper should describe the candidate and not the cause.“ Zitiert nach Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 21. 352 Wortlaut: „The description shall not refer to the candidate’s political activities, and need not refer to his rank, profession or calling so long as, with the other particulars of the candidate, it is sufficient to identify him.“ 353 Speakers Conferences werden nur zu eminent wichtigen Fragen des Verfassungsrechts einberufen. So etwa die Speaker’s Conference on Parliamentary Representation. Im Vorwort zu dieser schreibt der Speaker des House of Commons, John Bercow: „This publication is an important event in the history of the House. A Speaker’s Conference happens but rarely. This Conference is only the sixth to have taken place in the modern history of Parliament, and is the first since 1978. A Speaker’s Conference is designed to bring together Members from all parts of the House of Commons and all parts of the United Kingdom and is generally reserved to address constitutional issues of particular significance or sensitivity which require a cross-party solution“, T.S.O. (Hrsg.), House of Commons, Speaker’s Conference (on Parliamentary Representation), Final Report, HC 239-I, S. 3. 354 Conference on Electoral Law: Final Report, Cmnd. 3550, Annex B para. 25, zitiert nach Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 21. 351
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dem sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren, das zum Representation of the People Act 1969 führte, folgten Plenardebatten über das Für und Wider der Beifügung der Parteinamen. Die Labour-Regierung sah in der Ermöglichung der Beifügung der Parteizugehörigkeit auf dem Wahlzettel mehr als eine formalrechtliche Frage, vielmehr „a very strong case on constitutional grounds“355, da sie mit der von der Konferenz eingebrachten Erlaubnis der Parteibezeichnung den Vorschlag nach einer zentralen Registratur der politischen Parteien verband. Die Registrierung des Parteinamens wäre nach dem Regierungsentwurf für die Teilnahme an Wahlen verpflichtend gewesen und hätte darüber hinaus einen materiellen Namensschutz begründet. Es bestanden – i. E. nicht unberechtigte356 – Bedenken der Regierung, dass ein zwar beifügungsfähiger, aber rechtlich nicht geschützter Parteiname von anderen Kandidaten zur Verwirrung der Wähler auf Wahlzetteln verwendet werden könnte. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens setzte die Conservative Party die Streichung der Registrierung von Parteinamen durch.357 Der Grund für ihre Opposition gegen das Vorhaben der Labour-Regierung war, dass die zentrale Registrierung der Partei nicht mit den weiland existierenden Strukturen der Conservative Party vereinbar gewesen wäre. Anders als die Labour Party bestand die Conservative Party aus rechtlich selbständigen358 lokalen Vereinigungen in Form von unincorporated associations, die keiner zentralen Parteiorganisation unterstellt waren und überdies keinem zentralen Kandidatennominierungsverfahren unterlagen.359 Demnach hätte sich jede Wahlkreisorganisation der Conservative Party separat registrieren müssen, um ihrem jeweiligen Wahlkreiskandidaten die Parteibezeichnung auf dem Wahlzettel zugänglich zu machen. Schließlich sah die Labour-Regierung zugunsten der Conservative Party und ihrer Parteiorganisationsform von der Registrierung der Parteien ab und ermöglichte die Einfügung des Namens ohne die damit verbundene rechtliche Zuerkennung von materiellen Namensrechten.360 In Sch. 1 para. 19(2 A) und Anhang des Representation of the People Act 1969 (heute geregelt im Representation of the People Act 355
Home Secretary Callaghan, HC Deb 14 October 1968 vol. 770 c. 48. Zum fehlenden Rechtsschutz bei erlaubter Beifügung des Parteinamens ohne Parteiregistrierungsregime siehe Sanders v Chichester [1995] 03 LS Gaz R. 37, [1994] WL 1062074; Loveland, Constitutional Law, S. 208 m. w. N. zu diesem Fall und zu anderen Fällen. 357 Mit ihrer Mehrheit hätte die Labour Party die Registrierung freilich durchsetzen können. Es ist jedoch ein Grundsatz, eine Verfassungskonventionalregel, der britischen Politik, dass „the power of the majority should not be used to steamroller into silence the protests of the minority“, so etwa Butt, Power of Parliament, S. 318. 358 Für die Rechtslage bis zur Satzungsreform der Conservative Party im Jahre 1998 an dieser Stelle nur Webb, British Party System, S. 196. 359 Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 22. 360 Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 20 ff. 356
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1983)361 war schließlich eine weitere Beschreibung des Kandidaten erlaubt, die nicht länger als sechs Wörter sein durfte. Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich kein Hinweis auf eine Erlaubnis der Beifügung des Parteilabels auf den Wahlzetteln.362 Dies wiederum ergibt sich aus der Gesetzgebungsgeschichte und der Intention des Gesetzgebers. Somit ist mehr von der Aufhebung des expliziten Verbots seit dem Representation of the People Act 1948 zu sprechen; dass dies zum Wiederaufleben der Freiheit, einen Parteinamen anzufügen, führte (die schon seit dem Ballot Act 1872 bestand), ist dem nach britischen Rechtsverständnis geltenden everything that is not forbidden is allowed-Grundsatz363 zu verdanken. In einer der späteren Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der Anfügung einer tatsächlich nicht existierenden Partei zur Erlangung von Wählerstimmen wie jene des Conversative, Literal Democrat oder New Labour, um den etablierten Parteien Wählerstimmen zu entreißen (sog. spoiler candidates364), schlussfolgerte das Dyson J zum Representation of the People Act 1969: „Parliament has focused on certain minimum criteria for identifying candidates which do not include references to political parties, it being assumed that voters will lean all they need to know about the candidates during the election campaigns.“365
Die fortan nicht mehr verbotene Identifizierung eines Kandidaten als zu einer Partei angehörig stellte gleichsam keine Anerkennung der Parteien von Rechts wegen dar.366 Dass dies die Gefahr einer verfassungsrechtlichen Akzeptanz im Wege der normativen Kraft des Faktischen barg, war auch Gegenstand der politischen Debatte außerhalb des Parlaments. Der Politikwissenschaftler und Parteienforscher David Butler argumentierte öffentlichkeitswirksam in der Times gegen die Registrierung von Parteinamen, da „by making the ownership of a party description a 361
Vgl. hierzu Turpin, British Government, S. 544 sowie die wortlautgleichen Vorschriften der Representation of the People Act 1969/1983, para. 6: „(2) The nomination paper shall state the candidate’s – (c) if desired, description, (3) The description, if any, shall not exceed 6 words, in length, and need not refer to his rank, profession or calling so long as, with the candidate’s other particulars, it is sufficient to identify him.“ Und para. 19: „(2) Every ballot paper […] – (a) shall contain the names and other particulars of the candidates as shown in the statement of persons nominated.“ 362 Für diese verkürzende Darstellung Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (315): „Erst in letzter Zeit ist es überhaupt statthaft, auf dem Wahlformular zusammen mit dem Namen die Parteizugehörigkeit anzugeben.“ 363 Vgl. nur Laws, The Rule of Reason, in: Andenæs/Fairgrieve (Hrsg.), Judicial Review, S. 247 (256 f.). 364 So bezeichnet die Regierung offiziell diese Kandidaten, die einzig aus dem Grunde antreten, den etablierten Parteien Stimmen zu entreißen, vgl. Home Office Press Notice 176/98, 14 May 1998: „Political parties will soon be protected from spoiler candidates who use deliberately confusing descriptions on the ballot paper, like ,New Labour‘ or ,The Tory Candidate‘, when they have no connection with an established party.“ Zitiert nach Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 5. Vgl. dazu weiters Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313). 365 Sanders v Chichester [1994] WL 1062074, Herv. d. Verf. 366 Vgl. Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004 S. 717 (726).
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justiciable matter, the law is, quite unnecessarily, brought into politics“.367 Im Gesetzgebungsverfahren und wenige Jahre später wurde von den Politologen Butler und Donald Stokes konstatiert, dass Wähler auch vor 1969 die Verbindung zwischen dem ihnen nur namentlich bekannten Kandidaten und der Partei, deren Regierungsprogramm sie unterstützten, ohnehin herstellten.368 Für die Kenntlichmachung der Parteizugehörigkeit gebe es die Methoden des Wahlkampfes, etwa durch Berichte über Personen und Parteien in Presse und Rundfunk. Mithin gebe der Wähler in der Parteiendemokratie seine Stimme ungeachtet des personalisierten Wahlrechts wie im Vereinigten Königreich weniger einem Kandidaten ob seiner Erfahrung, seines Charismas und seiner Überzeugungen, als wegen seiner Parteizugehörigkeit und des mit der Partei verbundenen Programms.369 Die Wahlrechtsänderung des Jahres 1969 öffnete die Türe ein Stück weiter, damit die Verrechtlichung des Parteienwesens sich allmählich durchsetzte. In Ermangelung einer formalrechtlichen Anerkennung der Parteien nach 1969 führte aber die Möglichkeit der Beifügung von Parteiidentifikationen ohne die Zubilligung eines korrespondierenden Namensschutzes für die Parteien zu neuen juristischen Problemen. (c) Folge des fehlenden Namensschutzes: spoiler candidates Die bereits von der Regierung im Gesetzgebungsverfahren im Jahre 1968 befürchtete Folge des Missbrauchs von Parteinamen durch Konkurrenten trat in der Tat ein. Zwar gab es zuvor bereits einige Fälle, die durchaus öffentlichkeitswirksam waren,370 die breiteste mediale, politische und in der Folge auch rechtliche Aufmerksamkeit erfuhr der Literal Democrat-Fall im Jahre 1994. Der unabhängige Kandidat Richard Huggett trat bei den Europawahlen 1994 im Wahlkreis Devon und Plymouth an und fügte seinem Namen gemäß Sch. 1 para. 19 Representation of the People Act 1983 auf dem Wahlzettel eine zusätzliche (Partei-)Identifikation zu, obwohl er faktisch als parteiloser Einzelkandidat antrat. Als Bezeichnung wählte er jene des Literal Democrat. Schließlich konnte der Kandidat der Conservative Party den Wahlkreis mit einem Vorsprung zum Kandidaten der Liberal Democrats von exakt 700 Stimmen knapp gewinnen (74.953 zu 74.253 Stimmen bei ca. 525.000 Wahlberechtigten und ca. 245.000 abgegebenen Stimmen). Der unterlegene Kandidat der Liberal Democrats und zahlreiche Medien insinuierten, der oftmals nur 367 So Butler, zitiert nach Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (726). 368 So Butler/Stokes, Political Change in Britain, S. 28: „Before party labels were placed on the ballot paper in 1970, virtually every voter was able to make the link between candidate and party, even though many knew nothing else about him: they perceived that to vote for a candidate was to vote for a government of his party, one which he would sustain in power throughout the life of a Parliament.“ Vgl. dazu auch noch in der Vorauflage Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 527. 369 So auch Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 526 f. 370 Zahlreiche Fälle illustriert Rawlings, Electoral Process, S. 119 ff.
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kurze Blick vieler Wähler auf den Wahlzettel habe es ermöglicht, dass die Liberal Democrats (bzw. ihr Kandidat) in dem für sie aussichtsreichen Wahlkreis diese rund 10.000 Stimmen an den Literal Democrat verloren.371 Eine zunächst vor dem Wahltag, aber nach Annahme der Wahlvorschläge und Bekanntwerden der Bezeichnung des Literal Democrat, angestrengtes judicial review-Verfahren (der richterlichen Überprüfung einer exekutiven Entscheidung)372 blieb erfolglos. Gemäß Sch. 1 para. 12(5) Representation of the People Act 1983 war die Entscheidung des returning officer (des Wahlleiters), eine eingereichte Kandidatur zuzulassen, der judikativen Überprüfung entzogen.373 Weiterhin zulässig war, jedoch erst nach der durchgeführten Wahl, die Einlegung einer election petition (Wahlprüfbeschwerde) gemäß Sch. 1 para. 12(6) Representation of the People Act 1983.374 Folglich legte der unterlegene Kandidat der Liberal Democrats, Adrian Sanders, die Wahlprüfbeschwerde beim zuständigen Election Court des High Court ein. Er sah in der Zulassung von Richard Huggett als Literal Democrat einen Verstoß gegen Sch. 1 para. 12(2)(a) Representation of the People Act 1983,375 die über reg. 5(1) und Sch. 1 European Parliamentary Elections Regulations 1986 für die Europawahlen anwendbar waren. In der Sache brachte der Kläger vor, die Beschreibung als „Literal Democrat“ erfülle nicht die Voraussetzungen aus s. 6(3) Representation of the People Act 1983. Namentlich sei diese Beschreibung auf dem Wahlzettel, auf dem sich ein Kandidat der liberal-demokratischen Partei ebenfalls befand, nicht geeignet gewesen, diesen von anderen zu unterscheiden.376 Das Gericht entschied, dass dem Wahlleiter auf Grundlage der Sch. 1 para. 12(2)(a) Representation of the People Act 1983 kein materielles, sondern nur
371 Vgl. Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 26 ff., und Loveland, Constitutional Law, S. 208 f. je mit einer ausführlicheren Darstellung. 372 Siehe statt vieler Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 175 f. m. w. N. 373 Wortlaut der Norm: „The returning officer’s decision that a nomination paper is valid shall be final and shall not be question in any proceeding whatsoever.“ 374 Da diese hier aufgrund des knappen Ergebnisses von nur 700 Stimmen durchaus Einfluss auf das Endergebnis der Wahl bzw. des gewählten Kandidaten gehabt hätte, war diese election petition auch nicht a priori unzulässig, vgl. s. 23(3)(b) Representation of the People Act 1983: „No parliamentary election shall be declared invalid […] if it appears to the tribunal having cognizance of the question that – (b) the act or omission did not affect its result.“ 375 Wortlaut der Norm (bis heute unverändert): „The returning officer is entitled to hold a nomination paper invalid only on one of the following grounds – (a) that the particulars of the candidate or the persons subscribing the paper are not as required by law.“ 376 Wortlaut: „(2) The nomination paper shall state the candidate’s – (a) full names, (b) home address in full, and (c) if desired, description, and the surname shall be placed first in the list of his names. (3) The description, if any, shall not exceed 6 words in length and need not refer to his rank, profession or calling so long as, with the candidate’s other particulars, it is sufficient to identify him.“ (Herv. d. Verf.).
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ein formelles Prüfrecht zustand.377 Es stützte sich auf eine Reihe von judicial precedents zu vorsätzlich falschen Beschreibungen auf Wahlzetteln378 und wendete insbesondere die Entscheidung R. v Election Court, ex parte Sheppard an. In jener hatte Widgery CJ auch einer bereits summarischen Prüfung auf offensichtliche Falschheit der Anschrift eines Kandidaten eine Absage erteilt.379 Als Beschreibungen not required by law seien nur solche zu verbieten, die obscene, racist or an incitement to crime sind, siehe Sch. 1 para. 12(2)(a),(b),(c) Representation of the People Act 1983. Doch war zu beachten, dass diese Norm nicht vor einem Missbrauch des Nominierungsrechtes schützte. Denn dieses war materiell vom Gericht und vom Wahlleiter nicht zu prüfen. Die Norm regelte nur, dass die Bezeichnung selbst nicht rechtswidrig sein durfte. Zusätzlich schützte sie den Wahlleiter davor, sich bei Zulassung einer rechtswidrigen Bezeichnung zu einem Beteiligten einer rechtswidrigen und ggf. für ihn strafbaren Handlung zu machen.380 Letztlich sah sich das Gericht in diesem Fall nicht in der Lage, zugunsten des Klägers zu entscheiden. Die Gründe dafür waren ein fehlendes materielles Prüfrecht des Wahlleiters ob der inhaltlichen Richtigkeit der von Kandidaten gemachten Angaben und für die Parteien ein fehlender materieller und prozessual durchsetzbarer Namensschutz. (2) Zwischenergebnis: sukzessive Anerkennung der Parteiendemokratie Das Resultat aus der Wahlrechtsnovelle 1969 waren fehlende materielle Namensrechte und damit einhergehende fehlende Prüfrechte des Wahlleiters. Der 377 Sanders v Chichester [1994] WL 1062074 – Dyson J: „In our judgment, upon the true construction of the returning officer is not entitled, when considering whether to hold a nomination paper invalid, to investigate the facts underlying the name, address or description of the candidate. The decision has to be taken by simply looking at the nomination paper of the candidate in question alone.“ Und: „[U]nder the predecessor rules of r 12(2) of the Rules did not require him to conduct any investigation of the underlying facts, but merely to look at and not beyond the face of the nomination paper itself.“ In der Literatur wird diese Auffassung geteilt, so etwa von Rawlings, Electoral Process, S. 118. 378 So etwa die Fälle R. v Election Court, ex parte Sheppard [1975] 1 W.L.R. 1319 und Greenway-Stanley v Patterson [1977] 2 All ER 663. Eine Darstellung dieser Entscheidungen bei Rawlings, Electoral Process, S. 119 ff. 379 R. v Election Court, ex parte Sheppard [1975] 1 W.L.R. 1319 (1324D) – Widgery CJ: „Furthermore, as it seems to me, he must be looking to see if the paper is good in form. The returning officer cannot possibly be expected to know where every candidate lives and where everybody who has supported the candidate is to be found. […] But what the returning officer must do in my judgment is to see that the form of the document is correct and that, where a home address is required, then there is an address purporting to be the home address of the person concerned. I do not think the returning officer’s duties, or the consequence of his performance of those duties, goes beyond seeing that the form is correct on its face.“ 380 Sanders v Chichester [1994] WL 1062074 – Dyson J: „Candidates who give descriptions that are obscene, racist or an incitement to crime deliver particulars that are ,not as required by law‘ because they contravene the law and/or will inevitably involve the returning officer in a breach of the law, not because they are an ,abuse of the right to nomination‘.“
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Literal Democrat-Fall aus Devon war für die britische Boulevardpresse durchaus amüsant,381 denn er illustriert gewissermaßen den typischen britischen Humor. Hierauf wies sogar der High Court höchstselbst hin.382 Auf juristischer Ebene offenbart es die Insuffizienz des bis 1998/2000 geltenden rudimentären britischen Parteienrechts für die faktisch existierende Parteiendemokratie. Dies stellte auch das Gericht im Fall Sanders v Chichester fest und verwies auf andere Common LawStaaten, wie Neuseeland, Australien oder Südafrika, in denen bereits Parteiengesetze den Namensschutz umfassten.383 Somit schloss der Dyson J mit einem Appell an die Politik: „It may be in the light of the present case that Parliament will wish to consider again whether a similar regime should be adopted for the conduct of elections in the United Kingdom.“384
Bei den Wahlen 1997 gab es erneut spoiler candidates, etwa einen Conversative385. Dies führte dazu, dass das House of Commons und die Regierung diesen Ball der Rechtsprechung annahmen und die fehlenden Namens- und Klagerechte nur als Symptome eines tiefergehenden Problems betrachtet wurden. Namentlich war dies die bis dahin fehlende Anerkennung der politischen Parteien im Verfassungsrecht.386 Wurde schon bei Erlass des Ministers of the Crown Act 1937 der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Parteiwesens bzw. der Parteiendemokratie das Wort geredet, galt dies nur mit Blick auf die parlamentarische Funktion der Parteien. Mit Ausnahme des vorgenannten Sex Discrimination Act 1975 gab es keine ausdrücklich auf die außerparlamentarischen Parteiorganisationen bezogenen Regelungen. Auch und gerade fanden die Parteien keinerlei Erwähnung in der Wahlgesetzgebung. Die 1997 gewählte Labour-Regierung unter Parteiführer und Premierminister Blair
381 Siehe nur Cocco, From the Conversative Party to the Literal Dems, Mirror v. 10. März 2015 (Internetquelle). 382 Als Kandidatenname verwies das Gericht etwa auf „Mickey Mouse of Disneyland“. Daneben: „[T]he rules did not prohibit candidates, whether out of spite or a wicked sense of fun, from describing themselves in a confusing way or indulging in spoiling tactics.“ Sanders v Chichester [1994] WL 1062074 – Dyson J. 383 Für einen rechtsvergleichenden Überblick über die genannten Jurisdiktionen siehe Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 passim; dies., Political Parties and Elections, passim. 384 Sanders v Chichester [1994] WL 1062074 – Dyson J, Herv. d. Verf. Tatsächlich wurden bei den Gesetzen von 1998 und 2000 die Erfahrungen aus anderen Jurisdiktionen gewürdigt, hier insbesondere aus den Common Law-Ländern wie etwa Kanada, aber auch die deutschen Regelungen des Parteien- und Wahlrechts. Für die Ähnlichkeiten zum kanadischen Recht siehe Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (251). 385 Ingle, Party System, S. 149; Ewing, Cost of Democracy, S. 77; Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (247). 386 „The principal problem with the use of party names as candidate descriptions is that political parties are not recognised in electoral law“, so Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 29 mit Zitaten aus der Parlamentsdebatte.
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setzte daher den Registration of Political Parties Act 1998 um, bevor sie sich der noch größeren Frage widmete: der Parteifinanzierung. b) Konstitutionalisierung der Parteien in der Verfassungsreform ab 1998 aa) Registration of Political Parties Act 1998 Die Konstitutionalisierung des Parteiwesens begann im Rahmen der Verfassungsreform der just gewählten Labour-Regierung nur ein Jahr nach deren Amtsantritt und der Registration of Political Parties Act 1998387 wurde zum ersten britischen Parteiengesetz.388 (1) Sinn und Zweck: Namensschutz und Ermöglichung von Listenwahlen Die Entscheidung des Literal Democrats-Fall des Jahres 1994, der den Parteien jeglichen Namensschutz versagte, öffnete die Tür für eine große Anzahl an Kandidaten mit „misleading descriptions“389 bei den Wahlen zum House of Commons im Jahre 1997. Die neue Labour-Regierung setzte umgehend das Gesetzgebungsverfahren für den Erlass des ersten britischen Parteiengesetzes in Gang. Dieser Registration of Political Parties Act 1998 ist überdies im Zusammenhang mit der devolution390 zu sehen, die auf legislativer Ebene zur Etablierung regionaler Parlamente in 387 Umfassend zu dem Gesetz und seiner historischen Entwicklung Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, passim; Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (247 ff.). 388 Vgl. etwa Piccio, Party Regulation in Europe, S. 87: „[T]he first law on political parties.“ 389 Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (247); Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313). 390 Der Begriff der devolution beschreibt, verkürzt gesagt, eine „Quasi-Föderalisierung“ (vgl. Bogdanor, Constitution, S. 89) des zuvor zentralistisch organisierten britischen Staates. Devolution ist eine „unscharfe Sammelbezeichnung für verschiedene Formen der widerrufbaren Delegation von Regierungsgewalt an eine subnationale Ebene“, so v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 25. Hierbei muss zwischen exekutiver, administrativer und legislativer devolution unterschieden werden. Entscheidend war mit Blick auf die Bedeutung der regionalen Parteien die legislative devolution, durch die Kompetenzen aus dem britischen Parlament in die untergeordneten Volksvertretungen in Nordirland, Schottland und Wales übertragen wurden. Eine abschließende Liste mit den übertragenen Gesetzgebungskompetenzen gibt es nicht, da speziell dem schottischen Parlament nunmehr die grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz zukommt, während nur die abschließend aufgezählten verbleibenden Kompetenzen nach Sch. 5 Part I Scotland Act 1998 dem britischen Parlament gänzlich vorbehalten bleiben. Diese sind: „The Constitution“, „Political parties“, „Foreign affairs“, „Public service“, „Defence“, „Treason“. Daneben werden in Part II einzelne Fragen der grundsätzlich devolvierten Gesetzgebungskompetenzen dem schottischen Parlament nicht zugesprochen. Ausführlich dazu Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 29 f. Das Prinzip der Souveränität des britischen Parlaments in Westminster soll die devolution dem Grunde nach aber nicht verändern (siehe Bogdanor, Constitution, S. 112). Vgl. dazu auch die Definition des sog. Kilbrandon-Reports, H.M.S.O. (Hrsg.), Royal Commission on the Constitution, Cmnd. 5460, S. 165: „[A] delegation of central government powers without the relinquishment of sovereignty.“
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Schottland und Wales führte. Jene Regionalparlamente und die London Assembly wurden ab dem Jahr 1999 unter Anwendung eines personalisierten Verhältniswahlrechts, des Additional Member Systems, gewählt.391 Die britischen Wahlen zum Europäischen Parlament erfolgten nach einer reinen Listenwahl (regional lists). Derweil wird der Bürgermeister von London nach dem Alternative Vote-Modell gewählt.392 Daneben ist die gesamte Verfassungsreform der damals neu gewählten Labour-Regierung in enger Zusammenarbeit mit den Liberal Democrats verabschiedet worden. Die Liberal Democrats stimmten für die devolution mitsamt des dort anzuwendenden neuen Wahlrechts und der hierfür notwendigen Parteiengesetze, weil sie in dem im Grundsatz die kleinen Parteien benachteiligendem britischen Wahlrecht zum House of Commons bevorzugt wurden.393 Um Parteilisten, zunächst bei den Wahlen zu den regionalen Volksvertretungen und perspektivisch nach einer Wahlrechtsänderung für das House of Commons, beim zuständigen Wahlleiter einreichen zu können, ist seither die Registrierung von Parteien erforderlich.394 Denn wie die Literal Democrat-Entscheidung zeigt, wählte zuvor bekanntlich jeder Kandidat „seine“ Parteibezeichnung und fügte sie dem Wahlzettel bei. Auf eine tatsächliche Zugehörigkeit zur oder gar Existenz der genannten Partei kam es hierbei nicht an. Nach s. 3(1)(a) Registration of Political Parties Act 1998 werden solche Parteinamen nicht zur Eintragung angenommen, die geeignet sind, dass der Wähler diese mit einer bereits registrierten Partei verwechselt.395 Eine konstitutive Eintragung der Parteien zur Erlangung des Rechtsstatus als politische Partei gab es gleichwohl nicht. (2) De jure fakultatives, de facto unumgängliches Registrierungsregime Zentraler Regelungsgehalt war ein zunächst noch rein fakultatives Registrierungsregime für Parteien. Dieses erlaubte es den Parteien, ihren Namen schützen zu lassen, wenn sie an Wahlen teilnehmen wollten. Dagegen war die Registrierung erforderlich, um Wahlwerbung im Rundfunk senden zu dürfen (s. 14 Registration of Political Parties Act 1998). Auch an der öffentlichen Finanzierung der Sicherheit von Parteitagen, die nach den Voraussetzungen des s. 170 Criminal Justice and Public 391 Vgl. Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 passim. Eine Einführung in die genannten Wahlsysteme gibt Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 292 ff. 392 Bogdanor, Constitutional Reform in Britain, ARPS 2005, S. 73 (86). Für eine Erklärung zu allen Wahlsystemen siehe ders., Power and the People, Kap. V 3; Budge/McKay/Newton/ Bartle, British Politics, S. 333 f. 393 Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 256; Webb, British Party System, S. 11; vgl. zur grundsätzlichen Benachteiligung kleiner Parteien im britischen Wahlsystem Bradley/Ewing/ Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 ff. 394 So schon die Vorschläge des sog. Neill-Komitee, H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, para. 11.24. 395 Wortlaut der Norm: „The registrar shall grant a request […] unless in his opinion – (a) would be likely to be confused by voters with an emblem which is already registered for another party.“
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Order Act 1994 gewährt wurde, partizipierten nach s. 15 Registration of Political Parties Act 1998 fortan nur noch registrierte Parteien. Faktisch war aus diesen Gründen die Registrierung des Parteinamens für „seriöse“ Parteien unumgänglich.396 (3) Parteiengesetz von 1998 im Vergleich zum Entwurf von 1969 Der Registration of Political Parties Act 1998 setzte im Grundsatz den bereits 1969 von der damaligen Regierung, die ebenfalls von der Labour Party gestellt wurde, eingebrachten Gesetzesentwurf um. Im Vergleich zum Gesetzgebungsentwurf 1969 gab es im Jahr 1999 zwei wesentliche Änderungen. Zum einen war in prozessualer Hinsicht die Registrierung nicht beim Chief Registrar of Friendly Societies, der Registratur für Wohlfahrtsverbände,397 sondern beim Companies House, d. h. dem Unternehmens- bzw. Handelsregister, angesiedelt.398 Grund dafür war die Verteilung von regionalen Büros des Companies House, die auch für nicht in London ansässige Parteien im ganzen Land leicht zu erreichen waren.399 Zudem sollte die Expertise des Companies House hilfreich sein, weil sich die in bzw. für Parteien handelnden Personen und ihre Interessen beim Namensschutz mit solchen von Unternehmen ähneln.400 Die Wahl des Companies House erschien auch ob der Rechtsform der Parteien, die zumeist als unincorporated associations organisiert waren, sinnvoll. Diese Organisationsform ist quasi der Archetyp jeder auf rechtsgeschäftlichem Willen beruhenden Personenmehrheit im britischen Zivilrecht und damit auch der heutigen gesellschaftsrechtlichen Unternehmensformen. In Ermangelung einer passenden Institution wurde daher das Companies House gewählt. Ausweislich der Regierungsbegründung sollte dies nur vorübergehender Natur sein, bis es zur Einrichtung einer Electoral Commission mit dem folgenden Parteiengesetz im Jahr 2000 kam.401 Auch verfolgte der Gesetzgeber das Ziel der materiellen Aufwertung des Namensschutzes. Sah der Gesetzesentwurf von 1969 noch für Dritte, die sufficient 396 Siehe für eine Würdigung des Gesetzes die Ausführungen vor allem von Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (247 f.); Ewing, Cost of Democracy, S. 77 f.; Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313 ff.) und mit einem Vergleich weiterer Common Law-Staaten Gauja, Political Parties and Elections, S. 35, 56, 63. 397 Siehe zur Definition die gesetzgeberischen Ziele von friendly societies im Vereinigten Königreich ss. 5, 7 und Sch. 2 Friendly Societies Act 1992: „Life and annuity, Marriage and birth, linked long term, Permanent health, Tontines, Capital redemption, Pension fund management.“ 398 Siehe s. 1(2) Registration of Political Parties Act 1998. 399 Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 8 f. 400 Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 (192) m. w. N.; Home Secretary Jack Straw, HC Deb 4 June 1998 vol. 313 c. 515. 401 Bereits für diese Interimslösung votierte H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, para. 11.25: „In the absence of any other suitable body, the Bill proposes that registration should be handled by Companies House.“
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
grounds (berechtige Interessen) vorbringen konnten, vor, bei einer Registrierung eines Parteinamens objection (Ein- bzw. Widerspruch) einzubringen, wurde dies nicht übernommen. Es wurde nunmehr befürchtet, dass gerade bei nicht originär einer Partei zuzuordnenden Parteibezeichnungen (z. B. etwa Tory), sondern bei konzeptionellen Attributen, auf die sich mehrere Parteien berufen wollen (wie socialist oder democrat), zu viele Probleme entstehen hätten können. Zuständig gewesen für die Regelung derartiger Konflikte wäre neben dem Registrar das vom Speaker des House of Commons eingesetzte Speaker’s Committee, das dem Registrar beratend zur Seite stehen sollte.402 Die Lösung hierfür lag darin, dass ein verwirrender, dem einer bereits registrierten Partei ähnlich klingender Name nicht mehr für eine andere wählbar sein sollte. Ebenfalls Abstand genommen wurde von der Idee, einen Schutz über die Eintragung als registered trademark (geschützter Markenname) nach dem Trade Marks Act 1994 zu ermöglichen, wie es im Gesetzgebungsverfahren zumindest diskutiert wurde. Letztlich hätte es einer Änderung des einschlägigen Trade Marks Act 1994 bedurft, dessen konstitutive Voraussetzung für die Eintragung eines geschützten Handelsnamens ein course of trade (Handelstätigkeit) ist, unter die parteipolitische Aktivität a priori nicht fällt.403 (4) Zugeständnis an die Conservative Party: Unberührtheit der inneren Ordnung Der Registration of Political Parties Act 1998 berührte indessen mit seiner rein verfahrensrechtlichen Regelung die inneren Angelegenheiten der Parteien nicht.404 So hielt die Labour-Regierung zwei Aspekte im Gesetzgebungsverfahren für besonders beachtenswert: Die Registrierung blieb – ganz im Sinne der britischen Tradition eines von Verfassungskonventionalregeln bestimmten politischen Systems – fakultativ. Nichtregistrierte Parteien blieben keineswegs von der Wahl ausgeschlossen, nur unterfielen sie nicht dem Namensschutz oder dem Recht, Wahlwerbesendungen auszustrahlen. Daneben stellte Gareth Williams (Baron Williams) in der Plenardebatte im House of Lords fest, dass die Regierung mit dem Gesetz keinerlei Absichten hege, in der inneren Ordnung der Parteien zu intervenieren, gar eine bestimmte Organisationsform, Programmziele oder Wahlmodi für Kandidaten
402 Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 22 m. w. N. auf die Debatten im House of Commons. 403 Vgl. dazu Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 30 m. w. N. auf die Rede von Junior Home Office Minister Mike O’Brien im House of Commons, HC Deb 25 June 1997, vol. 296 cc. 761 – 780. Dies ist deshalb hier von Interesse, da die Rechtsform der Parteien, die meist unincorporated associations sind, die gesellschaftsrechtliche Grundform auch eines jeden Unternehmens haben und in Einzelfällen sogar als Ltd. organisiert waren. 404 Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 (192 f.): „[B]ut does not otherwise regulate the internal affairs of political parties.“ Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das neue Wahlrecht nicht Einfluss auf die innerparteiliche Demokratie hatte. So urteilt Gay, dass das „new electoral system hastened the transfer of power over selection of candidates from local to central“.
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zu oktroyieren.405 Die Conservative Party sah sich dennoch gezwungen, sich zum Inkrafttreten des Gesetzes mit ihrer Satzungsreform den formellen Voraussetzungen für die Teilnahme an künftigen Wahlen anzupassen. Insbesondere bedurfte es der Gründung einer einzigen unincorporated association aus den drei vormals unabhängigen Entitäten, um den Namensschutz als Conservative Party auch außerhalb des Parlaments geltend machen zu können. (5) Zwischenergebnis: Parteiengesetz von 1998 als Interimslösung Handelt es sich in seinem materiellen Gehalt zwar um rein wahlrechtliche Aspekte, so bleibt der Registration of Political Parties Act 1998 im historischen und teleologischen Kontext mit der Verfassungsreform der Labour-Regierung die erste umfassende verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien. Dabei ist das Gesetz von 1998 in mannigfaltiger Hinsicht nur als „interim legislation“406 zu sehen. Die Registrierung war fakultativ und es wurden keine Voraussetzungen an die Parteien gestellt, etwa das Einreichen einer Parteisatzung als Nachweis der Existenz sowie weiterer formeller wie materieller Vorgaben für die Satzung (Besetzung von bestimmten Posten wie des Schatzmeisters) in Bezug auf die Parteienfinanzierung. Diese Themen wurden erst mit nachfolgenden PPERA 2000 angegangen. bb) PPERA 2000 als Parteienfinanzierungsgesetz Das Vereinigte Königreich erhielt mit dem PPERA 2000 vor allem eines der strengsten regulierten privaten Parteifinanzierungssysteme, während die staatliche Finanzierung rudimentär blieb.407 Mit dem Gesetz wird auch die Durchführung von Referenden geregelt, jedoch ist das Gesetz in der Hauptsache als ein Parteiengesetz zu sehen.408 Dabei finden sich in diesem Gesetz auch andere Aspekte der Organisation politischer Parteien, wie im Folgenden näher dargelegt wird. (1) Diskussionen um staatliche Parteienfinanzierung seit den 1970er Jahren Die britische Parteien- und Politikfinanzierung war, wie bereits aufgezeigt, von einer typisch britischen Kultur der Freiwilligkeit geprägt. In dieser finanzierten sich die Parteien seit jeher vorwiegend aus privaten Quellen. Damit verbunden war ein Vertrauensvorschuss für die politischen Eliten seitens der Bürgerschaft409 sowie 405 „I emphasise that the way a party is to be organised, how it selects candidates and what its aims and objectives are to be, all remain for each party to determine individually in accordance with its own rules or constitution. Any organisation, large or small, will be able to register provided that it intends to contest an election.“ HL Deb 8 October 1998 vol. 593 c. 659. Dazu auch Ewing, Cost of Democracy, S. 77 f. 406 Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313). 407 Brändle, Parteienförderung, S. 199 f., spricht hierbei von einer „Überregulierung“. 408 Siehe statt vieler Ewing, PPERA 2000, ILJ 2001, S. 199 (199). 409 Vgl. Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 258 m. w. N.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
zwischen den Parteien eine gegenseitige Verpflichtung auf das Prinzip der Fairness.410 Jedoch kamen im Laufe des ausklingenden 20. Jahrhunderts immer wieder die Themen „Korruption“ und eine „undurchsichtige Spendenpraxis“ auf die politische Tagesordnung.411 So sehr das Staatsrecht die Bedeutung der Parteien außerhalb des Parlaments einstmals unbeachtet ließ, gab es doch parlamentarische Impulse zur gesetzlichen Regelung der Finanzierung der außerparlamentarischen Parteiorganisationen. Auch im britischen verfassungs- und parteienrechtlichen Schrifttum finden die Ergebnisse der ab den 1970er Jahren eingesetzten Kommissionen zur Erarbeitung von Vorschlägen für die Finanzierung der Parteien außerhalb des Parlaments eine nicht zu vernachlässigende Berücksichtigung und bisweilen breite Unterstützung,412 wenngleich keines je in Gesetzesform gegossen wurde.413
410 Dazu nur der sog. Jenkins-Report: „First, ,fairness‘, which is an important but imprecise concept. Fairness to voters is the first essential. […]. Parties should, like the electoral system, be servants rather than masters, although in their case it is necessarily to a segment rather than to the whole which they appeal. If they aspire to be parties of government, however, that segment needs to be a wide one, and if the nation as a whole is to function well they need also to show some respect for the opinions of their opponents […]. Such an approach is almost certainly a recipe for parties getting above themselves, being intolerantly dogmatic when they are successful, and degenerating into narrow sects when they are not. It is also a recipe for the ,blame the other side for everything‘ confrontational style of politics, which has done much to reduce respect for the functioning of the House of Commons and for politicians generally.“ H.M.S.O. (Hrsg.), The Report of the Independent Commission on the Voting System, Cm 4090-I, Ch. 2 para. 6; vgl. dazu ebenfalls Gay, Voting System, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 49 f. 411 Die Einführung des PPERA 2000 lag auch an den im Jahre 1994, als die Conservative Party die Regierung stellte, erhobenen sog. sleaze-Vorwürfen (d. h. Korruption, vor allem Nepotismus) aufgrund der sog. cash for questions-Affäre. Siehe für diesen – linguistisch gesehen umgangssprachlichen – Begriff im juristischen und politikwissenschaftlichen Schrifttum Torres-Spelliscy/Fogel, Corporate Political Spending, USFLR 2011, S. 525 (550 m. w. N.); Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (313); Ingle, Party System, S. 60, 97; zu den diversen Skandalen siehe ferner Loveland, Constitutional Law, S. 215, 252 ff. 412 Vgl. Blackburn, Electoral System, S. 346 ff., insb. 351, der sich für eine staatliche Finanzierung ausspricht: „The form of future funding of political parties in Britain should depend on efforts to extend the mass membership of parties, generating fees and donations from individual members, introducing limited scheme of public subsidies […] to perform their functions – especially in Opposition and during electing campaigns.“ In ähnlicher Weise auch Ewing, Cost of Democracy, S. 225 ff. Eher einer Reform abgeneigt zeigt sich indes Bogdanor noch in den 1980er Jahren: Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (128 ff., 150 f.). 413 Siehe H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, paras. 7.14 – 7.23. Dies ist der Bericht des vom Premierminister einberufenen Committee on Standards in Public Life, zu dieser Zeit auch nach dem Vorsitzenden Neill-Komitee bekannt, das sich i. E. für eine Mischform aus der traditionell britischen privaten und der aus anderen Jurisdiktionen bekannten staatlichen Parteienfinanzierung einsetzte. Damit kann zumindest die Grundidee staatlicher Parteienfinanzierung als h. M. in der Wissenschaft gesehen werden. Hierzu Gauja, Political Parties and Elections, S. 153 f.
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Das im Jahre 1976 vom House of Commons eingesetzte Committee on Financial Aid to Political Parties stellte seinen Abschlussbericht, den sog. Houghton-Report, unter das verfassungsrechtliche Leitbild der Parteiendemokratie.414 Die dortigen Vorschläge zur Regelung der Parteienfinanzierung beinhalteten die Einführung einer staatlichen Unterstützung für die Tätigkeiten der Parteien außerhalb des Parlaments, wie man sie aus anderen westlichen Verfassungsstaaten zu dieser Zeit bereits kannte.415 Im Jahre 1981 veröffentlichte die von den drei großen Parteien getragene, als private Vereinigung rechtlich nicht dem Parlament zugehörige,416 Hansard Society den Abschlussbericht ihrer Commission on the Financing of Political Parties, in welchem sie eine staatliche Finanzierung vorschlug. Hierbei wären den Parteien für jede Spende von mehr als zwei GBP je zwei weitere an Staatsgeldern zugekommen (sog. matching funds).417 Beide Berichte wurden nicht in Gesetze umgesetzt. Sie wurden nicht einmal Gegenstand der Debatte im House of Commons, während sich zumindest das House of Lords mit der Thematik auseinandersetzte.418 Diese und andere419 Vorschläge sind stets im Kontext ihrer Zeit zu betrachten, sie bieten oftmals nur Lösungen für sich einstmals konkret stellende Fragen und sind somit Ausdruck von skandal- bzw. anlassbezogenen Gesetzgebungsinitiativen und weniger von generellen Konzeptionen einer Parteien- oder Politikfinanzierung.420 414
Mit einem pathetischen Einschlag: „Effective political parties are the crux of democratic government. […] Parties are the people’s watchdog, the guardian of our liberties“, H.M.S.O. (Hrsg.), Report of the Committee on Financial Aid to Political Parties, Cmnd. 6601/1976, para. 9.1, zitiert nach Blackburn, Electoral System, S. 4. 415 Siehe hierfür Ewing, Cost of Democracy, S. 186 ff. m. w. N.; Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 232 f. m. w. N. und mit Ausführungen zur parteipolitischen Orientierung der jeweils eingesetzten Kommissionen für die Fragen der Parteienfinanzierung. So bestand die sog. Houghton-Kommission mehrheitlich aus Labour-Abgeordneten und setzte sich für eine staatliche Finanzierung ein, die zuvorderst der Labour Party selbst einen Vorteil verschafft hätte. 416 Zur Bedeutung der Hansard Society und ihres Berichts von 1981 siehe Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 231. 417 Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 545 m. w. N. 418 Siehe HL Deb 31 January 1979 vol. 398 cc. 173 – 222; vgl. dazu ausführlich Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 230. 419 So sprach sich das Home Affairs Select Committee in seinem Entwurf einer Parteienfinanzierung im Jahre 1993 mehrheitlich gegen eine staatliche Finanzierung aus, siehe dazu Ewing, Cost of Democracy, S. 2 m. w. N. 420 Siehe allgemein zu der Verfassungsreform 1997 und den fehlenden stringenten verfassungspolitischen Leitlinien Straw, New Labour, P.A. 2010, S. 356 (359). Vgl. grundsätzlich mit Blick auf die Haltung des Rechts gegenüber den Parteien Hartley/Griffith, Government and Law, S. 29: „It is remarkable how the organization of political parties in the United Kingdom has remained unaffected by the professions of the law […] and so long as they do not infringe the rules of laws applying to people generally there is no immediate reason why the law should seek to lay down rules for their conduct.“
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
(2) Weg zum Gesetz: Finanzierungsskandale in den 1990er Jahren Der PPERA 2000 wiederum resultierte aus dem 5. Bericht des Committee on Standards in Public Life (zu dieser Zeit auch nach dem Vorsitzenden Neill-Komitee genannt), von dem über 90 % der Vorschläge in das spätere Gesetz übernommen wurden.421 Das Committee on Standards in Public Life ist entgegen einer im deutschen Schrifttum zu findenden Behauptung kein parlamentarisches Gremium, sondern ein Beirat (advisory non-departmental public body) und nur in seiner Zusammensetzung nach Parteienproporz einem standing committee422 des House of Commons ähnlich.423 Es bestand bereits seit 1995, wurde just nach der Wahl der neuen Regierung unter Premierminister Blair mit der Ausarbeitung von Vorschlägen für die Parteienfinanzierung beauftragt. Als ein überparteiliches Gremium setzte es sich nicht nur proportional aus Vertretern der drei großen Parteien, sondern auch aus Experten aus der Parteienforschung zusammen. Es genoss daher auch eine hohe politische Reputation über die Parteigrenzen hinweg. War die Erarbeitung von Vorschlägen für die Parteienfinanzierung 1995 noch explizit ausgeschlossen gewesen, weil die konservative Regierung negative Schlagzeilen über die Quellen und Höhe ihrer Spenden fürchtete,424 erhob Blairs Regierung die Erarbeitung eines Regelungsregimes für die Parteien-, Abgeordnetenund Fraktionsfinanzierung zum Ziel des in Auftrag gegebenen neuen Berichts. Die austarierte Repräsentation der großen Parteien im Komitee, dessen darauf beruhende hohe politische Reputation und der öffentliche Druck, der auf den Parteien zu jener Zeit lastete, führten dazu, dass die Vorschläge des sog. Neill-Komitees vom Parla-
421 Siehe nur Fisher, Regulating Politics, in: ders./Denver/Benyon (Hrsg.), Central Debates, S. 389 (391, 402). 422 Zur Unterscheidung der diversen Formen von committees (Ausschüssen) im House of Commons: Standing committees sind solche, die zu Anfang einer Legislaturperiode vom Committee of Selection nach Parteienproporz gewählt werden. Diese werden – entgegen ihrer anders anmutenden Bezeichnung – für jedes Gesetzesvorhaben in der ersten Lesung eines Gesetzesvorhabens neu einberufen. Im Grundsatz sind diese für diejenigen Gesetzesvorhaben in der zweiten Lesung verantwortlich, mithin für solche Gesetze, die nicht von outstanding political or constitutional importance sind. Gesetze von derartig grundlegender Bedeutung werden von der ersten bis zur dritten Lesung im Plenum debattiert. So Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 196 f. m. w. N. 423 Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 235, geht davon aus, es handele sich um ein standing committee (des Parlaments). Dem stehen aber die Erläuterungen zur Funktion durch das Komitee – vertreten durch den damaligen Vorsitzenden Alistair Graham – vor dem Public Administration Select Committee des House of Commons entgegen: „First on status, it is important to stress that the committee is not a regulator. We are an independent committee which provides public policy advice to the Prime Minister on issues of ethics and propriety. We do not have any executive or regulatory powers or functions.“ T.S.O. (Hrsg.), House of Commons, Public Administration Select Committee, Ethics and Standards, Corrected Transcript of Oral Evidence (27 April 2006), HC 884-iv 2005 – 06. Siehe dazu nur Maer, Committee on Standards in Public Life, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6. 424 Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 235 m. w. N.
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ment überwiegend angenommen wurden.425 Im Wesentlichen schaffte es die Steuervergünstigung von Parteispenden als einziger substantieller Vorschlag nicht in den Regierungsentwurf zu dem Parteiengesetz. Der Bericht stand unter dem Leitbild der Parteiendemokratie und formulierte sieben Leitideen für das politische Leben (Seven Principles of Public Life): Selflessness, Integrity, Objectivity, Accountability, Openness, Honesty und Leadership.426 (3) Zentrale Regelungsinhalte: Registrierung und Finanzierung der Parteien Schon in der politischen Vorgeschichte des PPERA 2000 offenbart sich, dass es sich bei diesem im Kern um ein Parteifinanzierungsgesetz handelt.427 Bogdanor hält daher fest, dass die Parteien nur als „by-product of a debate on political finance“428 konstitutionalisiert wurden. (a) Aufhebung des freiwilligen Registrierungsregimes von 1998 Formal hob der PPERA 2000 den Registration of Political Parties Act 1998 zu großen Teilen auf.429 Materiell überführte er das bis dahin freiwillige Registrierungsregime des Gesetzes von 1998 in ein verpflichtendes.430 Der Terminus der „Verpflichtung“ darf gleichwohl nicht missverstanden werden, denn auch unter der neuen und bis heute geltenden Regelung müssen sich Parteien nur registrieren lassen, um Einzelkandidaten zu nominieren oder Listen einreichen zu dürfen (s. 22 PPERA 2000).431 Derweil ist eine Partei auch ohne Registrierung eine Partei im Rechtssinne und die Registrierung ist nur deklaratorisch und nicht konstitutiv für die Existenz als Partei.432 Sie hat jedoch insbesondere wahlrechtlich konstitutiven Charakter für die 425
Dabei wurden einige politische Auseinandersetzungen schon ins Komitee vorverlagert, so etwa die Frage der staatlichen Parteienfinanzierung, gegen die sich das Komitee im Bericht ablehnend aussprach und die auf parlamentarischer Bühne nicht mehr diskutiert werden musste. 426 H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, S. II. Diese sind von dem Vorgänger des Neill-Komitees, dem sog. Nolan-Komitee, bereits erarbeitet worden. Eine Rezeption dieser Prinzipien bei Maer, Committee on Standards in Public Life, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 5. 427 Siehe nochmals dazu Ewing, PPERA 2000, ILJ 2001, S. 199 (199 und passim). 428 Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 passim. Bezüglich der Referenden regelt der PPERA 2000 nur deren Ausführung, vgl. auch der Langtitel des Gesetzes: „An Act […] to make provision about election and referendum campaigns and the conduct of referendums.“ 429 Ewing, Cost of Democracy, S. 78 m. w. N. 430 Vgl. nur Ewing, Cost of Democracy, S. 78. 431 Wortlaut der Norm: „Parties to be registered in order to field candidates at elections. (1) Subject to subsection (4), no nomination may be made in relation to a relevant election unless the nomination is in respect of – (a) a person who stands for election in the name of a qualifying registered party; or (b) a person who does not purport to represent any party; or (c) a qualifying registered party, where the election is one for which registered parties may be nominated.“ 432 Vgl. die Erläuterungen der Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.7: „[R]egistration as a political party enables a party’s candidates to stand under a party
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Erlaubnis, Kandidaten für alle Wahlen außer für Kommunalwahlen unter Parteilabel aufzustellen. Kandidaten von nichtregistrierten Parteien dürfen nur noch als independent433 auftreten. Außerdem ist die Registrierung Voraussetzung für die Gewährung von freier Rundfunksendezeit in Wahlkämpfen (s. 37(1) PPERA 2000) und der Kostenübernahme für die Sicherheit auf Parteitagen, wie es bereits seit dem Registration of Political Parties Act 1998 der Fall war.434 (b) Electoral Commission als Aufsichtsbehörde für die Parteien Die Electoral Commission wurde zur neuen Aufsichtsbehörde mit umfassender Kompetenz für die Überwachung von Wahlkämpfen und Wahlen, des Zuschnitts von Wahlkreisen, der Durchführung von Referenden und im Besonderen für die Registrierung der Parteien sowie für die Überwachung ihres Finanzgebarens (Part I PPERA 2000).435 Diese ist eine unabhängige öffentliche Einrichtung vergleichbar mit dem National Audit Office und unterliegt keinen Weisungen durch die Regierung (Sch. 1 para. 1 PPERA 2000).436 Sie erstattet dem Parlament direkt Bericht. Nach s. 3(4)(a) PPERA 2000 werden die neun bis zehn Electoral Commissioners von der Krone auf Empfehlung des Premierministers ernannt und bis 2009 durfte gar keiner von ihnen Mitglied einer registrierten Partei sein.437 Die Electoral Commission ist seither anstelle des Companies House zuständig für die Registrierung der Parteien nach Part II, insbesondere s. 28(1) PPERA 2000. (c) Regulierung der Spendenfinanzierung von Parteien, Abgeordneten und Fraktionen Im Hinblick auf die Parteien ist neben ihrer Registrierung die Finanzierung von Parteien, Kandidaten, Abgeordneten und Fraktionen der zentrale Regelungsgegenstand des Gesetzes. Die Parteien wurden damit aus dem verfassungspolitischen und -rechtlichen Schatten geholt, unter dem sie lange operierten. Damit wurde die Fiktion einer Wahl von parteilich unabhängigen Kandidaten aufgehoben, die im Wahlrecht description and/or emblem, and protects the party name: non-registered parties have no protection over use of their party name and their candidates are not entitled to stand under the party name.“ 433 Dieser Begriff wird i. S. v. s. 22(1)(b) PPERA 2000 definiert als „a person who does not purport to represent any party“. 434 Vgl. Davis, Political Freedom, S. 58 f. 435 Ein stichpunktartiger Überblick bei Budge/McKay/Newton/Bartle, British Politics, S. 337. Für die Bedeutung der Electoral Commission in den ersten zehn Jahren seit Gründung im Jahre 2000 mit einer kritischen Würdigung siehe Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 passim. 436 Siehe nur Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 272, und für den Vergleich mit dem National Audit Office Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (314); Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (158). 437 Dies wurde durch die s. 5 Political Parties and Elections Act 2009 geändert. Seitdem können vier der neun bis zehn commissioners Parteimitglieder sein.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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und der Politikfinanzierung seit dem Corrupt and Illegal Practices Act 1883438 und den Wahlrechtsreformen seit dem Reform Act 1832 gegolten hatte.439 Obschon der Wahlkampf längst national geführt wurde und somit aufwendig und teuer war, wurden die Wahlkampfaktionen der nationalen Parteien, bspw. Plakataktionen oder Wahlwerbung in überregionalen Zeitungen, spezialgesetzlich schlicht nicht erfasst.440 Dabei zeigen allein die Zahlen der Ausgaben im Wahlkampf vor Erlass der Parteiengesetze – allein die ca. 28 Millionen GBP für die Wahlkampagne der Conservative Party – die Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung. An dieser Stelle sind als maßgebliche Neuerungen durch das Gesetz von 2000 zu nennen:441 Spenden, die an die nationalen Parteiorganisationen ergehen und über 5.000 GBP (seit 2009: 7.500 GBP) liegen, sowie solche an die lokalen Parteiorganisationen, die 1.000 GBP (heute: 1.500 GBP) überschreiten, müssen quartalsweise veröffentlicht werden (ss. 62, 63 PPERA 2000). Spenden von Ausländern sind dem Grunde nach unzulässig, da sie nicht unter die enumerativ aufgezählten permissible donors nach s. 54 PPERA 2000 fallen.442 Eine maximale Spendenobergrenze für Einzelspenden kennt das Gesetz nicht.443 Für den Wahlkampf aller Parteien ist gesetzlich eine maximale Wahlkampfkostenhöhe festgelegt, die sich national und nach den Regionen (England, Schottland, Wales und Nordirland) berechnet (Part V, VI, s. 79 und Sch. 9 para. 3 PPERA 2000). Zudem sind die Parteien dazu verpflichtet, jährlich ihre Rechenschaftsberichte der Electoral Commission vorzulegen. Nach-
438 Zur Beschränkung der Wahlkampfkosten darf seither jeder Kandidat nur eine bestimmte Summe im Wahlkampf ausgeben. Seit 2005 sind dies 7.150 GBP plus 5 bzw. 7 Pence je Wähler (unterschiedliche Zahlen für county- und borough-Wahlkreise). Eine abweichende Regelung i. H. v. 100.000 GBP gilt nur für by-elections (Nachwahlen), siehe die Zahlen im geänderten s. 76(2) Representation of the People Act 1983. Vgl. grundsätzlich dazu die Ausführungen von Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 107, der 2006 noch von bereits damals älteren Zahlen ausgeht. Für das Jahr 1997 nennt die höheren Zahlen korrekt Koole, Political Finance, in: Nassmacher (Hrsg.), Democracy, S. 73 (73, 86 f.). 439 Siehe s. 8(1) Corrupt and Illegal Practices Act 1883: „Subject to such exception as may be allowed in pursuance of this Act, no sum shall be paid and no expense shall be incurred by a candidate at an election.“ 440 Statt vieler grundsätzlich zu der auf lokale Einzelkandidaten beschränkten Regulierung der Wahlkampffinanzierung Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 160 f.; Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245). 441 Vgl. für eine detaillierte Darstellung des Regelungsregimes der Parteifinanzen nach dem PPERA 2000 Ewing, Cost of Democracy, S. 77 ff. 442 So der im Schrifttum (statt vieler Turpin, British Government, S. 545) und in der Rechtsprechung einmütig gezogene Schluss zu den ss. 54, 56, 58(2) PPERA 2000 R. (Electoral Commission) v City of Westminster Magistrates’ Court [2010] UKSC 40 (para. 25) – Phillips LJ: „The primary object is to prevent donations to political parties from foreign sources.“ 443 Größere Spenden schon vor der Wahl zum House of Commons im Jahr 2001 haben zu entsprechenden Forderungen geführt, so hat etwa die Labour Party eine Spende i. H. v. einer Million GBP von dem Formel 1-Gründer Bernie Ecclestone erhalten; vgl. dazu Elliot/Thomas, Public Law, S. 174 ff.; Jones/Norton, Politics UK, S. 131.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
weise über die Kontenführung, Einnahmen und Ausgaben, müssen für mindestens sechs Jahre aufbewahrt werden (s. 41 PPERA 2000).444 Im Jahr 2009 bedurften die bisherigen Regelungen einer Revision vor dem Hintergrund der cash for honours- bzw. loan for peerages-Affäre.445 In dieser wurden Kredite mit einer unverhältnismäßig langen Rückzahlung von reichen Persönlichkeiten gegen Nominierungen für Sitze im House of Lords an die Labour Party vergeben.446 Als Kredite – die in der Praxis wohl nie zurückgezahlt worden wären. Die Kredite waren marktüblich verzinst und somit on commercial terms vergeben worden. Deshalb waren sie auch nicht unter den Begriff der Spende nach s. 50(2)(e) PPERA 2000 zu subsumieren.447 Diese Regelungslücke wurde mit dem Political Parties, Elections and Referendums Act 2009 geschlossen, der u. a. den Part 4 A mit dem Titel „Regulation of loans and related transactions“ in den PPERA 2000 einfügte.448 Daneben wurde in Folge der cash for honours-Affäre eine weitere Kommission zur Untersuchung der Parteienfinanzierung durch die Labour-Regierung unter der Leitung von Hayden Phillips eingesetzt, die erneut – i. E. erfolglos – eine staatliche Parteienfinanzierung i. H. v. maximal 25 Millionen GBP pro Partei vorschlug.449 c) Zwischenergebnis: Parteienrecht der ersten Generation Der PPERA 2000 stellt ein Parteiengesetz der „ersten Generation“450 dar, insofern er auf bestimmte Fragen der Parteientätigkeit in und außerhalb des Parlaments Antworten findet. Wie aufgezeigt, bleibt er auf Parteienfinanzierung und -registrierung fokussiert, konstitutionalisiert die Parteien nur als „by-product of a debate on 444
Vgl. mit weiteren Erläuterungen Ewing, Cost of Democracy, S. 81 ff. Die Labour Party war zu jener Zeit mit ca. 35 Million GBP verschuldet und erhielt über von Michael Levy (Lord Levy) akquirierte Spender – allesamt reiche Persönlichkeiten – Kredite i. H. v. ca. 13 Million GBP, siehe nur Rawnsley, End of the Party, S. 357 f. 446 Es sei darauf verwiesen, dass selbige Vorwürfe auch die Conservative Party trafen, sogar kurze Zeit vorher, vgl. Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (160) m. w. N. auf einen in The Guardian am 21. Mai 2005 erschienenen Artikel. 447 Wortlaut der Norm: „,Donation‘, in relation to a registered party, means (subject to section 52) – (e) any money lent to the party otherwise than on commercial terms.“ 448 Ein Überblick über alle getroffenen Regelungen, inklusive des neuen Sanktionierungsmechanismus (civil sanctions) nach s. 147 PPERA 2000, geben Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 272, und Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 1 f., 9 m. w. N. auf das Government White Paper on Party Finance and Expenditure. 449 Siehe etwa Jones/Norton, Politics UK, S. 131; Elliot/Thomas, Public Law, S. 176. Für eine Übernahme der Vorschläge des Phillips-Komitees im Regierungsvorschlag siehe T.S.O. (Hrsg.), Party Finance and Expenditure in the United Kingdom: The Government’s Proposals, Cmnd. 7329 – 08, S. 49 ff., 64. 450 Vgl. für den Begriff in Bezug auf das deutsche PartG: Morlok, Zweite Generation des Parteienrechts, in: Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz, S. 53, passim. 445
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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political finance.“451 Ein umfassendes Parteiengesetz stellt dieses Gesetz nicht dar. Im Lichte des britischen Verständnisses von Politik als voluntatives, weitgehend frei von rechtlichen Zwängen zu haltendes, sich selbst ordnendes System bleibt die innere Ordnung der Parteien weitgehend unberücksichtigt. Hinsichtlich der nur funktionalen Teildefinitionen der Parteien und in Ermangelung einer umfassenden Definition des Parteienbegriffs wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren die (bisher theoretisch gebliebene) Frage debattiert, ob nicht de facto von einer lediglich nicht registrierten Partei aufgestellte Kandidaten als vermeintlich unabhängige Kandidaten auftreten, um den in Zeiten eines Parteienverdrusses vorhandenen Vorteil zu genießen, als „parteilos“ i. S. v. unabhängig und unkorrumpiert zu gelten. Damit könnte die aufstellende Partei zwar nicht von den vom Gesetz vorgesehenen Vorteilen, u. a. den kostenlosen Wahlwerbesendungen im Fernsehen, profitieren. Dies würde aber durch die soeben genannte Möglichkeit kompensiert, als vermeintlich parteiloser Kandidat mit einer ggf. finanzstarken Partei im Hintergrund dennoch (kostenpflichtige) Wahlwerbung zu machen. Zusätzlich wären die Partei und der Kandidat nicht dem finanziellen Regelungsregime des PPERA 2000 unterworfen.452 Eine weitere Besonderheit aus der fakultativen Parteiregistrierung wurde von der Electoral Commission in ihrem Jahresbericht 2003 zur Umsetzung des PPERA 2000 benannt, die in der spiegelbildlichen Situation zu dem soeben skizzierten Fall begründet liegt. Dort heißt es: „Occasionally, organisations seek to register a party name in order to gain publicity and promote an organisation or brand, without necessarily having any intention of seriously contesting elections.“453
Ermöglicht wird dies dadurch, dass die Registrierungsvoraussetzungen kein „firm commitment to contesting a relevant election“454 verlangen, sondern nur eine rein formal zu verstehende Absichtserklärung. Die Electoral Commission schlug zur Füllung dieser Regelungslücke zwei Voraussetzungen vor, die aus dem deutschen Parteienrecht bekannt sind. Diese umfassen u. a. die Idee der Ernsthaftigkeit einer Partei, wie sie vom BVerfG aus der Regelung des Art. 21 GG gelesen wird. Alternativ bzw. zusätzlich könnte nach Ansicht der Electoral Commission eine regelmäßige Überwachung der erforderlichen Erklärung eingeführt werden, welche enthalten würde, dass die „registration […] lapse[s] after a specified period of time if no candidates represent the party at a relevant election.“455 Zu einer Umsetzung dieser Vorschläge ist es bis heute allerdings nicht gekommen. 451
Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717). Mit zahlreichen Nachweisen Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (250). 453 Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.5, Herv. d. Verf. 454 Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.5. 455 Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.9: „There are a variety of ways in which the threshold for registration could be increased, for example: demonstrable minimum number of party members to be listed as part of the application; moni452
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Die innere Ordnung, hierbei zuvorderst die innerparteiliche Demokratie, bleibt ausweislich des dem Gesetzgebungsprozess vorangegangenen Berichts des sog. Neill-Komitees gänzlich unbeachtet. Ewing urteilt daher, dass „as a matter of legal form, political parties remain primitive institutions: unincorporated associations performing overwhelmingly public functions. Nevertheless, political parties are being drawn into the legal spotlight as legal entities, mainly as a result of the PPERA“.456
An welchen Stellen der bis heute geltende PPERA 2000 zumindest implizit Anknüpfungspunkte zur inneren Ordnung der Parteien enthält, wird später noch in dieser Untersuchung erläutert. 4. Common Law-Status der politischen Parteien Da das Common Law integraler Bestandteil des Verfassungsrechts ist und von den Gerichten gesetzt und angewendet wird, sind für die Untersuchung des verfassungsrechtlichen Parteienstatus auch Gerichtsentscheidungen zu berücksichtigen. a) Status der Öffentlichkeit der Parteien im Außenverhältnis Im Jahre 1997 wurde von der Referendum Party eine injunction (Unterlassungsurteil) beim High Court gegen einen aus ihrer Sicht unwahren und verleumderischen (libellous457) sowie reißerischen Artikel in der Sunday Business beantragt. Der Autor des in dieser Wochenzeitung erschienenen Artikels behauptete, die Partei, die 547 Kandidaten für die Wahlen zum House of Commons aufgestellt hatte, plante einen Großteil der Nominierungen zurückzuziehen, um sich im Angesichte schlechter Umfragewerte vor einer Wahlniederlage gesichtswahrend zu schützen.458 Die Referendum Party, vertreten durch den Vorsitzenden James Goldsmith, berief sich auf ihre privatrechtliche Rechtsform als private company limited by guarantee. Zu dieser Rechtsform stellte Buckley J zunächst fest, dass die Referendum Party „[f] or all practical purposes, […] although incorporated as a company limited by guartoring the declaration of intent to contest relevant elections required as part of application (e. g. registration to lapse after a specified period of time if no candidates represent the party at a relevant election); increased registration fee; level of income/expenditure; additional number of statutory office holders.“ 456 Ewing, Cost of Democracy, S. 85, Herv. d. Verf. 457 Libel ist eine defamation (Beleidigung) in schriftlicher Form. Eine mündliche Beleidigung wird unter dem Begriff slander gefasst. Siehe Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 454 f.: „Defamation – slander or libel – may be defined as the publication, whether oral or written, of a falsehood which damages the reputation of the person concerned and lowers the victim’s reputation in the eyes of ,right thinking members of society generally‘.“ Grundlegend aus der Rechtsprechung hierzu Sim v Stretch [1936] 52 T.L.R. 669 (671) – Atkin LJ. 458 Eine kurze Zusammenfassung bieten jeweils etwa Alder, Constitutional Law, S. 496; Davis, Political Freedom, S. 76.
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antee, is or operates as a political party.“459 Die Unternehmensrechtsform hatte demnach keinerlei Auswirkungen auf ihre Funktion und ihren Status als politische Partei.460 Im nächsten Schritt war die Frage zu klären, ob eine außerparlamentarische politische Partei eine faire und wahrheitsgemäße Berichterstattung in der Presse verlangen kann. Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen waren bis dahin weitgehend im richterrechtlichen Common Law entwickelt worden und haben erst in den Folgejahren eine signifikante Kodifizierung durch den Human Rights Act erfahren, der Art. 10 EMRK in britisches Recht inkorporierte.461 Vorwiegend blieben also die Prinzipien des Common Law anzuwenden. Buckley J rekurrierte auf die Entscheidung Derbyshire County Council v Times Newspapers Ltd. des House of Lords.462 Dieser Entscheidung folgend sind im Lichte der existenziellen Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit im demokratischen Rechtsstaat463 nach der Rechtsprechung des House of Lords weder Organe der kommunalen Selbstverwaltung noch solche der nationalstaatlichen Ebene berechtigt, Rechtsbehelfe gegen beleidigende Äußerungen von Privaten einzulegen. Wörtlich urteilte Keith LJ in der angewandten Entscheidung: „It is of the highest importance that a democratically elected governmental body […] should be open to uninhibited public criticism.“464
In dem nunmehr vom High Court zu entscheidenden Fall lag aber ein wesentlicher Sachverhaltsunterschied darin, dass hier keine party in public office betroffen war, sondern die außerparlamentarische Partei, deren Vertreter sich gerade erst um öffentliche Ämter bewarben. Folglich weitete der High Court das Prinzip aus Derbyshire County Council v Times auf die vorliegende Situation aus: Er sah keinen rechtlich relevanten Wertungsunterschied darin, ob eine Partei bereits in öffentliche Ämter gewählt ist oder ob sie sich erst zur Wahl stellt,465 weil in beiden Fällen das 459 Goldsmith v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 (409) – Buckley J. Vgl. dazu Youngs, Comparative Law, S. 44. 460 Ähnlich auch zu der Entscheidung Davis, Political Freedom, S. 76. 461 Ausführlich hierzu Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 905 ff. m. w. N. Durch den Defamation Act 2013 wurden die richterrechtlich entwickelten und gesetzlich fixierten prozessualen und materiellen Bestimmungen konkretisiert und mit Blick auf moderne Massenmedien, insbesondere das Internet, ausgeweitet. Vgl. schon zum Gesetzesentwurf Howarth, Libel, M.L.R. 2011, S. 845 passim. 462 Goldsmith v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 (410 f.) – Buckley J. 463 Vgl. Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 452 m. w. N. 464 Derbyshire County Council v Times Newspapers Ltd. [1993] AC 534 (547 A) – Keith LJ, Herv. d. Verf. 465 „[T]hose who held office in government and/or were responsible for public administration.“ Und: „[B]ut it seems to me that the public interest in free speech and criticism in respect of those bodies putting themselves forward for office or to govern is also sufficiently strong to justify withholding the right to sue“, so Goldsmith v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 (410 f.) – Buckley J. Prägnant auch Davis, Political Freedom, S. 74: „[T]he judge refused to make a distinction between those having power and those seeking power.“
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
gleiche schützenswerte öffentliche Interesse an der Transparenz des Innenlebens des politischen Prozesses besteht. Im Ergebnis änderte die privatrechtliche Rechtsform der Partei als Hülle daran nichts, da ihre tatsächliche „public function as a political party“466 im Kern überwiegt. Das überwiegende öffentliche Interesse an einer – auch tendenziösen – Berichterstattung führt aber, so Buckley J ausdrücklich, nur zu einem fehlenden Recht der Partei als Organisation, gegen beleidigende und verleumderische Äußerungen vorzugehen. Der einzelne Kandidat bzw. Parteifunktionär ist freilich nicht in den ihm individualrechtlich zustehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Beleidigungen und Verleumdungen beschnitten, wie dies nach der Rechtsprechung des House of Lords auch für Inhaber öffentlicher Ämter auf lokaler und nationaler Ebene gilt.467 Den (außerparlamentarischen) Parteien wird durch dieses Urteil gewissermaßen ein nachteiliger bzw. negativer Status der Öffentlichkeit zuteil.468 Werden Parteien durch das Urteil ausdrücklich mit public authorities (öffentlichen Stellen) im politischen Kontext und in ihren Rechtsschutzmöglichkeiten gleichgestellt, so ist in der Literatur gar die Rede davon, dass dieses Urteil ein erster Schritt sein könne, Parteien nach. s. 6 Human Rights Act als public bodies zu qualifizieren, was u. a. Auswirkungen auf das Mitgliedschaftsverhältnis hätte.469
466
Davis, Political Freedom, S. 74. Goldsmith v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 (411) – Buckley J. Vgl. auch Alder, Constitutional Law (4. Aufl.), S. 496 f. Für Vertreter von politischen Parteien siehe Tilbrook v Parr [2012] EWHC 1946 Q.B.D. (para. 12 ff.) – Tugendhat J. Für eine Zusammenfassung dieses Urteils siehe Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 43. Vgl. für Inhaber öffentlicher Ämter die Entscheidung Gough v Local Sunday Newspapers (North) Ltd. [2003] EWCA Civ 297. 468 In einer Entscheidung jüngeren Datums hatte der Court of Appeal darüber zu befinden, ob innerparteiliche Streitigkeiten, was stets die Gefahr von unwahren Tatsachenbehauptungen über handelnde Personen in der Presse beinhaltet, zu veröffentlichen seien. Roberts v Gable [2007] EWCA Civ 721 (para. 36) – Ward LJ: „There is a duty (,social or moral‘) upon political commentators generally, including Mr Gable, to cover the goings-on in political parties, including disputes, fully and impartially. There is a corresponding legitimate interest in the public, and especially those who have a vote, to have such information available.“ Damit stärkt der Court of Appeal die „doctrine of neutral reportage in English law, particularly in a political context“, so Cosgrove, Report of Feud, The Guardian v. 5. Juni 2006 (Internetquelle). Vgl. die ähnliche Bewertung bei Nolan/Davies, Torts, in: Burrows (Hrsg.), English Private Law, Rn. 17.293. Einige der zuvor richterrechtlich entwickelten Common Law-Grundsätze sind durch s. 4 Defamation Act 2013 nunmehr gesetzlich geregelt. 469 Vgl. Davis, Political Freedom, S. 75 m. w. N., der die Entscheidung McAlister v The Labour Party, The Times, 5 June 1986, S. 35, nach Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 im Jahre 2000 in einem etwas anderen Licht sehen möchte. Bei dem streitigen versagten Beitritt eines in Nordirland wohnhaften Briten zur Labour Party – da die Partei in Nordirland bei Wahlen nicht antritt – wurde die Frage nämlich noch außen vor gelassen, ob hier politische Grund- bzw. Menschenrechte verletzt worden sind. Das Gericht stellte einzig fest, dass ein Verstoß in Form einer indirekten Diskriminierung nach dem Race Relations Act 1976 nicht stattfand. 467
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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b) Parteiengleichheit über den PPERA 2000 hinaus? Bevorzugung registrierter Parteien durch jüngste Gerichtsentscheidungen Smith hielt im Jahre 1990 noch fest, dass allen britischen Parteien derselbe verfassungsrechtliche Status der Gleichheit als nicht besonders verfassungsrechtlich privilegierte und privatrechtliche Vereinigungen zukam.470 Dies ist nach der oben erläuterten Verfassungsreform und Konstitutionalisierung der Parteien, die zur Anerkennung im Wahlrecht führte, überholt. Nunmehr werden diejenigen Parteien, die sich dem Registrierungsregime unterwerfen, privilegiert. Ihnen kommt der Anspruch auf Einreichung von Einzelkandidaten und Listen unter dem Parteinamen zu. Der PPERA 2000 fand inzwischen in einer jüngst ergangenen Entscheidung des High Court in der Sache Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding471, die bisher kaum Berücksichtigung in der Literatur gefunden hat,472 über seinen Wortlaut hinaus Anwendung in Bezug auf den Status der Parteiengleichheit. So wurde gegen die registrierte Partei Britain First, die im Londoner Stadtteil Luton eine antiislamische Demonstration durchführen wollte, ein gerichtliches Versammlungsverbot auf Antrag des zuständigen Chief Constable of the Bedfordshire Police verhängt. Der dagegen von der Partei angerufene High Court urteilte, dass die vorläufige Anordnung (interim injunction) des Betretungsverbots nach ss. 4, 7 Anti-social Behaviour, Crime and Policing Act 2014 rechtmäßig war, welche die Vertreter von Britain First (insbesondere die beiden Kläger, den Parteiführer und seine Stellvertreterin) am Zugang zu Moscheen oder islamischen Kulturzentren ohne Erlaubnis des Hausrechteinhabers hinderte. Das von der Polizei darüber hinaus beantragte generelle Versammlungsverbot für die Partei bzw. ihre Vertreter für den gesamten Stadtteil Luton wäre nur unter s. 13 des Public Order Act 1986 möglich gewesen. Ein derartig weitreichendes Versammlungsverbot knüpft an sehr hohe Voraussetzungen an. Formal bedarf es an der Anordnung durch den Secretary of State (Innenminister) auf Antrag der lokalen Polizei. Materiell muss eine Gefahrenprognose erstellt werden, die sich an der Wahrscheinlichkeit von Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Demonstranten selbst orientiert.473 Das Gericht führte neben diesbezüglichen 470 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (328 f.), wobei sich dieser spezifische Status der Gleichheit der Parteien auf ihre Funktion der Aufstellung von Kandidaten und Durchführung des Wahlkampfes bezieht. Daneben spricht er allgemein unter der Überschrift „andere Grundrechte“ von den „üblichen bürgerlichen Rechte[n], wie […]: Redefreiheit, Versammlungsfreiheit […] [und dem] Schutz der Gesetze, wenn ihre bürgerlichen Freiheiten gefährdet sind“. 471 [2015] EWHC 1875 QB. 472 Eine Ausnahme aus der parteienrechtlichen Literatur ist Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 10, der dem einen vergleichsweise ausführlichen Absatz in dem sonst kurzen Werk widmet. Mit einer Randbemerkung dazu Thirlaway, Case Comment, EJoCLI 2016 (Internetquelle). 473 Ausführlich zu der Norm Stone, Civil Liberties, S. 396 ff.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Bedenken der Störerqualität der Demonstranten an, dass „to ban leaders of a registered political party altogether from a town is a very considerable thing.“474 Ferner führt Knowles J mit Nachdruck aus, dass das behördliche Argument überhaupt nicht entscheidend ist, ob bzw. dass keine lokale Verbundenheit der vom Versammlungsverbot Betroffenen mit dem Stadtteil Luton und seinen religiösen und sozialen Gegebenheiten vorliegt.475 Denn in Fällen, in welchen die vom Versammlungsverbot Betroffenen Parteiführer und Stellvertreter einer unter dem PPERA 2000 registrierten politischen Partei sind, erwächst ihnen ein schützenswertes und berechtigtes Interesse für politische Belange im gesamten Land gerade aus ihrer Stellung als für landesweite Wahlen registrierte Partei.476 Für nach ss. 22 ff. PPERA 2000 registrierte Parteien könnte sich aus diesem Ansatz in der Rechtsprechung dauerhaft ein besonderer, ein sie privilegierender, Status entwickeln, der von der Exekutive zu beachten wäre. Die weitere gesetzgeberische und richterrechtliche Entwicklung bleibt bis dato abzuwarten.477 Dabei deutet diese – im Übrigen nicht angefochtene – Entscheidung des High Court bereits darauf hin, dass den registrierten Parteien als bürgerschaftliche Vereinigungen ein besonderer Status auch außerhalb der vom Gesetzgeber im PPERA 2000 vorgesehenen Wahlvorbereitungsfunktion zukommt. 5. Verfassungskonventionalrechtlicher Status der Parteien Die britische Verfassung basiert zu einem nicht unerheblichen Teil auf constitutional conventions (Verfassungskonventionalregeln).478 Insbesondere das Regierungssystem wird sogar maßgeblich durch diese tradierten Verhaltensweisen bestimmt,479 sodass diese für das Agieren der Parteien im und außerhalb des Parlaments von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. Dabei sind die Verfassungskonventionalregeln der Gegenpol und zugleich die Vervollständigung der positivierten 474 Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding [2015] EWHC 1875 Q.B.D. (para. 33) – Knowles J. 475 Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding [2015] EWHC 1875 Q.B.D. (para. 33): „The submission of Ms Rae that the Respondents do not ,have any link to Luton and have no need to be in Luton‘ is not, with respect, correct where leaders of a registered political party are concerned.“ 476 So auch bei Thirlaway, Case Comment, EJoCLI 2016 (Internetquelle): „He also noted the possibility that if granted, such an injunction could result in a myriad of similar applications across the country which would have an impact on political activity.“ 477 Im Ergebnis auch Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 10. 478 Die deutsche Terminologie für constitutional conventions ist nicht einheitlich. Die Übersetzung mit dem Begriff Konvention wäre verwirrend, da sie die juristische Bedeutung im Verfassungsrecht im Vergleich zu politischen Traditionen nicht herausstellt. Um der verfassungsrechtlichen Relevanz Rechnung zu tragen, wird in dieser Arbeit der Begriff der Verfassungskonventionalregel verwendet. Vgl. Meyn, Verfassungskonventionalregeln, S. 2 f., ebenso bei v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 34. 479 Vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 182 ff.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Rechtsvorschriften in der britischen Verfassung.480 Als integraler Bestandteil der Verfassungskonzeption rangieren sie, was ihre praktisch-politische Bedeutung angeht und anders als dies in Staaten mit kodifizierter Verfassung der Fall ist,481 auf einer Stufe mit dem geschriebenen Recht.482 Dies gilt, obwohl sie im Unterschied zu den Gesetzen und den Gerichtsentscheidungen nicht als Rechtsquellen der Verfassung i. e. S. anzusehen sind. Als Ausdruck eines politischen Selbstbindungswillens der Institutionen – vor allem im politischen Willensbildungsprozess – sind sie deswegen von besonderem Interesse im Rahmen einer Untersuchung der innerparteilichen Demokratie. a) Verfassungskonventionalregeln: Definition, Rechtsnatur und Erkennung Im Hinblick auf die Verfassungskonventionalregeln, ihre Definition, Erkennung und Bindungswirkung ist vieles umstritten.483 Im Folgenden kann daher nur auf die wesentlichen Aspekte eingegangen werden. Wie für die gesamte Verfassung gibt es keine verbindliche Definition für Verfassungskonventionalregeln.484 Ebenso bietet Dicey, der Urheber der Konzeption der Verfassungskonventionalregeln, keine Definition. Er stellt nur ex negativo fest, dass Verfassungskonventionalregeln, anders als das Common Law und die Gesetze, nicht gerichtlich durchsetzbar sind.485 Deshalb ist für die Definition bzw. Beschreibung der britischen Verfassung im Lichte der Verfassungskonventionalregeln das Diktum von Blackburn zu den verfassungsrechtlichen Fragen um die Bildung einer Koalitionsregierung im Jahr 2010
480
Dazu nur Tiefenthaler, Gewohnheit und Verfassung, S. 178 f. Für die Bedeutung ungeschriebenen Verfassungsrechts in der deutschen Verfassungsordnung siehe v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 35 m. w. N.; Alder, Constitutional Law, S. 27 hinsichtlich der USA. 482 Munro, Constitutional Law, S. 61 ff.; Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 56 ff. Reference re Amendment of the Constitution of Canada [1982] 125 DLR (3rd) 1, zitiert in Madgwick/Woodhouse, Constitution, S. 37 f.: „[W]hile they are not laws some conventions may be more important than laws.“ 483 Für eine sehr eingängige Darstellung der Ansichten zu den genannten Themen in der deutschsprachigen Literatur siehe Tiefenthaler, Gewohnheit und Verfassung, S. 178 ff. 484 Im Prinzip existiert nicht einmal eine einheitliche Terminologie, selbst Dicey spricht von „conventions, understandings, habits or practices“ (Dicey, Constitution, S. 82). Andere britische Autoren sprechen von maxims oder auch customs. Siehe hierzu Tiefenthaler, Gewohnheit und Verfassung, S. 179 m. w. N. 485 Dicey, Constitution, S. 82: „The other set of rules consists of conventions, understandings, habits, or practices which, though they may regulate the conduct of the several members of the sovereign power, of the Ministry, or of other officials, are not in reality laws at all since they are not enforced by the Courts. This portion of constitutional law may, for the sake of distinction, be termed the ,conventions of the constitution‘, or constitutional morality.“ 481
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
besonders treffend: „The Constitution is what happens“.486 Etwas juristischer ist die Lehrbuchdefinition von Helen Fenwick und Gavin Phillipson: „Conventions may be roughly defined as non-legal, generally agreed rules about how government should be conducted and, in particular, governing the relations between different organs of government.“487
Gemein ist diesen beiden Definitionsversuchen, dass mit ihnen keine konkretisierende Aussage über die Etablierung von Verfassungskonventionalregeln und letztlich ihre Erkennung durch die politischen Akteure und das politikwissenschaftliche wie juristische Schrifttum getroffen wird. An dieser Stelle sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass die britische Verfassung in toto als ein evolutiver Prozess zu verstehen ist.488 Das heißt vor allem, dass aus politischen Präzedenzfällen (z. B. dass ein Premierminister Mitglied des House of Commons zu sein hat),489 nicht nur politisch unverbindliche Gewohnheiten bzw. Traditionen, sondern ausschließlich politisch verbindliche Verfassungskonventionalregeln erwachsen können. Die begriffliche Nähe von Konvention (i. S. v. Tradition) und Verfassungskonventionalregeln zeitigt dabei die Notwendigkeit eines Blickes auf deren unterschiedliche Rechtsnatur. Verfassungskonventionalregeln sind mitnichten mit den allgemeinen Gewohnheitsregeln gleichzusetzen: Gewohnheitsregeln sind nicht nur juristisch, sondern auch nicht politisch verbindlich – letzteres 486
Blackburn, The 2010 General Election, P.L. 2011, S. 30 (53); ähnlich auch King, British Constitution, S. 10. 487 Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 51, Herv. d. Verf. Eine ähnliche Formulierung findet das House of Lords Select Committee on the Constitution im Jahr 2013: „The word ,convention‘ is, in constitutional parlance, a term of art. Although there is no universally accepted definition of the term, the feature common to all definitions is that, whilst a convention is not justiciable, it is nevertheless regarded by all relevant parties as binding. Constitutional conventions may therefore be regarded as practices which are politically binding on all involved, but not legally binding.“ T.S.O. (Hrsg.), House of Lords, Pre-emption of Parliament, HL 165, S. 11. 488 So etwa Gauja, Political Parties and Elections, S. 18. 489 Dazu Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 59 m. w. N., Herv. i. O.: „Few would dispute that the accepted practice of the Prime Minister having a seat in the House of Commons has acquired the status and force of convention. No peer has held the office of Prime Minister since Lord Salisbury resigned in 1902. The precedents usually cited for this convention normally relate to events that occurred in 1923 and 1940. In 1923, when the incumbent premier (Bonar Law) resigned for ill health, the choice was between Lord Curzon and Stanley Baldwin. The latter was chosen. In 1940 the choice appeared to be between Lord Halifax and Winston Churchill. Again it was the ,commoner‘ who was appointed. The exact grounds for the 1923 decision remain unclear. It cannot be said, therefore, that it represented unequivocal recognition of the existence of a convention based on the diminished significance of the House of Lords following the Parliament Act 1911. It is generally accepted, however, that Lord Halifax’s status counted against him in 1940. Halifax himself expressed the view that ,having no access to the House of Commons‘ he would have ,speedily become a more or less honorary Prime Minister living in a kind of twilight just outside the things that really mattered‘ (Lord Halifax, The Fullness of Days, 1957).“
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
207
unterscheidet sie von den Verfassungskonventionalregeln.490 Außerdem ist für Verfassungskonventionalregeln, anders als für das Gewohnheitsrecht, eine undefiniert längere politische Praxis nicht erforderlich, bis sie als akzeptiert gelten. Obwohl eine Verfassungskonventionalregel nach einmaliger Übung bereits etabliert sein kann, weisen die meisten Verfassungskonventionalregeln eine längere Geschichte auf, häufig mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte.491 Diceys negative Definition der „rules which although they regulate the conduct of the several members of the sovereign power, of the ministers or the other officials, are not in reality laws at all since they are not enforced by the courts“, weist darauf hin, dass sie eher als Regeln der constitutional morality zu begreifen sind.492 In Übereinstimmung mit Dicey wird etwa im Schrifttum für die Erkennung auf ihre moralische Komponente abgestellt, d. h. die Frage wie sich eine verfassungsrechtliche Institution verhalten soll.493 Dies wird etwa vom kanadischen Supreme Court geteilt, der in seiner auch im Vereinigten Königreich vielbeachteten494 Entscheidung Reference Re Amendment of the Constitution of Canada, urteilte, dass „the main purpose of conventions is to ensure that the legal framework of the constitution will be operated in accordance with the principal constitutional values or principles of the period.“495 Dennoch ist die Frage, ob Verfassungskonventionalregeln für den politischen Prozess ein Sollen regeln (prescriptive) oder das Sein darstellen (descriptive), nicht endgültig geklärt.496 Diese Frage lässt sich weniger mit den Mitteln der Rechtsdogmatik als durch eine wirklichkeitswissenschaftliche Betrachtung politisch-historischer Umstände beantworten und ist damit – aus Sicht eines kontinentalen Juristen – dem Bereich Geschichtswissenschaft, der Soziologie und der Politologie zuzuordnen. Da sie im Vereinigten Königreich aber eine der Quellen der Verfassung sind, ist die Identifizierung einer politischen Praxis als Verfassungskonventionalregel seit Diceys Zeiten Gegenstand der Diskussion im juristischen Schrifttum. Ivor
490 Vgl. Alder, Constitutional Law, S. 32 f.; v. Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 60 f. m. w. N. 491 Siehe Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 189 ff.; Tiefenthaler, Gewohnheit und Verfassung, S. 180. 492 Nochmals Dicey, Constitution, S. 82. 493 So Loveland, Constitutional Law, S. 261 ff. Verfassungskonventionalregeln sind ein „moral framework within which government ministers or the Monarch should exercise the nonjusticiable powers“. Dem folgt auch Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 56. 494 Statt vieler nur Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 56; Madgwick/ Woodhouse, Constitution, S. 36 f. 495 Reference Re Amendment of the Constitution of Canada [1982] 125 DLR (3rd) 1. 496 Siehe zu diesen Ansätzen bei der Frage der Natur der Verfassungskonventionalregeln Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 19, 25 f.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Jennings hat wohl den meistbeachteten497 Test hierzu vorgeschlagen, der aus drei Fragen besteht: „(a) Are there sufficient precedents? (b) Did those involved believe they were bound by a rule? (c) Is there a good constitutional reason for the rule?“498
Teilfrage (c) ist dabei Ausdruck der Einordnung von Verfassungskonventionalregeln als Ausdruck eines Sollens. Doch auch die Ergebnisse dieses Tests sind nicht verbindlich. So verlangt Teilfrage (a) ausreichend viele historische Präzedenzfälle für die Einordnung einer Tradition als Verfassungskonventionalregel, was dem zuvor Gesagten widerspricht. Dass dies aber nicht sein muss, verdeutlicht ein jüngeres Beispiel aus der Parlaments- und Regierungspraxis: Es gab niemals eine verfassungskonventionale oder gesetzliche Regelung für die britische Regierung, das Placet des House of Commons zum Einmarsch von britischen Truppen in ein fremdes Land einzuholen. Vielmehr war die Entscheidung über Krieg und Frieden eine der Krone vorbehaltene und für sie durch ihre Regierung ausgeübte royal prerogative,499 die ihrerseits eine Verfassungskonventionalregel darstellt. Erstmals stellte die Labour-Regierung den Irakeinsatz im Jahre 2003 zur parlamentarischen Disposition und schuf somit einen historischen Präzedenzfall. Eben dieser entwickelte sich – ohne weitere derartig weitreichende parlamentarische Entscheidungen über den Einsatz militärischer Gewalt – bis 2011 zu einer Verfassungskonventionalregel und das, obschon die Labour-Regierung noch 2003 betonte, sich für künftige Einsätze nicht an ein Verfahren der Parlamentsbeteiligung gebunden zu fühlen. Die im Jahre 2010 gewählte liberaldemokratisch-konservative Koalitionsregierung sah dies anders und sprach in Übereinstimmung mit dem House of Commons dem parlamentarischen Mitspracherecht bei Auslandseinsätzen die Qualität einer Verfassungskonventionalregel zu.500 b) Beispiele für Verfassungskonventionalregeln Da die Verfassungskonventionalregeln das Verhältnis der Verfassungsinstitutionen betreffen, sind naturgemäß die Parteien davon auch betroffen. Ungeachtet der 497
Vgl. nur Alder, Constitutional Law, S. 30 f.; Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 59; Webley/Samuels, Public Law, S. 362. Freilich ist dieser Test nicht verbindlich, zumal er als eine Voraussetzung gerade die dauerhafte Etablierung durch Präzedenzfälle verlangt, die hier zuvor als nicht verpflichtend erläutert wurde. 498 Jennings, Constitution, S. 136, Herv. d. Verf. 499 Royal prerogatives bzw. prerogative powers sind der Krone zustehende und ungeschriebene Rechte und überdies nicht kodifiziert. Diese sind mithin selbst Verfassungskonventionalregeln. Vgl. dazu Barendt, Constitutional Law, S. 111 ff. 500 Für die alte Rechtslage noch Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 192 f. m. w. N. auf die Parlamentsdebatten und -empfehlungen des House of Commons und House of Lords. Die folgende, liberal-konservative Regierung stellte hingegen fest, dass sich einstweilen eine Verfassungskonventionalregel entwickelt hatte. Dazu Mills, Parliamentary Approval, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 22 ff.; Oliver, Parliament, in: Jowell/ dies. (Hrsg.), Changing Constitution, S. 167 (176).
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Einführung jüngerer Kodifizierungen des Parteienrechts mit dem PPERA 2000 oder besonders hinsichtlich der party in public office des Wahl- und Parlamentsrechts (Fixed Term Parliaments Act 2011, Parliamentary Standards Act 2009) bleibt es bei einem weitgehend unkodifizierten Regierungssystem. Somit ist hier zu konstatieren: „British government is based upon a system of tacit understandings.“501 Zwar ist die Kabinettsregierung seit dem Ministers of the Crown Act 1937 positiviert. Jedoch erfolgte die Positivierung nur bezüglich der Alimentierung der Kabinettsmitglieder.502 Weder dieses Gesetz noch eine der folgenden das Kabinett betreffenden gesetzlichen Regelungen sagen aus, dass Kabinettsmitglieder nur Mitglieder des Parlaments – gleich welchen Hauses – sein müssen.503 Letzteres ist nur eine Verfassungskonventionalregel. c) Verfassungskonventionalregeln und Parteibinnenrecht Eine direkte Verknüpfung von innerparteilichen Sach- und Personalentscheidungen und Verfassungskonventionalregeln ist in der Frage der Auswahl des Premierministers und der Umsetzung von Partei- bzw. Wahlprogrammen gegeben. aa) Verhältnis zwischen Krone und Parteien: Wahl des Premierministers Bezüglich der Krone und ihrer royal prerogatives sind in diesem Kontext beispielhaft zu nennen: der royal assent, d. h. die Zustimmung des Monarchen zu einem Parlamentsgesetz (i. S. d. Crown-in-Parliament504), das Recht das Parlament aufzulösen505 oder das Recht den Premierminister zu ernennen. Letzteres hat eine direkte Verbindung zur Organisation der politischen Parteien im und außerhalb des Parlamentes und mithin zur innerparteilichen Demokratie.
501 Vgl. wenngleich im Jahre 1995 geschrieben Finer/Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 100. Siehe auch für eine umfassende Darlegung der Verfassungskonventionalregeln Brazier, Constitutional Practice, S. 3. 502 Barendt, Constitutional Law, S. 113. 503 So grundlegend bei Jennings, Ministers of the Crown Act, MLR 1937, S. 145 passim. 504 Die Krone bzw. der Monarch hat allerdings seit 1708 kein Mal mehr die Ausfertigung eines parlamentarisch beschlossenen Gesetzes verweigert. Dies würde nämlich zu einer politischen Legitimationskrise des gesamten Verfassungsgefüges führen. Dennoch gilt der Vollständigkeit halber zu sagen, dass sich König George Vernsthafte Gedanken darüber machte, der Government of Ireland Bill 1914 seinen royal assent zu verweigern. Dazu Bogdanor, Constitution, S. 16; ders., Monarchy and the Constitution, S. 130 ff. 505 Heute wesentlich eingeschränkt durch den Fixed-term Parliaments Act 2011. Eine Übersicht dazu liefern Webley/Samuels, Public Law, S. 365.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
(1) Status und Auswahl des Premierministers (a) Stellung des Premierministers Der Premierminister steht an der Spitze der Exekutive, d. h. des Kabinetts.506 Seine Stellung, seine Kompetenzen in der Bestimmung der Richtlinien der Politik, beruhen auf Verfassungskonventionalregeln.507 Im Grundsatz ist das Kabinett ein Kollegialorgan, weshalb auch vom Prinzip des cabinet government gesprochen wird, in dem der Premierminister ein primus inter pares sein soll.508 Spätestens seit der von Thatcher geführten Regierung in den 1980er Jahren ist in der Politik- und auch der Rechtswissenschaft von einer British presidency, dem Prime Ministerial government oder gar einer elective dictatorship die Rede.509 Wenn dies angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in einer von oftmals mehreren starken politischen Persönlichkeiten geführten Regierung übertrieben wirken mag,510 so ist nicht zu verkennen, dass der Premierminister wie der Regierungschef in den meisten westlichen Demokratien in der Zeit der Massenmedien stärker in den öffentlichen Fokus als andere Kabinettsmitglieder rückt. Auch seine Machtposition innerhalb der Regierung ist durch die grundsätzlichen Möglichkeiten, sich Beraterstäbe, vor allem im Prime Minister’s Office und in den Parteizentralen, zu bedienen511 und seine Kabinettsminister zu ernennen und zu entlassen (bzw. durch die Krone auf seine Empfehlung hin zu lassen) begünstigt.512 Eine entscheidende Quelle seiner politischen Position der Stärke ist die Verfassungskonventionalregel, der zufolge er stets Parteiführer der stärksten Partei im House of Commons sein muss. Gleichermaßen fungiert diese Verfassungskonventionalregel als Mittel zu seiner Machtbegrenzung, insofern er zum Erhalt seiner Premierministerschaft – politisch – auf den Rückhalt des parteiinternen Selektorats513 angewiesen ist. Vor dem Hintergrund dieser beiden Punkte wird im Folgenden das Verhältnis zwischen der Krone, dem Premierminister und den Parteien beleuchtet. 506 Zu nennen ist noch das Privy Council (Kronrat), welches heute jedoch nur noch zeremonielle Bedeutung hat. Dazu nur Peele, Governing, S. 92 f. 507 Vgl. Madgwick/Woodhouse, Constitution, S. 119. 508 Vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 408 ff. 509 Vgl. für diese drei Begrifflichkeiten und die dahinterstehenden Konzepte etwa Loveland, Constitutional Law, S. 276 ff.; Barendt, Constitutional Law, S. 113 f.; Brazier, Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 passim; Dickinson, British Constitution, VJHS 2011, S. 177 (181). 510 Der Trend hat sich durch die Koalitionsregierung zwischen 2010 und 2015 etwas umgekehrt, vgl. Hartmann, Regierungssysteme, S. 75 m. w. N. 511 Vgl. Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (196). 512 Der Grundsatz, dass der Premierminister das Kabinett auswählt, wird durch innerparteiliche Vorschriften eingeengt, so etwa seit 1980 durch die Standing Orders der Parliamentary Labour Party. Hiernach ist der Premierminister verpflichtet, diejenigen zu Ministern ernennen zu lassen, die bei Auflösung des House of Commons vor der Wahl Mitglieder des Parliamentary Committee sind und ihren Sitz im House of Commons behalten haben, vgl. Griffith/Ryle, Parliament, S. 21. 513 Dieses kann aus den Mitgliedern des House of Commons oder auch aus den Mitgliedern der außerparlamentarischen Parteiorganisation bestehen.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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(b) Grundsatz: Ernennung durch die Krone, Auswahl durch die Parteien Durch das britische Parteien- und Wahlsystem hat sich die Verfassungskonventionalregel entwickelt, dass diejenige Partei, die nach den Wahlen im House of Commons die Mehrheit der Sitze innehat, die Regierung bildet. Sieht man von der Frage ab, wie die Problematik der Koalitionsregierung im Falle eines hung parliament zu lösen ist,514 so gilt hierbei, dass die Krone den entsprechenden Parteiführer im House of Commons mit der Regierungsbildung beauftragt.515 In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung ist die Krone nur politisch an die Verfassungskonventionalregel gebunden, den Parteiführer der stärksten Partei zu wählen. In der Theorie könnte sie jedermann damit beauftragen.516 In der heutigen Verfassungspraxis gilt es zu differenzieren zwischen der appointment (Ernennung), die noch immer eine Frage der royal prerogative ist, und der choice (Auswahl) der in Frage kommenden Personen. Die Auswahl der Kandidaten für das Amt des Premierministers liegt nunmehr bei zwei Gruppen von Akteuren im Verfassungsgefüge: zum einen bei den Parteien, die ihre Parteiführer wählen, und zum anderen beim Wahlvolk, das die Parteien bzw. die einzelnen Kandidaten – und damit auch den jeweiligen Parteiführer – in das House of Commons wählt.517
514
Im Nachgang zu den Wahlergebnissen des Jahres 2010 konstatierte ein Bericht der House of Commons Library „that coalitions are an established form of government in […] the UK“. Booth, Coalition Statistics, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 1. Diese verweist auch darauf, dass in den Volksvertretungen in Wales, Schottland und Nordirland eine Einparteienregierung ungewöhnlich ist. Dies hängt vor allem mit dem Wahlrecht zusammen. Vgl. für die sich hieraus ergebenden Rechtsfragen, wie sich Koalitionen in die Verfassungskonventionalregeln der britischen Verfassung einfügen, etwa im Hinblick auf die Einladung der Krone an einen der Parteiführer aus dem House of Commons, die Regierung zu bilden und ein mögliches Auswahlrecht der Krone, vgl. nur Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 110. Gleichfalls relevant sind hier Fragen zur Ministerverantwortlichkeit und das Recht des Premierministers auch nach einer Parlamentswahl ohne eigene Mehrheit im Amt zu verbleiben. Siehe im Lichte der neuerlichen Festlegung fester Wahlperioden von fünf Jahren im Fixed-term Parliaments Act 2011 dazu Blackburn, The 2010 General Election, P.L. 2011, S. 30 (53) unter der pointierten Überschrift „The constitution is what happens – The durability of the coalition and the New Politics“; ders., Dissolution of Parliament, P.L. 2009, S. 766 passim; Kalitowski, Hung-Up Over Nothing?, P.A. 2008, S. 396 (399). 515 Der letzte Premierminister, der Mitglied im House of Lords war, war Lord Salisbury in den Jahren 1895 bis 1902. Statt vieler Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 408 f. 516 Vgl. Brazier, Constitutional Practice, S. 6. Siehe daneben Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 228 mit einer Erklärung der Besonderheit des hung parliament anhand von historischen Wahlausgängen. Die verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Regierungsbildung sind nach Carroll, dass der Krone vier Möglichkeiten verbleiben: sie kann (1) den amtierenden Premierminister weiter in der Regierung belassen, (2) den Führer der größten Minderheitsfraktion zur Regierungsbildung einladen, (3) wenn nichts davon erfolgreich war, einen anderen Parteiführer hierzu einladen oder (4) das Parlament auflösen und eine Neuwahl ermöglichen. 517 Brazier, Constitutional Practice, S. 6 f. mit der Feststellung, dass – wiederum mangels einer gesetzlichen Regelung – die Frage der „choice as distinct from that of appointment, of a new Prime Minister is not dead, but dormant“.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Herausstechendes Merkmal ist zunächst, dass es für die Parteien nicht einmal zwingend ist, überhaupt ein solches Verfahren zu haben.518 Dennoch verfügen mittlerweile alle Parteien über ein formalisiertes Wahlverfahren für die Parteiführerwahl.519 Dies war nicht immer so, sondern ist eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts. In der Conservative Party wurde erst ab dem Jahr 1922 überhaupt ein Parteiführer auch in Oppositionszeiten „gewählt“. Anschließend gab es bis zum Jahr 1965 in der Partei schlicht keine formalisierte Wahl des Parteiführers, weder in Oppositions- noch in Regierungszeiten.520 Der Grund dafür liegt in der Organisationsgeschichte der beiden ältesten Parteien,521 die sich als elitär-aristokratische oder zumindest großbürgerliche Parteien im 19. Jahrhundert aus dem Parlament heraus entwickelt hatten.522 So bestand vor dem Hintergrund der sozialen Zusammensetzung der Parteiführungskräfte anfänglich gar kein Bedarf nach einer Wahl im engeren Sinne. Bei der besonders aristokratischen Conservative Party lag die „Wahl“ in den Händen einer informellen Gruppe von Führungspersonen, die ob ihres konspirativen und informellen Charakters magic circle oder men in grey suits genannt wurde.523 Der von der Conservative Party verkörperte Geist des Toryismus diente als politische Stütze der Krone und bedeutete auch die nach außen gezeigte Stärke und Einheit der Abgeordneten, der Partei, der Aristokratie und letztlich des Empires.524 518
Aus der älteren Literatur zum Fehlen jeglichen zwingenden Rechts für die innerparteiliche Organisation siehe Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (325). 519 Vgl. nur bezüglich der Feststellung, dass die innerparteiliche „voll-demokratische[n] Wahltechnik [, die] der bisher möglichen Willkür des inneren Zirkels der Parteimachthaber einen Riegel vorgeschoben [hat]“ in Bezug auf die Conservative Party Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 171. 520 In den Jahren 1881 bis 1885 und 1911 bis 1922, als die Conservative Party in der Opposition oder in einer Koalitionsregierung unter einem Premierminister einer anderen Partei war, gab es keinen Parteiführer der Gesamtpartei. Anstelle seiner gab es je einen Fraktionsvorsitzenden in beiden Häusern des Parlaments. Vgl. Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 (69 ff.). 521 Etwas anders war dies zumindest bei der Liberal Party, die sich nie in dem Maße als aristokratisch verstand und daher schon früh mehr Wert auf eine demokratische und formalisierte Entscheidung über die Parteiführerschaft legte. Seit ihrer Gründung wählten die Mitglieder beider Häuser des Parlaments den Parteiführer. De jure war ein höheres Maß an innerparteilicher Demokratie und zudem an Formalisierung der Parteiführerselektion gegeben. De facto gab es etwa in den Jahren 1896, 1898, 1908 und 1926 ebenfalls nur Wahlen durch Akklamation in der Liberal Party, bei denen es keinen Gegenkandidaten gab und die Wahl somit im Vorhinein sicher war. Vgl. Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 (71); Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (107). 522 So Dicey, Lectures on the Relation between Law and Public Opinion S. 43: „Democracy in England has to a great extent inherited the traditions of the aristocratic government, of which it is the heir.“ Dazu auch Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 61. 523 Siehe statt vieler Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 (69 f.). 524 Vgl. hierfür Parry, Government, S. 5 ff.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Eine formelle, demokratische Wahl des Parteiführers hätte im Widerspruch zu eben jenen Idealen des britischen Regierungssystems im 19. Jahrhundert gestanden. Zwar gab es auch einen höchst kontrovers diskutierten und i. E. gescheiterten Versuch der Binnendemokratisierung525 der Conservative Party im späten 19. Jahrhundert. Dieser von Randolph Churchill initiierte Versuch hätte zur Einführung einer formellen Wahl des Parteiführers durch die Parlamentsfraktionen und die außerparlamentarische Parteiorganisation geführt. Jedoch entsprang er in der historischen Bewertung mehr eigenem Karrierestreben der beteiligten Personen denn einer Demokratisierung der Partei aus ideellen Gründen.526 Die historische Entwicklung der beiden ersten Parteien aus dem Parlament in die Gesellschaft führt zu einer weiteren Besonderheit im Verhältnis zwischen dem Premierminister- und Parteiführeramt. Die Parteiführerschaft war bis in die 1940er Jahre als Annex zum Amt des Premierministers zu verstehen.527 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war es die anerkannte Praxis, dass die Krone einen Premierminister auswählte und ernannte (i. S. d. obigen dualen Konzeption) und dieser ex officio zum Parteiführer wurde. Dieses Verfahren galt seit William Pitt dem Jüngeren bis zu Benjamin Disraeli insbesondere für die royalistische Conservative Party.528 Überhaupt wurde erstmals im Jahre 1885 mit Robert Cecil (Lord Salisbury) ein bereits ernannter Premierminister als Parteiführer durch den informellen Kreis beider Fraktionen als 525 Diese Forderungen nach innerparteilicher Demokratisierung, die u. a. die Programmformulierung unter Beteiligung der außerparlamentarischen Parteiorganisation und die Wahl des Parteiführers durch ebendiese umfassten, führten zu heftigen Diskussionen zwischen den Führungspersönlichkeiten der Partei, zu denen der britische Politikwissenschaftler Robert McKenzie in seinem Opus über die Machtverteilung in den britischen Parteien notiert: „Lord Salisbury sprach es unverblümt aus; er tadelte Lord Randolph Churchill wegen des Versuches, die Konservative Partei durch ,Volks‘-Kontrolle ihrer Tätigkeit im Parlament zu ,demokratisieren‘, und erinnerte ihn daran, daß die wahre Aufgabe jeder Außenorganisation der Partei darin bestehe, die Fraktion zu unterstützen und ihr zu dienen.“ Nach McKenzie, Parteien in England, S. 16 f. Weiterhin bei Parry, Government, S. 7 im englischen Original. 526 Interessanterweise endeten diese Bestrebungen Churchills, als er sich – i. E. erfolglos – anschickte, selbst Parteiführer zu werden. Insgesamt dazu Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (233). Am Ende erreichte die revoltierende Gruppe dieses Ziel nicht. Vielmehr wurde ein Memorandum unterzeichnet, in welchem einerseits zugunsten der Parteiführung Abstand von einer programmatischen Einflussnahme der außerparlamentarischen Organisation, und damit von einem gebundenen Mandat genommen wurde: Das grundlegende Prinzip jeder konservativen Organisation sei „non-interference on the part of political associations with the direction of matters incident to the duties and policy of our members in Parliament“ (Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 136). Die Parteiprogrammatik verblieb bei den Parlamentsfraktionen respektive bei dem Parteiführer. Vgl. nur für die heutige Rechtslage Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 236: „[The] Conservative party conference has no policy-making powers.“ 527 Vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 172: So wurde Winston Churchill im Jahr 1940 zum Premierminister durch König George VI ernannt, ohne zuvor Parteiführer geworden zu sein. Vielmehr blieb der durch innerparteiliche Machtquerelen durch die Fraktion im House of Commons abgesetzte bisherige Premierminister Neville Chamberlain aus „Courtoisie“ bis zu seinem alsbaldigen Tod im Jahre 1941 Parteiführer. 528 Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 62.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Parteiführer bestätigt.529 Im Jahre 1957 hat die Labour Party als erste Partei beschlossen, dass ein Labour-Premierminister zuvor zum Parteiführer gewählt sein muss,530 was das alte Verhältnis zwischen dem Staats- und dem Parteiamt freilich in der politischen Praxis – und folglich als Verfassungskonventionalregel – umkehrte. Die Krone übte ihre royal prerogative in der Auswahl des Premierministers gelegentlich noch bis in das 20. Jahrhundert hinein aus. Die bis dato letzten Male geschah es in den Jahren 1957 und 1963 in Bezug auf die Conservative Party. Im letzten Fall des Jahres 1963 trat Harold Macmillan am Vorabend des Parteitages der Conservative Party zurück, und es gab mehrere potenzielle Kandidaten für seine Nachfolge, wobei zu diesem Zeitpunkt noch keine formale Wahl erfolgte.531 Alec Douglas-Home trat von seiner Mitgliedschaft im House of Lords zurück, wie es erst kurz vorher durch den neu eingeführten Peerage Act 1963 ermöglicht wurde,532 wurde in das House of Commons gewählt und konnte somit Premierminister werden.533 Die Krone agierte in einer Situation, in der es noch zwei weitere aussichtsreiche Kandidaten gegeben hätte und die Fraktion der Conservative Party im House of Commons die Möglichkeit gehabt hätte, dem von der Krone eingebrachten Vorschlag schlicht nicht zu folgen. Von dieser Option hielten die Abgeordneten aus Respekt vor der Krone Abstand. Eine solche Situation, die „potentially embarrassing for the Queen“534 war, sollte sich gleichwohl nicht wiederholen. Dementsprechend wurden im Jahr 1965 die formalen Regeln für die Wahl des Parteiführers in der Conservative Party aufgestellt. Die Partei war damit die letzte der drei großen. Als sich im Jahre 1976 erneut eine ähnliche Situation ergab, in der nach dem Rücktritt des Premierministers und Labour-Parteiführers Harold Wilson noch kein Parteiführer der damaligen Mehrheitspartei gewählt war, wartete die Krone schließlich trotz der Evidenz, dass James Callaghan der nächste Parteiführer würde, mit seiner Ernennung zum Premierminister, bis die Partei ihn als Parteiführer gewählt hatte. Damit verschaffte sie der Verfassungskonventionalregel des Vorrangs der Parteiführerschaft (in zeitlicher und sachlicher Hinsicht als konstitutive Bedingung für die Premierministerschaft) endgültige Akzeptanz.535 529
Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 227. Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 385. 531 Macmillan selbst äußerte zu dem Kampf um seine Nachfolge, dass er „the customary process of consultation“ über die Parteiführerschaft so breit wie möglich in der Conservative Party führen wollte. Dennoch: „[T]he controversy over the methods and the result remains. Lord Home ,emerged‘.“ Brazier, Prime Minister, P.L. 1982, S. 395 (395); vgl. auch Webley/Samuels, Public Law, S. 39. 532 Vgl. s. 2(2) Peerage Act 1963 in der damaligen Fassung und die Ausführungen bei Finer/ Bogdanor/Rudden, Comparing Constitutions, S. 61 f.; Webley/Samuels, Public Law, S. 38. 533 Siehe nur Harrison/Boyd, Constitution, S. 39 f. 534 Vgl. Madgwick/Woodhouse, Constitution, S. 77. 535 Vgl. Barendt, Constitutional Law, S. 117. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es eine Einschränkung der royal prerogative durch Parteisatzungsrecht nicht geben kann. 530
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(2) Zwischenergebnis: keine Einschränkung der royal prerogative durch Parteisatzungsrecht Trotz der Verschiebung der Auswahl des Premierministers von der Krone in die Parteien hinein, die – vgl. die Regelung in der Labour Party seit 1957 – auf Parteisatzungsrecht beruht, gilt, dass die Prärogative der Krone, sich ihren Premierminister zu erwählen, schlechterdings durch Parteisatzungsrecht eingeengt werden kann.536 Es bedürfte zur Aufhebung oder Änderung der Verfassungskonventionalregel, welche die royal prerogatives begründen, einer gesetzlichen oder richterrechtlichen Regelung (strict law).537 Eine solche ist jedoch bis zum heutigen Tage nicht erfolgt. Wie so oft in der Konzeption des britischen Regierungssystems gilt, dass solange sich die Akteure an die Verfassungskonventionalregel des Vorrangs der Parteiführerschaft gebunden fühlen, die Parteiführerschaft abhängig von den in den Parteien geltenden Verfahren zur Wahl des Parteiführers ist.538 bb) Salisbury-Convention: Umsetzung von Parteiprogrammen der Regierung ohne eigene Mehrheit im House of Lords qua Verfassungskonventionalregel (1) Reduzierte Rolle des House of Lords nach den Parliament Acts 1911/1949 Mit der Etablierung der Volldemokratie im Vereinigten Königreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Ebene des Wahlrechts durch Umsetzung des für beide Geschlechter geltenden Prinzips der one person, one vote, one value wurde das House of Commons zum Repräsentationsorgan „of the people in a comprehensive sense“539. Diese bis zum heutigen Tage eingenommene zentrale Stellung des House of Commons gegenüber den anderen beiden Akteuren im Parlament, das bekanntlich noch aus dem House of Lords und der Krone540 besteht, erfuhr seine gesetzliche Regelung durch die beiden Parliament Acts 1911 und 1949.541 Seither ist dem House of Lords 536
Siehe Brazier, Constitutional Practice, S. 13. Grundsätzlich Alder, Constitutional Law, S. 30 f.: „However, Parliament can make a convention into a law by incorporating it into a statute. Indeed the courts could in theory choose to adopt a convention as law although there is no example of this.“ 538 Vgl. Barendt, Constitutional Law, S. 118. 539 Loveland, Constitutional Law, S. 166. 540 Deren Macht war – wie bisher aufgezeigt – schon seit über 150 Jahren nur noch weithin repräsentativer Natur. Dennoch machte sich König George V ernsthafte Gedanken darüber, der Government of Ireland Bill 1914 seinen royal assent zu verweigern. Hierzu Bogdanor, Constitution, S. 16; ders., Monarchy and the Constitution, S. 130 ff. 541 Gemäß s. 2(2) Parliament Act 1949 sind diese beiden Gesetze als eine Einheit zu zitieren. Siehe grundsätzlich die Einleitung zum Parliament Act 1911: „[T]his Act appears for restricting the existing powers of the House of Lords.“ Mit den Parliament Acts 1911 und 1949 wurde das House of Lords zur zweiten Kammer, versehen mit einem überwiegend nur noch (aufschiebbaren) Vetorecht gegen Entscheidungen des House of Commons. Eine rechthistorische Darstellung und Bewertung der Entwicklungen zur Vormachtstellung des House of Commons im 19. und 20. Jahrhundert geben Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 570 ff. m. w. N. 537
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
die Möglichkeit der Intervention gegen im House of Commons beschlossene Gesetzesentwürfe542 weitgehend entzogen. Es ist somit aus dem Kreis der politisch relevanten Institutionen ausgeschieden.543 In den Fällen, in denen es um public bills (also Gesetze von für die Allgemeinheit relevanten Regelungsgehalt),544 die vom Speaker des House of Commons überdies als money bills, also staatshaushaltsrelevante Gesetze,545 festgelegt sind, hat das House of Lords keinerlei Einflussmöglichkeiten mehr (vgl. s. 1 Parliament Act 1911 und 1949). Anders ist dies nur noch bei sog. non-money bills, für die i. E. noch die Kompetenz verbleibt, ein aufschiebendes Veto von einem Jahr einzulegen (s. 2 Parliament Act 1911 und 1949). Bei einer dritten Art von public bills besteht weiterhin eine Gleichordnung zwischen beiden Häusern: Gesetze, durch welche die Höchstdauer einer Wahlperiode (i. H. v. fünf Jahren seit 1911546) geändert werden soll (vgl. s. 7 Parliament Act 1911 und 1949). Diese Norm hat neuerdings durch die Festlegung der Wahlperiode von fünf Jahren durch s. 1(3) Fixed-term Parliaments Act 2011 an praktischer Bedeutung verloren.547 542 Für andere Resolutionen verbleibt dem House of Lords ein ebenbürtiges Mitspracherecht, das es zuweilen auch wahrgenommen hat. So blockierte die konservative Mehrheit im House of Lords die Southern Rhodesia (United Nations Sanctions) Order im Jahr 1968, siehe Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 656. 543 Vgl. Hartmann, Regierungssysteme, S. 70; Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 355. 544 Verkürzt gesagt ist zwischen public bills und private bills zu unterscheiden, siehe dafür die prägnanten Definitionen bei Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 194 ff.; Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 190 f.: „[Public bills] affect the public general law, which applies to everyone in the UK – although some Acts may apply specifically to England, Wales, Scotland or Northern Ireland, and the Scottish Parliament has power to make primary legislation for Scotland on a range of subjects defined by the Westminster Parliament in the Scotland Act 1998. Private Acts confer private and particular rights or are local and personal in their effect. A private Act might allow a local authority to close a cemetery, or to confer powers to manage and control access to areas of common land.“ 545 Siehe nur die Legaldefinition nach s. 1(2) Parliament Act 1911 und 1949: „A Money Bill means a Public Bill which in the opinion of the Speaker of the House of Commons contains only provisions dealing with all or any of the following subjects, namely, the imposition, repeal, remission, alteration, or regulation of taxation; the imposition for the payment of debt or other financial purposes of charges on the Consolidated Fund, or on money provided by Parliament, or the variation or repeal of any such charges; supply; the appropriation, receipt, custody, issue or audit of accounts of public money; the raising or guarantee of any loan or the repayment thereof; or subordinate matters incidental to those subjects or any of them. In this subsection the expressions ,taxation,‘ ,public money,‘ and ,loan‘ respectively do not include any taxation, money, or loan raised by local authorities or bodies for local purposes.“ 546 Nach dem Septennial Act 1715 waren es sieben Jahre und zwar schon seit Meeting of Parliament Act 1694, vgl. Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 347. 547 Eigentlich ist die Intention des Gesetzes, die der Krone, vertreten durch den Premierminister, zustehende Prärogative der Auflösung des Parlaments (was naturgemäß aus wahltaktischen Gründen so erfolgte, wie es der eigenen Partei gelegen kam) durch ein Gesetz einzuschränken/aufzuheben. Siehe nur Oliver, Parliament, in: Jowell/dies. (Hrsg.), Changing Constitution, S. 167 (176); Blackburn, Dissolution of Parliament, P.L. 2009, S. 766 passim.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
217
In der politischen Praxis sind seit 1911 ungefähr die Hälfte aller jährlichen Budgets als money bills qualifiziert worden.548 Damit verbleibt in einem sachlich eng begrenztem Umfeld eine gleichermaßen zeitlich beschränkte Möglichkeit, die Politik der von der Mehrheit im House of Commons getragenen Regierung zu behindern.549 (2) Keine demokratische Legitimation des House of Lords Wegen der verbliebenen Möglichkeit im Kompetenzgefüge der Häuser des Parlaments ist die sog. Salisbury-Convention, zuweilen auch als Salisbury-AddisonConvention bezeichnet,550 entstanden. Dieser folgend wird eine Mehrheit im House of Lords niemals gegen Gesetze votieren, die von einer anderen Partei mit ihrer Mehrheit im House of Commons beschlossen wurden. Dies gilt allerdings nur, sofern diese Gesetzesvorhaben auf dem Wahlprogramm der Regierungspartei beruhen (sog. manifesto bills).551 Der historische Grund für die Einführung dieser Verfassungskonventionalregel war parteipolitischer Natur. Zeitpunkt für ihre Etablierung war der erste Wahlkampf nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in welchem die Labour Party die Verwirklichung ihrer sozialistischen Kernziele auf die politische Tagesordnung setzte.552 Die berühmte cl. IV des Labour Rule Books sah die Verstaatlichung von Produktionsmitteln vor (die cl. IV wurde, nota bene, durch das erste sachpolitische, parteiinterne Plebiszit in der Labour Party unter Blair abgeschafft).553 In dem Westminster-System mit der Labour Party als sozialistischer und der Conservative Party als kapitalistischer Partei lag das Problem in der Umsetzung des Daneben ist fraglich, ob die Parlamentssouveränität bzgl. einer künftigen Anhebung der Höchstdauer einer Wahlperiode durch die Parliament Acts 1911 und 1949 eingeschränkt ist. Vgl. dazu R. (Jackson) v Attorney General [2005] UKHL 56 – Bingham LJ (32) ja, – Nicholls LJ (57 – 59), Steyn LJ (79), Hope LJ (118), Carswell LJ (175), Hale LJ (164) nein. 548 Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 153. 549 Hierzu nur Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 191. 550 Benannt nach Christopher Addison, einem weiteren Mitglied der Conservative Party im House of Lords, welcher die Salisbury-Convention später bestätigte, vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 651. 551 Bogdanor, Constitution, S. 16, 153; Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 651 für die Bezeichnung als manifesto bill. 552 Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 191; Loveland, Constitutional Law, S. 166. 553 Für die Entwicklung des Parteiwesens ist die cl. IV der Labour Party von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Programmatisch stellte diese nämlich das erste umfassende Parteiprogramm einer britischen Partei überhaupt dar, als sie unter dem Titel „Labour and the New Social Order“ im Jahr 1918 erlassen wurde, vgl. nur Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 274 f. Dieses wurde vom Parteitag unter Einschluss der PLP und der außerparlamentarischen Organisation auf Druck der Gewerkschaften (und ihres block vote) beschlossen. Im Jahre 1995 wurde die Mitgliederabstimmung in der Labour Party über die – schließlich erfolgte – Abschaffung der cl. IV zum ersten implementierten Element plebiszitärer Demokratie in den Parteien unter Parteiführer Blair und seinem Konzept von New Labour. Dazu Webb, British Party System, S. 205.
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
Parteiprogramms selbst bei einem Wahlsieg für das House of Commons in der Beteiligung des House of Lords. Denn traditionell war damals das House of Lords von der Conservative Party dominiert,554 sodass nicht klar war, ob es die entsprechenden Gesetzesentwürfe der Labour Party billigen würde. Obwohl das House of Commons zum Träger des Volkswillens avanciert war, hätte das House of Lords Gesetzgebungsvorhaben verzögern oder gar endgültig blockieren können. Denn auch nach s. (2)1 Parliament Act 1911 wäre es bei einer ihm zugeleiteten public bill, die eine non-money Bill darstellt, möglich gewesen, diese für drei parliamentary sessions (d. h. zwei Jahre) zurückzustellen. Diese letztere Option hätte bei einer praktisch regelmäßigen Legislaturperiode von vier Jahren dazu geführt,555 dass gerade in den letzten Jahren einer Regierung weitreichende und für die Wiederwahl wichtige Gesetzesinitiativen nicht rechtzeitig durch das Parlament hätten gebracht werden können.556 Der damalige Führer i. S. e. Fraktionsvorsitzenden557 der Conservative Party im House of Lords, Robert Gascoyne-Cecil (Lord Salisbury) führte die später nach ihm benannte Verfassungskonventionalregel ein. Es handelt sich bei ihr um eine Anerkennung nicht nur der Kompetenzverteilung zwischen House of Lords und House of Commons, sondern darüber hinaus der politischen Volkssouveränität.558 Es ist allgemein anerkannt, dass dem britischen Wahlrecht ein plebiszitärer Charakter innewohnt.559 Letztlich reduziert sich die Wahl auf einen großen Wettbewerb zwischen den zwei stärksten Parteien, sodass die Wählerschaft personell und sachpolitisch einen stärkeren Einfluss auf die Durchsetzung eines Programms durch die Vertreter der einen siegreichen Partei hat, als dies in einem Vielparteiensystem möglich wäre. In Bezug auf die Wahl des einzelnen Abgeordneten manifestiert sich dieser auf 554
Vgl. den historischen Überblick bei Griffith/Ryle, Parliament, S. 465 m. w. N. bis zum Jahr 1989, nach denen die Conservative Party stets die Macht über das House of Lords hatte. Vgl. für eine jüngere Darstellung aus dem Jahr 2005 ohne eine Mehrheit einer Partei Budge/ McKay/Newton/Bartle, British Politics, S. 421. 555 Eine Übersicht zu den tatsächlichen Intervallen von Wahlen im 20. Jahrhundert bis Mitte der 1990er Jahre enthält Blackburn, Electoral System, S. 21 f. Hiernach ergibt sich, dass zwar neunmal vier- bis fünfjährige Wahlperioden eingehalten wurden, je dreimal dreibis vierjährige wie auch zweijährige, zweimal weniger als einjährige und einmal gar mehr als fünfjährige. 556 Für diese Einschätzung siehe Loveland, Constitutional Law, S. 167. 557 Als Parteiführer galt damals bereits einzig der Fraktionsvorsitzende im House of Commons. Im House of Lords wählen die Mitglieder der Association of Conservative Peers, vormals Association of Independent Unionist Peers einen Chairman (in etwa: Fraktionsvorsitzender) seit 1922. Diese Organisation ist dem 1922 Committee im House of Commons nachgebildet. Vgl. Griffith/Ryle, Parliament, S. 467. 558 So äußerte Lord Salisbury selbst: „[A]s a guiding principle, where legislation had been promised in the party manifesto, the Lords would not block it on the ground that it should be regarded as having been approved by the British people.“ HL Deb 10 November 1964 vol. 261 c. 664. 559 Vgl. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 160; Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 101 ff.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
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Wahlkreisebene, insofern das britische relative Mehrheitswahlrecht zu einer besonders engen Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis führt, der deshalb seine Wahlversprechen mit Blick auf seine Wahlkreiswählerschaft umzusetzen versucht.560 Auf nationaler Ebene stellt der plebiszitäre Charakter sich als Entscheidung über die gesamte Regierungspolitik dar.561 (3) Zwischenergebnis: Verfassungskonventionalregel als Bindeglied zur innerparteilichen Ordnung Mit dieser Verfassungskonventionalregel,562 die Teil der Verfassungsquellen ist, tritt erneut die im Vereinigten Königreich viel mehr als in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen herrschende Verbindung zwischen Partei und Parlament, Politik und Recht sowie Staat und Gesellschaft zutage. Damit wird auch deutlich, dass eine dichotomische Konzeption von Staat und Gesellschaft dem Vereinigten Königreich fremd ist. Die sich hieraus ergebenden Fragen, inwieweit die Durchsetzung des Parteiprogramms auf staatlicher Ebene gar rechtlich erzwungen werden kann i. S. d. mandate theory563 und wie die innerparteilichen Aufstellungsverfahren für Wahlprogramme im Lichte der innerparteilichen Demokratie ausgestaltet sind, bleiben anderen Untersuchungen des britischen politischen Systems vorbehalten. 6. Zwischenergebnis: Status der Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit Eine Kategorisierung des verfassungsrechtlichen Status der Parteien wie in Deutschland konnte sich in der britischen Rechtswissenschaft bisher nicht etablieren, wenngleich einzelne der international verbreiteten Parteienstatuslehren isoliert vorzufinden sind, so der Status der transparency (Öffentlichkeit) und die autonomy 560
Vgl. Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 79, 97 m. w. N. auf die britische Literatur. Siehe Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 160 f. 562 Obschon deren Qualifikation als Verfassungskonventionalregel in Zweifel gezogen wird, weil sie in der konkreten Situation etabliert wurde, in der die Conservative Party über eine Mehrheit im House of Lords und eine andere Partei (hier: die Labour Party) über eine abweichende Mehrheit im House of Commons verfügte, wird in der vorliegenden Arbeit von der Existenz als Verfassungskonventionalregel ausgegangen. Vgl. Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 247: „[T]he Salisbury Convention is perhaps more a code of behaviour for the Conservative Party when in opposition in the Lords than a convention for the House.“ Ähnlich sah das auch Tom McNally (Lord McNally), Fraktionsvorsitzender der Liberal Democrats im House of Lords: „[T]he Salisbury convention was designed to protect the non-Conservative government […]. It was not designed […] against legitimate checks and balance by the second chamber.“ HL Deb 26 January 2005 vol. 668 c. 1371. Tatsächlich hat sie sich allerdings als generell angewendete Verfassungskonventionalregel etabliert, so Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 354: „This doctrine was developed during the post-war Labour administration but now normally applies to ,mandated‘ Bills of either party.“ Damit sind wiederum die manifesto bills gemeint. 563 Vgl. Bogdanor, Constitution, S. 17, der diese bereits als „no-doubt dubious“ bezeichnet. 561
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2. Kap.: Status und Funktion der Parteien im britischen Parteienrecht
(Organisationsfreiheit). Zumindest in Anlehnung an den dreifaltigen Status der Freiheit, der Gleichheit und der Öffentlichkeit, wie er auch in parteienrechtsvergleichenden Werken zur Anwendung kommt,564 kann für das britische Parteienrecht Folgendes festgehalten werden: a) Freiheitsprinzip Die Parteienfreiheit ist zunächst zu unterteilen in die Gründungsfreiheit und die Organisationsfreiheit. Die britischen politischen Parteien genießen eine verfassungsrechtlich fixierte Gründungsfreiheit. Das Recht auf politische Betätigung einer und in einer Partei ergibt sich normativ aus s. 1(1)(a), Sch. 1 Human Rights Act 1998. Als Doppelrecht ausgestaltet umfasst es als Träger die Individuen, die eine Partei gründen und in ihr aktiv sind, und die Parteien selbst als Organisationen.565 Es umfasst auch die Festlegung auf die Rechtsform der Partei, sei es als unincorporated association oder als private company limited by guarantee nach dem Companies Act 2006. Sieht man an dieser Stelle noch von den Festsetzungen des Companies Act 2006 für die innere Organisation ab, so existiert für die Parteien eine weitgehende Autonomie in ihrer inneren Ordnung. Die bereits angesprochenen fragmentarischen gesetzlichen Regelungen und auch die Parteienfinanzierung aus s. 170 Criminal Justice and Public Order Act 1994 sowie die Vorgängerregelungen verpflichten die Parteien nicht auf einen bestimmten Aufbau, sie bieten nur für einzelne Parteien optionale Lösungen an.566 Auch der PPERA 2000 hält im Hinblick auf die Parteienfinanzierung an den verschiedenen Modellen der Parteienfinanzierung fest. Im Jahr 2000 wurden der im demokratischen Prozess eminent wichtigen Frage der Parteienfinanzierung sieben dogmatische Prinzipien vom sog. Neill-Komitee zugrunde gelegt: Selflessness (Selbstlosigkeit), Integrity (Integrität), Objectivity (Objektivität), Accountability (Verantwortlichkeit), Openness (Offenheit), Honesty (Ehrlichkeit), Leadership (Führungskompetenz).567 b) Gleichheitsprinzip Konnte bis 1998 noch von einer unbedingten Parteiengleichheit gesprochen werden, die darin begründet lag, dass Parteien verfassungsrechtlich ignoriert wur564 Vgl. Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Gliederungsplan, Parteienrecht im europäischen Vergleich, S. 11 (14); Tsatsos/Schefold/Morlok, Rechtsvergleichende Ausblicke, in: dies./Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 824 (825 ff.). 565 Siehe an dieser Stelle nur für die Autonomie der Parteienorganisation Ewing, Cost of Democracy, S. 67 ff., 85. 566 Ausführlich zum Prinzip der innerparteilichen Demokratie im nächsten Kapitel. 567 H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, S. II. Diese sind zuvor bereits vom sog. Nolan-Komitee erarbeitet worden. Eine Rezeption dieser Prinzipien bei Maer, Committee on Standards in Public Life, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 5.
B. Status und Rechtsnatur der Parteien
221
den,568 so hat diese durch die beiden Parteiengesetze eine tektonische Verschiebung erfahren. Mag die Registrierung der Parteien nur deklaratorisch sein für die Existenz als Partei, führt sie zu konstitutiven Veränderungen in parteien- und wahlrechtlichen Einzelfragen. Einerseits sind registrierte gegenüber nichtregistrierten Parteien bezüglich des Rechts Kandidaten unter Parteilabel antreten zu lassen privilegiert. Denn damit korrespondiert der gesetzliche Namensschutz sowie das richterrechtlich gewährte Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Andererseits unterwerfen sich die registrierten Parteien formal dem Transparenzgebot und materiell den Finanzierungsverboten aus dem PPERA 2000, sodass dies eine – aus Sicht der Parteien – Schlechterstellung gegenüber nichtregistrierten Parteien bedeutet. Veröffentlichungspflichten für nichtregistrierte Parteien, die als unincorporated associations organisiert sind, existieren bekanntermaßen grundsätzlich nicht. Dagegen sind von nichtregistrierten Parteien, die als private companies limited by guarantee organisiert sind, die Rechenschafts- und Geschäftsberichte gegenüber den Mitgliedern und der Öffentlichkeit (einsehbar beim Companies House) jährlich zu veröffentlichen. Generell bleibt aber für alle Parteien ohne eine Registrierung ein unveränderter Status der Gleichheit in einem Punkt gewahrt: Aufgrund ihrer bedeutenden Stellung im politischen Prozess können sie sich als Organisationen nicht gegen einseitige, gar beleidigende Berichterstattung in den Medien wehren. c) Öffentlichkeitsprinzip Der Status der Öffentlichkeit ermöglicht dem Bürger eine Möglichkeit der Kontrolle des Parteieninnenlebens. Hervorzuheben ist hierbei, dass es dem britischen Parteienrecht weniger um die Transparenz innerparteilicher politischer und personaler Entscheidungsprozesse als um die Kontrolle der Parteifinanzen geht.569 Die Kontrolle über die Parteifinanzen wirkt sich privat- und öffentlich-rechtlich aus: Die Parteien unterwerfen sich je nach zivilrechtlicher Organisationsform Transparenzvorschriften, die innerparteilich gegenüber den Mitgliedern und außerparteilich gegenüber der Öffentlichkeit wirken. Von solchen privatrechtlichen Pflichten betroffen sind nur die als private companies limited by guarantee organisierten Parteien. Auch öffentlich-rechtlich sind Parteien dem finanziellen Transparenzgebot verpflichtet, jedenfalls die Parteien, die sich zur Registrierung unter dem PPERA 2000 entschieden haben.
568
Statt vieler Hailsham, Democracy, S. 37. Siehe für die rein aus finanziellen Gesichtspunkten betrachtete Transparenz der Parteien nach dem PPERA 2000 Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (545). Er hebt hier die Frage der innerparteilichen Transparenz in einem Absatz als Anregung für künftige Gesetzgebungsvorhaben hervor. 569
Drittes Kapitel
Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht A. Kein zwingendes Gebot innerparteilicher Demokratie in der Verfassung I. Keine Verpflichtung aus Gesetzesrecht und Common Law In den beiden maßgeblichen Rechtsquellen der Verfassung – den Gesetzen und dem Common Law – findet sich keine zwingende Verpflichtung der Parteien auf Einhaltung des innerparteilichen Demokratieprinzips.1 Dies unterscheidet sie durchaus auch von anderen Common Law-Staaten, in denen seit einiger Zeit Gesetze die Parteien auf Achtung demokratischer Grundprinzipien verpflichten. Auf nationaler Ebene enthält s. 71 des neuseeländischen Electoral Act 1993 diese Pflicht im Hinblick auf die Funktion politischer Parteien bei der Kandidatenauswahl.2 Der australische Bundesstaat Queensland hat seit dem Jahr 2002 einen umfassenden 1 Siehe ausdrücklich Gauja, Political Parties and Elections, S. 91; Barendt, Constitutional Law, S. 149. Andere Autoren, insbesondere solche verfassungsrechtlicher Monografien, verzichten völlig auf die Nennung der Thematik der innerparteilichen Demokratie im Vereinigten Königreich. Anders Loveland, Constitutional Law, S. 208: „The legal framework regulating candidacy is directed towards the candidate as an individual. Unlike most other ,democratic countries‘, Britain has no legislation dealing explicitly with such issues as the selection of parliamentary candidates, the formation of party policy, and the election of party leaders.“ Er hält hier ebenfalls fest: „Nor do constitutional lawyers appear to consider the question important: intra-party democracy is an issue few legal commentators have examined.“ Die unter Verfassungsrechtlern erste Ausnahme bildete Oliver, die in ihrem Beitrag zu dem mittlerweile in der 8. Auflage erschienenen Werk „The Changing Constitution“ (2. Auflage 1989) in ihrem Kapitel der innerparteilichen Demokratie großen Raum einräumte; dies ist in den späteren (und auch der aktuellen) Auflage(n) nicht mehr der Fall. 2 Es handelt sich bei Neuseeland um die einzige Common Law-Jurisdiktion, die auf nationaler Ebene über eine Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie, zumindest im Bereich der parteienfunktionell besonders wichtigen Kandidatenauswahl, verfügt. Wortlaut der s. 71 Electoral Act (1993): „Requirement for registered parties to follow democratic procedures in candidate selection. Every political party that is for the time being registered under this Part shall ensure that provision is made for participation in the selection of candidates representing the party for election as members of Parliament by – (a) current financial members of the party who are or would be entitled to vote for those candidates at any election; or (b) delegates who have (whether directly or indirectly) in turn been elected or otherwise selected by current financial members of the party; or (c) a combination of the persons or classes of persons referred to in paragraphs (a) and (b).“ Dazu Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251).
A. Kein zwingendes Gebot in der Verfassung
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Katalog an demokratischen Mindestanforderungen für Parteisatzungen, für die Aufstellung von Kandidaten und die Wahl von Vorständen in s. 73 A Electoral and Other Acts Amendment Bill 2002 eingeführt.3 Dabei ist das Fehlen einer derartigen gesetzlichen oder richterrechtlichen Verpflichtung im Vereinigten Königreich durch die dortige spezifische verfassungsrechtliche Lage bedingt. Namentlich ist dies normativ-rechtlich das Prinzip der Parlamentssouveränität und politisch-dogmatisch das im Vereinigten Königreich vorherrschende Demokratieverständnis. 1. Britische Besonderheit der rechtlichen Parlamentsund politischen Volkssouveränität Grundsätzlich gilt im modernen westlichen Verfassungsstaat, dass das Prinzip der Volkssouveränität die „normativ-verfassungsrechtliche“4 Grundlage für das Verfassungspostulat der innerparteilichen Demokratie ist. Denn durch die Verpflichtung der Parteien auf eine grundsätzliche demokratische Binnenstruktur wird die Volkssouveränität im Staate als Parteivolkssouveränität in den Parteien widergespiegelt.5 So sehr dies eine parteienrechtliche Universalie in den meisten westlichen Verfassungsstaaten darstellen mag, gilt dies nicht für das Vereinigte Königreich. Hier scheidet bereits die Volkssouveränität als normative Grundlage des innerparteilichen Demokratiegebots aus. Dafür gibt es prima vista bereits zwei Gründe: Formell betrachtet folgt schon aus der fehlenden Verfassungskodifikation, dass es weder eine formale Verankerung der Volkssouveränität noch eine daraus resultierende normative Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie geben kann. Dieser formelle Aspekt sollte gleichwohl nicht überbewertet werden, denn machte man die Frage der Existenz eines Verfassungsgebots von einer Normierung in einer kodifizierten Verfassung abhängig, so legte man erneut das kontinentaleuropäische Verfassungsverständnis als Untersuchungsmaßstab für die britische Verfassung an. Für das Vereinigte Königreich hingegen ist der Blick erneut zu schärfen für die Stellung des Common Law und aller Parlamentsgesetze als Verfassungsrechtsquellen. Demzufolge könnten jedes beliebige Gesetz und jede beliebige Gerichtsentscheidung das verfassungsrechtliche Gebot der innerparteilichen Demokratie beinhalten. 3 Hierzu Gauja, Enforcing Democracy, in: Democratic Audit of Australia/Australian National University (Hrsg.), Discussion Paper, S. 2 f. 4 Vgl. statt vieler Tsatsos/Schefold/Morlok, Rechtsvergleichende Ausblicke, in: dies./ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 737 (805). 5 Siehe etwa die Kompendien über die Verbindung von popular sovereignty und intra-party democracy in der internationalen Parteien- und Demokratieforschung. Mit rechtsvergleichendem Einschlag hierzu Koß, Staatliche Parteienfinanzierung, S. 240; Katz, Democracy and the Legal Regulation, S. 5 ff. Aus vergleichender politikwissenschaftlicher Perspektive siehe ders., Party in Democratic Theory, in: ders./Crotty (Hrsg.), Handbook, S. 34 (35 ff.) mit kurzen Erklärungen der international anerkannten Demokratietheorien nach Joseph Schumpeter, Anthony Downs, Maurice Duverger, Angelo Panebianco.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Erst mit der Feststellung, dass sich aus diesen beiden Rechtsquellen (zudem aus den anderen Quellen der Verfassung i. w. S.) kein Postulat zum innerparteilich demokratischen Aufbau ergibt, kann gefolgert werden, dass die britische Verfassung insgesamt zur inneren Ordnung der Parteien schweigt. Materiell-verfassungsrechtlich beruht die fehlende verfassungsrechtliche Normierung des Gebots innerparteilicher Demokratie im Vereinigten Königreich auf der spezifisch britischen Antwort auf die Frage der Inhaberschaft der Souveränität im Staate. Diese ist bekanntlich seit dem späten 17. Jahrhundert gelöst, indem die rechtliche Souveränität nicht beim Volk, sondern bei der Crown-in-Parliament verortet wird. Die Parlamentssouveränität ist in der Rechtsprechung6 nach wie vor das schlechthin etablierte Verfassungsrechtsdogma. Daran ändert auch nichts, dass ihre Gültigkeit von einigen Stimmen in der rechts- und politikwissenschaftlichen Literatur angezweifelt wird. Dies geschieht in der Regel vor dem Hintergrund der Europäisierung und Internationalisierung des Rechts sowie im Lichte der im Vereinigten Königreich zumindest politisch anerkannten Volkssouveränität. Manche Autoren gehen dabei so weit, die Parlamentssouveränität nur noch als rechtsphilosophisches Relikt – als form nicht mehr als substance – zu bezeichnen.7 Unterdessen ist für den ausländischen rechtskundigen Betrachter zu vermerken, dass diesen Stimmen aus der akademischen Lehre für die Entwicklung des britischen (Verfas6 Vgl. für die aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung keineswegs als larmoyante obiter dicta zu sehenden Ausführungen der Gerichte, die an der Parlamentssouveränität festhalten, das Urteil des Supreme Court zu der Frage, ob die Regierung den sog. Brexit ohne Parlamentsvotum einleiten darf. Nach Ansicht der Regierung seien die EU-Verträge völkerrechtlicher Natur, sodass die Kündigung dem Kernbereich des exekutiven Handelns anheimfällt und eine royal prerogative darstellt. Nach Ansicht des Parlaments muss dieses befragt werden. Der Supreme Court entschied sich mehrheitlich für einen Parlamentsbeschluss und begründete dies mit der unumstößlich fortgeltenden Parlamentssouveränität: „This is because Parliamentary sovereignty is a fundamental principle of the UK constitution, as was conclusively established in the statutes referred to […] [u. a. die Bill of Rights 1688 and the Act of Settlement 1701, Anm. d. Verf.].“ R. v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5 paras. 43 (und davor 41 f.) – Neuberger, Hale, Mance, Kerr, Clarke, Wilson, Sumption, Hodge LLJ. 7 Vgl. für die Diktion der form or substance den Titel des Beitrags von Anthony Bradley „The Sovereignty of Parliament – Form or Substance?“ (Bradley, Sovereignty of Parliament, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 35 passim). Kritisch zur Fortgeltung der Parlamentssouveränität vor dem Hintergrund des Human Rights Act 1998 und der Internationalisierung des Rechts, aber diese im Ergebnis und im Kern immer noch bejahend Bogdanor, Constitution, S. 280 ff., der ebenso von form und substance spricht. Kritisch ebenso aus der älteren deutschen Literatur Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 73 f.: „[W]as immer die Lehrbücher postulieren mögen, im heutigen politischen Prozess der Voll-Demokratie, das Dogma von der Parlamentssouveränität verblaßt und von der Volkssouveränität überlagert ist. Verfassungsstrukturell gesehen drückt sich in diesem Wandel der Niedergang des Parlaments […] und der […] Aufstieg der anderen Machtträger, der Exekutive […] und der Wählerschaft, aus.“ Vgl. auch Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 44 f. m. w. N. Die in der vor dem sog. Brexit erschienenen Literatur vertretene Auffassung dürfte an Argumentationskraft verlieren, wenn der Vorrang des Europarechts beseitigt ist, zu den Auswirkungen des Brexit siehe Gee/Young, Regaining Sovereignty?, EPL 2016, S. 131 passim.
A. Kein zwingendes Gebot in der Verfassung
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sungs-)Rechts nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Daher wird auch in diesem Werk von der unveränderten Bedeutung der Parlamentssouveränitätsdoktrin im britischen Verfassungsgefüge ausgegangen. Auf die positive und die negative Seite der Parlamentssouveränität ist bereits in vorigen Kapiteln hingewiesen worden. Das Prinzip Parlamentssouveränität entfaltet auch eine spezifische Wirkung im Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip, und zwar im Parlament und in den Parteien. So sah Dicey die positive Seite nicht nur darin, dass das Parlament jedes beliebige Gesetz erlassen oder aufheben kann,8 vielmehr wies er bereits auf die zu seinen Lebzeiten schon existierende faktische Parteiendemokratie im Parlament hin.9 Nach der komplementären negativen Seite der Parlamentssouveränität, die eine Absage an eine wie auch immer geartete Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des parlamentarischen Handelns beinhaltet, ist eine parteiendemokratische Komponente enthalten. Insoweit sind – legt man bereits Diceys Beobachtungen der parteipolitischen Realitäten zugrunde – die hiervon „Begünstigten“ ebendiese Mehrheitsfraktion im Parlament. Zunächst verleiht die Parlamentssouveränität somit den (Parlaments-)Parteien, die nahezu jeden Abgeordneten im Parlament stellen und überdies die Regierung tragen, „einen Status von Autorität und Unabhängigkeit, was sie über den Status von bloßen Repräsentanten nationaler Parteiorganisationen heraushebt“.10 Weiterhin werden zumindest die Exponenten der Parteien im Parlament durch die Parlamentssouveränität zur Stimme, ja zu den Schöpfern der britischen Verfassung. Die Verfassung unterliegt demzufolge nicht der ständigen und unbeschränkten Veränderungsmacht eines parteienlosen Parlaments, sondern i. d. R. der die Regierung tragenden Mehrheitsfraktion. Die Parlamentssouveränität ist, so weit geht Smith gar, in diesem Kontext als Parteiensouveränität aufzufassen.11 Bei dieser Feststellung verzichtet Smith auf die Unterscheidung zwischen Parteien im und außerhalb des Parlaments, nicht zuletzt wegen der im Vereinigten Königreich fehlenden rechtlichen Unterscheidung zwischen den verschiedenen Organisationsebenen der Parteien. 8
Dicey, Constitution, S. 68 spricht davon, dass party government „the very foundation of our constitutional system“ ist. 9 Dies macht er u. a. daran fest, dass es parteilose Abgeordnete bereits im späten 19. Jahrhundert nicht oder nur in Einzelfällen gab. 10 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (318). 11 Ähnlich Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (319); Bogdanor, People and the Party System, S. 259 spricht im Kontext des Wahlrechts von „sovereignty of party“. Es bleibt zu beachten, dass die Parlamentssouveränität ein vages Konstrukt ist, dass ihre einzelnen Facetten kaum in einer Monografie, die sie nicht zum Hauptthema hat, dargelegt werden können. So spricht Bogdanor selbst davon, dass „[t]he doctrine of parliamentary sovereignty is in fact far more complex and obscure than it may appear at first sight“ (ders., Constitution, S. 280). Innerhalb dieser Parteiensouveränität, die als Souveränität der Mehrheitsfraktion(en) zu verstehen ist, wäre eine innerparteiliche Demokratie die konsequent zu Ende gedacht auch ein imperatives Mandat für die „Parteivertreter“ im Parlament und der Regierung umfasst, nicht vereinbar.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Unter Berücksichtigung der als politisches Konzept zu verstehenden Volkssouveränität ergibt sich gleichwohl eine notwendige Korrektur dieser Rechtslage. So entwickelte sich in der gelebten britischen Verfassung peu à peu eine freiwillige Selbstverpflichtung der Parteien auf eine grundsätzlich demokratischen Maßstäben genügende Binnenorganisation und damit auf die Parteienvolkssouveränität. Diese ist aus politischen Opportunitätsgründen heraus, mithin als Konzession gegenüber der über mehr als 100 Jahre sukzessiv gewachsenen Wählerschaft, entstanden. Sie diente bis in das 20. Jahrhundert hinein gerade in der Conservative Party der Sicherung der Dominanz der natural ruling classes, des Adels und des Großbürgertums. Heutzutage ist die in den Parteistatuten festgelegte innerparteiliche Demokratie Ausdruck der modernen Ansprüche des sich aktiv beteiligenden Bürgers im 20. Jahrhundert. Eine besondere rechtshistorische Bedeutung nimmt dabei die Gründung der Labour Party ein, die sich als erste Partei dem Prinzip der Mitgliederpartei verschrieb und formell so konstituierte. In dem Kontext ist auch der Wandel von der repräsentativen zur direkten innerparteilichen Demokratie in jüngerer Zeit zu sehen, welcher der spätere Premierminister Brown in den 1990er Jahren in dem der Arbeit vorangestellten Zitat das Wort redete.12 Vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen bleibt es dabei, dass das einzige, wenngleich gesetzlich nur teilweise normierte (durch die Bill of Rights 1688 etwa) und von den Gerichten in ständiger Rechtsprechung bestätigte Verfassungsdogma die Parlamentssouveränität ist. Unterdessen hat sich die politische Volkssouveränität neben der und verstärkt durch die Parlamentssouveränität ab dem Reform Act 1832 entwickelt.13 Ewing drückt das Verhältnis zwischen den beiden Souveränitätsprinzipien so aus: „[T]he principle of parliamentary sovereignty, a constitutional principle acquired before the advent of democracy yet one which might be said to be the most democratic of all constitutional principles: it is in the principle of parliamentary sovereignty that the principles of democracy and constitutional law converge. This is because in the democratic era, parliamentary sovereignty is the legal and constitutional device which best gives effect to the political principle of popular sovereignty, whereby the people in a self-governing community are empowered – without restraint – to make the rules by which they are to be governed through the medium of elected, representative and accountable officials.“14
Danach ist es die Parlamentssouveränität, welche der Volkssouveränität die politische Durchsetzungskraft verleiht und nicht umgekehrt. Letztlich ist das Prinzip 12
Brown zitiert nach Bogdanor, Constitutional Reform, P.Q. 2011, S. S53 (S60) [sic!]. Siehe nur für den in historischen Kontext, den Dicey im Rahmen des Kapitels zur Parlamentssouveränität beschrieb. Weiland war eine veritable Volldemokratie noch nicht ausgebildet und daher war die Parlamentssouveränität nicht nur ein rechtlich-normatives, sondern eben auch ein politisch-faktisch geltendes Prinzip, Bogdanor, Constitution, S. 283 ff. 14 Ewing, Just Words, RCS 1999, S. 53 (55), Herv. d. Verf. Dies wird aufgegriffen von Bradley, Sovereignty of Parliament, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 35 (67). 13
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der Parlamentssouveränität, wie seine geschichtliche Entwicklung weit vor Etablierung der britischen Volldemokratie zeigt, rechtlich gänzlich von der politischen Volkssouveränität unabhängig. Dies alles führt zu dem Schluss, dass für die verpflichtende Forderung nach innerparteilicher Demokratie vom normativ-verfassungsrechtlichen und staatsphilosophischen Standpunkt gesehen im Vereinigten Königreich keine Notwendigkeit besteht. 2. Organisation der Parteien und gesellschaftliches Demokratieverständnis a) Organisation des Staates und der Parteien als Ausdruck des gesellschaftlichen Demokratieverständnisses Die Verbindung zwischen dem rechtlichen Konzept der Parlamentssouveränität, dem politischen Konzept der Volkssouveränität und den zwischen diesen beiden Prinzipien als Linkage stehenden Parteien wird über das in der britischen Gesellschaft herrschende Demokratieverständnis hergestellt. Auf das Wesentliche verkürzt gesagt ist die britische Demokratie insgesamt als ein gentlemen’s agreement zu verstehen. Sie ist seit jeher nur partiell gesetzlich normiert worden. Wenn gesetzgeberische Eingriffe in die Demokratie erfolgen, dann nach einem trial and errorSystem. Der Staat15 mit seinen Institutionen wie auch die Parteien werden als Ausdrucksform dieses gesellschaftlichen Demokratieverständnisses verstanden.16 Vom souveränen Parlament, den in ihm konstituierten Parlamentsfraktionen und von den Parteien als außerparlamentarischen Organisationen wird schlicht erwartet, dass sie sich auch ohne eine normativ-rechtliche Verpflichtung an die demokratischen Spielregeln halten. Nur so werden die Parteien auf jeder der dreifaltigen Organisationsebenen (party on the ground, party in public office, party in central office) ihrer Rolle als die zentrale Verbindung zwischen Gesellschaft und Staat in Erfüllung ihrer Linkage-Funktion gerecht. Auch die Parlamentssouveränität entbindet die Parteien im Parlament und als außerparlamentarische Vereinigungen nicht davon, sich im von der Verfassung vorgegebenen Radius bzw. innerhalb der Spielregeln der Demokratie zu bewegen. So steht neben der Parlamentssouveränität die zweite, ebenfalls von Dicey maßgeblich geprägte, Konzeption von der Rule of Law.17 Jedoch aus der Rule of Law eine Begrenzung der Parlamentssouveränität abzuleiten wäre ein Zirkelschluss, da die Parteien im Parlament die demokratischen Regeln, an die sie sich zu halten haben, selbst festlegen. Nach dem Dogma der Parlamentssouveränität könnte das Parlament 15 Die Schwierigkeit der Abgrenzung von Staat und Gesellschaft bleibt hier außer Acht. Es sei auf die obigen Ausführungen verwiesen. 16 Vgl. Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (325). 17 Zur Rule of Law als Korrektiv zur Parlamentssouveränität eingehend Craig, Constitutional Foundations, P.L. 2003, S. 92 passim.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
vermöge seiner konstitutionellen Omnikompetenz jederzeit ein Gesetz erlassen, das die rechtliche Souveränität im Staate auf das Volk überträgt und somit den normativrechtlichen Grundstein für eine binnendemokratische Verpflichtung der Parteien legte. Ein solches Gesetz könnte es spiegelbildlich aber zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder aufheben. Für den deutschen Juristen mag es eigentümlich wirken, doch dieses bisherige Ausbleiben eines Bekenntnisses zur Volkssouveränität auf gesetzlicher Ebene und somit zur Notwendigkeit der innerparteilichen Demokratie ist tief im britischen Demokratie- und Rechtsverständnis verwurzelt. Dass das Prinzip der innerparteilichen Demokratie anerkannt wird, beruht auf einem Bekenntnis der Parteien zur politischen Volkssouveränität. Die Sicherung ebendieser erfolgt durch das beschriebene unkodifizierte System der checks and balances zwischen den Häusern des Parlaments. b) Gesetzliche Interventionen nur bei konkreten Verstößen gegen die „Spielregeln der Demokratie“ An welche demokratischen Regeln sich Parlament, Politiker und Parteien zu halten haben, ergibt sich überwiegend nicht aus Gesetzen, sondern aus den politischen Quellen der Verfassung. Dies sind die Verfassungskonventionalregeln, Gepflogenheiten und das Gewohnheitsrecht, die u. a. teilweise durch die Rechtsprechung in Form des Common Law bestätigt werden.18 Dies alles fördert ein weiteres Mal den besonderen Charakter der Verfassung des Vereinigten Königreichs zutage. Sie erscheint im Kontext des demokratischen Willensbildungsprozesses zwischen Partei und Parlament als einerseits jederzeit normativ-rechtlich änderbare fluide bzw. flexible, andererseits als eine politische Traditionen betonende mixed constitution.19 Rechtspolitische Folge aus dem in den Tiefen des kollektiven gesellschaftlichen (Selbst-)Bewusstseins verankerten Demokratieprinzip für Staat und Parteien ist, dass gesetzliche Regelungen zur Aufrechterhaltung vorherrschenden Demokratieverständnisses nur bei sich konkret in der Praxis stellenden Fragen getroffen werden.20 Dies konnte bereits in den obigen Kapiteln anhand der sukzessiven Kodifikation der Parteien- und Politikfinanzierung nachgewiesen werden. 18 Vgl. nur das jüngst ergangene Urteil zum Austritt aus der EU nach Art. 50 Abs. 1 AEUV und zu der Frage, ob es eines Parlamentsbeschlusses bedarf oder ob die Regierung diesen als außenpolitischen, exekutiven Akt ohne Parlamentsbeteiligung durchführen darf, das Urteil R. v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5. 19 Für eine kurze Darstellung der althergebrachten britischen political constitution und der Veränderungen zur legal constitution durch das Europarecht, den Human Rights Act 1998 und die devolution siehe Tomkins, Political Constitution?, GLJ 2013, S. 229 passim. 20 Ein Beispiel dafür ist der Fixed Term Parliaments Act 2011. Dieses Gesetz soll es erschweren, dass der Zeitpunkt der Auflösung des Parlaments nach parteipolitischen Gesichtspunkten gelegt wird. Denn zuvor konnte die regierende Partei, d. h. die Partei des Premierministers, einen für sie günstigen Wahltermin wählen. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass die Auflösung des Parlaments vormals eine royal prerogative war, die durch den Premierminister selbst ausgeübt wurde. Prägnant beschrieben von Ryan, Fixed-term Parliaments Act 2011, P.L. 2012, S. 213 passim.
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Zusammengefasst wäre eine generelle Verpflichtung auf eine demokratische innere Ordnung aus verfassungstheoretischen Gesichtspunkten ohne weiteres möglich. Ihr Fehlen ist Ausdruck des Spannungsfeldes zwischen Parlaments- und Volkssouveränität und dem Demokratieverständnis. Letztlich wäre eine staatlich oktroyierte Verpflichtung der Parteien auf eine bestimmte innere Ordnung dem britischen Gemeinwesen fremd und „viewed negatively as a form of state interference in civil society.“21 3. Rechtsschutz nur bei vereinbarten satzungsrechtlichen Rechten Auch heutzutage werden die Parteien in ihrer formalen Organisation und in ihren faktischen Machtverhältnissen noch immer ein Stück weit als gentlemen’s clubs22 angesehen. In aller Kürze ist deshalb zu resümieren, dass auch seitens der Gerichte keine prinzipielle Verpflichtung der Parteien auf ein Gebot der innerparteilichen Demokratie besteht. Überhaupt ist die heute bestehende rechtliche Anerkennung des Parteienwesens durch Gerichte und Gesetzgeber nicht ad hoc geschaffen worden. Sie ist über Jahrzehnte, nahezu über ein Jahrhundert hinweg gediehen. Dies gilt mutatis mutandis auch für den Willen der Gerichte, das Parteibinnenrecht als bindendes Vertragsrecht anzusehen.23 a) Früher nur bei Verstößen gegen Equity, Eigentums- oder Vermögensrecht Im Verlauf des 19. Jahrhunderts haben die britischen Gerichte zunächst entschieden, dass sich innerhalb einer unincorporated association Rechte, die einem Mitglied gegenüber den anderen Mitgliedern zustehen, einzig aus der Equity24 er21 Gauja, Enforcing Democracy, in: Democratic Audit of Australia/Australian National University (Hrsg.), Discussion Paper, S. 3. 22 So explizit Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (335); ähnlich auch Morris, Parliamentary Elections, S. 107. Ein namentlich nicht näher genannter ehemaliger Funktionär der Conservative Party drückte es Anfang der 1990er Jahre wie folgt aus: „There are virtually no absolute rules, that’s why – unlike Labour – we tend not to get bogged down in procedural wrangles. We have family squabbles instead.“ Zitiert nach Garner/Kelly, British Political Parties, S. 98 f.; Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 59. 23 Dazu nur Gauja, Political Parties and Elections, S. 56. 24 Zur Erläuterung des Verhältnisses vom Common Law zur Equity siehe Slapper/Kelly, English Legal System, S. 3 ff. Während das Common Law von den von der Krone in das Land entsandten Richtern entstand und aufgrund eines hohen Formalisierungsgrades von Klage- bzw. richterlichen Entscheidungsarten (writs) in einigen Fällen dazu führte, dass es für spezifische Lebenssachverhalte keine Rechtsschutzmöglichkeiten durch das Common Law gab, wurde zum Ausgleich dieser Härten die zunächst einzelfallbezogene Equity (Billigkeit) entwickelt. Dieses, bis zu den Judicature Acts 1873 – 75 im Vereinigten Königreich vor eigenen Equity-Gerichten angewandte Fallrecht entwickelte sich über die Jahrhunderte zu einem eigenen nicht kodifizierten Rechtssystem. Heute hat die Distinktion zwischen Common Law und Equity schon aufgrund des Zusammenfallens in einem Instanzenzug keine praktische Bedeutung mehr. Zur Equity-Rechtsprechung zu eigentumsrechtlichen Konflikten in unincorporated associations
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
geben. Erfasst wurden nur mitgliedschaftliche Streitigkeiten um die Verletzung von proprietary rights (Eigentums- bzw. Vermögensrechten) innerhalb der Vereinigung.25 Andere Rechts- bzw. Satzungsstreitigkeiten in unincorporated associations blieben von den Gerichten unbeachtet.26 Die britischen Gerichte teilten diese Rechtsprechung und ihre folgende Entwicklung mit den meisten anderen Common Law-Jurisdiktionen. Für all diese stellt die Rechtsform der unincorporated association ein gemeinsames Erbe dar. Deshalb verwundert es nicht, dass bis heute in diesen Ländern auf Gerichtsentscheidungen der verwandten Rechtsordnungen zurückgegriffen wird. Aus diesem Grunde finden auch in dieser Untersuchung Gerichtsentscheidungen anderer Common Law-Länder Berücksichtigung.27 Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden die vereinigungsinternen Regeln als zwischen den Mitgliedern geltendes und damit justiziables Innenrecht eingeordnet. Anlässe für diesen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung lieferten die vor die Gerichte gebrachten Fragen um Eintritt28 und Ausschluss29 von Mitgliedern sowie erneut um eigentums- und vermögensrechtliche Modalitäten, dabei insbesondere nach der Auflösung von unincorporated associations.30 Dass es zu der Beschäftigung vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 3.01 ff.; Chafee, Internal Affairs of Associations, HLR 1930, S. 993 (1000 f.). 25 Wie in vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, ist die unincorporated association nicht rechtsfähig und „ihr“ wirtschaftliches Eigentum steht rechtlich jedem Mitglied als Miteigentümer oder einer natürlichen Person als Treuhänder (trustee) für alle Mitglieder zu. Vgl. Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (364) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „Even if there was a breach of contract, the Courts will not interfere unless there is some interference with proprietary rights, and in this case there was none.“ Die Richter des australischen High Court bemühten die britischen Entscheidungen Lens v Devonshire Club, The Times, 4 December 1914 und North London Railway Co. v Great Northern Railway Co. [1883] II Q.B.D. 30. 26 Obgleich diese Beschränkung in der heutigen Rechtsprechung nicht mehr besteht, ist sie in den Grundzügen noch in dem bis heute erhalten gebliebenen Eigentumskonzept in der unincorporated association zu erkennen. Denn die Vereinigung ist mangels Rechtspersönlichkeit selbst nicht fähig, Eigentum zu erwerben oder zu halten. Somit bedarf sie entweder aller Mitglieder als Miteigentümer oder einzelner trustees, die als Eigentümer für das Vermögen „der Vereinigung“ bestellt werden, zu den Lösungen der Eigentumsfrage der unincorporated association. 27 Eine grundlegende Entscheidung dazu ist Hopkinson v Marquis of Exeter [1867] LR 5 Eq 63 (67). Der Fall betraf den Ausschluss eines Mitglieds aus dem Conservative Club, und zwar wegen der Ankündigung, bei den anstehenden Wahlen liberale Kandidaten zu unterstützen. In der Entscheidung wurde von Romilly MR konstatiert: „In order to secure the principal object of the club, the members generally enter into a written contract in the form of rules,“ obschon das Gericht klarstellte, in die inneren Angelegenheiten einer Vereinigung nur unter engen Voraussetzungen (mithin der natural justice) einzugreifen: „But if the decision has been arrived at bonâ fide, without any caprice or improper motive, then it is a judicial opinion from which there is no appeal. None but the members of the club can know the little details which are essential to the social well-being of such a society of gentlemen, and it must be a very strong case that would induce this Court to interfere.“ (Herv. i. O.). 28 Woodforth v Smith [1970] 1 W.L.R. 806 (814). 29 Reel v Holder [1981] 1 W.L.R. 1226 (1231). 30 Dazu auch Warburton, Unincorporated Associations, S. 11.
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der Gerichte mit diesen Fragen kam, die schließlich zur Wende der etablierten Rechtsprechung führten, lag an der zwischenzeitlich gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der unincorporated association. Über die Jahrhunderte hatte sich eine unüberschaubar große Anzahl an Vereinigungen mit verschiedenen Zwecken und Zielrichtungen entwickelt. Dies führte dazu, dass es den Gerichten nicht mehr möglich war, nur aufgrund von Equity in vermögensrechtlichen Fragen zu entscheiden. Bis dahin wurden andere vereinigungsinterne Streitigkeiten als extralegal31 Fragen qualifiziert und somit dem Richterspruch entzogen. Die Gerichte schufen erst im Rahmen der zuvor gezeigten Entwicklung die legal fiction32 eines Vertragsabschlusses zwischen den Mitgliedern durch Gründung (bzw. Beitritt zu) einer unincorporated association. Nunmehr erkennen die Gerichte in der Gründung von oder dem Beitritt zu einer unincorporated association denselben Rechtsbindungswillen, wie ihn Personen bei Abschluss eines jeden sonstigen Vertrages haben und nach außen hin kundtun.33 In einer späteren Entscheidung des Court of Appeal in der Sache Lee v Showmen’s Guild of Great Britain aus dem Jahre 1954 wurde überdies klargestellt, dass die Justiziabilität des Satzungsrechts nicht durch eine etwaige entsprechende Klausel (ouster clauses) in der Vereinigungssatzung abbedungen werden kann.34 Dies wurde später ausdrücklich für parteiinterne Dispute bestätigt und gilt bis heute ausdrücklich für die Parteien, wie bspw. die Entscheidung in der Sache Weir v Hermon vor dem nordirischen High Court aus dem Jahr 2001 zeigt.35 Trotz ihrer grundsätzlichen Erscheinungsform als unincorporated associations wurde diese Rechtsprechung lange Zeit nicht auf die Parteien und ihr Innenrecht im gesamten Common Law-Rechtskreis angewendet. Es ist nämlich nicht grundsätzlich möglich, in einem real existierenden Zusammenschluss von Menschen a priori eine unincorporated association zu erkennen. Schwierig ist dies schon, weil eine kon31 Vgl. in Bezug auf die parteiinterne Aufstellung von Parlamentskandidaten Rawlings, Electoral Process, S. 107 m. w. N. 32 Enderby Town Football Club Ltd. v Football Association Ltd. [1971] Ch. D. 591 (606) – Denning MR. 33 Vgl. Gauja, Political Parties and Elections, S. 56 f. 34 Bestätigt wurde dies durch die Entscheidung Baker v Jones [1954] 1 W.L.R. 1005 (1009). In Lee v Showmen’s Guild of Great Britain [1952] 2 Q.B.D. 329 (CA) (344) urteilte Denning MR: „The rules are the contract between the members. The committee cannot extend their jurisdiction by giving a wrong interpretation to the contract, no matter how honest they may be. They have only such jurisdiction as the contract on its true interpretation confers on them, not what they think it confers. The scope of their jurisdiction is a matter for the courts, and not for the parties, let alone for one of them.“ Für die Labour Party siehe Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (56) – Foskett J; Choudhry v Triesman [2003] EWHC 1203 (Comm) (para. 68) – Burnton J. Vgl. aus der Literatur Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.25. 35 Weir v Hermon [2001] NICh 8 – Girvan J: „It is common case that on matters of law the court’s jurisdiction cannot be ousted by any provision in the rules of the Association.“ Vgl. hierzu Gauja, Political Parties and Elections, S. 88.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
kludente Gründung ohne schriftlichen Vertrag respektive ohne eine schriftliche Satzung möglich ist.36 Diese Feststellung ist in jedem einzelnen Streitfalle durch das erkennende Gericht zu treffen. Darüber hinaus bestand lange Zeit speziell bei (partei-)politischen Vereinigungen das Problem in der notwendigen gerichtlichen Feststellung eines zulässigen Zwecks für die Bildung einer unincorporated association. Betrachtet man die Historie der Institution der unincorporated association, so ist zu vermerken, dass diese ursprünglich ein Vehikel für soziale und wissenschaftliche Zwecke war. Ungeachtet dieser originär unpolitischen Zielsetzung stellt die unincorporated association bis heute die Standardrechtsform der parteipolitischen Organisationen dar. Darüber hinaus ist sie auch der Urtypus aller heute existierenden Unternehmensrechtsformen nach dem Companies Act 2006. Die Rechtsprechung hat einzig rein wirtschaftliche Zwecke mit der Entscheidung Conservative Central Office v Burrell ausgeschlossen. In der darin von Lawton LJ gegebenen und bis heute anerkannten Definition sind parteipolitische und zumindest untergeordnete wirtschaftliche Zwecke indessen erlaubt.37 Hinsichtlich politischer Vereinigungszwecke gab es eine einschränkende Rechtsprechung oder eine gesetzgeberische Intervention durch Einführung mit dem Companies Act 2006 vergleichbarer Rechtsformregelungen für Parteien niemals. Schon im Laufe des 19. Jahrhunderts stellten bekanntermaßen die ebenfalls bereits vorhandenen politischen unincorporated associations die Gerichte vor die Frage, ob die Politikgestaltung ein zulässiger Zweck ist. In Erinnerung gerufen werden muss dazu ihre freie Gründung. Als Rechtsform stellt sie seit jeher ein Phänomen der Rechtspraxis dar. Somit ist sie eine creature by default und kein Produkt des geschriebenen Rechts. Da ihre Gründung nachgerade keines staatlichen Rechtsaktes bedarf, sondern auf einer vom Willen der Mitglieder getragenen faktischen Selbstkonstituierung fußt,38 konnte auch die Gründung von Vereinigungen mit dem Zweck eine politische Partei zu bilden, obrigkeitlich schon nicht verhindert werden; jedenfalls nicht, solange Parlament und Gerichte von ihrer jeweiligen Rechtsetzungskompetenz keinen Gebrauch machen wollten. Dass die unincorporated association, die einen politischen Zweck erfüllt, einmal durch die Gerichte anzuerkennen sein würde, war somit eine Frage der Zeit. 36 Statt vieler hier nochmals Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87 (102) – Atkinson LJ: „[V]oluntary associations of individuals merely bound together by contract or agreement, express or implied.“ 37 Vgl. erneut die Standarddefinition für die unincorporated association aus Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „[B]y ,unincorporated association‘ […] Parliament meant two or more persons bound together for one or more common purposes, not being business purposes.“ 38 Die unincorporated association ist damit „much a creature by default as it was an intentional, juridical construct“. So Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (334) konkret zu den politischen Parteien in dieser Organisationsform, und dies im gesamten Common Law-Rechtskreis.
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Kam es im 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert zu Konflikten um bzw. in unincorporated associations, konnten die angerufenen Gerichte die aus der frühen Neuzeit rührenden sozialen und wissenschaftlichen Ziele nicht mehr als die einzigen zulässigen Vereinigungszwecke ansehen.39 Längst hatte die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität zu einer breiten Ausdifferenzierung der Zwecke von unincorporated associations geführt. Seit dem Reform Act 1832 umfassten diese auch die parteipolitischen Vereinigungen. So wurde die auf politische Ziele ausgerichtete unincorporated association, zumal wenn sie auch parteiliche Ziele verfolgte, von der Rechtsprechung im 19. Jahrhundert bereits als eine „institution sui generis“40 bzw. eine „very peculiar institution“41 gesehen:42 Dies urteilte der High Court im Fall Hopkinson v Marquis of Exeter von 1867. Hier hatte er zu entscheiden, ob ein örtlicher Conservative Club satzungsgemäß ein Mitglied wegen öffentlicher Unterstützung eines liberalen Parlamentskandidaten ausschließen durfte. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass diese Vereinigung als eine unincorporated association mit gesellschaftlichen Zielen der gerichtlichen Entscheidung über vermögensrechtliche Streitigkeiten zugänglich war. Der High Court hatte hier zwar nicht mit einer örtlichen Gliederung der Conservative Party selbst zu tun, sondern mit einer Art Debattierclub für konservative Gentlemen in einem Wahlkreis. Problematisch war, dass der Ausschluss des Mitglieds auf einer parteipolitischen Frage beruhte. Deshalb formulierte das Gericht, dass es sich bei dem Conservative Club primär um einen sozialen club handelte und nur sekundär um eine parteipolitisch orientierte Vereinigung. Die Frage des – nur oder vorwiegend – politischen Zwecks von unincorporated associations blieb einstweilen vom Gericht unbeantwortet. Allerdings konnte der High Court den nur nachgeordneten parteipolitischen Grundkonsens zwischen den betroffenen Herren zur Grundlage nehmen, die Vereinigung im ersten Schritt als unincorporated association zu qualifizieren und sodann im zweiten auf Grundlage der vermögensrechtlichen Equity-Ansprüche eine Entscheidung in der Sache zu treffen. In concreto entschied er, dass es sich bei der Unterstützung eines parteifremden Kandidaten um eine Störung der „welfare and good order of the club“43 handelte und damit schützenswerte vermögensrechtliche Interessen der anderen Mitglieder betroffen waren. Dies konnte einen Ausschluss gemäß der Satzung zur Folge haben, soweit der zuständige Entscheidungsträger diesen Schritt für zweckmäßig erachtete. Für die Frage der Justiziabilität des Satzungsrechts von unincorporated associations, demnach von Entscheidungen über Rechte, die sich aus der Satzung als 39
Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 1.01 ff. m. w. N. Hopkinson v Marquis of Exeter [1867] LR 5 Eq 63 (65), so der anwaltliche Beistand des Klägers, Herv. i. O. 41 Hopkinson v Marquis of Exeter [1867] LR 5 Eq 63 (67) – Romilly MR. 42 Hopkinson v Marquis of Exeter [1867] LR 5 Eq 63 (67) – Romilly MR. 43 Eine Überprüfung der Satzungsvorschriften und ihrer Anwendung im Einzelfall anhand von (politischen) Zweckmäßigkeitserwägungen fand nach den obigen Ausführungen nicht statt und findet auch heute nur in engen Grenzen in unincorporated associations statt. 40
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Rechtsquelle und nicht aus dem Recht der Equity ergeben und die nur an vermögensrechtlichen Aspekten anknüpfen, ist der klassisch britische Liberalismus zu berücksichtigen. Britische Gerichte und der Gesetzgeber üben auch noch heute eine große regulative Zurückhaltung gegenüber politischen, sozialen44 oder wirtschaftlichen Vereinigungen aus. Im Hinblick auf die Gerichte wurde der Grundsatz, nach dem sich die Gerichte bei unincorporated associations – bar ihres Vereinigungszwecks – nicht in die inneren Angelegenheiten einmischen, durch die Entscheidung des High Court in der Sache Dawkins v Antrobus im Jahr 1879 begründet.45 Aus dieser im gesamten angelsächsischen Rechtskreis rezipierten Entscheidung folgte, dass vereinigungsinterne Streitigkeiten, die nicht Equity-bezogene Vermögensfragen waren, als nicht justiziable Fragen eingeordnet wurden.46 In der Entscheidung im Fall Cameron v Hogan hatte der High Court of Australia im Jahre 1934 als erstes Gericht in einer Common Law-Nation überhaupt zur Anwendbarkeit der richterrechtlich entwickelten Grundsätze der unincorporated association auf innerparteiliche Dispute Stellung bezogen.47 Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Ausschluss des ehemaligen Premierministers des Bundesstaates Victoria, John Hogan, aus der australischen Labor Party im Bundesstaat Victoria rechtmäßig bzw. satzungsgemäß war. Hogan hatte sich zuvor im Zuge der Weltwirtschaftskrise gezwungen gesehen, eine harte Währungs- und Haushaltskonsolidierungspolitik umzusetzen. Innerhalb der wirtschaftspolitisch linken Labor 44 Vgl. oben die gesetzlichen Regelungen etwa zu friendly societies, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts erfolgten. Der Gesetzgeber schrieb hierin u. a. ihre innere Ordnung grundlegend vor. Die staatlichen Gerichte gewährten bei der Überprüfung vereinsinterner Streitigkeiten nur prozessuale Rechte, die sie aus dem Common Law herleiteten. Ausführlich hierzu im Allgemeinen sowie speziell zur richterlichen Überprüfbarkeit von political questions in der Binnenorganisation von Parteien später. 45 Dawkins v Antrobus [1881] 17 Ch. D. 615 (631) – Brett LJ: „All a court can consider is whether anything has been done contrary to natural justice, though within the rules of the club; whether action of the club was according to its rules, and whether the decision of the club is bona fide.“ Zur Fortgeltung dieser ratio decidendi siehe Kahn-Freund, Trade Unions, MLR 1970, S. 241 (244) m. w. N., der festhält: „The policy of the courts not to intervene in the internal affairs of voluntary bodies was established by Jessel M.R. and the Court of Appeal in the leading case of Dawkins v Antrobus […] and applied to trade unions by Jessel M.R. in Rigby v Connol.“ 46 Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (370 f.) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ, Herv. i. O.: „Such associations are established upon a consensual basis, but, unless there were some clear positive indication that the members contemplated the creation of legal relations inter se, the rules adopted for their governance would not be treated as amounting to an enforceable contract.“ Und: „[As] a general rule, the Courts do not interfere in the contentions or quarrels of political parties or, indeed, the internal affairs of any voluntary association, society or club.“ Vgl. Orr, Regulating Party Affairs, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 245 (253). Derweil hat sich diese Position auch in Australien als nicht mehr aufrechtzuerhalten erwiesen, vgl. Baldwin v Everingham [1993] 1 QdR 10 (17) – Dowsett J. Dazu und rechtsvergleichend unter Einschluss des Vereinigten Königreichs Johns, Political Parties, CCP 1999, S. 89 (98). 47 In die Richtung auch Forbes, Judicial Review of Political Parties, in: Parliamentary Library (Hrsg.), Research Paper, S. 1: „[P]olitical party cases are very difficult to find in Australia and in England and New Zealand as well.“ (Herv. i. O.).
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Party führte dies dazu, dass er für die notwendig gewordene Neuwahl zum bundesstaatlichen Parlament nicht als Parteikandidat aufgestellt und überdies gegen ihn ein i. E. erfolgreiches Parteiausschlussverfahren durchgeführt wurde.48 Der australische High Court urteilte, dass in einer Partei, die als unincorporated association organisiert war, schon gar keine vertragliche Rechtsbeziehung zwischen den Parteimitgliedern vorlag. Ein gerichtlicher Eingriff in die Rechtsverhältnisse zwischen den Mitgliedern erfolgte weiterhin nur aus Equity bei der Betroffenheit von Eigentumsrechten. Bei anderen innerparteilichen Streitigkeiten sahen sich die Gerichte demnach nicht befugt einzugreifen. Vielmehr wurden diese Fragen als außerrechtlich qualifiziert. Bei der Gelegenheit führte das Gericht somit die Rechtsprechung der britischen Gerichte bzgl. der Verletzung von proprietary rights fort.49 Rechtsphilosophisch steht hinter dieser selbst auferlegten restriktiven Rechtsprechung der Ansatz, dass die Gerichte des anglo-amerikanischen Rechtskreises von Urteilen über „politische Fragen“50 traditionell Abstand halten. Hierbei ist die 48 Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (358 f.) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ. Ausführlich dazu Gauja, Political Parties and Elections, S. 56 ff.; Orr, Regulating Party Affairs, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 245 (253 f.). 49 So Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (358) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „The executive of a voluntary association, by passing an unauthorized resolution for the exclusion of a member of the association, or by failing to observe the rules governing the association’s affairs, commits no breach of contract actionable either at common law or in equity, unless the member complaining has under the rules some civil right of a proprietary nature.“ Wie bereits ausgeführt, ist die unincorporated association nicht rechtsfähig und „ihr“ wirtschaftliches Eigentum steht rechtlich jedem Mitglied als Miteigentümer oder einer natürlichen Person als trustee für alle Mitglieder zu. Auch hierfür im Weiteren Cameron v Hogan [1934] 51 clr 358 (364) – Rich, Dixon, Evatt, McTiernan JJ: „Even if there was a breach of contract, the Courts will not interfere unless there is some interference with proprietary rights, and in this case there was none.“ Aus der Literatur zum Ganzen Gauja, Political Parties and Elections, S. 92. 50 Vgl. die eindeutig ablehnende Haltung der Rechtsprechung in Common Law-Jurisdiktionen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. So etwa unmissverständlich in den USA im Fall Irish v Democratic-Farmer-Labor Party of Minnesota (1968) 399 F. 2d 119 (121) – Neville J: „We regard this case as […] presenting a non-justiciable political question […]. Certainly we have here a lack of judicially discoverable and manageable standards.“ Und ähnlich in Smith v State Executive Committee of Democratic Party of Georgia (1968) 288 F. Supp. 371 (376) – Smith J: „There is no known case to the effect that any jurisdiction exists over the internal rules or management of a poIitical party.“ Siehe ebenfalls die Entscheidung des neuseeländischen High Courts zur Frage, ob das Gericht befugt ist, über die parteiinternen Kandidatenaufstellungsregeln zu entscheiden, die „essentially a political question in which one would expect a robust level of discussion, lobbying and preconception“ sind (Peters v Collinge [1993] 2 NZLR 554 (47) – Fisher J). Aus der britischen Rechtsprechung siehe Donaldson v Empey [2004] NIJB 1 – Girvan J: „[T]he court has no function of a political nature and must simply determine the legal question.“ Und aus der Literatur zum Ganzen Gauja, Political Parties and Elections, S. 53 f., 116; Morris, Parliamentary Elections, S. 110 je m. w. N. Dabei ist der Begriff der political questions nicht zu verwechseln mit der political questions-Doktrin aus dem USamerikanischen Verfassungsrecht. Ein amerikanisch-britischer Rechtsvergleich findet sich bei Barendt, Constitutional Law, S. 143 ff.
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Bedeutung der Gerichte, die mit dem Common Law und der Equity eine vom Parlament unabhängige Rechtsetzungskompetenz haben, zu beachten. Unter den Terminus der politischen Fragen fallen nicht nur sachpolitische, sondern generell einem politischen Willensbildungsprozess unterliegende Entscheidungen. Zu diesen können freilich auch und insbesondere parteiinterne Streitigkeiten aus dem Mitgliedschaftsverhältnis, d. h. über den Ausschluss von Mitgliedern, die Anfechtung von parteiinternen Kandidaturen oder über Beteiligungsrechte bei Personal- und Sachentscheidungen gehören.51 Die andere Seite, nämlich die Eigenwahrnehmung und -organisation der Parteien, ist gleichermaßen in diesem Kontext zu berücksichtigen. Im Vereinigten Königreich sieht sich vor allem die Conservative Party seit Anbeginn als gentlemen’s club und verfügte – bis 1998 – über gar keine Parteisatzung für die Gesamtpartei. Über mehr als eineinhalb Jahrhunderte löste sie innerparteiliche Streitigkeiten nicht durch ein Korsett von normativ-verfassten Regelungen, sondern durch politisch austarierte Entscheidungen der in ihr organisierten Männer (und später auch Frauen).52 Diesen Punkt nahm auch ein obiter dictum53 des Court of Appeal im Fall Conservative Central Office v Burrell54 aus dem Jahr 1981 auf. Damals war die Rechtsqualität von Parteisatzungen seit über einem Jahrzehnt im Vereinigten Königreich richterrechtlich anerkannt. Jedoch sah das Gericht die Conservative Party nicht, zumindest nicht als eine einzige unincorporated association an. Lawton LJ begründete die i. E. von allen Lordrichtern geteilte Ablehnung damit, dass der „keystone of the bridge“55 zwischen den außerparlamentarischen Organisationsteilen56 sowie der Parlamentspartei im House of Commons praktisch-politisch gesehen zwar der Parteiführer gewesen sei. Gleichwohl mangelte es an einer vertraglichen Verbindung zwischen den drei Organisationselementen der Partei. So konnte man als Individualmitglied einer Wahlkreisvereinigung und somit mittelbar der National Union of Conservative and Constitutional Associations beitreten, nicht aber der Parlamentspartei. Letztere aber wählte allein den Parteiführer, der damit aus
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Vgl. Morris, Parliamentary Elections, S. 125 m. w. N. Vgl. nochmals Garner/Kelly, British Political Parties, S. 98 f.; ebenso bei Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 59: Den Unterschied zur Labour Party drückte ein namentlich nicht näher genannter ehemaliger Funktionär der Partei aus, der Anfang der 1990er Jahre sagte: „There are virtually no absolute rules, that’s why – unlike Labour – we tend not to get bogged down in procedural wrangles. We have family squabbles instead.“ 53 Obiter dicta entfalten nicht die Bindungswirkung vorangegangener Gerichtsentscheidungen (stare decisis), die in der ratio decidendi zu finden sind. Sie haben aber eine gewisse argumentative persuasive authority, sodass sich aus ihnen durchaus anerkannte Rechtsprinzipien ergeben können, vgl. Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 184 f. m. w. N. 54 [1982] 1 W.L.R. 522. 55 Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (526) – Lawton LJ. 56 Dies waren die National Union of Conservative and Constitutional Associations und das Conservative Central Office. 52
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rechtlicher Sicht nur der Vorsitzende der parlamentarischen unincorporated association, der Conservative Party i. e. S., war.57 Zur Illustration dieser Rechtslage bemühte Lawton LJ das folgende Beispiel: Die rechtliche Parteiorganisation der Conservative Party führte dazu, dass der Wahlmodus des Parteiführers, wie er seit 1965 (und bis 1998) galt, jederzeit hätte geändert werden können.58 Allerdings hätte den individuellen Mitgliedern der außerparlamentarischen Organisation – hypothetisch gesehen – keine vertragliche Rechtsgrundlage zur Seite gestanden, um eine Änderung des Wahlrechtsregimes zu verhindern oder um eine Änderung desselben zu ihren Gunsten zu erreichen. Mangels rechtlicher Verbindung der verschiedenen Organisationsbereiche der Partei, die je voneinander unabhängige unincorporated associations waren, hätten sie kein vertragliches Recht gehabt, um eine Änderung der Parteiführerwahl zu forcieren. Damit hätten sie mangels vertraglicher Rechtsgrundlage schon nicht erzwingen können, in den Kreis der Wahlberechtigten aufgenommen zu werden.59 Dass niemals – sogar bis zum heutigen Tage nicht – interne Streitigkeiten der Conservative Party vor den Gerichten zur Entscheidung vorgelegt wurden, ist ein weiteres Mal im Lichte des Demokratie-, des Rechts- und des Selbstverständnisses der Conservative Party und aller Mitglieder dieses „political movement“60 zu sehen. Überdies hätten Rechtsstreitigkeiten auf vertraglicher Rechtsgrundlage zwischen den Akteuren aus allen drei Organisationsebenen der Partei vor den Gerichten erst seit dem Fresh Future-Programm der Conservative Party geführt werden können. Erst wegen der Veränderungen in der Parteiorganisation der Labour Party und wegen ihres u. a. mit der demokratischen Öffnung von Staat und Partei verbundenen 57 Wahrscheinlich sind auch die Parlamentsfraktionen jeweils als unincorporated associations zu sehen, vgl. Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135: „This does not, of course deny, that extra-parliamentary organisation and the parliamentary party are likely to be respectively regarded as unincorporated associations like the Labour Party.“ 58 Die Frage, ob die Parlamentsfraktion oder ein anderer Normgeber der Parteiführerwahlordnung war und damit befugt wäre, diese zu ändern, hat er offengelassen: „The case does not state who made the rules.“ Und ferner: „This must mean that somewhere in the party there is an unidentified rule-making body which at any time can make fundamental changes affecting the organisation and leadership of the party.“ Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (526 f.) – Lawton LJ. 59 Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (526 f.) – Lawton LJ: „The procedure for electing the leader is contained in rules made in 1965. […] All that is clear is that neither the local constituency associations nor the National Union had any rule-making powers which enabled them to direct the ,members of the House of Commons in receipt of the Conservative and National Liberal Whips‘ to elect a leader. Nor is there any rule-making powers in these bodies to change the mode of election. Whoever made the rules can change them. This must mean that somewhere in the party there is an unidentified rule-making body which at any time can make fundamental changes affecting the organisation and leadership of the party, including the destruction of the bridge which is said to exist between the leader and the mass membership and over which the mass membership has no control.“ 60 Vgl. für diese Wahrnehmung der Partei im Recht Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (527) – Lawton LJ. Siehe aus der Literatur zu dem Urteil Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717 f.) m. w. N.
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Wahlerfolges im Jahre 1997 führte die Conservative Party ihre Parteireform durch. Dieses erst führte zur Gründung der gesamten Conservative Party als eine unincorporated association, in der fortan u. a. auch die Parteiführerwahl unter Beteiligung aller Mitglieder ausgeführt werden sollte.61 b) Parteisatzungen als bindendes Vertragsrecht ab den 1960er Jahren Die ersten Gerichtsentscheidungen, die ab Ende der 1960er Jahre im Vereinigten Königreich zu Parteieninnenrechtsstreitigkeiten ergangen sind, betrafen nicht die Conservative Party, sondern jüngere Parteien, zuvorderst die Labour Party. In der ersten vor die britischen Gerichte gebrachten parteiinternen Streitigkeit im Fall Fountaine v Chesterton von 196862 entschied der High Court, dass Parteisatzungen (hier des National Front) bindendes Vertragswerk zwischen den Mitgliedern einer unincorporated association sind. Sie unterliegen damit fortan derselben richterlichen Überprüfbarkeit.63 Im vorgenannten Australien dauerte es gar bis in die 1990er Jahre, dass die Rechtsprechung die Grundsätze aus Cameron v Hogan revidierte.64 In der Entscheidung Fountaine v Chesterton berief sich der High Court im Jahre 1968 für die Rechtfertigung des richterlichen Eingriffs in die Organisationsfreiheit einer als unincorporated association organisierten Partei nicht nur auf die vertragliche Natur der Parteisatzung. Er rekurrierte darauf, dass bei Ausübung von Disziplinarmaßnahmen gegen ein Mitglied dessen „valuable proprietary and social
61 Vgl. zur nicht aufgekommenen Streitfrage und der Fresh Future-Reform 1998 aus der Literatur Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 144 mit Hinweis auf die Ausführungen von Lawton LJ in der Entscheidung Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522. 62 Fountaine v Chesterton [1968] 112 S.J. 690 (691) – Megarry J. Bestätigt wurde dies durch John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 – Megarry J. Da es sich um ein von ihm gesprochenes Urteil handelte, weist Megarry J. selbst darauf hin, dass er seine Entscheidung in der Sache Fountaine v Chesterton, die u. a. in der Times vom 20. August 1968 nur kurz zusammengefasst wurde und die nicht im Volltext erscheinen werde, in dem weiland vorliegenden Verfahren John v Rees ausführlich wörtlich zitiert (a. a. O., 398 f.) Aus dem Schrifttum zur Bedeutung der Entscheidung hierzu Ewing, Cost of Democracy, S. 74 f.; Gauja, Political Parties and Elections, S. 94 f. 63 John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (399) – Megarry J: „It is trite law that the rules of an unincorporated association form a contract between all the members of that association.“ 64 So der australische Supreme Court in der Entscheidung Baldwin v Everingham [1993] 1 QdR 10 (17) – Dowsett J, welcher die Entscheidung Cameron v Hogan von 1934 aufhob: „On general principles, where an albeit voluntary association fulfils a substantial public function in our society, it may appear indefensible that 5 questions of construction concerning its constitution should be beyond judicial resolution. It is one thing to say that a small, voluntary association with limited assets, existing solely to serve the personal needs of members should be treated as beyond such supervision; it is another thing to say that a major national organization [gemeint ist eine nationale Parteiorganisation bei der Aufstellung von Kandidaten, Anm. d. Verf.] with substantial assets, playing a critical role in the determination of the affairs of the country should be so immune.“ Dazu und rechtsvergleichend unter Einschluss des Vereinigten Königreichs Johns, Political Parties, CCP 1999, S. 89 (98).
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rights“65 betroffen waren. Das Gericht anerkannte auch die politische und soziale Funktion von Parteien. Überdies impliziert dies auch die Zulässigkeit (vorwiegend) politischer Zwecke. In ähnlicher Weise hob der schottische Court of Session im Jahre 1995 in der Entscheidung Brown v Executive Committee of Edinburgh District Labour Party hervor, dass dem Grundsatz nach nur in „extraordinary circumstances“66 in die inneren Angelegenheiten von Parteien eingegriffen wird. Das Gericht sah diese Ausnahme aber als regelmäßig bei Parteien gegeben an, da es sich bei unbilligen Ausschlüssen von Mitgliedern und ähnlichem um eklatante Verstöße gegen civil rights und daneben patrimonial interests, d. h. erneut Eigentumsrechte der Mitglieder, handeln könnte.67 Im Vereinigten Königreich kam es aus mehreren Gründen ab den späten 1960er Jahren vermehrt zu Entscheidungen über das Binnenleben anderer Parteien als der Conservative Party. Insbesondere die Labour Party ist seit ihrer Gründung eine Mitgliederpartei, in welcher Richtungs- und Personalstreitigkeiten auf Grundlage geschriebener Satzungsregeln ausgetragen werden.68 Außerdem verfügten die neu gegründeten Parteien oftmals über eine geschriebene Parteisatzung. Sie unterschieden sich in all diesen Punkten diametral von der organisch gewachsenen „Bewegung“ der Conservative Party. Die Labour Party als eine der beiden stärksten britischen Parteien, die in dieser Untersuchung speziell gewürdigt werden soll, verfügt traditionell über eine enge organisatorische, faktische wie rechtliche, Verbundenheit mit den Gewerkschaften. Daneben war sie organisatorisch dem Trade Union Congress – als Diskussionsforum 65 Herv. d. Verf.; Fountaine v Chesterton zitiert nach John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (397) – Megarry J: „Membership of a club or association is doubtless founded upon a basis of contract; but in many cases it is not merely a contract. Membership often gives the member valuable proprietary and social rights, and these, as well as the contract, would be terminated by expulsion.“ Vgl. in der Literatur zu diesem Zitat mit der weiterführenden These eines öffentlichrechtlichen Status von Parteien Morris, Parliamentary Elections, S. 120 ff. 66 Brown v Executive Committee of the Edinburgh District Labour Party [1995] S.L.T. 985 (989) – Osborne LJ mit Verweis auf die ältere Rechtsprechung des Gerichts: „The internal discipline of any such body is a matter of domestic concern, notwithstanding that status, or civil rights, may be involved, and it is only in extraordinary circumstances that the Courts will regard it as within their competence to intervene.“ 67 Brown v Executive Committee of the Edinburgh District Labour Party [1995] S.L.T. 985 (989) – Osborne LJ: „Going on to consider what these extraordinary circumstances might be, he said that, speaking generally, there were two situations in which the courts would entertain actions: (first) where the … association through its agencies has acted clearly and demonstrably beyond its own constitution, and in a manner calculated to affect the civil rights and patrimonial interests of any of its members, and (secondly) where, although acting within its constitution, the procedure of its judicial or quasi-judicial tribunals has been marked by gross irregularity, such fundamental irregularity as would, in the case of an ordinary civil tribunal, be sufficient to vitiate the proceedings.“ (Herv. i. O.). Aus der Literatur dazu Davis, Political Freedom, S. 63. 68 Einen Überblick über die parteiinternen Streitigkeiten der Labour Party von den 1950er bis in die 1980er Jahre gibt Shaw, Discipline and Discord, passim.
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und Entscheidungsgremium mehrerer institutioneller Mitglieder – nicht unähnlich strukturiert.69 Schließlich ist mit der Partei wie den Gewerkschaften die Zielsetzung der politischen Partizipation der Arbeiterschaft verbunden. All diese Aspekte erleichterten die Übertragung der für die Gewerkschaften entwickelten richterrechtlichen Rechtsgrundsätze auf die Labour Party wie auch auf die übrigen politischen Parteien.70 Anzumerken ist ferner, dass die Gewerkschaften im Kern unincorporated associations geblieben sind. Dies gilt bar ihres quasi-corporation status, der ihnen seit 1901 durch die Rechtsprechung des House of Lords verliehen und mit dem Industrial Relations Act 1971 kodifiziert ist. Er verleiht ihnen Rechtsfähigkeit, ermöglicht etwa das bis dahin komplizierte Halten von Eigentum oder das Beschäftigen von Arbeitnehmern in der Geschäftsstelle.71 Damit bleibt eine grundsätzliche Vergleich- und Übertragbarkeit der zu den Gewerkschaften ergangenen Rechtsprechung auf die Parteien möglich.72 Das zuvor noch herrschende Prinzip, wonach sich die Gerichte nicht in die inneren Angelegenheiten von unincorporated associations einmischen, war zunächst aufzuheben. Auch diese Entwicklung nahm ihren Ursprung bei den Gewerkschaften. Die Nichteinmischungsdoktrin war in der Entscheidung des Court of Appeal in der Sache Dawkins v Antrobus73 aus dem Jahre 1879 erstmals statuiert worden und im Jahr 1880 auf die Gewerkschaften im Fall Rigby v Connol übertragen worden.74 Zumindest implizit hob das House of Lords diese Rechtsauffassung bereits in Amalgamated Society of Carpenters, Cabinet Makers and Joiners v Braithwaite75 im Jahre 1922 auf. Seither legen britische Gerichte das Innenrecht der Gewerkschaften
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Dazu ausführlich bei Ewing, Trade Unions, the Labour Party and the Law, S. 3 ff. Zur rechtshistorischen Entwicklung der Labour Party aus dem Trade Union Congress heraus siehe Ewing, Trade Unions, the Labour Party and the Law, S. 8 ff. 71 Grundlegend zu dem Status der Gewerkschaften: Taff Vale Railway v Amalgamated Society of Railway Servants [1901] AC 426, bestätigt durch Bonsor v Musicians Union [1956] AC 104. Heute ist dieser in ss. 10(1), 12(1)(2) Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 geregelt. Ergänzend dazu aus der Literatur anstelle vieler Painter/Holmes, Employment Law, S. 547. 72 So nur Gauja, Political Parties and Elections, S. 56: „[T]he current common law status of political parties in the United Kingdom gradually evolved from decisions pertaining to trade unions, which could be regarded as broadly analogous to political parties in their organization and operation.“ 73 Siehe erneut Dawkins v Antrobus [1879] 17 Ch. D. 615 (631) – Brett LJ. Aus der Literatur Kahn-Freund, Trade Unions, MLR 1970, S. 241 (244) m. w. N.; Chafee, Internal Affairs of Associations, HLR 1930, S. 993 passim. 74 Rigby v Connol [1880] 14 Ch. D. 482. Schon gemäß s. 4 Trade Union Act 1871 sollten Gerichte nicht in bestimmte innere Angelegenheiten von Gewerkschaften eingreifen: „Nothing in this Act shall enable any Court to entertain any legal proceedings instituted with the object of directly enforcing or recovering damages for the breach of any of the following agreements.“ Eingehend dazu Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 7 ff. 75 [1922] 2 AC 440. Vgl. Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 10 f. 70
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als Vertragsrecht aus.76 Als es in den späten 1960er Jahren vermehrt zu parteiinternen Streitigkeiten über Eintritt, Ausschluss und die Aufstellung von Kandidaten zu parteiinternen Ämtern oder staatlichen Ämtern kam, konnten die Gerichte daher auf die fast 50 Jahre lang etablierte Rechtsprechung zu den Gewerkschaften zurückgreifen.77 Die ersten Entscheidungen waren der vorgenannte Fall Fountaine v Chesterton, daneben John v Rees78, die beide im Jahr 1968 ergingen. Hervorzuheben ist zudem die Entscheidung Lewis v Heffer79 aus dem Jahr 1977. Festzuhalten bleibt hier einstweilen, dass mit diesen Entscheidungen die Rechtsqualität von Parteisatzungen einer als unincorporated association organisierten Partei ab den 1960er Jahren gerichtlich anerkannt wurde. c) Rechtsnatur und Reichweite der richterlichen Überprüfung Die heutige richterliche Kontrolle bei parteiinternen Streitigkeiten ergibt sich aus zwei bereits genannten Gesichtspunkten. Erstens haben sich die Gerichte für die Justiziabilität des Parteisatzungsrechts ihrer Rechtsprechung zu den Gewerkschaften bedient. Angewendet werden hierbei zuvorderst die Doktrin der natural justice bzw. der procedural fairness und die der ultra vires80. Zweitens stehen die vorgenannten Prinzipien ursprünglich in einem engen Zusammenhang mit der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungshandeln, mithin sind sie ursprünglich public law principles.81 76 Kahn-Freund, Trade Unions, MLR 1970, S. 241 (244) m. w. N.; Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 10: „After Braithwaite, section 4 [Trade Union Act 1871, Anm. d. Verf.] did not seriously hinder judicial control of internal union affairs at all.“ Durch den Industrial Relations Act 1971 wurde die Regelung von 1871 aufgehoben und eine strenge gerichtliche Kontrollmöglichkeit für gewerkschaftsinterne Streitigkeiten vorgesehen (a. a. O., S. 11 f.). 77 So explizit in Fountaine v Chesterton [1968] 112 S.J. 690 – Megarry J. Zitiert in John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (400) – Megarry J. Der High Court wandte hier die Entscheidung Lee v Showmen’s Guild of Great Britain [1952] 2 Q.B.D. 329 (CA) (349) – Romer LJ an, da die Frage der Abdingbarkeit der gerichtlichen Überprüfung von gewerkschaftsinternen Streitigkeiten bzw. Regeln „on a not dissimilar point“ ist für parteiinterne Streitigkeiten. Siehe aus der Literatur dazu Waldron, Law, S. 166 m. w. N.; Gauja, Political Parties and Elections, S. 56, 92 m. w. N. auf Breen v Amalgamated Engineering Union [1971] 2 Q.B.D. 175 (190) – Denning MR: „[T]heir rules are said to be a contract between the members and the union. So be it. If they are a contract, then it is an implied term that the discretion should be exercised fairly.“ Zum Gebot der Fairness sogleich. 78 [1968] 1 Ch. D. 345. 79 [1978] 1 W.L.R. 1061. 80 Siehe dazu nochmals die Entscheidung des House of Lords in der Sache Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87. 81 Siehe nur bei Davis, Political Freedom, S. 63 speziell zur natural justice in parteiinternen Angelegenheiten. Allgemein zu dem Rechtsprinzip Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 656 ff. m. w. N. und zur Historie der natural justice als Prüfungsmaßstab von Handlungen früher nur von öffentlich-rechtlichen, inzwischen auch privatrechtlichen Institutionen. Auch die ultra vires-Doktrin wurde speziell für die Überprüfung von Verwal-
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aa) Rechtsnatur der natural justice: Gewährleistung eines fairen Verfahrens Die Rechtsbeziehung zwischen den Mitgliedern einer unincorporated association richtet sich nach all dem bisher Gesagten zuvorderst nach dem Inhalt der Satzung, der als die Mitglieder gegenseitig bindender Vertrag ausgelegt wird. Besteht Streit über die richtige Anwendung der satzungsrechtlichen Normen, so werden von den staatlichen Gerichten die Grundsätze der natural justice angewendet. Dabei ist natural justice nur ein unscharfer Sammelbegriff für mehrere im Common Law entwickelte Rechtsgrundsätze. Eine umfassende Definition existiert nicht.82 Auch das House of Lords höchstselbst brachte im Fall Ridge v Baldwin die „certain vagueness“83 des Terminus zum Ausdruck. Außerdem ist zu beachten, dass die Existenz und die Anwendbarkeit der natural justice nichts daran ändert, dass sich ein parteiinternes Organ bei einer Ermessensentscheidung in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht zunächst einmal nur an die Parteisatzung zu halten hat. Dies hat der Court of Appeal jüngst im Streit um die Nominierung des LabourParteiführers Corbyn, die ex officio erging, erneut bestätigt.84 Erst im Weiteren ist es in verfahrensrechtlicher Hinsicht an die der natural justice zugrundeliegenden Rechtsgrundsätze gebunden. Diese lassen sich letztlich als die Pflicht der Anhörung der Beteiligten (audi alteram partem) und des Verbots der Entscheidung in eigener Sache (nemo iudex in causa sua) zusammenfassen.85 In den ersten beiden Enttungshandeln entwickelt, siehe nur Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 632 m. w. N. Siehe auch die Ausführungen von Denning MR in Breen v Amalgamated Engineering Union [1971] 2 Q.B.D. 175 (190), der auf die Vergleichbarkeit des Erlasses einer Gewerkschaftssatzung durch die zuständigen Organe mit dem Erlass eines Gesetzes durch das Parlament abstellt und damit die gleichen Überprüfungsmaßstäbe anlegt: „So should we treat this claim by trade unions. They are not above the law, but subject to it. Their rules are said to be a contract between the members and the union. So be it. If they are a contract, then it is an implied term that the discretion should be exercised fairly. But the rules are in reality more than a contract. They are a legislative code laid down by the council of the union to be obeyed by the members. This code should be subject to control by the courts just as much as a code laid down by Parliament itself. If the rules set up a domestic body and give it a discretion, it is to be implied that that body must exercise its discretion fairly.“ 82 Aus der deutschen Literatur Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 117; Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 304 f. m. w. N. 83 Ridge v Baldwin [1964] AC 40 (132) – Hodson LJ. Für eine ähnliche Wertung aus anderen Common Law-Nationen siehe Colder v Bull [1798] 3 U.S. 386 (399) – Iredell J: die Grundsätze der natural justice „are regulated by no fixed standard; the ablest and the purest men have differed on the subject“. 84 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 20) – Beatson LJ: „Because the nature of the relationship between an unincorporated association and its individual members is governed by the law of contract the proper approach to the interpretation of the constitution and rules is governed by the legal principles as to the interpretation of contracts, and is a matter of law for the court.“ 85 Eine umfassende Darstellung der natural justice gibt Jackson, Natural Justice, passim. Gleich im ersten Satz seines Werkes konstatiert er: „The rules of natural justice are most
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scheidungen, in denen britische Gerichte mit der Frage der Anwendbarkeit der natural justice auf parteiinterne Satzungsstreitigkeiten befasst waren – John v Rees und kurz zuvor Fountaine v Chesterton – ging Megarry J auf die beiden genannten Rechtsprinzipien ausführlich ein,86 die ein „in all ordinary circumstances […] irreducible minimum of the requirements of natural justice“ sind und ferner „essentially procedural in nature“ sind. Folglich ist die natural justice „a distillate of due process of law.“87 Letztlich wird mit der Auslegung des Satzungsinhaltes nach der Maßgabe der natural justice das voluntaristische Element von Vereinigungen betont. Insofern erfolgt eine richterliche Korrektur von normativen Entscheidungen in der Satzung nur in Extremfällen und ist primär auf prozessrechtliche Fragen beschränkt. Dies urteilte Denning MR in dem Fall Lewis v Heffer88. Hier war zu entscheiden, ob die Suspendierung des Vorstands einer Wahlkreisorganisation, der Newham North-East Constituency Labour Party, durch das NEC rechtmäßig war. Die Suspendierung erfolgte während einer medial intensiv begleiteten Auseinandersetzung in der Wahlkreisorganisation, die Schaden für die gesamte Partei zu verursachen drohte.89 Zwar übertrug der Court of Appeal die bis dahin ergangene Rechtsprechung zur Justiziabilität von Ausschlüssen von Mitgliedern auf die zeitlich beschränkte Suspendierung von Vorstandsmitgliedern. Er stellte gleichwohl fest, dass die Regeln der natural justice in casu nicht anwendbar waren. So hatte nämlich der nationale Parteivorstand in „good administration“ agiert, da „[a] situation has arisen in which something must be done at once.“90 Eine Anhörung der Betroffenen und ggf. parteiinterne Schiedsgerichtsverhandlungen, wie sie in der Parteisatzung und unter Beachtung prozessualer Fairness hätten bei einem endgültigen Ausschluss eines Mitgliedes erfolgen müssen, waren hier bei einer temporären Maßnahme abdingbar. Dies hätte in dem vorgelegten Fall nur zu einem Verzug der Maßnahmen geführt, was wiederum die Gefahr eines nachhaltigen politischen Schadens für die Gesamtpartei – durch Absinken des Ansehens in der Wählergunst – hätte bedeuten können. Das Gericht urteilte daher: „At that stage the rules of natural justice do not apply.“91 Eine generelle Anwendung der natural justice-Prinzipien auf parteiinterne Streitigkeiten lehnte das Gericht mithin ab. commonly understood as being two: […] audi alteram partem and nemo iudex in re sua“ (a. a. O., S. 1, Herv. i. O.). 86 Da die Entscheidung Fountaine v Chesterton nicht veröffentlicht wurde, ging Megarry J in der folgenden Entscheidung John v Rees ausführlich auf sein eigenes vorgenanntes Urteil ein. Er zitiert das House of Lords aus dem Fall Ridge v Baldwin [1964] AC 40 (132) – Hodson LJ: „No one, I think, disputes that three features of natural justice stand out – (1) the right to be heard by an unbiased tribunal; (2) the right to have notice of charges of misconduct; (3) the right to be heard in answer to those charges.“ 87 Zu den drei Zitaten siehe John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (399) – Megarry J. 88 [1978] 1 W.L.R. 1061. 89 Eingehend zu dem Fall Ewing, Funding of Political Parties, S. 10 f. 90 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1073) – Denning MR. 91 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1073) – Denning MR.
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bb) Materiellrechtliche Prüfung: Zweckmäßigkeitsprüfung nur in Extremfällen Wie bereits an verschiedenen Stellen aufgezeigt, einigen sich freie Bürger auf einen im Grundsatz unbeschränkten, nur den allgemeinen richterrechtlichen oder gesetzlichen Beschränkungen unterworfenen Vertrag, wenn sie eine Partei gründen oder einer solchen beitreten. Die staatliche Aufsicht über die Einhaltung des Vertrages erfolgt im Wege gerichtlicher Entscheidungen nach formaler Rechtmäßigkeit, der „fairness in action“92. Grundsätzlich bleiben materiellrechtliche Zweckmäßigkeitserwägungen außer Acht vor Gericht. Die Satzung einer unincorporated association wird auch ihrem materiellen Inhalt nach aus Sicht eines einfachen Mitgliedes ausgelegt.93 Die Auslegung der Parteisatzung selbst erfolgt nach den anerkannten Prinzipien der interpretation of contracts. Dazu wird ein objektiver94 Empfängerhorizont herangezogen.95 Auslegungsmaßstäbe sind der natürliche Wortsinn (natural and ordinary meaning of the words), der systematische Zusammenhang (other relevant provisions of the contract) und der Telos der vertraglichen Klausel (the overall purpose of the clause in the contract).96 Ergänzend kommen die relevanten und den Parteien bekannten Umstände bei Vertragsschluss hinzu. In der Entscheidung Foster v McNicol hat der High Court allerdings entschieden, dass auch ein subjektiver Empfängerhorizont angelegt werden kann, indem „the readership to which“97 die Regeln gerichtet sind, als Referenzstandpunkt eingenommen wird. Dies wäre der Personenkreis, an den die Satzung gerichtet ist, mithin die Parteimitglieder. 92 So Davis, Political Freedom, S. 63 speziell zu den Parteien; ähnlich grundlegend zur natural justice etwa Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 175, die es als „duty to act fairly“ bezeichnen. Das House of Lords verwendet die Losung: „Natural justice, it has been said, is only ,fair play in action‘ […] there may we find […], the justice of the common law‘.“ So auch Wiseman v Borneman [1971] AC 297 (309) – Morris LJ. 93 Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.20. 94 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 52) – Foskett J: „But leaving aside the impression that the words have had upon me, I believe that this would be the natural impression that they would make on the ordinary, objective member of the LP to whom, of course, the rules are in effect addressed. I say ,objective‘ to distinguish the LP [Labour Party, Anm. d. Verf.] member who for political reasons wants to believe the words mean what he or she wants them to say from the person who takes a detached view of the position.“ 95 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 20) – Beatson LJ: „The intentions of the parties to a contract will be ascertained by reference to what a reasonable person having all the background which would have been available to the parties would have understood the language in the contract to mean, and it does so by focusing on the meaning of the words in the contract in their documentary and factual context.“ 96 Die drei vorgenannten Zitate stammen aus Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 20) – Beatson LJ. 97 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 52) – Foskett J: „The ,readership to which they are addressed‘ is one feature that the court will take into account when interpreting the rules of an unincorporated association.“
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Demzufolge gilt im Grundsatz, dass eine später in der Einzelfallanwendung inhaltlich als unfair erachtete Vertragsklausel auch kein britisches Gericht nach eigenen materiell-rechtlichen Vorstellungen ex post zu korrigieren vermag.98 Dies gilt jedenfalls, solange sich diese Konsequenz nicht aus der Satzung selbst ergibt. Nur außerhalb des Vertragsinhaltes liegende Gerechtigkeitserwägungen spielen keine Rolle. Anders wäre dies etwa, wenn unincorporated associations der Pflicht zur Gestaltung fairer Vertragsklauseln aus ss. 2 – 7 Unfair Contract Terms Act 197799 unterliegen würden. Jedoch ist diese Rechtsform gemäß der dortigen ss. 1(3)100, 14 vom Gesetz gerade nicht erfasst. Der personale Anwendungsbereich ist dort durch den Rechtsbegriff des business definiert. Zwar fällt auch exekutives Handeln (also auch der party in public office) darunter, nicht aber einer außerparlamentarischen Parteiorganisation in Form einer unincorporated association. Prüfen kann ein angerufenes Gericht zu aller erst einmal nur, ob die Klausel selbst in ihrer Entstehung und/oder ihrer Einzelfallanwendung die prozessualen Grundsätze der natural justice verletzt. Dies hat auch Denning MR in der Entscheidung British Actors’ Equity Association v Goring ausdrücklich bestätigt, wiewohl er hinzufügte, dass „the courts, when called upon to construe the rules, most do all they can to construe them reasonably, fairly, broadly and liberally in the interests of all concerned in the association“.101
Diese Rechtsprechung wurde für die Parteien dahingehend konkretisiert, dass parteiinterne Entscheidungen nur in solchen extremen Fällen vom Gericht aufgehoben werden, wenn sie grundsätzliche Fairnesserwägungen vermissen lassen und Gerechtigkeit gar nicht erst erzielt werden sollte. Darüber hinaus gelten die Regelungen des Equality Act 2010102, welche die Parteien unter bestimmten Umständen in ihren personalen Anwendungsbereich ziehen und engere Anforderungen an die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung stellen.103 Damit sind sie heute ein Stück weit mit der vollen gerichtlichen Überprüfung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen vergleichbar.
98 Vgl. dazu Fountaine v Chesterton [1968] 112 S.J. 690 – Megarry J zitiert in John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (400) – Megarry J: „[A]pplicability of the principles of natural justice will be given the benefit of that doubt. The cry ,That isn’t fair‘ is to be found from earliest days, in nursery, street and school alike; and those who wish to confer upon the committee or other governing body of a club or association a power to act unfairly or arbitrarily in derogation of common and universal expectation must make it plain beyond a peradventure that this has been done.“ 99 Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.21. 100 Wortlaut: „In the case of […] contract […], sections 2 to 7 apply […] only to business liability.“ 101 [1978] ICR 791 (HL) (396 f.). 102 Siehe hier nur Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.99. 103 Ausführlich zum Equality Act 2010 s. u.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
cc) Rechtsfolgen: keine Ersetzungsbefugnis und möglicher Schadensersatz In der Regel wird der Kläger im Rahmen des vom Gericht bei Parteibinnenstreitigkeiten durchgeführten breach of contract-Verfahrens den remedy (Rechtsbehelf) der declaration erreichen wollen. Bei Letzterer handelt es sich um eine Unvereinbarkeitserklärung des in Frage stehenden Handelns, Duldens oder Unterlassens mit dem Parteisatzungsrecht unter Achtung des gerichtlichen Wertungsmaßstabes. Daneben können die Gerichte auch eine injunction (Unterlassungsurteil) aussprechen, um künftige Vertragsbrüche präventiv zu verhindern. Ebenfalls denkbar ist bei Streitigkeiten in unincorporated associations die Gewährung eines damage for breach of contract (Schadensersatzes für den Vertragsbruch). Derartige Begehren treten häufiger bei unincorporated associations mit anderen Vereinigungszwecken auf. Bei genossenschaftlichen Zwecken etwa verfügt die Vereinigung oftmals über ein Vermögen. Sodann vermag sich durch eine Entscheidung der Vereinigung bzw. der anderen Mitglieder das Vermögen des einzelnen Mitgliedes zu mindern. Hingegen dürfte es sich bei einem parteiinternen Streit über den Ausschluss eines Mitglieds etwa als schwierig erweisen, einen Vermögensschaden bei dem klagenden Mitglied nachzuweisen.104 dd) Ausschluss und Anwendung von natural justice im Einzelfall? Die britischen Gerichte sind regelmäßig mit der Frage befasst gewesen, ob die Gebote der natural justice vertraglich, hier also durch die Parteisatzung, abdingbar sind. Megarry J erklärte diese Möglichkeit in seinen Ausführungen im Fall Fountaine v Chesterton in engen Grenzen grundsätzlich für zulässig. Dabei verlangte er bereits, dass der Ausschluss „in plain and manifest intention“105 in der Parteisatzung geschehen muss. Zudem werden Zweifel des Gerichts am diesbezüglichen Willen des Satzungsgebers zu dessen Lasten ausgelegt.106 Dagegen entschied Denning MR wenige Jahre zuvor in der gewerkschaftsrechtlichen Sache Lee v Showmen’s Guild107, dass aus Gründen der public policy (öffentlichen Ordnung) jegliche ver-
104 Bonsor v Musicians’ Union [1956] AC 104 (114 ff., 118) – Morton LJ: „It might also make relationship between unions and their members impossible if they had to fear an action for damages every time a member was expelled.“ Siehe zum Ganzen Warburton, Unincorporated Associations, S. 84. 105 Fountaine v Chesterton [1968] 112 S.J. 690 – Megarry J zitiert in John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (400) – Megarry J. 106 „Even if the law permits the principles of natural justice to be effectually excluded by suitable drafting, I would not readily construe the rules as having achieved this result unless they left me in no doubt that this was the plain and manifest intention. Put a little differently, I would say that if there is any doubt, the applicability of the principles of natural justice will be given the benefit of that doubt.“ Fountaine v Chesterton [1968] 112 S.J. 690 – Megarry J., zitiert in John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (400) – Megarry J. 107 So in Lee v Showmen’s Guild of Great Britain [1952] 2 Q.B.D. 329 (CA) (343).
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tragliche Regel, die den Ausschluss von natural justice bezweckte, nichtig ist.108 Der Sichtweise des High Court in Fountaine v Chesterton lag die Erwägung zugrunde, die natural justice sei, wenn sie nicht expressis verbis ausgeschlossen ist, ein contractually implied term. Sie könne folglich abbedungen werden. Andere Entscheidungen lassen in Übereinstimmung mit Denning MR eine Abbedingung der natural justice nicht zu. Sie wird hierbei vielmehr implied by law (durch das Common Law) angesehen. Insgesamt bleibt dabei festzuhalten, dass sich in der britischen Rechtsprechung bisher hierzu keine eindeutige Position herausgebildet hat.109 Es verbietet sich auch im Lichte der gerichtlichen Einzelfallentscheidungen eine generalisierende Betrachtungsweise bzw. eine schematische Lösung zu suchen. So mag es in der einen Entscheidung heißen, dass parteisatzungsrechtliche Bestimmungen „are said to be a contract between the members and the union. So be it. If they are a contract, then it is an implied term that the discretion should be exercised fairly.“110 In einigen Urteilen wird die natural justice gar trotz fehlender Vereinbarung in der Satzung angewendet.111 Dagegen wird in anderen Urteilen nur festgestellt, dass die Fairnessprinzipien offensichtlich nicht verletzt sind.112 Diese Unvorhersehbarkeit im Einzelfall wurde in der Entscheidung Lewis v Heffer zu einer parteiinternen Streitigkeit der Labour Party vom Court of Appeal ebenfalls ausgedrückt: „[A]s was pointed out by Tucker L.J. in Russell v Duke of Norfolk [1949] 1 All E.R. 109, 118, the requirements of natural justice must depend on the circumstances of each particular case and the subject matter under consideration.“113
ee) Reichweite der gerichtlichen Überprüfung von Parteisatzungsrecht Die Regeln der natural justice erscheinen nur auf den ersten Blick übersichtlich. Tatsächlich hat sich eine umfassende Kasuistik entwickelt, „and it is not always easy to predict how they will be applied in particular contexts“114 wie Ewing und Patrick Elias mit Blick auf die Gewerkschaften festhalten. Eine Kohärenz in der Recht108
Vgl. Warburton, Unincorporated Associations, S. 78. Ein ganzes Kapitel zu dem Thema bei Jackson, Natural Justice, S. 47 ff. 109 Vgl. Warburton, Unincorporated Associations, S. 78 m. w. N.; ders., Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (109); Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 130 ff. 110 Breen v Amalgamated Engineering Union [1971] 2 Q.B.D. 175 (190). Aus der parteienrechtlichen Literatur dazu Gauja, Political Parties and Elections, S. 92. 111 Ewing, Funding of Political Parties, S. 11. 112 Green v The Labour Party [1991] WL 11780048 – Neill LJ: „I have come to the conclusion that the power to suspend in Clause IX(2)(h)(ii) [of the Labour Party Rule Book] can properly be regarded as an adjunct of the investigative process and is in no sense a penalty. I am satisfied that there was no breach of any principle of natural justice in the imposition of this suspension in these circumstances.“ Vgl. ebenso Aamodt, Unincorporated Associations and Elections, LGL 2015 (Internetquelle); Gauja, Political Parties and Elections, S. 57. 113 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1077) – Ormrod LJ. 114 Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 212.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
sprechung ist in diesem Punkt zuweilen auch nicht innerhalb einzelner Gerichte gegeben. Dies zeigen die von verschiedenen Richtern des High Court formulierten gegensätzlichen Auffassungen zur Frage der Abdingbarkeit der natural justice. Erklären lassen sich die unterschiedlichen Ansichten in der Rechtsprechung nur durch eine Gemengelage an Gründen. Unter anderem ist dies „the changing composition of the bench [or] a shift in political values.“115 Dies ist nach der US-amerikanischen Verfassungsrechtlerin Elizabeth Garrett darauf zurückzuführen, dass Gesetzgeber und Gerichte in den USA noch keine „sophisticated positive and normative views of political parties“116 entwickelt haben. Diese Feststellung wiederum will Gauja auch auf die übrigen Common Law-Staaten übertragen wissen.117 Die Entscheidung Lewis v Heffer zeigt, dass die Gerichte allein durch die Auswahl, ob sie die Regeln der natural justice zur Anwendung bringen wollen, bereits in den sakrosankten politischen innerparteilichen Willensbildungsprozess eingreifen. (1) Grundsätzliche Bindung des Parteisatzungsrechts inter partes Grundsätzlich bedeutet die zivilrechtliche bzw. vertragsrechtliche Rechtsqualität der Parteisatzung, dass die Parteisatzung bei unincorporated associations und private companies limited by guarantee118 inter se, nicht aber inter omnes wirkt. Demnach wenden die Gerichte die Parteisatzung nur bei Streitigkeiten zwischen Parteimitgliedern oder zwischen den Mitgliedern und der Partei an. Eine Wirkung inter omnes bedeutete konkret, dass einem außenstehenden Dritten, der nicht mit der Partei durch ein Mitgliedschaftsverhältnis verbunden ist, etwa Beteiligungsrechte am innerparteilichen Willensbildungsprozess zukämen. Dessen verwahren sich die Gerichte des Common Law-Rechtskreises und gestatten Dritten Ansprüche bspw. im Hinblick auf die Teilnahme an oder zur Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit einer parteiinternen Kandidatenaufstellung oder Parteiführerwahl nur zu, wenn und insoweit sich solche Rechte aus der Parteisatzung ergeben.119 Die Beschränkung der 115
Gauja, Political Parties and Elections, S. 8. Garrett, Courts and the Political Process, S.C.R. 2002, S. 95 (96) speziell zu den USA. 117 Unter Bezugnahme auf Garrett für den gesamten Common Law-Rechtskreis Gauja, Political Parties and Elections, S. 8. In diesem Abschnitt konnten nur die Grundzüge der richterrechtlichen Kontrolle von Parteisatzungen dargestellt werden, während die detaillierte Beantwortung von Einzelfragen zum Mitgliedschaftsverhältnis und zur Parteiführerwahl den folgenden Kapiteln dieser Arbeit vorbehalten bleibt. 118 UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ: „[UKIP] is a company limited by guarantee with a dispensation from that requirement under s.30 of the Companies Act 1985. It is not in issue for the purposes of this appeal that UKIP’s relationship with its members is, like that of an unincorporated association, founded on the basis of contract and governed by the rules of the association.“ 119 Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 143 ff.; Davis, Political Freedom, S. 64 mit der Feststellung: „Finally, the rules of natural justice offer little, if any, assistance to nonmembers.“ Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (339): „In any event, the common law notion that party rules form a contract between members does not extend 116
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Justiziabilität von Parteisatzungen auf Streitigkeiten zwischen Parteimitgliedern wird unter den Begriff des zivilrechtlichen Prinzips der privity of contract gefasst.120 Diese Doktrin des Common Law ist auch Grundlage für das o. g. obiter dictum des Court of Appeal im Fall Conservative Central Office v Burrell121 aus dem Jahr 1981, in dem LJ Lawton die nicht vorhandene Einflussmöglichkeit der außerparlamentarischen Parteimitglieder auf eine Änderung des Wahlmodus der Parteiführerauswahl mangels vertraglicher Bindung zwischen außerparlamentarischem und parlamentarischem Flügel der Partei beschrieb. (2) Kein judicial review-Verfahren für parteiinterne Streitigkeiten In der Literatur wird teilweise vorgeschlagen, bei bestimmten innerparteilichen Konflikten von den Gerichten ein judicial review-Verfahren durchzuführen. Diese Forderung haben zudem auch Parteimitglieder als Kläger bzw. Antragsteller in einschlägigen Gerichtsverfahren vorgebracht.122 Judicial review nach ss. 29, 31 Senior Courts Act 1981 i. V. m. r. 54 Civil Procedure Rules123 ist die gerichtliche Nachprüfung der Rechtmäßigkeit von Handlungen nachgeordneter public bodies, etwa tribunals und public authorities.124 Diese Form der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen ist dem High Court zugewiesen und hat sich aus dem Common Law entwickelt. Sie dient damit der Einhaltung der Rule of Law bei exekutivem Handeln und ist unabhängig von dem vom souveränen Parlament gesetzten Gesetzesrecht.125 Im judicial review wird zwischen Überprüfungen auf substantive grounds und procedural grounds unterschieden.126 Diplock LJ fasst die Gründe in dem Fall Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service unter den „three heads of grounds“127 zusammen. Diese benennt er mit „illegality“, „irrationality“ und any rights to non-members: a party can still repel a feared ,stacking‘ from outside, even if it has to flout its own rules to do so.“ Zudem mit Hinweis auf Baker v Liberal Party of Australia (SA Division) (1997) 68 SASR 366. 120 Eine Einführung zu dieser Doktrin bei Turner, Contract Law, S. 47 ff. m. w. N. auf die Rechtsprechung. 121 [1982] 1 W.L.R. 522. 122 Siehe nur R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle [1987] 7 NIJB 24; aus der Literatur Anthony, Judicial Review, S. 37 f.; Davis, Political Freedom, S. 72 f. 123 So in s. 31 des Supreme Court Act 1981 i. V. m. Order 53 Supreme Court Rules 1981 a. F. (bis 2009). Aus der deutschen Literatur zur alten Rechtslage und mit einem Überblick zum judicial review vgl. Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 175 ff., 339 ff. 124 Ausführlich auch zur Abgrenzung von tribunals und public authorities etwa Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 174 ff. m. w. N. 125 Zur historischen Entwicklung siehe Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 629 ff. 126 So etwa Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 629 ff. 127 [1985] AC 347 (410). Erläuterungen dazu bei Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 716 ff.
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„procedural impropriety“.128 Ungeachtet der Frage der Benennung bzw. Kategorisierung umfasst der Prüfungsmaßstab mithin prozessuale und materielle Prüfkriterien.129 Formell wird die behördliche Handlung an der natural justice-Doktrin gemessen. Materiell ist nach der Rechtsprechung die ultra vires-Doktrin hier maßgeblich. Gefragt wird danach, ob die Behörde außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt hat. Auch Ermessensfehler130 und besonders das europarechtlich entwickelte principle of proportionality (Verhältnismäßigkeitsprinzip) gehören in den Prüfungskanon der Gerichte im judicial review-Verfahren.131 Bei Feststellung einer Überschreitung ihrer Kompetenzen, bei Ermessensfehlern oder Verstößen gegen die Verhältnismäßigkeit oder auch der procedural fairness ist die Entscheidung void ab initio.132 Dabei hat das Gericht aber keine Ersetzungskompetenz für die behördliche Entscheidung.133 Man kann deshalb bei dem judicial review-Verfahren von einer Art der gerichtlichen Rechts- und nicht der Fachaufsicht sprechen.134 Das zentrale Abgrenzungskriterium135 für die Zulässigkeit des judicial reviewVerfahrens ist die Frage der Rechtsnatur des Streitgegenstandes. Mithin muss die
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[1985] AC 347 (410). Einen Überblick über die einzelnen Prüfmaßstäbe bieten Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 629 ff. 130 Dazu Brinktrine, Verwaltungsermessen, passim. 131 Vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 496 m. w. N. 132 Anisminic Ltd. v Foreign Compensation Commission [1969] 2 AC 147 (171) – Reid LJ, zitiert nach Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 180. 133 Loveland, Constitutional Law, S. 62; Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 569. 134 Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 174 ff., 177 m. w. N., wonach dies besonders von der gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungshandeln durch appeal zu trennen ist, der durch eine gesetzliche Normierung begründet wird, dessen Prüfungsumfang vom Gesetz festgelegt wird und jedem gerichtsähnlichen Spruchkörper (auch tribunals u. ä.) die Kompetenz einräumen kann. Ähnlich auch bei Loveland, Constitutional Law, S. 62: „Judicial review is a supervisory rather than appellate jurisdiction. A court which holds a government action unlawful will not substitute its own decision for the one made by the government body concerned, but will return the question to the original decision-maker so that the decision can be made again, this time in accordance with legal requirements.“ Herv. i. O. 135 Ein weiteres Abgrenzungskriterium ist die Frage, ob eine public authority nach s. 31 Supreme Court Act 1981 i. V. m. Order 53 Supreme Court Rules 1981 a. F., seit 2009 ss. 29, 31 Senior Courts Act 1981 i. V. m. r. 54 Civil Procedure Rules handelte. Zur alten Rechtslage noch Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 175 ff., 339 ff. Ob Parteien unter die public authorities fallen, ist in besonderem Maße eine Frage der Anwendbarkeit des Human Rights Act 1998 auf diese als den Menschenrechten verpflichtete Institutionen (d. h. public authorities nach s. 6 Human Rights Act 1998). Vgl. Davis, Political Freedom, S. 71 f. mit Behandlung der Parteien zur alten Rechtslage. Allgemein zum source oder nature of power test siehe R. v Panel on TakeOvers and Mergers, ex parte Datafin [1987] Q.B.D. 815; und für den public function test siehe R. (Holmcroft Properties Ltd.) v KPMG [2016] EWHC 323 (Admin). Vgl. zu den beiden Tests Loveland, Constitutional Law, S. 524 ff. m. w. N. 129
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„nature of the issue“136 öffentlich-rechtlich und nicht privatrechtlich zu qualifizieren sein. Diesen zentralen Grund für die Ablehnung des judicial review auf innerparteiliche Konflikte beleuchtete Carswell J in der Entscheidung des nordirischen High Court im Fall R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle.137 Hier ging es um einen Disput über die innerparteiliche Beteiligung der North Downs Constituency Association bei der Kandidatenaufstellung des Ulster Unionist Council, einer kurzlebigen nordirischen Partei in den 1970er und 80er Jahren. In der Folge des Streits war die Wahlkreisvereinigung aufgelöst bzw. aus der nordirischen Partei ausgeschlossen worden. Das Gericht entschied, dass es sich bei der Regelung der innerparteilichen Aufstellung von Parlamentskandidaten um ein Rechtsverhältnis aus Vertrag innerhalb der Partei als unincorporated association handelt. Damit war die nature of the issue privatrechtlich und ein judicial review-Verfahren folglich ausgeschlossen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass es im streitigen Falle um die Folgen eines Disputs zweier Parteiorgane über die Auswahl des lokalen Parlamentskandidaten ging. Zwar sind „parliamentary elections […] of course subject to statute law […] and they are certainly matters of highest public interest, but the mere fact that political parties are very closely involved in elections and that their affairs and activities are a matter in which the public have a considerable interest does not mean in my opinion that their regulation is a matter of public law.“138
Das Resultat aus dieser Entscheidung ist, dass Parteien auch dann dem Privatrecht unterworfen bleiben, wenn sie als Wahlvorbereitungsorganisationen tätig sind. Ein judicial review-Verfahren kommt bei der gerichtlichen Überprüfung von innerparteilichen Konflikten somit nicht in Betracht. (3) Breach of contract- und judicial review-Verfahren Das breach of contract-Verfahren im Privatrecht kann als funktionales Äquivalent zum judicial review im Verwaltungsrecht gesehen werden.139 Gemeinsam ist den beiden Verfahrensarten, dass es sich je um eine „supervisory rather than appellate jurisdiction“140 handelt. Das Gericht wird nicht als Berufungsinstanz tätig, da diese remedies nicht auf gesetzlicher Zuweisung, sondern auf dem Common Law beruhen. Auch hat das Gericht in beiden Fällen keine Ersetzungsbefugnis für die angegriffene 136
Anthony, Judicial Review, S. 37 f. u. a. mit Bezug auf den genannten Fall R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle. 137 [1987] 1 NIJB 24. 138 R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle [1987] 7 NIJB 24 – Carswell J zitiert nach Davis, Political Freedom, S. 73. Herv. d. Verf. 139 Dies gilt insofern, als „in areas of law such as trusts, company and trade union law, disputes may arise as to the validity of decisions taken by trustees, company directors and trade union committees and comparable supervisory principles may be applied in the process of review“ (Herv. d. Verf.). Nur handelt es sich nicht um judicial review. 140 Loveland, Constitutional Law, S. 62.
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bzw. von ihm aufgehobene Entscheidung.141 Dann muss die unterlegene Partei ggf. nochmals unter Beachtung der richterlichen Rechtsauffassung entscheiden. Ebenso können in beiden Verfahrensarten injunctions, declarations und damages erteilt bzw. zugesprochen werden, vgl. nur s. 31(1) Senior Courts Act 1981.142 Diese funktionellen Gemeinsamkeiten ergeben sich, wie bereits gesagt, aus der Entwicklungsgeschichte der beiden Verfahrensarten. Daher verwundert es nicht, dass in beiden Verfahrensarten mit der ultra vires- und der natural justice-Doktrin zumindest zu einem Teil der gleiche Wertungsmaßstab angelegt wird. Ein wesentlicher Unterschied liegt in dem materiellen Prüfungsumfang des judicial reviewVerfahrens, der noch weitere Aspekte umfasst. Im Kontext der hier untersuchten Parteienrechtsstreitigkeiten und einer diesbezüglichen Anwendung des judicial review wäre vornehmlich die Achtung des principle of proportionality und das der reasonableness von Relevanz. Letzteres wird in der Literatur und Rechtsprechung auch als irrationality bezeichnet; eine allgemeingültige Begriffsdefinition fehlt jedoch. Nach dem sog. Wednesbury-Test von Greene MR vermag ein Gericht die behördliche Entscheidung dann zu ersetzen, wenn diese „so unreasonable [is] that no reasonable authority could ever have come to it.“143 In einem anderen Urteil definiert Diplock LJ eine Entscheidung als unreasonable, wenn diese „[is] so outrageous in its defiance of logic or of accepted moral standards that no sensible person who had applied his mind to the question to be decided could have arrived at it“144. Die Gerichte intervenieren demnach nur in extremen Fällen und nicht bloß, wenn Richter eine andere behördliche Entscheidung für angemessen gehalten hätten. Schließlich wurde das Prinzip der reasonableness in der jüngeren Rechtsprechung analog auf gerichtlich angefochtene parteiinterne Entscheidungen übertragen.145
141 Vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 62: „In contrast, in an action for (for example) trespass or breach of contract, the court will impose its solution on the dispute before it.“ 142 Eine Übersicht für den judicial review bei: Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 590. 143 Associated Provincial Picture Houses Ltd. v Wednesbury Corporation [1948] 1 KB 223 (229, 230). 144 Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service [1985] AC 374 (410). 145 Siehe etwa UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204. Dazu unmittelbar im nächsten Absatz. Zwar mit einer Absage an die Anwendung der Kriterien des judicial review-Verfahrens in Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 47) – Beatson LJ, der Socimer International Bank Ltd. v Standard Bank London Ltd. [2008] EWCA Civ 116 (para. 66) – Rix LJ zitiert und die Wednesbury-Kriterien zumindest analog anwenden will: „It is plain from these authorities that a decision-maker’s discretion will be limited, as a matter of necessary implication, by concepts of honesty, good faith, and genuineness, and the need for the absence of arbitrariness, capriciousness, perversity and irrationality. The concern is that the discretion should not be abused. Reasonableness and unreasonableness are also concepts deployed in this context, but only in a sense analogous to Wednesbury unreasonableness, not in the sense in which that expression is used when speaking of the duty to take reasonable care or otherwise deploying entirely objective criteria.“
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(4) Stellungnahme zur Forderung nach judicial review-Verfahren in Parteien Der einzige dogmatische Anknüpfungspunkt, der für die Anwendung des judicial review auf parteiinterne Streitigkeiten spricht, ist der Prozess der Verrechtlichung des Parteiwesens. Dieser wurde durch den PPERA 2000 und den kurz zuvor erlassenen Registration of Political Parties Act 1998 und durch gerichtliche Entscheidungen wie Goldsmith v Bhoyrul146 aus dem Jahr 1997 initiiert. Die britische Verfassungsrechtlerin Caroline Morris konstatiert, dass „[e]ven when [the parties are] operating within the sphere of contract law, some judges in earlier cases queried whether this was the whole picture“147. Damit bezieht sie sich explizit auf das obiter dictum von Megarry J in John v Rees aus dem Jahr 1970, für den Parteisatzungen „in many cases […] not merely a contract“148 sind. Morris schlussfolgert, dass diese, wenngleich nur in einem obiter dictum getätigte Aussage von Megarry J, durch die vorgenannten Gesetze aus den Jahren 1998 und 2000 und Entscheidungen in Goldsmith v Bhoyrul gesetzgeberischen und richterrechtlichen Rückenwind erfahren habe. Denn nunmehr seien die Parteien „drawn into a web of State regulation of their activities“149 : Gerade das Recht der Kandidaturen unter Einschluss des Firmierens von Kandidaten unter Parteinamen unterliegt seither einem strengen staatlichen Rechtsregime. Mithin sei die politische Partei zu einem Rechtssubjekt sui generis geworden, jedenfalls in Bezug auf ihre zentrale personelle Funktion der Kandidatenaufstellung. Ihre Rechtsnatur sei nur noch „partially contractual, but […] now also partially statutory“150. Parteien seien rechtlich nicht länger mit Tennisclubs151 zu vergleichen. Morris nimmt an, die seit langem praktizierte Anwendung der natural justiceDoktrin auf innerparteiliche Konflikte, die bekanntlich aus dem Verwaltungsrecht stammt, zeige bereits den judikativen Willen, die Parteien in die öffentlich-rechtliche Sphäre zu rücken. Verwendet man die dichotomische Einordnung der Parteiorganisationen, werden diese damit zumindest auch in der staatlichen Sphäre verortet. Dies hätte zur Folge, dass das öffentliche und nicht nur das Zivilrecht anwendbar wären. Bei allen Andeutungen der Gerichte in diversen obiter dicta oder sogar in der ratio decidendi (wie in der Goldsmith-Entscheidung) kann Morris ihre Forderung nur mit der verfassungsrealen Situation begründen. Dies bedeutet, dass sie auf die von den Parteien de facto übernommene exklusive Linkage-Funktion rekurriert. Dieses Argument, dass also die britischen Parteien nicht nur eine Transmissionsriemenfunktion haben, die aber nur ihr Personal durch Wahlen vermittelt in die staatliche Sphäre hebt, sondern sie nunmehr auch organisationsrechtlich selbst der staatlichen Sphäre zuzuordnen sind, wird auch von anderen Vertretern für die Anwendung des judicial review 146 147 148 149 150 151
[1997] E.M.L.R. 407. Morris, Parliamentary Elections, S. 122. Morris, Parliamentary Elections, S. 123, Herv d. Verf. Morris, Parliamentary Elections, S. 123. Morris, Parliamentary Elections, S. 123. Vgl. Morris, Parliamentary Elections, S. 124.
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herangezogen.152 Sieht man an dieser Stelle153 von der rechtstheoretischen Frage der Zugehörigkeit der Parteien zur gesellschaftlichen oder staatlichen Sphäre ab, so sprechen wesentliche andere dogmatische Erwägungen gegen eine Anwendbarkeit von judicial review: Zwar nehmen britische Gerichte in der Tat seit den späten 1990er Jahren eine öffentliche Funktion der Parteien an, die sie zuvor negiert hatten. So war es sogar dem Parteiführer der Labour Party, Michael Foot, vom High Court versagt worden, gegen die Entscheidungen der Boundary Commission (das Amt zur Festlegung von Wahlkreiszuschnitten) stellvertretend für seine Partei gerichtlich vorzugehen.154 Dass in der Zwischenzeit eine Ausweitung der verfassungsrechtlichen Stellung stattfand, zeigt besonders das Urteil Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding.155 Mit Britain First wurde auch einer Partei, die über keine Vertreter in den beiden Houses of Parliament verfügt, aufgrund ihrer Stellung als unter den gesetzlichen Regelungen registrierte Partei ein nicht ohne Weiteres einschränkbares Demonstrationsrecht zuerkannt. Gleichwohl übersehen Morris156 und andere Vertreter dieser Ansicht, dass mit diesen Urteilen nur über das Außenrechtsverhältnis der Parteien entschieden wurde. Denn die Rechtsprechung hält auch in jüngsten Entscheidungen an ihrer Einordnung der Parteien als unincorporated associations fest, vgl. dazu nur den Court of Appeal im Jahr 2016 zur angegriffenen automatischen Kandidatur des damaligen Amtsinhabers des Labour-Parteiführeramtes.157 Dies gilt 152
Ausführlich oben; vgl. hier nur Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 145 f., der sich dazu auf den Fall Goldsmith v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 bezieht, bei dem das Gericht den Parteien ungeachtet des fehlenden Gesetzesrechts einen öffentlichen Status oktroyierte, zumindest in Bezug auf die Verpflichtung zur Tolerierung von tendenziöser, gar verleumderischer Presseberichterstattung. Parteien, deren Vertreter sich um Ämter bewerben, unterscheiden sich danach nicht von den Parteien, deren Vertreter in Ämter bereits gewählt sind, und müssen derartige Presseberichte ertragen. Den Parteien kommt insoweit kein Grund- und Menschenrechtsschutz gegen die Presse durch die Gerichte zu. Gute Darstellungen der entsprechenden Argumente m. w. N. und i. E. den judicial review auf Parteien ablehnend Orr, Regulating Party Affairs, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 245 ff. (258); Davis, Political Freedom, S. 71 ff. 153 Es sei nochmals darauf verwiesen, dass dies der Frage der Zuordnung der richtigen Verfahrensart nach dem Streitgegenstand (public oder private in nature) entspricht. Das judicial review-Verfahren sichert die Rule of Law und die Gewaltenteilung, während das breach of contract-Verfahren ein Sicherungsinstrument für die Privatautonomie darstellt. 154 R. v Boundary Commission, ex parte Foot [1983] Q.B.D. 600. Dazu Barendt, Constitutional Law, S. 152; Ewing, Cost of Democracy, S. 27. 155 Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding [2015] EWHC 1875 QB. 156 Sie weist gleichwohl darauf hin, nimmt gleichwohl das o. g. Zitat von Megarry J (hinsichtlich „merely a contract“) aus einem innerparteilichen Streit zum Ausgangspunkt ihrer These. Siehe Morris, Parliamentary Elections, S. 123 ff. 157 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (paras. 18 ff.) – Beatson LJ: „The Labour Party is an unincorporated association. As such, it has no separate legal personality from that of its individual members and as a matter of law is not a legal entity distinct from them, as it would have been had it been a company or an industrial and provident society. It is, however, subject to rules, currently those in the 2016 Rule Book. The nature of the relationship between an
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auch ungeachtet der faktisch-politischen Bedeutung des Parteiführeramtes der beiden großen Parteien.158 Hieraus folgt die Anwendbarkeit des Vertragsrechts auf innerparteiliche Dispute.159 Die einschlägige privity of contract-Doktrin schützt insoweit auch die Parteien vor Verfahren durch unbeteiligte Dritte, also Nicht-Parteimitglieder, solange deren Beteiligung an der innerparteilichen Willensbildung nicht durch die Parteisatzung gestattet ist.160 Beim judicial review-Verfahren gilt diese Einschränkung nicht. Klagebefugt ist, wer ein ausreichendes Interesse darlegen kann.161 Doch auch die Regelung der Außenrechtsverhältnisse der Parteien als seit den Jahren 1998/2000 anerkannte Wahlvorbereitungsorganisationen führt nicht dazu, dass ihre Innenrechtsstreitigkeiten auch nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben überprüfbar sind. Die bloße Erwähnung in Gesetzen rechtfertigt nämlich noch nicht die Anwendung des judicial review-Verfahren. Das Parlament muss den Willen klar zum Ausdruck bringen, wessen Entscheidungen mit judicial review überprüfbar sind.162 Überdies hat das House of Lords163 in mehreren Entscheidungen bekräftigt, dass judicial review dann nicht in Betracht kommt, wenn ein domestic tribunal (Schiedsgericht) auf vertraglicher bzw. satzungsrechtlicher Grundlage existiert und dort effektive Rechtsbehelfe eingelegt werden können.164 So liegt es in den meisten Parteien, die in ihren Satunincorporated association and its individual members is governed by the law of contract […]. Because the nature of the relationship between an unincorporated association and its individual members is governed by the law of contract the proper approach to the interpretation of the constitution and rules is governed by the legal principles as to the interpretation of contracts, and is a matter of law for the court.“ 158 Verfassungskonventional ist die Parteiführerschaft von Labour Party und Conservative Party untrennbar mit der Premierministerschaft bzw. der Oppositionsführerschaft in Form des Schattenpremierministeramtes verbunden und kann je nach politischer Situation sogar uno actu erworben werden. 159 So auch in führenden Verfassungsrechtslehrbüchern. Siehe Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155: „Yet political parties remain voluntary associations in the eyes of the law: bodies exercising a public function but governed by private law.“ Vgl. auch Forbes, Judicial Review of Political Parties, in: Parliamentary Library (Hrsg.), Research Paper, S. 2 m. w. N. Diese sehen freilich auch die Problematik der Parteien, die zwischen Staat und Gesellschaft als Linkage changieren. Die Lösung obliege allerdings den Gerichten, wie die dortige Fußnote mit dem Hinweis auf die komplexe Entscheidung in der Sache Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 2 All ER 1 zeigt. 160 Grundsätzlich dazu Davis, Political Freedom, S. 71 ff. Ein Beispiel aus dem Labour Party Rule Book (Ch. 1 cl. 5. 1.): „At all levels the party will ensure that members, elected representatives, affiliated organisations and, where practicable, the wider community are able to participate in the process of policy consideration and formulation.“ (Herv. d. Verf.). 161 Vgl. Anthony, Judicial Review, S. 25 ff.; Hofmeister, Human Rights Act, S. 28 m. w. N.; Davis, Political Freedom, S. 72. 162 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.54. 163 So nur statt vieler die berühmte Entscheidung Law v National Greyhound Racing Club Ltd. [1983] 1 W.L.R. 1302. Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.53 m. w. N. 164 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.53.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
zungen Parteischiedsverfahren vorsehen. Die Entscheidungen eines Schiedsgerichts sollen von staatlichen Gerichten nur auf Grundlage eines breach of contract-Verfahrens überprüft werden. In diesem Kontext verweist der britische Verfassungsrechtler Howard Davis auf ein weiteres Gegenargument. Mit Blick auf den Fall R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle165 meint Davis, dass „[t]he issue of the availability of judicial review may be of procedural rather than substantive significance“166 sei. Denn auch unter Zuhilfenahme des judicial review würden nur die Parteisatzungen von den Gerichten ausgelegt, denn gesetzliche Regelungen der inneren Ordnung von Parteien fehlen weithin. Materiell gesehen würden die angegriffenen Handlungen der Partei sowohl beim bisher praktizierten breach of contract-Verfahren wie auch beim judicial review-Verfahren zuvorderst an der Parteisatzung gemessen. Daneben seien die zwei zentralen formellen bzw. materiellen gerichtlichen Prüfmaßstäbe mit der natural justice- und der ultra vires-Doktrin in beiden Fällen gegeben. Tatsächlich korrespondiert diese Auffassung mit einer jüngeren Entscheidung des High Court, der hinsichtlich des Überprüfungsmaßstabes beider Verfahrensarten feststellte, es wäre „surprising and unsatisfactory if a private law claim in relation to the decision of a domestic body required the court to adopt a materially different approach from a judicial review claim in relation to the decision of a public body. In each case the essential concern should be with the lawfulness of the decision taken: whether the procedure was fair, whether there was any error of law, whether any exercise of judgment or discretion fell within the limits open to the decision-maker, and so forth.“167
In diesem Kontext spielt spätestens mit dem Human Rights Act 1998, der im Jahr 2000 in Kraft trat, das principle of proportionality eine große Rolle. Für die gerichtliche Nachprüfung parteiinterner Entscheidungen liefe aber eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, horribile dictu, letztlich auf eine Zweckmäßigkeitsprüfung parteipolitischer Entscheidungen durch ein staatliches Gericht hinaus. Dies gilt auch für den Fall, dass die gerichtliche Kontrolle beschränkt auf die – nach deutscher Diktion – Ermessensfehlerlehre ausgeübt wird, wie es z. B. in Bradley v Jockey Club vom High Court für sonstige unincorporated associations vertreten wird.168 Dem Court of Appeal lag die Frage der Anwendung des principle of proportionality auf die gerichtliche Überprüfung parteiinterner Streitigkeiten in dem Ver-
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[1987] 1 NIJB 24. Davis, Political Freedom, S. 73. 167 Bradley v Jockey Club [2004] EWHC 2164 (QB) (para. 37) – Richards J, Herv. d. Verf. 168 Bradley v Jockey Club [2004] EWHC 2164 (QB) (para. 43) – Richards J: „The decision is unlawful only if it falls outside the limits of that discretionary area of judgment.“ Sowie: „It is not the role of the court to stand in the shoes of the primary decision-maker, strike the balance for itself and determine on that basis what it considers the right penalty should be.“ 166
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fahren UKIP v Hardy169 im Jahre 2011 vor. Alan Hardy war einst Pressesprecher der UKIP-Wahlkreisvereinigung in Stockton-on-Tees gewesen, wurde aber aufgrund diverser Streitigkeiten im örtlichen Vorstand von seinem Amt suspendiert und später von der nationalen Partei von der Parteimitgliedschaft ausgeschlossen. Hardy sah sich durch diese Disziplinarmaßnahmen in seinen Grundrechten aus dem Human Rights Act 1998170 und den vertraglich vereinbarten Rechten aus der Parteisatzung verletzt. Er sah es als erforderlich an, dass die Partei sich an die doctrine of reasonableness and proportionality zu halten habe und Verstöße gerichtlich voll überprüfbar seien. Dem hat der Court of Appeal brevi manu171 eine Absage erteilt. Anwendbar sind nur „the principles of good faith, natural justice and the right to a fair trial“ bei Streitigkeiten um „private contractual rules of an association“172. Als solche stellen sich Konflikte in UKIP wie in anderen Parteien weiterhin dar.173 Im Übrigen bezog der High Court in einer anderen Entscheidung UKIP betreffend (Nattrass v UKIP)174 zur Frage der gerichtlichen Unantastbarkeit politischer Prozesse Stellung. Zuerst stellte das Gericht für den gerügten Verstoß bei parteiinterner Aufstellung von Kandidaten zur Parlamentswahl fest, dass es sich lediglich um zivilrechtliche contractual rights (vertraglich begründete Rechte) handelt, die überhaupt verletzt sein könnten. Sodann betonte der High Court einmal mehr die richterliche „Zurückhaltung gegenüber innerparteilichen Konflikten. Er konstatierte, dass „[t]here is no suggestion of corrupt practises in this case, merely of unfairness“, im Hinblick auf das Parteienwesen an sich fortzuführen „I say, merely’ without minimising the importance of fairness in public life. There is only so much that the court should be asked to do. The court should be very wary of finding itself in the position where it starts to control part of the ongoing democratic political process in this country. I decline to do so in the circumstances of this case.“175
Die Anwendung von Grundsätzen des judicial review-Verfahrens auf politische Parteien wäre demnach nicht nur von prozessualer Bedeutung, sondern führte zu einem Eindringen staatlicher Autoritäten in den politischen Willensbildungsprozess. Dies wäre der britischen Konzeption des Parteienwesens und des politischen 169
[2011] EWCA Civ 1204. Siehe hier bereits UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (paras. 13, 58) – Potter LJ. 171 UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 58 f.) – Potter LJ: UKIP „submits that concepts of reasonableness and proportionality which are appropriate to Judicial Review and the jurisprudence of the European Court of Human Rights are not similarly applicable in relation to the private contractual rules of an association, which, at most, attract the principles of good faith, natural justice and the right to a fair trial. In that respect, it seems to me that […] [UKIP]’s submission is correct.“ 172 Beide Zitate aus UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 58) – Potter LJ. 173 Dazu verweist der Court of Appeal (a. a. O., para. 8) zu Anfang des Urteils auf die grundlegenden Entscheidungen John v Rees [1970] Ch. D. 345 (396 ff.) – Megarry J und Dawkins v Antrobus [1881] LR 17 615 (630) – Brett LJ. 174 [2013] EWHC 3017 Ch. D. (para. 15) – Purle J. 175 Nattrass v UKIP [2013] EWHC 3017 Ch. D. (para. 16) – Purle J, Herv. d. Verf. 170
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Betriebs außerhalb der staatlichen Institutionen schlichtweg wesensfremd.176 Die Entscheidungen (wie in der Sache Bradley v Jockey Club), die einen dem judicial review ähnlichen Überprüfungsmaßstab für anwendbar erklären, gelten für nichtparteipolitische Vereinigungen, lassen sich aber aufgrund der eindeutigen Positionierung des Court of Appeal nicht auf die Parteien übertragen. Aus diesen Gründen sind auch die rechtspolitischen Forderungen nach Einführung eines judicial reviewartigen Verfahrens abzulehnen.
II. Innerparteiliche Demokratie als Prinzip im Parteisatzungsrecht 1. Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs der innerparteilichen Demokratie Die grundsätzliche Problematik der interpretatorischen Offenheit des (innerparteilichen) Demokratiebegriffs ist bereits in der Einleitung erläutert worden.177 Diese grundsätzliche Vagheit und Offenheit des innerparteilichen Demokratieprinzips wird für die britischen Parteien durch mehrere Aspekten verstärkt. Namentlich liegt dies an dem in der britischen Gesellschaft angelegten Demokratieprinzip sowie der gesetzgeberischen und der richterrechtlichen Zurückhaltung in der Forderung nach innerparteilich demokratischen Parteien. Für die britischen Parteien bedeutet dies schließlich die ebenso bereits dargelegte Organisationsfreiheit.178 Kann sich eine britische Partei demnach sogar autokratisch organisieren,179 so heißt dies, falls sie sich für das Prinzip der innerparteilichen Demokratie entscheidet, dass sie auf kein konkretes Konzept und keine Leitlinien verpflichtet wird. Die großen britischen Parteien haben sich freiwillig dem Prinzip der innerparteilichen Demokratie verschrieben. In der Satzung der Labour Party findet sich ein 176 Vgl. nochmals zu Australien als vergleichbares, auf dem Common Law-Erbe fußendes politisches System und Rechtssystem Gauja, Enforcing Democracy, in: Democratic Audit of Australia/Australian National University (Hrsg.), Discussion Paper, S. 3. 177 Hier nochmals statt vieler Katz/Cross, Intra-Party Democracy, in: dies. (Hrsg.), IntraParty Democracy, S. 1 (2 f.): „Like democracy itself, the definition of IPD [innerparteiliche Demokratie, Anm. d. Verf.] is essentially contestable. Is it primarily about participation, inclusiveness, centralization, accountability, or something else together?“ Zudem besprechen sie diverse Definitionen des Demokratieprinzips. So etwa jene von Schumpeter, der Demokratie als rein formale Methode des Entscheidungsprozesses auffasst. Ebenso die materielle Aufladung des Begriffs der innerparteilichen Demokratie nach den §§ 2, 6 ff. PartG (a. a. O., S. 3) ausgehend vom Prinzip der Mitgliederpartei. 178 Ein Sonderfall betrifft die Organisation unter dem Companies Act 2006, dazu später. 179 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (321): „[Ü]ber ihre innere Struktur selbst zu entscheiden, so z. B., ob sie eine demokratische oder oligarchische Ordnung wünschen.“ Ähnlich auch Morris, Parliamentary Elections, S. 104 ff. im Kontext der Kandidatenaufstellung: „A party may wish to present itself as democratic or open, authoritative or decisive, or meritocratic or aligned with a particular interest“, was unter dem britischen Verfassungs- und Wahlrecht möglich ist.
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deklaratorisches Bekenntnis zum (innerparteilichen) Demokratieprinzip. Es heißt in der historisch berühmten cl. IV: „Labour Party is a democratic socialist Party“ (Ch. 1 cl. IV. 1. C.). Sodann erfolgt eine konkrete Garantie der Beteiligung der Mitglieder auf der nationalen Ebene für in Ch. 1 cl. V. 1. im Hinblick auf die Programmformulierung.180 Auch die Liberal Democrats konstatieren in ihrer Präambel, dass sie „believe that sovereignty rests with the people and that authority in a democracy derives from the people“. Zwar erscheint dieses politische Credo auf den ersten Blick auf die Demokratie im Staate bezogen, doch verlangt die Federal Constitution andernorts von ihren Wahlkreisvereinigungen und von associated organisations (Umfeldorganisationen) in Art. 13.1, dass „internal procedures conform with the basic democratic principles set forth in Article 4.6“. In Art. 4.6 verweist die Satzung auf das Mitgliederparteiprinzip (Art. 3) und auf Art. 4.5, der die Wahlkreisvereinigungen anhält, mit ihren Mitgliedern „a full part in the democratic processes of the Party“ zu spielen. Damit ist die Federal Constitution darauf ausgerichet, eine Legitimationskette vom einzelnen Mitglied bis zum nationalen Parteivorstand zu erreichen. Durch diese Verweisungskette für den zwingenden Aufbau der Parteiuntergliederungen dokumentiert die nationale Partei damit den innerparteilich demokratischen Charakter ihrer selbst. Die Constitution der Conservative Party äußert sich als einzige der drei großen Parteien nicht explizit zu ihrer Spielart der innerparteilichen Demokratie. Allerdings müssen gemäß Art. 68.1 die von der Partei recognised organisations (ebenfalls etwa Umfeldorganisationen) eine demokratische Satzung vorweisen können.181 Die nationale Parteiorganisation selbst definiert sich als Mitgliederpartei in Art. 3 der Constitution der Conservative Party, was wiederum einen Grundpfeiler der modernen binnendemokratischen Massenpartei ausmacht.182 In den Tory aims and values bezeichnet sich die Partei als „an open and inclusive Party [and] […] will act to ensure that our Party, at every level, is representative of modern Britain.“183 Als ein Hinweis auf die Selbstverpflichtung der drei großen Parteien auf das innerparteiliche Demokratiegebot kann – vor genauer Analyse der Parteisatzungen – bereits das Engagement der Conservative Party, der Labour Party und der Liberal 180 Wortlaut der Klausel: „At all levels the party will ensure that members, elected representatives, affiliated organisations and, where practicable, the wider community are able to participate in the process of policy consideration and formulation.“ 181 Wortlaut der Klausel: „[V]erify to the satisfaction of the Board that it has a democratic constitution, a broad membership and is open to all Party Members.“ 182 Vgl. hierzu aus der rechtsvergleichenden Literatur Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 passim. Siehe aus der vergleichenden politikwissenschaftlichen Literatur Scarrow, Parties and Their Members, S. 1 ff. m. w. N. zu den deutschen und britischen Parteien an der Grenze zum 21. Jahrhundert. Vgl. grundlegend zu den britischen Parteien aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, passim. 183 In Full: Tory Aims and Values, BBC News, 28. Februar 2006 (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Democrats verstanden werden, sich im Auftrag der britischen Regierung in Entwicklungsländern für den Aufbau (auch innerparteilich) demokratischer Parteiensysteme zu engagieren.184 Wie bereits verschiedenen Orts dargelegt, üben die Parteien seit jeher ihre Kandidaten- und ihre Parteiführerauswahl sowie ihre Programmformulierung auf eigene Art aus; eine hohe Kohärenz der Parteisatzungen, wie sie in einem staatlicherseits streng regulierten Parteiensystem (etwa dem deutschen) vorhanden ist, ergibt sich folglich im Vereinigten Königreich nicht zwangsläufig.185 Dies wird im Weiteren anhand der Parteiführerauswahl noch genauer dargelegt. 2. Bedeutung des parteisatzungsrechtlichen Prinzips der innerparteilichen Demokratie für die Verfassung Aufgrund der Unkodifiziertheit, der Flexibilität und zugleich des Traditionsbewusstseins der britischen Verfassung wäre es denkbar, eine Verankerung der innerparteilichen Demokratie als Verfassungsprinzip im Vereinigten Königreich dadurch anzunehmen, dass es in den Parteisatzungen Niederschlag gefunden hat. Voraussetzung dafür wäre, dass das Innenrecht der Parteien Verfassungsrechtsquellen zählt. Nach der früher von Alder186 vertretenen Meinung ist das Satzungs184 Siehe T.S.O. (Hrsg.), Westminster Foundation, Annual Report 2012/13, Cmnd. 362/13: Die Stiftung ist ein non-departmental public body, die vom Foreign and Commonwealth Office im Jahre 1992 als private company limited by guarantee gegründet wurde. Ihr Ziel ist die Schaffung und Unterstützung von staatlichen Institutionen und politischen Parteien in anderen Ländern (a. a. O., S. 1). So haben im Berichtszeitraum von 2012 bis 2013 die britischen Parteien in ungefähr 60 Projekten insbesondere in Afrika und Südosteuropa ihren Arbeitsauftrag bilateral wahrgenommen. Vor allem ihren jeweiligen Schwesterparteien boten sie „policy-based platforms; political and ideological identity; structure and capacity to communicate internally; building networks and local structures including women and youth“ an (a. a. O., S. 2, Herv. i. O.). Für die Liberal Democrats ist ausdrücklich dokumentiert: „In Eastern/Central Europe support aimed to foster democracy internally within political parties and externally within the political context“ (a. a. O., S. 14). 185 Anders in Deutschland, wo z. B. die Bundestagskandidatenauswahl im BWahlG detailliert geregelt ist. Siehe dazu etwa Werner, Kandidatenaufstellung, passim. Für einen älteren Rechtsvergleich, der aber für Deutschland wegen des unveränderten Normenbestandes weiter größtenteils und für das Vereinigte Königreich trotz der Änderungen seit dem Registration of Political Parties Act 1998 zumindest im Grunde noch aktuell ist enthalten Denver, Decentralized Selection, in: Gallagher (Hrsg.), Candidate Selection, S. 47 passim; Roberts, Route to Bonn, in: Gallagher (Hrsg.), Candidate Selection, S. 94 passim. 186 Alder, Constitutional Law, S. 23 f., S. 33. In den jüngeren Auflagen seines Standardwerkes erwähnt Alder das Parteisatzungsrecht nicht mehr in dieser ausdrücklichen Form als eigenständige Quelle der Verfassung. So heißt es in der Auflage von 2015 nur noch: „There are also ,practices‘ which maybe of fundamental constitutional significance even though they are not in any sense binding as rules. The most obvious of these is the existence of political parties through which contenders for power organise themselves. There is no legal or conventional requirement that there be political parties. Strictly speaking, a political party is a private voluntary organisation, albeit regulated to prevent parties abusing the electoral process (PPERA 2000). Because the leader of the majority party in the House of Commons normally becomes the
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recht der Parteien explizit187 als eine solche Quelle anzusehen. Die wohl h. M.188 in der Literatur will dies nur implizit zulassen, denn wegen der faktisch-politischen Relevanz der innerparteilichen Entscheidungen (Parlamentskandidatenauswahl, Parteiführerwahl und Programmformulierung) für die Verfassung findet das Parteisatzungsrecht in der Literatur durchaus Beachtung als Quelle der Verfassung. Die Gerichte haben diese Frage einstweilen offengelassen. Zwar wird das Parteibinnenrecht als vertragliches Rechtsverhältnis zwischen den Mitgliedern angesehen, jedoch nahmen die Gerichte bereits vor einigen Jahren von der nicht zu unterschätzenden Bedeutung innerparteilicher Vorgänge, insbesondere in der Kandidatenvorauswahl, Notiz (vgl. nur R v Ulster Unionist Council ex parte Lyle).189 Es kann daher dahinstehen, ob man mit Alder das Parteisatzungsrecht explizit zu den Verfassungsquellen (i. w. S.) zählen möchte. Denn ihre Bedeutung ist im Vereinigten Königreich, in einem Land, in dem Verfassungsrealität und Verfassungsrecht untrennbar miteinander verschmolzen sind, unumstritten. Aus dieser Stellung eine generelle (Selbst-)Verpflichtung der Parteien auf das Verfassungsprinzip innerparteilicher Demokratie abzuleiten, stieße auf einige grundlegende Bedenken, die sich aus den bisherigen Untersuchungsergebnissen ergeben. Erstens sind die Parteien außerhalb des Parlaments, die als unincorporated associations organisiert sind, grundsätzlich befugt, sich Parteisatzungen ohne demokratische Strukturen zu geben. Die unincorporated association unterliegt insofern keinen gesetzlichen oder richterrechtlichen Rahmenvorgaben, sodass diese Freiheit allenfalls durch die Parteisatzung selbst eingeschränkt werden könnte. Dabei ist nicht einmal gesagt, dass die Gerichte im Streitfalle innerhalb einer Partei überhaupt von einer einzigen unincorporated association ausgehen, wie der Fall Conservative and Unionist Central Office v Burrell gezeigt hat. Zweitens sind die Parteien im Parlament kraft der ihnen (faktisch) verliehenen Parlamentssouveränität nicht dazu verpflichtet, das Prinzip der Volkssouveränität anzuerkennen. Sie könnten – theoretisch – jederzeit ein Gesetz erlassen, das die Parteien sogar auf eine undemokratische Binnenstruktur verpflichtete. prime minister, the internal rules of each party for choosing its leader are of fundamental importance. Indeed it has been said that: parties have substituted for a constitution in Britain. They have filled all the vast empty spaces in the political system where a constitution should be and made the system in their own image.“ Alder, Constitutional Law (10. Aufl.), S. 56 f. 187 Von einer formellen Verfassungsquelle kann nicht gesprochen werden, da es im Vereinigten Königreich an der Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Verfassungsrecht fehlt. 188 Die Einordnung des Parteisatzungsrechts als materielles Verfassungsrecht ist auch bei anderen Autoren zumindest implizit vorhanden, so bei Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 ff. Unter der dortigen Kapitelu¨ berschrift „The institutions of government“ werden die Parteien und ihr Satzungsrecht in ihrer Bedeutung für die Verfassung ausfu¨ hrlich gewürdigt. 189 Vgl. den Fall R. v Ulster Unionist Council ex parte Lyle [1987] 1 NIJB 24; Anthony, Judicial Review, S. 37 f.
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Drittens ist die Krone bei der Ausübung einer ihrer wichtigsten royal prerogatives, der Ernennung ihres Premierministers, nur durch die Verfassungskonventionalregel eingeschränkt, die Auswahl durch die Parteien nach ihrem Wahlmodus für die Parteiführerwahl abzuwarten und anzuerkennen. Somit verbleibt der Krone heutzutage nur noch denjenigen ausgewählten Kandidaten zu ernennen, der zudem Parteiführer der Mehrheitsfraktion ist. Jedoch handelt es sich bei diesem Arrangement um keine Einschränkung der royal prerogative von Rechts wegen, sondern um eine von der Krone jederzeit änderbare Verfassungskonventionalregel. Das Parteisatzungsrecht vermag die Rechte der Krone mithin nicht einzuschränken; dies könnte nur ein Parlamentsgesetz. Mithin ist die Begründung der innerparteilichen Demokratie im Parteisatzungsrecht kein Verfassungsprinzip. Es ist nicht mehr – wenn auch nicht weniger – als eine rechtliche und politische Momentaufnahme. Jedenfalls lässt sich ein zwingendes, nicht oder nur im Wege eines formellen Verfahrens durch Parlament oder die Gerichte änderbares Verfassungsgebot hieraus nicht ableiten.
III. Zwischenergebnis: innerparteiliche Demokratie als innerparteiliche Angelegenheit Kennen zwar auch andere westliche Nationen, die sich normativ zur Volkssouveränität bekennen, keine Verpflichtung auf das innerparteiliche Demokratieprinzip in ihren (kodifizierten) Verfassungen,190 so stellt das Prinzip der Parlamentssouveränität191 als Grund für den Verzicht in der britischen und anderen Common Lawbasierten192 Parteiendemokratien eine Besonderheit dar. Es gilt nämlich, dass sich 190
Politologische Vergleiche mit juristischem Einschlag zu diesem Thema bieten etwa van Biezen/Piccio, Legal Regulation, in: Cross/Katz (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 27 (29 ff., 31); Janda, Political Parties, S. 14 f., 23 f. Aus der vergleichenden juristischen Literatur siehe dafür Gauja, Enforcing Democracy, in: Democratic Audit of Australia/Australian National University (Hrsg.), Discussion Paper, passim; dies., Legal Regulation of Political Parties, ELJ 2016, S. 4 passim. 191 Die Parlamentssouveränität stellt wie der Demokratiebegriff ein vages Konstrukt dar, das in seinen einzelnen Facetten in einer Monografie – wie der vorliegenden, die sie nicht zum Hauptthema hat – nicht hinreichend dargelegt werden kann. So spricht Bogdanor, Constitution, S. 280 davon, dass „[t]he doctrine of parliamentary sovereignty is in fact far more complex and obscure than it may appear at first sight“. Vieles im Rahmen der Parlaments- und Volkssouveränität ist und bleibt umstritten in Gerichtsentscheidungen und der Literatur. Zur Kollision dieser beiden Verfassungsprinzipien siehe die Entscheidung des Supreme Court zum sog. Brexit, R. v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5. Und siehe zum Thema des sog. Brexit aus der Literatur nur die Meinung des britischen Verfassungsrechtlers Philipp Allott zur Verfassungswidrigkeit des Referendums (und damit der Absage an die Volkssouveränität): Allott, Brexit May Be Unlawful, The Guardian v. 30 Juni 2016 (Internetquelle). 192 In anderen Common Law-Nationen gibt es teilweise Verpflichtungen auf eine demokratische Willensbildung in den Parteien. Auf bundesstaatlicher Ebene ist dies etwa das aus-
A. Kein zwingendes Gebot in der Verfassung
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ungeachtet der Frage einer formellen verfassungsrechtlichen Fixierung das Prinzip der innerparteilichen Demokratie zu einer „parteienrechtliche[n] Universalie“193 (Morlok) entwickelt hat, deren Ausgangspunkt die Volkssouveränität ist. Im Vereinigten Königreich gilt die Volkssouveränität jedoch nicht normativ-verfassungsrechtlich, sondern nur politisch-verfassungsreal. Freilich ist die politische Volkssouveränität im Zusammenhang mit der beherrschenden Rolle der Parteien in der Verfassungsrealität zu sehen und die Parteien wiederum mit ihrer Rechtsnatur als Vereinigungen von Bürgern. Jedoch zeitigen auch diese Feststellungen keine Notwendigkeit für das Vereinigte Königreich, sich zum Konzept der rechtlichen und politischen Volkssouveränität bekennen zu müssen. Dies gilt bereits aus rechtsvergleichender Perspektive, da auch das Konzept der modernen Parteiendemokratie, wie sie das Vereinigte Königreich in seiner Art darstellt, nicht a priori nach einem Bekenntnis zur Volkssouveränität und damit zum Gebot der innerparteilichen Demokratie verlangt. Wie dargestellt basiert diese Entwicklung auf dem heutigen britischen (gesellschaftlichen) Demokratieverständnis. Mit der Verankerung der Volkssouveränität als gesellschaftlicher Grundkonsens ist auch die Parteienvolkssouveränität nur in der Gesellschaft verankert. Für die Parteien bedeutet dies, dass so jede Partei versuchen wird, sich am Wählermarkt günstig zu positionieren, um ihr „Produkt“ am besten verkaufen zu können. Im von einem besonderen wirtschaftlichen und politischen Liberalismus geprägten Vereinigten Königreich, in dem der Kampf um die Wählerstimme als electoral market194 verstanden wird, entfaltet das Parteienrecht vielleicht noch mehr als in rechtlich regulierteren Parteiensystemen seine Bedeutung als Wettbewerbsrecht.195 Die britischen Parteien vermögen es somit, wie im Einzelnen tralische Queensland in s. 73 A Electoral and Other Acts Amendment Bill 2002. Ausnahme ist – wie bereits aufgezeigt – auf nationaler Ebene Neuseeland mit s. 71 Electoral Act 1993. 193 Tsatsos/Schefold/Morlok, Rechtsvergleichende Ausblicke, in: dies./Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 737 (817). 194 Siehe dazu die Auseinandersetzung des australisches Parteienrechtlers Graeme Orr mit der Parteiendefinition von Schumpeter. Nach Schumpeter ist eine Partei „a group whose members propose to act in concert in the competitive struggle for political power“. Nach Orr kann dies für die Common Law-Nationen so nicht gelten, denn dort ist „a party […] not necessarily a site for democratic participation and deliberation, but is necessarily a competitive electoral brand“. Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (344). 195 Vgl. zu den Parteien in Australien und damit einer anderen Common Law-Nation Gauja/ Smith, Understanding Party Constitutions, P.P. 2010, S. 755 (771): „Constitutions as weapons in inter-party competition.“ Vgl. allgemein dazu Brettschneider, Ökonomische Theorie, passim, der allerdings innerparteiliche Demokratie für keine Bedingung im zwischenparteilichen Wettbewerb hält (S. 49 f.); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 26 m. w. N.; rechtsvergleichend siehe ders., Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (53, 56 ff.). Diese unsichtbare Hand des Marktes führt nach hier vertretener Auffassung dazu, dass eine a priori undemokratisch organisierte Partei auf dem electoral market auch im Vereinigten Königreich keine Chancen haben dürfte. Schließlich ist das britische Volk der politische Souverän und dürfte wohl seine eigene Souveränität nicht durch eine – bereits de jure – undemokratisch organisierte Partei unterminieren lassen wollen. Anders indes zu den
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
zur Parteiführerauswahl noch darzulegen sein wird, auf die Wünsche des Wahl- und Parteienvolkes einzugehen, ihre Partei bar einer gesetzlichen oder richterrechtlichen Verpflichtung auf eine bestimmte innere Ordnung, nicht einmal nur auf Grundsätze einer inneren Ordnung, von Zeit zu Zeit den gesellschaftlich-demokratischen Ansprüchen anzupassen. Diese Feststellung deckt sich auch mit der Erkenntnis aus der internationalen Demokratieforschung, wonach das Verfassungsprinzip der innerparteilichen Demokratie nicht bis ins letzte Detail im Wege staatlicher Regelungen ausgestaltet werden kann, wenn und soweit man den schöpferischen Kräften in den Parteien als gesellschaftlichen Vereinigungen nicht den Raum zur Entfaltung nehmen will. Eine jede Parteiendemokratie ist damit stets eine Staats- und Regierungsform sui generis. So gibt es keinen internationalen Mindeststandard in der Frage, welchen Prinzipien eine (innerparteiliche) Demokratie zu folgen hat.196 Diese Vagheit des Demokratieprinzips gilt nach all dem Gesagten ebenso im britischen Recht. Deshalb ist anhand der einzelnen Partei – im Folgenden nur der beiden großen Parteien und ihrer Parteiführer – zu untersuchen, ob und inwiefern innerparteiliche Demokratie für sie „primarily about participation, inclusiveness, centralization, accountability, or something else together“197 ist.
B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen I. Keine innerparteiliche Demokratie im Parteiengesetz von 2000 1. Transparenz- und Rechenschaftsgebot im Außen-, nicht im Innenverhältnis Das Parteiengesetz von 2000 stellt, das wurde eingehend erläutert, im Wesentlichen nur ein Parteienfinanzierungsgesetz dar. Mit ihm sollten Parteifinanzskandale wie jene der 1990er Jahre zukünftig verhindert werden. Einen zentralen Regelungsinhalt stellen die Transparenzvorschriften des Gesetzes dar. Vor Erlass dieses Gesetzes war es üblich, dass die Parteien über ihre Finanzierung, die sich fast ausschließlich aus privaten Quellen speist(e), weder gegenüber ihren Mitgliedern noch der Allgemeinheit Rechenschaft ablegen mussten. Auch und besonders die beiden großen Parteien taten dies nicht. Erst im Jahre 1995 begann die Labour Party mit der Wahlchancen einer hierarchisch gegenüber einer demokratisch organisierten Partei mit spezifisch britischer Sichtweise Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 109. 196 Hierzu Gauja, Legal Regulation of Political Parties, ELJ 2016, S. 4 passim. 197 Katz/Cross, Intra-Party Democracy, in: dies. (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 1 (2 f.): „Like democracy itself, the definition of IPD [innerparteiliche Demokratie, Anm. d. Verf.] is essentially contestable. Is it primarily about participation, inclusiveness, centralization, accountability, or something else together?“
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Veröffentlichung von Spenden oberhalb von 5.000 GBP. Die fehlende Transparenz, d. h. die fehlende Verpflichtung zu einem parteienrechtlichen Öffentlichkeitsprinzip, war ein Ausfluss aus der Nichtberücksichtigung der Existenz der Parteien im Gesetzesrecht vor den Jahren 1998/2000.198 Anders formuliert: Aus der verfassungsrechtlichen Ignoranz199 des Parteienwesens ergab sich eine völlige Parteienautonomie, in der die allgemeinen und für unincorporated associations geltenden gesetzlich normierten und richterrechtlich entwickelten Grundsätze galten. Hiernach gab es aber keinerlei Publikationspflichten. Weder waren die Parteien im Innenverhältnis ihren Mitgliedern noch im Außenverhältnis der Allgemeinheit gegenüber verpflichtet. Die Conservative Party weigerte sich sogar bis zuletzt, ihre Finanzen zu veröffentlichen.200 Seit dem Jahr 2000 sind die Parteien zur Veröffentlichung ihrer Finanzen verpflichtet. Diese Pflicht trifft sie aber nur gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit. Die „Parteiöffentlichkeit“, d. h. die Mitglieder, werden nur insoweit von dem PPERA 2000 erfasst, als sie, wie jeder andere Bürger, Einblick in die bei der Electoral Commission hinterlegten Rechenschaftsberichte nehmen können.201 Eine besondere rechtliche Stellung kommt ihnen nicht zu.202 Ewing fasst es so zusammen, dass zwar das hergebrachte Prinzip der Parteienautonomie durch das Prinzip der Verantwortung und der Rechenschaftspflicht komplementiert wurde, aber „rather to the public than to their members.“203 2. Zwingende Regelungen der inneren Ordnung aus Publizitätsgründen a) Pflicht zur Einreichung einer Satzung bei der Electoral Commission Um das Ziel der Transparenz der Parteifinanzen zu erreichen, war es notwendig geworden, die Parteien aus dem Zustand der verfassungsrechtlichen Nonexistenz zu holen. Für die Parteien bedeutet dies eine Verpflichtung zum Einreichen ihrer Rechenschaftsberichte durch den Schatzmeister und einer Satzung, aus der hervorgeht, wer für die Partei gegenüber der Electoral Commission vertretungsbefugt ist. 198 Statt vieler Ewing, Cost of Democracy, S. 79 ff.; ders., Transparency, P.L. 2001, S. 542 passim. 199 In dieser Deutlichkeit siehe Barendt, Constitutional Law, S. 149; Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 283. 200 Die Labour Party veröffentlichte ihre Spenden über 5.000 GBP mit Namen des Spenders zumindest ab 1995. Ein rechtshistorischer Abriss dazu bei Ewing, Cost of Democracy, S. 2 ff.; vgl. aus der Zeit vor 1998/2000 ders., Funding of Political Parties, passim m. w. N. 201 Diese Rechenschaftsberichte werden im Internet veröffentlicht unter: https://www.electo ralcommission.org.uk/find-information-by-subject/political-parties-campaigning-and-dona tions/political-parties-annual-accounts (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 202 Anders aber bei den Parteien, die sich unter dem Companies Act 2006 organisiert haben. Zu den dort geltenden Publikationspflichten im Innenverhältnis später. 203 Ewing, Cost of Democracy, S. 76.
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Dennoch schreibt Tim Baedermann im Jahre 2005 unter Verweis auf den Beitrag von Smith zum Parteienrecht aus den späten 1980er Jahren, dass auch heute die Parteien keine weiteren rechtlichen Voraussetzungen erfüllen müssen. Sie müssten „weder über eine Organisation noch über eine Satzung verfügen.“204 Dies entspricht gleichwohl nicht der seit 1998/2000 geltenden Rechtslage. Nach ss. 28(1)(a) i. V. m. Sch. 4 para. 5(1)(a) PPERA 2000 ist eine constitution (Satzung) bei der Electoral Commission einzureichen. In s. 26(9) wird die constitution definiert als jedes Dokument, das allein oder i. V. m. anderen Dokumenten die Struktur und Organisation einer Partei festlegt.205 Obschon eine Partei unabhängig von ihrer Registrierung bei der Electoral Commission eine Partei im allgemeinen Rechtssinne ist, erhält sie die wahlrechtlichen und parteienfinanzierungsrechtlichen Privilegien – das Recht zur Teilnahme an Wahlen und bspw. die Zuweisung der öffentlichen Fraktions- und Parteitagssicherheitskostenfinanzierung – erst durch die Registrierung.206 So wird der Partei erst durch Registrierung der verfassungsrechtliche Parteienstatus verliehen.207 b) Erforderliche Positionen: Parteiführer, nominating officer und Schatzmeister Der PPERA 2000 sieht in s. 24(1)(a) – (c) drei von einer jeden Partei zu besetzende Positionen vor: den party leader, den nominating officer (etwa: Wahlkampfleiter) und den treasurer (Schatzmeister). Zusätzlich findet in s. 42 PPERA 2000 auch das management committee (i. S. e. Parteivorstandes) Berücksichtigung. Letzteres ist indes kein verpflichtendes Parteiorgan. Nach der dortigen s. 42(b)(i) sind die vom Schatzmeister zu erstellenden annual statements (Rechenschaftsberichte) vom management committee zu genehmigen, allerdings nur sofern ein solches vorhanden ist.208 Andernfalls reicht die Genehmigung durch den Parteiführer aus, den jede Partei haben muss. Die Transparenz- und Publizitätspflichten setzen also im Grundsatz nur die Existenz der Ämter des Parteiführers und des Schatzmeisters voraus.
204 Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 105 m. w. N. Sein Werk stammt aus den Jahren 2005 und 2006. Darin verweist er allerdings auf den inzwischen durch den PPERA 2000 überholten Beitrag von Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (328). 205 Wortlaut der Norm: „Constitution in relation to a party, means the document or documents (of whatever name) by which the structure and organisation of the party is determined.“ 206 Insofern ist Baedermann zu widersprechen, da er von der Partei im wahlrechtlichen Sinne in seiner Arbeit ausgeht. So beschäftigt er sich mit dem Einfluss des Wahlrechts auf das Parteiensystem: Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, passim. 207 Zur Auswirkung der Registrierung auf das Demonstrationsrecht einer Partei siehe erneut Chief Constable of the Bedfordshire Police v Golding [2015] EWHC 1875 QB. 208 Wortlaut der Norm: „A statement of accounts […] must be approved by the management committee of the party, if there is one.“ (Herv. d. Verf.).
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Des Weiteren muss in einer jeden Partei, die unter diesem Gesetz registriert ist und die keine minor party (etwa: Rathausparteien)209 ist, der für die Teilnahme an Wahlen erforderliche nominating officer in der Satzung vorgesehen sein. Nur dieser ist berechtigt, Kandidatenlisten und Einzelkandidatennominierungen der Partei bei der Electoral Commission einzureichen. Ferner bestimmt er über die Verwendung des Parteinamens und des Parteiemblems durch Kandidaten und er darf Missbräuche durch spoiler candidates bei der Electoral Commission rügen, siehe ss. 24(3), 22(6) PPERA 2000.210 Die sich aufdrängende Frage, ob die Ausübung dieser drei Ämter in Personalunion möglich ist, beantwortet s. 24(1) PPERA 2000: Der Parteiführer kann auch nominating officer und/oder treasurer sein. Der Gesetzgeber hat dabei allerdings offengelassen, ob eine Ämterhäufung auch in einer anderen Konstellation möglich ist. Davis vertritt im Jahr 2001 dazu die Ansicht, dass grundsätzlich eine Person alle drei Ämter innehaben könne.211 Dagegen legte die u. a. für die Registrierung der Parteien zuständige Electoral Commission im Jahr 2003 fest, dass Parteien „may comprise only the two people registered as party officers.“212 In ihrer aktuellen Handreichung zur Registrierung politischer Parteien präzisiert sie diese Forderung. So können gemäß s. 24(1) PPERA 2000 alle drei Ämter durchaus vom Parteiführer in Personalunion ausgeübt werden. Derweil verpflichtet die Electoral Commission in diesem Falle eine Partei, eine weitere Person als „additional officer“, der „some specified office“213 ausüben muss, zu bestellen.214 Welche Funktion dieses Amt konkret haben soll, wird in der Handreichung nicht näher ausgeführt. Außerdem konstatiert die Electoral Commission, dass nach dem Wortlaut der vorgenannten Norm die Ämter des nominating officers und des Schatzmeisters nicht von einer Person besetzt werden können, die nicht zugleich auch Parteiführer ist.215 Auch Ewing weist auf die Problematik hin, die sich aus der Verbindung des Parteiführeramtes und des Schatzmeisters ergeben kann: Der Parteiführer geneh209
2000.
Minor parties streben nur die Teilnahme an Kommunalwahlen an, vgl. s. 34 PPERA
210 Auch dies ist ein Ergebnis aus den Fällen, in denen sich spoiler candidates aufstellten. Mit der zentralen Ansprechperson für die Electoral Commission in den registrierten Parteien soll sichergestellt werden, dass eingereichte Kandidaten auch von der Partei tatsächlich nominiert sind. Zum Ganzen Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (247). 211 Davis, Political Freedom, S. 61, kurz: „[O]ne person can combine all three roles.“ 212 Electoral Commission (Hrsg.), Review of the PPERA 2003, para. 4.5. In para. 4.8 drückt sich die Kommission unklarer aus, indem sie konstatiert, dass eine Partei verpflichtet sei „only to have two different registered party officers“. 213 Electoral Commission (Hrsg.), Registering a Political Party, S. 9. 214 Die Electoral Commission erfüllt nicht nur exekutive Aufgaben, sondern gewissermaßen auch legislative. Sie schafft Regeln für die Registrierung der Parteien und ihrer Publizitätspflichten. Daher kann sie auch die Funktion des zusätzlichen officers festlegen. Vgl. Oliver, Electoral Commission, P.L. 1999, S. 585 passim; Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (565 f.). 215 Electoral Commission (Hrsg.), Registering a Political Party, S. 9.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
migt, wie oben aufgezeigt, die Rechenschaftsberichte des Schatzmeisters. Er ist damit die „party’s own internal auditing machinery“216. Währenddessen ist der Schatzmeister für die Einhaltung der Veröffentlichungspflichten gegenüber der parteiexternen Öffentlichkeit, d. h. speziell gegenüber der Electoral Commission, verantwortlich, siehe s. 24(4) PPERA 2000.217 Überträgt man Ewings Ausführungen auf die Forderung der Electoral Commission, so wird mit einem additional officer der Sinn und Zweck des Gesetzes mit Blick auf ein innerparteiliches Finanzauditsystem erfüllt. Wenn nämlich die Ämter des parteiinternen Kontrolleurs und des Kontrollierten von ein und derselben Person ausgeübt würden, wären die in den o. g. Normen zum Ausdruck gekommenen minimalen gesetzgeberischen Anforderungen an die innere Ordnung im Hinblick auf die interne und externe Transparenz nicht gewahrt. 3. Fakultative Regelungen der inneren Ordnung a) Mitgliedschaftsprinzip aa) Mitgliederpartei als parteienrechtliche Universalie Politische Parteien sind international betrachtet weithin uniform nach dem Mitgliedschaftsprinzip organisiert.218 Damit korrespondiert auch oftmals die jeweilige nationale Parteiengesetzgebung, in der das Modell der Mitgliederpartei rechtlich verankert ist.219 Parteimitglied und Partei stehen folglich in einem Rechtsverhältnis zueinander, das als Mitgliedschaftsverhältnis bezeichnet wird. Dieses Mitgliedschaftsverhältnis ist die Summe sämtlicher rechtlicher Beziehungen zwischen der Partei und dem Mitglied. Demnach beinhaltet sie die gegenseitigen Rechte und Pflichten.220 Die weitere Ausgestaltung einzelner Rechte und Pflichten ist überwiegend dem Vertragsrecht anheimgestellt. International kann
216
Ewing, Cost of Democracy, S. 78. Siehe s. 24(8) PPERA 2000. 218 Ausnahmen sind Einmannparteien, wie z. B. in den Niederlanden oder in Frankreich. Dazu Ewing, Cost of Democracy, S. 32 m. w. N.; vgl. auch die interdisziplinären Analysen von Janda, Political Parties, S. 5 ff.; Gauja, Construction of Party Membership, EJPR 2015, S. 232 passim m. w. N. Als ein – durchaus vielfach kritisiertes – politikwissenschaftliches Standardwerk zur Professionalisierung der Parteien, der Reduzierung der Parteimitgliederbasis unter gleichzeitiger Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten für die wenigen Verbliebenen seit den 1990er Jahren gilt Katz/Mair, Changing Models of Party Organization, P.P. 1995, S. 5 passim. 219 Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (187 ff.). 220 So die Definition bei Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (183 f.) und auch von Scarrow, Parties and Their Members, S. 16. 217
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deshalb von einer Dominanz des zivilrechtlichen Mitgliedschaftsmodells gesprochen werden.221 Dieses liegt auch im Vereinigten Königreich vor.222 Im Unterschied zum Vereinigten Königreich knüpfen einige Rechtsordnungen Konsequenzen für das Außenverhältnis der Parteien (zum Staat) an die Existenz und die Ausgestaltung als Mitgliederpartei. Hinsichtlich der rechtlichen Anerkennung als Partei kann die wahlrechtliche Zulassung als Partei betroffen sein. Diese wird bisweilen von sehr konkreten Mindestmitgliederzahlen abhängig gemacht,223 wie etwa ss. 366, 390 Canada Elections Act 2000 zeigen.224 In Deutschland ist gar die gesamte Anerkennung als politische Partei abhängig von der Erfüllung des Kriteriums der Ernsthaftigkeit, die wiederum u. a. anhand der Zahl ihrer Mitglieder (§ 2 Abs. 1 Satz 1 PartG) bemessen wird.225 Dass Parteien zum Mitgliederprinzip von Gesetzes wegen verpflichtet werden, liegt an ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung. Als Transmissionsriemen sollen und dürfen sie keine black boxes226 sein, zumal ihre interne Struktur und ihre Entscheidungsprozesse maßgeblich für die Gestaltung der Politik außerhalb der Parteien sind. Damit sich aber nach Fraenkel die Demokratie im Staate entfalten kann, bedarf es auf der ersten Stufe der staatlichen Regelungen zur Parteienorganisation einer Verpflichtung auf das Mitgliedschaftsprinzip. Auf der zweiten Stufe ist die Konkretisierung desselben im Sinne der innerparteilichen Demokratie erforderlich. Das Mitgliedschaftsprinzip wird mithin zur notwendigen Bedingung für die innerparteiliche und letztlich für die staatliche Demokratie.227 Auch Länder des Common Law-Rechtskreises knüpfen staatliche Forderungen nach innerparteilicher Demokratie unmittelbar an das Mitgliedschaftsprinzip an. In Neuseeland ist in s. 71 A(b) Electoral Act 1993 gefordert, dass eine Partei mindestens 500 Mitglieder haben muss
221
Rechtsvergleichend dazu Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (187 ff.) m. w. N., u. a. auf das zivilrechtliche Modell im Vereinigten Königreich und in Deutschland. 222 Statt vieler Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 m. w. N. 223 Eine rechtsvergleichende, schematische Übersicht verschiedener Länder beinhaltet Gauja, Political Parties and Elections, S. 72. 224 Nach dem kanadischen Bundesrecht sind 250 Mitglieder erforderlich, vgl. Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251). 225 Das deutsche Parteiengesetz sieht zwar keine Mindestmitgliederzahl vor, gleichwohl ist für die Zuerkennung der Parteieneigenschaft als Richtschnur der erkennbare Wille der Partei auf Ausweitung über den Kreis der Gründungsmitglieder hinaus entscheidend. Vgl. Morlok, Nomoskommentar Parteiengesetz, § 2 Rn. 10 m. w. N. 226 Vgl. bei Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (183). 227 Siehe nur Katz/Cross, Intra-Party Democracy, in: dies. (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 1 (1 ff.) m. w. N.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
und die Mitglieder bei Kandidatenaufstellungen nach „democratic procedures“ (s. 71) zu beteiligen sind.228 bb) Kein Bekenntnis des britischen Parteiengesetzes zur Mitgliederpartei Ein solches Bekenntnis zur Mitgliederpartei kennt das britische Parteiengesetz nicht.229 Jedenfalls nicht, wenn das Mitgliedschaftsprinzip qualitativ in Bezug auf das Erfordernis einer pluralen demokratischen Meinungsbildung in Parteien230 und quantitativ i. S. v. mehr als einem erforderlichen Mitglied zu verstehen ist. Der PPERA 2000 verlangt nur ein einziges Mitglied zur Registrierung der Partei. Diese aus einer Person bestehende Mitgliederschaft231 entbehrt jeglicher minimaler Anforderungen, die ein Gesetzgeber an eine plurale innerparteiliche Demokratie anlegen könnte. Somit ist zu Kenntnis zu nehmen, dass auch qualitativ betrachtet das „British law lacks even a minimum membership requirement.“232 Konsequenterweise fehlt es im Gesetz an einer Definition der Parteimitgliedschaft, ihrer Rechtsnatur und etwaiger Rechte und Pflichten von Partei und Mitglied.233 Nichtsdestoweniger finden sich im PPERA 2000 Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber von der Mitgliederpartei als die de facto vorherrschende Erscheinungsform234 der Parteien ausgeht. Darauf weisen mehrere Regelungen hin, so etwa Part IV des Gesetzes unter der gesetzlichen Überschrift „Control of donations to registered parties and their members“. Die s. 71 i. V. m. Sch. 7 des Gesetzes regelt hier die Kontrolle der Spendengelder, die an „individual members of registered parties“ und „associations of such members“ gerichtet sind. Nach Sch. 7 para. 1(6) meint members association jede Organisation, deren Mitglieder ganz oder überwiegend aus Mitgliedern einer unter diesem Gesetz registrierten Partei bestehen.235 228 Zur neuseeländischen Regelung und mit einer Kritik der fehlenden konkreten Anforderungen des Gesetzes an demokratische Prozeduren vgl. Gauja, Political Parties and Elections, S. 71 f.; dies., Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251 f.). 229 Die Parteimitgliedschaft wird begründet durch Vertrag, der grundsätzlich keinen Restriktionen unterworfen ist, vgl. Bennie, Party Membership in Britain, in: van Haute/Gauja (Hrsg.), Party Members, S. 169 (170). 230 Gauja, Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251) weist darauf hin, dass aus der bloßen Forderung des Mitgliedschaftsprinzips in Parteien nach dem australischen Recht dort nicht die Konsequenz gezogen wird, dass die Mitglieder „be integrated into decisionmaking in any way“. 231 Sowie – in diesem Fall – einen nicht weiter definierten additional officer. 232 Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (343); vgl. auch bei Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6: „Political parties are under no official obligation to publish membership data.“ 233 Vgl. Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6: „There is no commonly agreed definition of ,party membership‘.“ 234 Vgl. nur Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 95, 107. 235 Wortlaut der Norm: „,Members association‘ means any organisation whose membership consists wholly or mainly of members of a registered party.“
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Jedoch sind diese members associations weder die Partei selbst noch ihre Organe oder Untergliederungen.236 Gemeint sind vielmehr mit einer Partei assoziierte Vereinigungen, wie die Fabian Society oder andere sozialistische und sozialdemokratische Vereinigungen, die zumindest überwiegend aus individuellen Mitgliedern (hier der Labour Party) bestehen. Im Übrigen wären solche bei der Conservative Party die Campaign for Conservative Democracy und bei den Liberal Democrats die Peel Group.237 Auf die Gewerkschaften wäre diese Definition aber nicht anwendbar. Zwar sind die Gewerkschaften selbst Mitglieder in der Labour Party. Die natürlichen Personen, die Mitglieder der Gewerkschaften sind, sind allerdings nicht zwangsläufig Individualmitglieder der Labour Party. Deshalb bestehen die Gewerkschaften a priori nicht, im Einzelfall aber möglicherweise überwiegend oder ausschließlich aus Parteimitgliedern.238 Daneben ist Ewing der Ansicht, dass auch weniger formal organisierte innerparteiliche Faktionen, die z. B. für innerparteiliche Kandidaten Spenden sammeln, unter die Definition fallen und ihre Spenden veröffentlichen müssten.239 Zudem hat der Gesetzgeber im Jahr 2000 die Mitgliedschaft in einer registrierten Partei als Ausschlusskriterium für die Berufung in die Electoral Commission, die Aufsichtsbehörde für Parteien ist, vorgesehen.240 Diese Regelung der „strictly apolitical Commissioners“241 wurde inzwischen mit der Gesetzesänderung aus dem Jahre 2009 gelockert. Mit s. 5 Political Parties and Elections Act 2009 wurde festgelegt, dass vier der neun (maximal zehn) Commissioners von den im House of Commons vertretenen Parteien nominiert werden (vgl. die geänderte s. 1 PPERA 2000). Alle größeren Parteien, insbesondere die Labour Party, Conservative Party und die Liberal Democrats, sahen dies als notwendig an, um auf die Expertise parteipolitisch erfahrener Electoral Commissioners zurückgreifen zu können.242 Zuvor hatte es den medial heftig kritisierten Parteifinanzierungskandal der Labour Party im Jahre 2007 gegeben.243 Als ein Grund für die vormals nur lückenhafte Überwachung durch die Electoral Commission galt das fehlende Wissen der damals amtierenden Commissioners um die internen Finanzierungspraktiken der Parteien. Die parteilosen Commissioners waren ursprünglich ein Vorschlag des Neill-Komi236
Sch. 7 para. 1(6)(a),(b) PPERA 2000: „[T]hat is, the central organisation of a registered party or an accounting unit of such a party.“ 237 Siehe dazu Ewing, Cost of Democracy, S. 97 f. 238 Ewing, Cost of Democracy, S. 98. 239 Ewing, Cost of Democracy, S. 98. 240 Vormals geregelt in s. 3(4)(a) PPERA 2000. Zur alten Rechtslage ausführlich Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (565 f.); Oliver, Electoral Commission, P.L. 1999, S. 585 passim. 241 Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (158). 242 Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (158). 243 James, Quality of Democracy in the United Kingdom, S. 6.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
tees und wurden so in den Regierungsentwurf übernommen und schließlich von der Labour-Mehrheit im House of Commons ins Gesetz aufgenommen. Kritiker sahen bereits im Gesetzgebungsverfahren in der Forderung nach parteipolitisch unabhängigen Commissioners die Gefahr, dass diese die informellen innerparteilichen Abläufe nicht kennen und keine konsequente Überwachung der Parteienfinanzen garantieren könnten.244 Diese Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Schließlich führten die jüngeren Finanzierungsskandale zur Änderung der Zusammensetzung und Wahl der Electoral Commissioners im Jahr 2009. b) Keine Pflicht zur horizontalen oder vertikalen Gliederung der Partei aa) Zulässigkeit zentraler oder dezentraler Parteiorganisationen Obwohl die Parteien verpflichtet sind, ihre finanzielle Struktur gegenüber der Öffentlichkeit bei der Electoral Commission darzulegen, und auch ihre Satzung für ihre wahlrechtliche Registrierung einreichen245 müssen, enthält das britische Parteiengesetz keine weiteren Vorgaben zum Inhalt der Satzung. Einen innerparteilich demokratischen Aufbau sieht das Gesetz nicht vor. Sowenig die Parteien als Mitgliederpartei organisiert sein müssen, existieren auch keine zwingenden Vorschriften zum horizontalen (nationale Organe der Parteien) oder vertikalen (territoriale Gliederung der Parteien) Aufbau der Parteiorganisation. Einzige Ausnahme bei der horizontalen Gliederung ist die Pflicht zur Einrichtung der drei o. g. Organe – des Parteiführers, nominating officers und des Schatzmeisters – die alle von einer Person besetzt sein können. Die vertikale bzw. territoriale Gliederung steht den Parteien gleichsam frei. Das Gesetz lässt in s. 26(2) zwei unterschiedliche vertikale Parteiorganisationsformen zu. Zum einen eine single organisation, in der es zwar regionale Untergliederungen gibt, bei denen diese aber keine eigene Verantwortung für ihre Parteifinanzen tragen. Zum anderen eine central organisation mit einer oder mehreren separaten accounting units (Rechnungslegungseinheit), die für ihre Parteifinanzierung selbst rechenschaftspflichtig sind. Unter diese letztgenannte Variante, „which is designed for organisations with a national office and a number of relatively autonomous constituency parties or associations“246, fallen die drei großen Parteien. 244 HL Deb 11 May 2000 vol. 612 c. 1759. Aus der Literatur Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (254). 245 Die Satzung muss nur bei der Registrierung vorgelegt werden, es verbleibt keine Kopie bei der Electoral Commission, siehe dafür Morris, Parliamentary Elections, S. 122. Die Electoral Commission verfügt demnach nicht stets und zwangsläufig über Parteisatzungen, die sich auf dem neuesten Stand befinden. So auch die Antwort der Electoral Commission auf eine Anfrage eines Bürgers, der eine Kopie der Labour Party-Satzung unter dem Freedom of Information Act 2000 begehrte. Abrufbar unter https://www.electoralcommission.org.uk/__data/ assets/pdf_file/0004/67657/FOI8508-online-version-all-documents.pdf (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 246 Ewing, Cost of Democracy, S. 80.
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Aus dieser Organisationsform ergibt sich eine Eigenverantwortlichkeit des jeweils zu registrierenden Schatzmeisters einer jeden accounting unit. Hierein fällt bspw. die Übermittlung von Jahresabschlüssen, wenn die Gesamtausgaben der einzelnen Entität 25.000 GBP p. a. überschreiten.247 Die Electoral Commission veröffentlicht sämtliche registrierten Rechnungslegungseinheiten einer jeden registrierten Partei im Internet. Dabei zeigt sich, dass die Conservative Party mit 684 die mit Abstand größte Anzahl an accounting units hat.248 Kurz nach Inkrafttreten des Political Parties, Election and Referendums Act 2000 wies Ewing bereits darauf hin, dass neben den Wahlkreisvereinigungen auch andere regional party organisations als Rechnungslegungseinheiten registriert werden.249 Da das Vereinigte Königreich über 650 Wahlkreise zum House of Commons verfügt, sind folglich auch andere Untergliederungen der Parteien als accounting units registriert, so etwa die Jugendoder Frauenorganisationen. Der PPERA 2000 schränkt auch hierbei die von den Parteien gewählten Organisationsformen nicht ein, vielmehr gewährleistet und achtet er mit den Normen der ss. 25, 26 und ff. deren Organisationsautonomie.250 Dabei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Von den drei großen Parteien hatten die Liberal Democrats bereits in den 1980er Jahren eine gänzlich andere Gebietsstruktur gewählt als Labour und Conservative Party. Die Liberal Democrats sind seither die einzige föderal organisierte britische Partei.251 Sie weisen daher auch einzelne Rechenschaftsberichte für 247 Siehe Sch. 5 PPERA 2000. Zudem ist auf lokaler Ebene (d. h. in den Wahlkreisen) die Veröffentlichungspflicht von Wahlkampfausgaben und -einnahmen des einzelnen Kandidaten unter dem Representation of the People Act 1983 zu beachten. Dazu Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (551) m. w. N.; Johnston/Pattie, Local Parties, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 92 (97 ff.); Fisher, Legal Regulation, in: Ewing/ Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 110 passim. 248 Seit 2007 ist eine accounting unit hinzugekommen, vgl. die Zahlen bei Ewing, Cost of Democracy, S. 95; Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 25 f. Die Labour Party hat 664 und die Liberal Democrats haben 434 accounting units. Aktuelle Zahlen abrufbar unter http://search.electoralcommission. org.uk/Search/Registrations?currentPage=1&rows=30&sort=RegulatedEntityName&order= asc&open=filter&et=pp&et=ppm®ister=gb®Status=registered&optCols=EntitySta tusName (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 249 Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (550): „It is expected that the major parties will fall into the latter category and present a scheme based on a central organisation and a number of accounting units which are likely to be the constituency parties or associations. It could also include regional party organisations or other entities within the structure of party organisation.“ 250 Mit s. 25 PPERA 2000 wurde der ebenfalls auf regionaler Ebene in der Parteiorganisation ausgewiesene campaign officer, der für die Einhaltung der finanzierungsrechtlichen Vorschriften nach den Parts V – VII des Gesetzes zuständig ist, als weiterer vom Gesetz gegenüber der Electoral Commission vertretungsbefugter party officer anerkannt. Dies war eine Konzession der großen Parteien an die Liberal Democrats im Gesetzgebungsverfahren. Siehe hierzu Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (250 f.). 251 Eine Tendenz zur Regionalisierung der anderen Parteien zeigt sich in den letzten Jahren durch Parteireformen, insbesondere in dem nach mehr Unabhängigkeit strebenden Schottland, vgl. Convery, Scottish Conservative Party Leadership Election, P.A. 2014, S. 306 (310). Nur die
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
die Federal Party, die English Liberal Democrats, Welsh Liberal Democrats und Scottish Liberal Democrats aus.252 Zudem wurde die besondere mitgliedschaftliche Struktur der Labour Party berücksichtigt. Weder wurden Begrenzungen von Gewerkschaftszuwendungen in das Gesetz aufgenommen noch sind die Gewerkschaften – wenngleich sie korporative Mitglieder der Labour Party sind – in den Rechenschaftsberichten der Partei auszuweisen. Gründe dafür sind die fehlenden rechtlichen Einflussmöglichkeiten der Labour Party auf ihre Mitgliedsgewerkschaften253 und das anderweitige Regelungsregime der Gewerkschaftsfinanzen und ihrer Parteienfinanzierungsbeiträge (sog. political levy) durch den Trade Union and Labour Relation (Consolidation) Act 1992.254 bb) (Un-)verbindliche Vorschläge der Electoral Commission zur Parteienorganisation? Die Electoral Commission empfiehlt ungeachtet der vorgenannten Grundsätze, eine Parteisatzung mit Regelungen zur Struktur der Partei (Gliederung, Parteizentrale, Unterorganisationen) und zum Willensbildungsprozess (Häufigkeit von Vorstandssitzungen, Wahl- und Abstimmungsverfahren), sowie zu den Zielen und zum Programm der Partei zu versehen.255 Dies hat nur Empfehlungscharakter, da dies nicht die originäre gesetzliche Aufgabe der Überwachung des Finanzierungsregimes der Parteien durch die Kommission betrifft. Ungeachtet dessen dürfen die gesetzliche Stellung und die Werkzeuge der Electoral Commission als Aufsichtsbehörde nicht außer Acht gelassen werden. In Ausübung ihres gesetzlichen Auftrages zur Überwachung von Wahlen, Referenden und der Parteienfinanzierung, steht der Electoral schottische Gliederung ist Teil der britischen Conservative Party. Sie genießt derweil weitgehende Freiheiten in der Aufstellung von Parlamentskandidaten, der Wahl des schottischen Parteiführers und seit Kurzem auch ihrer Finanzen. Vgl. auch ders., Devolution and the Limits of Tory Statecraft, P.A. 2014, S. 25 (34 f.) und den Überblick bei Detterbeck, Multi-Level Party Politics, S. 180, 202. 252 Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 25 f. 253 Schließlich handelt es sich bei den Gewerkschaften auch um unincorporated associations. Während die Gewerkschaften als Mitglieder der Partei Einfluss auf die Partei nehmen können, kann die Partei dies umgekehrt gerade nicht. Sie ist schließlich kein Mitglied der Gewerkschaften. Siehe zur Mitgliedschaft der Gewerkschaften und daraus gerichtlich einklagbaren Rechten Ewing, Trade Union Question, in: ders./Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 52 (64). Für das Außerachtlassen der mitgliedschaftlichen Verbindung der Gewerkschaften mit der Partei im PPERA 2000 siehe Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 23 ff. m. w. N. 254 So geregelt in s. 26(8) PPERA 2000, eine konzise Darstellung bei Ewing, Cost of Democracy, S. 81. 255 Electoral Commission (Hrsg.), Registering a Political Party, S. 11. Gauja verweist auf die inhaltsgleiche Vorauflage von 2006 (dort S. 13): „However, again these are merely recommendations.“ Gauja, Political Parties and Elections, S. 70 f.; dies., Organisation of Political Parties, CCP 2008, S. 244 (251).
B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen
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Commission eine „wide range of executive and legislative functions“256 zur Verfügung.257 So kann die Electoral Commission nach s. 26(4) PPERA 2000 regulations (Verordnungen) erlassen.258 Mit diesen kann sie den erforderlichen Inhalt der Parteisatzungen konkretisieren.259 Darüber hinaus hat sie die in s. 26(5)(b) PPERA 2000 vorgesehene exekutive Kompetenz, eine eingereichte Satzung und damit die Registrierung der Partei zurückzuweisen, bis die gesetzlich vorgeschriebenen Details über die Struktur der Partei nachgereicht worden sind. Ebendieses Recht behält sich die Electoral Commission ausdrücklich260 für den Fall vor, dass die vorgenannten Kriterien (Aufbau, Willensbildung) nicht nachgewiesen werden. In der Handreichung der Electoral Commission zur Registrierung von Parteien heißt es: „If your constitution does not include the above details [gemeint sind die o. g. Hinweise zur Struktur einer Partei, Anm. d. Verf.] we may ask you to provide us with more information before we accept your application as being complete.“261 Die Electoral Commission macht weder materiell- noch prozessrechtliche Vorschläge, wie die Struktur der Partei konkret sein soll. Die bislang theoretische Frage, ob die Electoral Commission überhaupt die Kompetenz hätte, durch Verordnung bzw. Einzelfallentscheidung in die Satzungen das Demokratieprinzip zu implementieren, könnte deshalb nur verneint werden. Ihre einzige gesetzliche Aufgabe mit Blick auf die Organisation der Parteien ist die Herstellung und Überwachung der finanziellen Transparenz der Parteien.262 Würde – hypothetisch gesehen – eine von der Electoral Commission erlassene Verordnung oder die Zurückweisung einer eingereichten Satzung auf der Forderung nach einer innerparteilich demokratischen Struktur beruhen, so wäre hierdurch ggf. der Gesetzeszweck durch die Kommission 256
Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (565). Vgl. für die exekutiven Kompetenzen ss. 6, 10, 12 PPERA 2000. 257 Vgl. nur Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 166. 258 Nochmals dazu Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (565 f.), der es als legislative Kompetenz bezeichnet. Allgemein zur Electoral Commission sowie zu anderen (independent) statutory bodies mit quasi-legislativen Kompetenzen Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 166 ff. 259 Siehe s. 26(4) PPERA 2000: „The scheme must in every case include such other information as may be prescribed by regulations made by the Commission.“ 260 So s. 26(5)(b) PPERA 2000: „Where a draft scheme is submitted by a party for the Commission’s approval, the Commission may give the party a notice requesting it to submit a revised scheme to them, as they think fit.“ 261 Electoral Commission (Hrsg.), Registering a Political Party, S. 11: „If your constitution does not include the above details we may ask you to provide us with more information before we accept your application as being complete.“ 262 Eine übersichtliche Auflistung der über den gesamten PPERA 2000 verstreuten Kompetenzen findet sich bei Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (253 f.). Diese sind aber durch den Political Parties and Elections Act 2009 geändert und verringert worden, vgl. Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (157 f.).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
missachtet (sog. improper purposes).263 Ihre darauf beruhenden Handlungen wären damit ultra vires und von einem Gericht für void ab initio zu erklären. Denn eine jede betroffene Partei könnte im Wege des judicial review-Verfahrens hiergegen vorgehen.264 Unabhängig von der Möglichkeit, eine solche Handlung der Electoral Commission nachträglich gerichtlich anzugreifen, ist bereits aus einer Gemengelage an politischen und juristischen Erwägungen nicht mit einem über den gesetzlichen Auftrag hinausgehenden Handeln der Electoral Commission zu rechnen. Die von der Electoral Commission verabschiedeten Verordnungen unterliegen wie gezeigt keinem Parlamentsvorbehalt.265 In s. 4 PPERA 2000 ist jedoch geregelt, dass ein Panel der im House of Commons vertretenen Parteien (Parliamentary Parties Panel) Stellungnahmen zu den Vorhaben der Electoral Commission verfasst. Die Electoral Commission wiederum ist nach s. 4(3)(a) gehalten, diese Vorlagen und Stellungnahmen zu berücksichtigen („consider“). Allerdings wird diese Form der parlamentarischen Kontrolle wiederum durch die dortige subsection (4)(b) eingeschränkt, denn der nicht weisungsgebundene body corporate266 kann frei entscheiden, ob sie diesen Vorschlägen folgt oder nicht.267 So wurde bereits in den Plenardebatten im Jahr 2000 deutlich, dass dem Panel vom Parlament eo ipso keine allzu hohe politische Bedeutung beigemessen wird.268 Ebenfalls ist in der Literatur bereits kurz nach Erlass des Gesetzes auf die geringe Relevanz des Parliamentary Parties Panels unter Hinweis auf die fehlende Veröffentlichungspflicht für die der Electoral Commission von dem Panel übermittelten Stellungnahmen hingewiesen worden.269 Hingegen wurde die Electoral Commission wegen ihrer „constitutional importance“270 nicht nur zum Gegenstand der Plenar263 Zum gesetzeszweckwidrigen Handeln von britischen Behörden etwa Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 378 ff. m. w. N. 264 Zur Justiziabilität des Handelns der Electoral Commission siehe Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (566 f.): „The Electoral Commission will be subject to judicial review in the normal way where its decisions are based on irrelevant considerations or are procedurally flawed.“ Grundsätzlich zum judicial review administrativen Handelns Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 177, 180, 238 f., 340 ff. 265 Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (566). 266 Siehe s. 1(1) PPERA 2000. Zur Stellung der Electoral Commission vgl. erneut Ghaleigh, Electoral Commission, in: Ewing/Rowbottom/Tham (Hrsg.), Funding of Political Parties, S. 153 (157 ff.). 267 Die Norm der s. 4(3) PPERA 2000 stellt dies unmissverständlich klar: „[D]ecide whether, and (if so) to what extent, they should act on the representations or information.“ 268 HL Deb 20 November 2000 vol. 619 c. 575. 269 Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (253) dazu: „The Commission will not be bound by the views of the Panel, which is intended to provide a forum for discussion of relevant issues. The Act gives little indication of the importance or otherwise of the role to be played by the Panel: as with the 1998 Act’s Speaker’s Committee, there is no requirement that its advice (or the response of the Commission) be made public.“ 270 Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (253) m. w. N.
B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen
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debatten, sondern auch der Ausschussarbeit im House of Commons gemacht. Dass die Electoral Commission die Parteienregistrierung nicht nur beaufsichtigen, sondern auch kraft eigener Rechtsetzungskompetenz regulieren wird (dies war bereits im Regierungsentwurf vorgesehen), hatte kein Mitglied des Parlamentes – und zwar weder des House of Commons noch des House of Lords – kritisch ins Auge gefasst. Es dürfte daher neben der Feststellung, dass ein Mandat zur Einführung verpflichtender innerparteilich demokratischer Grundsätze durch Verordnung und Einzelfallentscheidung der Electoral Commission schon vom Zweck des Gesetzes her nicht zukommt, vor allem zu berücksichtigen sein, dass die Electoral Commission sich ihrer verfassungsrechtlichen und -politischen Verantwortung bewusst sein wird. Dies wird auch rechtlich dadurch gesichert, dass die Electoral Commissioners von der Krone ernannte Honoratioren sind und seit 2009 fast zur Hälfte von den großen Parteien im House of Commons nominierte Parteimitglieder sind (vgl. nochmals ss. 1 – 3 A i. V. m. Sch. 1 paras. 1 ff. PPERA 2000). Entscheidender ist der Blick auf die verfassungsrechtlichen Traditionen im Vereinigten Königreich. Hier gilt eine gegenseitige politische Anerkennung der historisch gewachsenen und auch der gesetzlich geschaffenen Institutionen. Verbindende Elemente sind Verfassungskonventionalregeln und die ehernen Grundsätze des britischen Verfassungslebens. Zentral ist in Verfassungsleben und Verfassungsrecht das Prinzip der Parlamentssouveränität. Aus Sicht eines deutschen Juristen ist daher die Frage, ob nicht die Electoral Commission über ihr gesetzliches Mandat hinausgehend allgemein gültige – zumindest von den Parteien nicht juristisch angegriffene und damit faktisch-politisch akzeptierte – Festlegungen zur innerparteilichen Demokratie treffen könnte, nicht unberechtigt. Für den britischen Juristen und Praktiker stellt sich diese Frage nicht. Die Kompetenz für ein vom Staat den Parteien auferlegtes parteiinternes Demokratieprinzip liegt einzig beim Parlament. Und das Parlament hat bisher kein solches verfügt.271 c) Zwischenergebnis: Mitgliederprinzip nur im Hintergrund des Parteiengesetzes Der gesetzgeberische Impetus für die Errichtung des Registrierungsregimes der politischen Parteien im Vereinigten Königreich war nicht, einen Status der innerparteilichen Demokratie zu verleihen. Die im Gesetz getroffenen Maßnahmen dienen nicht der innerparteilichen Ordnung, sondern einzig dem Ziel der electoral governance.272 Es geht hierbei um die Überwachung und Gewährleistung eines fairen 271 Hier sei nochmals auf den Companies Act 2006 und die Antidiskriminierungsgesetze verwiesen. Unberührt davon bleibt aber die Rechtsetzungskompetenz der Gerichte im Common Law, das seinen Niederschlag in den o. g. Grundsätzen der natural justice gefunden hat. 272 Mozaffar/Schedler, Electoral Governance, IPSR 2002, S. 5 passim, die electoral governance mit drei Prozessen erklären: process of rulemaking, rule application und rule adjudication. Entscheidend ist hier der zuerst genannte Prozess. Mit dem PPERA 2000 wurde die Electoral Commission als Instrument der Kontrolle für demokratische Wahlen eingerichtet.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
und offenen, transparenten politischen Prozesses zwischen den Parteien. Betont wird somit das Parteienrecht als Wettbewerbsrecht.273 Nach der politischen und rechtlichen Tradition der Common Law-Länder obliegt es den Parteien in ihrer grundsätzlich gewählten Rechtsform als unincorporated associations, das Prinzip der Mitgliederpartei und das der innerparteilichen Demokratie auszugestalten.274 Mit den verschiedenen Gestaltungsoptionen für die horizontale und vertikale Parteiorganisationsstruktur in s. 22 ff. PPERA 2000 betont der Gesetzgeber diese historisch gewachsene Autonomie der Parteien.275 Das Mitgliedschaftsprinzip schwebte nichtsdestoweniger über dem Gesetzgebungsprozess in den Jahren 1999/2000 und auch über der Gesetzesänderung aus dem Jahr 2009 (Political Parties and Elections Act 2009). Die bei der letzten Gesetzesänderung regierende Labour Party hielt den „respect for the internal membership structures of political parties“276 für eine nicht zu verändernde Grundmaxime der Parteiengesetzgebung. Auch die Electoral Commission beschäftigte sich mit den Vorschlägen der Beschränkung von individuellen Spenden (etwa dem political levy der Gewerkschaften) und hielt als Argument gegen die Einführung solcher restriktiver Maßnahmen der privaten Parteienfinanzierung fest, dass dies „could inadvertently and unjustifiably affect the constitutional or membership structure of political parties.“277 Betroffen gewesen wäre insbesondere die Labour Party, da die Zuwendungen der Gewerkschaften aus dem political levy als Spende nach s. 50 Über die innerparteilichen Wahlen trifft der PPERA keine Aussagen und diese sind mithin der Überwachung durch die Electoral Commission entzogen. Vgl. James, Quality of Democracy in the United Kingdom, S. 5 ff. m. w. N. 273 Für das Parteienrecht in Common Law-Nationen siehe Gauja/Smith, Understanding Party Constitutions, P.P. 2010, S. 755 (771): „Constitutions as weapons in inter-party competition.“ Vgl. allgemein nur Brettschneider, Ökonomische Theorie, passim, der allerdings innerparteiliche Demokratie für keine Bedingung im zwischenparteilichen Wettbewerb hält (S. 49 f.); Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 26 m. w. N.; rechtsvergleichend ders., Zukunft, in: Tsatsos/Venizelos/Contiades (Hrsg.), Political Parties, S. 39 (53, 56 ff.). 274 Hier nochmals und anstelle aller Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (343). 275 Vgl. zur Organisationsfreiheit der Parteien erneut Ewing, Cost of Democracy, S. 66 ff. 276 So die Überschrift des Beitrags der Labour Party und Regierung im Bericht des Constitutional Affairs Committee des House of Commons, vorgetragen von Ian McCartney, Labour Party Chair: „As has already been stressed, it is important that the review respects the membership and constitution of political parties. We believe that all our affiliates must remain an integral part of the Labour party. Our link is one that is based on values, not simply finances. […] An affiliated organisation is different: business may give money to any particular political party or parties, but they are not a component element of the party, as an affiliated organisation is. We believe our internal membership structures are open and transparent and are happy to discuss this matter if raised with the Review.“ T.S.O. (Hrsg.), House of Commons, Constitutional Affairs Committee, Party Funding, First Report of Session 2006 – 07, vol. II, HC 163-II, S. Ev. 56. Dazu auch Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 39. 277 Electoral Commission (Hrsg.), The Funding of Political Parties, para. 5.41.
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PPERA 2000 gewertet werden (nicht als Mitgliedsbeiträge) und diese beschränkt worden wären.278 4. Indirekte Auswirkungen der Parteiengesetze von 1998 und 2000 a) Satzungsreform und Gründung der Conservative Party Konkrete Vorgaben zur inneren Ordnung unterließ das britische Parlament mit den beiden Parteiengesetzen von 1998 und 2000 bewusst.279 Gareth Williams (Baron Williams) hielt in der Plenardebatte im House of Lords fest, dass die von seiner Partei gestellte Regierung mit dem Gesetz keinerlei Absichten hegte, in der inneren Ordnung der Parteien zu intervenieren. Auch wollte die Regierung keine bestimmte Organisations- oder Rechtsform, programmatische Ziele (wie die Teilnahme an Wahlen) zur Parteiendefinition oder Wahlmodi für die Kandidatenselektion oktroyieren.280 Die Konsequenz für die Conservative Party aus dem Erlass des Gesetzes war nichtsdestoweniger, dass sie sich im Laufe des Jahres 1998 mit ihrer Satzungsreform dem neuen Wahl- und Parteiengesetz anpasste. Schließlich wollte sie an den Europawahlen im Folgejahr teilnehmen. So gab sich die Conservative Party mit dem Fresh Future-Programm unter William Hague fast zeitgleich mit dem Erlass des Registration of Political Parties Act 1998 eine neue Struktur, wie sie die Labour Party und die Liberal Democrats bereits hatten. Zuvorderst umfasste dies die Gründung der Conservative Party als eine einzige unincorporated association und als unter dem PPERA 2000 registrierte Partei.281
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Zum Ganzen Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 35. 279 Gay, British Elections, P.L. 1999, S. 185 (192 f.): „[B]ut does not otherwise regulate the internal affairs of political parties.“ Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das neue Wahlrecht nicht Einfluss auf die innerparteiliche Demokratie hatte – so stellt Gay fest „new electoral system hastened the transfer of power over selection of candidates from local to central“. 280 „I emphasise that the way a party is to be organised, how it selects candidates and what its aims and objectives are to be, all remain for each party to determine individually in accordance with its own rules or constitution. Any organisation, large or small, will be able to register provided that it intends to contest an election.“ HL Deb 8 October 1998 vol. 593 c. 659. Vgl. ebenso Ewing, Cost of Democracy, S. 77 f. 281 Gemäß Art. 94 Constitution i. V. m. Sch. 10 wurde die Partei formal gegründet; Überblicke zur Gründung der Conservative Party bzw. der Parteireform aus politikwissenschaftlicher Sicht bei Bale, Conservative Party, S. 66 ff. sowie mit rechtlichem Einschlag bei Webb, British Party System, S. 195 ff. Eine Anmerkung dazu findet sich auch in der juristischen Literatur bei Gay/Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 6: „The structures of political parties change relatively frequently, often in quite significant ways, as has been seen very recently with the Conservative Party. See its new constitution published in February 1998.“
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
b) Keine Obergrenze für korporative Mitgliedsbeiträge: keine Umorganisation der Labour Party nötig Die Conservative Party und die Labour Party stimmten gegen die Forderung der Liberal Democrats nach einem contribution limit (einer Obergrenze für private Spenden).282 Diesen Vorschlag hatte bereits die Mehrheit im Neill-Komitee abgelehnt.283 Speziell die Labour Party war an der Nichtumsetzung dieses Vorschlages der Liberal Democrats, einiger Rechtswissenschaftler284 und Politologen interessiert, weil sie seit ihrer Gründung von den Gewerkschaftsbeiträgen abhängig war.285 Eine Obergrenze von privaten Spenden wäre für die Labour Party schlechthin nicht zustimmungsfähig gewesen, da diese Vorschläge nicht zwischen Spenden und Mitgliedsbeiträgen differenzierten. In dem Falle der Einführung einer nicht weiter differenzierenden Obergrenze für private Zuwendungen wäre der seit dem Trade Union Act 1913 geltende modus vivendi der Partei möglicherweise nicht fortsetzbar gewesen. So sprach der Trade Union Act 1913 (und seine Folgeregelungen bis heute) bei den Beiträgen, den die Gewerkschaften an die Labour Party zahlen, nur unscharf von Zuwendungen aus den Sonderbeiträgen (contributions und political funds).286 Die damit gemeinten Zahlungen der Gewerkschaftsmitglieder (sog. political levy) werden dort nicht als (Partei-)Mitgliedsbeitrag ausgewiesen.287 Die schließlich in Abstimmung der beiden großen Parteien in den PPERA 2000 eingefügten Regelungen (s. 50) erlauben weiterhin die unbeschränkte Zuwendung von Gewerkschaftsgeldern als Spenden an die Labour Party.288
282 Einen Überblick über das Thema gibt Ewing, Political Donations, in: ders./Issacharoff (Hrsg.), Party Funding, S. 57 passim. 283 H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, paras. 6.14 ff. 284 Vgl. nur Rowbottom, Political Donations, P.L. 2002, S. 758 passim. 285 In den 1980er Jahren waren es noch über 80 %, im Jahr 1996 noch 35 % der gesamten Parteieinnahmen, siehe H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, para. 6.31. 286 So z. B. in s. 82(1)(a) Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992: „[P]ayments in the furtherance of the political objects to which this Chapter applies shall be made out of a separate fund (the ,political fund‘ of the union)“. 287 Zum Ganzen Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 157 f. m. w. N. 288 Dies wurde auch nochmals im Gesetzgebungsverfahren zum Political Parties and Elections Act 2009 debattiert und abgelehnt, vgl. Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 30 ff.
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5. Zwischenergebnis: Parteisatzungen als responses to specific challenges Die Entwicklung der Parteiorganisationen in den späten 1990er Jahren kann aus einer politologischen und juristischen Sichtweise betrachtet werden. Zwar ist in dem purpose of the legislation (Gesetzeszweck), der sich aus den vom Neill-Komitee aufgestellten sieben Grundprinzipien des öffentlichen Lebens ergibt, nicht explizit von innerparteilicher Demokratie die Rede. Es sind aber die Grundprinzipien einer jeden demokratischen Willensbildung enthalten. Dennoch sind weder der Grundsatz der Ämtertrennung noch der einer territorialen Gliederung in die verfassungsrechtlichen Geburtsurkunden der Parteien geschrieben worden. Es steht den Parteien vielmehr frei, sich zu organisieren, wie sie es für richtig befinden.289 Daraus den Schluss zu ziehen, die britischen Parteien seien undemokratisch organisiert, wäre verfrüht. Erneut kommt an dieser Stelle der britische Liberalismus zum Ausdruck. In allen drei großen Parteien sind die zentralen, im Gesetz vorgesehenen Ämter (insbesondere Parteiführer und Schatzmeister) qua Satzung oder in der Praxis personenverschieden besetzt. Das Mitgliederprinzip und die Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerwahl sind ebenfalls festgeschrieben.290 Jede der drei großen Parteien verfügt, bar einer gesetzlichen Verpflichtung, über zig hunderte finanziell von der Zentralpartei de jure unabhängige accounting units. In einer interdisziplinären Untersuchung stellten Gauja und Rodney Smith bei australischen Parteisatzungen einige Imperative für ihre historische Entwicklung und die heutige Ausgestaltung der innerparteilichen Demokratie auf. Danach sind die Parteisatzungen in den vergangenen Jahrzehnten zunächst Resultate der geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen. Zudem sind sie aus politikwissenschaftlicher und soziologischer Sicht als „public pronouncements of ideological principles“, als „sources of legitimacy“, als „tools for the management of political conflict“ und als „weapons in inter-party competition“ zu verstehen.291 Sie dienen damit dem interund intraparteilichen Wettbewerb. Diese Ergebnisse können auf das Vereinigte Königreich übertragen werden, nicht zuletzt wegen des gemeinsamen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Common Law-Erbes. Anders als in Australien fällt es wegen der schlicht nicht existierenden gesetzlichen Zwänge auch nach 1998 bzw. 2000 den britischen Par289 Es ist – nach hier vertretener Auffassung – in Bezug auf die Idee vom Parteienrecht als Wettbewerbsrecht eher eine unsichtbare Hand des Marktes, die dazu führt, dass eine a priori undemokratisch organisierte Partei auf dem electoral market im Vereinigten Königreich keine Chancen haben dürfte. Schließlich ist das britische Volk der politische Souverän und dürfte wohl seine eigene Souveränität nicht durch eine – bereits de jure – undemokratisch organisierte Partei unterminieren lassen wollen. Anders indes zu den Wahlchancen einer streng hierarchisch gegenüber einer demokratisch organisierten Partei, in der es zu innerparteilichen Konflikten kommen kann, die wiederum die Außendarstellung schädigt und damit die Wahlchancen verringert aber Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 109. 290 Vgl. dazu Morris, Parliamentary Elections, S. 122. 291 Vgl. Gauja/Smith, Understanding Party Constitutions, P.P. 2010, S. 755 (764 ff.).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
teien weiterhin anheim, ihre Satzungen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Positivrechtlich ist die Organisationsfreiheit der Parteien die Voraussetzung, die Gestaltung nach politischen Gesichtspunkten vorzunehmen, wie es Gauja und Smith auch für australische Parteien festhalten. Im Vereinigten Königreich ist die Satzung nach ideellen Vorstellungen und sogar allgemeinpolitischen Zielen möglich. Deshalb sind autokratische und parteiführerzentrierte Parteien ohne jegliche Form der Mitgliederbeteiligung durchaus (rechtlich und politisch) möglich. Umgekehrt steht es frei, die politische Legitimität des Führungspersonals und des Parteiprogramms bspw. durch eine möglichst weite Mitgliederbeteiligung in der Parteisatzung zu suchen. Zusätzlich dazu ist festzuhalten, dass die Kartellparteienthese der Politologen Katz und Mair eine explizit erwähnte wesentliche Grundlage der Empfehlungen des Neill-Komitees darstellte.292 Die Politikwissenschaftler Paul Webb und Ruud Koole heben hervor, dass jener festgestellten Tendenz zur Kartellierung der mächtigsten Parteien durch die Implementierung der sieben Prinzipien des politischen Lebens aus dem Neill-Bericht in dem Parteiengesetze von 2000 entgegengewirkt werden sollte.293 Ob die beiden großen britischen Parteien gerade durch die oben dargelegten Absprachen bezüglich der unbegrenzten Zulassung von korporativen Mitgliedsbeiträgen bzw. Spenden und der Unberührtheit der Parteiorganisationsfreiheit im Gesetzgebungsprozess die Kartellparteienthese bestätigt haben oder ob diese beiden Aspekte der regulativen Zurückhaltung des Gesetzgebers nicht eher die liberale Tradition des britischen Politik- und Rechtsverständnisses betonen, kann in der vorliegenden Arbeit nur offengelassen werden. Es bleibt nur zu konstatieren, dass sich mit der formalen Gründung der Conservative Party – als Ausgangspunkt für die weiteren satzungsrechtlichen Festsetzungen zur Parteiführerauswahl – die drei großen, und vormals so unterschiedlich historisch gewachsenen wie satzungsrechtlich verfassten Parteiorganisationen am Ende der 1990er Jahre gleichzeitig mit der verfassungsrechtlichen Normierung des Parteiwesens einander angenähert haben.
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Ausdrücklich zur Ablehnung einer ausgedehnten öffentlichen Parteienfinanzierung siehe H.M.S.O. (Hrsg.), Fifth Report, Standards in Public Life: The Funding of Political Parties, Cmnd. 4057-I/1998, para. 7.22: „A fourth argument against increased state funding of the parties is that such a development would make the parties, in effect, part of the state […]. On the continent of Europe, there is talk of ,cartel parties‘, which use state funding and the state apparatus increasingly to further their own ends rather than those of the citizens they claim to represent.“ 293 Webb, Parties and Party Systems, P.A. 2001, S. 308 (318); Koole, Political Finance, in: Nassmacher (Hrsg.), Democracy, S. 73 (79 f.).
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II. Exkurs: Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie aus dem Companies Act 2006 1. Randparteien in der Rechtsform der private company limited by guarantee Von den in den letzten Jahren im House of Commons und im House of Lords vertretenen Parteien294 ist mit UKIP nur eine einzige als private company limited by guarantee nach s. 4(1) Companies Act 2006 organisiert.295 Diese Rechtsform nimmt eine besondere Stellung unter den private companies ein. Zwar ist sie grundsätzlich für „klassische“ Unternehmen wählbar, die am wirtschaftlichen Leben teilnehmen wollen. Konzipiert wurde sie aber für soziale, wissenschaftliche u. ä. Zwecke.296 Aus dem Grunde stellt sie eine Körperschaftsform sui generis dar. Der überwiegend nichtwirtschaftlichen Nutzung entsprechend, benötigt sie weder Stammkapital noch sind die an ihr partizipierenden natürlichen oder juristischen Personen Anteilseigner, sondern guarantors (Garantiegeber).297 Alle members (Mitglieder) geben bei ihrem Eintritt eine Garantieerklärung dafür ab, dass sie den im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Beitrag in die Gesellschaft einzahlen, wenn – und nur wenn – diese Gesellschaft liquidiert wird, vgl. s. 11(3) Companies Act 2006, s. 74(3) Insolvency Act 1986.298
294 Seit den Wahlen zum House of Commons im Jahr 2017 ist UKIP mit keinem Abgeordneten mehr vertreten. Im House of Lords hatte die Partei bis Ende 2018 zwei Sitze, bis Ende 2019 sodann nur noch einen Sitz. Für andere Partikularparteien siehe etwa http://www.theradi calparty.uk/legal-status (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). Historisch war wohl die Referendum Party die erste derart organisierte Partei. Zum politischen Wirken der Referendum Party siehe Heath/Jowell/Taylor/Thomson, Referendum Party, BEPR 1998, S. 95 passim. Die Rechtsform der damaligen Partei wird diskutiert im Urteil des High Court in der Sache Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 Q.B.D. (407, 409) – Buckley J: Die Referendum Party „is a company limited by guarantee but better known as a new political party which put up 547 candidates at the last election“. 295 So heißt es in Art. 2.2.2 UKIP-Constitution: „The Party exists as a Limited Liability Company registered with Companies House (Registration Number: 05090691) in accordance with the Companies Act 2006.“ Vgl. auch UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 para. 8 – Potter LJ: „UKIP is […] a company limited by guarantee.“ 296 Hannigan, Company Law para. 1.37. Mit Darstellung des Weißbuches der Regierung vor dem Gesetzgebungsverfahren des Companies Act 2006 siehe Dignam, Company Law S. 46 ff.; Hudson, Equity & Trusts, 6. Aufl., S. 1004. Die company limited by guarantee hat aber an Funktion für charities verloren, da seit 2006 die Organisation als charitable incorporated organisation möglich ist, so O’Halloran/McGregor-Lowndes/Simon, Charity Law, S. 575. 297 So auch kurz zusammengefasst bei Hudson, Equity & Trusts, 6. Aufl., S. 1004. 298 Vgl. Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 52 f. Zumeist ist dies 1 GBP.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
2. Weitgehende Nichtbeachtung dieser Rechtsform in der Parteienforschung Die als private company limited by guarantee organisierten Parteien sind in der parteienrechtlichen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben.299 Tatsächlich haben am Wahlerfolg gemessen eher unbedeutende Parteien diese Rechtsform gewählt. Allerdings gab es Überlegungen in der Labour Party im Jahre 2008, sich in ein von der Times als „Labour Ltd“300 bezeichnetes Unternehmen umzuwandeln. Anlass hierfür bot die bei unincorporated associations mangels Rechtspersönlichkeit drohende unbeschränkte persönliche Haftung der (Vorstands-)Mitglieder, die im Nachgang des Parteifinanzierungsskandals 2007 einige von ihnen in die Privatinsolvenz zu führen drohte. Ob die damaligen Entscheidungsträger der Labour Party die Gründung einer private company limited by guarantee im Sinn hatten, ist in den Medien nicht diskutiert worden und entzieht sich der Kenntnis des Verfassers. Diese Rechtsform wäre unzweifelhaft die geeignetste für eine Partei gewesen, wie im Folgenden ausführlicher gezeigt wird. Daneben hatte, ebenfalls aus haftungsrechtlichen Gründen, Ende des Jahres 2015 eine weitere Kleinstpartei, die den Namen Clear trägt und für eine liberalere Drogenpolitik eintritt, aufgrund einer Mitgliederbefragung die Umwandlung von einer unincorporated association in eine private company limited by guarantee beschlossen. Als Gründe führte die Partei an, dass potenzielle Mitglieder von einem Beitritt zu dieser bislang nicht korporativ organisierten Kleinstpartei Abstand hielten. Als Grund dafür wiederum sah die bereits unter dem PPERA 2000 registrierte Partei die teure Wahlkampfführung, welche die Gefahr der persönlichen Haftung gerade für Kleinparteien bspw. bei Nichterreichen der erforderlichen Prozentanteile an Stimmen in den Wahlkreisen birgt. Denn in diesem Fall wird die gezahlte Sicherheitsleistung, die bei der Kandidatennominierung der Partei fällig wird, vom Staat einbehalten. Eine Folge davon kann wiederum sein, dass im Wahlkampf von der Partei aufgenommene Kredite nicht zurückgezahlt werden können und diese von den Gläubigern gegenüber den persönlich haftenden Mitgliedern eingefordert werden. Die Fortführung der Partei in der Rechtsform der unincorporated asso-
299 Ausnahmen sind Davis, Political Freedom, S. 74, sogar in Verknüpfung mit der Frage, ob judicial review auf die Parteien anwendbar ist; ebenso Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 145 je Bezug nehmend auf das einschlägige Urteil in der Sache Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul. Letztlich dürfte ein weiterer – wenn auch nur untergeordneter – Grund für die Nichtbeachtung der als private companies limited by guarantee organisierten Parteien schlicht auch die Befreiung von der Führung des Wortes Limited (oder in der Kurzform Ltd.) im Parteinamen sein, die für solche private companies limited by guarantee gilt, die keinen kommerziellen Gesellschaftszweck haben, vgl. s. 30 Companies Act 2006. Auch dazu ein Hinweis in UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ. 300 Webster, Labour Ltd, The Times v. 30. Mai 2008, S. 32.
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ciation war somit wegen der unbeschränkten persönlichen Haftung der Mitglieder als wirtschaftlich zu riskant angesehen worden.301 Als Anknüpfungspunkt für die Beschäftigung dieser Arbeit mit der Rechtsform der private company limited by guarantee sollen mithin nicht die Häufigkeit des Auftretens in der politischen Praxis und die Haftungsfragen dienen, sondern die Erwägung, dass sich eine Partei, die sich nach den Vorschriften des Companies Act organisiert, auch den Vorschriften dieses Gesetzes in Bezug auf die member bzw. shareholder democracy302 unterwirft. Diese Organisationsform für Parteien wird im Folgenden anhand der gesetzlichen Vorschriften und – punktuell – am Beispiel von UKIP einer Analyse unterzogen. 3. Member democracy bzw. innerparteiliche Demokratie nach dem Companies Act 2006 a) Gesellschaftsrechtliches Mitgliedschaftsprinzip Der Companies Act 2006 sieht für sämtliche Unternehmensrechtsformen dem Grunde nach eine member democracy vor. Hiernach sind die member (Mitglieder) – in der Diktion des Companies Act werden auch Anteilseigner anderer Unternehmensarten seit 2006 so bezeichnet – die „ultimate source of managerial authority.“303 Folglich sind die Kompetenzen des Vorstandes bzw. des Geschäftsführers (des board of directors oder des director)304 von den Mitgliedern abgeleitet. Im Wege der Delegation durch das Gesetz und durch die Satzungsdokumente eines jeden Unternehmens, d. h. insbesondere durch die articles of association, wird der Vorstand/ Geschäftsführer der zentrale Entscheidungsträger.305 Freilich ist von einem bereits
301 Vgl. hier bereits den instruktiven Fall https://www.clear-uk.org/clear-to-become-a-com pany-by-limited-by-guarantee-following-members-referendum/. Ausweislich der Webseite der Partei hat eine Umwandlung noch nicht stattgefunden, es heißt „The CLEAR Constitution is currently under review.“ (https://www.clear-uk.org/aims-and-objectives/) (beides letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 302 Vgl. dazu den Begriff der shareholder democracy in Bezug auf Parteispenden bei TorresSpelliscy/Fogel, Corporate Political Spending, USFLR 2011, S. 525 (542) m. w. N. Vgl. auch den Begriff in der Kapitelüberschrift bei Dignam, Company Law, S. 213 ff., der das Kapitel zwar als shareholder democracy überschreibt, im Kapitel aber der neutralen Terminologie des/ der member aus dem Companies Act 2006 folgt. 303 Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, S. 65. 304 Der Companies Act 2006 definiert den Begriff des director nicht. Nach Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 93 m. w. N. wird darunter verstanden: „A person who occupies the position of a director, whatever name he is given, is a director for the purposes of the Act.“ 305 Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, S. 65.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
von Gesetzes wegen nur selten zusammenkommenden general meeting (Hauptversammlung) keine effektive Erfüllung des Tagesgeschäftes möglich.306 Speziell bei der private company limited by guarantee sind aufgrund der besonderen Nutzungsart für i. d. R. nichtkommerzielle Zwecke durch gesetzliche und untergesetzliche Regelungen einige Abweichungen von dem Prinzip der member democracy zugelassen, das bei anderen Unternehmensarten durch den Gesetzgeber strenger ausgestaltet ist. Diese Erleichterungen betreffen etwa die fakultative Durchführung eines annual general meeting für private companies (argumentum e contrario s. 336 Companies Act 2006, der eine jährliche Hauptversammlung für public companies vorschreibt).307 Doch auch in private companies besteht die Möglichkeit, ein außerordentliches general meeting einzuberufen. Nach den ss. 302 – 306 Companies Act 2006 kann ein solches auf Antrag der Mitglieder oder durch den Vorstand oder aufgrund gerichtlicher Anordnung einberufen werden. Allerdings gelten bei der Zusammensetzung des Vorstandes und der Mitgliederschaft einer private company weitere Modifikationen. Auch hierbei muss im Gegensatz zu public companies eine private company gemäß s. 154 Companies Act 2006 nur über einen einzigen director verfügen und damit nicht über einen kollegial besetzten Vorstand. Auch bedarf es nicht mehr als einer einzigen natürlichen oder juristischen Person als Mitglied gemäß s. 7(1) Companies Act 2006.308 Eine demokratische Mehrheitsfindung ist in den entscheidenden Unternehmensorganen somit nicht zwangsläufig erforderlich. Schon diese zwei Beispiele zeigen, dass der britische Gesetzgeber ein „more formal decision-making“309 eher bei der public company für geboten hält, zumal ihre Mitglieder wirtschaftlich an dem Unternehmen beteiligt sind. Für die private company limited by guarantee, die – wie dargelegt – kein originär für den Wirtschaftsverkehr gedachtes und genutztes Vehikel ist, sind vergleichbar strenge Anforderungen an eine demokratische Willensbildung aus Sicht des Gesetzgebers nicht nötig. Das britische Parlament hat einen Ausgleich zwischen einer staatlichen Intervention durch den Companies Act 2006 zur Sicherung einer unternehmensinternen Demokratie310 in den private companies (limited by guarantee) und einem mit dem traditionellen britischen Liberalismus verbundenen Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte einer „unsichtbaren Hand“ innerhalb der Unternehmen
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Die Verpflichtung zur Durchführung eines annual general meeting für public companies gemäß s. 336(1) Companies Act 2006 besteht alle sechs Monate. Für private companies, die wirtschaftlich tätig sind, gilt ein neunmonatiger Turnus, s. 336(1 A) Companies Act 2006. 307 Siehe hierzu statt vieler Hannigan, Company Law, paras. 1 – 49, 15 – 1 f. 308 Wortlaut der Norm: „A company is formed under this Act by one or more persons.“ Diese können juristische oder natürliche Personen sein. Vgl. auch Wesiack, Europäisches internationales Vereinsrecht, S. 34. 309 Hannigan, Company Law, paras. 1 – 43, 1 – 44. 310 Dignam, Company Law, S. 213 spricht von einer „micro-democracy“ bezogen auf die general meetings der Mitglieder.
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gesucht.311 Die Regelung der Mitgliederbeteiligung in einer private company limited by guarantee ist daher weniger im Companies Act als in der Unternehmenssatzung zu suchen.312 Die neu eingefügte Norm des s. 19 Companies Act 2006 trägt diesem gesetzgeberischen Spagat Rechnung. Diese Norm ermächtigt den zuständigen Secretary of State, eine Verordnung für sog. model articles (of association) für alle Unternehmensarten zu erlassen. Für die private company limited by guarantee sind diese nunmehr in Sch. 2 Companies (Model Articles) Regulation 2008/3229 zu finden. Die Existenz der model articles bedeutet, dass eine neu gegründete private company limited by guarantee keine eigens formulierten articles of association beim zuständigen Companies House (d. h. der das Handelsregister führenden Behörde) einreichen muss, sie es wohl aber kann. Unterlässt sie es, eigene articles of association einzureichen, so gelten die model articles nach Maßgabe des s. 20(1) Companies Act 2006 i. V. m. Sch. 2 Companies (Model Articles) Regulation 2008/ 3229.313 Dem Unternehmen steht es wiederum frei, auch zu einem späteren Zeitpunkt noch von den qua gesetzlicher Anordnung geltenden model articles abzuweichen.314 In dem Falle können die articles of association selbst unberührt bleiben.315 Dazu ist eine Entscheidung der Mitglieder über den in Frage stehenden Einzelfall erforderlich. Die Grundlage dafür liefert das Gesetz in s. 17 Companies Act 2006. Dieser bestimmt ausdrücklich, dass die constitution eines jeden Unternehmens primär aus jenen articles of association besteht. Diese können aber durch „any resolutions or agreements to which [Part 3, Anm. d. Verf.] Chapter 3 applies“ ergänzt werden. Resolutions im Sinne des Gesetzes sind Beschlüsse der Mitglieder nach ss. 29, 281 ff. Companies Act 2006, die im schriftlichen Verfahren z. B. nach s. 282(2) Companies Act 2006 oder im Rahmen eines general meeting z. B. nach s. 282(3) Companies Act 2006 mit der für die jeweilige Art des Beschlusses gesetzlich erforderlichen Mehrheit verabschiedet werden.316 Die Durchführung der-
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Vgl. dazu die Ausführungen der Regierung im White Paper, T.S.O. (Hrsg.), Company Law Reform, Cmnd. 6456/2005, para. 4.3; dazu aus der Literatur Dignam, Company Law, S. 48 f. 312 Vgl. noch zur alten Rechtslage unter dem Companies Act 1985, gleichwohl im Grunde noch aktuell Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (113 f.). 313 Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, S. 66. 314 Freilich kann die constitution auch durch eine Mitgliederentscheidung geändert werden. Dieses Recht kann auch nicht zugunsten des/r director(s) und zulasten der Mitglieder abbedungen werden, vgl. Dignam, Company Law, S. 239 ff. 315 Diese Möglichkeit richtet sich nach s. 21 Companies Act; vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 48 ff. 316 Es gibt verschiedene Arten von resolutions, so etwa ordinary resolutions (geregelt in s. 282 Companies Act 2006), die mit einer einfachen Mehrheit verabschiedet werden, oder special resolutions, die eine Mehrheit von 75 % erfordern (vgl. s. 283 Companies Act 2006). In private companies sind nur solche written resolutions als special resolutions mit mindestens 75 % der wahlberechtigten Mitglieder zu verabschieden, die im Resolutionstext als eine solche
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
artiger Abstimmungen wird dadurch vereinfacht, dass private companies angehalten sind, written resolutions (schriftliche Beschlussverfahren) durchzuführen „rather than hold meetings of any sort“317, vgl. s. 281(1) Companies Act 2006. Die o. g. model articles gewähren nach Sch. 2 Art. 34 Companies (Model Articles) Regulation 2008/3229 den Unternehmen eine Flexibilität in der Nutzung von Telekommunikationsmitteln, sofern diese vom Companies Act 2006 für das spezifische Dokument erlaubt sind. Damit wird die Arbeit in dem Unternehmen vereinfacht, insofern die Zeitdauer bis zur Kenntnis von entscheidungserheblichen Informationen durch den gesamten Vorstand oder gar die gesamte Mitgliederschaft erheblich reduziert werden kann.318 Dabei nimmt der Vorstand bzw. der Geschäftsführer in den model articles ohnehin eine zentrale Rolle ein, während die Mitglieder von nur untergeordneter Bedeutung sind. Zentral ist dafür Sch. 2 Art. 3 Companies (Model Articles) Regulation 2008/ 3229, wonach dem Vorstand bzw. dem Geschäftsführer eine „general authority“ obliegt. Ihm bzw. ihnen ist es gestattet „[to] exercise all the powers of the company“. Die Mitglieder behalten sich nach Art. 4 nur eine „reserve power“ vor. Dementsprechend kann mit einer special resolution i. S. v. s. 283 Companies Act 2006, die eine Mehrheit von 75 % der stimmberechtigten Mitglieder erfordert, gegen oder für eine specified action des Vorstands votiert werden. Die Mitglieder sind mithin nur noch (nachträgliche) Kontrollinstanz. So werden insbesondere in einer Hauptversammlung gemeinhin der Jahresabschluss, Rechenschaftsberichte und Berichte der Kassenprüfer vorgelegt.319 Im Lichte dieser Kompetenzordnung betrachtet, sind die weiteren Artt. 5 – 20 auf die Geschäftsverteilung und den Geschäftsgang, insbesondere Form und Verfahren der Beschlussfassung des oder der director(s) fokussiert. In den folgenden Artt. 21 – 33 sind die formellen und materiellen Fragen des Verfahrens des Ein- und Austritts von Mitgliedern, der formellen Organisation von general meetings und die formellen Anforderungen an die dortige Beschlussfassung geregelt. Auch in diesem Abschnitt nehmen der Vorstand und der Geschäftsführer eine zentrale Rolle ein. Zum ersten sind die Kriterien der Aufnahme von Mitgliedern von dem oder den director(s) zu bestimmen und sodann der Beitrittswunsch von Mitgliedern zu bestätigen (Art. 21). Zum zweiten wird der Tagungsleiter des general meetings durch den oder die director(s) bestimmt, so in Art. 25(1). Alternativ übernimmt der Vorstand dieses Amt gemäß Art. 25(2). Die model articles enthalten für die Durchführung des general meeting einige verfahrensrechtliche Vorgaben. Hervorzuheben ist, dass die Bebezeichnet sind, vgl. s. 283(3) Companies Act 2006. Grundsätzlich handelt es sich damit um ordinary resolutions. 317 Hannigan, Company Law, paras. 1 – 49. 318 Dignam, Company Law, S. 219; mit Verweis auf das White Paper, T.S.O. (Hrsg.), Company Law Reform, Cmnd. 6456/2005, para. 2.28 f. 319 Beispiele bei Hannigan, Company Law, paras. 15 – 35 ff.
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schlussfassung der Mitglieder auf dem general meeting grundsätzlich durch Handzeichen zu erfolgen hat, siehe Art. 28. Überdies ist eine Teilnahme durch einen Stellvertreter (sog. proxy voting) nach Art. 31 f. in Übereinstimmung mit der dispositiven Norm der s. 285 Companies Act 2006 erlaubt. Mithin ist der „intangible benefit“ der Mitgliedschaft in einer private company limited by guarantee nicht finanzieller Natur, sondern liegt in „the right to vote and to participate in the making of policy (either directly, or by the election of the board of directors).“320 Ob die jeweilige Unternehmenssatzung eine repräsentative oder eine direkte Demokratie vorsieht, unterliegt zu einem großen Teil dem Willen der Mitglieder. b) Rechtsnatur des Gesellschaftsvertrages und der Mitgliederrechte Auf die constitution eines Unternehmens, das nach dem Companies Act 2006 verfasst ist, findet das Vertragsrecht Anwendung. Als hierfür grundlegendes Urteil wird auch in der gesellschaftsrechtlichen Literatur zum Companies Act die Entscheidung Conservative Unionist Central Office v Burrell herangezogen.321 Zudem ist zum ersten Mal mit dem Companies Act 2006 in s. 33(1) neben der vertragsrechtlichen Rechtsnatur der constitution, welche die Mitglieder einander vertraglich bindet, auch ausdrücklich gesetzlich normiert worden, dass gleichsam das Unternehmen als juristische Person an die constitution gebunden ist.322 aa) Majority rule und minority protection vor Gericht Der Companies Act 2006 bekennt sich zur majority rule, die durch das Prinzip minority protection ergänzt wird.323 Dieser gilt für beide zentralen Organe von Unternehmen, den Vorstand und die Hauptversammlung. Jedoch sind diese nur unter der Voraussetzung anwendbar, dass die Organe jeweils aus mehr als einer Person bestehen. Bei private companies bedarf es nämlich nur eines Einpersonenvorstandes (also eines director) nach Maßgabe des s. 154 Companies Act 2006.324 Überdies erfordert die Gründung einer private company nicht mehr als eine einzige natürliche
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Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 8. Siehe nur Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 169. Dies aber nur in Bezug auf die vertragsrechtliche Natur der Satzung/des Gesellschaftsvertrags. Zudem gilt dies bar der Nichtanwendbarkeit der in dem Urteil relevanten unincorporated association, die nach der ebenda gegebenen Definition der unincorporated association für reine business purposes ausscheidet. 322 Wortlaut der Norm: „The provisions of a company’s constitution bind the company and its members to the same extent as if there were covenants on the part of the company and of each member to observe those provisions.“ (Herv. d. Verf.). 323 Vgl. nur die Kapitelüberschrift bei Dignam, Company Law, S. 424. 324 Weiterhin muss in jedem Fall einer der directors eine natürliche Person sein, siehe s. 156 Companies Act 2006. Dazu und zu den weiteren Anforderungen an directors, wie ihr Mindestalter von 16 Jahren, vgl. Bourne, Company Law, S. 156 ff. 321
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
oder juristische Person, s. 7(1) Companies Act 2006.325 In diesem Falle sind die Grundsätze des Minderheitenschutzes schon denklogisch nicht anwendbar, da es nur einstimmige Ergebnisse geben kann. Zum Minderheitenschutz in Mehrpersonengesellschaften326 hat zuerst das Common Law entsprechende Rechtsbehelfe entwickelt. Klagen konnten und können z. T. bis heute erhoben werden auf der Grundlage, dass die von der Mehrheit getroffene Entscheidung illegal sei, gegen das general law verstoße oder eine Verletzung der constitution des Unternehmens darstelle.327 Außerdem können sich Mitglieder auf ihnen individuell zustehende mitgliedschaftliche Rechte aus dem Companies Act und/oder der constitution berufen. Problematisch waren einstmals die Fälle, in denen die Verletzung der Rechte des Unternehmens, nicht aber individuelle Mitgliederrechte gerügt wurden. In der Entscheidung Foss v Harbottle328 entschied der High Court, dass die Geltendmachung eines Verstoßes zulasten des Unternehmens nur von dem Unternehmen selbst möglich ist. Dies aber stellt im Hinblick auf die unternehmensinterne Demokratie einen Zirkelschluss dar, denn die in diesen Fällen Klageberechtigten sind nicht klagewillig und diejenigen, die klagewillig sind, sind nicht klagebefugt. Es sind gerade diejenigen in der Mehrheit (auf dem general meeting und ggf. im Vorstand), die das behauptete rechtswidrige Handeln des Unternehmens initiiert haben. Sie können vermöge ihrer eigenen Mehrheit einen entsprechenden Antrag der Minderheit auf Erhebung einer Klage durch das Unternehmen – und damit gegen ihr eigenes Handeln – stets ablehnen. Deshalb ist erstmals in s. 260(3) Companies Act 2006 der sog. statutory derivative claim329 vorgesehen. Dieses Klagerecht erlaubt es einer Minderheit von Mitgliedern, im Namen des Unternehmens gegen „any actual or proposed act or omission involving negligence, default, breach of duty or breach of trust by director“ vorzugehen.330 Zudem wurden Ausnahmen zu der in Foss v Harbottle aufgestellten Regel bereits in den 1950er Jahren durch den Court of Appeal anhand eines Falles zur Änderung der Satzung einer Gewerkschaft, die bekanntlich nach dem jeweils geltenden Trade Union Act, heute Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992, 325 Wortlaut der Norm: „A company is formed under this Act by one or more persons.“ Dazu auch Wesiack, Europäisches internationales Vereinsrecht, S. 34. 326 Im Gegensatz zur one-man company bzw. single-member company. Vgl. diese Begriffe in der gesellschaftsrechtlichen Literatur bei Judge/Moore, Company Law, S. 16; speziell zu companies limited by guarantee siehe Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 75. 327 Zur heute reduzierten Bedeutung der ultra vires-Doktrin in Unternehmen sogleich. 328 [1843] 2 Hare 461. Ausführlich zum Urteil etwa Bourne, Company Law, S. 227 ff.; in Bezug auf private companies limited by guarantee siehe Warburton, Charity Members, CPL 2006, S. 330 (342 ff.). 329 Der Common Law derivative claim wurde etwa in Cook v Deeks [1916] 1 AC 554 für einen Betrug der Mehrheit an der Minderheit zugelassen. 330 Eine eingehende Besprechung der Einführung des statutory derivative claims bei Dignam, Company Law, S. 432 m. w. N.
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organisiert sind, entwickelt.331 Eine Geltendmachung von Rechten des Unternehmens, einer Gewerkschaft oder einer als Unternehmen organisierten Partei durch die Mitglieder sollte möglich sein, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: (1) die inkriminierte Handlung ultra vires geschah, (2) durch sie ein fraud (Betrug) an der Minderheit durch die Entscheider begangen wurde, (3) wenn die begangene, geduldete oder unterlassene Handlung nach den articles of association eine „special majority“ verlangt hätte oder wenn (4) individuelle Mitgliedschaftsrechte verletzt wurden.332 Das (gesetzliche) individuelle Klagerecht für Verstöße gegen mitgliedschaftliche Rechte ist in s. 994 Companies Act 2006 geregelt, die bereits im Companies Act 1985 vorhanden war. Die Vorgängernorm hat sich als „powerful weapon for minority shareholders“333 herausgestellt, wobei diese in der Rechtspraxis insbesondere bei Fragen um Profite aus dem Verkauf von Anteilen angewendet wurde.334 Allerdings engen weder das Gesetz noch das Richterrecht die Anwendung dieser Vorschrift auf finanzielle Fragen in wirtschaftlich tätigen Unternehmen ein. Das Gesetz spricht insoweit in s. 994(1)(a) davon, dass „the company’s affairs are being conducted […] unfair[ly]“. Dies bedeutet, dass eine Anwendbarkeit auf andere mitgliedschaftliche Rechte in einer private company limited by guarantee speziell mit Blick auf Parteien und auf die Beteiligung in der Willensbildung nach dem Wortlaut der Norm nicht unmöglich wäre. Dem Gericht steht gemäß s. 996 (2)(a) Companies Act 2006 die Kompetenz zu, gestalterisch auf die constitution eines Unternehmens einzuwirken, indem es „the conduct of the company’s affairs in the future“ und die hierfür notwendigen Änderungen der in Frage stehenden unternehmensinternen Regelungen anordnet. bb) Gerichtliche Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen anhand der natural justice? Der Ausschluss eines Mitglieds aus einer private company limited by guarantee ist grundsätzlich nur möglich, wenn dies durch die constitution vorgesehen ist. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus s. 33 Companies Act 2006, der die vertragliche Rechtsnatur des Gesellschaftsvertrages statuiert. Demnach sind die allgemeinen Prinzipien des englischen bzw. schottischen Vertragsrechts anzuwenden. Diesen 331
Edwards v Halliwell [1950] 2 All ER 1064. Strenggenommen sind (1), (2) und (4) keine Ausnahmen von der Foss v Harbottle-Regel. Es handelt sich nur um die notwendige Konsequenz einer streng dogmatischen Anwendung. Denn diese stellen keine Fälle der Geltendmachung von Rechten des Unternehmens selbst dar, sondern von individual-mitgliedschaftlichen Rechten. Darauf hat auch Jenkins LJ selbst verwiesen. Vgl. Dignam, Company Law, S. 428 ff. zu den heutigen Erfordernissen, die von den Gerichten verlangt werden, zur Geltendmachung einer der genannten Ausnahmen durch Mitglieder. 333 Dignam, Company Law, S. 448. 334 Vgl. nur Re Little Olympian Eachways Ltd. (No. 3) [1995] 1 BCLC 636. 332
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zufolge gilt, dass ein Vertrag nur dann einseitig beendet werden kann, wenn eine termination clause (Kündigungs-/Austrittsklausel) ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen wurde.335 Ausnahmen zu diesem Erfordernis haben englische Gerichte etwa für Arbeitsverträge anerkannt, die aber nach den britischen Vereinsrechtlern Mark Mullen und Josh Lewison nicht auf das Mitgliedschaftsverhältnis in einer private company limited by guarantee übertragbar sein sollen.336 Ohne entsprechende Klausel scheide eine – in den Ausnahmefällen anerkannte – implied power337 zum Ausschluss von Mitgliedern sogar dann aus, wenn das Mitglied mit seinen Beiträgen im Rückstand ist. Der diesbezügliche Anspruch des Unternehmens sei nämlich lediglich ein Zahlungsanspruch gegen das säumige Mitglied. Aus der Rechtsprechung zu anderen Unternehmensarten im Fall Sidebottom v Kershaw, Leese & Co.338 ergebe sich den beiden vorgenannten Autoren zufolge nichts anderes. So sei eine nachträglich in die Unternehmenssatzung eingefügte Klausel zum Ausschluss von Mitgliedern nur wirksam, wenn diese in good faith und im Interesse des Unternehmens geschehe, nicht aber im Interesse anderer Mitglieder.339 Deshalb sei davon auszugehen, dass eine nachträgliche Einfügung einer abstrakt-generellen Ausschlussklausel zwar wirksam sei. Eine einzelfallbezogene Änderung hingegen nicht, auch nicht in Form eines Beschlusses (etwa im Wege einer resolution340 der Mitglieder).341 Ist eine entsprechende Klausel für den Ausschluss von Mitgliedern in der constitution des Unternehmens vorhanden, so stellt sich die Frage, ob das Unternehmen in deren Ausübung an das Prinzip der natural justice gebunden ist, soweit diese nicht explizit vereinbart wurde. Die hierfür grundlegende Gerichtsentscheidung in der Sache Gaiman v National Association for Mental Health342 stammt aus dem Jahr 1971. Megarry J legte für den High Court ausdrücklich die pragmatischen und juristischen Argumente für die Nichtanwendbarkeit der natural justice auf interne Streitigkeiten in einer private company limited by guarantee dar. Hintergrund des Falles war, dass der Vorstand der Vereinigung sich aufgrund der drohenden Über335 Gaiman v National Association for Mental Health [1971] 1 Ch. D. 317 (335) – Meggary J. Die beklagte Vereinigung war eine private company limited by guarantee. 336 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 82. 337 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 82. 338 [1920] 1 Ch. D. 154, CA, zitiert nach Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 82. 339 Gaiman v National Association for Mental Health [1971] 1 Ch. D. 317 (330) – Meggary J. Vgl. aus der Literatur Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (113 f.) zu charities in der Rechtsform der private company limited by guarantee: „The directors must exercise any power of expulsion in the best interests of the charity as a whole, i. e. the interests of both present and future members of the charity. An expulsion will be declared void if the power to expel has been exercised in the interests of a particular section of the charity“ (Herv. i. O.). 340 S. o. zu der Beschlussfassung in companies limited by guarantee. 341 Zum Ganzen Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 82. 342 [1971] 1 Ch. D. 317.
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nahme des Vereins und seiner Organe durch massenhaft eingetretene Scientologen sofort zum Handeln veranlasst sah, um den Verein „zu retten“. Der High Court ließ diese Begründung ausreichen, um darin ein Handeln bona fide für das Unternehmen zu sehen. Durch Auslegung des entscheidenden Artikels der Unternehmenssatzung am Wortlaut343 sah sich der High Court nicht dazu berufen, die Prinzipien der natural justice anzuwenden. Die bekanntlich erratische Rechtsprechung zu den Regeln der natural justice und ihrer Anwendung im Einzelfall hätte das Ausschlussverfahren der Mitglieder nur verzögert. Diese wäre der Eilbedürftigkeit des bona fide-Handelns zuwidergelaufen. Auch betonte das Gericht, dass es sich nur um eine begehrte interlocutory injunction (ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren) handelte, was für ein potenzielles Hauptsacheverfahren keine Präjudizwirkung entfalte. Des Weiteren hätte der historische Gesetzgeber die Anwendung der natural justice in Unternehmen in den Vorschriften des damaligen Companies Act 1929 festgeschrieben, wenn er dies gewollt hätte. Offenkundig hatte es der historische Gesetzgeber den Unternehmen selbst anheimgestellt, diese in ihren constitutions zu vereinbaren. Gesetzliche Schutzvorschriften für die Mitglieder hatte der Gesetzgeber in den director’s duties nach dem Companies Act geschaffen. Die directors müssen sich an ihre Pflichten aus Gesetz halten und zudem bona fide im Sinne des Unternehmenszweckes, auf den sich die Mitglieder in freier Willensentscheidung in der Satzung geeinigt hatten, handeln. In der Auseinandersetzung mit diesem Urteil in der gesellschafts- und vereinsrechtlichen Literatur wird von Mullen und Lewison angeführt, der Gesetzgeber hätte, wenn er die Anwendbarkeit der natural justice hätte ausschließen wollen, dies so normieren können. Gleichsam hätte er ein anderes Verfahren für den Ausschluss von Mitgliedern positiv normieren können.344 Beides sei ausgeblieben. Die GaimanEntscheidung sei daher im Wesentlichen unter zwei einschränkenden Gesichtspunkten zu betrachten. Erstens sei die Entscheidung für „the best interests of company [that] required a speedy decision“345 ergangen und damit eine Einzelfallentscheidung, wie der High Court in dem bekannten Urteil zu RSPCA v AttorneyGeneral im Jahr 2001 festhielt. Er wendete die Gaiman-Entscheidung nicht an, da sie „in the context of the use emergency powers to prevent a takeover“346 ergangen war. Zweitens war in der Gaiman-Entscheidung die Wortlautauslegung der entscheidenden Norm der Unternehmenssatzung dahingehend genutzt worden, um dem Vorstand einen weiten Ermessensspielraum bei Disziplinarmaßnahmen gegen Mitglieder zu geben.347 Dies war nach dem High Court im Jahr 2001 vormals nur für ebendiese eilbedürftigen Fälle erfolgt. Letztlich habe Megarry J selbst dargelegt, 343
Zur Vertragsauslegung im englischen Recht am Beispiel der Labour Party-Satzung (als unincorporated association) siehe Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (20) – Beatson LJ. 344 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 84. 345 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 84. 346 RSPCA v Attorney-General [2001] 3 All ER 530. 347 Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 85.
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dass das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes „was not the place for a full discussion of the law.“348 Mullen und Lewison wollen zumindest eine zwingende Anwendung der natural justice-Doktrin durch die Gerichte dann zulassen, wenn das Mitglied durch den Ausschluss in seiner Berufsausübung behindert oder wenn ihm die Finanzierung des Lebensunterhaltes dadurch erschwert ist.349 Gleichwohl sind sie im Grundsatz der Auffassung, dass es Aufgabe der Unternehmen sein muss, in ihren Satzungen die – prozessualen – Mitgliedschaftsrechte zu vereinbaren. Der britische Vereinsrechtler Jean Warburton legt den Fokus seiner Argumentation, in der er sich gegen die Anwendung von natural justice ausspricht, auf den wesentlichen Unterschied zwischen der unincorporated association und der private company limited by guarantee: auf die Rechtspersönlichkeit bzw. die Existenz des Unternehmens als eine juristische Person. Ebendieser Unterschied führe dazu, dass dem Mitglied eines Unternehmens nicht dasselbe gerichtliche Rechtsschutzniveau gewährt werden könne wie dem Mitglied einer unincorporated association. Denn durch Schaffung einer juristischen Person ergeben sich wiederum zwei Aspekte, die für den Ausschluss eines Mitglieds relevant sind und es von der unincorporated association unterscheiden. So müssen die bei dem Ausschluss Handelnden (directors oder die Mitglieder selbst) bona fide zugunsten des Unternehmens, das ja eine eigene juristische Person darstellt, handeln. Dagegen sei ein Vorstand oder eine Mitgliederversammlung einer unincorporated association nicht nur verpflichtet, im Sinne aller Mitglieder in ihrer Gesamtheit als Vereinigung zu handeln, sondern im Sinne jedes einzelnen und damit auch des auszuschließenden Mitglieds. Außerdem sei durch die Schaffung einer haftungsbeschränkten Körperschaft wie der private company limited by guarantee nicht – jedenfalls nicht in einem großen Maße – eine vermögensrechtliche Stellung bei einem Ausschluss betroffen wie beim Ausschluss aus einer unincorporated association. Folglich scheide eine gerichtliche Überprüfung eines Ausschlusses nach den natural justice-Prinzipien als unbillig aus, sofern sie nicht in dem Gesellschaftsvertrag vereinbart wurde. Nur in der unincorporated association ist das von einem Ausschluss betroffene Mitglied mit seinem eigenen Vermögen – positiv betrachtet – selbst beteiligt und daher an einem Erhalt oder einer Mehrung des Vermögens interessiert. Vice versa würde es mit diesem Privatvermögen ebenso für „die“ Vereinigung haften.350 Für die private company limited by guarantee gilt dies nicht. Einzig bei solchen Unternehmensrechtsformen, die zugleich von wirtschaftlicher Bedeutung für die einzelnen Mitglieder sind, dürfte mit Mullen und Lewison eine Anwendung der natural 348
Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 84. Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 85. 350 Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (113 f.) m. w. N. auf Gaiman v National Association for Mental Health [1971] 1 Ch. D. 317 (336) – Meggary J. Die dort genannten möglichen Ausnahmen für die Achtung der natural justice bei einem Ausschluss sieht Megarry J in dem Verlust von Freiheit oder means of livelihood (Erwerbsquellen). Sie passen indes nicht zu einer private company limited by guarantee, die a priori gerade kein erwerbswirtschaftliches Instrument darstellt (wenngleich sie als solches genutzt werden kann). 349
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justice entgegen bzw. ohne ausdrückliche vertragliche Vereinbarung geboten sein. Diese Fälle sind aber auf wirtschaftlich tätige private companies limited by guarantee beschränkt.351 Auf politische Parteien sind die Erwägungen der beruflichen Existenz, die durch den Ausschluss bedroht sein muss, nach hiesiger Auffassung praktisch gesehen nicht anwendbar.352 Der Companies Act 2006 selbst zeigt sich weitgehend flexibel für die Ausgestaltung mitgliedschaftlicher Rechte in einer private company limited by guarantee. Wie gesehen, sind zahlreiche Vorschriften dispositiv und auch mit den model articles ist nur ein exekutiver Vorschlag für die innere Ordnung von Unternehmen gegeben. Gesetz und Verordnung lassen somit auch Platz für Abweichungen „nach oben“, d. h. mit einem höheren Schutzniveau für Mitglieder, als sie selbst es gewähren. Ein richterliches Interventionsrecht nach den Grundsätzen der natural justice für den Fall zu gestatten, dass ein höheres Schutzniveau nicht vertraglich vereinbart ist, ist aus Gründen der Parlamentssouveränität und der freien Entscheidung der im Unternehmen organisierten Personen abzulehnen. Ob trotz oder gerade wegen, jedenfalls aber in Kenntnis dieser seitens des Gesetzgebers den Bürgern belassenen Freiheit, entscheiden sich die meisten private companies limited by guarantee für eine Klausel zur Anwendbarkeit der natural justice in ihren Unternehmenssatzungen.353 cc) Keine Anwendung der ultra vires-Doktrin nach dem Companies Act 2006 Lange Zeit wurde – wie in der unincorporated association seit der bereits besprochenen Entscheidung Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne – auch in Unternehmen als gerichtlicher Prüfungsmaßstab für einen z. B. von einem Mitglied vorgebrachten Verstoß des Unternehmens (bzw. die Mehrheit in einem der beiden Organe) gegen die constitution die ultra vires-Doktrin angewendet. So bestand bis zum Companies Act 2006 die Verpflichtung, neben den articles of association ein memorandum of association als „constitutional document“354 beim Companies House einzureichen. Dieses memorandum of association bestimmte den Gründungszweck des Unternehmens. Handelte ein Organ des Unternehmens außerhalb dieser Bestimmungen, so war es ultra vires und nichtig.355 351
Dies wären etwa property management companies, mutual assurance companies, leasehold enfranchisement companies. Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 2, 13 ff., 37 ff. 352 Anders aber die Entscheidung Jepson v Labour Party [1996] I.R.L.R. 116. 353 Dies schlussfolgern auch Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (114) und auch Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 85. Letztere halten des Weiteren in ihrem App. C („Expulsion of Members“, S. 181 ff.) Vorlagen für private companies limited by guarantee bereit und schlagen dort die Anwendung der natural justice vor. 354 Hannigan, Company Law, para. 4 – 11. 355 Vgl. Ashbury Railway Carriage and Iron Co Ltd. v Riche [1875] LR 7 HL 653; Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (115) eingehend zur früheren Rechtslage; Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 36 mit dem Hinweis, dass bereits
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Inzwischen ist die ultra vires-Doktrin vom Prüfungsumfang der Gerichte ausgenommen (s. 39(1) Companies Act 2006). Ausgenommen sind nach der dortigen subsection 2 nur charities (Wohltätigkeitsorganisationen), welche die Rechtsform der private company limited by guarantee wählen. Eine Anwendung der Doktrin ist bei private companies limited by guarantee den Gerichten fortan nur noch gestattet, wenn der Unternehmenszweck in der constitution des Unternehmens festgeschrieben ist. Im Memorandum of Association der UKIP, das von 2004 bis 2009 galt, waren als Ziele neben der Gründung einer politischen Partei unter dem PPERA 2000 auch die Beschäftigung von Personal oder das Erwerben und Halten von Eigentum durch das Unternehmen (die UKIP Ltd.) beinhaltet. Mit Beschluss vom 30. November 2009 haben sich die Mitglieder neue articles of association gegeben und bestimmt, die vormaligen aufzuheben. Damit ist auch die unternehmensinterne Beschränkung auf die o. g. Zwecke aufgehoben und eine ultra vires-Klage eines Mitglieds gegen die Handlungen der Partei wäre von einem Gericht zurückzuweisen.356 c) Publizitätspflichten im Innen- und Außenverhältnis Mit der Entscheidung, sich als Körperschaft nach dem Companies Act 2006 zu organisieren, gehen auch die für sämtliche Unternehmensrechtsformen geltenden Transparenzvorschriften aus Part 15 Companies Act 2006 einher. Für die internen Publizitäts- und Transparenzpflichten einer private company limited by guarantee gilt, dass gemäß s. 423(1)(a) Companies Act 2006 jedes Mitglied einen individuellen Anspruch auf Bekanntgabe der annual accounts (Geschäftsbericht) hat.357 Von dieser Norm kann durch keine unternehmensinterne Entscheidung abgewichen werden. Auch aus der die Klagerechte von Mitgliedern einschränkenden Regel nach Foss v Harbottle sind die Mitglieder nicht daran gehindert, die individuellen Transparenzund Teilhaberechte geltend zu machen. Relevant ist dafür das Recht der Teilnahme und der demokratischen Teilhabe an einem general meeting.358 Dies kann – darauf weist Warburton hin – einen „particular value in supporting internal accountability“359 haben. Die Ausübung der Überwachungsfunktion auch einer Minderheit wird bspw. dadurch gesetzlich gewährleistet, dass ein Quorum von 10 % der Mitglieder die externe Rechnungsprüfung beantragen kann.360 mit dem Companies Act 1989 die Anwendung der ultra vires-Doktrin faktisch abgeschafft wurde. 356 Memorandum of Association vom 1. April 2004, abrufbar unter https://beta.companies house.gov.uk/company/05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018). 357 In Übereinstimmung mit den obigen Ausführungen zur erleichterten Unternehmensführung bei private companies limited by guarantee kann dies auch auf elektronischem Wege geschehen bzw. durch Bekanntgabe auf der Webseite des Unternehmens, vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 65. 358 Vgl. Pender v Lushington [1877] 6 Ch. D. 70. 359 Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (115). 360 Vgl. aus der Literatur dazu Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 63.
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Die Veröffentlichungspflichten im Außenverhältnis sind ausführlich in den ss. 441 ff. Companies Act 2006 normiert. Danach sind der Jahresabschluss und der Geschäftsbericht jedes Jahr beim Companies House einzureichen. Hierbei sind small companies, die keine charities sind, privilegiert. Diese sind nach s. 477 Companies Act 2006 gesetzlich nicht zur externen Rechnungsprüfung verpflichtet (wohl aber, wenn das o. g. Quorum der Mitglieder dies verlangt). Sie müssen zudem nur einen vereinfachten Geschäftsbericht einreichen. Small companies i. S. d. Companies Act 2006 sind Unternehmen, die mindestens zwei der folgenden drei Voraussetzungen erfüllen: (1) Weniger als 10,2 Millionen GBP turnover (Jahresumsatz), (2) weniger als 5,1 Millionen GBP balance sheet total (Bilanzsumme) und/oder (3) im Jahresdurchschnitt weniger als 50 Mitarbeiter. Von den Veröffentlichungspflichten für small companies macht auch UKIP Gebrauch.361 4. Besonderheiten der Organisation einer Partei als private company limited by guarantee a) Transparenz- und Publizitätspflichten aa) Veröffentlichungspflichten nach außen aus dem Parteienund Gesellschaftsrecht Eine Partei, die sich als Unternehmen unter dem Companies Act 2006 verfasst und registriert hat, unterliegt den zuvor beschriebenen Veröffentlichungs- bzw. Rechenschaftspflichten nach Part 15 Companies Act 2006 neben den korrespondierenden parteienrechtlichen Pflichten aus ss. 41 ff. PPERA 2000. Letztere sind freilich nur anzuwenden, wenn die Partei als Partei nach den ss. 22 ff. PPERA 2000 (zur Teilnahme an Wahlen) registriert ist. Doppelte Veröffentlichungspflichten sind nicht ungewöhnlich bei als private companies limited by guarantee organisierten Vereinigungen. Ein vergleichbares Rechtsregime gilt etwa für charities, die ob ihrer Spendensammlungstätigkeit besonders im Fokus des öffentlichen Interesses stehen.362 Diese doppelten Veröffentlichungspflichten werden in der Literatur auch als „double burden“363 oder schlicht als Nachteile der Inkorporierung unter dem Companies Act 2006 gesehen. Zumal dann, wenn den betroffenen Vereinigungen – also Parteien und charities – mit der unincorporated association eine Rechtsform zur Verfügung steht, die keinerlei Transparenzkriterien zu erfüllen hat.364 361 UKIP Directors’ Report, Company Number 5090691 vom 31. Dezember 2015, S. 4, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/organisations/companies-house (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 362 Statt vieler Picarda, Charities, S. 267 m. w. N.: „Charitable companies are subject to dual registration, reporting and regulatory requirement, through the Charity Commission and the Registrar of Companies.“ 363 McLaughlin, Company Law, S. 37; Picarda, Charities, S. 267. 364 Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 5 ff., 10 f., 63.
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bb) Transparenzpflichten im Innenverhältnis nur nach dem Companies Act 2006 Als private company limited by guarantee besteht für eine Partei eine interne Publizitätspflicht nur nach dem Companies Act 2006. Der Rechenschaftsbericht nach dem PPERA 2000 hingegen ist vom Kassierer zu erstellen und vom Parteiführer oder – falls vorhanden – vom Vorstand zu genehmigen, s. 42(2)(a)(i) oder (ii) PPERA 2000.365 b) Organisationsrechtliche Trennung von Partei als „Bewegung“ und der Partei als private company limited by guarantee am Beispiel von UKIP aa) UKIP als Ltd. und UKIP als unincorporated association Die rechtlichen Implikationen für die innerparteiliche Demokratie in einer der als private company limited by guarantee organisierten Partei erscheinen auf den ersten Blick relativ einfach zusammenzufassen. Nachgerade unterwirft sich die Partei den Grundsätzen der member democracy, wie sie im Companies Act 2006 vorgesehen sind und von der constitution des Unternehmens teilweise abbedungen, teilweise nur konkretisiert werden können.366 Dennoch trifft dieser Befund nicht zwangsläufig auf Parteien zu. Am Beispiel UKIP lässt sich illustrieren, dass es „zwei Parteien“ mit dem Namen UKIP gibt.367 Erstens ist dies die Partei als Unternehmen nach dem Companies Act 2006, im Folgenden als Partei i. e. S. bezeichnet. Zweitens existiert die Partei als politische Vereinigung, diese ist die Organisation, die hier als Partei i. w. S. verstanden wird. Bei UKIP ist die Partei i. e. S. die private company limited by guarantee und i. w. S. ist sie als eine unincorporated association organisiert. Letztere ist zugleich die registrierte Partei nach dem PPERA 2000.368 Grundsätzlich gilt, dass auch nach Eintragung als private company limited by guarantee eine unincorporated association weiter bestehen kann. So ändert die Eintragung an der vertraglichen Natur des Rechtsverhältnisses der Mitglieder zueinander nichts. Dies gilt nur, wenn die Mitglieder der unincorporated association identisch mit den members des Unternehmens sind. Insofern müssen die Mitglieder der jeweiligen Personenvereinigung das 365
Zu den erforderlichen Strukturen und Ämtern in einer registrierten Partei sogleich. Von einem starren Normenkorsett kann dabei keineswegs gesprochen werden, wie bereits die o. g. model articles zeigen. Zusätzlich können die Unternehmen sehr weitreichende Regelungen treffen, welche die Mitglieder von den internen Entscheidungen aus- oder sie einschließen. 367 Vgl. Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 21 ff. m. w. N. zu den clubs, die sich als private company limited by guarantee eintragen können. Dort tritt diese Rechtsfolge bei nicht exaktem Übereinstimmen der beiden Mitgliederschaften ein. 368 Etwas unklar ist diese notwendige Distinktion bei UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ geblieben, dazu unten. 366
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Alter Ego der jeweils anderen Vereinigung sein.369 Andernfalls, wenn also nur ein einziges Mitglied der unincorporated association nicht Mitglied des Unternehmens wird, wie im Falle von UKIP, liegen zwei unterschiedliche rechtliche Entitäten vor.370 Zum einen ist UKIP seit dem Jahr 2004 unter dem damaligen Companies Act 1985 registriert und hatte bis 2009 im memorandum of association ihre Ziele definiert. Zunächst einmal war dies, nach Art. 3(a) eine politische Partei zu gründen und zu unterhalten.371 Daneben wurde mit der private company limited by guarantee der Zweck verfolgt, Eigentum zu erwerben und zu halten, Personal einzustellen oder Investitionen zu tätigen.372 Dies ist die Partei i. e. S., wie sie hier verstanden wird. Prinzipiell wäre die korrekte Bezeichnung United Kingdom Independence Party Ltd. Unter dieser Bezeichnung sind auch die articles of association beim Companies House hinterlegt. Allerdings sind bestimmte Unternehmen von der Verpflichtung zur Führung der Rechtsform in der Firma im Rechtsverkehr gemäß dem heutigen s. 60(1)(b) Companies Act 2006 i. V. m. reg. 3 Company and Business Names (Miscellaneous Provisions) Regulations 2009 befreit.373 Davon kann offensichtlich UKIP auch Gebrauch machen.374 bb) Zweck der UKIP Ltd.: Aufbau einer Partei im wahlund parteienrechtlichen Sinne Der bis zum Erlass des Companies Act 2006 verpflichtend zu definierende Unternehmenszweck375 der „UKIP Ltd.“ war376 es,
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Vgl. Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 22 f. m. w. N. Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 21 ff. m. w. N. zur gleichzeitigen Existenz von club und private company limited by guarantee. 371 Memorandum of Association vom 1. April 2004, abrufbar unter https://beta.companies house.gov.uk/company/05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018). 372 Memorandum of Association vom 1. April 2004, abrufbar unter https://beta.companies house.gov.uk/company/05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018). 373 Politische Unternehmenszwecke sind vom Wortlaut der reg. 3(2) Company and Business Names (Miscellaneous Provisions) Regulations 2009 nicht erfasst. In dieser Norm sind Zwecke aufgeführt, bei welchen die Angabe der Rechtsform in der Firma (Ltd./Limited) entbehrlich ist: „[C]ommerce, art, science, education, religion, charity or any profession, and anything incidental or conducive to any of those objects.“ Siehe generell hierzu Mullen/ Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 27. 374 Vgl. UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ: „UKIP is, it appears, an incorporated rather than an unincorporated members’ association. However the word ,Limited‘ does not appear in its title and I proceed upon the basis that it is a company limited by guarantee with a dispensation from that requirement under s.30 of the Companies Act 1985.“ 375 Siehe die obigen Ausführungen zur Anwendung der ultra vires-Regel bis 2006. 376 Dieses früher erforderliche memorandum of association wurde mit einer special resolution durch die Mitglieder mit Wirkung zum 30. November 2009 abgeschafft (vgl. heute ss. 28, 29 Companies Act 2006), abrufbar unter https://beta.companieshouse.gov.uk/company/ 05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018). 370
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„to establish and maintain an organisation to […] take part in all democratic electoral processes by contesting parliamentary elections, parliamentary by-elections, local elections, elections for the Scottish Parliament and the Welsh and Northern Irish Assemblies and regional elections […] [and to] contest elections to the European Parliament and its successful candidates will take up the seats it has won“.377
Dies kann nur bedeuten, dass mit ebendieser UKIP Ltd. keine Partei i. S. d. Parteienrechts gegründet wurde. Diese Klausel ist erst der Auftrag der Gründungsmitglieder an UKIP als Unternehmen, eine registrierte Partei nach s. 22 PPERA 2000 zu gründen. cc) Zweck der UKIP als unincorporated association und als wahlrechtlich registrierte Partei Die politische Willensbildung findet in der UKIP i. w. S. statt. Hierzu bildet die UKIP Ltd. den gesellschaftsrechtlichen Rahmen. Die Regelungen zur Wahl des Parteiführers, die Aufstellung des Parteiprogramms und auch die Nominierung von Kandidaten für die Wahlen zum House of Commons finden einzig nach den Vorschriften der UKIP-Satzung und der Rules of Procedure (Party Rule Book) statt.378 dd) UKIP als wahlrechtliche Partei und als Unternehmen vor den Gerichten Der Companies Act 2006 lässt dieses Auseinanderfallen der Partei in zwei rechtlich unabhängige gesellschaftsrechtliche Formen zu, ungeachtet der Wahrnehmung der Partei als eine einzige Personenvereinigung in der allgemeinen und juristischen Öffentlichkeit. Die rechtliche Distinktion zwischen der Partei i. e. S. (als Unternehmen) und der Partei i. w. S. (als unincorporated association und wahlrechtliche Partei) lässt gar die Entscheidung des Court of Appeal in der Sache UKIP v Hardy, die den Ausschluss eines Mitglieds zum Streitgegenstand hatte, im Unklaren. Unmittelbar nach der Feststellung, dass UKIP eine private company limited by guarantee ist, geht das Gericht auf die Rechtsnatur des Mitgliedschaftsverhältnisses und die Anwendbarkeit der natural justice-Doktrin ein: 377 So Art. 3(a) Memorandum of Association, dessen Wortlaut wie folgt war: „The Company’s objects are: to establish and maintain an organisation to (i) […] campaign for the UK withdrawal from the […] EU […]; take part in all democratic electoral processes by contesting parliamentary elections, parliamentary by-elections, local elections, elections for the Scottish Parliament and the Welsh and Northern Irish Assemblies and regional elections, although the Company seeks to free the United Kingdom from all the institutions of the European Union […] contest elections to the European Parliament and its successful candidates will take up the seats it has won.“ Abrufbar unter https://beta.companieshouse.gov.uk/company/05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018), Herv. d. Verf. 378 Vgl. nur Art. 6.11 ff. zur Wahl des NEC; Art. 7.5 ff. zur Wahl des Parteiführers; Art. 12.4 ff. der Parteisatzung zur Kandidatenauswahl sowie detaillierte Vorgaben in den r. N-W der Rules of Procedure (Party Rulebook) für Vorstandswahlen und Kandidatenselektionen.
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„It is not in issue for the purposes of this appeal that UKIP’s relationship with its members is, like that of an unincorporated association, founded on the basis of contract and governed by the rules of the association. Consequently, no member may be expelled or suspended for disciplinary or other reasons unless there is a power to do so provided for in the rules, the procedures laid down in such rules are complied with, and the principles of natural justice observed.“379
Durch diese Entscheidung nimmt der Court of Appeal keineswegs eine Abkehr von den in Gaiman v National Association for Mental Health380 aufgestellten Grundsätzen der Nichtanwendung der natural justice-Doktrin in einer Körperschaft unter dem Companies Act 2006 vor. Das Gericht zog einzig die „UKIP Constitution“381 als Rechtsgrundlage für die prozessuale Rechtmäßigkeit des Ausschlusses heran und ließ die Unternehmenssatzung unbeachtet. Angesichts der (vormaligen) Mitgliedschaft des Klägers, Alan Hardy, in der Partei i. w. S. wäre die Anwendung der constitution der UKIP als private company limited by guarantee durch das Gericht auch verfehlt gewesen. Der Kläger war schlicht niemals Mitglied des Unternehmens UKIP und hätte es auch nicht sein können: Gemäß Art. 9 Articles of Association 2004 (heute Art. 9 Articles of Association 2009) kann Unternehmensmitglied nur eine Qualifying Person sein. Als Qualifying Persons sind in den Begriffsbestimmungen in Art. 1.9 Articles of Association 2004 und 2009 „the Party Leader, the Party Treasurer, the Party Secretary, the Party Chairman and any member of the National Executive“382 (des Parteivorstandes der Partei i. w. S.) definiert. Der Kläger hatte aber eine solche Position in der Partei i. w. S. niemals inne. Mit der hiesigen Feststellung von zwei rechtlich getrennten Parteiorganisationen korrespondiert auch die Satzung der Partei i. w. S. (Constitution of the UK Independence Party), d. h. der unincorporated association. Sie bestimmt in Art. 2.1, dass die Partei unter dem PPERA 2000 registriert ist. Nach Art. 2.2.2 „exists [the Party, Anm. d. Verf.] as a Limited Liability Company registered with Companies House (Registration Number: 05090691) in accordance with the Companies Act 2006“. Wenngleich durch die Begriffsbestimmungen der Satzung der Partei i. w. S. nur im Singular von „The Party“ die Rede ist und systematisch die beiden registrierten Parteiorganisationen unter Art. 2.1 subsumiert sind, darf daraus nicht geschlossen werden, es handele sich um eine einzige Vereinigung im vereins- oder gesellschaftsrechtlichen Sinne. Nur dann, wenn man von zwei verschiedenen Personengesellschaften ausgeht, ergibt bspw. Art. 2.2.3 Sinn, demzufolge die gewählten Mitglieder des NEC (d. h. des Parteivorstandes) ex officio als directors der UKIP als 379
[2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ, Herv. d. Verf. [1971] 1 Ch. D. 317. 381 [2011] EWCA Civ 1204 (para. 10) – Potter LJ, Herv. i. O.: „[T]he relevant parts of the UKIP Constitution provide“, abrufbar unter http://www.ukip.org/the_constitution (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 382 Beide Versionen der Articles of Association der UKIP als private company limited by guarantee sind abrufbar unter https://beta.companieshouse.gov.uk/company/05090691 (letzter Aufruf: 10. Oktober 2018). 380
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
private company limited by guarantee fungieren.383 Somit existiert auch nach Eintragung als private company limited by guarantee die Partei i. w. S. als unincorporated association fort. Grund ist, dass nicht alle Mitglieder der Partei i. w. S. (es waren über 34.000 im Jahr 2017) Mitglieder der als Unternehmen eingetragenen Partei i. e. S. und damit jeweiliges Alter Ego sind.384 Andernfalls, und so ist es im Falle der UKIP, liegen zwei rechtlich unterschiedliche Vereinigungen vor.385 ee) Mitgliederprinzip bei zwei getrennten Parteiorganisationen Aus Sicht eines kontinentaleuropäischen Juristen mag die Existenz der Partei in zwei Rechtsformen verwirrend wirken, sie liegt nicht außerhalb des Gesetzeszwecks. Mit der private company limited by guarantee hat das britische Parlament eine Körperschaft geschaffen, die einer unincorporated association in einem Punkt nicht unähnlich ist: dem Clubgedanken.386 Trotz einiger regulativer Unterschiede, insbesondere der Rechtspersönlichkeit und der Transparenzpflichten im Innen- und Außenverhältnis, hat der Gesetzgeber auch den private companies limited by guarantee in großen Teilen dieselbe Freiheit in der Frage der Ausgestaltung des Mitgliedschaftsverhältnisses zugebilligt wie der gesetzlich gänzlich unregulierten unincorporated association. Folglich können beide Vereinigungen die Mitgliedschaft an Kriterien anknüpfen, die einzig in der Satzung niedergelegt sind.387 Zusätzlich sind die gesetzlichen Erleichterungen für die private copmany limited by guarantee gegenüber der unincorporated association zu bedenken. Es ist sogar möglich, das Unternehmen als eine Einmanngesellschaft zu gründen. Entscheiden sich mehrere Personen für die Gründung eines Unternehmens, so werden sie als Erstunterzeichner der articles of association kraft gesetzlicher Anordnung auch die ersten Mitglieder nach s. 112(1) Companies Act 2006. Obwohl gesetzlich seit 1985 nicht mehr verpflichtend, kann auch eine Obergrenze der Mitgliederanzahl in die articles of association aufgenommen werden (siehe vormals s. 7 Companies Act 1948).388 UKIP hat eine Mindestmitgliederzahl in Art. 5 Articles of Association 2009 von sieben Personen festgeschrieben. 383 Wortlaut der Klausel: „Elected members of the NEC shall serve as Directors of the Company from the date upon which they are declared elected in accordance with this Constitution and the Rules until the date upon which their successor is elected.“ 384 Vgl. nochmals zu dem Grundsatz Warwickshire Masonic Peace Memorial Temple Ltd. v Hotel and Catering Industry Training Board [1969] 113 S.J. 995. Zur Mitgliederanzahl von UKIP siehe Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 13. 385 Zum Ganzen Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 21 ff. 386 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 7; vgl. erneut Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 21 ff. m. w. N. zur gleichzeitigen Existenz von club und private company limited by guarantee. 387 Ausnahmen gelten für charities in der Rechtsform der private company limited by guarantee, dargestellt bei Picarda, Charities, S. 267 ff. 388 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 67.
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Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft können in der constitution des Unternehmens definiert werden, je nachdem ob das Interesse an einer unternehmensinternen Demokratie besteht oder ob es eine möglichst effiziente interne Willensbildung geben soll.389 Will ein Unternehmen von einer großen Mitgliederschaft absehen, weil dies dazu führen kann, dass die Mehrheitsfindung für wichtige unternehmerische Entscheidungen erschwert wird, so kann es die Mitgliedschaft quantitativ oder qualitativ einschränken.390 Restriktionen der Mitgliedschaft aufgrund des Gesellschaftsvertrages sind ihrerseits nur durch Antidiskriminierungsgesetze und den Human Rights Act 1998 begrenzt.391 Möglich ist es daher, an subjektive Kriterien anzuknüpfen. Für eine property management private company limited by guarantee wäre dies aufgrund des Unternehmenszweckes die Stellung als Eigentümer oder Mieter/Pächter eines Grundstücks.392 Dies gilt folglich auch für politische Parteien, welche diese Rechtsform innehaben. Hierbei wählte UKIP den Weg, nur diejenigen zu Mitgliedern des Unternehmens zu machen, die von der Partei i. w. S. in den Parteivorstand gewählt worden sind.393 Gleichsam erfolgt die Wahl der directors durch die Partei i. w. S. So wählt das NEC „from time to time“ die directors gemäß Art. 24 Articles of Association 2009. Ein spezielles Wahlverfahren statuiert die Parteisatzung nicht (vgl. oben Art. 2.2.3). Vielmehr statuiert die Unternehmenssatzung, dass die gewählten Vorstandsmitglieder der Partei i. w. S. directors der Partei i. e. S. kraft Amtes sind. Auch nach r. E.5 der Rules of Procedure (Party Rulebook)394 „shall be expected“, dass die gewählten Mitglieder des NEC als directors tätig werden. Es ist demnach davon auszugehen, dass das one man one vote-Prinzip und das einfache Mehrheitserfordernis im Parteivorstand bei der Wahl der directors greifen, vgl. nur Art. 6.17 f. der Parteisatzung, r. A.4 Rules of Procedure (Party Rulebook).395 Ein Grund für die beschränkenden
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Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 90; Warburton, Charity Members, CPL 2006, S. 330 (330 f.). 390 Aus der Literatur mit dem Beispiel der Beschränkung der Mitgliedschaft auf die directors vgl. Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (113): „[M]embership may consist of no more than the directors or may be open to anyone interested in the objects.“ 391 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 71. 392 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 71. 393 So nochmals klargestellt in Art. 5 Articles of Association 2009: „No person shall be a member of the Company unless he is a Qualifying Person and every member shall, upon ceasing to be a Qualifying Person shall (sic!) automatically cease also to be a member of the Company.“ 394 Abrufbar unter: http://www.ukip.org/ukip_party_rule_book (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 395 Es wird kein NEC-internes Abstimmungsverfahren in der Parteisatzung und den Rules of Procedure festgelegt. Aus diversen Normen ergibt sich o. g. Prinzip der Wahlgleichheit und das Erfordernis der einfachen Mehrheit. Die r A.4 lautet: „These Rules may be amended by a simple majority vote of the National Executive Committee.“ Auch für die Durchführung des annual general meeting (ordentlicher Parteitag), die Wahl des NEC und des Parteiführers u. a.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Anforderungen an die Mitgliedschaft ist, dass, wenngleich die Unternehmensmitglieder nicht die „day-to-day control“396 über das Unternehmen ausüben, sie doch in grundsätzlichen Fragen die Letztentscheidungsbefugnis innehaben. Diese wird ihnen aber kraft Gesetzes verliehen und nicht erst durch die Unternehmenssatzung. Ein Beispiel ist das Recht der Abwahl von directors gemäß s. 168 Companies Act 2006, der eine zwingende Vorschrift zur Erhaltung des Wesenskerns der member democracy darstellt. Vor dem Hintergrund der Unabdingbarkeit dieser Vorschrift muss die Entscheidung von UKIP verstanden werden, eine Personenidentität zwischen der Stellung als Mitglied und als director der private company limited by guarantee zu schaffen.397 Darüber hinaus hat UKIP Ltd. in Übereinstimmung mit den model articles den directors, „all powers of the Company“ übertragen (Art. 28). 5. Zwischenergebnis: Unbeachtlichkeit der Rechtsformfrage vor Gerichten Zwei Gerichtsentscheidungen zeigen bereits, dass der Rechtsformfrage und daraus möglicherweise resultierenden Konsequenzen für das Innenund Außenrechtsverhältnis einer so organisierten Partei nicht allzu hohe juristische Aufmerksamkeit beigemessen wird. In dem Verfahren Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul, welches das Verhältnis der Partei zu Dritten betraf, hielt der High Court wörtlich fest: „For all practical purposes, the second named plaintiff, although incorporated as a company limited by guarantee, is or operates as a political party.“398
Ebenso entschied der Court of Appeal, dass „it is not in issue for the purposes of this appeal that UKIP’s relationship with its members is, like that of an unincorporated association, founded on the basis of contract and governed by the rules of the association“.399
In beiden Fällen bleibt eine weitere Berücksichtigung der gewählten Rechtsform für die den Gerichten vorgelegten Rechtsfragen aus.
gelten diese Prinzipien, siehe r. C.4.2, O.8 Rules of Procedure (Party Rulebook), abrufbar unter http://www.ukip.org/ukip_party_rule_book (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 396 Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 67. 397 Wie oben ausgeführt, sind erstens nur Mitglieder des NEC zu Qualifying Persons für die Mitgliedschaft in der UKIP Ltd. zuzulassen. Zweitens kommen dem Party Chairman, Party Secretary oder Party Treasurer – die nur aufgrund dieses Amtes Mitglieder UKIP Ltd. sind – keine Stimmrechte innerhalb des Unternehmens zu, vgl. Art. 18 Articles of Association 2009. Sie sind zunächst einmal nur Qualifying Persons für die Mitgliedschaft im Unternehmen. Erst wenn diese zu directors durch das NEC ernannt werden, können sie Stimmrechte ausüben. 398 Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 Q.B.D. (407) – Buckley J, Herv. d. Verf. 399 UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 8) – Potter LJ, Herv. d. Verf.
B. Einzelne Verpflichtungen zur inneren Ordnung in Gesetzen
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Auch in Bezug auf die eingangs genannte Pflicht zur parteiinternen (weil unternehmensinternen) Demokratie sind abschließend einige Einschränkungen zu machen. Zwar sind die gesetzgeberisch auferlegten Grundsätze demokratisch, es bleibt aber bei einer weitgehenden Freiheit der Unternehmen, ihre innere Ordnung selbst zu regeln, bis hin zur Möglichkeit, nur eine Einmanngesellschaft zu gründen. Nicht in jeder denkbaren Konstellation einer parteiinternen Streitigkeit, die vor die staatlichen Gerichte gebracht wird, sind die Mitglieder besser geschützt als in einer unincorporated association: Einerseits können Unternehmensmitglieder weniger gerichtlichen Schutz erwarten, wenn die Anwendbarkeit der natural justice und der ultra vires-Doktrin nicht im Gesellschaftsvertrag niedergeschrieben ist bzw. sich nicht von diesem in Auslegung des Vertrages ableiten lässt. Andererseits sind die Grundstrukturen der Gesellschaft nicht veränderbar, insoweit die beiden Hauptorgane, der Vorstand und die Mitgliederversammlung, gesetzlich zwingend vorgeschrieben sind. Für die (zusätzliche) Registrierung einer Partei als private company limited by guarantee sprechen freilich die Vorteile der mit der Rechtspersönlichkeit verbundenen Haftungsbeschränkung für die Mitglieder. Als ein Nachteil können die doppelten Publizitätspflichten gesehen werden, denn die beim Companies House und der Electoral Commission einzureichenden Jahresberichte sind formell und materiell zum Teil nicht deckungsgleich und erfordern mehr Arbeit und ggf. höhere Kosten.400 Die beschränkte Haftung und das damit verbundene Mitgliedschaftsprinzip machen dennoch die besondere Eignung der private company limited by guarantee für die politischen Parteien und andere Non-Profit-Organisationen aus. Dies gilt nicht nur in Abgrenzung zur unincorporated association, sondern auch zu kapitalbasierten und auf Gewinnerzielung ausgerichtete Unternehmensrechtsformen. Auch letztere wären für rein gesellschaftliche und politische Zwecke rechtlich möglich, werden aber oftmals von den handelnden Personen als nicht passend empfunden.401 Somit wird die Unternehmensrechtsform der private company limited by guarantee zur Ausdrucksform dessen, dass „the creators of the company […] regard membership of the company divorced from shareholding as a more appropriate expression of the objectives of the company.“402 Bei den Parteien ist diese Unternehmensrechtsform zum einen gerade mit Blick auf den Unternehmenszweck (der Teilnahme der Partei 400
Für den ähnlich gelagerten Fall der charities siehe Picarda, Charities, S. 267. Vgl. aus der parteienrechtlichen Literatur Davis, Political Freedom, S. 182 ff.; aus der gesellschaftsrechtlichen Literatur Davies/Worthington/Micheler, Modern Company Law, para. 1.8 mit dem Hinweis, dass Ein-, vor allem aber Austritte von Mitgliedern aus einer private company limited by guarantee dahingehend einfacher sind als bei einer private company limited by share (und anderen Gesellschaftsformen mit Stammkapital). Grund dafür ist, dass bei letzteren der Anteil eines austretenden Anteilseigners an eine andere Person übertragen werden muss. Bei der private company limited by guarantee hingegen reicht es aus, dass das Mitglied den Austritt unilateral erklärt (ggf. unter Einhaltung bestimmter satzungsrechtlicher Vorgaben der Gesellschaft). Die Garantie wird nämlich erst fällig, wenn sich die Gesellschaft in Liquidation befindet, und muss daher bei Austritt auch nicht rückerstattet werden. 402 Mayson/French/Ryan, Company Law, S. 169. 401
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
und ihrer Kandidaten an staatlichen Wahlen) passend. Zum anderen gilt dies auch in Bezug auf die Mitgliedschaft als personelle Grundlage ihrer Organisation. Ungeachtet der Frage, welche Rechtsform die Parteien wählen, bleibt eine außerparlamentarische Parteiorganisation stets eine auf freiem Entschluss beruhende Vereinigung von Bürgern, deren Basis eine aktive oder auch nur passive (also nur „zahlende“) Mitgliederschaft ist. Eine Parteimitgliedschaft ist aber anders als ein klassischer Unternehmensanteil „conceived of as personal and untradeable, unlike a share in a publicly listed company.“403 Zuletzt gilt in rechtsvergleichender Hinsicht, dass bar der auf den ersten Blick festzustellenden praktisch-funktionellen Ähnlichkeiten zum deutschen Verein, als welcher die deutschen Parteien organisiert sind, einige Unterschiede vorliegen. Insbesondere hebt sich die private company limited by guarantee vom nichtwirtschaftlichen Verein nach § 21 BGB (als welche die deutschen Parteien verfasst sind) dadurch ab, dass die Gründung gemäß s. 7(1) Companies Act 2006 durch eine einzelne Person als Mitglied erfolgen kann.404 Außerdem sind wirtschaftliche Zwecke gestattet, sodass sogar – noch – die europäischen gesellschaftsrechtlichen Richtlinien teilweise explizit auf die private company limited by guarantee bezogen und anwendbar sind.405
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder I. Rechtsnatur des Mitgliedschaftsverhältnisses 1. Vertragliche Begründung des Mitgliedschaftsverhältnisses Auch im Vereinigten Königreich sind die beiden großen Parteien als Massenmitgliederparteien organisiert, wie oben in dieser Untersuchung an anderer Stelle bereits dargelegt wurde.406 Die rechtlichen Grundlagen hierfür sind nicht, wie es in anderen Rechtssystemen der Fall ist, in gesetzlichen Vorschriften niedergelegt, welche die Parteien verfassungsrechtlich verpflichten.407 Sie ergeben sich einzig aus der traditionell gewählten privatrechtlichen Organisations- und Rechtsform der 403
Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (337). Wortlaut der Norm: „A company is formed under this Act by one or more persons.“ Dazu auch Wesiack, Europäisches internationales Vereinsrecht, S. 34. 405 Siehe etwa Art. 1 Abs. 1 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978. Vgl. erneut Wesiack, Europäisches internationales Vereinsrecht, S. 33 m. w. N. 406 Vgl. Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./ Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (187, 190 f.), dort u. a. zur britischen Rechtslage und m. w. N. Daneben ein organisationswissenschaftlicher deutsch-britischer Parteienvergleich von Scarrow, Parties and Their Members, S. 1 ff., 52 ff. 407 Ebenfalls ist bereits gezeigt worden, dass der PPERA 2000 das rein privatrechtliche Mitgliedschaftsverhältnis unberührt lässt. So fehlt es an einer gesetzlichen Definition der Mitgliedschaft und einer gesetzlichen Konturierung der gegenseitigen Rechte und Pflichten. 404
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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britischen politischen Parteien als unincorporated association, der das Mitgliedschaftsprinzip immanent ist.408 Im Lichte ihrer Entwicklungsgeschichte ist das Organisationsrecht der unincorporated association nur durch die Rechtsprechung näher konkretisiert worden. Dennoch mangelt es an einer Definition der Mitgliedschaft bzw. der Mitgliederstellung, d. h. der Rechte und Pflichten. Nach Slade LJ ist die unincorporated association „an association of persons bound together by identifiable rules and having an identifiable membership.“409 In der bereits vielfach in dieser Arbeit zitierten Definition der unincorporated association aus dem Urteil Conservative and Unionist Central Office v Burrell geht der Court of Appeal auf das Mitgliederprinzip detaillierter ein. Er beschreibt abstrakt Pflichten („duties and obligations“) sowie konkreter die Rechte des Mitglieds. Unter den Rechten benennt er das Ein- und Austrittsrecht („on what terms and which can be joined or left at will“). Schon das Recht zur Teilhabe an der vereinigungsinternen Willensbildung eines jeden Mitglieds ist nicht explizit ausgesprochen. Vielmehr stellt es das Gericht den Vereinigungen anheim, diejenigen „rules which identify in whom control of it“410 auszugestalten. Zuvorderst belegen diese beiden Gerichtsentscheidungen nur, dass die Existenz des essentiellen411 Mitgliederprinzips der unincorporated association seit längerer Zeit gerichtlich anerkannt ist. Die Frage, wie diese Rechte auszugestalten sind und ob seitens der Gerichte materielle und prozessuale Inhalte im Einzelfall angewendet werden können – obschon nicht in der Satzung der betreffenden Vereinigung ausdrücklich geregelt –, ist hingegen „long been a matter of dispute and are still far from settled.“412 Mit einem obiter dictum in der Entscheidung Lewis v Heffer hat Lane LJ es für die Binnenorganisation der als unincorporated association organisierten Parteien etwas prosaisch ausgedrückt: „I would like to add this. The courts exist (one hopes) as a last resort for the members of a party or organisation who feel that the only way they can assert their rights inter se is to ask the court to define what those rights are. They do not exist simply to give the kiss of life to some faction which is otherwise not viable.“413
So war die Anwendbarkeit der natural justice auch ohne oder sogar entgegen einer konkreten Vertragsklausel lange Zeit umstritten und wird erst seit wenigen Jahren als implied by law angesehen, aber kann unter bestimmten Umständen auch abbedungen 408 Einen Überblick hierzu liefert Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 passim. 409 Re Koeppler’s Will Trust [1985] 3 W.L.R. 765 (771). 410 [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ. Die gesamte Definition hiernach lautet: Eine unincorporated association besteht aus „two or more persons bound together […] each having mutual duties and obligations, in an organisation which has rules which identify in whom control of it and its funds rest and on what terms and which can be joined or left at will“. 411 Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (109). 412 Warburton, Accountability and Control, CPL 1997, S. 106 (109) m. w. N. auf Lloyd, Unincorporated Associations, S. 103 f.; Chafee, Internal Affairs of Associations, HLR 1930, S. 993 passim. 413 [1978] W.L.R. 1061 (1079), Herv. d. Verf.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
werden.414 Auch materielle Fragen der Satzungsauslegung im Hinblick auf Kandidaturen bei Parteiführerwahlen oder der parteiinternen Parlamentskandidatenauswahl sind seit den späten 1990er Jahren vor die Gerichte gebracht worden. Anlass für die Beachtung materieller Fragen boten u. a. der Sex Discrimination Act 1975 und der Race Relations Act 1976 sowie jüngst der diese Vorschriften ersetzende Equality Act 2010. Diese haben die grundsätzlich weiterhin gegebene Organisationsfreiheit der Parteien in Fragen einschränkender Voraussetzungen für die Mitgliedschaft und für die Kandidatenaufstellung nachhaltig beeinflusst. Auch die vereinsrechtliche Literatur vermag nur vorzuschlagen, was die Satzung einer unincorporated association beinhalten soll, nicht was sie beinhalten muss. So halten die britischen Vereinsrechtler Nicholas Stewart, Natalie Campbell und Simon Baughen kurzum fest: „The rules should clearly establish the rights and obligations between members and must also clearly provide for the governing control of the association.“415 Einerseits sind in den Parteisatzungen der größeren Parteien grundsätzlich das Eintritts- und Austrittsrecht sowie das Recht zur Teilnahme und Teilhabe an der (hier: innerparteilichen) Willensbildung geregelt. Andererseits kommt jeder Partei – d. h. de jure den anderen Mitgliedern mangels Rechtspersönlichkeit der Partei selbst – das Recht zu, von jedem anderen Mitglied die Vertragstreue einzufordern. Dies kann sich z. B. in dem Anspruch auf Erfüllung der Mitgliedsbeitragszahlungspflicht konkretisieren. Bei diesbezüglichen Verstößen enthalten die Satzungen das Recht, Ordnungsmaßnahmen bis hin zum Ausschluss eines vertragsbrüchigen Mitglieds zu verhängen.416 2. Anwendung des Human Rights Act 1998 auf das Mitgliedschaftsverhältnis? a) Parteien zwischen Gesellschaft und Staat als Grundrechtsverpflichtete? Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Einbeziehung der politischen Parteien in die grundrechtsverpflichteten Institutionen ist die Beobachtung, dass die Parteien zwischen Staat und Gesellschaft changieren und sich nicht eindeutig und ausschließlich der gesellschaftlichen Sphäre zuordnen lassen.417 Auch im Vereinigten Königreich fungieren die Parteien als Transmissionsriemen, Zwischenglieder oder
414
Historisch aus der deutschen Literatur hierzu Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 130 ff. m. w. N. auch auf die parteienrechtliche Rechtsprechung. 415 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.17, Herv. d. Verf. 416 Vgl. insgesamt zu unincorporated associations nur Warburton, Unincorporated Associations, S. 1 f., 3 f., S. 14 ff.; vgl. speziell zu den Parteien Ewing, Cost of Democracy, S. 67 m. w. N. 417 Vgl. rechtsvergleichend unter Einschluss des britischen Rechts Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet der politischen Parteien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, S. 695 (722 ff.).
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Bindeglieder,418 die Personal und (Sach-)Politik aus der Gesellschaft in die staatlichen Institutionen transportieren. Zudem ist der normativ-verfassungsrechtliche Standort der Parteien im Lichte der komplexen britischen Verfassung nicht so einfach zu bestimmen wie in Staaten mit kodifizierter Verfassung.419 Auf der einen Seite sind sie – das teilen sie mit ihren kontinentaleuropäischen Pendants – Elemente der Verfassungswirklichkeit420 und keine Staatsorgane.421 Auf der anderen Seite ist das Funktionieren der britischen Staatsorgane, insbesondere des Parlaments, abhängig von den rechtlich normierten und den tatsächlich durchgeführten parteiinternen Abläufen. So wird die Parlamentssouveränität als das höchste Dogma des britischen Verfassungsrechts durch die dominierende Stellung der Parteien, ihrer Abgeordneten und Fraktionen, zu einer Parteiensouveränität. Allerdings gedeiht dieser verfassungsrechtliche Status nur den Exponenten der Parteien an, die durch den vom politischen Souverän ausgeübten Wahlakt formal zu Teilen ebendieser staatlichen Organe werden. Dies sind mithin die erfolgreichen Parlamentskandidaten. Sie stellen die party in public office dar. Verfassungsrechtlich normiert sind diese Prozesse und das daraus folgende Ergebnis in den Wahlgesetzen und im Parlamentsinnenrecht. Anders verhält es sich bei der Wahl der Parteiführer und der daraus folgenden Ernennung zum Premierminister. So ist das politische Schicksal eines (Schatten-) Premierministers auf engste mit der Wahl respektive der Abwahl als Parteiführer verbunden.422 Juristisch liegt die britische Besonderheit darin, dass je nach satzungsmäßiger Normierung die Wahl (zumindest auch oder gar exklusiv) durch die party on the ground, die außerparlamentarische Parteiorganisation erfolgt und verfassungskonventional die Parteiführerstellung condicio sine qua non für die Premierministerschaft ist.423 Insofern wird von einigen Verfassungsrechtlern gar davon 418
Zu diesen Begriffen aus dem deutschen Parteienrecht siehe etwa Schulze-Fielitz, Integrationskraft der politischen Parteien, in: Krüper/Merten/Poguntke (Hrsg.), Parteienwissenschaften, S. 105 (105) m. w. N. Eine Übernahme der Transmissionsriemenmetapher findet sich in der britischen Parteienrechtsforschung bei Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (544) und bei Morris, Conceptualising Candidate Selection, P.L. 2008, S. 415 (426). 419 Vgl. für Deutschland die Ausführungen von Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, S. 161 ff. m. w. N. 420 Vgl. diesen von Carlo Schmid geprägten Begriff für die deutschen Parteien nach Art. 21 GG nur Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, S. 163 f. m. w. N. 421 Dazu Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (320). 422 Der Rücktritt eines parteiintern abgewählten Parteiführers vom Amt des Premierministers ist nur eine politische Konsequenz und kann, da es sich bei der Bestellung des Premierministers um eine von der Krone ausgeübte royal prerogative handelt, auch nicht gerichtlich eingeklagt werden. Der Grund dafür ist, dass die Krone immun ist. Smith meint, dass die Begründung der Premierministerstellung durch Berufung der Krone als eine „konstitutionelle Fiktion interpretiert“ werden kann, vgl. Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/ Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (320). Dies zeigt einmal mehr, dass sich rechtliche und politische Konsequenzen politischen Handelns in der Verfassung des Vereinigten Königreichs nicht so einfach trennen lassen. 423 Hierzu Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 111 m. w. N.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
gesprochen, dass das Parteieninnenrecht (d. h. das Satzungsrecht der party on the ground zur Wahl des Parteiführers) eine Verfassungsrechtsquelle darstellt.424 In jedem Fall zeigt sich anhand dieser kurzen Erläuterungen gerade für das Vereinigte Königreich, dass die Parteien einer dichotomischen Einordnung gegenüber renitent sind.425 Wegen dieser intermediären Stellung von Parteien wird in der internationalen Parteienrechtsforschung seit längerer Zeit diskutiert, ob die Parteien außerhalb des Parlaments zu den grund- bzw. menschenrechtsverpflichteten Institutionen zu zählen sind.426 Im Zusammenhang mit der Verrechtlichung des Parteienwesens 1998/2000 ist dieser Gedanke im Vereinigten Königreich aufgegriffen worden. Konkret auf die britischen Verhältnisse bezogen, bedeutete eine bejahende Antwort zu dieser Frage, dass die politischen Parteien im Innenverhältnis gegenüber ihren Mitgliedern an die Grund- bzw. Menschenrechte aus dem Human Rights Act 1998 gebunden wären. Diese Frage ist in der parteienrechtlichen Literatur427 und zugleich im Parlament (House of Lords) im Zuge der Verfassungsreform seit 1997 diskutiert worden.428 In jüngerer Zeit wurde dieser Einwand in dem Verfahren UKIP v Hardy429 von dem ausgeschlossenen Parteimitglied beim High Court und dem Court of Appeal vorgebracht.
424 So Alder, Constitutional Law, S. 23 f., S. 33. Andere sehen dies nur als materiellrechtliche Quelle der Verfassung i. w. S. an, so etwa Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 548 ff.; Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 155 ff., allerdings unter der Kapitelüberschrift „The institutions of government“. 425 Vgl. für die deutschen Parteien Tsatsos/Morlok, Parteienrecht, S. 32 f. 426 Statt vieler aus der jüngeren Literatur Wood, Human Rights Obligations to Political Parties, CJICL, 2013, S. 431 passim. 427 Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (545): „The Human Rights Act 1998 may have some (as yet indeterminate) implications for political parties.“ Tendenziell für die Subsumtion von Parteien unter die durch den Human Rights Act 1998 verpflichteten Institutionen votiert Davis, Political Freedom, S. 76. 428 So Anthony Lester (Lord Lester) in HL Deb 20 December 2001 vol. 630 cc. 399 ff. Ausführlich zur quasi-governmental function der Parteien, insbesondere in der Kandidatenauswahl bei der Plenardebatte um den späteren Sex Discrimination Act 2002: „I often have doubts, but I have no doubt that the courts would say that political parties are public authorities for the purpose of the Human Rights Act, in which case they can be sued directly under Section 7 of the Human Rights Act if they act in a way that is not compatible with the convention“ (a. a. O., c. 401). 429 [2011] EWCA Civ 1204 paras. 23, 58 – Potter LJ.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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b) Normativer Anknüpfungspunkt: Parteien als public authorities? aa) Human Rights Act 1998 als erster britischer Grundrechtskatalog Der Human Rights Act 1998 ist der erste umfassende Grundrechtskatalog des Vereinigten Königreichs.430 Den Schutz von Grundrechten sahen die herrschende britische Rechtslehre und das Parlament zuvor stets durch die ehernen Verfassungsprinzipien, die Parlamentssouveränität und die Rule of Law als gesichert an.431 Zwar kann das Parlament im Rahmen seiner konstitutionellen Unbeschränktheit theoretisch alles tun oder unterlassen, was es für richtig hält. Jedoch obliegt ihm, sich aus der Selbstbindung an die Rule of Law und der politischen Volkssouveränität diesbezüglich in Zurückhaltung zu üben.432 Daneben sah man den Schutz von Freiheiten des Einzelnen konkret-individuell durch die Gerichte und die im Common Law entwickelten Rechte und damit korrespondierenden Rechtsbehelfe als ausreichend gesichert an.433 Das Fundament für diese verfassungsrechtliche Situation bis 1998 hatte insbesondere Diceys berühmtes Opus zur britischen Verfassung gelegt.434 Seine Sicht war geprägt von einem politisch starken, unabhängigen und die Politik dominierenden Parlament. Dies lag weiland zweifellos vor. So hatte sich das Parlament (genauer: das House of Commons) seine Unabhängigkeit von der Krone über die Jahrhunderte erkämpft und war im Laufe des 19. Jahrhunderts zur veritablen Volksvertretung im modernen Sinne avanciert. Diese Konzeption von einem „independent Parliament acting as a wachtdog against any excess of zeal by the executive“435, die ja immer noch der Krone unterstand, bildete nicht mehr die realiter existierende Situation im späten 20. Jahrhundert ab. Vielmehr hatte sich die politische Macht im Laufe des Jahrhunderts vom Parlament zur Exekutive verlagert. Schließlich wurden in den 1980er Jahren unter Premierministerin Thatcher zahlreiche Gesetze erlassen, welche die Befugnisse des Sicherheitsapparates zulasten der Bürger massiv ausweiteten (bspw. der Police and Criminal Evidence Act 1984 oder der Security Service Act 1989). Gleichzeitig sahen diese Gesetze nur enge Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen gegen die verhängten Maßnahmen vor.436 Im Jahr 1997 trat die Labour Party unter Blair mit dem New Labour-Programm in den Wahlkampf. Die Partei hatte sich zum Ziel nicht 430
Vgl. Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 839; Bogdanor, Constitution, S. 63 urteilt: „It gives us something very near to a bill of rights.“ 431 Erneut nur Hofmeister, Human Rights Act, S. 20. 432 Vgl. hier aus der deutschen Literatur Hofmeister, Human Rights Act, S. 20. 433 Statt vieler Grote, Inkorporierung der EMRK, ZaöRV 1998, S. 309 (310). 434 Fenwick/Phillipson, Public Law & Human Rights, S. 840 ff. mit Zitaten von Dicey und anderen Lehrmeinungen zum britischen Verfassungsrecht. 435 Dicey, Constitution, S. 49 f. 436 Vgl. Hofmeister, Human Rights Act, S. 21 m. w. N. Die Rolle der Gerichte traditionell „in upholding civil liberties in the face of government claims to national security“ ist schwach ausgeprägt, so Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 772 f. m. w. N. auf die Rechtsprechung vor 1998/2000.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
weniger als die erste umfassende britische Verfassungsreform gesetzt. Diese Reform sollte das Königreich demokratischer und dezentraler machen und enthielt neben den neu einzuführenden gesetzlichen Regulierungen der Parteien im Wahl- und Parteienfinanzierungsrecht, jener der Durchführung von Referenden und der devolution auch die Einführung des späteren Human Rights Act.437 Der Human Rights Act 1998, der im Jahr 2000 (nach einer aus praktischen Gründen gebotenen Übergangszeit für die Schulung der Richterschaft) in Kraft trat, stellt aus Sicht zeitgenössischer Juristen und Politiker gar „the most important piece of constitutional legislation in Britain for many years“438 dar. bb) Umfang der inkorporierten Rechte Die Konventionsrechte, die nach s. 1(1) Human Rights Act 1998 vom Human Rights Act 1998 in britisches Recht übertragen wurden, sind die Artt. 2 – 12, 14 EMRK, Artt. 1 – 3 1. EMRK-ZProt und Art. 1 13. EMRK-ZProt. Diese umfassen u. a. die politischen Konventionsrechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) und auch das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK). Diese wären allesamt mit Blick auf die innerparteiliche Demokratie, d. h. auf das Verhältnis zwischen Mitgliedern und Partei, relevante Rechte.439 cc) Regelungsmechanismus des Human Rights Act 1998 Der Regelungsmechanismus des Human Rights Act 1998 umfasst zum einen die präventive Kontrolle von Gesetzgebungsentwürfen am Maßstab der EMRK-Rechte nach s. 19 Human Rights Act 1998.440 Zum anderen sind nach s. 3(1) Human Rights Act 1998, welche die eigentlich zentrale Norm des Gesetzes darstellt, die primary legislation (Parlamentsgesetze) und die subordinate legislation (Verordnungen und Satzungen) durch Behörden und Gerichte konventionskonform auszulegen. Ist eine konventionskonforme Auslegung nach den im Vereinigten Königreich anerkannten
437 Dies alles war unter dem Titel „A new agenda for democracy“ zusammengefasst und war Teil des Labour-Positionspapieres für die Verfassungsreform, vgl. Hofmeister, Human Rights Act, S. 22 m. w. N. Eine prägnante Zusammenfassung der Gesetzgebungsgeschichte bei Cooper/Marshall-Williams (Hrsg.), Parliamentary Debates on the Human Rights, S. IX ff. 438 So Woolf LCJ, damals MR, zitiert nach Brinktrine, Horizontal Effect of Human Rights, EHRLR 2001, S. 421 (422). Nach Steyn LJ habe durch den Human Rights Act 1998 „Parliament transformed our country into a rights-based democracy“, zitiert nach Bogdanor, Constitution, S. 64. 439 Vgl. dazu nur Davis, Political Freedom, S. 64 ff. m. w. N. 440 Dieser ist hier nicht weiter von Belang für die vorliegende Arbeit, weshalb auf die weiterführende Literatur verwiesen wird, siehe etwa Grote, Inkorporierung der EMRK, ZaöRV 1998, S. 309 (345).
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Auslegungsprinzipien (statutory interpretation) nicht möglich,441 so kann ein angerufenes Gericht eine declaration of incompatibility nach s. 3(1) Human Rights Act 1998 erlassen. Einzig für die untergesetzlichen Normen, die hier von Belang sind, folgt daraus die Möglichkeit der Aufhebung im Wege des judicial review-Verfahrens, vgl. s. 7(3) – (4) Human Rights Act 1998.442 Die s. 3 Human Rights Act 1998 gilt daher als die zentrale Vorschrift des gesamten Gesetzes.443 dd) Geltendmachung von konventionsrechtlichen Verstößen Wie soeben erwähnt, findet auch das judicial review-Verfahren auf Verstöße gegen Konventionsrechte Anwendung. Dieses Verfahren wird allerdings in den ss. 7 – 9 Human Rights Act 1998 modifiziert. Dabei muss, anders als beim „allgemeinen“ judicial review-Verfahren, nicht nur ein sufficient interest nachgewiesen werden.444 Im Rahmen der Klage- bzw. Antragsbefugnis muss der Kläger bzw. Antragsteller wie bei der Individualbeschwerde nach Art. 34 ERMK geltend machen können, zumindest möglicherweise in eigenen Rechten verletzt zu sein. Er muss geltend machen können, zumindest möglicherweise victim einer Konventionsrechtsverletzung zu sein, vgl. s. 7(1), (3) Human Rights Act 1998.445 Somit scheidet eine actio popularis im Grundsatz aus.446 Bei nicht unmittelbar auf einem Gesetz 441 Wortlaut der Norm: „So far as it is possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights.“ (Herv. d. Verf.). 442 Siehe dazu auch Hofmeister, Human Rights Act, S. 22 m. w. N.: Wegen der Parlamentssouveränität können Gesetze nicht durch ein Gericht aufgehoben werden bzw. nicht im Einzelfall für unanwendbar erklärt werden. Hier entfaltet die declaration of incompatibility keine weiteren rechtlichen Konsequenzen. 443 Siehe hier nur Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (80 f.) m. w. N. 444 Durch diese Beschränkung auf die (potenzielle) Opferstellung des Antragstellers bleibt public interest groups (d. h. NGO) der Weg in einigen Fällen versperrt, sich unmittelbar auf die inkorporierten EMRK-Rechte zu berufen. Davon unberührt bleibt die Möglichkeit, im Wege des allgemeinen judicial review-Verfahrens auf Grundlage anderer Gesetze einen hoheitlichen Akt anzugreifen (und damit nicht grundrechtsspezifisch zu rügen). Denn beim judicial review wird nur der sufficient interest-Test nach s. 31(3) Senior Courts Act 1981 durchgeführt. Diesen erfüllen regelmäßig auch individuell nicht betroffene NGO. Vgl. dazu auch Amos, Human Rights Law, para. 2.4. Aus der deutschen Literatur siehe Hofmeister, Human Rights Act, S. 28 f. zur alten Rechtslage bis 2009. 445 Wortlaut der subsection 3: „If the proceedings are brought on an application for judicial review, the applicant is to be taken to have a sufficient interest in relation to the unlawful act only if he is, or would be, a victim of that act.“ Diese Zulässigkeitsvoraussetzung hat der britische Gesetzgeber dem Art. 34 EMRK direkt entlehnt, vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 653 m. w. N. 446 Siehe Amos, Human Rights Law, para. 2.4. Eine Ausnahme wurde im Fall R. (Evans) v Secretary of State for Defence [2010] EWHC 1445 (Admin) (para. 2), gemacht. Trotz fehlender individueller Betroffenheit hat der Court of Appeal die Zulässigkeit bejaht, weil – nota bene – der Gegner, die Regierung, die fehlende Klagebefugnis nicht gerügt hatte: „[T]he claim itself is
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beruhenden Konventionsrechtsverletzungen ermächtigt s. 8(1) Human Rights Act 1998 die britischen Gerichte, bei einem festgestellten Verstoß gegen die Konventionsrechte die remedy zu wählen, welche das Gericht im Einzelfall für „just and appropriate“ (geeignet und angemessen) hält. Dies kann die Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsaktes447 sein, die Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts oder schlicht die Feststellung der Konventionsrechtswidrigkeit.448 Nach s. 8(3) kommt ebenfalls die Gewährung eines Schadensersatzes in Betracht, wenn das Gericht einen solchen für geboten hält (vgl. insoweit den Wortlaut des Art. 50 EMRK). Auch ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz kann von den Gerichten zugelassen werden. Im Gegensatz zur gerichtlichen Überprüfung anhand der nur prozessrechtlichen Doktrin von der natural justice, wie sie auf Parteien grundsätzlich Anwendung findet, wären bei einer Überprüfung der parteiinternen Entscheidungen nach dem Human Rights Act 1998 auch materiellrechtliche Maßstäbe anzulegen, hierbei u. a. das Verhältnismäßigkeitsprinzip.449 Dazu aber müsste der Human Rights Act 1998 überhaupt auf die Parteien anwendbar sein. (1) Grundsatz der vertikalen Bindungswirkung des Human Rights Act 1998 (a) Parteien nicht als core public authorities Die Normadressaten sind in s. 6 Human Rights Act 1998 geregelt. Hiernach ist das rechtswidrige Handeln einer public authority und von einem Gericht entsprechend der o. g. prozessualen Möglichkeiten aufzuheben oder nur deren Rechtswidrigkeit festzustellen. Zunächst unterfallen den public authorities nach s. 6(1) Human Rights Act 1998 die Exekutive, etwa Ministerien oder nachgeordnete Verwaltungsbehörden. Hinzu tritt die Judikative. Nach s. 6(3)(a) sind dies courts and tribunals (Gerichte und andere Spruchkörper).450 All die Vorgenannten werden seit
brought in the public interest […], although the claimant’s standing to bring it was at one time in issue, the point has not been pursued by the Secretary of State.“ 447 Der Begriff des Verwaltungsaktes ist im britischen Verwaltungsrecht nicht so dogmatisch gefestigt wie in anderen europäischen Rechtsordnungen. Vgl. nur Craig, Großbritannien, in: v. Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, § 77 passim, insb. II 2 b). Der Begriff des Verwaltungsaktes wird in der vorliegenden Arbeit allerdings vereinfachend für eine behördliche Einzelfallentscheidung mit Rechtswirkung nach außen verwendet. 448 Hofmeister, Human Rights Act, S. 29 f. m. w. N. 449 Vgl. nur Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (84) m. w. N. 450 Department for Constitutional Affairs (Hrsg.), Guide to the Human Rights Act, S. 8 nennt diese Beispiele; ebenso das White Paper der Regierung aus dem Jahr 1997 para. 2.2: „[C]entral government (including executive agencies); local government; the police; immigration officers; prisons; courts; and, to the extent that they are exercising public functions, companies responsible for areas of activity which were previously within the public sector, such as privatised utilities.“ Zitiert nach Loveland, Constitutional Law, S. 645 f.
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der House of Lords-Entscheidung Aston Cantlow PCC v Wallbank451 auch als core public authorities452 bezeichnet. Es handelt sich folglich um Institutionen, die in staatlicher Rechtsträgerschaft stehen.453 Sie sind stets grundrechtsgebunden, gleich ob sie in concreto privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich gehandelt haben.454 Hierunter sind die politischen Parteien außerhalb des Parlaments nicht zu subsumieren, zumal diese stets privatrechtlich organisiert sind.455 (b) Parteien als hybrid bzw. functional public authorities? In Betracht käme eine Erfassung der Parteien unter s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 als functional oder hybrid public authorities.456 Voraussetzung dafür ist nach dem Gesetzeswortlaut, dass „certain […] functions are functions of a public nature“. Da unter diese Norm privatrechtlich organisierte Institutionen fallen sollen, wie etwa privatisierte Industrien, nimmt das Gesetz – anders als bei den core public authorities – deren rein privatrechtliche Handlungen von seinem Anwendungsbereich aus, vgl. s. 6(5) Human Rights Act 1998.457 Es bedarf in jedem Einzelfall der Feststellung, dass der Antrags- bzw. Klagegegner in der konkreten Handlung eine öffentliche Funktion ausgeübt hat.458 Die bisher dazu ergangene Rechtsprechung betraf nur Einzelfälle, sodass weder von einer umfassenden Kasuistik noch von einer besonderen dogmatischen Kohärenz gesprochen werden kann.459 Jedenfalls wird ein sog. public function-Test durch das Gericht vorgenommen. Dieser Test ist praktisch identisch mit dem im nichtgrundrechtsspezifischen judicial review-Verfahren
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[2004] 1 AC 546 (HL). Von der Regierung vgl. nur Department for Constitutional Affairs (Hrsg.), Guide to the Human Rights Act, S. 8. Aus der Literatur statt vieler Oliver, Functions of Public Nature, P.L. 2004, S. 329 (338) m. w. N. 453 Vgl. Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 406. 454 Anthony, Judicial Review, S. 45. 455 Vgl. insgesamt für unincorporated associations nur Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.59 ff. In diese Richtung für die politischen Parteien argumentiert Morris, Parliamentary Elections, S. 127 mit dem nicht weiter begründeten Hinweis, dass für Parteien, die „incorporated“ sind, etwas anderes gelten könnte. 456 Als functional werden diese in der Literatur bezeichnet, z. B. bei Oliver, Public Authorities and Public Functions, P.L. 2000, S. 476 (481), als hybrid insbesondere in der Entscheidung des House of Lords in der Sache Aston Cantlow PCC v Wallbank [2004] 1 AC 546 (HL). 457 So lautet die Norm: „In relation to a particular act, a person is not a public authority by virtue only of subsection (3)(b) if the nature of the act is private.“ Vgl. aus der Literatur dazu Anthony, Judicial Review, S. 45. 458 Siehe die verschiedenen Konzepte aus unterschiedlichen Urteilen allein in den ersten vier Jahren seit Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 Oliver, Functions of Public Nature, P.L. 2004, S. 329 (335 f.) unter der Überschrift „Duty, power, function activity and acts: confusing concepts“ und m. w. N. 459 Vgl. Amos, Human Rights Law, para. 5.3 ff. 452
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durchgeführten Test.460 Wegen des EMRK-Bezugs des Human Rights Act 1998 muss die Einordnung der angegriffenen Handlung als öffentliche Funktion von britischen Gerichten aber im Lichte der Rechtsprechung des EGMR erfolgen.461 Hierzu muss gemäß Art. 34 EMRK eine „public administration as part of the process of government“462 gehandelt haben.463 In der Entscheidung Hampshire County Council v Beer forderte der Court of Appeal die Voraussetzungen für eine öffentliche Funktion unter dem Human Rights Act 1998 „a sufficient public element flavour or character to bring it within the purview of public law“464. Jedenfalls wird die s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 restriktiv von den Gerichten ausgelegt. Außerdem haben die Gerichte bislang keinen Katalog von public functions nach s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 herausgearbeitet. Auch werden in Literatur und Rechtsprechung die vorgenannten Tests und Begrifflichkeiten, etwa der core oder hybrid public authority, nicht einheitlich verwendet.465 Der Court of Appeal und das House of Lords haben seit dem Jahr 2000 unterschiedliche materielle und prozessuale Voraus-setzungen an die Anwendung der s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 angelegt und unterschiedliche Tests entwickelt. Nichtsdestoweniger gilt inzwischen das Urteil YL v Birmingham City Council466 des House of Lords als Leitentscheidung467 für die Auslegung der s. 6(3)(b) Human 460
Vgl. den Court of Appeal-Fall Hampshire County Council v Graham Beer [2003] EWCA Civ 1056 (para. 14) – Dyson LJ: „No doubt for this reason, […], the tests for a functional public authority within the meaning of section 6(3)(b) and for amenability to judicial review are, for practical purposes, the same.“ Aus der Literatur dazu Anthony, Judicial Review, S. 45; Stewart/ Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.60. Anders wohl noch in R. v Legal Aid Board ex parte Donn [1996] 3 All ER 1 (10), als von Ognall J für die Anwendbarkeit des judicial review auf private bodies noch eine Funktion „more properly analogous to a governmental one“ verlangt wurde. Hierzu nur Morris, Parliamentary Elections, S. 124 f. 461 Vgl. mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprechung des EGMR Quane, Strasbourg Jurisprudence and the Meaning of a „Public Authority“, P.L. 2006, S. 106 passim. 462 So Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.59. 463 Siehe dazu Aston Cantlow PCC v Wallbank [2004] 1 AC 546 (HL) 163. Zur Gefahr der Inkohärenz des Begriffs der public authority unter dem Human Rights Act 1998, dem „allgemeinen“ judicial review-Verfahren und der britischen Antidiskriminierungsgesetzgebung siehe Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (90); Loveland, Constitutional Law, S. 646. 464 Hampshire County Council v Graham Beer [2003] EWCA Civ 1056 (para. 15) – Dyson LJ. Hierzu ebenfalls Morris, Parliamentary Elections, S. 124. 465 Der Übersichtlichkeit halber wird hier eine einheitliche Terminologie verwendet und nur die aktuelle Rechtsprechung zugrunde gelegt. Vgl. zur frühen Rechtsprechung Oliver, Functions of Public Nature, P.L. 2004, S. 329 (335 f.); einen Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung über die Tests und Begrifflichkeiten bis in die frühen 2010er Jahre gibt Loveland, Constitutional Law, S. 680 ff. m. w. N. 466 [2007] UKHL 27. 467 Vgl. Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (90); Anthony, Judicial Review, S. 45 f.
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Rights Act 1998. Dieses wird daher in den folgenden Ausführungen auch hinsichtlich der Parteien zugrunde gelegt. In diesem Verfahren entschied das House of Lords, dass ein privatrechtlich organisiertes Pflegeheim, das öffentlich geförderte Wohnheimplätze vergibt, keine public authority nach s 6(3)(b) Human Rights Act 2006 war. Eine an Alzheimer erkrankte Bewohnerin war gegen die Entscheidung dieses privaten Pflegeträgers vorgegangen, den Vertrag mit ihr aufgrund des erheblichen Pflegeaufwandes und erratischer Verhaltensweisen zu beenden, und berief sich dazu auf die inkorporierten EMRK-Rechte (speziell Art. 8 EMRK). Die Klage war deshalb erfolglos, weil eine Mehrheit der Lordrichter von sechs zu zwei die Fragen des Pflegevertrages als privatrechtliches Handeln des Betreibers einstufte und einen öffentlich-rechtlichen Entscheidungscharakter nur für die Handlungen der Kommune in der Förderung des Pflegeplatzes annahm. Als Grund führte Scott LJ an, dass die funktionale public authority folgende Voraussetzungen erfüllen muss: Zunächst ist dies eine exercise of special powers. Dies ist die Befugnis zur Ausübung von Rechten, welche den Bürger in ein Subordinationsverhältnis zu der privatrechtlich verfassten Institution mit öffentlicher Funktion bringen. Zusätzlich bedarf es einer democratic accountability des funktionell öffentlich-rechtlich Handelnden, d. h. die Pflicht im öffentlichen Interesse zu agieren. Eine öffentliche Finanzierung in whole or in part ist zudem erforderlich, die in Form von Subventionen oder durch eine vertragliche Leistung seitens des Staates für die funktionell öffentlich-rechtliche Handlung erfolgen kann.468 Bingham und Hale LLJ formulierten die Gegenansicht und subsumierten den Pflegeheimbetreiber unter die genannten Voraussetzungen.469 Ausdrücklich will Morris diese Kriterien auf die Parteien anwenden und sie damit zur Einhaltung des Human Rights Act 1998 verpflichten.470 Ihr Kernargument, wie auch das anderer Vertreter einer Anwendung des Human Rights Act 1998 auf die Parteien,471 ist die spezifisch öffentliche Funktion, welche die Parteien in der Verfassungsrealität bei der Auswahl von Parteiführern oder Kandidaten erfüllen. Zweifellos ist diese politische Funktion von der Labour-Regierung und der Mehrheit der beiden Häuser des Parlaments zur Grundlage der beiden Parteiengesetze 1998/ 468
YL v Birmingham City Council [2007] UKHL 27 (para. 26) – Scott LJ: „Southern Cross is a company carrying on a socially useful business for profit. It is neither a charity nor a philanthropist. It enters into private law contracts with the residents in its care homes and with the local authorities with whom it does business. It receives no public funding, enjoys no special statutory powers, and is at liberty to accept or reject residents as it chooses (subject, of course, to anti-discrimination legislation which affects everyone who offers a service to the public) and to charge whatever fees in its commercial judgment it thinks suitable. It is operating in a commercial market with commercial competitors.“ 469 Diese Ausführungen finden sich bei YL v Birmingham City Council [2007] UKHL 27 (paras. 66 – 77). 470 Siehe dazu Morris, Parliamentary Elections, S. 127. 471 Morris, Parliamentary Elections, S. 122 ff. In die Richtung, wenngleich mit Einschränkungen Davis, Political Freedom, S. 75; ohne Einschränkungen Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 216.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
2000 gemacht worden.472 Folglich werden die Parteien als die treibenden Kräfte in der Verfassungsrealität seit dem Jahr 2000 auch im Verfassungsrecht berücksichtigt. Jedoch erfüllt nicht einmal diese Berücksichtigung der Parteien in den zur Verfassung zählenden Parteien- und Wahlgesetzen die in der dissenting opinion verlangten Voraussetzungen für eine funktionelle public authority: Die These, der Staat habe sich einer originären Aufgabe, nämlich der Rekrutierung des politischen Personals – besonders für Parlament und Premierministeramt – durch Privatisierung entledigt, läuft als erster Prüfungspunkt ins Leere.473 Eine unbillige Beschneidung der Rechte von Parteimitgliedern hat es daher nicht gegeben. Rechtshistorisch lässt sich belegen, dass besonders die Parlamentskandidaten- und Parteiführerwahl, seitdem das Vereinigte Königreich sich auf den Weg zur Volldemokratie (Loewenstein) gemacht hat, aus der Gesellschaft heraus erfolgte und nicht staatlich gelenkt wurde. Anknüpfend an das vorgenannte Argument gilt für den zweiten Punkt seither ebenfalls, dass die Parteien als privatrechtliche Vereinigungen organisiert sind. Neben der freien Gestaltung der vertraglichen Rechte der Mitglieder fand eine Kontrolle seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nach den prozessualen Maßstäben der natural justice statt. Seit dem Sex Discrimination Act 1975 aber besteht zudem die Möglichkeit für Mitglieder, sich gegen Diskriminierungen gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dazu sind spezialgesetzliche Regelungen (etwa der heutige Sex Discrimination Act 2002 oder der Equality Act 2010) geschaffen worden, die sowohl die Parteien als unincorporated associations als auch jene, die unter dem Companies Act 2006 organisiert sind, erfassen.474 Eines unmittelbaren Rückgriffs auf den Human Rights Act 1998 bedarf es nicht zwangsweise.475 Drittens liegt für die Parteien außerhalb des Parlaments im Vereinigten Königreich praktisch keine relevante öffentliche Finanzierung vor; insbesondere sind die 472 Siehe oben zur funktionellen Definition der Parteien im britischen Parteienrecht und der Parteienrechtsforschung. Hier statt vieler nochmals Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 548, unter Bezugnahme auf den sog. Kilbrandon-Report. Danach sind die Parteien „the chief motivating force of our main governmental institutions“. 473 Auch Davis, Political Freedom, S. 72, 76 bringt dieses als Gegenargument für die Grundrechtsbindung der Parteien vor. Dennoch tritt er i. E. für die Grundrechtsbindung der Parteien ein (a. a. O., S. 76). 474 Vgl. dazu nur generell Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 71 ff.; Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 6.61, 2.99 – 2.113. 475 Dazu nochmals unten. Vgl. auch der Hinweis in YL v Birmingham City Council [2007] UKHL 27 para. 26 – Scott LJ: „Southern Cross is a company carrying on a socially useful business for profit. It is neither a charity nor a philanthropist. It enters into private law contracts with the residents in its care homes and with the local authorities with whom it does business. It receives no public funding, enjoys no special statutory powers, and is at liberty to accept or reject residents as it chooses (subject, of course, to anti-discrimination legislation which affects everyone who offers a service to the public) and to charge whatever fees in its commercial judgment it thinks suitable. It is operating in a commercial market with commercial competitors.“ (Herv. d. Verf.).
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Kosten der Kandidatenauswahl – einem bereits gerichtlich relevant gewordenen Feld der innerparteilichen Demokratie – einzig von den Parteien als privatrechtlichen Organisationen zu tragen.476 Der PPERA 2000 betont insofern die Zugehörigkeit der Parteien zur gesellschaftlichen Sphäre. Er macht die Parteien weiterhin nahezu ausschließlich von privaten Spenden und Mitgliedsbeiträgen abhängig. Damit sind auch andere Aspekte angesprochen, die unter den ersten und zweiten Prüfungspunkt fallen. Die Durchführung von Parteitagen, die in der Praxis zur Nominierung von Kandidaten, Verabschiedung des Wahl- oder Parteiprogramms oder Wahl des Parteiführers zentral ist, findet Erwähnung nur im Hinblick auf die öffentliche Finanzierung der Sicherheit auf Parteitagen. Diese wird durch die Bereitstellung von Polizeikräften und durch die Erstattung der Kosten für private Sicherheitsdienste vom Staat gewährleistet. Zusammengefasst ist dieser ohnehin nur dissenting opinion und der darauf beruhenden Forderung nach der Ausweitung des public authorities-Begriffs auf die Parteien zu entgegnen, dass für die direkte Bindungswirkung der Grundrechte zwischen Privaten eine Gesetzesänderung erforderlich wäre.477 Wie bereits beim allgemeinen judicial review-Verfahren konstatiert wurde, zeitigt eine bloße Erwähnung von Institutionen in Parlamentsgesetzen noch nicht die Anwendung des judicial review-Verfahren. Dies gilt mutatis mutandis auch für den Human Rights Act 1998 und sein modifiziertes judicial review-Verfahren. Auf die Parteien bezogen heißt dies, dass sich Mitglieder nicht unmittelbar auf public law rights478 berufen können. Eine restriktive Auslegung des Begriffs der public authority nach s. 6(3)(b) ist auch geboten, um den Grundsatz der Parlamentssouveränität, der, wie es eingangs beschrieben wurde, durch den Regelungsmechanismus des Human Rights Act 1998 nochmals bestätigt worden ist, nicht zu unterminieren.479 Dies gilt sowohl für Parteien, die unincorporated associations ohne eigene Rechtspersönlichkeit sind als auch für jene, die als private company limited by guarantee verfasste Körperschaften sind.480 Ohne Begründung hat der Court of Appeal daher – nach hier vertretener 476
Ausnahmen sind die policy development funds. Vgl. grundlegend Anthony, Judicial Review, S. 46. Die Problematik der vagueness der subsection (3)(b) wurde auch im Gesetzgebungsprozess von der Conservative Party moniert, siehe dazu Loveland, Constitutional Law, S. 646. Dies wurde auch im Gesetzgebungsverfahren für den späteren Equality Act 2006 von der Labour-Regierung im House of Lords thematisiert und ein entsprechender Vorschlag zur Konkretisierung und Harmonisierung des public authority-Begriffs gemacht und zwar in HL Official Report 15 June 2005 c. 1303. Vgl. dazu Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 6.49, 6.53. 478 Siehe für den Begriff Anthony, Judicial Review, S. 46. 479 Andererseits könnte eine zu enge Auslegung des Begriffs zu dem Problem führen, dass dadurch die Intention des Gesetzgebers – „give further effect to rights and freedoms guaranteed under the European Convention on Human Rights“, so der Introductory Text des Gesetzes – in der praktischen Auslegung verfehlt wird. Kritisch daher Lester, Human Rights, in: Jowell/ Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (89) m. w. N. 480 Dagegen a. A. wohl Morris, Parliamentary Elections, S. 127: „The Human Rights Act 1998 also seems to exclude from its ambit unincorporated associations, so parties could be challenged only if incorporated, or if a representative individual were sued.“ 477
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Auffassung richtigerweise – die Anwendung der Konventionsrechte auf einen mitgliedschaftsrechtlichen Streit innerhalb von UKIP kurzerhand ausgeschlossen.481 (2) Horizontaler Effekt des Human Rights Act 1998? (a) Grundsätzlich nur eine „mittelbare Drittwirkung“ Zuletzt könnte die Erfassung der Parteien unter dem Stichwort einer (mittelbaren) Drittwirkung des Human Rights Act 1998 möglich sein. Der Gesetzgeber hat die Frage eines horizontal effect bewusst offen gelassen.482 Der Verfassungsrechtler Ian Loveland hält die s. 6 des Gesetzes daher für eine „rather opaque provision.“483 In der Literatur ist besonders in den ersten Jahren nach Verabschiedung des Human Rights Act 1998 eine lebhafte Debatte um diese Frage geführt worden.484 Hierzu wurden auch rechtsvergleichende Vorschläge, etwa eine Übertragung der deutschen Konzeption von der mittelbaren Drittwirkung, gemacht.485 Auch die Gerichte befassten sich in einzelnen, medial intensiv begleiteten Fällen mit der Frage. Konkret betrafen die entschiedenen Fälle die Frage, ob das Recht auf Achtung des Privat- und Fa481 Dabei beantwortete der Court of Appeal die Frage nicht, ob er sich auf die Partei i. w. S. (die unincorporated association) oder die Partei i. e. S. (die private company limited by guarantee) bezog. Hier nochmals UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 58 f.) – Potter LJ: „Mr Engelman submits that concepts of reasonableness and proportionality which are appropriate to Judicial Review and the jurisprudence of the European Court of Human Rights are not similarly applicable in relation to the private contractual rules of an association, which, at most, attract the principles of good faith, natural justice and the right to a fair trial. In that respect, it seems to me that Mr Engelman’s submission is correct, but I fail to see that it is a point which assists him in this case. As I have already indicated, the judge held UKIP liable on the basis of the true construction of the rules and UKIP’s failure to follow the requirements of natural justice. If, in reaching his decision, the judge also considered the requirements of reasonableness and proportionality, such consideration was to the potential advantage of UKIP albeit, in the event, the judge held that such requirements were not satisfied.“ Erstinstanzlich begründete der Middlesbrough County Court (Claim No. OMB 00631) dies noch näher: „Before turning to the matter of compensation and for the sake of completeness I hold that Mr Hardy has not been excluded from any public meeting as he once maintained, neither has he a valid cause of action under the Human Right’s [sic!] Act as he also contended“ (Hardy v UKIP, para. 22 – Fox J, nicht offiziell veröffentlicht, abrufbar unter http://caterpillarsandbutterflies1. blogspot.de/2011/07/hardy-alan-vs-ukip-judgement-appeal.html) (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 482 Nachweise hierzu aus den Parlamentsdebatten zur Human Rights Bill bei Cooper/ Marshall-Williams (Hrsg.), Parliamentary Debates on the Human Rights, S. XIII, 92 f.; vgl. den Überblick über die frühe Rechtsprechung und Literaturansätze Hofmeister, Human Rights Act, passim. 483 Loveland, Constitutional Law, S. 645. 484 Statt vieler nur Hunt, Horizontal Effect, P.L. 1998, S. 428 passim; Phillipson, Horizontal Effect, M.L.R 1999, S. 824 passim; Wade, Horizons of Horizontality, L.Q.R. 2000, S. 217 passim. 485 So nur Brinktrine, Horizontal Effect of Human Rights, EHRLR 2001, S. 421 passim; Markesinis, Human Rights Bill: Lessons From Germany, L.Q.R. 1999, S. 47 passim; ein internationaler Rechtsvergleich bei Jowell/Cooper, Delivering Rights, S. 99 ff.
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milienlebens nach Art. 8 EMRK von Prominenten durch andere Private und ihre Berichterstattung verletzt sein kann, respektive ob Zeitschriften- und Zeitungsverlage an die ins britische Recht inkorporierten Konventionsrechte gebunden sind.486 Aus der nicht so zahlreichen Kasuistik lässt sich hier jedenfalls der Schluss ziehen, dass die Konventionsrechte nur mittelbar zwischen Privaten wirken. Nach s. 2 Human Rights Act 1998 sind die Gerichte zur Beachtung der Konventionsrechte verpflichtet, weil diese aufgrund von der dortigen s. 6(3)(a) selbst public authorities sind.487 Die Verpflichtung der Gerichte zur Achtung der Konventionsrechte bedeutet zum einen, dass die primary und subordinate legislation grundrechtskonform von diesen ausgelegt wird, siehe s. 3(1) Human Rights Act 1998. Zum anderen ist auch das Common Law mit seinen prozessualen und materiellen Regeln konventionskonform zu interpretieren.488 Die Richter sind nunmehr dazu berufen und verpflichtet, bei der ihnen zugebilligten Wahl zwischen den verschiedenen möglichen remedies – vgl. nochmals s. 8(1) Human Rights Act 1998 – nicht nur diese zu wählen, die sie nach den Erwägungen aus dem Common Law für die auf den Fall bezogen geeignete und angemessene halten. Darüber hinaus müssen sie diejenige wählen, die den Konventionsrechten im Einzelfall die effektivste Geltung verschafft. So kann das Gericht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten keine injunction mehr verfügen, wenn dadurch die Konventionsrechte einer der beiden Parteien verletzt würden. Obwohl also die Konventionsrechte nur public authorities unmittelbar binden, entfalten sie durch das Common Law eine mittelbare Wirkung zwischen Privaten.489 Wenn eine (unter-)gesetzliche Norm der gerichtlichen Auslegung bedarf, ist es für die Pflicht zur Konventionskonformität der Auslegung unbeachtlich, ob es sich um einen Rechtsstreit zwischen Privaten oder zwischen einem Privaten und einer public authority handelt. In jedem Fall liegt hier eine direkte, vertikale Wirkung des Human Rights Act 1998 i. S. v. der dortigen s. 3 vor. Für die Fälle, in denen es nicht um die Auslegung von (unter-)gesetzlichen Normen geht und keine der Parteien eine public authority nach s. 6 Human Rights Act 1998 ist, sind folgende richterrechtliche Lösungen entwickelt worden: Nur die Interpretation des geltenden Common Law hat konventionskonform zu erfolgen. Liegt aber keine Regel des Common Law vor, die 486
So Douglas and Zeta-Jones v Hello! Ltd. (Q.B.D.) [2000] HRLR 249; Campbell v Mirror Group Newspapers Ltd. [2004] UKHL 22. 487 Freilich fallen unter die von den Gerichten selbst im Prozess zu achtenden Rechte der Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung). 488 Clayton/Tomlinson, Human Rights, para. 5.136 f. 489 Zum Ganzen HRH Prince of Wales v Associated Newspapers Ltd. [2007] EWHC 522 (para. 25) – Phillips LCJ: „Section 3 of the Human Rights Act 1998 requires the court, so far as it is possible, to read and give effect to legislation in a manner which is compatible with the Convention rights. The English court has recognised that it should also, in so far as possible, develop the common law in such a way as to give effect to Convention rights. In this way horizontal effect is given to the Convention. This would seem to accord with the view of the European Court of Human Rights as to the duty of the court as a public authority“ (Herv. d. Verf.).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
konventionskonform ausgelegt werden könnte, so ist das angerufene Gericht nicht verpflichtet, eine neue Regel, ein neues Recht zu schaffen, um der EMRK zur Geltung im Common Law zu verhelfen.490 Diese Feststellungen führen zurück zu der Forderung einer indirekten Horizontalwirkung nach kontinentalen Vorbildern, wie sie etwa von den Verfassungsrechtlern Henry Wade oder Murray Hunt zur Zeit der Einführung des Human Rights Act 1998 erhoben worden waren. In gewisser Weise hat die s. 6 Human Rights Act 1998 ebendieses Verständnis von einer nur indirekten Bindungswirkung von Grund- und Menschenrechten zwischen Privaten umgesetzt, indem sie die Gerichte und das von ihnen entwickelte und angewendete Common Law „as being […] primarily […] a jurisdictional rather than institutional phenomenon“491 ansieht. Loveland schließt seine Ausführungen dazu pointiert: „The target of s 6 is not the (common) law-maker but what the (common) law-maker makes. The target is the (common) law. And the court acts unlawfully if it creates (or for the more traditionally minded ,discovers‘) or applies a rule of common law which is incompatible with a Convention Right.“492
(b) Potenzielle Bedeutung für Streitigkeiten aus dem Mitgliedschaftsverhältnis Bei der gerichtlichen Überprüfung von parteiinternen Schiedsgerichtsverfahren gilt deshalb eine Pflicht zur Anwendung der Konventionsrechte nur, wenn das domestic disciplinary tribunal (Schiedsgericht) eine public authority nach s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 ist. Diese Funktion wurde für bestimmte charities und andere Vereinigungen wie das General Medical Council oder die Law Society,493 mithin Standesvertretungen bzw. Berufskammern, durch die Gerichte in jeweiligen Einzelfällen anerkannt. Konstitutive Voraussetzung ist freilich, dass eine public function kraft expliziter (unter-)gesetzlicher Ermächtigung ausgeübt wird.494 Auf die politischen Parteien lässt sich dieser Befund somit nicht übertragen, da es an einer gesetzlich übertragenen öffentlichen Funktion fehlt in der Rekrutierung des politischen Personals. Außerdem wurde in dem Fall RSPCA v Attorney-General495 vom High Court entschieden, dass die altehrwürdige Tierschutzorganisation Royal So490 R. (SB) v Denbigh High School [2006] UKHL 15 (para. 29) – Bingham LJ: Der Human Rights Act 1998 „was not to enlarge the rights or remedies of those in the UK whose Convention rights have been violated but to enable those rights and remedies to be asserted and enforced by the domestic courts of this country and not only by recourse to Strasbourg“. Ebenso Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (93). 491 Loveland, Constitutional Law, S. 683. 492 Loveland, Constitutional Law, S. 683 m. w. N., Herv. d. Verf. 493 Whitefield v GMC [2002] UKPC 62; Holder v Law Society [2005] EWHC 2023 (Admin). 494 Nicht nur die Erwähnung der betroffenen Vereinigung durch ein Gesetz. Hierzu etwa Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.59 f.: „The regulatory and disciplinary powers of both bodies now derive from statute and their functions can therefore be seen as governmental.“ 495 [2001] 3 All ER 530 (547) – Lightman J.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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ciety for the Prevention of Cruelty to Animals keine Befürworter der Fuchsjagd als Bestandsmitglieder dulden muss bzw. keine entsprechend eingestellten Neumitglieder aufnehmen muss. Die gegen diese Entscheidung innerhalb der Gesellschaft von den ausgeschlossenen Mitgliedern bzw. zurückgewiesenen Bewerbern angestrengten Schiedsgerichtsverfahren, die den Ausschluss bzw. die Beitrittsantragsrückweisung bestätigten, waren bona fide i. S. d. Vereinigungszwecks ausgeübt worden.496 Die RSPCA ist nämlich keine public authority unter dem Human Rights Act 1998. Zu beachten bleibt einzig die Bindung der Vereinigung an die Antidiskriminierungsgesetze.497 Insoweit es in dem Beispiel um eine pressure group (Tendenzorganisation bzw. Interessensvertretung)498 geht, kann dieses Ergebnis nach hiesiger Auffassung auch auf die politischen Parteien übertragen werden. Außerdem legen im Fall der Parteien, wie auch anderer auf freiwilligem, rechtsgeschäftlichen Zusammenschluss basierenden Vereinigungen, die Gerichte bei der Überprüfung disziplinarischer Maßnahmen von Parteischiedsgerichten zunächst nur den Maßstab der natural justice an.499 Allerdings steht es solchen Vereinigungen frei, die Anwendbarkeit der Konventionsrechte vertraglich zu vereinbaren oder auszuschließen. Letzteres kann etwa dahingehend geschehen, dass durch ein arbitration agreement (Schiedsgerichtsvereinbarung) ein gerichtliches Überprüfungsverfahren einer partei- bzw. vereinigungsinternen Disziplinarentscheidung nicht nach den Prozessgrundrechten aus Art. 6 EMRK (Fairness- und Öffentlichkeitsgrundsatz) erfolgt.500 496
Aus der Literatur Amos, Human Rights Law, para. 5.3.5. Vgl. Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 70 ff.; Stewart/Campbell/ Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.30, 2.91 ff. 498 „Pressure groups are bodies of persons organised to exert influence or pressure upon government without themselves seeking, through the electoral process, to assume governmental responsibility. In general they are clearly distinguishable from political parties, which hope to enter government,“ so Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 550 m. w. N. und mit zahlreichen Beispielen für solche Interessensgruppen. 499 Die richterliche Überprüfung am Maßstab der Konventionsrechte kann freilich vertraglich vereinbart werden, vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.61. Soweit ersichtlich (da und insoweit veröffentlicht) hat keine der beiden großen Parteien im Vereinigten Königreich bisher diese Möglichkeit genutzt. Vgl. Ch. 6 Labour Party Rule Book. 500 Siehe für den Fall, dass bestimmte prozessuale Grundrechte ausgeschlossen werden Stretford v The Football Association Ltd. [2006] EWHC 479 Ch. D. (para. 41) – Morritt J. Zunächst wurde festgestellt, dass die FA keine public authority ist. Sodann stellte der High Court fest, dass er selbst grundsätzlich die Konventionsrechte zu beachten hat. In concreto unterlag das Gericht der Einschränkung, dass das Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren unter Beachtung des Öffentlichkeitsgebots) als Überprüfung des in Frage stehenden Disziplinarschiedsgerichtsverfahrens der FA durch eine Schiedsgerichtsvereinbarung ausgeschlossen war. Zusammengefasst galt somit: Das verbandsinterne Disziplinarverfahren war mangels public function nicht von einer public authority geführt worden und damit nicht an die EMRK gebunden. Das Verfahren vor dem staatlichen Gericht indes war konventionsgebunden. Vertraglich wurde allerdings auf die Anwendung der Konventionsrechte zur Überprüfung des Disziplinarverfahrens verzichtet. 497
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
c) Zwischenergebnis: Parteien nicht grundrechtsverpflichtet Die in diesem Abschnitt diskutierten Entscheidungen geben gleichwohl keine eindeutige Antwort auf die Frage der Grundrechtsverpflichtung der Parteien, insbesondere gegenüber ihren Mitgliedern. Denn wie verschiedenen Orts dargelegt, handelt es sich bei der Einordnung privatrechtlicher Institutionen unter die sog. hybrid public authorities nach s. 6(3)(b) Human Rights Act 1998 nur um Einzelfallentscheidungen. Schon aus diesem Grunde sind die Entscheidungen des Middlesbrough County Court501 und des Court of Appeal in der Sache UKIP v Hardy nicht der Verallgemeinerung zugänglich. Außerdem handelte es sich bei den dortigen Feststellungen nur um obiter dicta.502 Die Entscheidung in der Rechtssache UKIP v Hardy lässt auch andere Fragen unbeantwortet. Unklar ist, ob die gewählte Rechtsform einer Partei Einfluss auf ihre Stellung gegenüber dem Human Rights Act 1998 hat. Nach Morris dürfte eine Verpflichtung der Parteien zur Achtung der Konventionsrechte für jene Parteien gelten, die incorporated503 sind. Dies wiederum träfe auf nur wenige, darunter UKIP (d. h. die UKIP Ltd.), zu. Zur UKIP Ltd. haben die beiden Gerichte im o. g. Fall jedoch gerade keine Stellung bezogen. Überdies handelte es sich mit der betroffenen UKIP nur um eine kleine Partei. In der Literatur wurde vorgebracht, dass de lege ferenda die rechtliche Position derjenigen Parteien (zwischen Staat und Gesellschaft) zu klären sei, die eine „form of monopoly power“ innehaben und die, wie die „major political parties, for example control access to the legislature and, thereby, to representative public service and should not be allowed to exclude people on arbitrary grounds.“504 Gegen die Einordnung der Parteien als grundrechtsverpflichtete Institutionen sprechen behördliche und parlamentarische Stellungnahmen. Die Equality and Human Rights Commission vertritt ebenfalls die Ansicht der Nichtanwendung des Human Rights Act 1998 auf die politischen Parteien. Diese unabhängige staatlich finanzierte Kommission (offizieller Name: Commission for Equality and Human Rights) wurde durch s. 1 Equality Act 2006 eingesetzt. Ihre Aufgaben finden sich 501 Die Unterscheidung zwischen Partei i. w. S. (unincorporated association) und Partei i. e. S. (private company limited by guarantee) wurde offen gelassen in UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (para. 58 f.) – Potter LJ. 502 Siehe insoweit die Einschätzung der Equality and Human Rights Commission, die der Verf. bzgl. dieser Frage unter Hinweis auf die UKIP v Hardy-Entscheidung kontaktiert hatte: „To the best of our knowledge there has been no case deciding this specific point in respect of the definition of public authority in the HRA.“ (E-Mail von Peter Stewart, Correspondence Unit Manager, Equality and Human Rights Commission, an den Verf., v. 4. April 2016). Die Kommission hatte auf einer früheren Version ihrer Webseite politische Parteien als public authorities gelistet, diese zwischenzeitlich aber entfernt. Auf Nachfrage des Verf. äußerte sich die Kommission wie zuvor ausgeführt. 503 Vgl. Morris, Parliamentary Elections, S. 127: „The Human Rights Act 1998 also seems to exclude from its ambit unincorporated associations, so parties could be challenged only if incorporated, or if a representative individual were sued.“ 504 Davis, Human Rights Law, S. 400, der hier de lege ferenda argumentiert.
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insbesondere in den ss. 3, 8, 9 Equality Act 2006. Mit der britischen Europa- und Menschenrechtlerin Merris Amos kann auf den Punkt gebracht werden, dass sie als Aufgabe hat „[b]uilding a culture of respect for human rights law is now […] primarily the responsibility of the Equality and Human Rights Commission.“505 Im Parlament, zuvorderst im House of Lords, wurde im weiteren Verlauf der LabourVerfassungsreform im Jahre 2001 – kontrovers – diskutiert, ob die Parteien als public authorities unter den Human Rights Act 1998 zu subsumieren sind.506 Es gilt jedoch, dass Literaturmeinungen, Gesetzgebungsmaterialien und die Stellungnahmen der Equality and Human Rights Commission allenfalls als Auslegungshilfe von den Gerichten herangezogen werden können. Im Hinblick auf die Gesetzgebungshistorie ist zu beachten, dass die klassischen Auslegungskanones des kontinentalen Rechts im Vereinigten Königreich nicht angewendet werden.507 Die Gerichte entscheiden nach den Grundsätzen der richterrechtlich entwickelten statutory interpretation, welche die Wortlautauslegungen der literal rule (enge Wortlautauslegung) und der golden rule (als weite Wortlautauslegung unter Zuhilfenahme des Wortsinnes bei absurden bzw. unvertretbaren Ergebnissen aus der engen Wortlautauslegung) und der mischief rule (als Ergründung der Intention des Gesetzgebers bei Versagen der ersten beiden Prinzipien) umfassen.508 Materialien aus dem Gesetzgebungsprozess (Hansard-Protokolle) werden erst seit der Entscheidung Pepper v Hart509 aus dem Jahr 1992 vom House of Lords als Auslegungsgrundsätze aner505 Vgl. ebenso eine komprimierte Darstellung der Aufgaben bei Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 287. Zu ihrer bedeutsamsten Kompetenz, namentlich der des Einleitens eines Gerichtsverfahrens wegen Verstößen gegen den Human Rights Act 1998 oder die Antidiskriminierungsgesetze ohne Pflicht zur Geltendmachung einer persönlichen Betroffenheit (mithin in Abkehr des victim-Prinzips) nach s. 27 Equality Act 2006, hier bereits Amos, Human Rights Law, paras. 2.1, 2.4., 5. 506 Dafür etwa Lord Lester in HL Deb 20 December 2001 vol. 630 cc. 399 ff.: „I often have doubts, but I have no doubt that the courts would say that political parties are public authorities for the purpose of the Human Rights Act, in which case they can be sued directly under Section 7 of the Human Rights Act if they act in a way that is not compatible with the convention“ (a. a. O., c. 401). Dagegen aber Lord Williams (Lord Privy Seal) in HL, Official Report, 17 December 2001 c. WA32: „As to whether political parties are public authorities for the purposes of Section 6 of the Human Rights Act 1998, a body will only be a public authority for the purposes of the Human Rights Act if it has a public function, that is, a function which is governmental or quasigovernmental in nature and which seeks to achieve some collective benefit for the public. The Government’s view is that the selection of a candidate to stand for election is internal to the party and its members, and is more a private act that furthers the party’s own ends than a public function. As stated in my Answer on 28 November (WA 56), however, it is not for the Government to give assurances as to how the law will be construed. The Government reach their view after due deliberation, but that it is binding in any way ultimately it is for the courts to decide.“ 507 Vgl. nur Barnett, Constitutional & Administrative Law, S. 163. 508 Eine Übersicht zu den Auslegungsprinzipien liefern Slapper/Kelly, English Legal System, S. 175 ff. m. w. N. auf die Rechtsprechung. 509 [1992] 3 W.L.R. 1032. In Bezug auf die Horizontalwirkung des Human Rights Act 1998 vgl. Loveland, Constitutional Law, S. 651 f. m. w. N.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
kannt. Jedoch hat die Auslegung anhand der Frage und der hergebrachten Regeln zu erfolgen, nämlich daran, welchen mischief (Missstand) der historische Gesetzgeber beseitigen wollte. Dafür bedarf es weiterhin nicht notwendigerweise des Rückgriffs auf die Gesetzgebungsmaterialien. Es reicht oftmals, wenn das erkennende Gericht den historischen Gesamtkontext in den Blick nimmt.510 Im konkreten Fall verleiten die Gesetzgebungsmaterialien aus den Jahren 1997/ 1998 schlechterdings zu dem Schluss, dass sich das Parlament der Human Rights Bill der Labour-Regierung für einen horizontalen Effekt der Human Rights Bill das Wort ausgesprochen hat.511 Selbst die Auslegung der Aussagen im Parlament nach Erlass des Human Rights Act 1998 – aber im Rahmen der weiteren Verfassungsreform – lassen nur den Schluss zu, dass das Parlament den Ball im Spielfeld der Judikative sieht.512 Doch auch normativ sind die Mitglieder von Parteien in internen Streitigkeiten, insbesondere bei parteigerichtlich verhängten Disziplinarmaßnahmen, nicht ungeschützt. Zum einen steht ihnen im Grundsatz der prozessuale Schutz durch die natural justice zu. Gesetzlich sind Parteimitglieder darüber hinaus durch die Antidiskriminierungsgesetze geschützt, wenngleich hier einige Unterschiede – bspw. hinsichtlich des Begriffs der public authority – gegenüber dem Human Rights Act 1998 bestehen. Mithin bleibt nur die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zum Human Rights Act 1998,513 gleichermaßen die gesetzgeberischen Aktivitäten im Grund- und Menschenrechtsschutzes im Vereinigten Königreich, die seit Jahren heftiger Kritik ausgesetzt ist, abzuwarten. Große Parteien haben in den letzten Wahlkämpfen Vorschläge für die Einführung einer neuen britischen Bill of Rights gemacht,514 welche den Human Rights Act 1998 und seine Wirkung der Inkorporierung von europäischen Menschenrechten ersetzen könnte. Dieses Projekt könnte besonders im 510 Vgl. Potacs, Rechtstheorie, S. 183 m. w. N.; Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 18 m. w. N. 511 Vgl. nur Derry Irvine (Lord Irvine) für die damalige Regierung: „[The Human Rights Act 1998] should apply only to public authorities, however defined, and not to individuals“, HL Deb 24 Nov 1997 c 1231 f. Hierzu konstatiert Loveland, Constitutional Law, S. 652 abschließend: „The only conclusion we might safely draw from this is that resort to Hansard is by no means a panacea to cure all the interpretative ills caused by textual ambiguities in legislation.“ 512 Vgl. die vorgenannte Aussage von Lord Lester in HL Deb 20 December 2001 vol. 630 cc. 399 ff. 513 Dazu prägnant die Equality and Human Rights Commission: „We do, however, recognise that the interpretation of s. 6 of the Human Rights Act, which defines ,public authority‘, evolves over time, and this position may change. However, only the courts can determine this matter.“ (So Peter Stewart, Correspondence Unit Manager, Equality and Human Rights Commission, an den Verf., v. 4. April 2016.) Die Kommission hatte auf einer früheren Version ihrer Webseite politische Parteien als public authorities gelistet. Diese zwischenzeitlich aber entfernt. Auf Nachfrage des Verf. äußerte sich die Kommission wie vor. 514 Vgl. Greer/Slowe, Conservatives’ Proposals for a British Bill of Rights, EHRLR 2015, S. 372 m. w. N.; Lester, Human Rights, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), Changing Constitution, S. 70 (97 ff.).
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Zuge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU politisch erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden.515
II. Arten der Mitgliedschaft nach dem Parteisatzungsrecht Die konkrete Ausgestaltung der Mitgliedschaft in den beiden großen britischen Parteien stellt sich trotz der fehlenden zwingenden staatlichen Regelungen als sehr facettenreich dar. Von den Gerichten wird die Mitgliedschaft in der Partei, die eine unincorporated association ist, nur dadurch definiert und zugleich beschränkt, dass zumindest zwei – juristische oder natürliche – Personen Mitglieder sein müssen.516 Ansonsten halten sich Parlament und Gerichte zurück und überlassen konkrete Regelungen dem Parteieninnenrecht. Dies heißt aber nicht, dass Parteien von jeglichen Gleichheitserfordernissen absehen können, wenn sie z. B. Mitgliedsaspiranten abweisen wollen. Denn hierbei kommen die allgemeinen Antidiskriminierungsgesetze zur Anwendung. Dieser Aspekt wird ebenso in diesem Kapitel näher betrachtet. Zunächst aber sei nur auf die Grundsätze verwiesen, denen zufolge mögliche Mindest- oder Höchstanzahlen von Mitgliedern, die individuell-direkte oder kollektiv-indirekte Organisation der Mitgliedschaft und die instanzielle Frage des Beitritts der Mitglieder auf lokaler oder nationaler Ebene der Privatautonomie einer jeden Partei anheimgestellt sind.517 1. Individuelle Vollmitgliedschaft Alle großen Parteien kennen die individuelle Mitgliedschaft von natürlichen Personen. Insbesondere bei der Conservative Party und der Labour Party sind die Modalitäten der Mitgliedschaft eingedenk ihrer jeweiligen Organisationsgeschichte und -art unterschiedlich ausgeprägt. a) Parteimitgliedschaft in der Conservative Party seit 1998 Seit ihrem ersten Erscheinen in den 1830er Jahren bis zu ihrer Satzungsreform im Februar 1998 war die Mitgliedschaft in der außerparlamentarischen Conservative Party (außerhalb des Parlaments) nur auf Ebene der Wahlkreisorganisationen 515 Vgl. House of Commons/House of Lords (Hrsg.), Joint Committee on Human Rights, The Human Rights Implications of Brexit, Fifth Report of Session 2016 – 17, HL 88 HC 695. 516 Vgl. erneut Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „[B]y ,unincorporated association‘ […] Parliament meant two or more persons bound together for one or more common purposes.“ 517 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.65: „Political associations can be either local or national“ m. w. N. auf Watt (formerly Carter) v Ahsan [2008] ICR 82 (HL) 89 und Sawyer v Ahsan [2000] ICR 1. Hierbei ist interessant, dass die Conservative Party eine nationale Mitgliedschaft erst seit 1998 kennt.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
möglich.518 Bekanntlich hat die Conservative Party bis zum Jahr 1998 als eine einzige unincorporated association rechtlich gesehen nicht existiert. Ehedem war sie eine politische Bewegung und wuchs aus dem Parlament heraus in die Gesellschaft. Die Konsequenz hieraus für das Mitgliedschaftsverhältnis bis 1998 war, dass eine Mitgliedschaft nur in den jeweiligen Teilorganisationen möglich war, da und insoweit diese unincorporated associations waren. Für eine, keinen Parlamentssitz innehabende, natürliche Person kam daher nur die Mitgliedschaft in den Wahlkreisvereinigungen in Betracht. Demgegenüber war ein Parlamentsmitglied gleich welchen Hauses, das sich dem konservativen Whip des jeweiligen Hauses unterwarf, auch als Mitglied der Conservative Party anzusehen gewesen.519 Dessen Parteimitgliedschaft war jedoch durch die Zugehörigkeit zur parlamentarischen Fraktion gegeben. Einen formalen Beitritt zu dieser gab es nicht. Wer sich unilateral dem konservativen Whip unterwarf, war schlicht Mitglied der Conservative Party im jeweiligen Haus. Die Fraktionen waren, obgleich es eine Konstituierung erst 1922 gab, unincorporated associations.520 Aus dieser Gesamtschau der Rechts- und Organisationsgeschichte der Partei ergibt sich nicht nur die Trennung der Mitgliedschaft in den diversen Armen der Partei (innerhalb und außerhalb des Parlaments), sondern auch Folgen für die politische Bedeutung und die formellen Kompetenzen der Mitglieder in der außerparlamentarischen Parteiorganisation. Zwar war die außerparlamentarische Partei als handmaid521 der Parlamentsfraktion und des Parteiführers angesehen worden und ist dies bis heute in Teilen noch geblieben. Jedoch galt und gilt dies in Bezug auf die alleinige Entscheidungskompetenz des Parteiführers in programmatischen Fragen. Heutzutage ist er allerdings zur Konsultierung eines u. a. von den Parteimitgliedern gewählten Gremiums, des Conservative Policy Forums, bei der Erarbeitung des Programms nach Art. 11, 64 ff. Constitution der Conservative Party522 verpflichtet. Dagegen waren die lokalen Parteivereinigungen in den Wahlkreisen und ihr Zusammenschluss auf nationaler Ebene (die National Union of Conservative and Constitutional Associations) im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur nützlich, sondern gleichsam erforderlich geworden. Sie waren nämlich gegründet worden „to 518 Vgl. Moran, Politics and Governance, S. 286, 301; Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „[N]o one can join the party directly. Membership can be obtained either through a local constituency association or through the parliamentary party.“ 519 Siehe erneut Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 109: „In opposition, every Conservative MP is a member of this [1922, Anm. d. Verf.] committee.“ Und in Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „Membership can be obtained through the parliamentary party. […] [I]n the case of peers who are members of the parliamentary party as long as they accept the Conservative Whip in the House of Lords.“ 520 So zumindest Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 134 f., allerdings ohne Nachweise, da es hierzu – soweit bekannt – bislang keine gerichtliche Feststellung gibt. 521 Vgl. Ostrogorski, Organization of Political Parties, Bd. 1, S. 118. 522 Wortlaut: „The Leader shall determine the political direction of the Party having regard to the views of Party Members and the Conservative Policy Forum.“
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cope with the demands of fighting elections under the secret ballot and expanded suffrage in the nineteenth century.“523 Fortan standen aus verschiedensten historischen Gründen und ungeachtet der Reformversuche, wie desjenigen von Randolph Churchill, die Parlamentsfraktion, die dezentral organisierte außerparlamentarische Partei sowie der Parteiführer und die ihm unterstehende Parteizentrale ohne eine satzungsrechtliche Verbindung isoliert nebeneinander. Es gab bis 1998 keinen „constitutional link“524, wie der Court of Appeal es ausdrückt. Parlamentsfraktion und Parteiführer hatten daher auf die Entscheidungen der außerparlamentarischen Partei rechtlich betrachtet keinen direkten Einfluss. Nicht nur waren diese Entitäten satzungsmäßig miteinander nicht verwoben, es lag auch eine personell getrennte Mitgliederschaft in den außerparlamentarischen und parlamentarischen Parteiorganisationen vor. Die Masse der Parteimitglieder war in den Wahlkreisvereinigungen organisiert und war ihrerseits nicht zusätzlich Mitglied der Partei durch ein Mandat in einem der beiden Parlamentshäuser. Während einzig und allein dem Parteiführer die Formulierung des Partei- und Wahlprogramms oblag, konnten die Mitglieder der Wahlkreisvereinigungen in der Aufstellung von Kandidaten eine weitreichende Entscheidungsfreiheit genießen. Freilich war dies de facto stets von politischen Zwängen und durch die Parteiführung ausgeübtem Druck bestimmt.525 Heute ist die Mitgliedschaft in der Conservative Party in den Artt. 3 ff. Constitution geregelt. Nach Art. 4.1 sind Mitglieder natürliche Personen, die als die Party Members i. S. d. Parteisatzung bezeichnet werden.526 Sie werden nunmehr Mitglieder in den Constituency Associations (Wahlkreisvereinigungen) und in der nationalen Partei, siehe Artt. 7, 8 Constitution.527 Zusätzlich beinhaltet die Satzung der Conservative Party in den Artt. 4.2 – 4.4 auch andere, nämlich korporative Mitgliedschaftsformen, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Die Party Members 523
Moran, Politics and Governance, S. 301. Nach Webb, British Party System, S. 196, handelt es sich seit 1998 bei den konservativen Wahlkreisvereinigungen nicht mehr um rechtlich selbstständige unincorporated associations. 525 Moran, Politics and Governance, S. 301 spricht von „a distinctive character“ der Partei in diesem Kontext. Unberührt davon bleibt, dass schon seit dem 19. Jahrhundert die lokalen Parteimitglieder ihre Abgeordneten von vorausgewählten Listen wählten, die von der Parteiführung aufgestellt worden waren. Eine rechtliche Verpflichtung stellte dies aber nicht dar. Vgl. hierzu auch die bloße faktische Feststellung in Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „These local associations choose their own parliamentary candidates from a list of candidates approved by the party’s Standing Advisory Committee.“ Siehe allerdings die kritische Analyse der Kandidatenselektion in der Conservative Party mit Fokus auf die Zeit ab 2010 von Low, Candidate Selection in the Conservative Party, B.P. 2014, S. 401 (410): „[D]emocratisation on paper may actually co-exist with powerful elite influence in practice.“ 526 Wortlaut der Klausel: „Its Members shall comprise […] Individuals (referred to in this Constitution as ,Party Members‘)“ (Herv. i. O.). 527 So wird nach Art. 7 der Mitgliedschaftsbeitrag „in relation to the Party, to be a Party Member; and in relation to the Constituency Association which has received his subscription, (either directly or indirectly) to be a member of that Constituency Association“ erhoben. 524
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wählen nach Sch. 2 Art. 1 Constitution den Parteiführer unter der Bedingung des dortigen Art. 4, wenn zuvor vom 1922 Committee mehr als ein Kandidat vorausgewählt wurde. Die Auswahl der Parlamentskandidaten erfolgt letztlich durch Beschluss der Mitgliederversammlung der jeweiligen Wahlkreisvereinigung (Sch. 7 Artt. 15.2.3, 15.2.4 Constitution). Die in der Literatur und der allgemeinen Presse genannten Mitgliederzahlen für die Zeit bis Februar 1998 sind nur Schätzungen (teilweise der Partei selbst), da eine zentrale Mitgliederkartei nicht existierte; eine solche Kartei wurde erst mit der Satzungsreform eingeführt.528 Da unincorporated associations keine Verpflichtung zukommt, ihre Mitgliederzahl zu veröffentlichen, und das Vereinsrecht auch durch die Parteien- und Wahlgesetzgebung nicht modifiziert wird,529 macht die Conservative Party hiervon weiterhin Gebrauch. Auch nach der Konstitutionalisierung der Parteien durch die Parteiengesetze und nach ihrer eigenen Satzungseinführung im Jahre 1998 gibt die Partei ihre Mitgliederzahlen in nur unregelmäßigen Abständen bekannt.530 b) Labour Party: direkt-individuelle Mitgliedschaft seit 1918 Die Labour Party hat einen gänzlich anderen historischen Ursprung als die Conservative Party: Im Jahre 1900 aus der Gesellschaft heraus gegründet, wuchs sie in das Parlament hinein. Von Anfang an war sie daher als Mitgliederpartei konzipiert. Ihr Organisationsmodell entsprach jedoch nicht dem einer auf direkter Individualmitgliedschaft basierenden Massenmitgliederpartei, wie sie von Parteienforschern wie Robert Michels in jener Zeit postuliert wurde. Vielmehr war die Labour Party als eine Bewegung und eine Föderation der Gewerkschaften konzipiert, weshalb besonders ihre korporative Parteimitgliedschaft in dem vorliegenden Werk näher betrachtet wird. Die direkte Mitgliedschaft von natürlichen Personen wurde in der Labour Party im Jahr 1918 eingeführt. Dies erfolgte zeitgleich mit der Gründung der CLP.531 Beide Neuerungen waren eingebettet in die formelle Gründung der Labour Party: durch 528
Vgl. nur Peele, Governing, S. 226. Die Einführung der Mitgliederkartei erfolgte durch Art. 9 Constitution der Conservative Party. 529 Eine Veröffentlichungspflicht existiert schon im Lichte des fehlenden gesetzgeberischen Bekenntnisses zum Mitgliederparteiprinzip gegenüber der Electoral Commission und dem Parlament nicht. 530 Mit diesem Hinweis und für die aktuellsten Daten der Conservative Party aus dem Jahr 2013, Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6; vgl. ebenso Zahlen aus dem Jahr 2013 bei: Conservative Membership Has Nearly Halved Under Cameron, BBC News, 18 September 2013 (Internetquelle). Anders ist dies freilich in Bezug auf die Parteien, die unter dem Companies Act 2006 registriert sind und ihre gesellschaftsrechtlichen Veröffentlichungspflichten zu erfüllen haben, wozu auch die Mitgliederanzahl zählt. 531 Hierfür und für einen umfassenden Abriss zur Entwicklung der Partei Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (241).
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Erlass der ersten Parteisatzung.532 Bis 1993 wurde man Mitglied der lokalen CLP und damit uno actu Mitglied der nationalen Parteiorganisation.533 Eine nationale Mitgliedschaft wurde im Jahr 1989 eingeführt.534 Dabei erwirbt die Person die Vollmitgliedschaft in der Partei erst durch Zustimmung oder Fiktion derselben der örtlich zuständigen Wahlkreisvereinigung.535 Die Bedeutung der Wahlkreisvereinigungen im Parteiaufbau soll dadurch gesichert werden. Heute ist die direkt-individuelle Mitgliedschaft in der Labour Party im Ch. 2 Rule Book normiert. Nach Ch. 2 cl. I 2. sind die individual members of the party in sechs Kategorien unterteilt, die in der dortigen cl. III. konkretisiert sind. Die unterschiedlichen Mitgliedschaftsarten für natürliche Personen unterscheidet die Satzung anhand der Art und Höhe der jeweiligen Beitragspflicht. Zuallererst legt das Rule Book die Mitgliedschaft von Arbeitslosen, Rentnern und Pensionären sowie Menschen mit geringem Einkommen und bestimmten Auszubildenden fest, die allesamt eine Reduced Rate abführen müssen (Ch. 2 cl. III 1. A. i.). Hingegen müssen alle Mandatsträger außer local authority councillors (Gemeinderäte) den doppelten Mitgliedsbeitrag abführen (Elected Representative Rate), Ch. 2 cl. III. 1. B. i. Individualmitglieder können auch Personen sein, die bereits als Gewerkschaftsmitglieder den political levy zahlen. Sie sind in diesem Fall nur verringert individualbeitragspflichtig (Registered Trade Union Rate gemäß Ch. 2 cl. III 1. C. i.). Junge Menschen bis 28 Jahre bezahlen gleichfalls einen reduzierten Beitrag, der als Youth Rate nach Ch. 2 cl. III 1. D. i.) gestaffelt ist. Alle übrigen Mitglieder unterliegen der Zahlungspflicht einer Standard Rate (Ch. 2 cl. III 1. D. i.). Trotz der begrifflichen und beitragsmäßigen Unterschiede genießen alle diese Untergruppen die gleichen individual-mitgliedschaftlichen Rechte.536 Mithin ist ihnen dem Grunde nach die Teilnahme an allen Parteiversammlungen gestattet, das Wahlrecht bei ebendiesen und – expressis verbis – das Wahlrecht für die zentrale Funktion der außerparlamentarischen Organisationen aller britischen Parteien: die 532
Vgl. nur Moran, Politics and Governance, S. 306. Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1071) – Denning MR: „When a person joins a local constituency party, he becomes automatically a member of the national party. In the eye of the law he enters into two contracts, one with the other members of the local constituency party, the other with the other members of the national party.“ Dazu auch Gauja, Political Parties and Elections, S. 56 ff. 534 Vgl. Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 79; Quinn, Modernising the Labour Party, S. 98, 195. 535 Die Vollmitgliedschaft in der Partei wird unter der aufschiebenden Bedingung erworben, dass die Wahlkreisvereinigung nicht innerhalb von acht Wochen der Aufnahme widerspricht. Nach Ablauf der Frist wird die Zustimmung fingiert. Siehe hierzu die Normen aus dem Rule Book, namentlich App. 2 NEC Procedural Guidelines on Membership Recruitment and Retention, B. viii, ix. 536 Es kann indes zu einer Vervielfachung von Stimmrechten kommen, wenn etwa ein Labour-Abgeordneter zugleich Mitglied von einer oder mehrerer affiliated organisations ist. Kritisch dazu Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 100. 533
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Teilhabe an allen parteiinternen Kandidatenauswahlverfahren (Ch. 2 cl. III 4 A., B. Rule Book). c) Altersgrenzen für den Parteieintritt und die Mitgliedschaft von Minderjährigen Wegen ihrer Rechtsnatur als unincorporated association ergeben sich durch das Gesetzes- und Richterrecht auch keine Anforderungen an das Lebensalter für eine Parteimitgliedschaft.537 Den Parteien steht es frei, Altersgrenzen nach oben wie nach unten im Rahmen der allgemeinen Gesetze vorzunehmen.538 Von einer Begrenzung nach unten hat als einzige der größeren britischen Parteien die Labour Party Gebrauch gemacht und ein generelles Mindestalter von 14 Jahren für jede Form der Mitgliedschaft festgelegt (vgl. Ch. 7 Cl. V. 4. Rule Book). Andere Parteien, auch die Conservative Party, verzichten zumindest in ihren Satzungen gänzlich auf Mindestalteranforderungen.539 Dies heißt aber nicht, dass es nicht verschiedene Kategorien von Parteimitgliedschaften gibt, die an das Alter anknüpften. So hat die britische Parteienforscherin und Politologin Lynn Bennie die Existenz und Bedeutung altersmäßiger Beschränkungen in der britischen Parteienlandschaft untersucht. Zunächst verweist sie insoweit auf die jüngeren Entwicklungen in den Parteien mit den früher üblichen satzungsmäßigen Altersbeschränkungen. Im Zuge der Modernisierung der Parteien in den letzten Dekaden sind laut Bennie die Mindestalteranforderungen für die Mitgliedschaft weithin abgeschafft worden. Bennie stellt fest, dass die jeweilige „party documentation is not always consistent“540 mit den jüngeren Änderungen in den Altersanforderungen; die Parteisatzungen tragen diesen Änderungen durch Beschlüsse des zuständigen Gremiums für die Mitgliederaufnahme in einigen Fällen noch nicht Rechnung. Dieses Auseinanderfallen von Satzungsrecht und Satzungspraxis in den Parteien des Vereinigten Königreichs ist überhaupt nur möglich, weil gesetzliche und richterrechtliche Bestimmungen für die Parteisatzungen weitgehend fehlen. Sowohl die formelle als auch die materielle Ausgestaltung des Mitgliedschaftsverhältnisses obliegt, wie an diversen Stellen in dieser Arbeit dargelegt, den Parteien. Ebenfalls ist gezeigt worden, dass auch eine Einreichung von Parteisatzungen bei staatlichen 537
2.93. 538
Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.124, 2.30,
Zum Equality Act 2010 s. u. ausführlich. Mangels Festsetzungen in der nationalen Parteisatzung siehe die Ausführungen auf den Webseiten der jeweiligen Wahlkreisvereinigungen, zu denen der Beitritt eines Mitglieds erfolgt. Hier bspw. des Wahlkreises Rutland und Melton: „There is no upper or lower age limit on membership, although children under the age of 15 cannot be enrolled as full voting members.“ (https://www.rutlandmeltonconservatives.org/become-conservative-party-member, letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 540 Bennie, Party Membership in Britain, in: van Haute/Gauja (Hrsg.), Party Members, S. 169 (170). 539
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Aufsichtsbehörden (der Electoral Commission) nur bei der Registrierung erforderlich ist und eine materielle Kontrolle der Satzungen dabei nicht stattfindet.541 Dies führt etwa dazu, dass Parteisatzungen nicht für den Bürger frei verfügbar sein müssen. So ist die Constitution der Conservative Party, anders als das Rule Book der Labour Party, nicht über die Webseiten der Partei herunterzuladen. Es kann gleichwohl eine Kopie bei der Parteizentrale erbeten werden.542 Dies bedeutet aber, dass die Satzung auch Aspiranten für eine Parteimitgliedschaft nicht ohne Weiteres zugänglich ist. Zudem werden Satzungsänderungen nur beizeiten vorgenommen. So ist die Satzung der Conservative Party etwa seit Erlass im Februar 1998 nur viermal geändert worden, während das Rule Book der Labour Party einer jährlichen Aktualisierung unterzogen wird.543 Ferner stellt sie bei der Analyse der Parteien eine Beschränkung der Teilhaberechte für jugendliche Mitglieder fest. Dies geschieht zum einen durch Klauseln in den Parteisatzungen.544 So setzt die SNP in ihrer Satzung ein Mindestalter von 16 Jahren für die volle, ordentliche Parteimitgliedschaft fest. Obwohl ein Jugendlicher unter 16 Jahren auch Mitglied sein kann und in der Satzung kein Mindestalter festgelegt ist, erhält er nur den Status eines Associate Member (eines außerordentlichen Mitglieds) nach Art. 4.2 Constitution der SNP. Mit dieser Form der außerordentlichen Mitgliedschaft aufgrund des Alters geht in der SNP der völlige Ausschluss von parteiinternen Wahlrechten und damit der Teilnahme an der innerparteilichen Demokratie nach der Parteisatzung einher.545 Insbesondere in den Fällen, in denen sich das geltende Parteisatzungsrecht und seine Umsetzung in der politischen 541 Wie bereits gezeigt, ist es nicht erforderlich, dass die Parteisatzung bei der Registrierung unter dem PPERA 2000 hinterlegt wird, sie muss nur vorgelegt werden (vgl. erneut Morris, Parliamentary Elections, S. 122). Ferner wird diese nur unter den gesetzlichen Vorgaben von der Electoral Commission geprüft. Dazu zählen allerdings nicht die Regeln über die Parteimitgliedschaft. 542 Die House of Commons Library etwa verlinkt für eine Kopie der Parteisatzung der Conservative Party auf eine Datenbank für die Statuten politischer Parteien, die von europäischen parteinahen Stiftungen getragen wird. Siehe http://researchbriefings.parliament.uk/Rese archBriefing/Summary/SN07154 (letzter Abruf: 10. Oktober 2018), dort unter „Constitution of the Conservative Party [pdf]: includes leadership election rules and procedures for selecting candidates.“ 543 Siehe Deckblatt der Constitution of the Conservative Party. 544 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.124, 2.30, 2.93. Diese raten dazu, die Regelungen zur limited membership von Minderjährigen (gemäß s. 1 Family Law Reform Act 1969, ist minderjährig, wer das 18. Lebensjahr nicht vollendet hat) in die Satzungen von unincorporated associations aufzunehmen. Dies stellt eine gerechtfertigte Diskriminierung aufgrund des Alters nach ss. 4, 5, 101 Equality Act 2010 dar (vgl. a. a. O., para. 2.30 und für weitere Ausführungen zum Antidiskriminierungsrecht und der Parteimitgliedschaft unten). 545 Wortlaut der Klausel: „A person under sixteen may apply to be an Associate Member of the Party. Such Associate Members shall have all the rights and duties of Members, except that they may not vote in any body of the Party or be eligible for election to any position in the Party.“ Abrufbar unter http://politike.al/wp-content/uploads/2016/03/Statuti-i-Partise-Nacionaliste-Bri tani.pdf (letzter Abruf: 10. Oktober 2018).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Praxis nicht decken, kann es möglich sein, dass eine ggf. vorhandene satzungsmäßige Bestimmung zur Altersbegrenzung von der Parteibürokratie nicht eingehalten wird. Somit könnten die zuständigen Parteigremien auch Bewerber als Mitglieder aufnehmen, welche die Mindestalteranforderungen nicht erfüllen.546 Im Falle der Conservative Party wird auf den gleichlautenden Webseiten der für den Beitritt zuständigen Wahlkreisvereinigungen auf das Fehlen einer altersmäßigen Mitgliedschaftsbeschränkung in der Satzung hingewiesen. Zugleich wird konstatiert, dass „children under the age of 15 cannot be enrolled as full voting members.“547 Mangels freiwilliger Veröffentlichung ist unklar, ob die Partei hierzu je eine formelle Resolution gefasst hat. Beschlüsse des zuständigen Parteiorgans für einzelne parteiinterne Wahlen und Abstimmungen zur Einschränkung der Rechte nicht volljähriger Mitglieder erfolgen in anderen Parteien explizit, sind der Allgemeinheit im Internet zugänglich oder etwa in obiter dicta Gegenstand von Gerichtsentscheidungen geworden. So verabschiedete das NEC im Jahr 2016 die Regularien für die anstehende Wahl des Parteiführers durch die Mitgliederschaft. Hierbei wurde festgelegt, dass nur affiliated und registered supporters, die am Abstimmungstag über 18 Jahre alt waren, das aktive Wahlrecht innehaben und ausüben dürfen. Währenddessen durften auch Minderjährige unter den ordentlichen individuellen Mitgliedern wählen.548 2. Außerordentliche Mitgliedschaft: registered supporter der Labour Party Im Kontext des massiven Mitgliederschwundes in den letzten Jahrzehnten wurden in der parteienwissenschaftlichen Debatte und in der Praxis Forderungen nach einer Öffnung für moderne Formen der Mitwirkung laut. Besonders durch die technischen Möglichkeiten multimedialer Partizipation des Internetzeitalters hat diese Diskussion neuen Aufschwung erhalten.549 Ein länger schon unterbreiteter Vorschlag aus der Parteienforschung ist es, nicht nur formell beigetretene Vollmitglieder an den innerparteilich demokratischen Entscheidungen teilhaben zu lassen, speziell an der Parteiführer- und Kandidatenauswahl sowie programmatischen Grundsatzentscheidungen. 546 Vgl. in diese Richtung Bennie, Party Membership in Britain, in: van Haute/Gauja (Hrsg.), Party Members, S. 169 (170). 547 Vgl. die gleichlautenden Textbausteine auf den folgenden Webseiten von Wahlkreisvereinigungen, etwa https://www.staffordconservatives.org.uk/membership, https://www.rut landmeltonconservatives.org/become-conservative-party-member oder https://www.hammers mithconservatives.com/membership (letzter Abruf je: 10. Oktober 2018). 548 Vgl. die Ausführungen dazu im Fall Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 6) – Beatson LJ m. w. N. 549 Allgemein dazu Gauja, Construction of Party Membership, EJPR 2015, S. 232 (240) m. w. N.; Rogers, From Membership to Management?, in: P.A. 2005, S. 600 passim. Speziell zur Online-Beteiligung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern siehe Chadwick/Stromer-Galley, Digital Media, Power, and Democracy in Parties, IJPP 2016, S. 283 passim.
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Von den größeren britischen Parteien hat insbesondere die Labour Party neue Formen der Parteimitgliedschaft erprobt. Mit der Parteireform ab 2011550 wurde eine neuartige außerordentliche Parteimitgliedschaft eingeführt. Seither kann man u. a. als registered supporter die Partei unterstützen.551 Ausweislich App. 1 des Rule Book verfolgt die Partei damit das Ziel „to match the way people live and reach out beyond […] membership to our Labour supporters“. Der Beitritt als registered supporter kann über das Internet erfolgen und kostete im Jahr 2015 noch 3 GBP, seit 2016 aber 25 GBP p. a. als pauschaler Mitgliedschaftsbeitrag.552 Zentrale Teilhaberechte sind die Beteiligung an der Wahl des Parteiführers, seines Stellvertreters und des Kandidaten für das Bürgermeisteramt in London, nicht aber an der Parlamentskandidatenauswahl in den Wahlkreisen.553 Im Jahre 2011 wurde vom Parteitag zunächst beschlossen, dass die registered supporter zunächst die Anzahl von 50.000 überschreiten müssen, bevor eine Beteiligung bei der Parteiführerwahl im Electoral College möglich sein sollte. Mit der erneuten Satzungsänderung 2014 wurde das Electoral College aufgelöst, die Wahl des Parteiführers erfolgte durch alle individuellen Parteimitglieder, ordentliche wie außerordentliche. Im Laufe des Jahres 2015 stieg die Zahl der registered supporter 550 Zur Parteireform unter dem Parteiführer Ed Miliband zwischen 2010 und 2015 der parteiinterne Bericht von Ray Collins (Baron Collins) im Auftrag der Labour Party siehe Collins, Labour Party Reform, passim und für die Einführung der registered supporters a. a. O., S. 19. Weiterhin aus der Parteienwissenschaft eine Analyse vom Politologen Tim Bale zur Reform von 2010 bis 2015 (insb. zur Einführung der registered supporter) bei Bale, Five Year Mission, S. 68 f., 132 f., 178 f. und Faucher, Leadership Elections, P.A. 2015, S. 794 (804, 809). 551 Hain, Back to the Future of Socialism, S. 233, definiert registered supporters als „people happy to be linked into, but not ready to join, the party“. 552 Zunächst legte para. 35 Leadership Election 2016 – Procedural Guidelines and Timetable diesen Geldbetrag fest. Vgl. für den politischen Hintergrund der Erhöhung die Ausführungen der Parteivertreter in der Rechtssache Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (paras. 53, 57) – Hickinbottom J vor dem High Court: „The Party was concerned that individuals had become members or registered supporters before the 2015 leadership election merely in order to vote for candidates, and without the intention of participating otherwise in the Party’s activities; and, indeed, it seemed that some individuals may have done so to subvert the Party’s processes for the election of its Leader.“ Sowie: „Mr McNicol explains (paragraphs 37 of his First Statement) that he originally proposed a fee of £12 to discourage ,paper applications, and to reflect the additional costs of hiring staff to vet the registered supporter applicants. He says there were two reasons for raising it to £25 (paragraph 41).“ Und dazu aus dem Urteil des Court of Appeal in derselben Sache mit Verweis auf die Parteisatzung zur Gefahr der Unterwanderung der Partei durch derartige Mitglieder: „Appendix 2 contains the NEC’s procedural guidelines on membership recruitment and retention Clause I(A)(iv) states: ,The Party is, however, concerned that no individual or faction should recruit members improperly in order to seek to manipulate our democratic procedures‘. Clause I(A)(v) states that it is unacceptable for large numbers of ,paper members‘, who have no wish to participate except at the behest of others, to be recruited in an attempt to manipulate Party processes because it undermines the Party’s internal democracy and is unacceptable to the Party as a whole.“ (Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 15) – Beatson LJ) 553 Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 11 f. m. w. N.
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auf 121.295.554 Mit Hilfe dieser massiven grassroot-Bewegung wurde schließlich Corbyn zu seiner ersten Wahl als Parteiführer verholfen.555 Insbesondere hatte dieser nur geringe Unterstützung durch die Parlamentsfraktion erhalten. Die Einführung der registered supporter mit den Wirkungen einer Quasimitgliedschaft hat letztlich zu dem geführt, was der Vorgänger im Amte des Parteiführers, Ed Miliband, im Rahmen der unter dem Titel „Refounding Labour“ durchgeführten Satzungsreform im Jahr 2011 in das Stammbuch der Partei schrieb: „We must look to our own traditions as a community-based grassroots party where the voices of individual members [and] trade unionists were always valued. But we must also widen our horizons to our supporters and the wider public. They must have their say in the future of our party, too.“556
3. Kollektivmitgliedschaften Neben der individuellen Mitgliedschaft von natürlichen Personen kennen die britischen Parteien auch die kollektive Parteimitgliedschaft von Vereinigungen. Während die diesbezüglichen Regelungen weitgehend vom Satzungsrecht der Parteien geprägt sind, interveniert der Gesetzgeber in die Organisationsfreiheit der Parteien, wenn es um Gewerkschaften als Parteimitglieder geht. Bereits seit dem Trade Union Act 1913 im Nachgang der Osborne-Entscheidung des House of Lords und zuletzt durch den Trade Union Act 2016 wird die Mitgliedschaft von Gewerkschaften in politischen Parteien eng reguliert.557 Nicht selten schwingt bei der Betrachtung der kollektiven Parteimitgliedschaft in der (vergleichenden) Parteienwissenschaft die Konnotation eines Alleinstellungsmerkmals der Labour Party mit.558 Dabei ist eine mittelbare Mitgliedschaft weder im britischen noch im vergleichenden Parteienrecht gesehen einzig bei dieser Partei 554 Vgl. Labour Leadership: Huge Increase in Party’s Electorate, BBC News, 12. August 2015 (Internetquelle). Ebenso Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 8 f. m. w. N. 555 Vgl. nur Chadwick/Stromer-Galley, Digital Media, Power, and Democracy in Parties, IJPP 2016, S. 283 (288 f.) mit Fokus auf die Online-Rekrutierung und Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 11 f. m. w. N. aus der britischen Tagespresse. 556 Zitiert nach Gauja, Politics of Party Policy, S. 99, Herv. d. Verf. 557 Hierzu statt vieler Davis, Political Freedom, S. 122 ff.; Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (142 f.); Blackburn, Electoral System, S. 345. 558 In diese Richtung Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (190): „Eine bekannte Besonderheit dabei bildet die Stellung von Gewerkschaften in der Labor-Party [sic!].“ Bei Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 25 wird mit Verweis auf Ewing, Cost of Democracy, Ch. 2 und S. 265 ff. dargestellt, dass das britische „Labour party model“ der kombinierten individuellen und korporativen Mitgliedschaft zumindest von anderen Labo(u)r Parties in Common Law-Ländern geteilt wird.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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vorzufinden. Vielmehr ist eine Kollektivmitgliedschaft in anderen britischen Parteisatzungen ebenso verankert.559 Richtig ist gleichwohl, dass die Mitgliedschaft der Gewerkschaften in der Labour Party nicht nur zahlenmäßig die größte ist. Sie ist daher rechtspraktisch eine nicht zu unterschätzende Größe für alle in einer Mitgliederpartei getroffenen Entscheidungen, seien sie sachpolitischer oder personeller Natur. Zudem ist die Mitgliedschaft der Gewerkschaften durchaus als eine sozial-, wirtschafts- und parteienrechtsgeschichtliche Besonderheit zu werten,560 die deshalb eine besondere Berücksichtigung in diesem Werk verdient. a) Gewerkschaften in der Labour Party: keine individuelle Parteimitgliedschaft der Gewerkschaftsmitglieder Bei der Parteimitgliedschaft von Personenvereinigungen, z. B. Gewerkschaften oder sozialistischen Verbänden, werden deren Mitglieder i. d. R. selbst nicht automatisch zu individuellen Parteimitgliedern.561 Aus der Perspektive des Einzelnen betrachtet bleibt es bei seiner direkten Mitgliedschaft in der jeweiligen Hilfs- und Umfeldorganisation562 der Partei.563 Der High Court hat dies im Jahr 2000 in dem Verfahren Mortimer v The Labour Party ausdrücklich bestätigt. Es ging in dem 559 Vgl. bereits hier die Regelungen der Conservative Party in den Artt. 4.2 – 4.4 der Constitution zur ausdrücklichen Mitgliedschaft (Wortlaut der Klausel: „Its Members shall comprise: 4.1 Individuals […]; 4.2 Constituency Associations […]; 4.3 Recognised Organisations, […] 4.4 The Scottish Conservative and Unionist Party“). 560 Vgl. Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 25: „The Labour party’s structure is unusual“. Als eine „Besonderheit“ bezeichnet bei Tsatsos/Schefold/Morlok, Rechtsvergleichende Ausblicke, in: dies./ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 737 (789). 561 Siehe etwa Ewing, Trade Union Question, in: ders./Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 54 (63 f.) m. w. N. Dies ist freilich abhängig von der jeweiligen Parteisatzung. Dazu sogleich auch das Urteil Mortimer v The Labour Party [2000] WL 538. 562 Vgl. hierzu Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (190): „Eine bekannte Besonderheit dabei bildet die Stellung von Gewerkschaften in der Labor-Party [sic!].“ 563 Bei der kollektiven Mitgliedschaft in unincorporated associations ist zu differenzieren: Einerseits ist es möglich, dass die Mitgliedschaft als sog. block membership ausgestaltet ist. Hierbei kommen sämtlichen Mitgliedern einer unincorporated association, die eine vertragliche Beziehung zu einer anderen unincorporated association unterhält, alle (oder, je nach satzungsrechtlicher Ausgestaltung nur beschränkte) Mitgliedschaftsrechte zu. Dann handelt es sich um eine eigene individuelle Mitgliedschaft in beiden Vereinigungen. Andererseits kann eine unincorporated association, die aus natürlichen Personen besteht, selbst Mitglied in einer unincorporated association sein. Die Mitglieder der erstgenannten Vereinigung sind in diesem Falle keine individuellen Mitglieder in der anderen Vereinigung. Mitglied in der anderen unincorporated association ist nur die erstgenannte Vereinigung. Allerdings können auch hier den Individualmitgliedern der einen Vereinigung mitgliedschaftliche Rechte in der Satzung der anderen zugesprochen werden. Dieses zuletzt genannte Modell sieht auch die s. 107(6) Equality Act 2010 vor, die auf die Parteien Anwendung findet. Außerdem hat sich die Labour Party für dieses Modell entschieden. Ausführlich hierzu Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.131 f.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Verfahren um eine von den Klägern begehrte declaration564 (Feststellungsurteil) des Gerichts, sie als individuelle Gewerkschaftsmitglieder entgegen eines Beschlusses der Partei als Wähler für das parteiinterne Kandidatenauswahlverfahren um die Londoner Bürgermeisterwahl 2000 zuzulassen.565 Bei der Auslegung des LabourParteisatzungsrechts stellte Parker J fest, dass es erstens „is to be borne in mind in this connection that no individual or organisation had any right to participate in the selection process under the Labour Party Rules“566. Zweitens, und generell betrachtet, gibt es „no privity of contract between the claimants and the Labour Party in relation to affiliation.“567 Die zentrale Voraussetzung für die gerichtliche Überprüfbarkeit parteiinterner Streitigkeiten ist, ob indirekte Parteimitglieder das bei einer declaration nach Order 15 r. 16 Supreme Court Rules a. F. erforderliche subjektive Recht gegenüber der Partei geltend machen können. Diese Rechtsposition muss sich in casu aus dem Vertragsverhältnis ergeben.568 Das Urteil des High Court wendete an dieser Stelle die ständige Rechtsprechung des House of Lords zu Gewerkschaften an.569 Hiernach stand den Gewerkschaftsmitgliedern ein vertragliches Recht gegenüber der Partei auf Teilhabe an der innerparteilichen Willensbildung nicht zu. Verallgemeinernd formuliert gilt das vom High Court gefundene Ergebnis jedenfalls nicht, wenn Ge-
564 Siehe zur Bedeutung und Geschichte der declaration als Feststellungsurteil im Zivil- und Verwaltungsgerichtsprozess Slapper/Kelly, English Legal System, S. 237. Vgl. aus der älteren Literatur Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 2, S. 128 f. 565 Hierbei hatte das NEC der Labour Party im Jahre 1998 Regeln erlassen, die u. a. festlegten, bis zu welchem Stichtag die affiliation fees der jeweiligen Mitgliedsgewerkschaften überwiesen sein mussten, damit deren Mitglieder an der Urwahl des Labour-Bürgermeisterkandidaten im Jahr 1999 teilnehmen durften. Die Gewerkschaft MSFU verpasste diesen Termin. Sechs Mitglieder der MSFU, die ihren political levy im Vertrauen auf die Weiterleitung als affiliation fee durch die Gewerkschaft an die Partei rechtzeitig bezahlt hatten, klagten daher gegen die Labour Party auf Zulassung als Wähler. Die MSFU selbst war an dem Gerichtsverfahren nicht beteiligt. Eine eingehende Besprechung dieser Entscheidung bei Morris, Conceptualising Candidate Selection, P.L. 2008, S. 415 (420); Ewing, Cost of Democracy, S. 69 f. 566 Mortimer v The Labour Party [2000] WL 538 – Parker J. 567 Mortimer v The Labour Party [2000] WL 538 – Parker J. 568 Dies formuliert Parker J wie folgt: „[A] claim for declaratory relief must be founded on some legal right of the claimant, enforceable against the other party, which is or which is threatened to be infringed“, so erneut Mortimer v The Labour Party [2000] WL 538 – Parker J. 569 Siehe nur Gouriet v Union of Post Office Workers [1978] AC 435 (483F) – Wilberforce LJ: „[T]here is no supporting authority for the proposition that declaratory relief can be granted unless the plaintiff in proper proceedings in which there is a dispute between the plaintiff and the defendant concerning their legal respective rights or liabilities either asserts a legal right which is denied or threatened or claims immunity from some claim of the defendant against him or claims that the defendant is infringing or threatens to infringe some public right so as to inflict special damage on the plaintiff.“
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werkschaftsmitglieder zusätzlich (wie nach der Labour-Parteisatzung möglich, s. o.) Individualmitglieder der Partei sind.570 aa) Labour Party als (fast) rein korporative Bewegung bis 1918 Anfang des 20. Jahrhunderts postulierten Parteien- und Demokratietheoretiker wie Robert Michels die Massenmitgliederpartei als Idealtypus einer modernen, demokratischen Partei. Dabei stand das Individuum als Mitglied im Zentrum dieses organisationstheoretischen Leitbildes.571 Die Labour Party hingegen orientierte sich aufgrund dessen, dass sie eine Gründung der Gewerkschaften war, zunächst an einem anderen Leitbild, mithin dem einer confederal party572. Mitglieder der Partei waren ausschließlich die Gewerkschaften und sozialistische Gesellschaften selbst. Insbesondere galt bei den Gewerkschaften bis zum Osborne-Urteil573 des House of Lords eine Zwangsmitgliedschaft aller Gewerkschaftsmitglieder. Die Labour Party verfügte so im Jahre 1900 noch über 353.000 Gewerkschaftsmitglieder als indirekte Parteimitglieder. Im Jahr 1910 wuchs die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, deren Gewerkschaften der Labour Party angeschlossen waren, auf 1,394 Millionen an.574 Ungeachtet der nur mittelbaren Mitgliedschaft der Gewerkschaftsmitglieder bedeutete diese Organisationsform der Partei ein Novum in der Geschichte der politischen Parteien im Vereinigten Königreich. Denn erstmals lag die Entscheidungskompetenz in programmatischen Fragen nicht exklusiv beim Parteiführer und der Parlamentspartei, sondern bei der nur zentral organisierten außerparlamentarischen Partei. Dies unterschied diese junge Partei auch von der Liberal Party und der Conservative Party, die ja nur ihre Kandidatenselektion575 in die Hände der Mitglieder legten und dies nur auf lokaler Ebene. Der gewachsenen Bedeutung individueller Mitglieder in den Wahlkreisvereinigungen der einstmals bereits etablierten Parteien stand eine Besonderheit der Labour Party entgegen. Bemerkenswert ist das Spannungsfeld, in dem sich die Labour Party befand. Sie prägte die politisch nicht nur vertretene, sondern selbst aktive Arbei570 Vgl. zu diesem Urteil auch Ewing, Cost of Democracy, S. 70; Morris, Parliamentary Elections, S. 109; dies., Conceptualising Candidate Selection, P.L. 2008, S. 415 passim. 571 Vgl. Verweise auf Michels bei McKenzie, Parteien in England, S. 385. 572 So Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 76. 573 Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne [1910] AC 87. Eingehend zu diesem Urteil und den Auswirkungen auf die Entwicklung der Labour Party-Organisation, ihr Satzungsrecht und den Erlass der Trade Union Acts siehe Ewing, Trade Unions, the Labour Party and the Law, S. 17 – 38. 574 Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 270; Cole, British Working Class Movement, S. 480. 575 Die Kandidatenauswahl lag in der Labour Party de jure zwar in den Händen der Ortsgruppen, de facto orientierte sich die Labour-Parteiführung am Aufbau der beiden etablierten Parteien. So war Zweck der Massenorganisation, vor allem der Fraktion im House of Commons, durch Auswahl genehmer Kandidaten Mehrheiten zu organisieren, siehe McKenzie, Parteien in England, S. 364, 367.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
terschaft. Dies geschah aber nicht individuell, sondern als Bewegung der Gewerkschaften und sozialistischer Korporationen. Aus diesem Grund gab es in der außerparlamentarischen Labour Party bis zum Jahr 1918 keine Mitgliedschaft natürlicher Personen.576 Die Labour Party verstand sich a priori als eine Bewegung und ein Zusammenschluss von Verbänden und Gewerkschaften zur Erreichung kollektivistisch-sozialistischer Ideen und eben nicht als individualmitgliedschaftlich begründete Partei. Darauf weist auch hin, dass die Partei erst seit dem Jahre 1906 – also sechs Jahre nach ihrer Gründung – unter ihrem heutigen Namen als Labour Party firmiert und bis dahin Labour Representation Committee hieß.577 Es waren die in ihr korporativ organisierten Gewerkschaften und sozialistischen Vereine, welche mit ihren Delegierten auf dem jährlichen Parteitag über die Politik entschieden. Im Übrigen wurde, nachdem sich im Jahre 1906 erstmals eine Gruppe Abgeordneter zur PLP zusammenschloss, von dieser jährlich ein Chairman als ein Fraktionsvorsitzender gewählt. Das Amt des Parteiführers, der die parlamentarische und außerparlamentarische Partei zugleich anführt, war der Partei noch unbekannt. In der Folge des politischen Aufstiegs der Partei musste dieses Amt für die erste Regierungsbeteiligung in den 1920er Jahren (wegen der verfassungskonventionalen Stellung des Parteiführers der stärksten Partei als natürlicher Premierminister) eingeführt werden.578 Einerseits unterstrich die gesamte Organisation der Labour Party eine Abkehr von der Behandlung der außerparlamentarischen Partei (und der Parteimitgliederschaft) als dienende Magd für die parlamentarische Parteielite, wie es vornehmlich bei der Conservative Party der Fall war. Andererseits darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass die korporative Organisationsform dem einzelnen Arbeiter bzw. Mitglied eine unmittelbare, effektive und direkte Partizipation in der Partei verwehrte.579 Vor Öffnung der Labour Party für individuelle Mitglieder fanden sich in der mit der Labour Party verbundenen ILP nicht gewerkschaftlich organisierte Männer zusammen, zumal ihnen die unmittelbare Mitgliedschaft in der Labour Party verwehrt war. Mit der Satzungsreform 1918 reagierte die Labour Party auf die innerparteiliche Konkurrenz. Denn die ILP war eine affiliated organisation der Labour Party ge576
Vgl. Setzer, Parteienentwicklung in England, S. 193; Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 70 und McKenzie, Parteien in England, S. 310, die von einer oder wenigen Ausnahmen im Vereinigten Königreich sprechen, wo sich Labour-Wahlkreisorganisationen bereits aus Individualmitgliedern zusammensetzten. Siehe aus der zeitgenössischen Literatur Ewing, Cost of Democracy, S. 37 m. w. N. 577 Statt vieler nur Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis, Bd. 1, S. 129; Fisher, British Political Parties, S. 9 f. 578 Der Chairman der PLP war aber kooptiertes Mitglied kraft Amtes im NEC. Er wurde zuweilen auch als Parteiführer (party leader) bezeichnet. Vgl. Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 270. 579 Vgl. hierzu auch Becker, Mitgliederpartei, S. 76: „Insofern stand die Satzung zwar für innerparteiliche Demokratie, aber in der Realität wurde diese nur indirekt praktiziert. Die Parteitage bestanden nämlich zum überwiegenden Teil aus Delegierten der angeschlossenen Organisationen.“
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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wesen. Dabei wurde auch die Gründung von Wahlkreisvereinigungen im ganzen Land ermöglicht. Mit diesen, die seither aus Individualmitgliedern bestehen, passte sich die Labour Party zum ersten Mal an die beiden etablierten Parteien und ihre Idee des caucus aus dem Ende des 19. Jahrhunderts an. Auch sollten diese CLP von diesem Moment an auf dem Parteitag und im von diesem gewählten NEC repräsentiert sein.580 Letztlich sorgte die Labour Party mit Öffnung für individuelle Mitglieder dafür, dass mit der Independent Labour Party, die 1922 aus der affiliation mit der Labour Party austrat, eine mit ihr konkurrierende Partei in der Folge marginalisiert wurde. bb) Öffnung für Individualmitglieder und Einführung des Parteiführeramtes Alle Entwicklungen der Labour Party in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz und ihres politischen Aufstiegs zur Gegenspielerin für die Conservative Party waren eingebettet in den politischen und rechtlichen Verfassungsrahmen. Die britische Verfassung ist bekanntlich lebendig, beweglich und zugleich traditionsbetont. Mit Blick auf Parteien und Parlament stützt sich die britische Verfassung weithin auf politisch etablierte Mechanismen. So etwa in der parteiinternen Parlamentskandidatenauswahl auf lokaler Ebene oder auch in der untrennbaren Verbindung von Parteiführer- und Premierministerstellung. Die hier nur kurz skizzierte Entwicklung der Labour Party hin zu einer auf lokaler bis nationaler Ebene organisierten Massenmitgliederpartei illustriert erneut, dass sich die Parteien im Rahmen des tradierten Zweiparteiensystems entwickelten. Dieses wiederum ist aber ein Produkt des britischen Wahlrechts (einfache Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen).581
580 Schon das Labour Representation Committee richtete einen jährlichen Parteitag aus. Auch nach ihrer Umbenennung sah die Satzung der Labour Party vor, dass der Parteitag das höchste Beschlussgremium war. Die eigentliche Parteiführung wurde das NEC. Bis zur ersten Reform der Satzung bestand das NEC aus 16 gewählten Mitgliedern. Die zu vergebenden Ämter waren das des Schatzmeisters sowie des Vertreters der Mitgliedsorganisationen, eines Vertreters für die trade councils, für die lokalen Arbeitervereinigungen und die Labour Frauenvereinigungen zusammen, dreier Vertreter sozialistischer Gruppen wie etwa der Fabian Society sowie der elf Vertreter der Mitgliedsgewerkschaften (Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 247 f.). Die Fabian Society, die 1884 gegründet wurde, war aber keine Massenorganisation, sondern eine von Intellektuellen gegründete Diskussionsplattform. Vgl. zu dem Ganzen Setzer, Das Britische Parteiensystem, JöR 1983, S. 71 (117); Thorpe, Labour Party, S. 10 f., 44; Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 272. 581 So die bekannte These des französischen Politikwissenschaftlers Maurice Duverger aus den 1950er Jahren: „The simple–majority single–ballot system encourages a two–party system“, Duverger, Party Politics, S. 205. Diese findet auch in der britischen Parteienforschung Zustimmung und ist die wohl h. M., vgl. Mair, Party System, in: Flinders/Gamble/Hay/Kenny (Hrsg.), Handbook of British Politics, S. 283 (284) m. w. N. Ebenso hierzu Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 122; Baedermann, Einfluss des Wahlrechts, S. 70.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
cc) Gewerkschaftsmitglieder als individuelle affiliated supporter seit 2014 Es ist bereits in vorangegangenen Kapiteln dieser Untersuchung dargelegt worden, dass auch die Labour Party einen erheblichen Einbruch ihrer Mitgliederzahlen in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt hat.582 Neben den gesellschaftlichen Veränderungen zeichnen auch die mehrfach veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen hierfür verantwortlich. Unter konservativen Regierungen wurde die Pflicht der positiven Zustimmung jedes einzelnen Gewerkschaftsmitgliedes (sog. contracting in bzw. opting in) eingeführt und unter einer späteren Labour-geführten Regierung wiederum in das System der Widerspruchslösung (sog. contracting out bzw. opting out) geändert.583 Die gesetzlichen Regelungen finden sich in den Ch. VI-VIIA des Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992:584 Gewerkschaften dürfen nur nach einer im Rhythmus von zehn Jahren durchzuführenden Mitgliederbefragung politische Parteien585 finanziell unterstützen, s. 73(3) Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992.586 Diese Zuwendungen müssen als separate Mitgliedsbeiträge (political levy) in der Gewerkschaft erhoben werden. Nach s. 84 des Gesetzes von 1992 musste für jene Gewerkschaftsmitglieder, welche die Labour Party nicht unterstützen mögen, die Möglichkeit des Ausoptierens bestehen (sog. contracting out oder opting out).587 Mit dem Trade Union Act 2016 hat die Regierung bzw. die Parlamentsmehrheit der Conservative Party das vor dem Zweiten Weltkrieg von ihr selbst bereits einst eingeführte Prinzip des opting in erneut eingeführt (so nunmehr wörtlich die geänderte amtliche Überschrift der s. 84 des Gesetzes von 1992 nach Maßgabe der s. 11
582 Mit Verweisen auf die zahlreichen politikwissenschaftlichen Analysen zu diesem Thema bei Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 11 ff. 583 Dies wurde schon in den 1920er Jahren durch die nächste konservative Regierung bzw. Parlamentsmehrheit mit dem Trade Disputes and Trade Union Act 1927 geändert, sodass Gewerkschaftsmitglieder sich aktiv zur Parteiabgabe bereit erklären mussten (sog. contracting in). In Folge dessen sank der Anteil der Gewerkschaftler, die in den political levy einzahlten, von 75 % (1925) auf 48 % (1938). Die erste Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg änderte das System wieder zum contracting out um, das es bis zum Trade Union Act 2016 blieb. Vgl. rechtshistorisch zum Ganzen Blackburn, Electoral System, S. 317. 584 Dies sind die ss. 71 – 108C. Die Abstimmung aller Gewerkschaftsmitglieder über den political fund muss nunmehr alle zehn Jahre erfolgen. 585 Beachte hier nochmals, dass das Gesetz den Begriff der political objects und nicht den der political party verwendete. 586 Eingeführt wurde diese Regelung mit dem Trade Union Act 1984, vgl. Gay/White/Kelly, Funding of Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 25. 587 Siehe erläuternd zu dieser Rechtslage Davis, Political Freedom, S. 122 ff.; Bogdanor, Financing of Political Parties, in: ders. (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 127 (142 f.).
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Trade Union Act 2016).588 Diese Neuregelung ist auf massiven Widerstand der Labour Party und der Gewerkschaften gestoßen, da für die Zeit nach Inkrafttreten im März 2018 ein massiver Einbruch bei der Anzahl der Unterstützern der Labour Party unter den – zumeist ja inaktiven – Gewerkschaftsmitgliedern befürchtet wird.589 Von den im Vereinigten Königreich 137 offiziell registrierten Gewerkschaften verfügten 22 im Jahr 2016/2017 über einen political fund. Von diesen waren 12 der Labour Party affiliated (angegliederte) Kollektivmitglieder.590 Die Gesamtzahl der individuellen Gewerkschaftsmitglieder, die in einer Gewerkschaft mit political fund organisiert sind, belief sich auf rund 4,77 Millionen. Davon haben 622.286 Gewerkschaftsmitglieder vom contracting out Gebrauch gemacht.591 Der Vorteil in der indirekten Mitgliedschaft lag bislang für Gewerkschaftsmitglieder darin, dass die Delegierten, die von den Gewerkschaften zum Parteitag und in die übrigen Parteiorgane entsandt werden (NEC, NPF), an Bedeutung verloren haben.592 So ist das gebundene Mandat der Gewerkschaftsdelegierten, der block vote, bereits 1993 zugunsten des individuellen Wahlrechts der Delegierten (one man one vote-Prinzip) aufgehoben worden.593 Daneben hat es eine Demokratisierung der Parteiführerwahl gegeben. Bis 2014 stellten die Gewerkschaften noch ein Drittel der Wähler für die Wahl des Parteiführers im Electoral College.594 Mit Einführung der basisdemokratischen Wahl für 588
Zum Inkrafttreten dieser Regelung ab März 2018 und der diesbezüglichen Änderung der Satzungen einiger Gewerkschaften: Certification Office for Trade Unions (Hrsg.), Annual Report 2016 – 2017, paras. 7.20. 589 Vgl. Ewing/Hendy, Trade Union Act 2016, ILJ 2016, S. 391 (407 – 409); Mason, Labour Predicts Trade Union Bill Would Cut Party Funding, The Guardian v. 4. Februar 2016. 590 Die aktuelle Anzahl der Mitgliedsgewerkschaften in der Labour Party ist einsehbar unter http://www.unionstogether.org.uk/about#unions (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). Certification Office for Trade Unions (Hrsg.), Annual Report 2016 – 2017, paras. 1.12; 7.11. In den Jahren 2009 und 2010 existierten noch 163 Gewerkschaften, von denen 28 über einen political fund verfügten. Von diesen waren 14 Mitglieder der Labour Party. Siehe zum Ganzen Ewing, Trade Union Question, in: ders./Rowbottom/Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 54 (61) m. w. N. 591 Certification Office for Trade Unions (Hrsg.), Annual Report 2016 – 2017, paras. 7.17 f. und App. 9. 592 Zu der alten Satzungslage siehe Ewing, Trade Union Question, in: ders./Rowbottom/ Tham (Hrsg.), The Funding of Political Parties, S. 54 (63) m. w. N. Der Anteil der Gewerkschafterstimmen im Electoral College lag bis 2014 bei einem Drittel. Bei der Parteiführerwahl 2015, die nach dem one man one vote-Prinzip unter Einbeziehung nur derjenigen Gewerkschafter durchgeführt wurde, mussten sich Gewerkschafter individuell als affiliated supporter registrieren. Ihr Stimmenanteil sank in der Folge auf 17 %. Vgl. dazu Akehurst, Let’s Scrap the Registered Supporters Scheme (Internetquelle). Zur Reform im Jahre 2014: Webb/Bale, No Place Else To Go, in: Haugsgjerd Allern/Bale (Hrsg.), Left-Of-Centre Parties and Trade Unions, S. 246 (251 ff.). 593 Zur Geschichte des block vote siehe Ingle, Party System, S. 85. 594 Zunächst hatten die Gewerkschaften 40 % der Stimmen. Dies wurde 1993 dahingehend korrigiert, dass der block vote der Gewerkschaften zugunsten eines one member one votePrinzips abgeschafft wurde und damit korrespondierend neben den einzelnen Gewerk-
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
die Parteiführerwahl hat die individuelle Mitgliedschaft gegenüber der kollektiven an Bedeutung gewonnen. Auch und gerade die Einführung der affiliated und registered supporter-Mitgliedschaft sollte Gewerkschaftsmitglieder zur individuellen Mitgliedschaft bewegen.595 Ist eine Gewerkschaft bereits der Labour Party angeschlossen, so bleibt dem einzelnen Gewerkschaftsmitglied die sodann kostenlose Registrierung als affiliated supporter. Wenn eine Gewerkschaft nicht Kollektivmitglied der Labour Party ist, kann der einzelne Gewerkschafter als registered supporter der Partei – dann aber beitragspflichtig – beitreten. Mit der affiliated supporter-Mitgliedschaft sind die gesetzlichen Vorschriften des Trade Union Labour Relations (Consolidation) Act 1992 und des Trade Union Act 2016 durch eine zweite, eine parteisatzungsrechtliche Einoptierungspflicht ergänzt worden. Insofern wird nunmehr für die Mitwirkung von Gewerkschaftsmitgliedern an der Willensbildung in der Labour Party vom Erfordernis des „double opting-in“596 gesprochen. Außerdem sind affiliated supporter zwar auf Wahlkreisebene an die Labour Party als außerordentliche Individualmitglieder angegliedert, sind bei Personenwahlen und hierbei auch nur bei der Parteiführerwahl berechtigt, nicht jedoch zur Teilnahme an Kandidatenauswahlverfahren. Dafür bedarf es weiterhin der individuellen Vollmitgliedschaft.597 Die Auswirkungen der letzten Gesetzesänderung bleiben einstweilen abzuwarten. Im Lichte historischer Erfahrungen dürften die Befürchtungen der Labour Party und der Gewerkschaften nicht a priori als unbegründet zu verwerfen sein, zumal bei der ersten Einführung der Zustimmungslösung des contracting in mit dem Trade Disputes and Trade Union Act 1927 die Zahl derjenigen Gewerkschaftler, die den political levy zahlten, signifikant – von 75 % (1925) auf 48 % (1938) – zurückgegangen war.598 Dem stehen die jüngeren Entwicklungen im Jahr 2014/2015 gegenüber. So sind seit Einführung der neuen Mitgliedschaftsform im März 2015 bis zu den Par-
schaftsdelegierten auch den Individualmitgliedern und den Abgeordneten der PLP das gleiche Stimmrecht zukam. Vgl. Sturm, Politik in Großbritannien, S. 170 f. m. w. N.; Ewing, Cost of Democracy, S. 266. 595 Insbesondere entspricht der von der Labour Party geforderte Beitrag von Gewerkschaften pro Mitglied 3 GBP. Er war damit für den Einzelnen ebenso hoch wie die Registrierung als registered supporter. Im Jahr 2016 wurde dieser individuelle Beitrag für registered supporter auf 25 GBP angehoben. Vgl. für die affiliation costs nur Ewing, Cost of Democracy, S. 265. 596 Vgl. die Diktion der Labour Party selbst bei Labour Approves Union Membership Reforms, BBC News, 1. März 2014 (Internetquelle). Aus der Literatur hierzu Webb/Bale, No Place Else To Go, in: Haugsgjerd Allern/Bale (Hrsg.), Left-Of-Centre Parties and Trade Unions, S. 246 (252). 597 Vgl. Hain, Back to the Future of Socialism, S. 233; Bale, Five Year Mission, S. 216. Dies ist eine Lehre aus den Unregelmäßigkeiten in der Kandidatenauswahl in Falkirk im Jahr 2013. Ausführlich dazu Bale, a. a. O., S. 177, 193, 200 m. w. N. Siehe aus der juristischen Literatur Gauja, Party Reform, S. 39 m. w. N. auf App. 1 Labour Party Rule Book. 598 Vgl. nochmals zu diesen Zahlen bei Blackburn, Electoral System, S. 317.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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teiführerwahlen im Herbst 2015 insgesamt 148.000 affilliated supporter eingetreten599 und dies trotz der Hürde der doppelt erforderlichen aktiven Einoptierung. b) Korporative Mitgliedschaft in der Conservative Party Da bereits erwähnt wurde, dass die soziale und politische Bedeutung der kollektiven Mitgliedschaft in der Labour Party von anderen Parteien, die in ihren Satzungen eine solche ebenfalls kennen, unerreicht ist, wird hier kurz auf das satzungsrechtliche Konstrukt der korporativen Mitgliedschaft in der Conservative Party verwiesen. Gemäß Art. 4 Constitution und sogar entgegen eindeutiger Aussagen in der britischen Literatur600 kombiniert auch die Conservative Party ein System der individuellen und kollektiven Mitgliedschaft. So sind Members nach Art. 4 Constitution zwar zuvorderst Individuals (natürliche Personen). Daneben zählen hierzu auch Constituency Associations (Wahlkreisvereinigungen), Recognised Organisations und die Scottish Conservative and Unionist Party und ihre Mitglieder.601 Mithin zählen alle Vorgenannten zu den Members im Sinne der Satzung, wenngleich als Party Members (also Parteimitglieder i. e. S.) nur die individuellen Mitglieder in der Satzung bezeichnet werden (Art. 4.1). Die drei kollektiven Mitgliederarten müssen aus Party Members bestehen.602 599
Gauja, Party Reform, S. 33 m. w. N.; Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 9, der von ca. 147.000 spricht. Allerdings haben davon nur ca. 71.500 ihre Stimmen abgegeben, vgl. Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 8. Die Differenz ergibt sich daraus, dass die Wahlberechtigung an der Parteiführerwahl abhängig von der Eintragung in die Wählerverzeichnisse für die Wahlen zum House of Commons ist, vgl. Quinn, a. a. O., S. 9 m. w. N. Bei den Parteiführerwahlen 2016 waren es rund 100.000 abgegebene Stimmen von affiliated supporter, vgl. Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 10 m. w. N. 600 Bennie, Party Membership in Britain, in: van Haute/Gauja (Hrsg.), Party Members, S. 169 (170): „Labour is the only one of Britain’s parties to operate a system of collective membership.“ 601 Vgl. Convery, Scottish Conservative Party Leadership Election, P.A. 2014, S. 306 (310 ff.). Die schottische Gliederung der Partei hatte von 1965 bis 2011 als rechtlich eigenständige Partei existiert. Mit der Reform von 2011 wurde sie als Territorialuntergliederung in die nationale Conservative Party integriert. Sie nimmt aber eine Zwitterstellung zwischen einer reinen Untergliederung und selbständiger Partei ein (gerade im Vergleich zur walisischen Conservative Party, die bspw. nach Sch. 8 Art. 3 Constitution der Conservative Party keinen eigenen Parteiführer hat). Sie ist zwar wieder der nationalen Partei unterstellt, in welcher ihre Mitglieder aber in der nationalen Partei nur limitierte Teilhaberechte genießen, vgl. Sch. 8 Art. 1 Constitution der Conservative Party. Derweil genießt sie Satzungsautonomie hinsichtlich der Wahl des schottischen Parteiführers und ihrer Parlamentskandidaten. Dazu auch des Weiteren Convery, Devolution and the Limits of Tory Statecraft, P.A. 2014, S. 25 (34 f.); Detterbeck, Multi-Level Party Politics, S. 180, 202. 602 „[W]hose members shall only comprise Party Members“, vgl. Artt. 4.2, 4.3 Constitution der Conservative Party.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Insoweit kann tatsächlich der korporativen Mitgliedschaft in der Conservative nicht die gleiche Bedeutung zugeschrieben werden wie jener der Labour Party. Dies wird bereits von Satzungs wegen deutlich: Bei den für die innerparteiliche Organisation und Demokratie entscheidenden Fragen der Kandidaten- und Parteiführerauswahl spielen die korporativen Mitglieder keine Rolle. Denn etwa der Parteiführer kann u. U. gemäß Art. 10 Constitution direktdemokratisch „elected by the Party Members and Scottish Party Members“ gewählt werden, ohne dass es auf die Entscheidung von Delegierten der korporativen Mitglieder ankäme. Nach der Satzung der Scottish Conservative and Unionist Party603 sind deren Parteimitglieder natürliche Personen (Art. 5.1).604 Ähnlich der nationalen Partei veröffentlicht auch die schottische Partei ihre Mitgliederzahlen nicht regelmäßig.605 Ihre Mitgliederanzahl lag ausweislich eigener Angaben Ende 2010 bei ca. 10.000.606 Somit könnte – im Vergleich zu den über 3 Millionen organisierten Gewerkschaftern in der Labour Party – nicht einmal von einer zahlenmäßigen Relevanz für die indirekte Mitgliedschaft der schottischen Parteimitglieder, vermittelt über ihre Scottish Conservative and Unionist Party in der nationalen Conservative Party gesprochen werden. 4. Zwischenergebnis: sukzessive politische Entwicklung zum heute vorherrschenden Typus der Mitgliederpartei Die beiden großen Parteien haben das Prinzip der individuellen Parteimitgliedschaft zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte eingeführt. Mit Etablierung der lokalen und zugleich nationalen Mitgliedschaft in der Conservative Party laufen erst seitdem die Satzungen im Grundsatz parallel. Während bei der Labour Party ein Anpassungsdruck innerhalb des politischen Systems bald nach ihrer Gründung die individuelle Parteimitgliedschaft notwendig erschie603 Auch diese Satzung ist im Internet nicht herunterzuladen, sondern muss bei der Parteizentrale in Edinburgh angefragt werden. 604 Wortlaut der Klausel: „Membership of the Party shall be open to all individuals who subscribe annually to the funds of the Party and who declare their support for its objects. Individuals may subscribe either to a Constituency Association or to the central funds of the Party.“ 605 Kennouche, Scottish Political Party Membership, The Scotsman v. 2. Oktober 2015 (Internetquelle) konstatiert: „When asked directly, the Scottish Conservatives declined to reveal their figures.“ Dabei verweist sie auf Keen, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7: „This reluctance to publish estimates is due to the structure of the party and the process via which individuals become full members.“ So wurden Mitglieder der Conservative Party (auch in Schottland nach 1965) zuerst Mitglied der Wahlkreisvereinigung. Erst seit 1998 werden sie Mitglieder der nationalen Partei. Daher kann nicht von einer vollständigen Erfassung aller Mitgliedschaftskarteien aus den Wahlkreisvereinigungen durch die nationale Partei bzw. die schottische Partei ausgegangen werden. 606 Scottish Conservative Party (Hrsg.), Building for Scotland, S. 10. Beachte, dass aktuelle Informationen über den Mitgliederstand der Scottish Conservative Party öffentlich nicht verfügbar sind.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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nen ließ, war dies bei der Conservative Party, die sich erst 1998 formell gründete, auf den Erlass der Parteiengesetze 1998/2000 zurückzuführen, obschon diese Gesetze selbst zur Frage des Mitgliederparteiprinzips schweigen. Erneut bleibt die Freiheit der britischen Parteien bzgl. ihrer inneren Organisation festzuhalten. Diese Feststellung zeitigt eine weitere Schlussfolgerung. Nach wie vor verbietet sich eine schematisierende Herangehensweise an die Frage, wie eine britische Partei organisiert ist bzw. sein muss. Mag dies in anderen Rechtsordnungen, man denke etwa an das deutsche Vereinsrecht nach dem BGB und das Parteiengesetz, auch üblich sein, so ist dies dem britischen Recht fremd. Das staatlich gesetzte Parteien- und Vereinigungsrecht atmet auch hier förmlich den Geist des angelsächsischen politischen und wirtschaftlichen Liberalismus.607 Gemein ist allen Parteien, dass sie in Satzungsrecht und Satzungspraxis die individuellen Parteimitglieder in den innerparteilich-demokratisch maßgeblichen Bereichen einbinden: Sie nehmen an der Parteiführerwahl und – wenn auch nur zumindest beratend – an der Aufstellung und Änderung der Parteiprogrammatik teil.608 Die historisch und politisch bedeutendste Funktion der Mitglieder ist im Lichte des britischen Wahlrechts zu sehen, das seit Jahrhunderten die Wahl eines einzelnen Abgeordneten nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht beinhaltet. Dabei operieren die lokalen Parteiorganisationen weithin eigenverantwortlich in der Selektion der Parlamentskandidaten. Wie genau die Wahlverfahren strukturiert sind und welchen Einfluss die höheren Parteiebenen von Satzungs wegen nehmen, bleibt weiterführenden Untersuchungen des britischen Parteienrechts vorbehalten. Einstweilen ist festzuhalten, dass die Wahlkreisvereinigungen den Nukleus der außerparlamentarischen Parteiorganisation darstellen und die Mitgliedschaft in Recht und politischer Realität deshalb auch auf diese stets fokussiert war. Nichtsdestoweniger geschieht die Ausgestaltung des Mitgliedschaftsrechts, hier vor allem der Arten der Parteimitgliedschaft, unter dem jeweils eigenen satzungsrechtlichen Regime. Des607
Vgl. Ewing, Cost of Democracy, S. 67 ff. zur Parteienfreiheit. Dieser Aspekt bleibt zwar in der Arbeit weitgehend außer Betracht. Es sei hier nur bemerkt, dass die Parteimitglieder in der Conservative Party nur eine beratende Rolle innehaben. Die Partei ist weiterhin parteiführerzentriert, d. h. der Parteiführer kann die Programmatik de jure allein bestimmen (Artt. 11, 64 ff. Constitution). Demgegenüber sind die Parteimitglieder der Labour Party normativ in die Formulierung von Partei- und Wahlprogramm eingebunden (vgl. Ch. 1 cl. V., VI. Rule Book). Aus der juristischen Literatur statt vieler zu beiden Parteien Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 543 f. Aus der politikwissenschaftlichen Seite argumentiert Ingle, Party System, S. 64 f., 82 f. je m. w. N. zu beiden Parteien; zur Labour Party Pettitt, Intra-Party Democracy, BJPIR, S. 630 (645) m. w. N. Siehe in der Parteisatzung: Ch. 1 cl. V., VI. Rule Book mit den grundsätzlichen Regeln. Siehe auch dazu die Hinweise für eine Regelung de lege ferenda bei Ewing, Cost of Democracy, S. 247 f.: „Otherwise, political parties would be expected to have democratic procedures for policy-making and the selection of the party leader; open and inclusive procedures for the selection of parliamentary and other candidates.“ Generell zur Rolle in einer vielfach vorgeschlagenen, neuen britischen Verfassung Bogdanor/Vogenauer, Enacting a British Constitution, P.L. 2008, S. 38 (42): „[S]hould the parties be required to be democratic in their organisation […]?“ 608
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
halb ist jede Partei mit ihren Partikularitäten zu betrachten. Schließlich gilt weiterhin im britischen Parteienrecht: „There is no commonly agreed definition of ,party membership‘.“609
III. Einzelne Rechte des (potenziellen) Mitglieds Das Mitgliedschaftsverhältnis definiert sich als die Gesamtheit der gegenseitigen Rechte und Pflichten von Mitglied und Partei. Materielle und prozedurale Rechte sind hiervon umfasst. Die Bewerbung um die Mitgliedschaft ist das erste und grundlegende Recht.610 Sodann umfasst dieses Rechtsverhältnis auch Gestaltungsrechte, im Wesentlichen demokratische Teilhaberechte an der Parteiführer- oder der Kandidatenauswahl. Ergänzt werden die Rechte des Mitglieds freilich um dessen Pflichten. Diese sind bspw. finanzieller Natur und umfassen reguläre Mitgliedsbeiträge und Sonderbeiträge.611 Diese werden i. d. R. von Mandatsträgern erhoben. Ebenfalls von Bedeutung sind Loyalitätspflichten des Mitglieds gegenüber der Partei. Schließlich ist das Recht des Parteiaustritts im Mitgliedschaftsverhältnis enthalten.612 1. Beitritt a) Grundsatz der Parteienfreiheit: keine Pflicht zur Aufnahme von Mitgliedern Der Beitritt zu einer jeden unincorporated association erfolgt gemäß ihren satzungsrechtlichen Vorschriften.613 Als solche organisiert können Parteien auch die Rechte der Mitgliederschaft grundsätzlich nach ihren eigenen Vorstellungen konturieren. Sie können die Aufnahme neuer Mitglieder generell unterlassen, zumal sie als unincorporated association oder auch als private company limited by guarantee weder von der Rechtsprechung noch durch Gesetze verpflichtet sind, mehr als zwei
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S. 6.
Keen/Audickas, Membership, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper,
610 Auch hier nochmals aus dem grundlegenden Urteil Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „[B]y ,unincorporated association‘ […] Parliament meant […] an organisation […] which can be joined or left at will.“ 611 Siehe vergleichend unter Einschluss britischer und deutscher Parteien Bolleyer/Trumm/ Banducci, Organisational Perspective on Party Funding, EJPR 2013, S. 237 passim; Bolleyer/ Trumm, From Parliamentary Pay to Party Funding, EJPR 2014, S. 784 passim. 612 Zum Ganzen Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (183 f.) m. w. N. 613 Vgl. nur Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (325 ff.).
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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respektive ein Mitglied(er) zu haben.614 Dies wiederum hat Einfluss auf die Anwendbarkeit der Antidiskriminierungsgesetze, wie noch zu zeigen sein wird. Eine Beschränkung erfährt der Grundsatz der Parteienfreiheit (insbesondere für unincorporated associations) allerdings seit den 1970er Jahren. Seither wurden gesetzliche Regelungen im Antidiskriminierungsrecht erlassen. Inzwischen werden zudem richterrechtlich entwickelte Prinzipien wie die natural justice auf innerparteiliche Entscheidungen angewendet. b) Einschränkung der Parteienfreiheit durch die Antidiskriminierungsgesetze Der britische Gesetzgeber begann in den 1960er Jahren, sich Diskriminierungen durch staatliche und gesellschaftliche Akteure zu widmen. Hierzu wurden etwa der bereits erwähnten Sex Discrimination Act 1975 und der Race Relation Act 1976 erlassen. Beide Gesetze waren auch auf die Parteien anwendbar, wobei der Sex Discrimination Act 1975 zu einem viel beachteten Urteil615 im Parteienrecht führte. Dieses war mit der Frage verbunden, ob die Labour Party sog. all-women shortlists, also rein weibliche Kandidatenlisten für die Parlamentswahlen, auf denen die Wahlkreisvereinigungen in Aufstellung eines neuen Parlamentskandidaten zuzugreifen hatten, aufstellen und für die Wahlkreisvereinigungen verbindlich machen durfte.616 Geschlechterspezifische Antidiskriminierungsmaßnahmen spielten demnach (bislang) eher eine Rolle in der parteiinternen Besetzung von Kandidatenposten für staatliche Ämter. An anderer Stelle wurden dagegen Vorschriften der früheren Race Relations Acts, mithin jene Vorschriften, die sich gegen ungerechtfertigte Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit und Herkunft richteten, relevant. Hierbei wurden mehrere Fälle diskriminierenden Verhaltens von politischen Parteien in der Zulassung von Mitgliedern vor die Gerichte und Behörden gebracht. aa) Equality Act 2010 als zentrales Antidiskriminierungsgesetz (1) Regelungsinhalt des Gesetzes und gerichtliche Durchsetzung Bis zum Jahr 2010 war der Schutz vor diskriminierendem Verhalten durch öffentliche und private Akteure in diversen einzelnen Gesetzen geregelt. Der Grund dafür ist erneut, dass sich das britische Antidiskriminierungsrecht – im Lichte des bisher dargestellten britischen Rechtsverständnisses nicht verwunderlich – evolu614 Zur Partei als private company limited by guarantee unter dem Companies Act 2006 bereits oben. Zur unincorporated association mit mindestens zwei Mitgliedern siehe Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ. Zur Organisationsfreiheit der Parteien mit Blick auf die Mitglieder vgl. Morris, Parliamentary Elections S. 128 m. w. N. 615 Jepson v Labour Party [1996] I.R.L.R. 116. 616 Hierzu ausführlich Davis, All-Women Shortlists, P.L. 1995, S. 207 (207 f.); Ewing, Transparency, P.L. 2001, S. 542 (545); Blackburn, Electoral System, S. 202 ff.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
tionär entwickelte. Diese bislang versatzstückartig über neun Gesetze und über einhundert untergesetzliche Normen verteilten Regelungen sind mit dem Gesetz von 2010 in ein einzelnes überführt worden.617 Der Equality Act 2010 war eines der letzten großen Vorhaben der von 1997 bis 2010 amtierenden Labour-Regierung und war eingebettet in die zweite Hälfte der Verfassungsreform ab 2005.618 Dieses Gesetz ist dabei mehr als nur eine Kompilation der vormals existierenden Regelungen. Mit dem Equality Act 2010 wurde vieles stringenter und vereinfacht. So wurde der neue, zentrale Rechtsbegriff der protected characteristics (vgl. s. 4 des Gesetzes) im Lichte europarechtlicher Vorgaben eingeführt.619 Dieser Begriff umfasst die in der heutigen Zeit wohl relevantesten Diskriminierungsmerkmale, die enumerativ aufgezählt sind. Es handelt sich um klassische Merkmale wie age (Alter), disability (Behinderungen), marriage and civil partnership (Familie/Familienstand), pregnancy and maternity (Schwanger- und Mutterschaft), race (Rasse und Herkunft), religion or belief (Religionszugehörigkeit und Weltanschauung), sex (Geschlecht). Doch finden sich auch recht moderne mögliche Anknüpfungspunkte von diskriminierenden Handlungen mit gender reassignment (Geschlechtsumwandlung) oder der sexual orientation (sexuelle Ausrichtung).620 Rechtswidrig sind nunmehr grundsätzlich alle Maßnahmen, die eine direct discrimination nach s. 13 oder eine indirect discrimination nach s. 19 Equality Act 2010 darstellen. (a) Direct discriminations: ausnahmsweise Rechtfertigung möglich für altersmäßige Beschränkungen und positive Diskriminierungsmaßnahmen Als direct discrimination definiert Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010 „different treatment of two individuals, where the reason for the difference in treatment is a protected characteristic.“621 In s. 13(1) wird eine solche Diskriminierung weniger abstrakt definiert als der Sachverhalt, in dem „[a] person (A) discriminates against another (B) if, because of a protected characteristic, A treats B less favourably than A treats or would treat others“. Aufgrund der Komplexität von diskriminierenden Handlungen in der Praxis und des normalerweise niedrigen Ab-
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Siehe prägnante Überblicke bei Davis, Human Rights Law, S. 152; Hand, Outside the Equality Act, IJDL 2015, S. 205 (206): „[N]ine major pieces of discrimination legislation, around 100 statutory instruments setting out connected rules and regulations and more than 2,500 pages of guidance and statutory codes of practice“, mit Verweis auf eine Veröffentlichung der damaligen Regierung. Zur gesamten Historie des Antidiskriminierungsrechts inklusive des Equality Act 2010 siehe Allen, Introduction, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 1 ff. 618 Hand/Davis/Barker, British Equality Act 2010, CLB 2015, S. 3 (3). 619 Davies, Recent Developments in Labour Law, EuZA 2012, S. 280 (282). 620 Siehe zu allen geschützten Merkmalen s. 4 und ff. Equality Act 2010. 621 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.03.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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straktionsgrades britischer Gesetze sind die Explanatory Notes zu diesem Gesetz besonders ausführlich und stellen eine praktische Auslegungshilfe dar.622 Bei der Überprüfung des Vorliegens einer behaupteten direkten Diskriminierung gehen die Gerichte wie folgt vor: Es werden die Tatbestandsmerkmale einer unterschiedlichen Behandlung mit einem vergleichbaren Fall (bei letzterem wird die andere Person in der Literatur oftmals als comparator623 bezeichnet) geprüft. Für die Bejahung einer unzulässigen Diskriminierung muss diese unterschiedliche Behandlung less favourable (weniger günstig) sein und muss auf einem reason (Grund) beruhen, der eine der protected characteristics ist. Zwischen Behandlung und geschütztem Merkmal wird überdies eine kausale Verknüpfung gefordert, die durch den because of-Test (vgl. Wortlaut der s. 13) überprüft wird.624 Eine Rechtfertigung für die direkte Diskriminierung – anders als bei der indirekten, s. u. – ist nicht möglich, außer in den vom Gesetz festgelegten Fällen.625 Für die vorliegende Arbeit relevant ist erstens, wenn es um das Alter als protected characteristic geht und hierbei Restriktionen anhand von objektiv nachprüfbaren Kriterien als nötig erachtet werden.626 Hierzu kommen altersmäßige Beschränkungen der Mitgliedschaft in Vereinigungen in Betracht. Zweitens sind die Fälle zu betrachten, in denen die direkte Diskriminierung in einer positive action, also einer positiven Diskriminierung anderer (vgl. ss. 158, 159, 104 Equality Act 2010), begründet ist und hierfür objektive Rechtfertigungsgründe vorliegen. Positive Diskriminierung wirkt sich bspw. in der Auswahl von weiblichen Kandidaten für Parlamentswahlen durch all-women shortlists aus. Die direct discrimination stellt damit die klassische Erscheinungsform einer Diskriminierung dar, da sie an eine Handlung anknüpft, die direkt und subjektiv gegenüber dem Einzelnen wirkt. Die Normen ss. 13 ff. Equality Act 2010 zielen daher auf eine „formal equality of treatment“627 ab.
622 Mehr als 1000 notes (Erläuterungen) bei 218 sections. Im Vergleich fallen die 335 notes bei 163 sections des PPERA 2000 gering aus. 623 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010 para. 3.03 ff. m. w. N. Der comparator muss keine tatsächliche Person sein, sondern kann auch nur hypothetisch angenommen werden. Der Begriff ist dem der comparison of cases nach s. 23 Equality Act 2010 entlehnt. 624 Vgl. für die Zeit vor dem Equality Act 201 die Entscheidung Nagarajan v London Regional Transport [2000] 1 AC 501. Die Übernahme des Tests war vom Gesetzgeber bereits intendiert, siehe HC Deb 16 June 2009 vol. 494 cc. 240 – 244. 625 Ausführlich bei Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.15 ff. 626 Siehe s. 13(2) Equality Act 2010. Für die objektiven Rechtfertigungskriterien siehe Seldon v Clarkson Wright & Jakes [2012] UKSC 16; Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, paras. 3.16, 3.50 f. m. w. N. auf die Rechtsprechung des EuGHs und des Supreme Court. 627 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.40.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
(b) Indirect discriminations: Rechtfertigung grundsätzlich möglich Währenddessen ist s. 19 Equality Act 2010, welche die indirect discrimination beinhaltet, „aimed at bringing about a more substantive result––equality of outcome“628 Die s. 19(1) Equality Act 2010 ist dahingehend zu verstehen, dass eine indirect discrimination „is […] where a provision, criterion, or practice places people with a protected characteristic at a particular disadvantage“629. Es geht hierbei um die Diskriminierung durch einen Rechtssatz, nicht durch eine Handlung im Einzelfall. Dabei überlässt der Gesetzgeber die Definition der Rechtsbegriffe der provisions, criterions und practices der Rechtsprechung. Nach dem House of Lords (Walker LJ) sind die Begriffe, die im Antidiskriminierungsrecht vor 2010 bereits Verwendung fanden, weit und damit zugunsten des Diskriminierungsopfers auszulegen. Oftmals wird in casu nicht genau zu subsumieren sein, mit Hilfe welcher der genannten Maßnahmentypen die indirekte Diskriminierung erfolgt ist.630 Jedenfalls geht es, so die Rechtsprechung vor 2010 bereits, bei all den genannten Maßnahmen um „policies, procedures, rules arrangements, requirements, and prerequisites, whether formal or informal, general or particular, mandatory or discretionary“631. Auch hier bildet das erkennende Gericht eine Vergleichsgruppe zwischen einer Gruppe mit dem und ohne das in Frage stehende vom Equality Act 2010 geschützte Charakteristikum. Der Unterschied zur direkten Diskriminierung ist, dass hier „both [,] the advantaged and disadvantaged groups can be hypothetical.“632 Es bedarf mithin einer (ggf. hypothetischen) subjektiven Betroffenheit des Klägers.633 Zwischen der Benachteiligung und dem geschützten Merkmal muss ein causal link (kausale Verknüpfung) bestehen. Die Beweislast trägt der Kläger, der den Beweis hierfür etwa durch Verweis auf eine statistisch festgestellte Ungleichheit führen kann, wie der Court of Appeal in zwei jüngeren Urteilen festhielt.634 Der 628 R. (E) (Respondent) v Governing Body of JFS and the Amission Appeal Panel of JFS (Appellants) and Others [2009] UKSC 15 (para. 56) – Hale LJ. 629 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.41. Ähnlich Hand, Outside the Equality Act, IJDL 2015, S. 205 (207): „Then and now, indirect discrimination is where there is a provision, criterion or practice applied both to people who have and those who do not have that protected characteristic but which causes a particular disadvantage to people with that characteristic (including the claimant), unless the defendant can show that provision etc. to be a proportionate means of achieving a legitimate aim.“ 630 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010 para. 3.43. 631 British Airways Plc v Starmer [2005] I.R.L.R. 862; Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.43. 632 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.46. 633 Hand, Outside the Equality Act, IJDL 2015, S. 205 (207). 634 Essop v Home Office (UK Border Agency) [2015] EWCA Civ 609 und Naeem v Secretary of State for Justice [2015] EWCA Civ 1264.
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Beklagte hat allerdings hier Möglichkeit, die indirekte Diskriminierung zu rechtfertigen. Indes hielt der Supreme Court635 in Übereinstimmung mit dem EuGH fest, dass rein kostenmäßige Erwägungen keine indirekt diskriminierende provision, criterion oder practice zu rechtfertigen vermögen. Es kommt vielmehr der Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Anwendung. Fraglich ist demnach, ob die entsprechende Maßnahme „appropriate and necessary“636 war. (c) Prozessuale Geltendmachung von Diskriminierungen durch Vereinigungen Die sachliche Zuständigkeit für Klagen gegen solche Diskriminierungen findet sich in den ss. 114 ff. Equality Act 2010. Für Verfahren gegen diskriminierende Handlungen durch associations, worunter auch Parteien fallen, ist der jeweilige county court (oder in Schottland der sheriff) zuständig. Auch unter dem PPERA 2000 registrierte Parteien werden den zivilrechtlichen associations gemäß ss. 107(1), (2), (7) Equality Act 2010 zugeordnet. Damit sind die Parteien gerade keine public authorities wie sie ebenso vom Equality Act 2010 definiert werden. Mithin wirkt sich der Streit ob der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Natur des Handelns von Parteien im Verhältnis zu ihren Mitgliedern, der in Bezug auf den Human Rights Act 1998 geführt wurde, hier nicht aus.637 Im zivilprozessualen638 Verfahren können die Gerichte dem klägerischen Begehren mit jeder remedy Abhilfe verschaffen, die dem High Court in tort (unerlaubten Handlungen) oder judicial review-Verfahren zur Verfügung stehen. Dies sind compensation (Schadensersatz) inklusive injury to feelings (Schmerzensgeld bzw. immaterielle Schäden), injunctions oder declarations.639 Möglich ist auch der Erlass von interim injunctions.640 Die Beweislast liegt zunächst beim Kläger. Vermag er mit seinen Darlegungen das Vorliegen einer rechtswidrigen Diskriminierung durch den Beklagten glaubhaft zu machen, so wechselt die Beweisführungslast auf den Be635
Ministry of Justice v O’Brien [2013] UKSC 6. Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 3.50 ff. Dies stammt aus dem Europarecht, Art. 2(2)(b)(i) Framework Directive, vgl. Chief Constable of West Yorkshire Police v Homer [2012] UKSC 15 (para. 25) – Hale LJ. 637 Klarstellend insofern auch die Equality and Human Rights Commission (Hrsg.), Your Rights to Equality from Parliaments, Politicians and Political Parties, S. 11: „Some public sector organisations must also comply with what are known as specific equality duties. […]. Political parties […] are not treated as public authorities by the Equality Act. This means that they are not required to comply with the public sector equality duty when carrying out their functions.“ (Herv. d. Verf.). 638 Zudem kann in einer Diskriminierung auch strafrechtliches Unrecht liegen, vgl. s. 112 Equality Act 2010, der es als criminal offence strafbewehrt, wenn eine Person knowingly (wissentlich) einen anderen bei einer verbotenen Diskriminierung unterstützt. Vgl. hierzu auch Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, paras. 10.47 ff. 639 Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, paras. 10.14 ff. 640 Siehe hier s. 114(6)(a) Equality Act 2010. 636
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klagten.641 Die Klagefrist beträgt im Grundsatz nach s. 118(1)(a) Equality Act 2010 sechs Monate und beginnt mit dem Zeitpunkt der diskriminierenden Handlung, sie kann sich allerdings unter bestimmten Umständen verlängern.642 (d) Stellung der Equality and Human Rights Commission in Bezug auf Parteien Die herausgehobene Position der Equality and Human Rights Commission in der rechtspolitischen Weiterentwicklung und der gerichtlichen Durchsetzung der Menschenrechte wurde bereits in dieser Arbeit erläutert. Die mit dem Equality Act 2006 eingeführte Kommission hat gleichsam in Bezug auf das Antidiskriminierungsrecht nach dem heutigen Equality Act 2010 besondere Kompetenzen. So kann die Equality and Human Rights Commission unabhängig von einer subjektiven Rechtsverletzung – bereits nach s. 24 Equality Act 2006 – judicial review-Verfahren im eigenen Namen gegen eine ergangene diskriminierende Handlung repressiv erheben.643 Außerdem kann die Kommission präventiv gegen unrechtmäßige indirekte Diskriminierungen vorgehen, wenn sie „thinks that a person is likely to commit an unlawful act“644. Die Equality and Human Rights Commission ist im Wege dieser zuletzt genannten Kompetenz gegen die Satzung der BNP vorgegangen, da sie überzeugt war, dass die Partei aufgrund ihrer satzungsmäßigen Bestimmungen bei der Mitgliedschaft nach rassistischen Kriterien rechtswidrig diskriminierte.645 bb) Anwendbarkeit des Equality Act 2010 auf die Parteien (1) Vereinigungen mit mehr als 25 Mitgliedern In den Anwendungsbereich des Gesetzes sind auch die politischen Parteien als associations einbezogen, und zwar nach s. 100 ff., 104(1) Equality Act 2010).646 Voraussetzung für die Verpflichtung von Vereinigungen auf das Antidiskriminierungsgebot ist vorbehaltlich besonderer Regelungen (wie für z. B. Gewerkschaften 641 Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 10.54. 642 Siehe s. 118 Equality Act 2010 und aus der Literatur hierzu Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 10.08. 643 So etwa R. (EHRC) v Secretary of State for Justice and Another [2010] EWHC 147 (Admin). Vgl. Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 10.73; Amos, Human Rights Law, para. 2.1. 644 Wortlaut der s. 24(1) Equality Act 2006. 645 Dazu sogleich ausführlich. Hier bereits statt vieler Craig, Enforcement, in: Wadham/ Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 10.74. 646 Equality and Human Rights Commission (Hrsg.), Statutory Code of Practice, para. 1.9: „Membership associations are also covered in this Code as these organisations generally provide services or other benefits to their members, associates or guests. The provisions relating to associations are found in Part 7 of the Act. Under the Act, associations include those bodies which have membership criteria such as private clubs and political parties. Only associations with at least 25 members have obligations under this part of the Act.“
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erlassen) gemäß s. 107(2)(a) Equality Act 2010, dass sie mehr als 25 Mitglieder haben. Um der organisatorischen Freiheit von Vereinigungen, insbesondere der unincorporated associations, nachzukommen,647 ist der Rechtsbegriff der association wie auch jener der Mitgliedschaft weit gefasst.648 Ist diese vorgenannte Mindestanzahl erreicht bzw. überschritten, so gilt das Diskriminierungsverbot nicht nur in der Zulassung zur Mitgliedschaft, sondern in sämtlichen Interaktionen zwischen der Vereinigung und dem Mitglied. Demnach kann auch der organisatorische Aufbau, hier das Innenleben einer Partei, durch das Diskriminierungsverbot massiv beeinflusst werden. Denn ein jedes Mitglied hat nach s. 101(2)(a) Equality Act 2010 ein Recht darauf, jeden „benefit, facility or service“ einer Vereinigung zu nutzen. So wäre das Abhalten einer Vorstandssitzung in einer Örtlichkeit, die für behinderte649 Vorstandsmitglieder nicht zugänglich ist (ist u. U. satzungskonform), verstieße aber möglicherweise gegen den Equality Act 2010.650 Dort gefasste Beschlüsse könnten von einem Gericht für ungültig erklärt werden. Eine Partei, die als unincorporated association verfasst ist, braucht allerdings nicht mehr als zwei Mitglieder aufzunehmen. Selbst wenn das Ziel der Mitgliedergewinnung in ihrer Satzung festgelegt ist, könnte sie diese jederzeit ändern, ohne gegen Richter- oder Gesetzesrecht zu verstoßen.651 Dennoch unterliegen die großen Parteien dem Anwendungsbereich des Equality Act 2010 und dürften dies auch künftig weiterhin: Nochmals ist hervorzuheben, dass eine Partei weder vereinigungsbzw. gesellschaftsrechtlich durch Richterrecht oder den Companies Act 2006 noch wahlrechtlich durch das Parteiengesetz von 2000 gezwungen ist, mehr als zwei bzw. eine652 Person als Mitglieder aufzunehmen. Unterdessen stellen sich die Parteien ipso jure und in der politischen Realität als auf die innerparteiliche Demokratie verpflichtet dar. Die großen britischen Parteien 647 In dieser Weise ist die Regelung der s. 107(4)(a) Equality Act 2010 zu verstehen: „It does not matter whether an association is incorporated.“ 648 Siehe Explanatory Notes No. 345: „[The Equality Act 2010] defines an association as a body with 25 or more members where access to membership is controlled by rules and involves a genuine selection process based on personal criteria.“ Siehe zudem den Gesetzeswortlaut von s. 107(5): „Membership is membership of any description; and a reference to a member is to be construed accordingly.“ 649 Mit einer anerkannten Behinderung nach s. 6 Equality Act 2010. Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.99 f. Konkret auf die Wirksamkeit parteiinterner Entscheidungen bei Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot wegen Behinderungen bezogen siehe Equality and Human Rights Commission (Hrsg.), Your Rights to Equality from Parliaments, Politicians and Political Parties, S. 12 ff. 650 Mit der generellen Erwägung, dass Vereinigungen behutsam und vorsichtig mit den „particular needs or requirements that its members might have“ umgehen sollten, Mullen/ Lewison, Companies Limited by Guarantee, para. 6.4.1. 651 Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (346), wonach es den Parteien jederzeit freisteht Rechtsform und Mitgliederstruktur zu ändern. 652 Nach dem Companies Act 2006.
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sind verfasst und agieren als demokratische Mitgliederparteien. Denn seitdem sich das omnipotente Parlament und mit ihm der gesamte Staat auf den Weg zur Volldemokratie (Loewenstein) im 19. Jahrhundert gemacht haben, sind auch die Parteien zu Massenmitgliederorganisationen avanciert. Die heutigen Parteisatzungen spiegeln diese normative Kraft des Faktischen wider, wenn auch das Gesetzes- und Richterrecht eine Verpflichtung auf ebendieses Ideal der Mitgliederpartei im Vereinigten Königreich bis heute vermissen lassen.653 Rechtlich bleibt es bei den vorgenannten Feststellungen. Parteien können etwa Aufnahmestopps für die formelle Vollmitgliedschaft verhängen, woran sie auch der Equality Act 2010 nicht hindert. Dabei könnten sie, um unter den 25 Mitgliedern zu bleiben und um nicht dem Regelungsregime des Antidiskriminierungsgesetzes unterworfen zu sein, diese Maßnahmen an zeitlichen Grenzen oder Höchstmitgliederanzahlen orientieren.654 Mithin liegt es streng formaljuristisch betrachtet in der Freiheit der Parteien, ob sie sich den Regelungen der Antidiskriminierung gegenüber ihren Mitgliedern für Fragen des Beitritts und folglich auch der Beteiligungs-rechte derselben aussetzen wollen. Aufgrund der politischen Realitäten sowie des Bedürfnisses nach Mitgliedern für eine im gesamten Land operierende und nach Wahlerfolg strebende Partei dürfte dieses Vorgehen aber nur theoretischer Natur sein. Faktisch hängt ihr politisches Schicksal an einer großen Mitgliederschaft. Als eine Möglichkeit zur Auflösung des Spannungsfeldes655 zwischen einer politisch erstrebenswerten großen Mitgliedschaft und der rechtlich nicht gewollten Anwendung des Antidiskriminierungsrechts656 könnte eine britische Partei zunächst versuchen, die Einbindung und Bindung von Bürgern durch Beteiligungsmodi zu erreichen, die nicht der klassischen Parteimitgliedschaft entsprechen. Eine Möglichkeit könnten etwa Primaries von Kandidaten sein, die Wahl von Parteiführern durch registered supporter oder die nur mittelbare Mitgliedschaft von Millionen von Gewerkschaftsmitgliedern. Zuallererst wäre das politische Ziel der Massenmobilisierung erreicht. 653
Vgl. nur Art. 3 Constitution der Conservative Party. Siehe zu den maximalen Mitgliederobergrenzen Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.114. In der Rechtsprechung sind solche Grenzen auch anerkannt. Vgl. Bradford Library and Literary Society v Churchwardens of Bradford [1858] 1 E&E 88 (CA), wo 600 Mitglieder die Grenze darstellten. 655 Siehe Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (336): „As political factions grew in size and organization, however, unincorporated status proved suitably flexible. Take that most fundamental of questions: the admission of new people to membership. For the smallest of elite or cadre parties, the party’s rule could be that an existing member had to nominate the newcomer and the group as a whole could decide to let the newcomer on board. For a larger, membership-oriented party, the rule could delegate decisions on accepting members to a subcommittee. The reverse is also true: existing members may drop out or, more significantly, be expelled, with relatively little fuss.“ 656 Zumindest wandte die UKIP in diesem Verfahren gegen das entsprechende Vorbringen des klagenden Mitglieds gegen seinen Ausschluss ein, dass diese Disziplinarmaßnahme ihn nicht in seinen Rechten aus dem Human Rights Act 1998 verletzte, vgl. UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (paras. 13, 58 f.) – Potter LJ. 654
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Der Klärung bedarf indessen, ob auf diesem Wege auch das juristische Ziel der Nichtanwendbarkeit des Equality Act 2010 erreicht werden kann. Prima facie wäre eine Partei, die konstant bei unter 25 Mitgliedern bleibt, von den Pflichten nach dem Equality Act 2010 ausgenommen. Jedoch steht die Anwendbarkeit des Equality Act 2010 tatsächlich nicht in der Dispositionsbefugnis der Parteien. Der Gesetzgeber hat die Zuerkennung des Antidiskriminierungsschutzes von Mitgliedern gerade nicht an die formelle, die volle und individuelle Parteimitgliedschaft angeknüpft und sie konstitutiv hierfür gemacht. Vielmehr fällt jede Form der außerordentlichen Mitgliedschaft, sei es von Minderjährigen, von Gewerkschaftsmitgliedern oder registered supporters (wie beides in der Labour Party), unter die s. 107 Equality Act 2010. Nach s. 107(5) ist jede „membership of any description“ hiervon erfasst. In den Explanatory Notes in No. 346 heißt es weiter, dass auch „people who have any kind of membership of a particular association are protected by this Part“. Darunter fallen auch indirekte Parteimitglieder wie die Gewerkschaftsmitglieder in der Labour Party, „who are not members of an association but have many of the rights of members as a consequence of being a member of another association.“657 Zusätzlich listen die Explanatory Notes in No. 348 mit der „full membership, associate membership, temporary membership and day membership“ einige Mitgliedschaftsformen beispielhaft auf. Da diese Liste nicht enumerativ ist, dürfte auch die registered supporter-Stellung vom Anwendungsbereich der Norm erfasst sein.658 (2) Nur für wahlrechtlich registrierte Parteien Mit Sch. 16 para. 1 lässt der Gesetzgeber Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot aus s. 101(1) Equality Act 2010 für Vereinigungen zu. Unter diese fallen aber nur bestimmte Vereinigungsarten wie z. B. Gewerkschaften, charities oder Behindertenverbände.659 Damit kann eine Vereinigung „membership to persons who share a protected characteristic“660 beschränken. Als Rückausnahme sind jedoch nach Sch. 16 para. 5 registered political parties von der Privilegierung ausgenommen.661 Politische Parteien, die der Pflicht zur Nichtdiskriminierung unterliegen, sind nach Maßgabe der s. 107(7) Equality Act 2010 jene, die unter dem PPERA 2000 registriert 657
Explanatory Notes in No. 346. Die Differenzierung der unterschiedlichen Mitgliedschaftsarten unter den Voraussetzungen des Diskriminierungsverbotes nach dem Equality Act 2010 ist auch enthalten in Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.123 – 2.136 m. w. N. 659 Vgl. nur Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 71. 660 Wortlaut der vorgenannten Norm. 661 Equality and Human Rights Commission (Hrsg.), Freedom of Expression, S. 22: „Political parties, as associations and employers, have duties under the Equality Act 2010 not to discriminate against their members or prospective members and employees.“ Siehe ebenso bei Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 70: „There are also special options for associations with fewer than 25 members that are not trade organisations, such as trade unions or employers’ associations, or professional bodies, and for associations, other than political parties, which restrict membership to persons who share a protected characteristic.“ 658
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sind.662 Eine erneute Ausnahme von der Rückausnahme wiederum macht s. 104 Equality Act 2010: So ist den registrierten Parteien das Recht zur positiven Diskriminierung bei der Aufstellung von Kandidaten in dem Gesetz verbürgt, wenn „the purpose of which is to reduce inequality in the party’s representation in the body concerned.“663 (3) Parteien und das Recht auf „Tendenzreinheit“ In einer pluralen Demokratie konkurrieren zahlreiche Parteien miteinander als größere oder kleinere Partikularinteressensvertreter. Daher ist es Aufgabe des Parteienrechts als Wettbewerbsrecht, den Parteien den erforderlichen Raum zu ihrer freien Entfaltung zu geben. Ein wesentlicher Aspekt ist das auch im europäischen und internationalen Recht verbriefte Recht auf Tendenzreinheit664. Demnach hat auch jede Partei das Recht, ihre gesamte interne Struktur auf ihre politisch-programmatischen Ziele auszurichten. Hierbei kommt jedem einzelnen Mitglied und der Mitgliedergesamtheit das Recht zu, sich nur mit Gleichgesinnten zusammentun zu müssen, mit denen man ähnliche politische Überzeugungen teilt.665 Auch dieser Anspruch ergibt sich für die Partei und ihre einzelnen Mitglieder aus Art. 11 EMRK, der über den Human Rights Act 1998 im britischen Recht inkorporiert ist.666 Lightman J hielt für den High Court in dem Fall der RSPCA v Attorney-General667, bei dem eine Lobbyismusvereinigung die Mitgliedschaft nach Tendenzreinheitserwägungen beschränkte, fest: „What really is in question in this case is not the freedom of speech or thought of members or applicants for membership, but the freedom of association, under Article 11 of the European 662 Wortlaut der Norm: „A reference to a registered political party is a reference to a party registered in the Great Britain register under Part 2 of the PPERA 2000.“ 663 Wortlaut s. 104(3)(b) Equality Act 2010. 664 Es handelt sich hierbei um einen aus dem deutschen Parteienrecht stammenden Begriff, der aber mangels passender englischer Terminologie für das gleiche Rechtsprinzip verwendet wird. Vgl. nur Morlok, Tendenzreine Willensbildung, NJW 1991, S. 1162 passim. 665 So ausdrücklich auch Hendy/Ewing, Trade Unions, Human Rights and the BNP, ILJ 2005, S. 197 (207): „[T]he vital consideration is that the members of an association should be free to choose their members on whatever criteria suits them.“ 666 Siehe auch die EGMR-Entscheidung ASLEF v UK [2007] ECHR 184 (para. 39): „Article 11 cannot be interpreted as imposing an obligation on associations or organisations to admit whosoever wishes to join. Where associations are formed by people, who, espousing particular values or ideals, intend to pursue common goals, it would run counter to the very effectiveness of the freedom at stake if they had no control over their membership.“ 667 [2001] 3 All ER 530. In dem Fall wurde vom High Court entschieden, dass die Tierschutzorganisation RSPCA keine Befürworter der Fuchsjagd als Bestandsmitglieder dulden bzw. keine entsprechend eingestellten Neumitglieder aufnehmen muss. Dagegen gerichtete disziplinarische Maßnahmen der Vereinigung waren bona fide und im Sinne des Vereinigungszwecks ausgeübt worden. Die RSPCA ist nämlich keine public authority unter dem Human Rights Act 1998. Aus der Literatur hierzu Amos, Human Rights Law, para. 5.3.5.; Mullen/Lewison, Companies Limited by Guarantee, S. 70 ff.; Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.30, 2.91 ff.
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Convention on Human Rights, of the Society itself: that freedom embraces the freedom to exclude from association those whose membership it honestly believes to be damaging to the interests of the Society itself.“668
Dies gilt mutatis mutandis für politische Parteien. Traditionell verfügen bspw. die Labour Party und die Conservative Party über Klauseln in ihren Satzungen, welche u. a. die Unvereinbarkeit von Doppelmitgliedschaften in anderen (registrierten) Parteien oder in mit der eigenen Parteiidentität unvereinbaren pressure groups beinhalten.669 Im Vereinigten Königreich hat sich bislang keine Kasuistik zur Frage der Vereinbarkeit entsprechender vor dem Beitritt anwendbarer Ausschlusskriterien für die Parteimitgliedschaft mit dem Common Law und der Antidiskriminierungs- oder Menschenrechtsgesetzgebung herausgebildet.670 Diese Feststellung gilt zumindest, als Gerichte zurückgewiesene Mitgliedschaftsanträge nicht in Bezug auf die Parteimitgliedschaft als politisches Grundrecht beurteilt haben.671 Soweit ersichtlich, hatte einzig das Employment Appeal Tribunal zur Freiheit der Parteien als Arbeitgeber zu urteilen. In der Entscheidung McAlister v The Labour Party stärkte es die Position der Parteien. Es gestattete, die Parteimitgliedschaft zur konstitutiven Voraussetzung für eine berufliche Anstellung im Kernbereich des parteilichen Wirkens, in casu als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Labour Party, zu machen. Das Berufungsgericht ließ in dieser Entscheidung allerdings offen, ob es bereits durch diese satzungsrechtliche Bestimmung an einem Verstoß gegen die damalige s. 1(1)(b)(i) Race Relations Act 1976672 mangelt oder ob der Verstoß erst nach s. 1(1)(b)(ii) Race Relations Act 1976 gerechtfertigt war.673 Derweil bezog die 668 [2001] 3 All ER 530 (547) – Lightman J, Herv. d. Verf. Aus der umfassenden Literatur in Bezug auf charities siehe Warburton, Charity Members, CPL 2006, S. 330 (330 f.). 669 Art. 3 Constitution der Conservative Party: „Membership of the Conservative Party is not compatible with Membership of or association with any other registered political party.“ Zum Beitritt von Mitgliedsaspiranten: Ch. 2 cl. I. 3. C. Rule Book der Labour Party: „[A]re not members of political parties or organisations ancillary or subsidiary thereto declared by party conference or by the NEC in pursuance of party conference decisions to be ineligible for affiliation to the party.“ Zum Ausschluss von Mitgliedern Ch. 2 cl. I. 4. B.: „A member of the party who joins and/or supports a political organisation other than an official Labour group or other unit of the party.“ 670 Vgl. aber die Kasuistik des EGMR. Siehe nochmals in der Sache ASLEF v UK [2007] ECHR 184 (para. 39) das obiter dictum zu den Parteien: „By way of example, it is uncontroversial that […] political parties can generally regulate their membership to include only those who share their beliefs and ideals.“ Vgl. Morris, Parliamentary Elections, S. 128. 671 Derweil ist die Rechtmäßigkeit satzungsrechtlicher Vorschriften und darauf basierender Einzelfallentscheidungen zum Ausschluss von Mitgliedern zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und der Tendenzreinheit gerichtlich bereits entschieden worden. Diese Fälle betrafen die Militant Tendency der Labour Party in den 1980er Jahren. 672 Wortlaut der Norm: „[W]hich he cannot she to be justifiable irrespective of the colour, race, nationality or ethnic or national origins of the person to whom it is applied.“ 673 Im Ergebnis gilt in jedem Falle: „[It] was not discriminatory under section 1 I b I of the Race Relations Act 1976 and under section 1 I b ii to demand that research assistants to a
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Literatur bereits ausdrücklich Stellung zu der Thematik um die Tendenzreinheit von Parteien in ihrer eigentlichen politischen Funktion. Ewing und der britische Arbeitsrechtler John Hendy halten es für „absurd if a political party could not refuse admission to a person […] who was disclosed to be a member of an opposing or a different political party.“674 Außerdem entnehmen Teile der Literatur675 einer jüngeren Entscheidung eines Employment Tribunals676 zumindest die Möglichkeit, dass auch parteipolitische Dogmen (und ggf. gar die Mitgliedschaft in Parteien) eine geschützte Weltanschauung, einen philosophical belief nach s. 4 Equality Act 2010 darstellen könnten. Generelle Voraussetzung für die gerichtliche Anerkennung einer Überzeugung unter s. 4 ist das Erfüllen der kumulativen Kriterien des vom Gericht durchzuführenden philosophical belief-Tests.677 In der Entscheidung des Employment Tribunals wurden als von s. 4 Equality Act 2010 geschützte Merkmale vom Gericht der „strong support for, and an interest in, the history of moral tenets of the Labour Party and belief in democratic socialism amounted to more than just an opinion“678 akzeptiert. Bezogen auf die vorliegende Arbeit und die oben gestellte Frage könnte eine Partei ihre eigene ideelle Ausrichtung auf Rechtfertigungsebene einer Diskriminierung durch die Ablehnung eines Mitgliedschaftsantrages gegen einen sich nicht ausreichend mit den Idealen der Partei identifizierenden Bewerber entgegenhalten. In der Sache McAlister v The Labour Party ließ nämlich das Employment Appeal Tribunal offen, ob die Ablehnung eines Mitglieds überhaupt eine (dort allerdings auf das geschützte Merkmal der Herkunft) Diskriminierung darstellt. Das Gericht klärte den Fall auf der Rechtfertigungs-, nicht bereits der Tatbestandsebene. Nimmt man an, dass ein Mitgliedschaftsbewerber seine eigene parteipolitische Überzeugung als unter s. 4 Equality Act 2010 geschützten philosophical belief gegen die Partei vorbringen kann, so wäre die Partei ebenso befugt, ihre politisch-philosophische political party and constituency agents were party members.“ McAlister v The Labour Party, The Times, 5 June 1986, S. 35 – Garland J. Aus der Literatur dazu Davis, Political Freedom, S. 65, 77. 674 Hendy/Ewing, Trade Unions, Human Rights and the BNP, ILJ 2005, S. 197 (208) m. w. N. 675 Jeweils allerdings einschränkend Sandberg, Religion, Law and Society, S. 40 ff.; Karim, Protected Characteristics, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 2.76. 676 Olivier v Department of Work and Pensions, Case No. ET/1701407/2013. 677 Dieser wurde von Grainger v Nicholson [2009] UKEAT 019/09/ZT (para. 24) – Burton J aufgestellt und umfasst fünf kumulative Voraussetzungen: „1. The belief must be genuinely held. 2. It must be a belief and not […] an opinion or viewpoint based on the present state of information available 3. It must be a belief as to a weighty and substantial aspect of human life and behaviour 4. It must attain a certain level of cogency, seriousness, cohesion and importance 5. It must be worthy of respect in a democratic society, not incompatible with human dignity and not conflict with the fundamental rights of others.“ Aus der Literatur dazu Sandberg, Religion, Law and Society, S. 41. 678 Karim, Protected Characteristics, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 2.76.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Ausrichtung dem abgelehnten Parteimitgliedschaftsbewerber entgegenzuhalten. Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass das vorgenannte Urteil im Einklang mit der Entscheidung des Employment Appeal Tribunal in der Sache Grainger v Nicholson aus dem Jahr 2010 steht. Das Berufungsgericht stellte in diesem Verfahren fest, dass zwar politische Ideologien – wie der Glaube an Marxismus, Kommunismus oder Kapitalismus – geschützte Merkmale nach s. 4 Equality Act 2010 sein können, hierunter aber nicht die Mitgliedschaft in einer diese Ideologien verfolgenden Partei als solche.679 Diese Auffassung vertrat überdies bereits die Labour-Regierung im Gesetzgebungsverfahren.680 Ob sich Parteimitgliedschaftsaspiranten und die Parteien selbst mit ihrer ideellen Ausrichtung jeweils auf die s. 4 Equality Act 2010 berufen können, ist ungeklärt. Auch an dieser Stelle bleibt die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung und Gesetzgebung im Parteienrecht abzuwarten. Dass es eine Klärung dieser Frage geben wird, ist nicht von vorneherein ausgeschlossen. Dies gilt im Lichte bereits öffentlich formulierter Befürchtungen von Politikern, dass insbesondere in der Vereinfachung des Parteibeitritts (u. a. durch die Nutzung des Internets) diesbezügliche Gefahren liegen. So könnte es zu einer massenhaften Infiltrierung einer Partei durch sich insgeheim nicht mit der Partei identifizierende Personen kommen, welche gezielt die Partei zu unterwandern versuchen, um ihre Wahlchancen zu mindern. Dieses Szenario wurde namentlich von einigen Labour-Abgeordneten in der Freigabe der Parteiführerwahl von 2015 für registered supporter als möglich erachtet, als in sozialen Netzwerken seitens Mitgliedern der Conservative Party zum Beitritt in die Labour Party aufgerufen wurde, um mit Corbyn einen Kandidaten zu wählen, der die Labour Party in der öffentlichen Wahrnehmung schwächen sollte.681 cc) Beispiele für (un-)gerechtfertigte Diskriminierungen durch Parteien vor Inkrafttreten des Equality Act 2010 (1) Zulässige altersmäßige Diskriminierung minderjähriger Parteimitglieder Die Beschränkung der Mitgliedschaft als solcher oder einzelner mitgliedschaftlicher Rechte nach dem Alter, wie es in einzelnen Parteisatzungen der Fall ist, widerspricht nicht der gesetzgeberischen Intention zum Equality Act 2010. Dies wurde 679 Grainger v Nicholson [2009] UKEAT 019/09/ZT. Aus der Literatur zustimmend Hand, Outside the Equality Act, IJDL 2015, S. 205 (214): „However, as political ideology (if it is worthy of respect in a democratic society and is compatible with human dignity), as opposed to membership, is already protected under belief within the Equality Act 2010, it does open some divergence of protection.“ 680 So ausdrücklich Patricia Scotland (Baroness Scotland) in HL Deb 13 July 2005, cc. 1109 – 1100: „Therefore an example of a belief meet this description is humanism, and examples of something that might not […] would be support of a political party.“ 681 Vgl. die Berichterstattung aus dem Jahr 2015 zu Labour Leadership: Huge Increase in Party’s Electorate, BBC News, 12. August 2015 (Internetquelle) und Wilkinson, Why Are So Many Tories Joining Labour, The Telegraph v. 17. Juni 2015 (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
auch im Gesetzgebungsprozess von der Regierung deutlich gemacht.682 Im Jahre 2012 wurde dies für die Diskriminierung von Volljährigen durch privatrechtliche Vereinigungen neu geregelt.683 In der britischen Rechtsprechung ist für unincorporated associations eine Differenzierung von Mitgliedschaftsarten und mitgliedschaftlichen Rechten nach sog. classes684 anerkannt. Darunter fällt auch das Kriterium des Lebensalters.685 Für einige Vereinigungstypen, etwa für die friendly societies, existieren überdies spezialgesetzliche Vorschriften hierzu.686 In Bezug auf das geschützte Merkmal des Lebensalters können sowohl diesbezügliche Maßnahmen, welche indirect oder direct discriminations darstellen, nach dem Equality Act 2010 gerechtfertigt sein. Eine direkte Form der Diskriminierung hinsichtlich des Alters wird regelmäßig in der Versagung eines tatsächlich gestellten Mitgliedschaftsantrages im Wege der Einzelfallentscheidung durch das zuständige (Partei-) Organ liegen. Als Ausnahme zu den direkten Diskriminierungen aufgrund anderer geschützter Merkmale kann die altersbedingte Diskriminierung gerechtfertigt sein, wenn die Versagung verhältnismäßiges Mittel für die Erreichung eines legitimen Zieles war („proportionate means of achieving a legitimate aim“), siehe s. 13(2) Equality Act 2010. Eine indirekte Diskriminierung kann schlicht in der Existenz satzungsrechtlicher Altersbeschränkungen liegen, und zwar sowohl was die Zulassung zur Mitgliedschaft als solcher betrifft als auch die Zubilligung nur eingeschränkter Teilhaberechte für minderjährige Mitglieder. Zu beachten ist, dass bei Anwendung des objective justification-Tests von den Gerichten strengere Maßstäbe an die Rechtfertigung einer direct als einer indirect discrimination angelegt werden.687 682 So im HL Deb 27 January 2010 c. 1455 die damalige Whip der Labour Party im House of Lords, Glenys Thornton (Baroness Thornton): „Clubs will still be able to offer different types of membership at different prices or on different terms, such as […] full and associate membership. Indeed, age-based concessions […] are an important means of ensuring that all people can participate more fully in society, in the economy and in clubs which play such an important part of many people’s lives, as long as they will be permitted to continue when the provisions prohibiting age discrimination by clubs are brought into force in 2012, along with the services provisions relating to age. This will allow us to ensure that appropriate exceptions are in place to allow age-based concessions to continue.“ 683 Seither ist ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot für über 18-jährige Personen durch private und staatliche Akteure eingeführt worden. Siehe speziell für privatrechtliche Vereinigungen die Anwendungshinweise der Regierung: Government Equalities Office (Hrsg.), Ban on Age Discrimination, passim. Dazu aus der Literatur Ardill, Services, Public Functions, and Transport in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 5.02 f. 684 Vgl. zu dem Begriff und dem Ganzen Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.123 f., 2.128 m. w. N. 685 Re Sick and Funeral Society of St. John’s Sunday School, Golar [1973] 1 Ch. D. 51 in Bezug auf nach Alter gestaffelte Schulgebühren. 686 Siehe hierzu s. 60 Friendly Societies Act 1974. 687 Beale, Core Rights and Duties, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010 para. 3.16.
C. Rechtliche Stellung der Parteimitglieder
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Für die Parteien könnte dies in beiden Arten der Diskriminierung aufgrund des Alters bedeuten, dass diese durch das Wahlrecht zu rechtfertigen sein können. Dies gilt zumal, wenn die Teilnahme an parteiinternen Kandidatenaufstellungen688 nur für über 18-jährige und damit volljährige689 Parteimitglieder offen ist. Rechtfertigender Grund wäre hier das aktive Wahlrecht für die Parlamentswahlen, das auch an die Volljährigkeit anknüpft.690 Insofern schaffen Parteien hier classes von Mitgliedschaften, die an anderer Stelle von Gesetzgeber und Gerichten bestimmten Vereinigungen zugebilligt werden. Überdies dürfte eine generelle Beschränkung der Mitgliedschaft auf Jugendliche ab beispielsweise 14 Jahren, wie die Labour Party es in ihrer Satzung bestimmt, gerechtfertigt sein. Regelmäßig wird vorher kaum sachpolitisches Interesse vorhanden sein und bei der durchschnittlichen psychosozialen Entwicklung auch die Teilnahme am parteiinternen politischen Diskurs von jüngeren Kindern ebenso wenig sinnvoll sein.691 In dem Verfahren Evangelou v McNicol wurde von einem 14-jährigen Kläger vorgebracht, die Verhängung eines Stichtages für das Beitrittsdatum zur Erlangung der Wahlberechtigung bei der Parteiführerwahl 2016, der nur für reguläre individuelle Parteimitglieder galt, nicht aber für registered supporter, sei eine Diskriminierung aufgrund des Alters. Der High Court ließ diese Frage i. E. aus mehreren Gründen unbeantwortet. Erstens wäre der county court das sachlich bzw. instanziell zuständige Gericht für eine Klage aufgrund der Rechte aus dem Equality Act 2010 gewesen (vgl. ss. 113, 114 Equality Act 2010). Der High Court hätte zwar in der Sache entscheiden können, da er diese Sonderzuweisung durch Annahmebeschluss hätte umgehen können gemäß s. 40(1)(a) County Courts Act 1984. Hickinbottom J ließ hierbei offen, ob es sich bei der angegriffenen Entscheidung der Partei um eine direkte oder eine indirekte Diskriminierung aufgrund des Alters handelte. Vielmehr verwies er darauf, dass schlicht keine Diskriminierung gegeben war. Denn als ein ordentliches Mitglied692 hätte der Kläger ungeachtet seines Alters abstimmen können, wenngleich unter der Voraussetzung, rechtzeitig beigetreten zu sein.693 Zu der paradoxen Situation, dass einem ordentlichen Parteimitglied das 688 Vgl. für die Parteiführerwahl der Labour Party die Ausführungen dazu im Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 6) – Beatson LJ m. w. N. Der Parteiführer muss zugleich Mitglied des House of Commons sein, sodass es hier zu einem Gleichlaufen vom aktiven Wahlrecht zur parteiinternen Auswahl von Parlamentskandidaten wie zum Parteiführer kommt (vgl. zur Voraussetzung der Mitgliedschaft im House of Commons, Ch. 1 cl. VII. 1. A. ii. Labour Party Rule Book). 689 Siehe s. 1 Family Law Reform Act 1969. 690 Das Wahlalter liegt bei 18 Jahren für Parlamentswahlen gemäß s. 1(1)(d) Representation of the People Act 1983. 691 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 2.124, 2.30, 2.93 raten dazu, die Regelungen zur limited membership von Minderjährigen in Satzungen von unincorporated associations aufzunehmen. 692 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 92) – Hickinbottom J. 693 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 92) – Hickinbottom J: „FM’s discrimination claim has become hypothetical, in view of my conclusion on the main ground
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Wahlrecht als Minderjähriger zustand,694 als registered supporter nur Volljährigen695, bezog der High Court wegen Obsiegens in der Hauptsache keine Stellung mehr.696 (2) Equality and Human Rights Commission gegen BNP: unzulässige Diskriminierung von Mitgliedern durch ethnische Aufnahmekriterien Noch nach der Rechtslage vor Erlass des Equality Act 2010, mithin unter dem Race Relations Act 1976 und dem Equality Act 2006, wurden im Jahr 2010 von der Equality and Human Rights Commission zwei Verfahren gegen die BNP zunächst vor dem Central London County Court und sodann vor dem High Court geführt.697 Die Kommission machte dabei von ihrem bereits in s. 24(1) of the Equality Act 2006 normierten Recht Gebrauch, präventiv gegen mögliche rechtswidrige Diskriminierungen vorzugehen.698 Der Central London County Court entschied, dass die Partei durch die geforderte Zugehörigkeit von Mitgliedsbewerbern zu den „indigenous Caucasians“699 in s. 2 der 9. Auflage der Parteisatzung von 2009 im Wege einer direkten Diskriminierung gegen ss. 1(1)(b), 25(2)(a) Race Relations Act 1976 verstieß. Diese damalige Norm des Antidiskriminierungsgesetzes verbot es einer Vereinigung von über 25 Mitgliedern, Mitgliedschaftskriterien u. a. an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie zu orientieren.700 Die Formulierung der Klausel der s. 2 in der Satzung überzeugte Collins J dass „the BNP is likely to commit unlawful acts upon which he relied. On the basis of that conclusion, any minor who became a member between 12 January and 12 July 2016, and who fulfils other relevant criteria, will be eligible to vote in the leadership election. I have no evidence that there are any cases in which a minor wishes to pursue a discrimination claim on the basis that the registered supporter age criterion was discriminatory; but, even if there were, discrimination claims are quintessentially fact-specific, and it should be left to any such individuals to pursue their own claims in the county court“ (Herv. d. Verf.). 694 Ch. 4 cl. II. 2. C. vi. Rule Book 2016: „Votes shall be cast in a single section, by Labour Party members, affiliated supporters and registered supporters.“ Diese vorgenannte Klausel i. V. m. Ch. 2 cl. I. 2. mit folgendem Wortlaut der Klausel: „The term ,individual members of the Party‘ shall encompass all grades of membership laid down in Clause III below; all such members shall have equivalent rights within all units of the Party except as prescribed in these rules.“ (Herv. d. Verf.). Das Mindestalter von 14 Jahren ergibt sich aus: Ch. 7 cl. V. 4. 695 Para. 35 Leadership Election 2016 – Procedural Guidelines and Timetable hinsichtlich registered supporter: „Must be over 18“. 696 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 93) – Hickinbottom J: „As FM’s discrimination claim was simply an alternative to his main claim, which has been successful, I need make no specific order in respect of it.“ 697 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin). 698 Hier statt vieler Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, para. 10.74. 699 Hepple, Equality, S. 123; Gauja, Legal Regulation of Political Parties, ELJ 2016, S. 4 (13). 700 Dies ist heute im Prinzip unverändert so im Equality Act 2010, dazu die obigen Ausführungen.
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of discrimination“701. Die Satzung war demnach nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu ändern. In der Folge änderte die BNP ihre Satzung mehrfach. Somit soll dies in der Wahrnehmung in der allgemeinen Medienöffentlichkeit, der juristischen Literatur und auch nach Ansicht der Equality and Human Rights Commission mit dem dahinterstehenden Ziel geschehen sein, das gerichtliche Verdikt zu umgehen:702 Die Partei habe ihre rassistische Organisation auf eine andere Weise weiterhin zu garantieren versucht.703 Unter dieser Annahme sah die Equality and Human Rights Commission die zwischenzeitlich erlassene 12.1 Auflage der Parteisatzung als ungerechtfertigt diskriminierend an. Die Satzung wurde nämlich insoweit geändert, als in s. 4 fortan die Partei nicht mehr nur für „indigenous British“ (cl. 4.1.2), sondern nach cl. 4.1.3 „also open to persons of any other descent or origin“704 erklärt wurde. Dies sollte die ergangene Anordnung des Gerichts formal umsetzen. Zugleich wurde eine weitere Voraussetzung für die Zuerkennung und Ausübung mitgliedschaftlicher Rechte in der innerparteilichen Willensbildung eingeführt: Jedes Mitglied musste eine Ehrenerklärung abgeben, die ein Bekenntnis zu den Zielen der Partei beinhaltete.705 Eines der Ziele der BNP war es, gegen die ethnische Durchmischung des britischen Volkes einzutreten. Hierzu hieß es expressis verbis in der geänderten Satzung: „We are implacably opposed to the promotion by any means of any form of integration or assimilation of any indigenous people […] including the indigenous British.“706 Nur wer diese Erklärung abgab, konnte seine Wahl- und Abstimmungsrechte als vollwertiges Parteimitglied ausüben. Aus diesem Grunde beantragte die Equality and Human Rights Commission im Jahr 2010 den Erlass einer injunction und einer penal notice (Haftandrohung) für drei Vorstandsmitglieder der Partei mit der Begründung, die neue Satzung verstoße gegen die Anordnung des Central London County Court. Diese Einwände wies der High Court zurück. So war nach Moore-Bick LJ die neueste und geltende Satzung Version 12.1 zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des 701
Zitiert nach Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.103. Vgl. nur Taylor, BNP Given Last Chance, The Guardian 28. Januar 2010 (Internetquelle). 703 Hepple, Equality, S. 123; Gauja, Political Parties and Elections, S. 122 m. w. N. auf die geänderte Parteisatzung mit folgendem Wortlaut: „We are implacably opposed to the promotion by any means of any form of integration or assimilation of any indigenous people […] including the indigenous British, which is likely to deprive such people of their integrity as a distinct people or the distinctiveness of their cultural values or of their ethnic or national identities or characteristics.“ 704 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (para. 18) – Moore-Bick LJ. 705 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (paras. 19, 28) – Moore-Bick LJ. 706 Erneut hierzu Gauja, Political Parties and Elections, S. 122 mit dem Wortlaut der geänderten Parteisatzung nach der Entscheidung des Central London County Court. 702
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
erstinstanzlichen Verfahrens gewesen.707 Moore-Bick LJ verwies darauf, dass der Antrag der Equality and Human Rights Commission vor dem erstinstanzlichen Gericht einzig auf die Diskriminierung bei den Beitrittsmodalitäten der BNP bezogen war, die nach s. 25(2) Race Relations Act 1976 verboten waren. Nunmehr war der Antrag der Kommission vor dem High Court auf die Frage einer möglichen ungerechtfertigten Diskriminierung in Bezug auf „access to any benefits, facilities or services“ für (Bestands-)Mitglieder nach s. 25(3)(a) Race Relations Act 1976) gerichtet. Ob sich die Anordnung des erstinstanzlichen Central London County Court auch auf Diskriminierungen nach s. 25(3)(a) Race Relations Act 1976 bezog, war für den High Court nicht eindeutig. Schließlich war die neue s. 4 der Parteisatzung Auflage 12.1 erst nach Erlass der Anordnung als Substitut für die unzweifelhaft fortan verbotene direkte Diskriminierung von beitrittswilligen „Nichtweißen“ durch die Partei eingeführt worden.708 Entscheidend für die Ablehnung der Berufung durch die Kommission waren damit die Zweifel des High Courts hinsichtlich der „ambiguity“709 (Mehrdeutigkeit) der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Anordnung zur Änderung der Parteisatzung war eindeutig gegen die Zulassungskriterien von Mitgliedschaftsbewerbern („indigenous Caucasians“) gerichtet, welche die Partei zu korrigieren hatte. Obschon eine Auslegung der Anordnung des erstinstanzlichen Gerichts dahingehend möglich war, dass auch künftige, substituierende Regelungen zur Ausgestaltung des Mitgliedschaftsverhältnisses nach ethnischen Gesichtspunkten in das Verbot hineinzulesen waren, handelte es „sich nach Überzeugung des Gerichts lediglich um eines von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen“.710 Besonders in Fällen, in denen mit der Androhung von Haft die Freiheit des Einzelnen betroffen ist, ist es nach dem High Court deshalb „vital that those to whom the order is addressed are able to understand clearly what they are and are not to do and if there is any uncertainty in its meaning the order should be construed in a manner that is less, rather than more, onerous to them.“711
Die Berufung der Equality and Human Rights Commission wurde daher zurückgewiesen, die erstinstanzliche Entscheidung wurde gleichwohl bei dem zugleich anhängigen cross-appeal der BNP nicht aufgehoben. Abschließend wies der High 707
The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (para. 18) – Moore-Bick LJ zu der s. 4 BNP-Parteisatzung Version 12.1: „As far as we are aware, no formal attempt has been made to challenge it.“ Ebenso para. 31: „None of those clauses formed any part of the Commission’s complaint.“ 708 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (para. 28) – Moore-Bick LJ. 709 So Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 2.103. 710 Dazu auch der Verweis im High Court-Urteil auf Redwing Ltd. v Redwing Forest Products Ltd. [1947] 64 R.P.C. 67 (71) – Jenkins J: „For the purposes of relief of this character I think the undertaking must be clear and the breach must be clear beyond all question.“ 711 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (para. 22) – Moore-Bick LJ, Herv. d. Verf.
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Court ausdrücklich am Ende des Urteils darauf hin, dass es sich um eine Entscheidung nach der Rechtslage von vor 2010 handelte und dass die inzwischen in Kraft getretenen neuen Regelungen des Equality Act 2010 „may have to be considered on another occasion.“712 In der Literatur betont Gauja in dem Zusammenhang, dass das erstinstanzliche Urteil einerseits begrüßenswert sei. Es stärke die Diskriminierungsfreiheit für Minderheiten. Andererseits könne die Entscheidung ebenso ex negativo betrachtet werden. Die zwangsweise Öffnung der Mitgliedschaft von Parteien, zumindest unter dem Race Relations Act 1976,713 könnte sich für Parteien, die sich dezidiert für die Interessen nationaler Minderheiten einsetzen, von erheblichem Nachteile sein. Dies wäre der Fall, wenn diese Minderheiten in den großen Parteien nur geringe Chancen haben, um ihre Vertreter und ihre Interessen in die Parlamente und andere staatliche Ämter zu entsenden.714 So könne man diskriminierende Maßnahmen zwar als antidemokratisch betrachten, wie im Falle der BNP, sie aber umgekehrt ebenso als „normatively desirable to achieve a more democratic balance of representation in the longer term, both within parliaments and party organizations“715 ansehen. (3) McAlister v The Labour Party: keine Mitgliedschaft für Nordiren als verbotene Diskriminierung? Die Labour Party verwehrte, wie auch die Conservative Party, jahrzehntelang nordirischen britischen Staatsbürgern die Parteimitgliedschaft, wiewohl es hierfür keine rechtlich zwingenden Gründe gab. Die Gründe waren in der politischen Geschichte des Landes verwurzelt. So war die staatsrechtliche Situation von Nordirland nach der Unabhängigkeit der irischen Republik im Süden der Insel seit den 1920er Jahren geklärt.716 Dagegen blieb die staatspolitische Situation bis in die jüngste Vergangenheit aufgrund der inneren religiös-konfessionellen und daraus resultie712 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin) (para. 35) – Moore-Bick LJ. 713 Und aufgrund der dem Race Relations Act 1976 ähnlichen Regelungen in ss. 13, 19, 101 Equality Act 2010. Siehe nochmals Hepple, Equality, S. 123, der die hier diskutierten Urteile ohne weitere Erläuterung in seinem Lehrbuch zum Equality Act 2010 anführt. Ähnlich Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, 10.74. 714 Vgl. hierzu die Zusammenfassung zahlreicher soziologischer Untersuchungen bei Wilks-Heeg/Blick/Crone, How Democratic is the UK? (Internetquelle), para. 2.1.5; Jeffers v The Labour Party [2011] EWHC 529 (QB) (para. 1) – Williams J: So gibt es seit 2006 eine Unterorganisation der Labour Party, die sich für die Unterstützung von „Black, Asian and other ethnic minority groups“ (BAME) einsetzt. 715 Gauja, Political Parties and Elections, S. 122. 716 Die innerstaatliche Stellung Nordirlands und seine Institutionen waren Gegenstand diverser Parlamentsgesetze und die nordirische devolution veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte. Eine kurze Zusammenfassung in der juristischen Literatur liefern Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 253 ff., und in der politikwissenschaftlichen Literatur Jones/ Norton, Politics UK, S. 228 ff.
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renden (partei-)politischen Konflikte in der beim Vereinigten Königreich verbliebenen nordirischen Provinz eher fragil. Dies führte dazu, dass die britischen Parteien in Nordirland nicht antraten und sich ein eigenes regionales Parteiensystem etablierte.717 Die ablehnende Haltung gegenüber einer Mitgliedschaft von Nordiren durch die beiden großen britischen Parteien verdient daher in dieser Untersuchung ein besonderes Augenmerk. Es ist schon deshalb bemerkenswert, da die Labour Party eine besondere organisationsgeschichtliche Beziehung zu Nordirland verbindet. Symbolische Bedeutung hat Belfast als der Ort, wo sich die Labour Party im Jahre 1907 den bis heute verwendeten Namen gab. Vielmehr noch beschloss die dort tagende Parteikonferenz, dass es sich bei der bis dato Labour Representation Committee genannten Organisation um mehr als nur eine gewerkschaftliche Bewegung handelte.718 Die Umfirmierung war mit der neuen Selbstdefinition als Partei verbunden. Sie wollte fortan explizit für das gesamte britische und auch irische Volk eintreten und insbesondere die Arbeiterschaft auf beiden Inseln miteinander verbinden. Dem stand nur wenige Jahre später (kurz nach der irischen Unabhängigkeit) die wachsende staatspolitische Verantwortung der Labour Party im nunmehr auf Großbritannien und Nordirland reduzierten Vereinigten Königreich gegenüber. Die Labour Party wurde im Jahr 1922 erstmalig Teil einer Koalitionsregierung in Westminster. Die Labour Party war – anders als die Conservative Party – niemals Befürworterin des nach 1920 (und bis heute) herrschenden Status quo, eines in zwei Staaten geteilten irischen Volkes.719 Die Labour Party löste den ob ihrer parteipolitischen Überzeugung und ihrer staatspolitischen Verantwortung inhärenten Konflikt dadurch, dass sie schlicht nicht in den nordirischen Parlamentswahlkreisen kandidierte. Die nordirischen Abgeordneten der – vereinigungsrechtlich – mit der Labour Party nicht verbundenen SDLP ordneten sich allerdings in beiden Häusern des Parlaments von Westminster dem Whip der Labour Party unter, sodass eine informelle Verbindung zur nordirischen Schwesterpartei720 gehalten wurde.721 717 Detterbeck, Multi-Level Party Politics, S. 53, 90, 219 ff., insb. 250. Zwar aus dem Jahre 2003, aber immer noch weitgehend aktuell Tonge, Politics in Northern Ireland, in: Dunleavy/ Gamble/Heffernan/Peele (Hrsg.), Developments, S. 181 (193 ff.). 718 Vgl. Page, Labour Peer Calls for Party to Run in Northern Ireland Elections, BBC News, 3. März 2016 (Internetquelle). Zur Geschichte der Labour Party und der Umbenennung siehe Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 233 ff., insb. 249. 719 Siehe insbesondere für die Friedensbemühungen unter der von Blair geführten LabourRegierung Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 25; Webb, British Party System, S. 21 f., für die entsprechende Position der SDLP. 720 Der Begriff bei Roberts, British Party System and the Northern Ireland Question, in: McGarry/O’Leary (Hrsg.), Future of Northern Ireland, S. 100 (108) mit dem Hinweis auf die Informalität dieser Kooperation. 721 Dies galt auch für die Northern Ireland Labour Party, vgl. Roberts, British Party System and the Northern Ireland Question, in: McGarry/O’Leary (Hrsg.), Future of Northern Ireland, S. 100 (102 ff., 134) verweist auf die Behauptungen von Stuart Bell, der im House of Commons während der Labour-Oppositionszeit Shadow Minister für Nordirland war. In der Northern
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In dem Fall McAlister v The Labour Party722 aus dem Jahr 1986 entschied das Employment Appeal Tribunal, dass die Partei mit der Anknüpfung an den Wohnsitz in Großbritannien nicht gegen das Diskriminierungsverbot nach s. 1(1)(b)(i) Race Relations Act 1976723 verstieß. In dem Verfahren ging es um einen nordirischen Bewerber für eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Labour Party. Die Partei verlangte für die Beschäftigung in ihrem politischen Wirkbereich die Parteimitgliedschaft des (künftigen) Arbeitnehmers. Der Kläger als Nordire war derweil von der Parteimitgliedschaft a priori ausgeschlossen. Selbst bei Umzug nach Großbritannien zum Zeitpunkt der Aufnahme der Berufstätigkeit bei der Partei hätte er nicht die in der Parteisatzung geforderten Kriterien für die Mitgliedschaft erfüllt. Diese sahen vor, dass Mitglied nur werden konnte, wer mindestens ein Jahr in Großbritannien lebte.724 Das Employment Appeal Tribunal tendierte dahin, dass die satzungsrechtlichen Bestimmungen bereits auf Tatbestandsebene keine verbotene indirekte Diskriminierung nach s. 1(1)(b)(i) Race Relations Act 1976 darstellten, ließ dies i. E. aber offen. Jedenfalls, so das Berufungsgericht, wäre es unter s. 1(1)(b)(ii) Race Relations Act 1976 gerechtfertigt, die Parteimitgliedschaft als Voraussetzung für eine Anstellung im Kernbereich des parteilichen Wirkens festzulegen.725
Ireland Parliamentary Assembly im Jahr 1986 behauptete er, seine Labour Party habe um Wahlkreise bei diversen Wahlen (in den 1950er und 60er Jahren) gekämpft. Mit „we“ habe Bell allerdings missbräuchlich wie von einer „affiliated party“ gesprochen, was die zeitweise existierende Northern Ireland Labour Party niemals war. Zur Geschichte der Northern Ireland Labour Party, Roberts, a. a. O., S. 102 ff. 722 The Times, 5 June 1986, S. 35. 723 Wortlaut der Norm: „A person discriminates against another […] if he applies to that other a requirement or condition which he applies our would apply equally to persons not of the same racial group as the other but which is such that the proportion of persons of the same racial group as that other who can comply with it is considerably smaller than the proportion of persons not of that racial group who can comply with it.“ 724 Bis heute ist das Jahreserfordernis im Rule Book der Labour Party geblieben, so Ch. 2 cl. I. 3. Jedenfalls für jedermann (auch Ausländer), die seit mindestens einem Jahr im Vereinigten Königreich (inklusive Nordirland) wohnen. Für Nordiren besteht diese Beschränkung nunmehr nicht mehr, dazu unten sogleich. 725 „[It] was not discriminatory under section 1 I b I of the Race Relations Act 1976 and under section 1 I b ii to demand that research assistants to a political party and constituency agents were party members.“ McAlister v The Labour Party, The Times, 5 June 1986, S. 35 – Garland J. Aus der Literatur hierzu etwa Davis, Political Freedom, S. 65, 77. Das London (South) Industrial Tribunal hatte in erster Instanz (unveröffentlichte Entscheidung, Case No. 24364/85/LS, 1 November 1985) zwar eine Diskriminierung nach s. 1 Race Relations Act 1976 angenommen, vgl. Roberts, British Party System and the Northern Ireland Question, in: McGarry/O’Leary (Hrsg.), Future of Northern Ireland, S. 100 (103). Dieses ist dabei wohl von einer Rechtfertigung ausgegangen, denn der Kläger legte Berufung gegen die Entscheidung ein. Vgl. McAlister v The Labour Party, The Times, 5 June 1986, S. 35: „The Employment Appeal Tribunal […] held […] dismissing an appeal by Mr Harry McAlister […] against the dismissal by a London industrial tribunal.“ Roberts (a. a. O.) stellt dies in seinem 1990 erschienenen Werk – und damit nach der ergangenen Berufungsentscheidung – verkürzt dar: „This boycott of
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Das Employment Appeal Tribunal beurteilte in dem zu entscheidenden Fall die Parteisatzung nur in arbeitsrechtlicher Hinsicht.726 Die Vereinbarkeit des Ausschlusses von Mitgliedern aufgrund ihrer Herkunft (bzw. ihres Wohnsitzes) aus Sicht der politischen Teilhabe- und damit Grundrechte blieb in der Entscheidung außen vor. Davis kritisiert die Entscheidung dahingehend, dass die „reasonableness of the Party’s requirement […] would have needed more careful justification in the light of the issue whether the ban on members from Northern Ireland was consistent with internationally recognized human rights.“727 Zu einer weiteren gerichtlichen Klärung dieser Beschränkung der Parteimitgliedschaft kam es seither nicht mehr. Dies lag daran, dass der Parteitag der Labour Party im Jahr 2003 die Öffnung der Partei für nordirische Mitbürger beschloss,728 da „the party’s own legal advice was that they had a weak defence if the matter went to court.“729 Ein prominenter nordirischer Gewerkschafter, Andy McGivern, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Klage gegen die Labour Party eingereicht. Er begründete die Klage mit einem Verstoß gegen den Race Relations Act 1976 durch den Ausschluss von Nordiren zur Parteimitgliedschaft. Diese Klage wurde von der damaligen Commission for Racial Equality730 unterstützt. Jedoch wurde aufgrund der inzwischen durchgeführten Änderung der Parteisatzung über diese Klage nie gerichtlich entschieden.731 Die Öffnung der Labour Party für nordirische britische Staatsbürger scheint nicht nur im Lichte der damaligen und heutigen Antidiskriminierungsgesetzgebung notwendig, sondern ist auch eine Frage des Pragmatismus gewesen. Der a prioriAusschluss von Nordiren führte zu „absurd anomalies“.732 So war der nordirische Gewerkschaftsfunktionär und Politiker William (Billy) Blease von 1979 bis 1983 im Northern Ireland residents not only violates the party’s own constitution […] but also has been found to amount to ,racial discrimination‘ within the meaning of the 1976 Race Relations Act.“ 726 Davis, Political Freedom, S. 65. 727 Davis, Political Freedom, S. 77. 728 Erst zwölf Jahre später, im Dezember 2015, beschloss der Parteitag des nordirischen Verbandes der Labour Party die Teilnahme an den Wahlen zur Northern Ireland Assembly im Mai 2016. Inzwischen war die Anzahl der Parteimitglieder in Nordirland auf 1.800 angestiegen. Dazu Page, Labour Peer Calls for Party to Run in Northern Ireland Elections, BBC News, 3. März 2016 (Internetquelle). 729 Zitiert nach Labour NI Ban Overturned, BBC News, 1. Oktober 2003 (Internetquelle). Vgl. die geltende Parteisatzung Ch. 2 cl. I. 3. Labour Party Rule Book: „Individual members shall be subjects/residents of The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland or citizens of Eire or other persons resident in The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland.“ 730 Diese war, nota bene, unter der Labour-Regierung (von Premierminister Callaghan) zusammen mit dem Race Relations Act 1976 eingeführt worden. Die Funktion dieser Kommission wurde 2007 von der Equality and Human Rights Commission übernommen. 731 Labour NI Ban Overturned, BBC News, 1. Oktober 2003 (Internetquelle). 732 Roberts, British Party System and the Northern Ireland Question, in: McGarry/O’Leary (Hrsg.), Future of Northern Ireland, S. 100 (103).
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House of Lords Whip der Labour Party. Zeitlebens war ihm die Mitgliedschaft in der außerparlamentarischen Labour-Parteiorganisation jedoch verwehrt geblieben. Dies galt sogar trotz seiner Mitgliedschaft in dem Northern Ireland Committee des Irish Congress of Trade Unions. Ungeachtet der Tatsache, dass nordirische Gewerkschafter somit ihren political levy als indirekten Beitrag zur Labour Party zahlten, war ihnen bis 2003 die individuelle Mitgliedschaft in der Labour Party versagt.733 In jedem Fall haben die traditionellen nordirischen Parteien nicht an politischer734 oder wissenschaftlicher735 Relevanz verloren. Auch nachdem sie die gesamtbritischen Parteien dem nordirischen Volk öffneten und sich wie die Labour Party dort zur Wahl stellen, hat sich daran nichts geändert. Dies zeigen die Wahlergebnisse zur Northern Ireland Assembly von 2016 und 2017 oder die Beteiligung der DUP an der seit 2017 regierenden Koalition im House of Commons mit der Conservative Party.736
733 Vgl. für die Frage die obigen Erläuterungen zur Voraussetzung der Zahlung des political levy für Vorstandsmitglieder von Gewerkschaften, die teilweise ex officio Delegierte des Labour Party-Parteitages waren. Insofern hat sich eine (indirekte) Diskriminierung daraus ergeben, dass und wenn ein Gewerkschaftsvorstand den political levy nicht abführen wollte, aber zugleich Mitglied des Gewerkschaftsvorstandes bleiben wollte. Bis heute ist die von Ewing zitierte Klausel wörtlich in Ch. 2 cl. I. 6. B. Labour Party Rule Book enthalten, wonach „a person who does not contribute to the political fund of her/his trade union may not be an individual member of the party“. In dem beim für Gewerkschaften damals zuständigen Registrar of Friendly Societies im Jahre 1932 vorgebrachten Fall der Vaughan and National Association of Operative Plasterers war die Nominierung eines Kandidaten für ein gewerkschaftsinternes Vorstandsamt, der vom opting out Gebrauch gemacht hatte, von der Aufsichtsbehörde der Gewerkschaften zurückgewiesen worden. Ewing sieht aus diesem Zusammenspiel von Labour Party- und Gewerkschaftssatzung(en) eine indirekte Diskriminierung, der es de lege ferenda zu begegnen gilt, in analoger Anwendung zum im Zeitpunkt des Entstehens seines Werkes noch recht jungen Sex Discrimination Act 1975 und Race Relations Act 1976. Zum Ganzen Ewing, Trade Unions, the Labour Party and the Law, S. 120 f. m. w. N. 734 Zu den Wahlergebnissen von 2016 und 2017 siehe Kirk/Scott, Northern Ireland Assembly Election Results, The Telegraph v. 4. März 2017 (Internetquelle); Nagle, Between Conflict and Peace, P.A. 2017, S. 1 (13 ff.). 735 Politikwissenschaftliche Analysen der Parteiführer- und Kandidatenauswahlverfahren der nordirischen Parteien unter Beachtung der normativ-satzungsrechtlichen Regelungen aus der jüngsten Zeit finden sich bei Matthews, Selection of Party Leaders in Northern Ireland, P.A. 2016, S. 901 passim; ders., Representation of Women in Northern Ireland, P.A. 2014, S. 617 passim. 736 Auch die Conservative Party gestattete Nordiren die Mitgliedschaft in früheren Zeiten nicht. Anders als in der Labour Party fiel dies nicht weiter ins Gewicht, da z. B. die Studentenorganisation der Ulster Unionist Party eine Art affiliation, ohne Möglichkeit zur individuellen Mitgliedschaft, mit der britischen Federation of Conservative Students einging. Dazu Roberts, British Party System and the Northern Ireland Question, in: McGarry/O’Leary (Hrsg.), Future of Northern Ireland, S. 100 (109, 135) m. w. N.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
2. Austritt und Ausschluss von Mitgliedern a) Austritt als unilaterale Erklärung des Mitgliedes Ein Mitglied kann den Austritt aus einer unincorporated association jederzeit unilateral erklären, solange durch satzungsrechtliche Bestimmungen nicht etwas anderes vorgesehen ist.737 So kommen verschiedene Arten der Kündigung in Betracht. Ein Austritt kann auch „by written or oral word, conduct or even inertia“738 erklärt werden. Beachtlich ist, dass die Parteisatzungen der Conservative Party und der Labour Party zur Beendigung des Mitgliedschaftsverhältnisses durch das Mitglied im Wesentlichen eine Gemeinsamkeit aufweisen, insofern sie hierzu schweigen. Die Constitution der Conservative Party nimmt nur Notiz von der Entscheidung des Mitglieds, die Partei zu verlassen, und knüpft daran die entsprechenden Rechtsfolgen, mithin den Verlust sämtlicher demokratischer Teilhaberechte und der einer Mitgliedschaft in einer unincorporated association inhärenten vermögensrechtlichen Ansprüche.739 Auch das Rule Book der Labour Party setzt kein Verfahren für die ausdrückliche Beendigung der Mitgliedschaft durch das Mitglied fest, beinhaltet allerdings Vorschriften für den konkludenten Austritt, der deshalb im Folgenden betrachtet wird. Für den Austritt aus den beiden großen britischen Parteien sind die Alternativen des conduct (konkludenten Handelns) oder der inertia (Untätigkeit) besonders relevant. In Betracht kommt insbesondere die konkludente Kündigung. Diese ist seit über einem Jahrhundert in der Rechtsprechung zu unincorporated associations anerkannt.740 Etwa kann ein Mitglied der Labour Party konkludent aus der Partei austreten, indem es seine jährlichen Mitgliedsbeiträge sechs Monate ab Fälligkeit nicht erbringt. Diesbezüglich setzt Ch. 2. cl. III. 4. Rule Book nicht nur die ausbleibende Beitragszahlung für sechs Monate durch das Mitglied voraus. Die Partei ist hierbei verpflichtet, dem Mitglied eine Zahlungsaufforderung zu übersenden.741 Bar 737
Finch v Oake [1896] 1 Ch. D. 409. Vgl. die Definition der unincorporated association in der Entscheidung Conservative and Unionist Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522 (525) – Lawton LJ: „[B]y ,unincorporated association‘ […] Parliament meant […] an organisation […] which can be joined or left at will.“ 738 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 4.03 m. w. N. 739 Für die Wahlkreisvereinigungen der Conservative Party ist Sch. 7 para. 3.4 Constitution geregelt, dass „[a]ny person who has ceased to be a member of the Party and the Association shall have no rights or interest in the property or funds of the Association“. Ein ähnlicher Wortlaut findet sich für Conservative Federations nach Sch. 7 A para. 3.4. Hinsichtlich der eigentums- und vermögensrechtlichen Dimension der Mitgliedschaft in einer unincorporated association siehe aus der Literatur statt vieler Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 4.07 f. m. w. N. 740 Re Sick and Funeral Society of St John’s Sunday School, Golcar [1973] Ch. D. 51. 741 „A member shall be deemed to have lapsed from membership if s/he has been in arrears for six months and has not responded to a request to pay the arrears.“ (Herv. d. Verf.).
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der (Selbst-)Verpflichtung der Partei zum positiven Tun durch Zustellung einer Mahnung handelt es sich nicht um einen parteiseitigen Ausschluss des Mitglieds. Dies wird durch die Parteisatzung deutlich. Sie fingiert nämlich den unilateralen Austritt des Mitglieds nach Zeitablauf (und unter der Bedingung der Mahnung). Ein Ausschluss hingegen bedürfte eines positiven Handelns durch die Partei, z. B. in Form eines den Ausschluss begründenden Vorstandsbeschlusses.742 Die Frage des Austritts aus den beiden großen Parteien ist besonders nach dem Brexit-Referendum virulent geworden.743 Von den seit 2016 neu beigetretenen registered supporters sind rund 60 % (40.000) dadurch ausgetreten, dass sie ihren Jahresbeitrag für 2017 nicht entrichteten.744 Um aber einen sofortigen Austritt zu realisieren, rät die dem linken Meinungsspektrum zuzuordnende und dem brexitkritischen Flügel der Labour Party nahestehende Wochenzeitung New Statesman austrittswilligen Labour Party-Mitgliedern, eine zusätzliche Erklärung an die zuständige Wahlkreisvereinigung zu senden. Diese könne in Text- oder Schriftform ergehen.745 Dieser Ratschlag entspricht der geltenden Rechtslage, die sogar – erneut vorbehaltlich satzungsrechtlich verankerter strengerer formeller Voraussetzungen – eine mündliche Erklärung an ein empfangsberechtigtes Vorstandsmitglied ausreichen lässt.746 Letztlich ist zu beachten, dass es sich bei der Austrittserklärung, zumal der ausdrücklichen, um eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung handelt. Diese Erklärung ist nicht widerrufbar, wenn nicht anders in der Satzung festgelegt oder im Einzelfall von der Partei akzeptiert.747
742 Vgl. dazu Warburton, Unincorporated Associations, S. 76: „The question of expulsion is completely separate from that of whether a member can be deemed to have resigned by virtue of his conduct; expulsion requires a positive act by the association.“ 743 Für die Labour Party siehe Mason, Labour Membership Expected to Fall, The Guardian v. 21. März 2017 (Internetquelle): „A Labour source said many of those who gave a reason for resigning their membership said it was because of Corbyn’s decision to Whip his MPs in favour of voting for article 50 [TEU, Anm. d. Verf.].“ 744 Hierzu Hughes, Thousands of Labour Members Leave the Party, The Telegraph v. 28. März 2017 (Internetquelle); Mason, Labour Membership Expected to Fall, The Guardian v. 21. März 2017 (Internetquelle). 745 So in https://www.newstatesman.com/politics/uk/2017/04/how-do-i-leave-labour-partyheres-how-cancel-your-membership (letzter Abruf 10. Oktober 2018): „The next step is to notify the secretary of your constituency Labour party in writing that you have resigned your membership. While it would be satisfying to do this by post (enclosing your membership card, or what’s left of it) an email is sufficient.“ Dies wird auch durch die juristische Literatur bestätigt, etwa von Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 4.04. 746 Siehe Re Solvency Mutual Guarantee Society, Hawthorne’s Case [1982] 31 LJ Ch. D. 625. 747 Finch v Oake [1986] 1 Ch 409 (415). Aus der Literatur siehe dazu Warburton, Unincorporated Associations, S. 75.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
b) Mitgliederausschluss: Parteienfreiheit zwischen natural justice im Regelfall und Ermessenskontrolle in Extremfällen Dass der Austritt von Parteimitgliedern kaum satzungsrechtliche Berücksichtigung findet und auch bislang kaum in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Gerichte gelangte, hängt schlicht damit zusammen, dass es einer Partei nur selten daran liegen dürfte, ein mit den politischen Leitmotiven oder den Führungspersonen der Partei unzufriedenes und daher austrittswilliges Mitglied in der Partei zu behalten. Dagegen ist der Parteiausschluss als schärfstes disziplinarisches Mittel der Wahl für eine Partei, um sich eines Mitgliedes zu entledigen, oft Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen gewesen. Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass das Recht, parteiinterne Disziplinarmaßnahmen durch staatliche Gerichte auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen, auch nicht durch sog. ouster clauses in den Parteisatzungen erreicht werden kann.748 Derartige Klauseln sind schlechthin null und nichtig.749 Daneben gilt, dass sich ein Parteiausschlussverfahren maßgeblich nach den jeweiligen satzungsrechtlichen Vorschriften richtet, sowohl in prozess- als auch in materiellrechtlicher Hinsicht. Die gerichtliche Kontrolldichte ist als nicht allzu engmaschig zu sehen.750 Im Einzelnen gelten für den Parteiausschluss die folgenden Kriterien: Der Ausschluss muss bona fide und in Übereinstimmung mit den anwendbaren satzungsrechtlichen Bestimmungen und – ggf. – nach den Regeln der natural justice erfolgen.751 aa) Pflichten der Partei bei einem Parteiausschlussverfahren (1) Redliche Ausübung satzungsgemäßer Kompetenzen Hiernach darf das Ausschlussverfahren nicht auf bösgläubigen Absichten (mala fide) beruhen. Eine Definition für das erforderliche bona fide-Handeln gibt es nicht. 748 So Baker v Jones [1954] 2 All ER 553 (555) – Lynskey J: „If parties should seek, by agreement, to take the law out of the hands of the courts into the hands of a private tribunal, without any recurse at all to the courts in case of error of law, then the agreement is to that extent contrary to public policy and void.“ Speziell zu Parteien siehe Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (325 ff.). Allgemein zu unincorporated associations: Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 99. 749 Vgl. in Bezug auf politische Parteien Weir v Hermon [2001] NICh 8 – Girvan J: „It is common case that on matters of law the court’s jurisdiction cannot be ousted by any provision in the rules of the Association.“ Hierzu weiterführend Gauja, Political Parties and Elections, S. 88. Allgemein für unincorporated associations siehe Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.03 m. w. N. auf die Rechtsprechung Lee v Showmen’s Guild of Great Britain [1952] 2 Q.B.D. 329 (CA) (341) – Denning MR. 750 Siehe vergleichend zum deutschen Parteienrecht in Bezug auf die Parteischiedsgerichtsbarkeit etwa Bolleyer/v. Nostitz/Smirnova, Conflict Regulation in Political Parties, P.P. 2017, S. 834 (838 f.); Tsatsos/Morlok, Parteienrecht, S. 48 ff., 62. Vgl. für die gerichtliche Überprüfung von Parteiausschlüssen in einer anderen westlichen Parteiendemokratie Roßner, Parteiausschluss, S. 187 ff. 751 Aus der deutschen Literatur hierzu Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 105 ff.
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Aus der vorhandenen Kasuistik lassen sich die Pflichten von domestic tribunals (vereinigungsinternen Spruchkörpern) aber in drei Fallgruppen zusammenfassen. Sie dürfen nicht arbitrary (willkürlich), capricious (launenhaft) oder malicious (böswillig) entscheiden.752 Mithin müssen sie objektiv entscheiden und dürfen sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Mala fide handeln sie auch dann, wenn das Ergebnis absurd und unter rationalen Gesichtspunkten „nur ein Vorwand sein kann um einen anderen Grund zu verdecken […] und das Mitglied ohne gerechtfertigten Grund ausgeschlossen“753 wird. Verhängt eine Partei den Ausschluss des Mitglieds nur deshalb, um von einem Mitglied eingelegte parteischiedsgerichtliche Rechtsbehelfe gegen ein i. E. erfolgloses vorheriges Ausschlussverfahren (z. B. gerichtet auf Schadensersatz) zu stoppen, so ist das zweite Ausschlussverfahren auch dann null und nichtig, wenn es strikt nach den formellen Voraussetzungen der Parteisatzung durchgeführt wird.754 Die Beweislast für die mala fide-Ausübung durch die Partei liegt im gerichtlichen Verfahren bei dem klagenden Mitglied.755 (2) Die ultra vires-Kontrolle Verfahrensrechtliche Vorschriften sind freilich in der jeweiligen Parteisatzung zu suchen. In der breiten Kasuistik sind derweil einige grundsätzliche Voraussetzungen als allgemeingültig anerkannt. Grund ist, dass in aller Regel (wenn nicht, so ist ggf. eine normative Korrektur durch die natural justice möglich, dazu s. u.) eine Parteisatzung die Pflicht enthält, dem Betroffenen das angestrebte Disziplinarverfahren bekannt zu geben. Eine Bekanntgabe im Wege eines Aushanges am Geschäftssitz einer unincorporated association ist nicht ausreichend.756 Außerdem gilt ein Ausschluss ohne ein spezielles Verfahren als nicht vereinbar mit der besonderen vertragsrechtlichen Rechtsnatur des Mitgliedschaftsverhältnisses einer unincorporated association. Diesbezügliche satzungsrechtliche Regeln verstießen gegen die Pflichten der Partei in dem gegenseitigen speziellen Vertragsverhältnis;757 ein ver752 Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.37, und Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 112 f. je m. w. N. auf die Rechtsprechung. 753 Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 113 m. w. N. 754 Vgl. Warburton, Unincorporated Associations, S. 77. 755 Vgl. Dawkins v Antrobus [1881] 17 Ch. D. (630, 634) – Brett LJ. 756 Vgl. Labouchere v Earl of Wharncliffe [1879] 13 Ch. D. 346. Ähnlich verhält es sich bei dem Austritt einer Wahlkreisvereinigung aus der nationalen Labour Party. In der Entscheidung John v Rees hielt der High Court die Aufnahme eines entsprechenden Tagesordnungspunktes in die Einladung zur Vorstandssitzung für erforderlich. Nur diese erfüllt die Informationspflichten des örtlichen Parteivorstandes und sichert die Rechte der betroffenen Vorstandsmitglieder, siehe John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (378, 389) – Megarry J. Dazu auch Ewing, Funding of Political Parties, S. 7: „It was also held, however, that a motion to disaffiliate the Pembrokeshire party from the national party was improperly carried, partly because no notice of any intention to propose such a resolution appeared in the formal agenda for the meeting, as required by common law.“ 757 Zur Beachtung satzungsrechtlicher Vorschriften bei Ausschluss von Mitgliedern siehe John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (363) – Megarry J: „The contract between the members is a
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
fahrensfreier Ausschluss wäre, da von dem Mitglied regelmäßig nicht gewollt, deshalb ultra vires.758 Materiell wird die Rechtmäßigkeit des Parteiausschlusses von den Gerichten, ohne Zweckmäßigkeitsüberlegungen anzustellen, anhand der einschlägigen Satzungsvorschriften gemessen. Es handelt sich gerade nicht um die Überprüfung im judicial review-Verfahren, sondern um eine Klage wegen eines breach of contract.759 Die Satzung wiederum wird nach den Regeln der Vertragsauslegung ausgelegt und angewendet.760 Maßstab sind der natürliche Wortsinn („natural and ordinary meaning of the words“), der systematische Zusammenhang („other relevant provisions of the contract“) und der Telos der vertraglichen Klausel („the overall purpose of the clause in the contract“).761 Dass die Entscheidung eines zuständigen Parteischiedsspruchkörpers überprüfende Gericht sieht sich nicht als Berufungsgericht, das vollumfänglich die Rechtund Zweckmäßigkeit überprüft. Dies stellt seit der Rechtssache Dawkins v Antrobus die ständige Rechtsprechung dar. Es wurde später in der berühmten Entscheidung Lee v Showmen’s Guild of Great Britain nochmals bekräftigt und konstatiert „that the court should not act as a court of appeal from decisions of club committees where these had been properly constituted and summoned, and had decided the matter according to the principles of natural justice“.762
Anders ist dies nur bei entsprechender gesetzlicher Regelung, wie sie z. B. für berufsständische Körperschaften gilt (vgl. s. 22 Architects Act 1997). Eine bloße Erwähnung von Vereinigungen in Gesetzen begründet die Pflicht zur Durchführung eines Berufungsverfahrens i. e. S. noch nicht.763 Daher fallen auch die Entscheidungen von Parteischiedsgerichten, wiewohl die Parteien selbst in zahlreichen Parlamentsgesetzen Hauptregelungsgegenstand sind, nicht hierunter. Wäre ein joint contract, the rules of a club forming part of the contract between them: see Harrington v Sendall [1903] 1 Ch. D. 921; Halsbury’s Laws of England, 3rd ed., Vol. 5 (1953), p. 258.“ 758 Vgl. Elias/Ewing, Trade Union Democracy, S. 217 f. 759 Statt vieler Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 6.49, 6.53. Siehe in der Rechtsprechung den Fall UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204 (paras. 13, 58 f.) – Potter LJ mit der Absage an eine Überprüfung eines Ausschlusses nach dem Human Rights Act 1998 und damit als judicial review-Verfahren. 760 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (20) – Beatson LJ: „The intentions of the parties to a contract will be ascertained by reference to what a reasonable person having all the background which would have been available to the parties would have understood the language in the contract to mean, and it does so by focusing on the meaning of the words in the contract in their documentary and factual context.“ 761 Die drei vorgenannten Zitate stammen aus Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (20) – Beatson LJ. 762 [1952] 2 Q.B.D. 329 (CA) (333). Bestätigend von Young v Ladies’ Imperial Club [1920] 2 K.B. 523 (535) – Scrutton LJ und mit Hinweis auf die Entscheidung Dawkins v Antrobus. Herv. d. Verf. 763 Mit Beispielen hierzu Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.54.
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staatliches Gericht als appeal tribunal zur Überprüfung der Disziplinarmaßnahme bzw. der parteiinternen schiedsgerichtlichen Entscheidung berufen, so würde es eine weitere Tatsacheninstanz darstellen. Für Parteien wie für andere in ihrer inneren Ordnung nicht gesetzlich erfasste unincorporated associations gilt aber, dass die Gerichte nur als Rechtsinstanz tätig werden. Maßstab ihrer Entscheidung ist nur die Übereinstimmung der Disziplinarmaßnahme materiell mit der Satzung i. S. e. ultra vires-Prüfung sowie der Prüfung eklatanter Ermessensfehler und formell mit der natural justice.764 Überdies ist es zumindest unwahrscheinlich (so Warburton), dass vor Erschöpfung des innerparteilichen Rechtsweges ein Gericht eine Klage gegen die erstinstanzliche parteiinterne Entscheidung vor erfolglosem Anrufen einer in der Satzung vorgesehenen zweiten Instanz zulässt.765 Die Conservative Party sieht ein solches zweistufiges Verfahren mit Berufungsmöglichkeit vor, während die Labour Party ein nur einstufiges Verfahren kennt.766 Dies könnte erklären, weshalb Ausschlüsse aus der Conservative Party bisher nicht gerichtskundig geworden sind. Eine Korrektur rechtsfehlerhafter Entscheidungen des Parteivorstandes in der ersten Instanz könnte durch das spezielle Individual Member Review Committee der Conservative Party erreicht werden. Außerdem sind stets das Rechtsverständnis und die Streitkultur der Conservative Party zu berücksichtigen: Sie sucht ihre innerparteilichen Probleme eher ohne gerichtliche Hilfe zu lösen und betrachtet diese vielmehr als „family squabbles“767. Die Gerichte prüfen die materielle Rechtmäßigkeit von Ermessensentscheidungen bei Parteiausschlüssen auf Tatbestands- und auf Rechtsfolgenseite. Für die 764
Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.51 m. w. N. So Warburton, Unincorporated Associations, S. 80 m. w. N. auf die Rechtsprechung; Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 47, halten es nicht nur für unwahrscheinlich, sondern praktisch unmöglich, dass die Gerichte vor Erschöpfung des innerparteilichen Rechtsweges aktiv werden: „The courts will not hesitate to enforce an association’s rules which provide that a member should exhaust internal means of redress before applying to the courts.“ Siehe dort den Verweis auf White and Others v Kuzych [1951] AC 585 (JC) (601) – Simon LJ. 766 Das Verfahren innerhalb der Labour Party ist einstufig und kennt keine Berufungsmöglichkeit, vgl. Ch. 6 cl. II. 1. L. Rule Book: „The decision of the NCC as to whether in its opinion there is a case to answer, or whether in its opinion the charges are proved or not proved, and any disciplinary action to be imposed shall be final.“ Anders liegt es im Falle der Conservative Party, bei der nach Sch. 6 para. 23 ein zweistufiges Verfahren durchgeführt wird: „In the event of the Board of the Party under the provisions of Part IV Articles 17.7 or 17.22 determining that an individual membership should be suspended, withdrawn or refused the secretary shall write to the individual concerned stating any reason for this determination. The individual shall then have 28 days to lodge an appeal to the Individual Member Review Committee which shall exist for the purpose of hearing such appeals under a process determined by it and whose decision shall be final.“ (je Herv. d. Verf.). 767 So ein nicht namentlich genannter hochrangiger konservativer Politiker: „There are virtually no absolute rules, that’s why – unlike Labour – we tend not to get bogged down in procedural wrangles. We have family squabbles instead.“ Zitiert nach Garner/Kelly, British Political Parties, S. 98 f.; siehe auch Becker, Mitgliederbeteiligung, S. 59. 765
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Feststellung der tatbestandlichen Rechtmäßigkeit eines Ausschlusses müssen oftmals unbestimmte Rechtsbegriffe ausgelegt werden. Hier werden, wie etwa in der Satzung der Conservative Party, Verstöße gegen „the purpose or objects and values“ der Partei gefordert.768 Auf Rechtsfolgenseite wird die fehlerfreie Ausübung der discretion (Ermessen) durch das zuständige Parteiorgan vom Gericht überprüft.769 Eine disziplinarische Handlung der Partei darf auch aus materieller Sicht dem Fairnessgedanken nicht widersprechen. Gemeint ist damit nicht die natural justice, da diese nur verfahrensrechtliche Fragen betrifft. Vielmehr geht es um die Frage, ob die verhängte Maßnahme gänzlich außerhalb des Rahmens der vernünftigen Antworten auf die Frage eines fairen Interessensausgleichs der streitenden Parteien liegt. Das Gericht hat somit nur über die Extremfälle der Überschreitung der Grenzen der Ermessensausübung durch den innerparteilichen Spruchkörper zu befinden. Wie Stewart, Campbell und Baughen konstatieren, liegt in dieser Befugnis und zugleich Belastung der Gerichte. Schließlich erkläre dieses Spannungsfeld die gerichtliche Zurückhaltung in der staatlichen Einmischung in die inneren Angelegenheiten von unincorporated associations.770 Die Gerichte haben noch im Fall Dawkins v Antrobus selbstbewusst die uneingeschränkte Prüfung ob der reasonableness einer Entscheidung postuliert, sind davon aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder ein Stück abgerückt.771 In der Entscheidung Flaherty v The National Greyhound Racing Club Ltd. hat ScottBaker LJ einerseits die fundamentale Bedeutung der Fairness betont. Zugleich hob er hervor, dass eine gerichtliche Regulierung von in casu bestimmten Sportarten durch die Gerichte nicht möglich ist. Die Richter haben schlechthin nicht die professionelle Kenntnis, wie sie die Mitglieder einer entsprechenden Vereinigung (und damit auch
768 Nach Art. 17.22 Constitution der Conservative Party liegt die Entscheidung über den Ausschluss in der discretion (Ermessen) des zuständigen Organs, welches das Board of the Conservative Party, mithin der nationale Parteivorstand, ist. Wortlaut der Klausel: „The suspension of membership or the expulsion from membership of any member whose conduct is in conflict with the purpose, objects and values of the Party as indicated in Part I Article 2 or which is inconsistent with the objects or financial well-being of an Association or the Party or be likely to bring an Association or the Party into disrepute.“ 769 Vgl. zu den Festlegungen des NEC der Labour Party bei der Parteiführerwahl 2016 siehe Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 49 f.) – Beatson LJ: „The area in which the consideration of contractual discretionary powers is most developed, in the sense that the public law approach to such powers has been adopted, concerns mutual undertakings such as mutual insurance undertakings and bodies exercising self-regulatory powers over a business, a profession or a sport: […] The principles of contractual interpretation and in relation to the limitations regarding exercise of discretion deployed in them enable the proper control of such bodies by the court without denuding their governing bodies of their proper sphere of autonomy.“ 770 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.38. 771 Broß, Vereinsmaßnahmen in England, S. 115 m. w. N. auf die Rechtsprechung.
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das interne Schiedsgericht) haben. Die Mitglieder „are required to regulate“772 und nicht die Gerichte, die folglich nur bei offensichtlichen Ermessensfehlern eingreifen. Ferner brachte in dem bereits erläuterten Verfahren UKIP v Hardy das ausgeschlossene Mitglied vor, die Partei habe bei der Wahl der Disziplinarmaßnahme gegen das Proportionalitätsprinzip verstoßen, zu welchem sie nach dem Human Rights Act 1998 verpflichtet gewesen sei. Hierzu urteilte der Court of Appeal, dass erstens die Menschenrechte nicht auf das Verhältnis zwischen Partei und Mitglied anwendbar sind und zweitens, dass die reasonableness der Entscheidung durchaus vom erstinstanzlichen Gericht geprüft wurde.773 Mithin erteilte das Gericht eine Absage an eine Überprüfung eines Parteiausschlusses nach dem Human Rights Act 1998 (im Wege des judicial review-Verfahrens). Zu bedenken ist, dass die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer vereinigungs- bzw. parteiinternen Disziplinarmaßnahme sich nicht mit denen des Human Rights Act 1998 decken. Während bei letzterem die dem deutschen Recht bekannte Verhältnismäßigkeitsprüfung – im Wesentlichen mit der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit vergleichbaren Kriterien – durchgeführt wird,774 so ist bei vereinigungs- und parteiinternen Entscheidungen nur eine einfache Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. Diese beschränkt sich, wie oben gesagt, einzig auf die Grenzen der Nachvollziehbarkeit der inkriminierten Entscheidung. Es können auch gesetzliche Vorschriften neben der Satzung zur Anwendung kommen, die auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite zu beachten sind. Spezialgesetzliche Vorschriften für die innere Ordnung von Parteien scheiden aus. Gleichwohl sind die Antidiskriminierungsvorschriften des heutigen Equality Act 2010 zu beachten, die nach s. 101(2)(b) auch für den Ausschluss von Parteimitgliedern gelten.775 (3) Natural justice und nemo iudex in sua causa am Beispiel der Militant Tendency Wenngleich gemäß dem letzten Abschnitt eine grundsätzliche Bestätigung der Organisationsfreiheit der Vereinigungen und der Vertragsfreiheit der Mitglieder existiert, haben die Gerichte mit der natural justice hierzu Einschränkungen entwickelt. Aus der umfassenden Kasuistik vor allem um die Labour Party776 hat sich die 772
[2005] EWCA Civ 117. [2011] EWCA Civ 1204 (paras. 13, 58 f.) – Potter LJ: „[UKIP] submits that concepts of reasonableness and proportionality which are appropriate to Judicial Review and the jurisprudence of the European Court of Human Rights are not similarly applicable in relation to the private contractual rules of an association, which, at most, attract the principles of good faith, natural justice and the right to a fair trial.“ (para. 58). 774 Vgl. die Kriterien in R. (Razgar) v Secretary of State for the Home Department [2004] UKHL 27, [2004] 2 AC 368 (para. 19) – Bingham LJ. Hierzu auch Amos, Human Rights Law, para. 4.1. 775 Zur alten Rechtslage nach s. 13 Sex Discrimination Act 1975 und s. 14 Race Relations Act 1976 siehe Warburton, Unincorporated Associations, S. 81 m. w. N. 776 In jüngerer Zeit aber auch der UKIP. Dabei ging es nicht immer um den Ausschluss einzelner Mitglieder, wie in dem Fall UKIP v Hardy [2011] EWCA Civ 1204. 773
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
natural justice als von parteiinternen Spruchkörpern zu beachtendes grundlegendes Rechtsprinzip etabliert. In jedem Fall gilt, dass – wo sie anwendbar ist – die natural justice nur vor extremen Fällen von verfahrensrechtlichen Ungerechtigkeiten schützt.777 Ob diese Prinzipien als zwingendes (implied by law) oder dispositives (implied by term) Recht anzusehen sind, kann hier offen gelassen werden. Denn bar der fehlenden Nennung der Begrifflichkeit in der Satzung der Labour Party ist ihre Verpflichtung auf die prozedurale Fairness in der Rechtsprechung anerkannt.778 Hingegen spricht Art. 28 Constitution der Conservative Party den Parteimitgliedern in disziplinarrechtlichen Verfahren expressis verbis den Anspruch auf eine Entscheidung unter Beachtung der natural justice zu.779 In mehreren Fällen war über das Recht des Mitglieds, dass keine Entscheidung in eigener Sache ergeht, d. h. die unbias (Unbefangenheit) der Entscheider von Disziplinarmaßnahmen von den Gerichten zu entscheiden gewesen. Im Wesentlichen entzündete sich der Streit an der satzungsrechtlichen Ausgestaltung von Disziplinarverfahren in der Labour Party, wie sie von 1918 bis 1986 galt. Die Labour Party kannte keinen eigens vorgesehenen Spruchkörper als domestic tribunal, sondern ließ diese Funktion durch das NEC durchführen. Damit übten die Mitglieder des Parteivorstandes die parteiinterne Exekutive und Judikative in Personalunion aus. Grundsätzlich gilt, dass im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit für die vereinigungs- bzw. parteiinternen Schiedsgerichte nicht dieselben Anforderungen 777 Siehe für die weitgehende Freiheit der Parteien nur Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (336): „As political factions grew in size and organization, however, unincorporated status proved suitably flexible. Take that most fundamental of questions: the admission of new people to membership. […] The reverse is also true: existing members may […] be expelled, with relatively little fuss.“ Für die Anwendung der natural justice-Kriterien auf die gerichtliche Überprüfung von vereinigungsinternen Entscheidungen siehe Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.21. Ebenso bei Elias/ Ewing, Trade Union Democracy, S. 212 ff. 778 Hinsichtlich Parteiausschlüssen aus der Labour Party und der Pflicht zur Beachtung der natural justice sind zahlreiche Urteile vorhanden. Vgl. nur Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ. Das Gericht verwendet die Begrifflichkeit der natural justice nicht, allerdings die dahinterstehenden Rechtsprinzipien: „It is not merely of some importance, but is of fundamental importance that justice should not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done […] [.] The court looks at the impression which will be given to other people. Even if he was as impartial as could be, nevertheless if rightminded persons would think that, in the circumstances, there was a real likelihood of bias on his part, then he should not sit.“ Ähnlich in Green v The Labour Party [1991] WL 11780048 – Neill LJ m. w. N.: „Counsel for the Labour Party placed strong reliance on the judgment of Lord Denning MR in Lewis v Heffer […] said this under the heading ,Natural justice‘: ,But then comes the point; are the N.E.C. to observe the rules of natural justice? In John v Rees [1970] Ch. 345, Megarry J. held that they were. He said, at p. 397: ,suspension is merely expulsion pro tanto. Each is penal, and each deprives the member concerned of the enjoyment of his rights of membership or office. Accordingly, in my judgment the rules of natural justice prima facie apply to any such process of suspension in the same way that they apply to expulsion.‘“ 779 Wortlaut der Klausel: „Any removal of rights of membership of, or removal of office or other position from, any Association or other body within the Party will only be made after due consideration of natural justice.“
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gelten, wie sie von Verfassungs wegen an staatliche Gerichte gestellt werden.780 Somit ist auch die Zuständigkeit des NEC für Disziplinarverfahren durch die Gerichte dem Grunde nach nicht gerügt worden.781 Dennoch sah sich die Labour Party „in or about 1986“782, wie Neill LJ in einem Fall aus dem Jahr 1990 konstatierte, gezwungen, ihre innere Ordnung zu ändern. Fortan sollte das National Constitutional Committee (NCC) als unabhängiges Parteischiedsgericht die meisten783 disziplinaren Funktionen vom NEC übernehmen.784 Der Grund dafür lag in einer Reihe von Verfahren785, die zwischen 1982 und 1986 bei dem High Court anhängig waren. Sie fanden nur am Rande in der juristischen Literatur Beachtung.786 Anders verhielt es sich in der politikwissenschaftlichen 780 Vgl. für die richterliche Unabhängigkeit im Vereinigten Königreich Bradley/Ewing/ Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 327 ff. 781 Grundlegend Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1072, 1073) – Denning MR. 782 Green v The Labour Party [1991] WL 11780048 – Neill LJ: „Until quite recently the power to expel individual members from the Party was vested in the NEC as the principal administrative authority of the Party. In Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R 1061 the power to expel was held to include the power to impose the lesser penalty of suspension. In or about 1986, however, the constitution of the Party was amended to provide for the establishment of a National Constitutional Committee (,the NCC‘) to be the main body to deal with party discipline.“ (Herv. i. O.). 783 Die Suspendierung von Mitgliedern ist als Kompetenz beim NEC verblieben, Ch. 1 cl. VIII. 3. A. Rule Book: „[T]o take any action it deems necessary for such purpose, including disaffiliation, disbanding, suspending or otherwise disciplining any affiliated organisation or party unit; in furtherance of such duties it shall have the power to suspend or take other administrative action against individual members of the party subject to the provisions of the disciplinary rules set out in Chapter 6 below of these rules.“ 784 Mit Verweis auf die aktuelle Satzungslage bei Ewing, Cost of Democracy, S. 67. Die Kompetenzen des NCC in Bezug auf Parteiausschlüsse sind in Ch. 1 cl. IX. 2. C. Rule Book geregelt: „[W]here a determination has been made as a result of a case brought under A or B above, to impose such disciplinary measures as it thinks fit whether by way of […] expulsion from membership of the party or other penalty.“ 785 Bei mehreren Verfahren handelte es sich um einstweilige Rechtsschutzverfahren gegen drohende Parteiausschlüsse, bei einem Dritten um eine Anfechtungsklage. Veröffentlicht wurde nur letztere, vgl. Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ. Dort bezieht sich das Gericht auf die kurz zuvor ergangenen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz und das Urteil in der Sache Dowling & Others v Whitty & Others vom 25. März 1986. Auch in der Arbeit des britischen Politologen Shaw zur Militant Tendency wird diese unveröffentlichte Entscheidung (Dowling & Others v Whitty & Others) von Browne-Wilkinson VC teilweise im Wortlaut zitiert, vgl. Shaw, Discipline and Discord, S. 272 ff. 786 Die Verfahren sind in der einschlägigen Literatur kaum diskutiert. Es finden sich lediglich Hinweise darauf, etwa in Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/ Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (325, 327), wo es schlicht heißt: „So sind gelegentlich die Gerichte angerufen worden, […] wenn Mitglieder sich ungerechtfertigterweise aus ihrer Partei ausgeschlossen fühlten. Im Jahre 1987 gab es den wichtigen Fall, daß Mitglieder der Militant Tendency, einer Gruppierung innerhalb der Labour Party, erfolglos gegen ihren Parteiausschluss die Gerichte anriefen“ sowie: „Informelle Parteigruppierungen werden geduldet, es sei denn, sie sind so organisiert, daß sie eine Partei in der Partei darstellen, wie es im Falle von Militant Tendency zutraf.“
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Literatur.787 Es ging dabei um den Ausschluss einzelner Mitglieder wie auch ganzer örtlicher Parteigliederungen. Die Labour Party war in ihrer gesamten Geschichte regelmäßig mit Richtungs- und Flügelkämpfen beschäftigt. Die Fronten verliefen regelmäßig zwischen gemäßigt sozialdemokratisch orientierten Mehrheiten und kommunistischen bzw. sozialistischen innerparteilichen Minderheiten. Zuweilen führten sie sogar zu Parteiabspaltungen, wie die der ILP.788 Seit den 1960er Jahren existierte die Militant (oder auch Militant Tendency genannt) als eine trotzkistische Suborganisation in der Labour Party. Besonders stark war die Militant Tendency in Liverpool, wo es ihr gelang, die Wahlkreisorganisation mit ihrem Personal und ihrer Programmatik weitgehend zu übernehmen. Die gesamte Vereinigung verfügte zu diesem Zeitpunkt landesweit über 4.300 Mitglieder.789 In den 1980er Jahren eskalierte die Situation. So wurde im Jahre 1982 bekannt, dass die Militant Tendency über ein illegales Budget verfügte. Daraufhin wurde die affiliation der Organisation mit der Labour Party als nach der Parteisatzung unvereinbar erklärt. Es handele sich um eine Partei in der Partei mit eigenem „Programme, Principles and Policy for separate and distinctive propaganda“, was sie nach der damaligen cl. III. 3. der Parteisatzung unvereinbar mit einer kollektiven Mitgliedschaft machte.790 Erste Ausschlüsse von individuellen Parteimitgliedern, die der Militant Tendency angehörten, erfolgten bereits im Jahr 1982. Da die Militant Tendency auch die Fraktion im Liverpool City Council zwischen 1983 und 1987 dominierte und hier eine Fundamentalopposition zu den Umstrukturierungen öffentlicher Haushalte sowie der britischen Industrie durch die konservative Regierung unter Premierministerin Thatcher betrieb (da hiervon die alte Industriestadt Liverpool in besonderem Maße betroffen war) und dies äußerst medienwirksam geschah, wurde der damalige Labour-Parteiführer Neil Kinnock gegen die Gruppierung auf dem nationalen Parteitag 1985 aktiv. Dort hielt er eine vielbeachtete Rede für den Ausschluss der Bewegung und Mitglieder aus der Partei. Im Jahr 1986 folgte schließlich eine Welle von Parteiausschlussverfahren gegen die zentralen Führungspersonen der Partei, unter ihnen Derek Hatton.791 In der Folge wurden auch 787
Shaw, Discipline and Discord, passim, widmet der Militant Tendency ein ganzes Werk und geht dabei auch auf die juristischen Probleme der Fälle ein. Ein kurzer Hinweis, ebenfalls unter Beachtung der juristischen Dimension findet sich bei Garner/Kelly, British Political Parties, S. 135 m. w. N. insb. auf Shaw, aber auch auf einzelne andere Autoren. 788 Siehe für die Entwicklungen der Flügelkämpfe in der Labour Party etwa McKenzie, Parteien in England, S. 316: „Die Ortsgruppen in den Wahlkreisen wurden der Brennpunkt des militanten Sozialismus – sie wurden auch mehr als einmal ein Pfahl im Fleisch der Fraktionsführer, aber niemals bildeten sie ein so geschlossenes Ganzes, niemals eine so militante Minderheitsfaktion, wie es die ILP zur Zeit ihres stärksten Einflusses gewesen war.“ Zur ILP und zur Abspaltung der British Socialist Party von der ILP siehe a. a. O., S. 242 ff., 270. 789 Crick, March of Militant, S. 315. 790 Vgl. die zitierte Klausel bei Shaw, Labour Party and the Militant Tendency, P.A. 1989, S. 180 (182) m. w. N. 791 Er war eines der wohl bekanntesten Mitglieder der Militant Tendency. Vgl. hierzu die Übersicht unter dem Titel 1986: Labour Expels Militant Hatton, BBC Home (Internetquelle).
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Militant Tendency-Mitglieder in anderen Wahlkreisen, darunter in Ipswich, von der Partei ausgeschlossen. Der Fall der Militant Tendency ist aus drei Gründen für eine juristische Untersuchung von gesteigertem Interesse: Anders als frühere Abspaltungen der Partei hatte die Militant Tendency zum einen in ihren Hochzeiten in den 1980er Jahren einen nicht zu unterschätzenden elektoralen Rückhalt. Dies wurde durch Wahlen von der Militant Tendency zugehörigen Abgeordneten und Stadträten (u. a. die Fraktion in größeren Städten wie Liverpool und Ipswich) dokumentiert.792 Zum anderen erfolgten die Parteiausschlüsse nach den wegweisenden Urteilen in den Rechtssachen John v Rees und Lewis v Heffer, welche für die Labour Party insbesondere die Pflicht zur Beachtung des fairen Verfahrens bei Disziplinarmaßnahmen festlegten.793 Danach waren Maßnahmen nicht mehr so einfach zu ergreifen, wie es McKenzie noch 1955 für die Partei notierte, als er schrieb: „Labour appears to lean towards a dangerously rigorous conception of party discipline.“794 Schließlich zwangen die ergangenen Urteile und der parteiinterne Druck durch die massive Unterstützung dieser innerparteilichen Option die Labour Party zu einer umfassenden Änderung ihrer Parteisatzung. Unter diesen Gesichtspunkten sind daher die ergangenen Gerichtsentscheidungen zu betrachten. In einem Fall aus dem September 1986 drohte den Klägern, den Eheleuten Teresa und Roger Mackay, die aktive Mitglieder der CLP in Ipswich waren, der Ausschluss aus der lokalen (und damit automatisch aus der nationalen) Parteiorganisation wegen Mitgliedschaft in der Militant Tendency. Die entsprechende Rechtsgrundlage fand die Partei in der vormaligen „Clause II(4) of the constitution of the Labour Party,“795 die wortgleich mit der entsprechenden Klausel der Wahlkreisvereinigung war. Dieser zufolge war
792 Taaffe/Mulhearn, Liverpool, S. 82, 94, 136: „In 1982 Labour got 54,000 votes in the city, in 1983 77,000 votes, and in 1984 this soared to over 90,000. In 33 of the 34 contested seats Labour’s vote increased. Labour held all 14 seats it was defending and seven seats were won from the Tories.“ 793 Hierzu notiert Shaw, Labour Party and the Militant Tendency, P.A. 1989, S. 180 (184): „Much to its surprise, the NEC was advised by its lawyers that Militant had a strong case – something which it ought to have been aware of since the important precedent of the Pembroke High Court judgement in 1969. This had stipulated that, in the exercise of its disciplinary powers, the NEC must always act in conformity with natural justice. This entailed granting defendants the rights to receive and comment upon specific charges, to examine the evidence upon which they were based, and to a full and impartial hearing – all of which had been denied to Militant. The Pembroke judgement (confirmed by an Appeals Court ruling in 1977) was not an isolated case but reflected an important shift in judicial thinking – a greater disposition to intervene in voluntary organisations to protect their members against what could be construed as unfair or arbitrary disciplinary practices.“ 794 McKenzie, British Political Parties, S. 643. 795 Zitiert nach Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ.
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„one of the requirements of individual membership of the party […] that the individual is not a member of a political party or an organisation ancillary or subsidiary thereto declared by the annual conference of the party or by the National Executive Committee in pursuance of conference decisions to be ineligible for affiliation to the Labour Party.“796
Eine entsprechende Klausel findet sich im Übrigen bis heute, vom Wortlaut her unverändert, im Rule Book der Labour Party.797 Diese Voraussetzung erfüllte der in Frage stehende Ausschluss, da die Militant Tendency bereits seit 1982 als unvereinbar mit den Zielen der Labour Party galt. Der Ausschluss war damit zunächst hinsichtlich der ultra vires-Kontrolle rechtmäßig. Nicholls LJ hob nochmals hervor, dass sich das Gericht nicht in die inneren Angelegenheiten der Partei einmischen werde, sofern es um die Frage geht „[w]hether that organisation or movement or its aims or its practices are inimical or might be thought to be inimical to the aims and objectives of the Labour Party and its best interests or not“798. Streitig blieb unterdessen, ob das örtliche General Management Committee (Parteivorstand) in Analogie zum NEC die Doppelfunktion des Anklägers und des Richters übernehmen durfte. Denn nach der örtlichen und der nationalen Satzung der Labour Party war ein Untersuchungsteam aus der Mitte des Parteivorstandes zu bilden, welches die behaupteten Verstöße gegen die Parteisatzung untersuchte und die Ergebnisse dem jeweiligen Parteivorstand präsentierte. Schließlich hatten ebendiese Personen des Untersuchungsteams auch über die Disziplinarmaßnahme zu entscheiden. Hiernach ging es um die Problematik der bias (Befangenheit) der Entscheider, was nach den Prinzipien der natural justice verboten ist. Die Pflicht zur Einhaltung der Prinzipien der natural justice, namentlich um „the right to be heard by an unbiased tribunal,“799 wurde in den Entscheidungen John v Rees und Lewis v Heffer für die Labour Party für Disziplinarmaßnahmen ausdrücklich bestätigt. Ausgehend von der Erwägung, dass in einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren die Personalunion von (An-)Kläger und Richter freilich undenkbar wäre, wurde dies nunmehr auch zum Vorwurf durch die hiesigen Kläger gemacht. Für vereinigungsinterne Schiedsgerichte haben die Gerichte seit längerem derartige Konstellationen je nach Fallkonstellation für zulässig erachtet.800 So war diese 796 Zitiert nach Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ, Herv. d. Verf. 797 Heutiger Wortlaut der entsprechenden Klausel, Ch. 2 cl. I. 3. C. Rule Book: „[A]re not members of political parties or organisations ancillary or subsidiary thereto declared by party conference or by the NEC in pursuance of party conference decisions to be ineligible for affiliation to the party.“ 798 Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ. 799 Siehe mit besonderem Bezug zur Labour Party John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (399) – Megarry J: „[T]hree features of natural justice stand out – (1) the right to be heard by an unbiased tribunal; (2) the right to have notice of charges of misconduct; (3) the right to be heard in answer to those charges.“ 800 Leeson v General Council of Medical Education [1890] 43 Ch. D. 366 (CA) (379) – Cotton LJ: „Of course, the rule is very plain that no man can be plaintiff, or prosecutor, in any action, and at the same time sir in judgment to decide in that particular case – either in his own
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Frage auch ein zentraler Gegenstand der Entscheidung in der Sache Dowling & Others v Whitty & Others, die im März desselben Jahres bei dem High Court anhängig war. Bei dieser ging es allerdings um den Ausschluss von Derek Hatton u. a., mithin der Führungspersönlichkeiten der Militant Tendency. Diese sollte nicht durch die lokale Parteivereinigung in Liverpool (welche ja in Kontrolle der Militant Tendency war) erfolgen, sondern unmittelbar durch die nationale Parteiorganisation, das NEC. Bezüglich der Frage entschied Browne-Wilkinson VC für den High Court, dass an ein parteiinternes Schiedsverfahren nicht dieselben Ansprüche gestellt werden können wie an ein ordentliches Gerichtsverfahren. Hinsichtlich der Doppelstellung einiger Mitglieder des NEC der Labour Party urteilte Browne-Wilkinson VC: „Now in this case I am concerned with what is not a court of law or even a quasi-court of law but a domestic tribunal“ und folgerte daraus „[i]t is plainly inappropriate and impossible to require of such domestic tribunal an abstraction from parties and their concerns such as one would expect in a court. Plainly all the members of the NEC, whether they sat on the Inquiry or not, have a very clear knowledge of what is alleged to have been going on and a considerable and close contact with its impact.“801
Gegen eine Beauftragung einiger Mitglieder des Parteivorstandes pro tanto als Untersuchungsteam, das diese Ergebnisse dem gesamten NEC vorstellt und schließlich mit den übrigen Mitgliedern des Parteivorstandes abstimmt, sprach aus Sicht des High Court im Grunde nichts. Dies wendete Nicholls LJ folglich in Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party auch auf den dortigen lokalen Parteivorstand an. Die beiden Fälle unterschieden sich, trotz ihres zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs, in einem entscheidenden Punkt. In der Rechtssache Dowling & Others v Whitty & Others gewährte der High Court den Klägern die beantragte interlocutory injunction gegen das geplante Zusammenkommen des NEC zum Ausschluss der führenden Köpfe der Militant Tendency. Währenddessen wurde der Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung im Fall Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party den Klägern verwehrt. Das Gericht sah es im ersten Fall als einen Verstoß gegen die rule against bias an, dass das Untersuchungsteam des NEC bereits während des Vorverfahrens ein „open mind“802 vermissen und stattdessen eine Vorverurteilung erkennen ließ.803 In dem Fall Mackay & Mackay v Ipswich Labour case, or in any case, where he brings forward the accusation or complaint on which the order is made.“ 801 Dowling & Others v Whitty & Others, 25 March 1986, Official Report, 24 – BrowneWilkinson VC, da unveröffentlicht zitiert nach Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ, Herv. d. Verf. 802 Shaw, Discipline and Discord, S. 273. 803 Dowling & Others v Whitty & Others, 25 March 1986, Official Report, 24 – BrowneWilkinson VC, da unveröffentlicht zitiert nach Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ: „But I think even in a domestic tribunal of that kind it is a minimum requirement that the persons charged should not have a reasonable suspicion or think that there is a real likelihood that the members of the tribunal have made up their minds on the factual issues relating to the person charged.“
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Party dagegen waren die Kläger zu den Sitzungen des örtlichen Parteivorstandes eingeladen und eine Voreingenommenheit erkannten die Richter nicht.804 Allgemein gilt nämlich, dass für die Aufhebung eines Schiedsurteils wegen Voreingenommenheit der bloße Verdacht nicht ausreicht; die Beweislast für das tatsächliche Vorliegen liegt beim klagenden (ehemaligen) Mitglied.805 Schon in dem Urteil Metropolitan Properties Co. Ltd. v Lannon & Others806 entschied Denning LJ, dass das Schiedsgericht aus sich heraus dann nicht entscheiden solle, wenn es „a reasonable suspicion of bias“807 gebe und dies anhand des objektiven Empfängerhorizontes („if right-minded persons would think that“)808 beurteilen solle. Dieses Urteil wiederum wendete Nicholls LJ im vorliegenden Fall auch an. Dies wurde im Übrigen in einem späteren Fall vom Scottish Court of Session bestätigt in dem Verfahren Brown v Executive Committee of the Edinburgh District Labour Party.809 Daneben erkannte der High Court bei dem versuchten Ausschluss der Mitglieder der Militant Tendency durch das NEC (Dowling & Others v Whitty & Others) auf weitere Verstöße gegen die natural justice.810 Diese lagen darin begründet, dass das NEC die Mitglieder der Militant Tendency von den innerparteilichen Ermittlungen des Untersuchungsteams ausschloss. Ihnen wurde – in diesem Fall in Ansehung der Komplexität der Vorwürfe notwendig811 – die Teilnahme an Zeugenvernehmungen und eine anwaltliche Vertretung verwehrt.812 804 Mackay & Mackay v Ipswich Labour Party [1986] WL 1255459 – Nicholls LJ: „In the present case I consider that the mere drawing of the disputed inference I have mentioned by the officers in the circumstances I have mentioned is insufficient to establish that in this case there was or could be a reasonable suspicion of bias on the part of the six officers when they took part in the subsequent Executive Committee meetings (which the Mackays were invited to attend) at which that Committee considered what recommendation to make to the General Management Committee. Moreover, of those six, only three voted, so that even wholly discounting the officers’ votes there was still a substantial majority in favour of the resolutions passed. In the particular circumstances of this case in my view no reasonable person would consider that the conduct of the two Executive Committee meetings in question was, by the presence and participation of the six officers, in any way unfair to Mr and Mrs Mackay.“ 805 Vgl. Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 6.14 m. w. N. 806 Metropolitan Properties Co. Ltd. v Lannon & Others [1969] 1 Q.B.D. 577 (599). 807 Metropolitan Properties Co. Ltd. v Lannon & Others [1969] 1 Q.B.D. 577 (599). 808 Metropolitan Properties Co. Ltd. v Lannon & Others [1969] 1 Q.B.D. 577 (599). 809 [1995] S.L.T. 985 (990) – Osborne LJ: „[I]f there are circumstances so affecting a person acting in a judicial capacity as to be calculated to create in the mind of a reasonable man a suspicion concerning that person’s impartiality, those circumstances are themselves sufficient to disqualify, although in fact no bias exists.“ 810 Vgl. nochmals John v Rees [1970] 1 Ch. D. 345 (399) – Megarry J: „[T]he right to have notice of charges of misconduct; […] the right to be heard in answer to those charges.“ 811 Ein uneinschränkbares Recht auf Teilnahme an Zeugenvernehmungen und auf anwaltliche Vertretung gibt es bei Schiedsgerichtsverfahren nicht. Vgl. allgemein Stewart/ Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 6.30 ff., 6.35. Allerdings gilt dies nach dem Urteil des High Court (Browne-Wilkinson VC) für den Fall Dowling & Others v Whitty & Others: „The Vice-Chancellor denied that defendants before a domestic tribunal possessed an absolute right to call or cross-examine witnesses. This was only appropriate in
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bb) Zwischenergebnis: Demokratisierung des Verfahrens zum Parteiausschluss in der Labour Party Es zeigt sich, dass die Gerichtsurteile in mancher Hinsicht einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung von Parteisatzungen haben. So zog die Labour Party explizit813 Lehren aus den Urteilen um den Ausschluss von Militant TendencyMitgliedern und vollzog mit der Verschiebung der Kompetenzen auf das neu eingerichtete NCC im Jahre 1986 nichts weniger als „the most fundamental alteration in Labour’s disciplinary rules since the 1918 constitutional settlement“814. Auch vor dem Hintergrund später ergangener Urteile war dies eine zweckmäßige Entscheidung. Etwa in Brown v Executive Committee of the Edinburgh District Labour Party vom schottischen Scottish Court of Session wurde entschieden, dass eine Disziplinarmaßnahme gerichtlich aufgehoben wird, wenn ein einziges Mitglied des Disziplinarspruchkörpers befangen ist oder der begründete Verdacht dafür besteht.815 Die materiellen Kriterien für einen Ausschluss sind in der Satzung der Labour Party bis heute unverändert. Insgesamt bleiben Eintritt, Austritt und Ausschluss in der Gestaltungsfreiheit der Parteien als unincorporated associations. Besonders einprägsam formulierte dies Lane LJ im Fall Lewis v Heffer: „The courts exist (one hopes) as a last resort for the members of a party or organisation who feel that the only way they can assert their rights inter se is to ask the court to define what those rights are. They do not exist simply to give the kiss of life to some faction which is otherwise not viable.“816
Ewing817 konstatiert für die Ausübung des Rechts einen Parteiausschluss zu vollziehen, dass mangels spezialgesetzlicher und richterrechtlicher Vorgaben „[p]owers of certain circumstances, e. g. where there was a dispute over facts. Similarly, there was no absolute right to legal representation, except where the evidence was of so technical a character as to be beyond the competence of the average layman“. So der High Court (unveröffentlicht) nach Shaw, Discipline and Discord, S. 273 m. w. N. 812 Shaw, Labour Party and the Militant Tendency, P.A. 1989, S. 180 (193 f.); ders., Discipline and Discord, S. 272 ff. 813 Das NEC hielt in einem Bericht im Nachgang zu den Verfahren höchstselbst fest: „As the judgement in the Liverpool case and the injunctions granted against constituency Labour Parties indicate our current rules and procedures themselves fail to meet even basic requirements of natural justice […] revision to the rules and procedures relating to disciplinary matters should be adopted which are comprehensive and radically alter the structure of decisions on disciplinary actions within the party.“ Shaw, Labour Party and the Militant Tendency, P.A. 1989, S. 180 (194) m. w. N. Siehe auch Garner/Kelly, British Political Parties, S. 135. 814 So Shaw, Labour Party and the Militant Tendency, P.A. 1989, S. 180 (195). 815 Brown v Executive Committee of the Edinburgh District Labour Party [1995] S.L.T. 985 (990) – Osborne LJ: „Further, when an allegation of bias is made out against one member of a collective body, that is sufficient to invalidate the decision of the whole body, in my opinion.“ 816 Lewis v Heffer [1978] 1 W.L.R. 1061 (1079) – Lane LJ, Herv. d. Verf. 817 Ewing, Cost of Democracy, S. 67.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
expulsion are often extremely wide“. Mit Blick auf Ch. 2 cl. I. 8. Rule Book der Labour Party bestätigt sich dies,818 da er dem NCC einen weiten Beurteilungsspielraum für den unbestimmten Rechtsbegriff eines act grossly detrimental to the party (etwa: grob parteischädigenden Verhaltens) einräumt. Wie in diesem Abschnitt gesehen, halten sich die Gerichte – bis auf die Grenze der offensichtlich nicht gewahrten reasonableness – in der Subsumtion eines inkriminierten Verhaltens eines Mitglieds unter den ausschlussbegründenden Tatbestand nach der Parteisatzung zurück. Deshalb gilt abschließend: „As political factions grew in size and organization, however, unincorporated status proved suitably flexible. Take that most fundamental of questions: the admission of new people to membership. […]. The reverse is also true: existing members may drop out or, more significantly, be expelled, with relatively little fuss.“819
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl I. Stellung des Parteiführers zwischen Verfassungs-, Wahl-, Parteien- und allgemeinem Vereinsrecht Während sich die Funktion bzw. Stellung des Parteiführers auch aus den Wahlbzw. Parteiengesetzen und Verfassungskonventionalregeln ergibt, ist für die Parteiführerwahl einzig das Parteiinnenrecht entscheidend. Denkt man aber an die politisch mit dem Parteiführeramt untrennbar verbundene Rolle als (Schatten-) Premierminister, wird deutlich, dass die parteiinterne Parteiführerauswahl besonders im Vereinigten Königreich mehr als eine „crucial component“820 des innerparteilichen Demokratieprinzips ist. Da Partei- und Regierungsprogramm821 vom Parteiführer maßgeblich geprägt werden, sind seine Wahl und seine Stellung von fundamentaler Bedeutung für die britische Demokratie an sich.
818 Wortlaut: „No member of the party shall engage in conduct which in the opinion of the NCC is prejudicial, or in any act which in the opinion of the NCC is grossly detrimental to the party.“ 819 Orr, Dualistic Conception of Political Parties, CRISPP 2014, S. 332 (336), Herv. d. Verf. 820 Cross, Party Leadership Selection, in: ders./Katz (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 100 (101). 821 Vgl. die Autorität des Parteiführers in der Conservative Party und der Labour Party zusammengefasst und verglichen bei Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 103. Für einen Vergleich der Wahlmodi der Parteiführerselektion in anglo-amerikanischen politischen Systemen siehe Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 1 ff.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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1. Verfassungsrechtliche Stellung und Funktion des Parteiführers a) Früher keine Vertretungsbefugnis für die Partei in verfassungsrechtlichen Fragen Dass der Parteiführer der Mehrheitsfraktion im House of Commons ist, gilt seit 1902 als Verfassungskonventionalregel. Die Stellung des Parteiführers der stärksten Oppositionsfraktion als Schattenpremierminister und Leader of His/Her Majesty’s Loyal Opposition wurde gesetzlich durch den Ministers of the Crown Act im Jahre 1937 anerkannt. Die verfassungsrechtliche Stellung des Parteiführers wurde früher, losgelöst von seinem Amt als (Schatten-)Premierminister von den Gerichten, nicht einheitlich beurteilt.822 In dem Verfahren R. v Boundary Commission for England, ex parte Foot823 aus dem Jahre 1983 war noch umstritten, ob ein Parteiführer überhaupt seine Partei gerichtlich bzgl. eines wahlrechtlichen Streitgegenstandes vertreten könne. Dies war eine Frage der Erfüllung der Voraussetzungen des locus standi. In diesem Verfahren machten führende Persönlichkeiten der Labour Party, unter ihnen Michael Foot als Labour-Parteiführer, geltend, die Boundary Commission824 habe mit ihren Empfehlungen an die konservative Regierung unter Thatcher zur Umgestaltung von Wahlkreiszuschnitten die Gleichheit der Wahl verletzt.825 Die Kläger trugen vor, die Größe einiger englischer Wahlkreise weiche bei der zu erwartenden Umsetzung der Vorschläge durch die konservative Parlamentsmehrheit zu stark von der mittleren Größe aller Wahlkreise ab. Somit drohten sich auch die Wahlchancen der anderen Parteien, insbesondere der Labour Party, in den betroffenen Wahlkreisen zu verschlechtern. Dies wiederum machte die Labour Party, vertreten durch Michael Foot u. a., als subjektives Recht der Partei geltend. Für die Prüfung dieser verwaltungsrechtlichen Entscheidung im Wege des judicial review war nach der damaligen Order 53 Supreme Court Rules 1981 a. F.826 der Nachweis des sufficient interest in der Zulässigkeit der Klage erforderlich. Im High Court waren Oliver LJ und Webster J uneins hinsichtlich der Frage, ob die Kläger als Vertreter der Labour Party überhaupt Verstöße gegen die Wahl bestimmter Wahlkreise – und zwar nicht ihrer eigenen – geltend machen konnten.
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Vgl. auch Barendt, Constitutional Law, S. 152. [1983] Q.B.D. 600. Eine prägnante Zusammenfassung findet sich bei Alder, Constitutional Law (10. Aufl.), S. 272. 824 Zur Rolle der Boundary Commission bis in die Gegenwart siehe Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 152 ff. 825 Siehe hierzu Sch. 2, r 5 House of Commons (Redistribution of Seats) Act 1949 a. F., der regelte: „The electorate of any constituency shall be as near the electoral quota as is practicable having regard to the foregoing rules.“ Heute geregelt im Parliamentary Constituencies Act 1986. 826 Vgl. s. 31 des Supreme Court Act 1981 i. V. m. Order 53 Supreme Court Rules 1981 a. F. (bis 2009). Für einen Überblick über das judicial review-Verfahren hier nochmals Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 175 ff., 339 ff. 823
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Oliver LJ vertrat in einer dissenting opinion die Auffassung, die Kläger hätten schon keine Klagebefugnis geltend machen können. Die Rechte anderer Parteimitglieder (bzw. Parteikandidaten) könne ein Parteiführer nicht vertreten. Es sei damit zu vergleichen, dass „one taxpayer has no sufficient interest in asking the court to investigate the tax affairs of another taxpayer“, was „equally to groups of taxpayers“ übertragbar sei.827 Webster J hingegen wollte die Problematik des erforderlichen sufficient interest (i. S. einer behaupteten und möglichen subjektiven Rechtsverletzung) in der Klagebefugnis einstweilen unbeantwortet lassen und davon abhängig machen, ob die Kläger in der Hauptsache erfolgreich gewesen wären.828 Dann allerdings hätte das Gericht – zumindest zunächst – ein objektives Rechtsbeanstandungsverfahren ungeachtet einer persönlichen Betroffenheit durchgeführt. In jedem Fall sah der High Court in erster Instanz keine von den (anderen) Klägern geltend gemachte objektive Rechtsverletzung in der Begründetheit. Anschließend beschäftigte sich der von den Klägern um Michael Foot angerufene Court of Appeal ebenso mit der Zulässigkeit der Klage. Donaldson MR stellte die rhetorische Frage in den Raum: „On locus standi, if the leader of a major political party cannot complain, who can?“829 Im Ergebnis folgte der Court of Appeal der Auffassung von Webster J, wonach weder eine subjektive Verletzung klägerischer Rechte noch eine objektive Verletzung des Wahlrechts vorlag, und nahm dies der Frage der Prozessführungsbefugnis vorweg, die als Zulässigkeitskriterium vor der Klärung der materiellen Frage erfolgt wäre und die es folglich nicht mehr zu beantworten galt.830 827 Oliver LJ zitiert in R. v Boundary Commission for England, ex parte Foot [1983] Q.B.D. 600 (610): „Before the Divisional Court counsel for the applicants disclaimed that the proceedings were being brought by the applicants as representing the Labour Party and Oliver L.J. said that he understood that they had no authority so to do.“ 828 Zu beiden Ansichten R. v Boundary Commission for England, ex parte Foot [1983] Q.B.D. 600 (625) – Donaldson MR: „Oliver L.J. expressed the view that in the circumstances of the case as disclosed by the evidence, the applicants had not been shown to have ,a sufficient interest‘ within R.S.C., Ord. 53 to give them a locus standi to make the application. Webster J., however, said that in his view, were they to have succeeded on the merits, the applicants would have established a locus standi.“ 829 R. v Boundary Commission for England, ex parte Foot [1983] Q.B.D. 600 (610) – Donaldson MR. 830 R. v Boundary Commission for England, ex parte Foot [1983] Q.B.D. 600 (627, 634) – Donaldson MR: „[T]he [boundary] commission made it plain that, in addition to maintaining the objections to their case on its essential merits, which [was] […] put forward in the Divisional Court, they would seek to maintain the other submissions relating to locus standi […] which were advanced in that court. Though strict logic might point to the adoption of another order, we prefer to follow the Divisional Court in considering first the applicants’ case on its merits.“ Siehe ferner am Ende der Erwägungen die Ausführungen zur Unbegründetheit der Berufung: „As in our judgment the applicants have not come near to discharging this onus, it follows that the Divisional Court was right to decide that the application failed on its merits. In these circumstances we find it unnecessary to express any opinion on the further questions whether the applicants have a sufficient locus standi to present this application.“
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Diese beiden Urteile zeigen, dass es ein Auseinanderfallen der verfassungskonventionalrechtlichen – und damit politischen – Rolle des Parteiführers sowie seiner materiell-verfassungsrechtlichen und verfassungsprozessualen Stellung gab. Dabei haben die beiden erkennenden Gerichte die vereinsrechtliche Stellung des Parteiführers als Vorstand der Labour Party als Vereinigung unbeachtet gelassen. In den Fällen John v Rees und Lewis v Heffer wurde die Stellung des Parteiführers bzw. Parteivorstandes innerhalb einer unincorporated association bereits gerichtlich bestätigt. Diese Fälle betrafen allerdings innerparteiliche Streitigkeiten. Die nunmehr vom Court of Appeal offen gelassene Antwort auf die Frage der Prozessführungsbefugnis des Parteiführers (i. E. wegen der Ablehnung der von der Partei geltend gemachten Rechtsverletzung in der Begründetheit, die nur verfassungsrechtliche Aspekte beleuchtete) hätte einiges Licht ins Dunkel der Stellung der Parteien als außerparlamentarische Vereinigungen bringen können. Schließlich anerkannten britische Gerichte später, aber noch vor der Kodifikation der Parteien 1998/2000, die Vertretungsbefugnis des Parteiführers. Diese fortan anerkannte Befugnis umfasste insbesondere auch Außenrechtsverhältnisse der Parteien, auch in Gerichtsverfahren um verfassungsrechtliche Fragen. In diesem Zusammenhang sahen sie über die Rechtsformfrage und die daraus resultierende Vertretungsbefugnis brevi manu hinweg.831 b) Gesetzliche Stellung des Parteiführers seit der Verfassungsreform von 1998/2000 Heute ist die Institution des Parteiführeramtes eine condicio sine qua non für die Zubilligung des wahl- und parlamentsrechtlichen Parteienstatus nach dem PPERA 2000.832 Auch seine Vertretungsbefugnis vor Gericht ist durch die verfassungsrechtliche Normierung der (registrierten) Parteien zweifellos gegeben. Dem Parteiführer kommen auch kraft gesetzlicher Zuweisung zentrale Kompetenzen innerhalb der Partei zu. Nach der Regelung der s. 3 A(1) PPERA 2000 (seit 2009) werden nunmehr vier der Kommissare der Electoral Commission von den drei größten Parteien im House of Commons nominiert. Dieses Vorschlagsrecht wiederum spricht der Gesetzgeber dem jeweiligen Parteiführer zu.833 831 Siehe die Rechtssache Goldsmith and the Referendum Party v Bhoyrul [1997] E.M.L.R. 407 Q.B.D. (409) – Buckley J. Zwar ging es um einen zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzanspruch wegen defamation. Es wurde aber entschieden, dass Parteien – wie staatliche Institutionen – tendenziöse Berichterstattung in den Medien zu dulden haben. In dem Verfahren der Liberal Party and Others v United Kingdom [1982] 4 E.H.R.R. 106 (107) ließ der EGMR eine Klage der Partei, vertreten durch den Vorstand, in einer verfassungsrechtlichen Frage (nämlich bzgl. der behaupteten Rechtsverletzung der Gleichheit der Wahl durch das britische Mehrheitswahlrecht) zu. 832 Insofern dieses Amt und der Amtsinhaber bei Registrierung der Partei nachgewiesen werden müssen, vgl. hier nur s. 24(1)(a) PPERA 2000. 833 Nach der Regelung der s. 3 A(1) PPERA 2000 werden (seit 2009) vier der Kommissare der Electoral Commission von den drei größten Parteien im House of Commons nominiert.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Daneben geht der PPERA 2000 grundsätzlich von der Personalunion des Führers der außerparlamentarischen und der parlamentarischen Partei (d. h. der Fraktion im House of Commons) aus, wenngleich er auch die Aufteilung – im Geiste der Parteienorganisationsfreiheit – auf mehrere Personen zulässt, vgl. s 24(1) und (2).834 2. Vereinsrechtliche Stellung: Kollegialvorstand oder elective dictatorship möglich Die interne Stellung des Parteiführers innerhalb einer als unincorporated association organisierten Partei liegt in der Organisationsfreiheit der Partei bzw. ihrer Mitglieder als Vertragspartner.835 Grundsätzlich spricht bei unincorporated associations nichts dagegen, die gesamten Kompetenzen des Vorstands auf einen Amtsträger zu konzentrieren. Der Parteiführer kann demnach sogar der gesamte Vorstand i. S. e. Einpersonenvorstandes sein.836 In einem Verfahren aus dem Jahr 1883 war der Begriff des committee (Vorstand) in der Satzung einer unincorporated association von den Gerichten auszulegen, da in dieser nicht explizit das Erfordernis eines Mehrpersonenvorstandes vertraglich vereinbart war. Das Gericht ging von dem Wortsinn837 aus und erachtete daher im konkreten Fall einen Einpersonenvorstand als zulässig. In einem Fall aus dem Jahr 1989 postulierte Woolf J hingegen eine moderne Interpretation des Komiteebegriffs bei nicht eindeutiger Satzungslage. Danach war
Diese nimmt der jeweilige Parteiführer vor („the registered leader of a qualifying party put forward“). 834 Vgl. s 24(1)(a) PPERA 2000: „For each registered party there shall be a person registered as the party’s leader.“ Subsection 2: „The person registered as a party’s leader must be the overall leader of the party; or where there is no overall leader of the party, a person who is the leader of the party for some particular purpose.“ 835 Vgl. im Hinblick auf die rein fakultativen Hinweise, was eine Satzung hinsichtlich der Kompetenzen des Vorstandes einer unincorporated association beinhalten sollte Stewart/ Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, paras. 5.01, 5.03: „The rules should prescribe a structure for administration of the association, including the constitution of a committee known as a management committee or executive committee to give directions for management of the association.“ Sowie: „It is usual practice for the rules of an association to identify positions of authority for the proper management and regulation of the association’s affairs.“ Vgl. Ewing, Cost of Democracy, S. 247 f. mit Vorschlägen de lege ferenda mit der Überschrift „A Charter of Members’ Rights“ und zur geltenden Rechtslage siehe a. a. O., S. 67: „As a general rule, it is for the parties themselves to determine […] how they are structured and organised, how they develop policy and select candidates, how their leader is to be chosen or elected.“ Gleichfalls Loveland, Constitutional Law, S. 208: „Unlike most other ,democratic countries‘, Britain has no legislation dealing explicitly with such issues as […] the formation of party policy, and the election of party leaders.“ 836 Ausführlich zur Frage der erforderlichen Ämter in der bei der Electoral Commission einzureichenden Satzung s. o. 837 Vgl. unter Bezugnahme auf das im englischen Sprachraum allgemein anerkannte Oxford Dictionary Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 5.01.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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in dem zur Entscheidung vorgelegten Fall die Besetzung des Vorstands als ein Kollegialorgan für erforderlich gehalten worden.838 Für eine generelle Forderung nach Mehrpersonenvorständen in unincorporated associations – und damit eine Erstreckung auf die Parteien – gereichen diese Urteile nicht, da die Gerichte stets nur die jeweilige streitgegenständliche Satzung auslegen. Es bleibt daher bei dem Grundsatz, dass es in der Freiheit einer jeden unincorporated association steht, ihre interorganschaftliche Kompetenzverteilung zu regeln. Wenn also sogar die Möglichkeit besteht, nur einen Einpersonenvorstand zu kreieren, in dem folglich sämtliche Kompetenzen gebündelt sind, so spricht erst recht nichts dagegen, in einem Mehrpersonenparteivorstand dem Parteiführer zentrale Funktionen zuzusprechen.839 Ein Parteiführer kann gar ein elective dictator840 kraft Satzung sein.841
II. Wahl des Parteiführers nach Gesetzesund Verfassungskonventionalrecht 1. Parteiführerwahl: formelles Vereinsrecht und materielles Verfassungsrecht Die Wahl des Parteiführers ist formell gesehen einzig eine Frage des Satzungsrechts, wiewohl innerhalb der Grenzen des Common Law und der Antidiskriminierungsgesetze.842 Trotz dieser Feststellung darf nicht übersehen werden, dass es 838 Re Taurine Co [1883] 25 Ch. D. 118 (CA); R. v Secretary of State for the Environment ex parte Hillingdon [1986] 11 W.L.R. 192 (Q.B.D.) (199) – Woolf J. 839 Wenngleich dies in (anderen) unincorporated associations eher ungewöhnlich ist, vgl. Warburton, Unincorporated Associations, S. 18. 840 Spätestens bei der von Thatcher geführten Regierung in den 1980er Jahren ist in der Politik- und auch der Rechtswissenschaft von einer British Presidency, dem Prime Ministerial Government oder gar einem elective dictatorship die Rede. Vgl. für diese drei Begrifflichkeiten und die dahinterstehenden Konzepte etwa Loveland, Constitutional Law, S. 276 ff.; Barendt, Constitutional Law, S. 113 f.; Brazier, Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 passim; Dickinson, British Constitution, VJHS 2011, S. 177 (181). 841 Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 (321): Parteien haben „über ihre innere Struktur selbst zu entscheiden, so z. B., ob sie eine demokratische oder oligarchische Ordnung wünschen“. Ähnlich auch Morris, Parliamentary Elections, S. 104 ff. im Kontext der Kandidatenaufstellung: „A party may wish to present itself as democratic or open, authoritative or decisive, or meritocratic or aligned with a particular interest […]“, was unter dem britischen Wahlrecht möglich ist. 842 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 20) – Beatson LJ: „Because the nature of the relationship between an unincorporated association and its individual members is governed by the law of contract the proper approach to the interpretation of the constitution and rules is governed by the legal principles as to the interpretation of contracts, and is a matter of law for the court.“ Siehe ebenfalls zum geltenden Recht Loveland, Constitutional Law, S. 208 und aus der älteren Literatur zum Fehlen jeglichen zwingenden Rechts für die innerparteiliche Organisation Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Partei-
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sich bei dem Parteibinnenrecht um materielles Verfassungsrecht handelt.843 Die Parteiführerselektion ist demnach ein Akt „of the utmost constitutional significance.“844 Aus der Erreichung der Gleichheit der Wahl mit der Abschaffung letzter Privilegierungen der oberen Klassen durch den Representation of the People Act 1948 ergaben sich neue verfassungsrechtliche und -politische Bedürfnisse bezüglich der Auswahl des politischen Spitzenpersonals. So wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts in beiden großen Parteien formalisierte Parteiführerwahlverfahren politisch erforderlich.845 Die Labour Party beschloss bereits im Jahre 1957, dass ein LabourPremierminister zuvor zum Parteiführer gewählt sein muss,846 was das alte Verhältnis zwischen den beiden Staats- und Parteiämtern in der politischen Praxis und folglich in der korrespondierenden Verfassungskonventionalregel (bzgl. der Ernennung des Premierministers durch die Krone) umkehrte. Die Festigung dieser Verfassungskonventionalregel erfolgte im Jahr 1965 mit der Formalisierung der Wahl des Parteiführers der Conservative Party. Grund dafür war die in kurzer Zeit mehrfach aufgetretene Situation, dass ein natürlicher Parteiführer, der bis dato ja schlicht stets aus dem erlauchten magic circle erschien, nicht vorhanden war. Die Auswahl eines neuen Premierministers, der kein gewählter Parteiführer war, wurde in dieser Situation von der Krone vorgenommen.847 Zwar kann die Krone – in der Theorie noch immer – jedermann mit der Regierungsbildung beauftragen.848 In der heutigen Verfassungspraxis ist allerdings zu differenzieren enrecht, S. 301 (325). So könnte auch eine Parteiführerwahl bei Diskriminierung von Behinderten – etwa durch Abhaltung eines Parteitages in einer nicht barrierefreien (bzw. nicht für Behinderte zugänglichen) Räumlichkeit – gerichtlich für unwirksam erklärt werden. So die Equality and Human Rights Commission (Hrsg.), Your Rights to Equality from Parliaments, Politicians and Political Parties, S. 13 f. mit ebendiesen Beispielen. 843 Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 385 noch explizit zur Bedeutung des Parteisatzungsrechts: „Since the person appointed by the Sovereign as Prime Minister will, as we have seen, normally be the leader of one or other of the political parties, eligibility for the office of Prime Minister is in practice determined by the election procedures of the parties.“ Auch Brazier, Resignation of John Major, P.L. 1995, S. 513 passim, subsumiert die Abwahl des Parteiführers unter das Verfassungsrecht. Aus der politikwissenschaftlichen Literatur Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 1 ff. 844 Vgl. aus der älteren Literatur Parry, Government, S. 9. 845 Für diese Entwicklung des Parteiführeramtes im 20. Jahrhundert hier nur Brazier, Constitutional Practice, S. 6 ff. 846 Vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution (6. Aufl.), S. 385 zur Bedeutung für die Prärogative der Krone siehe die folgenden Ausführungen. 847 Die Teilnehmer dieses Kreises wurden zuweilen auch men in grey suits genannt, siehe statt vieler Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 (69 f.). 848 Vgl. Brazier, Constitutional Practice, S. 6. Siehe daneben Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 228 mit einer Erklärung der Besonderheit des hung parliament anhand von historischen Wahlausgängen. Die verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Regierungsbildung sind nach Carroll, dass der Krone vier Möglichkeiten verbleiben: sie kann (1) den amtierenden Premierminister weiter in der Regierung belassen, (2) den Führer der größten
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zwischen dem appointment (der Ernennung), das noch immer eine Frage der royal prerogative ist, und der choice (der Auswahl) der in Frage kommenden Personen. Der Formalisierung der Parteiführerwahl in der Conservative Party im Jahre 1965 gingen jene Ereignisse aus den Jahren 1957 und 1963 voraus, die bereits oben erläutert worden sind.849 Seitdem sich im Jahre 1976 erneut eine ähnliche Situation des Rücktritts eines Labour-Parteiführers (Harold Wilson) ergab und die Krone schließlich trotz der evidenten Nachfolge durch Callaghan mit seiner Ernennung zum Premierminister warte, bis die Partei ihn als Parteiführer gewählt hatte, kann diese Verfassungskonventionalregel als endgültig akzeptiert angesehen werden.850 2. Keine anwendbaren spezialgesetzlichen Vorschriften Anders als bei anderen Vereinigungen, wie bei den Gewerkschaften851, unterliegt die Auswahl der Parteiführer auch keiner spezialgesetzlichen Regulierung. Obschon die Vereinsrechtler Stewart, Campbell und Baughen im Kontext der Vorstandswahlen darauf hinweisen, dass „[p]olitical parties must adhere to various statutes including the Elections Act 2001, Electoral Administration Act 2006, and Parliamentary Constituencies Act 1986“852, handelt es sich bei keinem der genannten Gesetze um Eingriffe des Staates in die innere Ordnung der Parteien. Die vorgenannten Gesetze regeln hinsichtlich der Parteien nur die Zulassung von Parteikandidaten für bestimmte Wahlen, die dafür von einer registrierten Partei nominiert werden. Dies geschieht durch in der Parteisatzung auszuweisende Ämter, etwa das des Parteiführers oder des nominating officers nach s. 24(1) PPERA 2000. Unbeschadet dieser gesetzlichen Vorschriften, die nur das Erfordernis für bestimmte auszuweisende und zu besetzende Ämter für das Tätigwerden der Partei im Außenverhältnis festlegen, gilt weiterhin, dass die Parteien in ihrer inneren Organisation keinen besonderen gesetzlichen Vorschriften unterliegen. Dieser Befund wird auch von der parteienund verfassungsrechtlichen Literatur bestätigt.853
Minderheitsfraktion zur Regierungsbildung einladen, (3) wenn nichts davon erfolgreich war, einen anderen Parteiführer hierzu einladen oder (4) das Parlament auflösen und eine Neuwahl ermöglichen. 849 Macmillan selbst äußerte zu dem Kampf um seine Nachfolge, dass er „the customary process of consultation“ über die Parteiführerschaft so breit wie möglich in der Conservative Party führen wollte. Dennoch, so Brazier, Prime Minister, P.L. 1982, S. 395 (395), „the controversy over the methods and the result remain[ed]. Lord Home ,emerged‘.“ Ähnlich bei Webley/Samuels, Public Law, S. 39. 850 Barendt, Constitutional Law, S. 117. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es eine Einschränkung der royal prerogative durch Parteisatzungsrecht nicht geben kann. 851 Die Vorstandswahlen der Gewerkschaften sind geregelt in ss. 46 ff. Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992. 852 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 5.09. 853 Statt vieler dazu Loveland, Constitutional Law, S. 208; Ewing, Cost of Democracy, S. 67.
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3. Achtung der allgemeinen Gesetze, insbesondere des Equality Act 2010 Anwendung auf die Parteiführerauswahl finden freilich die Vorschriften des Equality Act 2010 hinsichtlich Diskriminierungen aufgrund von nach s. 4 des Gesetzes geschützten Merkmalen.854 Eine Privilegierung i. S. e. Ausübung von aktiven wie passiven innerparteilichen Wahlrechten ausschließlich für Mitglieder, die bestimmte ethnische Kriterien erfüllen, ist bspw. für die BNP für eine unzulässige Diskriminierung erklärt worden.855 Für die satzungsrechtlichen Auswahlkriterien bei Parteiführern gilt das grundsätzliche Diskriminierungsverbot nach dem Equality Act 2010 nicht, da es sich um ein political office und nicht um ein public office (dafür gelten ss. 50 ff. Equality Act 2010) handelt, das nach Sch. 6 para. 2 Equality Act 2010 neben Mitgliedschaften in den Volksvertretungen im Vereinigten Königreich alle „office[s] of a registered political party“ ausschließt.856 Damit handelt es sich um zulässige Diskriminierungen, wenn subjektive Voraussetzung bei der Labour Party für die Wählbarkeit als Parteiführer ist, dass jeder Kandidat ein Mitglied des House of Commons sein muss.857 Verfassungsrechtlich ließe sich dies überdies rechtfertigen, da die Krone nach der Verfassungskonventionalregel, die seit 1902 gilt, einen Abgeordneten des House of Commons (bzw. den gewählten Parteiführer seit Einführung der Wahl 1965 durch die Conservative Party) mit der Regierungsbildung beauftragt.858 Diese Frage ist jedoch bislang weder in der britischen Literatur diskutiert noch in der Rechtsprechung entschieden worden.859
854 Der Ausschluss von Parteien vom Anwendungsbereich des Gesetzes für geschlechterspezifische positive Diskriminierungsmaßnahmen bezieht sich indes auf die Aufstellung von Kandidaten für Parlamente und andere öffentliche Ämter, nicht auf die parteiinterne Ämterbesetzung. 855 The Commission for Equality Human Rights v Nicholas Griffin and Others [2010] EWHC 3343 (Admin). 856 Vgl. dazu aus der Literatur Craig, Enforcement, in: Wadham/Ruebain/Robinson/Uppal (Hrsg.), Blackstone’s Guide to the Equality Act 2010, 4.56 ff. 857 Für die Labour Party siehe Ch. 1 cl. VII. 1. A. ii. des Rule Book: „The leader and deputy leader of the party shall be elected or re-elected from among Commons members of the PLP.“ Für die Conservative Party gilt Art. 10 Constitution: „There shall be a Leader of the Party (referred to in this Constitution as ,the Leader‘) drawn from those elected to Parliament.“ 858 Der letzte Premierminister, der Mitglied im House of Lords war, war Lord Salisbury in den Jahren 1895 bis 1902, vgl. Turpin/Tomkins, Government and Constitution, S. 408. 859 Das Verfahren Foster v McNicol betraf die Aufstellung des Amtsinhabers Corbyn für die Wahl des Parteiführers. Diese erfolgte kraft Amtes. Wegen mangelnder Rückendeckung durch die Fraktion im House of Commons und der Labour-Mitglieder im Europäischen Parlament wurde dieses Vorgehen in Frage gestellt. Foskett J würdigte die vorgenannte Klausel des Rule Book (Ch. 1 cl. VII. 1. A. ii.) als Rechtsgrundlage für die angefochtene Entscheidung des NEC zur Zulassung des Amtsinhabers als Kandidat ohne Erfüllung des Quorumserfordernisses an Zustimmung durch die Abgeordneten. Siehe zum Ganzen Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 18 ff.) – Foskett J.
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4. Keine Common Law-Regelungen des Wahlverfahrens: u. a. Zulässigkeit von Online-Wahlen Ein bestimmtes in der jeweiligen Parteisatzung zu statuierendes Wahlverfahren wird ebenso wenig durch das Common Law verlangt. Jede einzelne Modalität wird auch seitens des Richterrechts in die Hände der Parteien gelegt. So ist es in unincorporated associations zulässig, die Wahl durch Handzeichen oder durch Stimmzettel durchzuführen.860 Die Wahl per Akklamation, die auch zulässig ist, eignet sich für eine der großen Parteien mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern (oder zumindest hunderten Delegierten auf dem Wahlparteitag) und ggf. Kampfkandidaturen nur bedingt. Die Wahl erfolgt regelmäßig durch Stimmzettel. Die früher praktizierte Ernennung des konservativen Parteiführers durch den magic circle könnte durchaus als eine Spielart der Akklamationswahl gesehen werden. Mangels gesetzlicher oder richterrechtlicher Einschränkungen für die Parteien wurden in der jüngsten Zeit auch moderne Abstimmungsformen in die Satzungen implementiert. Anders als Gewerkschaften, deren Vorstandswahlverfahren (bspw. schriftliches Wahlverfahren per postalischer Zusendung) gesetzlich festgelegt sind, können die Parteien den allseitig erhobenen Forderungen nach einer Modernisierung und Technisierung der demokratischen Organisationen durch Satzungsänderungen oder Durchführungsbestimmungen für Personenwahlen ohne Weiteres gerecht werden.861 Besondere Relevanz hat dabei das Online-Wahlverfahren gewonnen, das auch bereits stellenweise durchgeführt wurde.862 Die Labour Party hat sich mit der Änderung des Parteiführerwahlrechts in den Procedural Guidelines, die erstmals 2015 in der Praxis angewandt wurden, für Online-Abstimmungen geöffnet. Überdies hat sie gar die Wahlberechtigten aufgefordert, digital ihre Stimme abzugeben, um die Finanzen der Partei zu schonen.863 Auch in der Conservative Party kamen Inter860
Zu den gängigen Arten siehe Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 5.13. f.; Warburton, Unincorporated Associations, S. 26 ff. 861 Vgl. für die Prozesse innerhalb von politischen Parteien und von anderen politischen Vereinigungen Ward/Gibson/Lusoli, Online Participation and Mobilisation in Britain, P.A. 2003, S. 652 passim. Eine Übersicht über die aktuelle Diskussion zur Änderung des Trade Union Labour Relations (Consolidation Act) 1992 für Gewerkschaften ist erhältlich bei Electronic Voting Review Launches for Trade Union Ballots, BBC News, 3. November 2016 (Internetquelle) mit dem Hinweis darauf, dass zahlreiche Vereinigungen – darunter die Conservative Party – Online-Abstimmungen durchführen. Speziell zu den Öffnungen der großen britischen Parteien in den letzten Jahren siehe Chowdhury, Online Voting, Huffington Post v. 10. November 2015 (Internetquelle). Der Speaker des House of Commons hatte eine Kommission zur Zukunft der digitalen Demokratie eingesetzt, die 2015 ihren Bericht präsentierte. Abrufbar unter http://digitaldemocracy.parliament.uk (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 862 Für Gewerkschaften besteht diese Möglichkeit wegen des ausdrücklichen Wortlauts der s. 51(4) Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 nicht, da diese Norm eine postalische Zu- und Rücksendung der Wahlunterlagen verlangt. 863 So auf dem Wahlzettel beschrieben und abgebildet bei Chowdhury, Online Voting, Huffington Post v. 10. November 2015 (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
netabstimmungen zur Anwendung, allerdings bisher nur bei der Wahl des Londoner Bürgermeisterkandidaten 2015.864 Bar der von den Gerichten den Parteien zugesprochenen self-determination865 in Gestaltung ihrer internen Wahlverfahren gilt auch als Maßstab für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Parteiführerwahl (1) die Vereinbarkeit satzungsrechtlicher und anderer Bestimmungen mit dem ultra vires-Prinzip und der natural justice sowie (2) ihre rechtmäßige Einhaltung im Einzelfall sowie (3) die Unzulässigkeit von ouster clauses hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Parteiführerwahlen vor staatlichen Gerichten.866 Letzteres bestätigte der High Court in der Entscheidung Foster v McNicol jüngst erneut. Die Gerichte lesen entsprechende Klauseln – in diesem Fall Ch. 1 Cl. X. 5 Rule Book der Labour Party – so, dass zwar die Entscheidung des zuständigen parteiinternen Gremiums (hier des NEC) auch für Gerichte als abschließend zu betrachten ist. Eine umfassende Recht- und Zweckmäßigkeitskontrolle findet mithin nicht statt. Dennoch überprüft das Gericht die Klausel und ihre Anwendung unter dem Gesichtspunkt der eklatanten Verstöße gegen die korrekte Ermessensausübung (im Falle der Labour Party durch das NEC) und der natural justice-Kriterien.867
III. Wahl und Abwahl des Parteiführers: parteiübergreifende Grundlagen Die in der vereinsrechtlichen Literatur für empfehlenswert befundene Regelung zur zeitlichen Beschränkung der Wahlperiode und von Abwahlverfahren von Vorständen868 ist bei den Führern der politischen Parteien unterschiedlich in den Satzungen geregelt. 1. Parteiführer als Premierminister: keine turnusmäßige Wahl in Regierungszeiten Gemein ist den beiden großen Parteien, die verfassungskonventionalrechtliche Stellung des Premierministers869 auch durch das Parteisatzungsrecht zu sichern. Daher wird zu Regierungszeiten eines Premierministers auf eine verpflichtende, 864 Vgl. die Berichterstattung der BBC unter dem Titel Zac Goldsmith Chosen as Conservative London Mayoral Candidate, BBC News, 2. Oktober 2015 (Internetquelle). 865 Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 48 mit dem Hinweis auf die Entscheidung Foster v McNicol. 866 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 5.22 m. w. N. 867 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 55 ff.) – Foskett J. 868 Stewart/Campbell/Baughen, Unincorporated Associations, para. 5.31. 869 Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 99: „The leader of a majority party who is also Prime Minister wields considerable power and responsibility and may change the course of history.“
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regelmäßige Parteiführerwahl verzichtet.870 Deshalb sind verfassungspolitisch und -rechtlich gesehen die Abwahl und der Rücktritt des als Premierminister amtierenden Parteiführers von Interesse. Sie werfen die Frage auf, ob diese Ämter zwangsläufig in Personalunion ausgeübt werden müssen. So trat der konservative Premierminister und Parteiführer John Major im Jahre 1995 von seinem Amt des Parteiführers zurück, da er das Vertrauen der Abgeordneten (des damaligen parteiinternen Selektorats, dazu noch unten) nicht mehr gegeben sah. Allerdings wählte er diesen Schritt nur dazu, um sich sodann erneut im Amt bestätigen zu lassen. Da er in dieser Zwischenzeit nicht von seiner Premierministerschaft zurücktrat, das Amt des geschäftsführenden Parteiführers jedoch an Ian Lang übertrug, wurde die Conservative Party im House of Commons von der Opposition mit diesem – aus Sicht der Labour Party – verfassungswidrigen Vorgehen konfrontiert. Kurz nach dem Rücktritt, den Major in einer Pressekonferenz seiner Partei, nicht aber im Parlament bekannt gegeben hatte, verlangten aufgebrachte Abgeordnete der Labour Party für diese „constitutional issue which requires […] a statement from the Government“, da „[t]he right hon. Member for Huntingdon (Mr. Major) is the Prime Minister, not just the leader of the Conservative party. We need to know who is running the country, if indeed anybody is doing so.“871
Janet Fookes als Deputy Speaker des Hauses und Mitglied der Conservative Party erwiderte, dass es sich mit dem Premierminister- und Parteiführeramt um „two separate offices“872 handele. Da Major nur von dem Parteiführeramt zurückgetreten sei, beendete sie ihre Ausführungen mit der Feststellung: „Whatever the ins and outs of this, it is not a matter for the Chair.“873 Mithin sei der Rücktritt als Premierminister keine zwangsläufige Konsequenz aus dem Rücktritt als Parteiführer. Diese Auffassung wird auch in der Literatur geteilt.874 Es handelt sich daher bei dem Rücktritt oder der Abwahl eines Parteiführers, der zumindest übergangsweise im Amt des Premierministers verbleibt, nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Rodney Brazier um eine im Kern politische Frage, die nur im Kleide einer verfassungsrechtlichen auftritt.875 Denn die Auswahl und die Annahme des Rücktrittsgesuchs eines Premierministers fallen „as a matter of strict law“876 in die Prärogative der 870 Vgl. nur Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 242 ff.; Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6. 871 HC Deb 22 June 1995 vol. 262 cc. 508 – 537, hier in concreto in c. 509 der Abgeordnete Andrew Mackinlay, Herv. d. Verf. 872 HC Deb 22 June 1995 vol. 262 c. 508. 873 HC Deb 22 June 1995 vol. 262 c. 508. 874 Siehe aus der älteren Literatur Alderman/Smith, Push by Their Parties, P.A. 1990, S. 260 (275 und passim); Alderman, Electing the Leader of the Conservative Party, P.L. 1992, S. 30 (31 f.). Zu John Major speziell Brazier, Resignation of John Major P.L. 1995, S. 513 (523). 875 Brazier, Resignation of John Major, P.L. 1995, S. 513 (524): „But this was a political question, dressed up as a constitutional one.“ 876 Hier nochmals Brazier, Constitutional Practice, S. 13.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Krone und können auch nicht einmal durch parteiinterne (Ab-)Wahl- oder Rücktrittsverfahren eingeschränkt werden. Einzig aus politischer Perspektive betrachtet bleibt es dabei, dass zumindest seit 1965 nicht damit zu rechnen ist, dass die Krone dem Misstrauensvotum einer Parlamentsfraktion gegenüber ihrem eigenen Parteiführer nicht nachkommt.877 In Übereinstimmung mit diesen verfassungsrechtlichen Aspekten kennt die Conservative Party zwar die Möglichkeit des Abwahlverfahrens eines ex officio als (Schatten-)Premierminister agierenden Parteiführers,878 verzichtet aber auf eine wie auch immer geartete turnusgemäße Bestätigung eines Premierministers im Amte des Parteiführers.879 Ähnlich ist dies in der Labour Party. Die beiden großen Parteien rechtfertigten dies bereits seit den 1960er Jahren mit der Stellung der „great strains and pressures of prime-ministerial office“ und mit dem Bedarf „to guarantee stability to a Labour Prime Minister.“880 Der Abgeordnete Nigel Fisher begründete die in der Wahlordnung der Conservative Party von 1965 noch fehlende Möglichkeit der Abwahl eines Parteiführers mit der hergebrachten Überzeugung aus der Tory democracy, dass es bewusst außen vorgelassen wurde, da „it did not occur to anyone […] that a leader who had lost the confidence of a substantial section of the party would wish to continue in office.“881 Zumindest aus politischen Gründen wurde die Möglichkeit der jährlichen Wiederwahl auch in der Conservative Party im Jahre 1975 eingeführt.882 Zudem hat in der 877
In jedem Fall einigten sich die Akteure der Labour Party, Blair und Brown, bei Übergabe des Premierministeramtes im Jahre 2007 darauf, Brown zuerst zum Parteiführer zu wählen und sodann von der Krone zum Premierminister ernennen zu lassen. Dieses Prozedere wurde trotz des politischen und medialen Drucks auf die gesamte Labour Party (aufgrund der Enthüllung der unwahren Behauptungen über irakische Chemiewaffen, die zum Eintritt des Vereinigten Königreichs in den Irakkrieg 2003 führten) eingehalten. Brown selbst formulierte es so, dass er kein „unelected Prime Minister“ sein wolle, der dieses Amt über ein „fix“ (durch ein abgekartetes Spiel) erhalte, und es besser sei, durch die Wahl zum Parteiführer die nötige Legitimation für das Premierministeramt zu erhalten. Nach dem Rücktritt von Blair als Parteiführer wurde Brown ohne Gegenkandidat gewählt und am 24. Juni 2007 zum Parteiführer ernannt. Am 27. Juni 2007 trat Blair als Premierminister zurück, am gleichen Tag wurde Brown das Amt von der Krone angetragen. Zitate nach Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 187 f. m. w. N. 878 Dennoch bekam Thatcher bis zum Jahr 1989 stets ohne Gegenkandidaten das volle Vertrauen der Abgeordneten ausgesprochen. Vgl. Alderman/Smith, Push by Their Parties, P.A. 1990, S. 260 (273). Sie war 1990 die erste Parteiführerin, die durch das Misstrauensvotum aus dem Amt gedrängt wurde, vgl. Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 16. 879 Allerdings kann eine Wiederwahl des Parteiführers und gleichzeitigen Premierministers der Labour Party stattfinden, wenn eine Mehrheit dies auf dem Parteitag in offener Abstimmung verlangt, vgl. Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 243 f. Dies birgt jedoch stets die Gefahr der Beschädigung des eigenen Parteiführers und damit der Wahlchancen der Partei, dazu etwa Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (794 ff.). 880 Zitiert nach Alderman/Smith, Push by Their Parties, P.A. 1990, S. 260 (272). 881 Zitiert nach Alderman/Smith, Push by Their Parties, P.A. 1990, S. 260 (271). 882 Alderman, Revision of Leadership Election Procedures in the Conservative Party, P.A. 1999, S. 260 (261).
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parteienrechtlichen Literatur wie auch der Rechtsprechung die (Ab-)Wahl des Parteiführers in Oppositionszeiten (in der Labour Party) in jüngster Zeit eine größere Relevanz gewonnen, die daher im Folgenden ausführlich berücksichtigt wird. 2. Feste Wahlperiode in der Labour Party in Oppositionszeiten: kein formelles Misstrauensvotum Die Satzung der Labour Party unterscheidet ausdrücklich für die Frage der obligatorischen Wiederwahl nach einer festgelegten Wahlperiode des Parteiführeramtes zwischen Regierungs- und Oppositionszeiten. Nach Ch. 4 cl. II. D. i. Rule Book gilt: „When the PLP is in opposition in the House of Commons, the election of the leader and deputy leader shall take place at each annual session of party conference.“ Dann wiederum ist zu differenzieren nach der Vakanz des Parteiführeramtes. Ist das Amt vor dem jährlichen Parteitag vakant bzw. deutet sich eine solche Vakanz an, so wird die jährliche Wahl automatisch durchgeführt. Anders verhält sich dies bei einem zur Wiederwahl willigen Amtsinhaber. Nach Ch. 4 cl. II. 2. B. ii. ist dann eine jährliche Wahl des Parteiführers auf Antrag möglich, nicht aber zwingend erforderlich. Der Wortlaut dieser Satzungsklausel lautet daher für diesen Fall: „nominations may be sought by potential challengers each year“883. Erforderlich für die Nominierung ist die Unterstützung durch 20 % der Mitglieder der Fraktionen im House of Commons.884 Dabei ist allerdings zu beachten, dass es eine jährliche Wiederwahl eines Amtsinhabers in den Jahren von 1981 bis 2016885 nicht gegeben hat.886 883
Herv d. Verf. Im Rule Book 1994 hieß es an dieser Stelle noch, dass „nomination should be sought on an annual basis“ (Herv. d. Verf.), während das Rule Book 2010 in ähnlicher Weise von shall sprach. Nachweise mit Wortlauten der Klauseln bei Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 63 ff.) – Foskett J. 885 Siehe für die Zeit von 1983 bis 2007 nur Quinn, Electing and Ejecting, S. 63 f. Der High Court betrachtete sowohl die geschriebene als auch die gelebte Satzung der Labour Party in dem Verfahren Foster v McNicol, als der Amtsinhaber Corbyn sich nach einem Misstrauensvotum der Wiederwahl nach einem Jahr im Amte stellen sollte. Im Lichte des fehlenden formalen Verfahrens (mit Ausnahme des 20-%-Erfordernisses für eine Nominierung eines Herausforderers als Eingangsvoraussetzung) sah er keine Verpflichtung für die Durchführung einer jährlichen Parteiführerwahl, mithin die Entscheidung des NEC eine solche durchzuführen als fakultativ an. 886 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 69 f.) – Foskett J.: „There does, therefore, seem to be an established practice for what happens when there is no vacancy and no challenge to the Leader.“ Ferner bestätigend zum Vortrag des Vertreters der Partei: „In practice, in years when the Party is in opposition and no vacancy arises, no ,election‘, in the sense of any formal electoral process took place annually at conference or otherwise.“ Und: „There is no formal process by which the incumbent leader and deputy leader are declared re-elected unopposed for a further year at each annual session of Party conference). This means that formal nomination for re-election each year is not required of an incumbent. My understanding of how the Party considers that Rule D is complied with is that the incumbent is deemed, implicitly, to 884
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
3. Keine feste Wahlperiode in der Conservative Party: Vertrauensfrage und Misstrauensvotum möglich Der Conservative Party fehlt eine Beschränkung der Wahlperiode gänzlich (vgl. Art. 10 i. V. m. Sch. 2 Constitution).887 Darüber hinaus gab es von 1965 bis 1975 auch keine satzungsrechtlich statuierte, zumindest auf Antrag mögliche jährliche Wiederwahl. Jedenfalls gab es diese nicht bei einem Amtsinhaber, der willens war, Parteiführer zu bleiben. Im Jahre 1975 wurde wegen der Unzufriedenheit der Fraktion mit der Arbeit des Parteiführers Edward Heath die Pflicht888 zur jährlichen Bestätigung des Parteiführers im Amt durch die Fraktion im House of Commons eingeführt.889 Dies galt nur, wenn ein Herausforderer eine Nominierung einreichte. Andernfalls gilt der Amtsinhaber als gewählt. Von 1975 bis 1989 kam dies kein einziges Mal vor.890 Im Zuge der Satzungsreform von 1998 verabschiedete das 1922 Committee eine Resolution (1922 Committee – Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party)891, wonach 15 % der Mitglieder des 1922 Committee ein Misstrauensvotum beantragen können.892 Gleichsam hat der Parteiführer ohne positive satzungsrechtliche Normierung ipso jure die Möglichkeit, jederzeit die Vertrauensfrage zu stellen. Auch sind anders als bei der regulären Wahl des Parteiführers im Falle einer Vakanz, die seit 1998 ggf. unter Beteiligung aller Parteimitglieder erfolgt, nur die Mitglieder der Fraktion im House of Commons wahlberechtigt.893
be elected unopposed until the next annual session of conference, unless a potential challenger attains the 20 % threshold of support to stand for election.“ 887 Vgl. aus der älteren Literatur Fisher, British Political Parties, S. 40. 888 Dies entspricht in der politischen Bewertung nur einer dispositiven Vorschrift. So Cross, Party Leadership Selection, in: ders./Katz (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 100 (112): „[T]he UK conservative party, which from the 1970 s to 1990 s allowed for an annual leadership contest. Would-be contestants needed only to collect support of two MPs.“ 889 Alderman, Revision of Leadership Election Procedures in the Conservative Party, P.A. 1999, S. 260 (261). Heath wurde umgehend von seiner Herausforderin Thatcher besiegt, die bis 1989 unangefochten die Parteiführerin blieb. 890 Ab 1975 musste dieser Herausforderer durch zwei Parlamentsabgeordnete nominiert werden. Von 1991 bis 1998 wurden 10 % der Fraktionsmitglieder als Quorum verlangt. Thatcher wurde wiederum bei der ersten stattfindenden Wahl von Michael Heseltine im Jahre 1990 herausgefordert. Aus dem zweiten Wahlgang ging Major als neuer Parteiführer hervor. Erst daraufhin trat Thatcher als Premierministerin zurück, vgl. zum Ganzen Quinn, Electing and Ejecting, S. 22 m. w. N. 891 Der Originaltext ist abrufbar unter der Webseite des britischen Parteienforschers Thomas Quinn http://privatewww.essex.ac.uk/~tquinn/leadership_election_rules.htm#CONSERVATI VE_PARTY (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). 892 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 3 f., 7 ff. 893 Quinn, Electing and Ejecting, S. 25 f.; Alderman, Revision of Leadership Election Procedures in the Conservative Party, P.A. 1999, S. 260 (261).
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IV. Mitgliederbeteiligung bei der Parteiführerwahl in der Labour Party und der Conservative Party 1. Labour Party a) Vom Fraktionsvorsitzenden zum Parteiführer: Wahl durch die Abgeordneten Zwei Vorkommnisse brachten die Labour Party zur Anpassung in ihrer inneren Ordnung an die beiden etablierten Parteien. Gewichtigen Einfluss auf die Parteifinanzierung hatte zunächst das Osborne-Urteil.894 Außerdem wuchsen der Stimmenanteil der Partei und die Zahl der gewonnenen Sitze im House of Commons seit 1906 stetig an. Aus beiden Aspekten resultierte jener mit der Liberal Party im Jahre 1911 geschlossene Gladstone-MacDonald-Pakt, der das finanzielle Überleben der Partei durch den Trade Union Act 1913895 sicherte. Zugleich ermöglichte er den gemeinsamen Kampf von Liberal Party und Labour Party gegen die Conservative Party. Bedingung für eine Regierungsfähigkeit der Labour Party war, dass sie sich von der außerparlamentarischen Gewerkschaftsbewegung zu einer fraktions- und parteiführerzentrierten Organisation entwickelte.896 Schon bevor die Labour Party im Jahre 1924 erstmalig in Regierungsverantwortung in einer Koalitionsregierung mit der Liberal Party kam, gab sie sich im Jahr 1918 eine Parteisatzung, die zentrale Fragen ihrer Organisationsstruktur neu regelte. Mithin war es die normative Kraft des Faktischen, die zu den Angleichungen der Organisationsstruktur der Labour Party an diejenigen Strukturen der beiden damals etablierten Parteien führte. In den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Existenz verfügte die Labour Party über kein Parteiführeramt. Seit dem ersten Einzug in das House of Commons wurde von 1906 bis 1921 einzig ein Chairman of the PLP gewählt. Dieser Posten rotierte zwischen seinerzeit prominenten Abgeordneten, sodass niemand als Parteiführer zu betrachten war, der die gesamte Partei in und außerhalb des Parlaments mit voller Autorität führen konnte.897 Dies änderte sich in Vorbereitung auf die Übernahme von Regierungsverantwortung mit der Liberal Party, sodass im Jahre 1922 das Amt des 894
Siehe nur Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956 S. 221 (239). Neben der im Folgenden beschriebenen Etablierung des Amtes des Parteiführers bei der Labour Party führte dieses Gesetz zu anderen parteienrechtlichen Innovationen. Die qua Herkunft bereits finanziell benachteiligten Labour-Abgeordneten wurden nur durch die Gewerkschaften finanziert. Die von den Gewerkschaften gegenüber ihren Mitgliedern eingeforderte politische (Zwangs-)Abgabe an die (parlamentarische) Labour-Partei bzw. einzelne Abgeordnete war vom House of Lords im Fall Amalgamated Society of Railway Servants v Osborne im Jahre 1910 für unzulässig – da ultra vires einer Gewerkschaft – erklärt worden. Sodann wurde diese Form der Finanzierung erneut durch ein gemeinsames Gesetzesvorhaben von Labour Party und Liberal Party mit dem Trade Union Act 1913 legalisiert. 896 McKenzie, Parteien in England, S. 298. Die Anpassung an die britische Verfassung dokumentiert bei: Loewenberg, The British Constitution and the Structure of the Labour Party, APSR 1958, S. 771 passim. 897 Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 101 m. w. N. 895
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Chairman and Leader of the PLP eingeführt wurde. Es handelte sich zwar um einen Parteiführer, jedoch nur der PLP. Satzungsrechtliche Grundlage waren die Standing Orders for the Election of the Officers of the Parliamentary Labour898. Sie sahen vor, dass die Abgeordneten der PLP jährlich nach der parlamentarischen Sommerpause in die Kandidatenaufstellungsphase eintreten konnten. Eine Abstimmung fand nur statt, wenn es zwei Kandidaten aus der PLP gab. Gewählt wurde in diesem Fall nach dem exhaustive ballot-Verfahren, sodass in jedem Wahlgang der Kandidat mit dem niedrigsten Stimmergebnis eliminiert wurde und zwar solange, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte. Diese kodifizierten Regeln wurden durch ungeschriebene politische Konventionen ergänzt, die sich an der verfassungskonventionalrechtlichen Stellung des Premierministers orientierten. Somit fehlte es an einer jährlichen Wahl des Parteiführers in Regierungszeiten. In dieser Zeit wurde ein backbencher zum Chairman, nicht aber zum Parteiführer gewählt. Nur in der Oppositionszeit waren die Ämter des Chairman und das des Parteiführers in Personalunion ausgeübt worden.899 Nach der Parteisatzung wurde ein separater Chairman des NEC auf der jährlichen Parteikonferenz gewählt (vgl. cl. VIII i. V. m. Standing Order 5 Parteisatzung von 1969). Als Parteiführer wäre dieser nicht zu qualifizieren, da es mehr um die organisatorische Leitung der Partei ging als um die personellprogrammatische Führung. Somit blieb der Begriff des Parteiführers dem Chairman der PLP vorbehalten, der überdies Mitglied kraft Amtes im NEC war.900 Das Amt des Chairman der PLP war weiterhin und schon aufgrund der Programmhoheit der außerparlamentarischen Partei nicht so hierarchisch konzipiert, wie man es aus der Conservative Party kannte. Stattdessen sollte der Chairman der PLP im Parlament ein primus inter pares im Geiste der Gleichheits- und Kollegialitätsdogmen der Arbeiterbewegung sein.901 Doch die Bindung des Parteiführers und Premierministers an Parteibeschlüsse kollidierte mit dessen verfassungsrechtlicher Doppelstellung. Seine innerparteiliche Position der verhältnismäßigen Schwäche im Vergleich zum Parteiführer der Conservative Party lag allerdings auch im Wahlmodus. Als von der PLP gewählter Chairman bedurfte er ihres Rückhaltes, nicht der außerparlamentarischen Partei, in deren Vorstand er lediglich kraft Amtes kooptiert
898 Übersichten hierzu bieten Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 101 f.; Punnett, Selecting the Party Leader, S. 85; Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 228 f.; Epstein, Power in British Parties, in: Bogdanor (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 39 (55 ff.). 899 Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 102 m. w. N.; Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6. 900 Wortlaut der cl. VIII. (1) der Parteisatzung von 1969: „The Leader and Deputy Leader of the Parliamentary Labour Party shall be ex-officio members of the National Executive Committee. The National Executive Committee shall […] be the Administrative Authority of the Party.“ Die cl. VIII i. V. m. Standing Order 5 Parteisatzung von 1969 sind abgedruckt bei Lees/ Kimber, in: dies. (Hrsg.), Political Parties, S. 219 ff. 901 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 120.
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war.902 Dies unterschied ihn vom Parteiführer der Conservative Party, der nicht einmal formal gewählt wurde. In der politischen Realität allerdings war dies nicht von entscheidender Bedeutung. Mag der parteisatzungsrechtlich bereits institutionalisierte Wahlmodus des Parteiführers der Labour Party demnach prima vista demokratischer erscheinen und damit ein Stück weit die politische Tradition des unumstrittenen Parteiführers konterkarieren, so ist zu vermerken, dass von 1922 bis 1949 nur zwei Wahlen stattfanden. Gemäß den ungeschriebenen Regeln der britischen Parteiendemokratie waren nämlich die Kandidaturen oftmals nach dem ersten Wahlgang freiwillig zurückgezogen worden, auch wenn kein Kandidat die erforderliche Mehrheit erreichte. Bis in die 1960 Jahre gab es nach dem ersten Wahlgang jeweils nur noch einen verbliebenen Kandidaten.903 Dies war im gleichen Zeitraum bei der Conservative Party ebenso. Eine Wahl entfiel in dem Zeitraum somit in beiden Parteien. Dies gilt ungeachtet der unterschiedlichen Kodifikationsebenen der Parteiführerwahl. Es handelte sich um ein Ergebnis der unkodifizierten Regeln und politischen Traditionen, die sich aus der verfassungsrechtlichen Stellung des Premierministers für eine jede britische Partei ergaben. Insoweit wurde auch durch die Labour Party den Konventionen der britischen Verfassung entsprochen: Hiernach wurde die personalpolitische Debatte in der PLP geführt und somit ein nach außen hin starker Parteiführer nominiert und von derselben gewählt. So erklärt sich auch, dass beide Parteien zwischen 1922 und 1956 nur je vier Parteiführer hatten. Thomas Oppermann kommt zu dem Schluss, dass durch die erste Regierungsteilhabe im Jahr 1924 „heute der Labour Leader in seiner Partei eine annähernd vergleichbare Autoritätsstellung einnimmt wie sein Gegenspieler auf der konservativen Seite. Diese Beobachtung ist ein interessantes Beispiel für den Umfang, in dem der festgestellte hierarchische Charakter der britischen Parteien sich weniger aus der innerparteilichen Entwicklung herleitet, als vielmehr Produkt des Zweiparteiensystems und so in mittelbarem Sinne der Wahlordnung ist.“904 902 Siehe McKenzie, Parteien in England, S. 202; Russell, Building New Labour, S. 62 m. w. N. Heute ist dies – allerdings in umgekehrter Konstellation – der Fall, vgl. Ch. 1 cl. VII. 1. A. i. Rule Book: „There shall be a leader and deputy leader of the party who shall, exofficio, be leader and deputy leader of the PLP.“ 903 Vgl. McKenzie, Parteien in England, S. 202; Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 102 m. w. N. 904 Oppermann, Unterhauswahlrecht, S. 121. Vgl. dazu die Entwicklungen im späten 20. Jahrhundert: Bei der Ausweitung des Wahlrechts für die Wahl des Parteiführers auf die außerparlamentarische Partei war dieses Mal die Labour Party im Jahr 1981 die erste dieser beiden Parteien. Die Conservative Party führte erst 1998 eine Parteiführerwahl unter – möglicher – Beteiligung der außerparlamentarischen Parteiorganisation ein. Dies kann als Bestätigung der These von Oppermann gesehen werden, da auch hier die Motivation zur Reform in der Conservative Party nicht intrinsisch aus der Partei selbst kam, sondern extrinsisch durch die Konkurrenzsituation zur Labour Party und zu den Liberal Democrats. Siehe etwa Carroll, Constitutional and Administrative Law, S. 228; Drucker, Intra-Party Democracy in Action, P.A. 1983, S. 283 passim.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
b) Wahl des Parteiführers zwischen 1981 und 2014: Parteimitglieder im Electoral College Im Jahr 1981 beschloss der Parteitag der Labour Party die Einführung eines neuen Wahlmodus.905 Wichtigste Änderung für Status und Funktion des Parteiführers war, dass er nunmehr veritabler Vorsitzender der Parlamentsfraktion und der außerparlamentarischen Massenorganisation wurde (vgl. cl. VI. (1) Rule Book der Labour Party906). In Bezug auf die Mitgliederbeteiligung war auch hier der Weg hin zur Mitgliederpartei normativ beschritten worden, indem die Wahl fortan durch das sog. Electoral College erfolgte. Dieses bestand gemäß cl. VI. (2) i. V. m. Standing Orders No. 5 r. 5907 aus drei sections. Sie setzten sich zunächst zu 30 % aus den Abgeordneten des House of Commons, zu 30 % aus den Wahlkreisvereinigungen und zu 40 % aus den Gewerkschafts- und sozialistischen Vereinigungsdelegierten zusammen. Die Gewerkschaften und sozialistischen Verbände (aber auch die Wahlkreisvereinigungen) konnten ihre Stimmen als block vote abgeben. Die Mehrheit der Delegierten innerhalb einer Gewerkschaft bestimmte darüber, welchem Kandidaten die der jeweiligen Gewerkschaft zustehenden Stimmen im Electoral College zugutekamen. Dabei galt, je mehr Mitglieder eine Gewerkschaft hatte, desto höher war ihr Anteil an dem Drittel ihrer Sektion (eine Stimme je 1.000 Mitglieder). Für die Wahlkreisvereinigungen galt in ihrer Sektion hingegen, dass jeder Vereinigung bar ihrer Mitgliederanzahl nur je eine Stimme zustand.908 Da es anders als für die Wahlkreisvereinigungen, die zwar auch keine Urwahl ihrer Mitglieder, aber eine Entscheidung des örtlichen Parteivorstandes durchführen mussten,909 keine Vorgaben für die interne Entscheidung der Gewerkschaften gab, lag die Entscheidung über die Verteilung der Stimmen einer Gewerkschaft nicht selten in den Händen der Gewerkschaftsvorstände.910 Diese konnten die Wahl des Parteiführers de facto bereits 905 Epstein, Power in British Parties, in: Bogdanor (Hrsg.), Parties and Democracy, S. 39 (55). Die im Jahre 1981 geänderte Satzung ist abgedruckt bei Brazier, Constitutional Texts, S. 10 ff. Die ab 1993 gültige Version in Brazier, Constitutional Practice, S. 306 ff. 906 Stand 1994. Wortlaut der Klausel: „There shall be a leader and a deputy leader of the Labour Party who shall be ex-officio leader and deputy leader of the Parliamentary Party“, Herv. i. O., abgedruckt in Brazier, Constitutional Practice, S. 306. 907 Vgl. erneut den Wortlaut der Klauseln bis 1993 bei Brazier, Constitutional Texts, S. 10 ff. Zum Electoral Collage in Satzungsrecht und Satzungspraxis siehe Quinn, Electing and Ejecting, S. 57 ff.; Russell, Building New Labour, S. 34 ff. 908 Vgl. Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 106 m. w. N. 909 Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 146 f. m. w. N. Dies wurde allerdings nicht weiter in Partei und Medien kritisiert. Die Kritik entzündete sich vielmehr an den Wahlverfahren in den Gewerkschaften. 910 Siehe dazu Akehurst, Praise Benn, Labour List (Internetquelle): „Their version of the Electoral College gave 40 % of the vote not to ordinary trade unionists but to be cast as block votes by union General Secretaries (so the outcome of leadership elections in the 1980 s was determined by union endorsements before nominations had even opened).“ Aus der Literatur hierzu Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (794) m. w. N.; vgl. zu diesen Vorwürfen bei der Parteiführerwahl 1992 Alderman/Carter, Leadership Elections of 1992, P.A. 1993, S. 49 (61 f.).
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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massiv beeinflussen, indem sich insbesondere mitgliederstarke Gewerkschaften auf einen Kandidaten festlegten, bevor es zur Wahl im Electoral College kam.911 Im Übrigen erfolgte die Parteiführerwahl im Electoral College durch ein exhaustive ballot-Wahlverfahren, wie es bereits seit 1922 praktiziert wurde. Im Jahre 1993 entschied der Parteitag auf Vorschlag des neuen Parteiführers, John Smith, die Wahlprozedere weiter zu demokratisieren.912 Dem waren heftige Kontroversen zwischen den Flügeln der Partei seit den 1980er Jahren vorausgegangen. Seitens der PLP war immer wieder der Einwand erhoben worden, die Parteiführerauswahl müsse wieder eine Frage der Fraktion sein; nicht zuletzt wegen der Stellung als (Schatten-)Premierminister. Die Gründung der Social Democratic Party im Jahre 1981, die später mit der Liberal Party zu den heutigen Liberal Democrats fusionierte, war eine direkte Konsequenz aus der Einführung des Electoral College. Führende Parlamentarier der Labour Party sahen sich bereits 1981 durch linke Kräfte der außerparlamentarischen Labour Party-Organisation bedroht, da „the voice of MPs in the selection of leader was reduced to a mere 30 per cent of the total, the chance of choosing someone from the centre-right of the party would be virtually nil and their minority status would become permanent“.913
In Ansehung der elektoralen Misserfolge in der Thatcher-Ära und ständig sinkender Mitgliederzahlen sah sich die Labour Party aber gezwungen, interne Reformen durchzuführen. Diese liefen auch und gerade auf eine Stärkung der außerparlamentarischen Partei hinaus.914 In jedem Fall musste ein Ausgleich zwischen den Interessen der individuellen Mitglieder in den Wahlkreisvereinigungen, den Abgeordneten in der PLP und den immer noch mitgliederstarken Gewerkschaften gefunden werden. Folglich ergingen wesentliche Veränderungen in dem Standing Orders No. 5915 zugunsten der Mitglieder der party on the ground. Die Stimmen im Electoral College wurden fortan zu je einem Drittel gleichgewichtet und das one man one vote-Prinzip eingeführt. Mit letzterem wurde damit der Block vote der Gewerkschaften abge911
Zu den unterschiedlichen Wahlverfahren in den einzelnen Gewerkschaften siehe Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 147 m. w. N. Darunter befanden sich Briefurwahlen, Präsenzwahlen in Arbeitsstätten, aber auch reine consultation ballots ohne Bindungswirkung für die Gewerkschaftsdelegierten. 912 Jack Straw, damals Mitglied des Schattenkabinetts, war vielmehr der Ansicht, die Wahl des Parteiführers gehöre wieder zurück in die Hände der PLP, so in Fabian Review, 104, no. 5, 1992, S. 9 f., zitiert nach Alderman, Electing the Leader of the Labour Party, P.L. 1994, S. 17 (17). Interessanterweise wurde Straw später Blairs Innenminister und sprach sich für eine breite Demokratisierung innerparteilicher und staatlicher Entscheidungsprozesse aus. Vgl. Straw, New Labour, P.A. 2010, S. 356 passim. 913 So Cronin, New Labour’s Past, S. 221, Herv. d. Verf. Ähnlich bei Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 82 ff. 914 Vgl. Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 107 f. m. w. N. 915 Siehe die geänderte Standing Order No. 5 r 5(2)(a),(b), abgedruckt bei Brazier, Constitutional Practice, S. 307 f.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
schafft, sodass sie ihre politisch-traditionelle und auch satzungsrechtlich abgesicherte Vormachtstellung in der Partei einbüßten.916 Die Wahl innerhalb der Gewerkschaften wurde dadurch demokratisiert, dass nunmehr auch die Gewerkschaftsmitglieder nach dem one man one vote-Prinzip abstimmen mussten.917 Für die Zulassung eines nominierten Kandidaten bedurfte es statt der 5 %, wie sie von 1981 bis 1993 erforderlich waren,918 nunmehr 12,5 % Zustimmung der Abgeordneten der PLP, wenn der Parteiführerposten vakant war. Dagegen waren 20 % sowie eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der außerparlamentarischen Parteiorganisation erforderlich, wenn es eine Kampfkandidatur gegen einen Amtsinhaber war.919 Dies war eine Konzession an die Labour-Abgeordneten, welche zu häufige Wahlen und unseriöse oder gar schädliche Kandidaturen insbesondere durch Vertreter der sozialistischen Parteilinken befürchteten. So habe auch das zuvor niedrige Unterstützerquorum von 5 % der PLP-Mitglieder das Potenzial gehabt, eine Spaltung der Fraktion herbeizuführen.920 Seit der darauffolgenden Parteiführerwahl im Jahr 1994 wird der Wahlmodus des Alternative Vote System genutzt. Hiernach musste im ersten Wahlgang der erfolgreiche Kandidat eine absolute Mehrheit aus den drei Sektionen erhalten. Erreichte dies kein Kandidat, so wurde jeweils der schwächste Kandidat in den folgenden Wahlgängen eliminiert, seine Stimmen auf die übrig gebliebenen Kandidaten verteilt, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte. Erster so gewählter Parteiführer war Blair.921
916
Vgl. Alderman, Electing the Leader of the Labour Party, P.L. 1994, S. 17 (17). Nochmals zur satzungsrechtlichen Normierung die geänderte Standing Order No. 5 r 5(2)(a),(b) zitiert in Brazier, Constitutional Practice, S. 307 f. Aus der Literatur hierzu Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 108 f.; Alderman/Carter, Leadership Elections of 1992, P.A. 1993, S. 49 (61 f.). 918 So Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (799) m. w. N. 919 Siehe einen Abdruck der „Labour Party Amender Rule 5–Election of Leader and Deputy Leader“ in Alderman, Electing the Leader of the Labour Party, P.L. 1994, S. 17 (24), hier r 5(1)(b),(c): „In the case of a vacancy for Leader or Deputy Leader each nomination must be supported by 12.5 per cent of the Commons members of the Parliamentary Labour Party. Nominations not attaining this threshold shall be null and void.“ Und: „In the case where there is no vacancy, nominations should also be sought on an annual basis. Each nomination must be supported by 20 per cent of the Commons members of the Parliamentary Labour Party to be valid. Nominations not attaining this threshold shall be null and void.“ Vgl. Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 passim. Der Amtsinhaber musste und muss das Zustimmungserfordernis nach den heutigen satzungsrechtlichen Regelungen wie nach den vormaligen Regelungen seit 1981 nicht erfüllen, vgl. Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 47, 60 ff.) – Foskett J. 920 Siehe hierzu eingehend Quinn, Modernising the Labour Party, S. 125. 921 Zur Wahl Blairs durch das Electoral College siehe Russell, Building New Labour, S. 56 ff. 917
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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c) Wahl des Parteiführers seit 2015: one member one vote-Prinzip aa) Satzungsreform 2014: Attraktivitätssteigerung der Partei für Mitglieder und Wähler Die unter dem Parteiführer Ed Miliband durchgeführte Satzungsreform im Jahr 2014 implementierte zentrale Punkte des Berichts des damaligen Generalsekretärs der Partei, Ray Collins (Baron Collins), in die Parteistatuten.922 Nach der Wahlniederlage von 2010 setzte die Partei unter ihrer neuen Führung eine Modernisierung der demokratischen Strukturen im Land auf ihre Agenda.923 Für die Labour Party selbst lag ein Fokus auf den Stopp bzw. die Umkehr des Mitgliederverlusts. Dem wollte die Parteiführung u. a. durch die Öffnung parteiinterner Entscheidungsprozesse begegnen.924 In diesem Zusammenhang enthielt der Collins-Bericht als eine wesentliche Neuerung der Partei die direktdemokratische Parteiführerwahl. Alle Arten von ordentlichen Mitgliedern, auch die außerordentlichen registered und affiliated supporter, sollten nach dem one member one vote-Prinzip künftig direkt über die Führung der Partei bestimmen können, ohne dass es eines die Stimmen gewichtenden Electoral College bedurfte. Die Labour Party bediente sich dazu der Erfahrungen der französischen Parti Socialiste, die zur Nominierung ihres Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2011 bereits Primaries durchgeführt und dabei eine neue Form einer außerordentlichen, unterstützenden Mitgliedschaft mit einem Beitragserfordernis von 1 E genutzt hatte.925 Im Jahr 2014 nahm der Parteitag der Labour Party die Vorschläge des CollinsBerichts in diesen Punkten unverändert an.926 Zuvor schon war in der von Miliband im Jahre 2011 initiierten Satzungsänderung bereits die Teilnahme der registered 922 Zur Entwicklung der Labour Party seit 2010 unter Ed Miliband und den Collins-Bericht siehe Bale, Five Year Mission, passim, S. 215 ff. Der Bericht ist verfügbar unter http://action.la bour.org.uk/page/-/Collins_Report_Party_Reform.pdf?source=14_02_06CollinsReport_Delega tes&subsource=labour_email&utm_medium=email&utm_source=labourUK&utm_campa ign=14_02_06_CollinsReport_Delegates (letzter Abruf: 10. Oktober 2018); mit Blick auf die Parteiführerwahlen siehe die Ausführungen von Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6 m. w. N.; Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (117); Gauja, Party Reform, S. 32 ff. 923 Die Parteireform stand unter dem Motto: „Building a One Nation Labour Party“, vgl. aus der Literatur Gauja, Party Reform, S. 32 ff. 924 Bale, Five Year Mission, passim. 925 Scarrow, Beyond Party Members, S. 181 ff., 189; Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 6 f. 926 Näheres zur Annahme durch den Parteitag bei Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 4 m. w. N.; Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6 m. w. N.; Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (117).
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supporter in der Parteiführerwahl vorgesehen gewesen. Dies war eine der maßgeblichen Veränderungen in der anvisierten Neuordnung der Beziehung zwischen Partei und Gewerkschaften, sollten doch auch Gewerkschafter als registered supporter und damit Individualparteimitglieder gewonnen werden. Jedoch lehnte der Parteitag im Jahr 2011 diesen Vorschlag auf Intervention der Gewerkschaften, die ihre Macht in der Partei schwinden sahen, in letzter Minute ab.927 Stattdessen einigten sich Parteiführung und Gewerkschaftsdelegierte auf einen Kompromiss: Die registered supporter im Electoral College waren als vierte Sektion für die Parteiführerwahl vorgesehen (vgl. Ch. 4 cl. 2. C. iv. Rule Book 2013). Jedoch wäre es unter dem Satzungsregime nach 2011 zu ihrer Beteiligung erst gekommen, wenn ihre Anzahl 50.000 überschritten hätte, was bis vor der neuerlichen Satzungsänderung 2014 nicht der Fall war.928 bb) Beseitigung der Folgen der diversifizierten Mitgliedschaftsformen Mit Erreichung des Ziels der Attraktivitätssteigerung der Partei für potenzielle Mitglieder ging die Legitimierung des Parteiführers durch eine möglichst große Wählerschaft einher. Daher wurden nicht nur die registered supporter in die Wahl einbezogen, die ja keine ordentlichen Mitglieder sein, sondern sich nur punktuell in der Labour Party engagieren wollten. Zugleich sollten durch die Direktwahl mehrere Kritikpunkte an der bis dato im Electoral College durchgeführten Wahl korrigiert werden.
927
Bale, Five Year Mission, S. 68 f. Über die erforderliche Mindestzahl von registered supporter entscheidet das NEC. Dieses legte die Zahl auf 50.000 fest, siehe Bale, Five Year Mission, S. 68 f. Das Rule Book mit Stand des Jahres 2013 ist abrufbar unter: http://labourlist.org/wp-content/uploads/2013/04/RuleBook-2013.pdf (letzter Abruf: 10. Oktober 2018). Zur ursprünglichen Bedeutung der registered supporter von 2010 bis 2014 vgl. die Ausführungen des Generalsekretärs der Labour Party Ian McNicol in der Sache Evangelou v McNicol ([2016] EWHC 2058 (QB) (para. 28) – Hickinbottom J: „In 2010, the Party introduced a new category of ,registered supporters‘, with less than full membership, who would nevertheless have their own section of the leadership electoral college once their numbers reached 50,000. Mr McNicol explains (in paragraph 19 of his First Statement dated 29 July 2016) that the principal purpose behind the creation of the new category was ,to encourage people to manifest their support for particular aspects of Labour Party policy, in a way which might eventually lead them to exchange their registered supporter status for full membership‘. There therefore appear to have been two purposes behind this initiative. First, it enabled the Party to identify supporters, with a view to encouraging them into membership. Second, subject to the restrictions of the electoral system and the number trigger, it gave individuals who were not members of the Party or of affiliated trade unions an opportunity to vote in the election of the Party Leader. However, at least until 2015, there were less than 50,000 registered supporters; and so, in the event, they played no part in the selection of a leader through the electoral college.“ 928
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(1) Geringe Wahlbeteiligung der Gewerkschafter: Einführung des sog. double opting-in Als ein Problem der Bindung der Partei an die Gewerkschaften929 identifizierte der Collins-Bericht, dass selbst unter den Gewerkschaftern, die den political levy bezahlten, nicht alle Anhänger der Labour Party seien. Dies führte in der Parteiführerwahl 2010 etwa dazu, dass von 2,7 Millionen Gewerkschaftern, die zur Wahl des Parteiführers berechtigt gewesen wären, nur rund 234.000 von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Von den abgegebenen Gewerkschafterstimmen waren derweil 15 % ungültig, weil die nach der Parteisatzung erforderliche individuelle Erklärung über das Bekenntnis zur Unterstützung der Werte der Labour Party fehlte.930 Die gewerkschaftsinterne Wahlbeteiligung von weniger als 10 % änderte jedoch nichts an dem Gewicht der Gewerkschaften im Electoral College, wo ihnen satzungsrechtlich seit 1993 unverändert ein Drittel der Stimmen im Electoral College zukam. Zur Beseitigung dieses Missstandes wurde die affiliated supporter-Mitgliedschaft als zweite Form der neuen, außerordentlichen individuellen Parteimitgliedschaft eingeführt. Die Gewerkschafter werden damit in der Mitgliederkartei der Partei selbst geführt und Wahlen wie Abstimmungen müssen künftig nicht mehr über die Gewerkschaften organisiert werden. Die affiliated supporter müssen seither, wie oben beschrieben, doppelt einoptieren (double opting-in). Dies verändert auch die Beteiligung der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteiführerwahl. Seither sind nur noch jene Gewerkschaftsmitglieder wahlberechtigt, die drei kumulative Voraussetzungen erfüllen. Erstens müssen sie explizit und schriftlich den Labour PartyPrinzipien gegenüber ihrer Gewerkschaft zustimmen, zweitens müssen sie den political levy an die Gewerkschaft entrichten und drittens als individuelle affiliated supporter der Partei registriert sein. (2) Mehrfachstimme bei Parteiführerwahlen im Electoral College bis 2015 Daneben bestand bis zur Satzungsreform 2014 für Parteimitglieder die Möglichkeit, mehrere Stimmen bei der Parteiführerwahl abgeben zu können. Dieses Mehrfachwahlrecht konnte dadurch erworben werden, dass die Partei nicht nur eine Form der individuellen Mitgliedschaft kennt, sondern auch Gewerkschaftsmitglieder (die den political levy einzahlen) und gewählte Abgeordnete der PLP und der LabourGruppe im Europäischen Parlament gleichermaßen Parteimitglieder sind.931 Auch 929
Siehe auch Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 6 m. w. N. Collins, Labour Party Reform, S. 25. Vgl. zur Pflicht der Abgabe der Erklärung in Ch. 4 cl. 2 C. ii. c. 1. der Parteisatzung von 2013 (noch zum Electoral College): In der Sektion der affiliated member dürfen wählen „those members of affiliated organisations who have indicated their support for the party and that they are not members or supporters of any other party or otherwise ineligible to be members of the party and members of the ALC“. 931 Vgl. die Kritik bei Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 100. Ebenfalls zur Doppelmitgliedschaft schreiben Webb, British Party System, S. 219; Collins, Labour Party Reform, S. 8, 27; Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (118). 930
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diese Situation, die freilich aus wahlrechtlichen Erwägungen (Gleichheit der Wahl)932 als problematisch zu bezeichnen war, wurde durch die Einführung der direkten Mitgliederwahl des Parteiführers nach dem one man one vote-Prinzip beseitigt.933 cc) Parteiführerwahl 2015 als größte britische Online-Wahl: der unerwartete Wahlerfolg von Jeremy Corbyn Die Parteiführerwahl des Jahres 2015 wurde nach Ch. 4 Rule Book 2015934 der Labour Party i. V. m. den vom NEC erlassenen Procedural Guidelines durchgeführt.935 Es war die erste direktdemokratische Parteiführerwahl in der Labour Party, die der britische Parteienforscher Thomas Quinn – im Vergleich zu den seit 1993 und bis dahin durchgeführten Verfahren im Electoral College – als OMOV+ bezeichnet.936 Zähl- und Erfolgswert der Stimmen aller direkt-individuellen Mitglieder waren gegenüber der Wahl durch das Electoral College nunmehr angeglichen. Insbesondere fand keine Gewichtung nach den Sektionen mehr statt.937 Miliband gab am Tag nach den Wahlen zum House of Commons vom 7. Mai 2015 und der dortigen Niederlage der Labour Party seinen Rücktritt vom Amt des Parteiführers bekannt und übergab die Interimsleitung der stellvertretenden Parteiführerin Harriet Harman gemäß Ch. 4 cl. II. 2. E. iv. Rule Book. Das NEC setzte demgemäß am 13. Mai 2015 das Wahlverfahren für die Neuwahlen des Parteiführers und seines Stellvertreters fest. Vom 8. Juni bis zum 15. Juni 2015 nominierte die PLP die Kandidaten. Als Frist für den Eintritt in die Partei (in jeder Form, d. h. der der individuellen, ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedschaft) wurde der 932
Vgl. auch Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 25) – Beatson LJ zum seit 2014 gegebenen gleichen Wert der Stimmen aller Mitglieder bei der Parteiführerwahl. 933 Eingehend dazu Alderman/Carter, Leadership Elections of 1994, P.A. 1995, S. 438 (450 f.) für die Parteiführerwahl 1995: „There were also several specific features which drew media criticism. Adverse comment was attracted by the number of votes MPs and MEPs could cast: most were entitled to vote in all three sections of the Electoral College by virtue of individual party, trade union and socialist society membership as well as their parliamentary status. As a result several MPs publicly urged their colleagues to vote only once. Attracting less public attention, but affecting far more individuals, the fact that many ordinary party members also possessed votes as trade unionists or socialist society members. David Blunkett, party chair for 1994, officially defended the system, but the possibility of such multiple voting exposed the party to embarrassment.“ Für die Zeit bis 2010 vgl. Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 169. 934 Unverändert im Rule Book 2017 geregelt. Die anwendbaren Vorschriften aus dem Jahr 2015 sind abgedruckt in Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 4 ff. 935 Im Anhang dieser Arbeit. 936 Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 6 m. w. N. 937 So die Ch. 4 cl. II. 2. C. viii. Rule Book 2015 expressis verbis: „No person shall be entitled to receive more than one vote. Votes shall be cast by each individual and counted on the basis of one person one vote.“
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12. August 2015 festgelegt. Vom 14. August bis 10. September 2015 konnte die Wahl als Briefwahl online oder postalisch vorgenommen werden. Das Ergebnis der Wahl wurde auf dem Sonderparteitag vom 12. September 2015 bekannt gegeben.938 Anders als bis 2014 setzt die Parteisatzung seit 2015 in Ch. 4 cl. II. 2. B. i. für jeden Kandidaten bei Abhaltung der Wahl aufgrund eines vakanten Parteiführerpostens ein Unterstützerquorum von 15 % (bis dato waren es 12,5 %) durch die Abgeordneten der PLP voraus.939 Dieses wurde leicht erhöht, um die Wahrscheinlichkeit eines für die Abgeordneten als Spitzen der Partei im House of Commons untragbaren, insbesondere kommunistisch bzw. sozialistischen, Kandidaten bei der direktdemokratischen Wahl zu reduzieren.940 Dabei war die Nominierung Corbyns, dem späteren Parteiführer und einem damals dem linken Spektrum der Parteibasis zuzuordnenden backbencher, zunächst nicht von dem erforderlichen Quorum von 35 der 232 Labour-Abgeordneten im House of Commons unterstützt worden.941 Tatsächlich warnten prominente Parteimitglieder wie der vormalige Premierminister Blair vor der Nominierung und Wahl eines Vertreters der Parteilinken, da „Conservatives had much to feel optimistic about“942 für die nächsten Wahlen zum House of Commons. Um aber die parteiinterne Richtungs- und Personaldiskussion auszuweiten,943 die Auswahl zwischen den Kandidaten der verschiedenen Parteiflügel für Neumitglieder interessant zu gestalten und im Sinne einer gelebten innerparteilichen Demokratie einer Massenpartei, wie es Miliband selbst forderte,944 zu
938 Überblicke über den Ablauf der Wahl geben etwa Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (118); Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7 f. m. w. N. 939 Wortlaut der Klausel: „In the case of a vacancy for leader or deputy leader, each nomination must be supported by 15 per cent of the Commons members of the PLP. Nominations not attaining this threshold shall be null and void.“ 940 Vgl. Bale, Five Year Mission, S. 216 f. Die Erreichung des Quorums bereitete folglich dem linken Kandidaten Corbyn im Jahre 2015 Probleme, dazu sogleich. 941 Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (118). Insofern ist in der Literatur von der gate keeping-Funktion der PLP die Rede, vgl. statt vieler Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 6 m. w. N.: „To compensate MPs for this loss of voting power, the nomination threshold was increased to give them more gate-keeping power.“ 942 Wie der konservative Abgeordnete Mark Field urteilt Field, The Best of Times, S. 220. 943 Nach Webb/Bale, No Place Else To Go, in: Haugsgjerd Allern/Bale (Hrsg.), Left-OfCentre Parties and Trade Unions, S. 246 (252): „[T]o broaden the debate.“ So auch Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People ReGenerating Politics, S. 115 (118). 944 Vgl. Milibands „bold vision to mobilise these individuals and build Labour into a mass party, growing our membership from 200,000 to 500,000, 600,000 or more“. So resümiert im Zwischenbericht von Collins aus dem Jahr 2013, zitiert nach Gauja, Party Reform, S. 33 m. w. N.
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handeln, entschieden sich knapp ausreichend Abgeordnete der PLP, Corbyns Kandidatur zu unterstützen.945 Insgesamt waren in der daraufhin durchgeführten Direktwahl ungefähr 552.000 Personen wahlberechtigt. Hiervon waren ungefähr 292.000 ordentliche Parteimitglieder, ca. 148.000 affiliated supporter sowie rund 112.000 registered supporter.946 Die Organisation und Durchführung der Parteiführerwahl nach dem neuen Wahlmodus wurde – wie im Collins-Bericht angeregt947 – durch das NEC an ein Unternehmen vergeben.948 Im Jahr 2015 fand somit in der Labour Party, nicht zuletzt befördert durch die Gewinnung von über Einhunderttausend neuen registered supporter, mit 343.995 online abgegebenen Stimmen949 die bis dahin größte OnlineWahl im Vereinigten Königreich statt.950 Insgesamt wurden 422.644 gültige951 Stimmen abgegeben, wovon im ersten Wahlgang bereits 59,5 % auf Corbyn entfielen. Bei den registered supporters gewann er 83,8 % (absolut: 88.449), bei den affiliated supporters 57,6 % (41.217) und bei den ordentlichen Mitgliedern 49,96 %
945
In der Summe waren es 36, wovon 14 als „geliehene“ Stimmen i. S. d. Votums für die Berücksichtigung aller Labour-Fraktionen und einer Demokratisierung der Parteiführerwahl gelten, so auch bei Quinn, Labour Party’s Leadership Election of 2015, S. 13 m. w. N. Das Erfordernis der Unterstützung einer Nominierung durch die PLP sollte in der Parteiführerwahl 2016 erneut eine Rolle spielen. Allerdings dabei i. H. v. 20 % der Abgeordneten, da es sich – anders als 2015 – um ein Abwahlverfahren eines Amtsinhabers handelte. Hierzu etwa Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (52). 946 Im Vergleich dazu betrug die Zahl der individuellen Parteimitglieder vor Einführung der beiden außerordentlichen Formen im Jahr 2013 noch 190.000, vgl. Gauja, Party Reform, S. 33. 947 Collins, Labour Party Reform, S. 36, für die vorgeschlagene (und später ebenfalls umgesetzte) geschlossene Vorwahl bei der Nominierung des Londoner Bürgermeisterkandidaten, was im Wege einer Online-Wahl geschehen sollte. Für die Parteiführerwahl fehlt der Hinweis auf eine Online-Wahl (a. a. O., S. 26). 948 Procedural Guidelines r. 24 f.: „The National Executive Committee has appointed an independent organisation, ERS, to conduct the One Person One Vote (OPOV) ballot. The party will conduct a ballot of all eligible electors for contested positions using the OPOV process, single round preferential voting system. This ballot will take place by post and secure electronic voting. Details will be contained in the voting package or voting email. Details will be sent to the address or electronic address registered on the National Membership System. During the actual ballot ERS will provide a helpline should an individual member have a problem.“ 949 Diese hatten den größten Anteil an den abgegebenen Stimmen, vgl. Labour Leadership Results in Full, BBC News, 12. September 2015 (Internetquelle): „Turnout among the three categories themselves ranged from 48.5 % for affiliated supporters to 83.5 % for members and highest of all, 93 % for registered voters.“ 950 Vgl. Chowdhury, Online Voting, Huffington Post v. 10. November 2015 (Internetquelle); Labour Leadership Results in Full, BBC News, 12. September 2015 (Internetquelle); Pickard, Momentum and the Movementist ,Corbynistas‘, in: dies./Bessant (Hrsg.), Young People Re-Generating Politics, S. 115 (118) m. w. N. 951 Es gab 207 ungültige Stimmen. Die gesamten Wahlergebnisse finden sich detailliert unter Labour Leadership Results in Full, BBC News, 12. September 2015 (Internetquelle).
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(121.751) der Stimmen.952 Damit hatte Corbyn die absolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen erhalten, die nach Ch. 4 cl. II. 2. C. ix. Rule Book 2015 i. V. m. para. 32 Procedural Guidelines953 für die erfolgreiche Wahl bereits im ersten Wahlgang notwendig war. Im Verlauf von weniger als 12 Monaten führte dieses Ergebnis jedoch zum Misstrauensvotum der PLP gegen Corbyn und zur Neuwahl des Parteiführers im Jahr 2016, die politisch wie rechtlich Interessantes bereithält. dd) Parteiführerwahl 2016 vor Gericht und ein erneuter Wahlsieg für Corbyn Mit dem Parteiführerwahlergebnis vom September 2015 war Corbyn und somit ein Vertreter des sozialistischen Flügels gewählt worden. Große Teile des sonstigen Führungspersonals der Partei waren und sind hingegen sozialdemokratisch – und damit zur Mitte der Gesellschaft hin – orientiert. Dies und Corbyns fehlende eindeutige Positionierung gegen das sog. Brexit-Referendum954 wurden ihm in den Medien und in der Partei vorgeworfen.955 Diese Gemengelage der Unzufriedenheit von Abgeordneten und anderer Funktionäre der Labour Party führte unmittelbar nach dem Referendum, das den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU besiegelte, am 28. Juni 2016 zu einem Misstrauensvotum innerhalb der PLP. Dabei sprachen 172 der Abgeordneten dem Parteiführer ihr Misstrauen aus, für Corbyn votierten 40. Weitere vier Stimmen waren ungültig und 14 Abgeordnete nahmen an der Abstimmung nicht teil.956 Wie bereits dargestellt, existiert in der Labour Party satzungsrechtlich gesehen keine Möglichkeit, einen amtierenden Parteiführer abzuwählen.957 Insbesondere
952 Uberoi, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 9 m. w. N. Eine Zusammenfassung gibt auch Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 14) – Foskett J. 953 Wortlaut im Rule Book: „Voting shall be by preferential ballot. The votes shall be totalled and the candidate receiving more than half of the votes so apportioned shall be declared elected“ und in den Procedural Guidelines: „If no candidate receives more than 50 % of the vote in the first round, the result will be recalculated eliminating the candidate with the lowest number of votes and redistributing those votes according to expressed preferences until one candidate exceeds the 50 % threshold.“ 954 Hierbei war kritisiert worden, dass er sich nicht eindeutig für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU positioniert und somit zumindest indirekt zu dem knappen Votum für den sog. Brexit im Referendum vom 23. Juni 2016 beigetragen habe. 955 Zum politischen Gesamtkontext um die Personalie Corbyn siehe Wheeler, Jeremy Corbyn Story, BBC News 24. September 2016 (Internetquelle). 956 Asthana/Syal/Elgot, Labour MPs Prepare for Leadership Contest, The Guardian v. 28. Juni 2016 (Internetquelle); Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7. 957 Anders dagegen in der Conservative Party, vgl. zu dieser Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 110 f.
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fehlt es in der Satzung der Labour Party wie auch in den Standing Orders der PLP958 für das von den Abgeordneten durchgeführte Misstrauensvotum. Aus diesem Grund bezeichnete Corbyn das durchgeführte fraktionsinterne Votum als „unconstitutional“ (satzungswidrig).959 Es hatte allerdings politisch zur Konsequenz, dass sich ein bzw. mehrere Herausforderer zur Wahl stellte(n) und somit das satzungsgemäße Verfahren in Form der jährlich möglichen Herausforderung eines Amtsinhabers nach Ch. 4 cl. 2 B. (ii) Rule Book 2015960 initiiert wurde. Zunächst war es die Abgeordnete und damalige Shadow Business Secretary Angela Eagle, die ihre Kandidatur bekannt gab.961 Das NEC eröffnete das Nominierungsverfahren als erste Stufe der Parteiführerwahl bei einem zur Wiederwahl willigen Amtsinhaber in der Opposition. Eagle erhielt 72 Unterstützerstimmen aus der PLP, während ihr Konkurrent, der Abgeordnete im House of Commons und damalige Shadow Work and Pensions Secretary, Owen Smith, 90 Nominierungsunterstützer in der Fraktion für sich gewinnen konnte. Eagle trat daher von ihrer Kandidatur zurück.962 Smith erhielt als der von der gemäßigten Mitte favorisierte Kandidat die erforderlichen 20 % der kombinierten Stimmen der beiden Gruppen von Abgeordneten.963 Damit war der Weg für die Durchführung des Hauptverfahrens der Parteiführerwahl eröffnet.964 Die Frage der Satzungsmäßigkeit des Misstrauensvotums wurde weder von der Literatur965 noch 958 Diese sind nur den Mitgliedern der PLP zugänglich, so ausdrücklich Pope, PLP Departmental Committees, Labour List (Internetquelle). 959 So Corbyn unmittelbar nach dem Misstrauensvotum, zitiert nach Chakelian, Labour MPs Pass a Vote of No Confidence, New Statesman v. 28. Juni 2016 (Internetquelle), Herv. d. Verf.: „I was democratically elected leader of our party for a new kind of politics by 60 per cent of Labour members and supporters, and I will not betray them by resigning. Today’s vote by MPs has no constitutional legitimacy. We are a democratic party, with a clear constitution. Our people need Labour party members, trade unionists and MPs to unite behind my leadership at a critical time for our country.“ 960 Die einschlägigen Klauseln der Parteisatzung sind zu finden bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 3 ff. 961 Dies tat sie gleichsam pour encourager les autres. Vgl. in dem Kontext des fraktionskonformen Verhaltens von Abgeordneten und möglicher Konsequenzen durch Fraktionsstatuten in Rogers/Walters, How Parliament Works, S. 107. Zur Nominierung von Angela Eagle siehe Angela Eagle Drops Out of Labour Leader Race, BBC News, 19. Juli 2016 (Internetquelle). 962 Vgl. zum Ganzen die kurze Darlegung der Vorgeschichte bei Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (paras. 13 ff.) – Foskett J. 963 Insgesamt wurde seine Kandidatur von einer großen Mehrheit gestützt: Er erhielt 162 von 231 Abgeordnetenstimmen der PLP und 10 von 20 der Labour-Mitglieder des Europäischen Parlaments. Nachweise dazu bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 9. 964 Die Satzungswidrigkeit des Misstrauensvotums spielte folglich keine weitere Rolle in der Parteiführerwahl. Sie wurde weder gerichtlich aufgearbeitet in den zwei geführten Verfahren, noch wurde sie in der juristischen Literatur weiter diskutiert. 965 Siehe Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 3: „The Leader of the Labour Party, Jeremy Corbyn, faced a vote of no confidence from members of the Parliamentary Labour Party on 28 June 2016. 172 Members of Parliament supported the motion of no confidence, and 40 voted in support of the
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den mit der Parteiführerwahl 2016 befassten Gerichten weiter beleuchtet.966 Vielmehr wurde vom später angerufenen High Court nur das Resultat aus dem Misstrauensvotum konstatiert, dass namentlich „[u]nder the Party’s rules, that triggered a leadership election“967, und zwar ungeachtet dessen, dass es keinerlei satzungsrechtliche Grundlage für ein Misstrauensvotum gegen einen Amtsinhaber gab.968 Die Regeln für die (Neu-)Wahl des Parteiführers richteten sich nach Ch. 4. cl. I., II. des Labour Party Rule Book 2016 sowie den hierzu vom NEC erlassenen Procedural Guidelines.969 Aufgrund der das Wahlverfahren konkretisierenden Entscheidungen des NEC kam es zu zwei gerichtlichen Auseinandersetzungen, die nunmehr einer kurzen Analyse unterzogen werden. (1) Labour-Parteiführerwahl in Oppositionszeiten: 20-%-Nominierungsquorum auch für den Amtsinhaber? Am 12. Juni 2016 erließ das NEC die Procedural Guidelines and Timetable für die Wahl des Parteiführers gemäß Ch. 4 cl. II. B. ii. Rule Book 2016, mithin für die Herausforderung eines Amtsinhabers. Zweifellos verlangt die vorgenannte Klausel von jedem Nominierten den Nachweis der Unterstützung von 20 % (absolut zu der Zeit 51) der kombinierten Mitglieder der Labour Party im House of Commons und im Labour Leader. […]. There were 4 spoilt ballots and 14 did not vote. There is no provision for the removal of a Labour Leader through a no confidence vote within the Labour Party rules. However, following the vote there was speculation that a leadership challenge would be launched. On 11 July 2016 Angela Eagle, MP for Wallasey, announced she would formally challenge Corbyn for the leadership.“ 966 Siehe in der erstinstanzlichen Entscheidung des High Court in der Sache Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 46) – Hickinbottom J: „As I have already described, on 28 June, Mr Corbyn faced a vote of no confidence from members of the Parliamentary Labour Party. 172 Labour MPs voted in favour of the no confidence motion, with 40 voting against. Following considerable speculation as to what might happen next, on 11 July, Ms Eagle formally announced her intention to challenge Mr Corbyn as Party Leader, on the basis that she had the support of 51 members (i. e. 20 %) of the Parliamentary Party or the European Parliamentary Party required to bring a challenge under Chapter 4 Clause II(2)(B)(ii).“ 967 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) para. 1 – Hickinbottom J, Herv. i. O.: „On 28 June 2016, Jeremy Corbyn MP, the Leader of the Labour Party (,the Party‘), lost a vote of no confidence by the members of the Parliamentary Labour Party of which he is, ex officio, also Leader; and, on 11 July, Angela Eagle MP formally announced her intention to challenge Mr Corbyn’s leadership of the Party, having obtained the support of 20 % of Parliamentary Labour Party and the European Parliamentary Labour Party. Under the Party’s rules, that triggered a leadership election.“ 968 So ausdrücklich Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 49) – Foskett J, Herv. d. Verf.: „[T]he Leader is not subject to a specific term (unlike other officers of LP), (ii) there is no provision for his/her position to be terminated on the passing of a no confidence motion and (iii) the rules do refer to the Leader’s re-election in a way that does not suggest a nomination route.“ 969 Das NEC ist zum Erlass solcher Richtlinien nach Ch. 4 cl. I. Rule Book 2016 ermächtigt. Diese trugen den Titel: „Leadership Election 2016 – Procedural Guidelines and Timetable.“ Sie sind auszugsweise wiedergegeben bei Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 47 ff.) – Hickinbottom J.
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Europäischen Parlament (damals 231 und 20). In diesem Zusammenhang hatte im Übrigen die inhaltsgleiche Formulierung in para. 9 der Procedural Guidelines and Timetable970 nur klarstellende Funktion.971 In der Vorstandssitzung vom gleichen Tage entzündete sich gleichwohl ein Streit über die Frage, ob der herausgeforderte Amtsinhaber ebenfalls dem Erfordernis des Unterstützerquorums aus den Fraktionen unterliege oder ob er automatisch972 als Kandidat gesetzt werde. Nach längerer Debatte stimmte das NEC in geheimer Wahl mit 18 zu 14 Stimmen für eine automatische Aufstellung des Amtsinhabers und ein Absehen von der Regelung aus Ch. 4 cl. II. B. ii. Rule Book 2016.973 Gegen die Entscheidung des NEC ging Michael Foster, ein einflussreicher Geschäftsmann, Spender, vormaliger Parlamentskandidat sowie Mitglied der Labour Party, im High Court974 vor. Das Gericht hatte somit darüber zu befinden, ob die Entscheidung des NEC mit Ch. 4 cl. II. B. ii. Rule Book 2016975 vereinbar war. Der Kläger argumentierte hiergegen mit dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck, der Systematik und der Historie976 der vorgenannten Klausel. Hinsichtlich des Wortlauts und der Systematik trug der Kläger vor, dass sowohl die Pateiführerwahl bei Vakanz des Amtes (nach
970 Wortlaut: „9. Nominees who achieve 20 per cent (51 nominations) support of the combined Commons members (currently 231) of the PLP and members of the EPLP (currently 20) will be declared validly nominated and go through to the One Person One Vote (OPOV) ballot of the contested position.“ 971 Das NEC ist nicht befugt, von den zwingenden Regeln der Parteisatzung abzuweichen. Um eine solche handelt es sich bei der Klausel allerdings. Siehe im Folgenden detailliert hierzu. 972 So wörtlich in dem darauffolgenden Urteil des High Court Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 1) – Foskett J. 973 Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7 m. w. N.; aus der Tagespresse siehe den Artikel mit dem Titel Jeremy Corbyn Appeals for Labour Calm ,After Death Threats‘, BBC News, 12. Juli 2016 (Internetquelle). Ebenfalls in Deutschland wurde hiervon Notiz genommen, siehe den Artikel mit der Überschrift Jeremy Corbyn ist automatisch nominiert, Die Zeit v. 12. Juli 2016 (Internetquelle). 974 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB). Hierzu Barclay, Labour v Labour, S.J. 2016, Heft 37, S. 20 passim. Eine kürzere Darstellung geben Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7; Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 48; Labour Leadership: Corbyn Ballot Challenge Rejected, BBC News, 28. Juli 2016 (Internetquelle). 975 Wortlaut der Klausel: „Where there is no vacancy, nominations may be sought by potential challengers each year prior to the annual session of Party conference. In this case any nomination must be supported by 20 per cent of the combined Commons members of the PLP and members of the EPLP. Nominations not attaining this threshold shall be null and void.“ 976 Wegen der unambiguity des Wortlautes und des Sinns und Zwecks der Klausel – auf die sogleich eingegangen wird – hat Foskett J die historischen Argumente, und damit eine historische Auslegung der Klausel und ihrer entsprechenden Vorgänger seit 1981, nur in einem obiter dictum gewürdigt bzw. vorgenommen, siehe Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 60 f.) – Foskett J.
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Ch. 4 cl. II. B. i. Rule Book 2016)977 wie bei Herausforderung eines Amtsinhabers von each (i.) bzw. any (ii.) Nominierten bzw. Kandidaten das vorgeschriebene Quorum für die zulässige Nominierung erfordere.978 Zudem argumentierte er, dass wenn Sinn und Zweck der Ch. 4 cl. II. B. ii. sein soll, dass der Parteiführer „acquires a constitutional right to an automatic place on the ballot paper when facing a challenge“, es „surely so important“ wäre, dass der Satzungsgeber dies ausdrücklich normiert hätte.979 Die beklagte Partei brachte die norminterne Systematik als Gegenargument vor. Der Begriff der Nominierung beziehe sich lediglich auf den ersten Satz der Klausel und damit auf potentielle Herausforderer.980 Teleologisch sei darüber hinaus davon auszugehen, dass Labour-Mitglieder des Europäischen Parlamentes und des House of Commons nur mit Blick auf Herausforderer ihre gate-keeping function981 ausübten, nicht aber bezüglich des herausgeforderten Amtsinhabers. Bei diesem könne davon ausgegangen werden, dass er stets das Nominierungsquorum erfülle: Er habe dieses bei der vorausgegangenen Wahl erhalten, diese sodann gewonnen und somit das Vertrauen der Mehrheit der Parteimitglieder auf sich vereint. Letztlich fehle auch an anderer Stelle den Abgeordneten der Labour Party die Möglichkeit, im Falle ihres gehegten Misstrauens in den demokratisch gewählten Parteiführer dem satzungskonform Ausdruck zu verleihen. Insoweit mangelt es an einer satzungsrechtlichen Grundlage für ein Misstrauensvotum, aber auch an einer zeitlichen Befristung der Wahlperiode des Parteiführers.982 Foskett J urteilte für den High Court zugunsten der Beklagten. In Auslegung der natural and ordinary meaning der Ch. 4 cl. II. B. i. und ii. Rule Book 2016 fasste er seine Entscheidung als gleichsam druckreife Satzungsklausel983 zusammen und formulierte: „(a) where there is a vacancy for Leader, anyone who wishes to be considered for the position would require nominations from 15 % of the combined Commons members of the PLP and EPLP [European Parliamentary Labour Party, Anm. d. Verf.] in order to be a candidate in the 977 Wortlaut der Klausel: „In the case of a vacancy for leader or deputy leader, each nomination must be supported by 15 per cent of the combined Commons members of the PLP and members of the EPLP. Nominations not attaining this threshold shall be null and void.“ 978 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 40 f.) – Foskett J. 979 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 43) – Foskett J. 980 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 48) – Foskett J. 981 Siehe zu dieser Funktion bereits oben. 982 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 48 f.) – Foskett J. 983 Die im Übrigen seit 2017 im Rule Book als neue Ch. 4 cl. II. B. ii. mit folgendem Wortlaut enthalten ist: „Where there is no vacancy, nominations may be sought by potential challengers each year prior to the annual session of Party conference. In this case any nomination must be supported by 20 per cent of the combined Commons members of the PLP and members of the EPLP. Nominations not attaining this threshold shall be null and void. The sitting Leader or Deputy Leader shall not be required to seek nominations in the event of a challenge under this rule.“ (Herv. d. Verf.). Hierzu nochmals im Zwischenergebnis zum sanften Einfluss der Gerichte auf die innere Ordnung der Parteien.
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election; (b) where there is no vacancy (because the Leader is still in place), anyone who wishes to challenge the Leader’s right to continue as Leader would need nominations from 20 % of the combined Commons members of the PLP and EPLP in order to mount such a challenge; (c) the Leader would not in that situation (where there is no vacancy) be someone who was a ,challenger‘ for the leadership and, accordingly, would require no nominations in order to compete in the ballot to retain his/her position as Leader.“984
Das Gericht nahm expressis verbis die Stellung eines objektiven Dritten – und zwar eines einfachen Parteimitgliedes – ein und damit der „readership to which they are addressed“, wie es bereits als Auslegungsmaßstab in anderen Entscheidungen zur Satzungsauslegung bei unincorporated associations anerkannt war.985 Dies tat der High Court in Ansehung möglicher Zweifel der Parteien an seiner Neutralität in dieser in ihren Auswirkungen auf Rechtsfolgenseite sehr politischen Frage.986 Er war bemüht jegliche Zweifel an seiner Neutralität auszuräumen und die Satzungsstreitigkeit normativ-rechtlich zu beurteilen. Daher hielt Foskett J abschließend fest: „I say ,objective‘ to distinguish the LP [Labour Party, Anm. d. Verf.] member who for political reasons wants to believe the words mean what he or she wants them to say from the person who takes a detached view of the position.“987
(2) Zulässigkeit eines Eintrittsstichtages für das aktive Wahlrecht Ein weiteres im August 2016 angestrengtes Gerichtsverfahren bezüglich der Parteiführerwahl betraf den vom NEC ebenfalls in der bereits genannten Sitzung und in para. 20 Procedural Guidelines i. V. m. Timetable and Freeze Date988 festgesetzten 984
Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 50) – Foskett J, Herv. d. Verf. Hier nochmals Jacques v Amalgamated Union of Engineering Workers (Engineering Section) [1986] ICR 683 (692) – Warner J: „[T]he rules of a trade union are not to be construed literally or like a statute, but so as to give them a reasonable interpretation which accords with what in the court’s view they must have been intended to mean, bearing in mind their authorship, their purpose, and the readership to which they are addressed.“ 986 Für die Zurückhaltung in der politischen Frage Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 59) – Foskett J: „However, because of the court’s reluctance to be drawn into any kind of political debate, I do accept unreservedly that where a decision, certainly about the application of any rule that is ambiguous, requires consideration of background material beyond the precise words used in the rule that has significant political connotations, the NEC may well be better placed than the court to consider those implications and to decide accordingly. In this case, had it been necessary to consider the competing contentions about what were said by each side to be the ,absurd‘ and ,obviously unintended‘ consequences arising from the acceptance of the other side’s view of the meaning of Clause II.B.2(ii), the court would have found itself in the midst of what Mr Henderson correctly characterised as ,intensely political‘ considerations.“ 987 Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 52) – Foskett J, Herv. d. Verf. 988 Wortlaut: „20. Labour Party members on the national membership system and not lapsed from membership at the date set on the timetable will be eligible to vote. Affiliated supporters and Registered Supporters, as defined by the NEC, who have been registered with the Labour Party at the date set on the timetable will be eligible to vote.“ Sowie: „Timetable and Freeze date: The Party requires members to hold six months’ continuous party membership on the freeze date to be eligible to take part in a selection.“ Dies wurde ausdrücklich auf Grundlage der Empfehlungen des Collins-Report eingeführt. 985
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Stichtag für die Wahlberechtigung bei der Parteiführerwahl. Darin wurde vom NEC festgelegt, dass Neumitglieder, welche die ordentliche Parteimitgliedschaft eingegangen waren und die bis zum 12. Januar 2016 beigetreten waren, wahlberechtigt sein sollten. Rückstände in der Zahlung von Mitgliedsbeiträgen, die nach der Parteisatzung zur Versagung der Stimmrechte bei parteiinternen Wahlen und Abstimmungen führen, konnten noch bis zum 8. August 2016 beglichen werden. Währenddessen bestand für registered supporters die Möglichkeit, zwischen dem 18. und 20. Juli 2016 der Partei beizutreten, um stimmberechtigt zu sein. Dafür wurde allerdings ein im Vergleich zum Jahr 2015 (3 GBP) wesentlich erhöhter Beitrag von 25 GBP989 fällig. Die gesamte individuelle Parteimitgliederschaft zählte am 10. Januar 2016 rund 388.407 Personen. Bis zum 8. Juli 2016 wuchs ihre Zahl auf 515.000 an, wobei nahezu alle Eintritte nach dem sog. Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 erfolgten.990 Fünf der nach dem 12. Januar und vor dem 12. Juli 2016 beigetretenen ordentlichen Mitglieder reichten beim High Court Klage gegen diese Klausel in den Procedural Guidelines ein und beriefen sich darauf, dass nach dem Labour Party Rule Book 2016 alle Mitglieder wahlberechtigt seien, solange und soweit sie nicht unmittelbar durch eine andere Klausel der Parteisatzung vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Die Parteiführung im NEC hingegen, die bei der Frage des Nominierungserfordernisses noch im Sinne Corbyns stimmte, beabsichtigte mit der
989 Zunächst legte para. 35 Leadership Election 2016 – Procedural Guidelines and Timetable diesen Geldbetrag fest. Vgl. für den politischen Hintergrund der Erhöhung die Ausführungen der Parteivertreter in der Rechtssache Evangelou v McNicol vor dem High Court ([2016] EWHC 2058 (QB) (paras. 53, 57) – Hickinbottom J: „The Party was concerned that individuals had become members or registered supporters before the 2015 leadership election merely in order to vote for candidates, and without the intention of participating otherwise in the Party’s activities; and, indeed, it seemed that some individuals may have done so to subvert the Party’s processes for the election of its Leader.“ Sowie: „Mr McNicol explains […] that he originally proposed a fee of £12 to discourage ,paper applications‘, and to reflect the additional costs of hiring staff to vet the registered supporter applicants. He says there were two reasons for raising it to £25.“ Dazu aus dem Urteil des Court of Appeal mit Verweis auf die Parteisatzung zur Gefahr der Unterwanderung der Partei durch derartige Mitglieder, siehe Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 15) – Beatson LJ: „Appendix 2 contains the NEC’s procedural guidelines on membership recruitment and retention Clause I(A)(iv) states: The Party is, however, concerned that no individual or faction should recruit members improperly in order to seek to manipulate our democratic procedures. Clause I(A)(v) states that it is unacceptable for large numbers of ,paper members‘, who have no wish to participate except at the behest of others, to be recruited in an attempt to manipulate Party processes because it undermines the Party’s internal democracy and is unacceptable to the Party as a whole.“ 990 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 65) – Hickinbottom J, Herv. d. Verf. Siehe aus der Literatur hierzu Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 8.
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Stichtagsregelung, diejenigen Mitglieder zu treffen, die ihm als Parteiführer zur Wiederwahl hätten verhelfen können.991 Eine Bestätigung der Stichtagsklausel durch das Gericht führe – darauf wies Hickinbottom J ausdrücklich hin – dazu, dass „approximately one quarter of the members of the Labour Party will not be able to vote as members in the leadership election.“992 Streng grenzte er die justiziable Frage der Satzungsauslegung von den politischen Folgen derselben ab, indem er konstatierte, dass „the courts must be careful not to interfere in political matters, the claim before me concerns the proper interpretation of the contract between members of the Labour Party inter se. Whilst I understand that that may have consequences within the political sphere one way or the other – although I have no evidence before me as to what those consequences might be – the question with which I have to grapple is apolitical. It is a question of pure law.“993
In der Sache entschied der High Court folglich, dass die Parteisatzung, der eine entsprechende spezielle Ermächtigungsklausel für das NEC unzweifelhaft fehlte, honest and reasonable994 durch das NEC auszulegen bzw. zu konkretisieren (i. S. einer true construction of the rules) war. Im Lichte dieser Anforderungen kam Hickinbottom J zu dem Schluss, dass die Verhängung eines rückwirkenden freeze date995 nicht zulässig war. Zum einen fehlte es bereits an einer expliziten satzungsrechtlichen Verankerung des Begriffs vor Juli 2016. Zum anderen ergab sich die Zulässigkeit der Rückwirkung eines Stichtages auch nicht aus den sonstigen Umständen. Insbesondere widerspricht es der Definition des Begriffs im allgemeinen Sprachgebrauch. Ferner ließen aus seiner Sicht Ch. 4 cl. II. 2. C. vi.996 i. V. m. Ch. 2 cl. I. 2.997 Rule Book 2016 erkennen, dass alle Mitglieder aktiv wahlberechtigt seien bei der Wahl des Parteiführers, „unless excluded by some other provision in the Rule Book“.998 Mithin wies er die Einwendungen der beklagten Partei zurück, wonach das NEC die Kompetenz habe, „to set
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Zu weithin vermuteten negativen politischen Konsequenzen der Wahl Corbyns für die Labour Party, insbesondere in der Wählergunst vgl. Dorey/Denham, The Longest Suicide Vote in History, B.P. 2016, S. 259 passim. 992 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 65) – Hickinbottom J. 993 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 74) – Hickinbottom J, Herv. d. V. 994 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (paras. 15 f., 76) – Hickinbottom J m. w. N. auf Choudhry v Triesman [2003] EWHC 1203 Ch. D. (paras. 68, 70) – Burnton J. 995 Als Definition eines freeze date legte er dem zugrunde: „As a matter of ordinary language, ,freeze date‘ suggests a crystallisation of matters from a current or future time, not a reversion to a past state of affairs.“ 996 Wortlaut der Klausel: „Votes shall be cast in a single section, by Labour Party members, affiliated supporters and registered supporters.“ 997 Wortlaut der Klausel: „The term ,individual members of the Party‘ shall encompass all grades of membership laid down in Clause III below; all such members shall have equivalent rights within all units of the Party except as prescribed in these rules.“ (Herv. d. Verf.). 998 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 75) – Hickinbottom J.
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any criteria for whom may vote“999. Das Gericht hielt das schlechterdings für eine bold contention1000 (kühne Behauptung) der anwaltlichen Vertreter der Labour Party. Vielmehr war das NEC nach der Parteisatzung dazu berufen, im Rahmen rein prozessualer Regelungen („procedural guidelines“1001) die Merkmale, die ein Mitglied zur Wahlberechtigung erfüllen muss, festzulegen. Nicht aber war es berechtigt, den Begriff des Mitgliedes materiell völlig neu und entgegen der Parteisatzung zu definieren mit dem Ziel, ganze Kategorien von Mitgliedern, die nach der Satzung a priori wahlberechtigt waren, auszuschließen. Auch die Webseite der Partei wies noch bis zum 13. Juli 2016 die Terms and Conditions der Mitgliedschaft aus, welchen zufolge ein jedes Mitglied bei Parteiführerwahlen wahlberechtigt sei.1002 Überdies ließ die von der Partei im Verfahren vorgebrachte Entscheidung in der Sache Jeffers v The Labour Party1003 aus dem Jahr 2011 nach dem hier erkennenden High Court nicht die Schlussfolgerung zu, die „gelebte“ Parteisatzung habe schon seit Jahren das Prinzip des ex tunc wirkenden Stichtages gekannt. In der Entscheidung Jeffers v The Labour Party urteilte Williams J nur, dass „[w]hat the imposition of the freeze date does is prevent additional individuals seeking to become members, especially by reason of encouragement or inducement by candidates, after the election process has begun. This is standard practice in the case of selection of Parliamentary and local government candidates and at […] the Party Rule Book and, by custom and practice, in respect of election of officers of Party units.“1004
In Anwendung dieses obiter dictum ging Hickinbottom J im vorliegenden Fall davon aus, dass die im Collins-Report 2014 erstmals benannte Kompetenz des NEC zum Erlass eines freeze date nur diese, nämlich die ex tunc-Wirkung entfalten sollte und auch in diesem Lichte die Implementierung dieses Berichts in Ch. 4 cl. II. C. iv. Rule Book 2016 zu verstehen war.1005 Eine Rückwirkung eines Stichtages ergab sich nicht aus der Parteisatzung und verletzte mithin die vertraglichen Rechte der Mitglieder „at the time each of the Claimants joined the Party, it was the common understanding as reflected in the Rule Book that, if they joined the Party prior to the election process
999
Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 76) – Hickinbottom J. Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 76) – Hickinbottom J. 1001 So ausdrücklich Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 76) – Hickinbottom J, Herv. i. O. 1002 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 63) – Hickinbottom J zitiert diese Webseite: „You’ll be eligible to vote in leadership elections.“ (Herv. i. O.). Erst am 13. Juli 2016 wurde dieser Satz gelöscht und ersetzt durch: „Any eligible Labour Party member who became a member on or before 12 January 2016 will be entitled to a vote.“ (Zitiert nach a. a. O., para. 64.) 1003 [2011] EWHC 529 (QB). 1004 Jeffers v The Labour Party [2011] EWHC 529 (QB) (para. 29) – Williams J, Herv. d. Verf. 1005 Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 80) – Hickinbottom J. 1000
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
commencing, as new members they would be entitled to vote in any leadership contest. That was the basis upon which each Claimant joined the party“.1006
Die Labour Party legte hiergegen Berufung beim Court of Appeal ein. Sie sahen einen Rechtsfehler in der Auslegung der Satzung durch den High Court dahingehend, dass das NEC tatsächlich die Kompetenz nach der Parteisatzung habe, das aktive Wahlrecht der Mitglieder bei der Parteiführerwahl zu beschränken. Ein Stichtag könne nicht nur prospective (ex nunc), sondern auch retrospective (ex tunc) verhängt werden. Der Court of Appeal folgte der Rechtsauffassung der Partei im Grundsatz und hob die rechtsfehlerhafte erstinstanzliche Entscheidung auf. Grundlage dafür waren, wie es das Gericht höchstselbst differenziert ausdrückte, „several problems with the judge’s approach“1007 bzgl. der Auslegung der vertraglichen Klauseln im Rule Book. Nach Ch. 2 cl. I. 2. Rule Book stand nicht allen Mitgliedern demnach das Wahlrecht für die Parteiführerwahl 2016 zu. Nur jene, welche die persönlichen Voraussetzungen erfüllen und nach dem vom NEC verhängten Stichtag der Partei beigetreten waren, durften wählen. Da der Rechtsbegriff des eligible electorate im Rule Book nicht definiert war, lag es im Verantwortungsbereich des NEC, diesen anhand von präzisierenden Wahlvoraussetzungen zu definieren.1008 Das Rule Book selbst gab in Ch. 4 cl. II. 2. C. v. als einzige zwingende Voraussetzung dem NEC nur vor, allen Kandidaten gleichen Zugang zum eligible electorate zu gewähren.1009 An keiner anderen Stelle war der Begriff der Wahlberechtigten von der Parteisatzung selbst verwendet worden. Mangels eindeutiger satzungsrechtlicher Bestimmungen zur Wahlberechtigung (mit Blick auf einen Eintrittsstichtag) wandte sich der Court of Appeal sodann allgemeinen Erwägungen zur Auslegung von Verträgen zu. Dabei übernahm der Court of Appeal die richterrechtlichen Grundsätze für die Überprüfung ermessensfehlerbehafteter Entscheidungen der öffentlichen Gewalt.1010 Diese übertrug er auf innerparteiliche und damit vereinigungsinterne Vorgänge hinsichtlich der Überschreitung der Grenzen der Ermessensausübung in extremen Fällen. Der Court of Appeal wählte als Kontrollmaßstab die „concepts of honesty good faith and gen1006
Verf.
Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 87) – Hickinbottom J, Herv. d.
1007 In der Entscheidung des Court of Appeal wird das Vorbringen des Berufungsklägers bzgl. zwei Berufungsgründen geführt. Zum einen bringt die Partei vor, das NEC habe die Kompetenz, das Wahlrecht für Mitglieder zu beschränken, was sich aus seiner Stellung insgesamt und Ch. 4 cl. II. 1. A. II. 2. C. iv. und/oder vii. (e) Rule Book ergebe. Zum anderen könne nach Ch. 4 des Rule Book auch ein Stichtag ex tunc vom NEC festgesetzt werden, so Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 31) – Beatson LJ. 1008 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 38) – Beatson LJ. 1009 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 39) – Beatson LJ. 1010 Vgl. für die Rezeption des Urteils und die Übernahme öffentlich-rechtlicher Ermessensüberprüfungskriterien in der zivilrechtlichen Literatur im gesamten Common LawRechtskreis Stilitz, Bonuses, in: Ogg/Leiper (Hrsg.), Conduct and Pay, para. 12.18; Lim/Chan, Unreasonableness in Contract Law: Lessons from Public Law, LQR 2019 (Internetquelle), S. 1 (1 f.).
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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uineness and need for absence of arbitrariness, capriciousness, perversity and irrationality.“1011 Die grundsätzliche Ermächtigungsnorm des NEC, Regelungen (auch Stichtagsregelungen als solche) bei parteiinternen Personenwahlen zu erlassen, fand auch der Court of Appeal in Ch. 4. cl. II. 2. C. vii.1012 i. V. m. Ch. 4. cl. II. 1. A.1013 Rule Book. Auch der Court of Appeal setzte sich in Ermangelung einer speziellen Klausel zur Beschränkung auf ex nunc wirkende Stichtagsregelungen als Ausgangspunkt seiner Überlegungen mit der Definition des Begriffs nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auseinander. Er kam hier bereits zu dem Schluss, dass diese keine Rückwirkung ausschließt.1014 Zentrale Erwägungen aber waren die Systematik des Rule Books, die für den Court of Appeal eine ex tunc- sowie ex nunc-Wirkung zuließ. Hierfür zog er auch die App. 3 cl. IV(2) der Parteisatzung heran. Diese erlaubt für die Nominierung von Kandidaten zum House of Commons in den Wahlkreisvereinigungen retrospektiv wirkende Stichtage mit dem Ziel eine Kompromittierung der Kandidatenauswahl durch „suspicious late entrants“1015 zu verhindern. Zudem hat sich das Berufungsgericht wie schon der High Court mit der Entscheidung Jeffers v The Labour Party befasst, deren Interpretation durch den High Court er als zu kurz gegriffen ansah. An dieser Stelle konstatierte der Court of Appeal, dass es sich in dem zitierten Fall gleichsam um eine Rückwirkung der damals verhängten Ausschlussfrist handelte. Denn in casu ging es um Vorstandswahlen in der BAME Labour, einer Unterorganisation der Labour Party für ethnische Minderheiten, die im Dezember 2010 und Januar 2011 abgehalten wurden. Der zuständige Ausschuss des NEC von BAME Labour machte zunächst nur einen Wahlordnungsvorschlag am 26. Oktober 2010, der den Tag dieser Sitzung als Stichtag für die Wahlberechtigung beinhaltete. In diesem Punkt blieb die verabschiedete Wahlordnung unverändert. Der Beschluss erfolgte jedoch erst am 9. Dezember 2010. Der Stichtag vom 26. Oktober 2010 wurde den Mitgliedern also rückwirkend bekannt gegeben.1016
1011
Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (paras. 24, 47, 49) – Beatson LJ. Wortlaut der Klausel: „The precise eligibility criteria shall be defined by the National Executive Committee and set out in procedural guidelines and in each annual report to conference.“ 1013 Wortlaut der Klausel: „The following procedures provide a rules framework which, unless varied by the consent of the NEC, shall be followed when conducting elections for Party officers. The NEC will also issue procedural guidelines on nominations, timetable, codes of conduct for candidates and other matters relating to the conduct of these elections.“ 1014 Siehe Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 52) – Beatson LJ für die Definition. 1015 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 53) – Beatson LJ. 1016 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 54) – Beatson LJ. 1012
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Zwar stimmte der Court of Appeal Hickinbottom J1017 zu und sah in der Festlegung der Wahlvoraussetzungen sehr wohl eine nicht zu unterschätzende materiellrechtliche Bedeutung. Die Stichtagsregelung ist gar „an element of important line-drawing […] in determining who exactly is to be eligible to vote in leadership elections. Even if one describes these as matters of procedure, these provisions state that the NEC is to have such powers to delineate rights of participation and it is necessary to give those provisions their true meaning and effect.“1018
Daran änderte auch die Überschrift von Ch. 2 cl. IV., die den Titel „Procedural rules for elections for national officers of the Party“ trug, nichts. Ohne Einfluss war ebenfalls die Bezeichnung der vom NEC erlassenen Wahlordnung als prozessuale Richtlinien. Dennoch schloss das Gericht seine Ausführungen mit der Feststellung, dass es einer Partei vermöge ihrer Organisationsfreiheit obliege, im Rahmen der gegenseitigen vertraglichen Pflichten mit ihren Mitgliedern die Wahlberechtigungskriterien formell, aber auch materiell zu konturieren. Spiegelbildlich war auch ein Mitglied verpflichtet, die rechtmäßig zustande gekommenen Kriterien zu akzeptieren: „As already pointed out above, a member’s entitlement to vote in a leadership election is not a product of him or her simply being a member, but is the result of him or her being a member who satisfies the precise eligibility criteria defined by the NEC and any freeze date provisions set by the NEC in the timetable for the election.“1019
In der Tat resultierte aus der Entscheidung des Court of Appeal der Ausschluss von über 150.000 ordentlichen Parteimitgliedern von der Parteiführerwahl 2016, von denen die meisten nach dem Referendum, das zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU führen wird, und damit zwischen Juni und August 2016 eintraten. Fraglich war die praktisch-politische Auswirkung des Urteils für die meisten der betroffenen Mitglieder. Nach Bekanntgabe der Procedural Guidelines am 12. Juli 2016 – somit auch dem Ausschluss von nach dem 12. Januar 2016 beigetretenen ordentlichen Mitgliedern – machten zwischen dem 18. und dem 20. Juli 2016 allerdings ungefähr 180.000 Menschen von der Möglichkeit Gebrauch, die Labour Party als registered supporter gegen die Gebühr von nunmehr 25 GBP zu unterstützen. Der Eintritt als registered supporter war nämlich mit der Berechtigung zur Teilnahme an der Parteiführerwahl verbunden. Obwohl nicht dokumentiert ist, wie viele ordentliche Mitglieder, die nach dem 12. Januar 2016 beigetreten waren, diese zusätzliche Parteimitgliedschaft in Anspruch nahmen, um an der Parteiführerwahl 1017 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 79) – Beatson LJ 79 sowie erstinstanzlich Evangelou v McNicol [2016] EWHC 2058 (QB) (para. 50 f.) – Hickinbottom J. 1018 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 55) – Beatson LJ, Herv. d. Verf. 1019 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 56) – Beatson LJ, Herv. d. Verf. Dies wurde auch in der Literatur vielfach zitiert. Vgl. nur Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 8 f.; Allen, Labour leadership vote ruling overturned, Financial Times v. 12. August 2016 (Internetquelle); Labour Leadership: Party Wins Appeal Against Voting Rules, BBC News, 12. August 2016 (Internetquelle).
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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teilzuhaben,1020 kann davon ausgegangen werden, dass dies nicht wenige waren. Jedenfalls verwies auch der Court of Appeal hinsichtlich drei der fünf Kläger darauf, dass sie in dem genannten Zeitraum registered supporter-Mitgliedschaften abschlossen.1021 Zudem hielt Corbyn die Entscheidung des NEC und die Bestätigung durch den Court of Appeal hinsichtlich des Stichtages im Januar 2016 für satzungswidrig und undemokratisch, zumal er seine Wahlchancen bei den mutmaßlich zumeist ihn unterstützenden Neumitgliedern schwinden sah.1022 Jedoch konnte Corbyn auch diese Wahl (die im Übrigen u. a. online durchgeführt wurde1023, worauf in der Literatur nicht mehr näher eingegangen wurde) unter Aufrechterhaltung der Stichtagsregelung für sich entscheiden. Er erhielt 313.209 oder 61,8 % der Stimmen, sein einziger Konkurrent Owen Smith 193.229 bzw. 38,2 %. Bei einer Wahlbeteiligung von 77,4 % nahmen von 654.006 Wahlberechtigten (d. h. individuellen ordentlichen Mitgliedern, affiliated supporters und registered supporters) insgesamt 506.438 an der Wahl teil. Corbyn erlangte in allen drei Gruppen Mehrheiten von über 50 %, wenngleich dies keine konstitutive Voraussetzung mehr für den Wahlsieg im ersten Wahlgang war. Dies waren etwa 59 % der ordentlichen Individualmitglieder, rund 70 % der Stimmen der registered supporter und ca. 60 % der Stimmen der affiliated supporters.1024 2. Wahl des Parteiführers in der Conservative Party: von den grey suits zu den grassroots a) Auswahl vor 1965: keine formelle Wahl Der ursprüngliche Selektionsmechanismus des Parteiführers der Conservative Party ist bereits besprochen worden: Der Parteiführer wurde seit Entstehen der 1020 Johnston/Maer, Leadership Elections: Labour Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 9. 1021 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 2) – Beatson LJ zur Inkonsistenz der Parteisatzung aufgrund ihrer historischen, versatzstückartigen Entwicklung und der Auswirkungen auf die Wahlberechtigung als Mitglied bzw. registered supporter aufgrund unterschiedlicher Altersvoraussetzungen. 1022 Vgl. die Zitate bei Labour Leadership: Party Wins Appeal Against Voting Rules, BBC News, 12. August 2016 (Internetquelle). 1023 So in para. 24 f. Leadership Election 2016 – Procedural Guidelines and Timetable festgelegt: „The National Executive Committee has appointed an independent organisation, ERS, to conduct the One Person One Vote (OPOV) ballot.“ Und: „The party will conduct a ballot of all eligible electors for the contested position using the OPOV process, single round preferential voting system. This ballot will take place by post and secure electronic voting. Details will be contained in the voting package or voting email. Details will be sent to the address or electronic address registered on the National Membership System“ (para. 25). 1024 Vgl. die Wahlberichterstattung bei der BBC unter Labour Leadership: Corbyn Appeals for Unity After Re-election, 24. September 2016 (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Conservative Party im 19. Jahrhundert nicht formell gewählt,1025 sondern war von dem sog. magic circle ernannt worden.1026 Außerdem fielen Premierministerschaft und Parteiführerschaft stets zusammen und bis in das späte 19. Jahrhundert hinein erfolgte die Ernennung als Premierminister durch die Krone. Gerade für die besonders royalistische1027 Conservative Party war damit die Parteiführerschaft nicht mehr als ein Annex zur Premierministerschaft, der konsequenterweise auch keiner demokratisch-formellen Wahl bedurfte.1028 Dieser Selektionsmodus blieb bis zu den Querelen um die Nachfolge des zurückgetretenen Harold Macmillan in den Jahren 1963 unverändert. Erst diese Situation, in welcher die Krone ohne Konsultierung anderer potenzieller Nachfolger Douglas-Home zum Premierminister ernannte und uno actu zum Parteiführer machte, führte zur Einführung formalisierter Wahlstatuten1029 durch das 1922 Committee.1030 b) Wahl ab 1965: nur das 1922 Committee aktiv wahlberechtigt Erster nach dem neuen Wahlprozedere1031 gewählter Parteiführer war Heath. Nach dem Wahlverfahren von 1965 musste im ersten Wahlgang der erfolgreiche Kandidat eine Mehrheit von mehr als 50 % der abgegebenen Stimmen erlangen und gleich1025 Zur Auswahl des Parteiführers vor 1965 aus der jüngeren Literatur siehe Denham/ O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 11 ff.; Cross/Blais, Who Selects the Party Leader?, P.P. 2012, S. 127 (129). Vgl. aus der deutschen Literatur Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 90, 154 ff. und aus der älteren Literatur Barkeley, Parteien im englischen Verfassungsrecht, JöR 1956, S. 221 (232). 1026 McKenzie, Parteien in England, S. 201. 1027 Webb, British Party System, S. 198 vergleicht die Wahl des Parteiführers der Conservative Party mit „a feudal process of king-making in which the party ,barons‘ (metaphorically and sometimes literally speaking) anointed their ,monarch‘“. 1028 Jennings, Party Politics, Bd. 2, S. 62, 227. So wurde von William Pitt dem Jüngeren bis zu Benjamin Disraeli niemals erst eine Person zum Parteiführer durch den magic circle ernannt, und sodann Premierminister. Vielmehr wurde der von der Krone erwählte Premierminister kraft Amtes zum Parteiführer. Erstmals im Jahre 1885 wurde mit Lord Salisbury ein bereits ernannter Premierminister als Parteiführer durch die informellen Kreise beider Fraktionen zum Parteiführer „gewählt“. 1029 Parry, Government, S. 15 mit Abdruck der ersten Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative and Unionist Party von 1965. Eine Analyse der historischen Wahlmodi liefern Bogdanor, Party Leader, in: Seldon/Ball (Hrsg.), Conservative Century, S. 69 passim m. w. N.; Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 14 ff.; Heppell, Choosing the Labour Leader, S. 34 ff. m. w. N. 1030 Zu diesem Vorkommnis vgl. nochmals Brazier, Prime Minister, P.L. 1982, S. 395 (395); Webley/Samuels, Public Law, S. 39; Barendt, Constitutional Law, S. 117 f. 1031 Zu dem Ganzen ausführlich Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 14 f. Dieses wurde bis 1997 mehrfach verändert, war in seinen Grundzügen aber nicht berührt worden, siehe dazu Webb, British Party System, S. 197 f. Die Wahlordnung, die seit der Änderung 1991 galt, ist abgedruckt bei Brazier, Constitutional Practice, S. 303 ff.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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zeitig eine Differenz von 15 % zu den vom zweitstärksten Kandidaten erreichen (sog. super majority1032). In einem möglichen dritten Wahlgang, an dem nur noch die zwei stärksten Kandidaten aus dem vorangegangenen teilnahmen, reichte sodann eine absolute Mehrheit von mehr als 50 % ohne weitere Voraussetzungen.1033 Bis 1975 sahen die Regeln des 1922 Committee weder eine jährliche Wiederwahl noch ein Misstrauensvotum vor. Dies war als larmoyante Besinnung auf die Funktion des Parteiführers in erster Linie als unangefochtener (Schatten-)Premierminister der Krone zu verstehen. Es wurde, im Geiste des Toryismus, des damit verbundenen Rechts- und Politikverständnisses davon ausgegangen, dass ein Parteiführer, der keinen Rückhalt in der Fraktion und der für das Volk sprechenden Abgeordneten mehr für sich sah, zurücktreten werde.1034 Obschon es keine fraktionsinterne Abstimmung über das Ver- oder Misstrauen der Partei in ihren Parteiführer gab, wurden rücktrittsunwillige Parteiführer durchaus zu diesem Schritt gedrängt. So etwa Neville Chamberlain, vor dessen Rücktritt in einer Plenumsabstimmung 41 Abgeordnete der Conservative Party mit der Opposition stimmten, sich 60 enthielten und damit coram publico der Unzufriedenheit der Parlamentspartei mit ihrem Parteiführer Ausdruck verschafften.1035 Im Jahr 1975 aber führte die Unzufriedenheit mit der Amtsführung von Heath, dem damaligen Schattenpremierminister und Oppositionsführer, zu einem Paradigmenwechsel in der Conservative Party. Hiernach wurde das Mandat als Parteiführer der jährlichen Wiederwahl ab 1975 unterstellt. Bis zur späteren Satzungsreform im Jahre 1998 war die Wiederwahl jährlich möglich ungeachtet der Frage, ob 1032
Vgl. Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 69. Para. 3 ff. Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1965). Wortlaut von para. 6: „If as a result of this ballot one candidate both (i) receives an overall majority and (ii) receives 15 per cent more of the votes cast than any other candidate, he will be elected.“ In para. 9 ist geregelt, dass die „voting procedure for the second ballot will be the same save that paragraph 6 shall not apply“. Nach para. 10 wurden im dritten Wahlgang nur noch die zwei Kandidaten mit dem höchsten Ergebnis des zweiten Wahlganges aufgestellt, sodass es in jedem Fall eine absolute Mehrheit für den letztlich erfolgreichen Kandidaten gab. Abdruck der Regeln bei Parry, Government, S. 15 f. 1034 Siehe Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (802) m. w. N.: „The position of the Conservative Party leader carries with considerable formal power over policy making […], but the corollary has traditionally been that the leader takes personal responsibility for electoral failure.“ 1035 Brazier, Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 (477). Für weitere derartige Beispiele aus der Zeit bis in die 1960er Jahre siehe Parry, Government, S. 17 ff. Letztlich ist es eine Frage des (potenziellen) Wahlerfolges der Partei in der nächsten Wahl unter dem Premierminister. Parry konstatiert daher: „If the leader appears to command the confidence of the electorate and is likely to lead the Party to victory at the next election, he is secure; if on the other hand, there is evidence to suggest that the Party is likely to lose the next general election under his leadership, his position is insecure. In this sense the Conservative leadership is far from autocratic. The leader has enormous powers only as long as the party supporters, reflecting the views of the electorate, respond to his leadership. Once they cease to responding, his power collapses and he has no alternative but to resign.“ 1033
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die Partei in der Regierung oder der Opposition war.1036 Die Abgeordneten sollten fraktionsintern die Möglichkeit erhalten, auf eigene Initiative hin einen Parteiführer im Amt zu bestätigen oder abzuwählen.1037 Thatcher, die das Amt von Heath er- und bis 1990 behielt, musste sich bis 1989 keiner einzigen jährlichen Wahl stellen. Der formelle Grund dafür war, dass es, wenn zwei Mitglieder des 1922 Committee eine Neuwahl forderten, bereits zum automatischen Vorverfahren der Parteiführerwahl kam. Die Folge von i. d. R. fehlenden Gegenkandidaten war die ebenso automatische Wiederwahl des amtierenden Parteiführers.1038 Zugleich war sie erste Amtsinhaberin, die im Jahr 1990 als Premierministerin zum Rücktritt von beiden Ämtern im Wege der Initiierung der jährlichen Neuwahl des Parteiführers bewegt wurde. Hierbei wäre es allerdings juristisch nicht korrekt, von einer Abwahl zu sprechen;1039 denn weder handelte es sich um ein Misstrauensvotum im klassischen Sinne noch verlor sie einen Wahlgang. Tatsächlich gewann Thatcher den ersten Wahlgang mit 54,8 % gegen den zweitplatzierten Michael Helestine, der 40,9 % der Stimmen erlangte. Die Differenz zwischen ihnen betrug allerdings weniger als 15 % (wobei hier anhand der Wahlberechtigten, nicht der abgegebenen Stimmen berechnet).1040 Somit wurde gemäß der damaligen Wahlordnung des 1922 Committee ein zweiter Wahlgang nötig. In diesem trat
1036
Vgl. Alderman, Electing the Leader of the Conservative Party, P.L. 1992, S. 30 (31). Im Übrigen bei diesem a. a. O., S. 37 ff. ein Abdruck der Regularien, die von 1990 – 1998 galten. 1037 Es waren nur zwei nötig, um das Wiederwahlverfahren zu initiieren. Bis 1998 erfolgten Misstrauensvoten im 1922 Committee nicht auf Basis von Fraktionsstatuten. Vielmehr stellten diese eine geübte Praxis dar. Darauf weist Brazier, Constitutional Practice (3. Aufl.), S. 176 hin: „Conservative MPs have no parliamentary standing orders.“ Ähnlich auch Webb, British Party System, S. 198, der darauf verweist, dass es erst seit 1998 ein kodifiziertes Misstrauensvotumsverfahren gibt. 1038 So para. 2 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1991): „Otherwise the Chairman will declare that the Leader of the Party has been returned unopposed for a further term.“ 1039 Die politische Bedeutung wird daher durch die Formulierungen bei Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 96 ff., der in der Überschrift von der „Abwahl der amtierenden Premierministerin“ spricht, erfasst. Ähnlich bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 16: „Most Party leaders have resigned before leadership elections have taken place. Margaret Thatcher has been the only Conservative Party leader (in fact, the only leader of any party) to have been removed against her will under the leadership rules whilst serving as Prime Minister. Edward Heath was similarly removed while serving as Leader of the Opposition.“ Juristisch treffender ist es von „Thatcher’s enforced resignation“ zu sprechen, da es keine Abwahl im formellen Sinne war. So etwa Alderman, Leadership Election Procedures, P.A. 1999, S. 260 (261). Ähnlich auch Brazier, Resignation of John Major, P.L. 1995, S. 513 (518 f.). 1040 Die absolute Mehrheit wurde anhand der abgegebenen Stimmen berechnet, das 15-%Erfordernis anhand der Wahlberechtigten. Vgl. dazu Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 54 f.; Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 93.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Thatcher, um keine ausdrückliche Niederlage zu erleiden, nicht mehr an.1041 Ihr späterer Nachfolger, John Major, hingegen wurde als ihr Wunschkandidat erst in diesem zweiten Wahlgang als Kandidat nominiert,1042 bei dem er, nota bene, sogar weniger Stimmen erhielt als Thatcher im ersten Wahlgang. Dies gereichte ihm allerdings unter dem reduzierten Mehrheitserfordernis von einer absoluten Mehrheit im zweiten Wahlgang zur Wahl zum Parteiführer.1043 Bei der jährlichen Neuwahl auf Antrag von nur wenigen Abgeordneten handelt es sich gewissermaßen auf Rechtsfolgenseite um ein konstruktives Misstrauensvotum1044, da bei dem Neuwahlverfahren nach para. 4 f. Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (bis 1998) die unmittelbare Nominierung von Gegenkandidaten vorgesehen war.1045 Der über die Initiierung des Neuwahlprozesses forcierte Rücktritt Thatchers führte im Jahr 1991 zu der Änderung. Hierbei wurde die recht einfache Initiierung des jährlichen Parteiführerauswahlprozesses verschärft. Um fortan willkürliche1046 Herausforderungen des Amtsinhabers durch bis 1989 anonym gebliebene1047 zwei Abgeordnete zu verhindern, wurde festgelegt, dass 10 % des 1922 Committee den Wahlantrag beim Vorsitzenden der Fraktionsversammlung einzureichen hatten und die Namen der Unterstützer publiziert wurden.1048 Ein explizit bezeichnetes Misstrauensvotum gab es aus den historischen Gründen zwar weiterhin nicht, die Regelungen der turnusgemäßen Neuwahl waren dahingegen so 1041
Zu dieser Entscheidung, welche die Wahl ihres gewünschten Nachfolgers John Major ermöglichte, siehe Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 83 ff., 92 f. m. w. N.; Leach/Coxall/ Robins, British Politics, S. 99. 1042 Dies war nach der früheren Regelung zulässig. Vgl. para. 8 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1965): „Nominations made for the first ballot will be void and new nominations […] will be submitted for the original candidates if required and for any other candidate.“ Siehe aus der Literatur Leach/Coxall/Robins, British Politics, S. 99; Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (802). 1043 Vgl. Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (810); Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 69; Brazier, Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 passim. 1044 Siehe dazu Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 92 ff. 1045 Dies war – anders als Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 92 ff., es postuliert – keine zwingende Voraussetzung. Vielmehr sahen para. 4 f. Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1994) vor, dass auch nur der Amtsinhaber (oder eine andere Person) nominiert wurde: „If only one valid nomination is received, the Chairman of the 1922 Committee shall declare this person elected.“ 1046 Hier wird häufig in der Literatur von frivolous o. ä. (i. S. v. unseriös) gesprochen, vgl. statt vieler Alderman, Electing the Leader of the Conservative Party, P.L. 1992, S. 30 (33). 1047 Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (801). Para. 3 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1965): „[T]he names of the proposer and seconder will not be published and remain confidential to the scrutineers.“ 1048 Vgl. Brazier, Resignation of John Major, P.L. 1995, S. 513 (514). Para. 2 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1991): „[T]here shall be an election in the House of Commons […] each new session of Parliament […] provided that the Chairman of the 1922 Committee is advised in writing by not less than 10 per cent of the members.“ Siehe zur Wahlordnung ab 1991 Brazier, Constitutional Practice, S. 303 ff.
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gestaltet, dass es „made it easier to remove leaders who outstayed their welcome“1049. Dazu zählten die folgenden Charakteristika: Erstens konnten neue Kandidaten noch für den zweiten Wahlgang nominiert werden. Zweitens mussten diese nur von zwei Kandidaten gestützt werden. Ab 1991 erforderte dies die Stimmen von 10 % der Mitglieder des 1922 Committee. Drittens blieben die Namen der Initiatoren der Neuwahl geheim, waren bis 1991 die Namen der Unterstützer einer Nominierung geheim1050 und erfolgte die Wahl geheim.1051 Viertens galt die super majority. Fünftens blieb das Selektorat auf die Abgeordneten im House of Commons beschränkt. c) Wahl – nur ggf. unter Beteiligung der Parteimitglieder – seit Gründung der Partei im Jahr 1998 Seit 1998 erfolgt die Wahl durch die Mitglieder der Fraktion im House of Commons und ggf. im Zusammenspiel mit den Mitgliedern der außerparlamentarischen Parteiorganisation. Dies wird gemeinhin als die Demokratisierung der konservativen Parteiführerwahl schlechthin betrachtet. Indes verortet der britische Politologe und Parteienforscher Timothy Heppell den Einzug des Prinzips der innerparteilichen Demokratie in die Conservative Party schon bei der Einführung der formellen Parteiführerwahl 1965.1052 Freilich ist das (innerparteiliche) Demokratieprinzip interpretationsoffen, sodass keineswegs davon gesprochen werden kann, eine solche existiere erst seit der Beteiligung der außerparlamentarischen Parteimitglieder. Insofern ist zunächst zu konstatieren, dass das aktive Wahlrecht auf die Mitglieder des 1922 Committee beschränkt blieb. Die Parteimitglieder außerhalb des Parlaments blieben weiterhin außen vor gelassen. Es bedurfte bereits seit 1965 einer konsultativen Einbindung der außerparlamentarischen Partei. Zunächst wurde informell von den Abgeordneten bei der Neuwahl eines Parteiführers die Anhörung ihrer jeweiligen Wahlkreisvereinigung erwartet. Dies wurde mit der formellen jährlichen Wiederwahl des Parteiführers im Jahre 1975 ebenso satzungsrechtlich niedergeschrieben. Im Jahre 1991 wurde schließlich nach der umkämpften Thatcher-Nachfolge in den paras. 5 – 11 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party die Pflicht zur Anhörung der Wahlkreisvereinigungen wie auch der Mitglieder im Europäischen Parlament und im House of Lords durch den Chairman des 1922 1049
So Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (802). Geändert durch para. 2 Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative Party (1991): „[W]ithout disclosing the names of any of the signatories.“ 1051 Im Gegensatz zur Labour Party, in der es eine offene Abstimmung über die Durchführung der jährlichen Neuwahl des Parteiführers (wenn die Partei in der Regierung und er zugleich Premierminister ist) und damit eine gewisse Sicherheit gegen ein Aufbegehren der innerparteilichen Opposition gibt. Zur damaligen Rechtslage siehe Brazier, Resignation of John Major, P.L. 1995, S. 513 (520); ders., Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 (479 f.). 1052 Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 136. 1050
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Committee angeordnet. Diese Ergebnisse wurden den Abgeordneten zur Konsultation zur Verfügung gestellt.1053 Eine Bindungswirkung für die Abgeordneten an die Empfehlungen der nicht wahlberechtigten Organisationsteile der Partei hingegen enthielt dieses Postulat nicht.1054 Zur gleichen Zeit wurde eine Ausweitung des Wahlrechts auf die außerparlamentarischen Parteimitglieder vehement von den konservativen Abgeordneten zurückgewiesen.1055 Vorgebracht wurde insbesondere, ein Parteiführer bedürfe als automatischer (Schatten-)Premierminister der Unterstützung des Parlaments, nicht etwa der Unterstützung der Parteimitglieder.1056 Die Änderung des Wahlsystems im Jahre 1998 war u. a.1057 eine indirekte Folge aus dem Wahlerfolg der Labour Party, welche sich unter dem New Labour-Programm einer fortschreitenden Demokratisierung der Institutionen im Land und der Partei selbst verschrieben hatte. Die Conservative Party erlebte einen anhaltenden Mitgliederschwund und einen Verlust von Wählerstimmen. Die Mitglieder der außerparlamentarischen Parteiorganisation fühlten sich „,betrayed‘ by an irresponsible and unruly parliamentary elite which needed bringing to heel often translated into demands for greater democratization“.1058
Verbunden mit der Dezimierung der Fraktion im House of Commons von 329 auf 162 Sitze1059 bei den Wahlen 1997 war auch der Widerstand gegen Demokratisierungsforderungen aus der Mitgliederschaft nicht mehr länger aufrecht zu halten.1060 Die Parteiführung bzw. die Spitzen der Partei in Parlament und Schattenkabinett wiederum sahen ihren eigenen althergebrachten Anspruch als die natürliche Regierungspartei schwinden, nachdem sie im 20. Jahrhundert, das weithin ein Con1053
Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 51. Alderman, Electing the Leader of the Conservative Party, P.L. 1992, S. 30 (35) und Abdruck der Wahlstatuten von 1991 a. a. O., S. 37 ff. Dies geschah bisweilen nicht oder nicht ausreichend zur Zufriedenheit der Parteimitglieder: Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 (14). 1055 Alderman, Leadership Election Procedures, P.A. 1999, S. 260 (265). 1056 Zu der verfassungsrechtlichen Diskussion bei Ausweitung des Wahlrechts in der Labour Party auf die außerparlamentarische Parteiorganisation 1981 siehe Brazier, Prime Minister, P.L. 1982, S. 395 (412 ff.). Für diese, noch heute deutlich artikulierte Sichtweise unter konservativen Abgeordneten siehe Wright, Strip Grassroots of Powers, The Times v. 3. September 2016, S. 2. 1057 Andere Gründe für die Konstituierung als eine einzige Parteiorganisation war die von der Labour-Regierung bereits im Wahlkampf 1997 angekündigte Gesetzesmaßnahme zur Regulierung der Parteifinanzen und der Registrierung von Parteien, s. o. ausführlich. Webb, British Party System, S. 195 f. benennt dies zwar nicht als Grund, allerdings verweist er auf insgesamt vier politische Gründe für die Umstrukturierung, darunter die organisatorische Veränderungsbereitschaft von Parteien nach elektoralen Misserfolgen – welche als eine zentrale Motivation in der Parteienwissenschaft gilt – und finanzielle Probleme der Partei in den Jahren zuvor. Siehe auch Quinn, Electing and Ejecting, S. 97 ff. 1058 Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 (18), Herv. d. Verf. 1059 Siehe die Zahlen bei Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 97 m. w. N. 1060 Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 49. 1054
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
servative Century1061 war, die meiste Zeit über die Regierung stellten und die Geschicke des Landes führten. William Hague als damaliger Parteiführer erkannte die Notwendigkeit einer Partei- und Satzungsreform und verband die Fresh Future-Reform mit der Intention „to build the single greatest mass volunteer party in the Western world.“1062 Die laut Thomas Quinn wichtigste Neuerung war die Einführung des „hybrid system“1063 für die Parteiführerwahl, also das ggf. zweistufige Wahlverfahren unter Einbeziehung der Parteimitglieder im zweiten Schritt. Die britischen Politikwissenschaftler Andrew Denham und Kieron O’Hara heben deutlicher die Änderungen in der Abwahl von Amtsinhabern als zentrale Punkte der Reform hervor.1064 Tatsächlich gibt es in der Conservative Party (wie auch in der Labour Party) nicht ein einziges und generell anwendbares Wahlprozedere für die Parteiführerwahl. Die Verweisungsnorm für die Parteiführerauswahl findet sich in Art. 10 Constitution, die i. V. m. Sch. 2 gilt. In Sch. 2 para. 3 ist wiederum geregelt, dass die weitere Ausgestaltung des Wahlverfahrens durch das 1922 Committee in einer Wahlordnung erfolgt.1065 Somit wurde im Jahre 1998 auch eine neue Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party durch den Vorstand des 1922 Committee erlassen. Wie bisher und in Abgrenzung zur Labour Party kennen die Parteisatzung und die Wahlordnung des 1922 Committee keinen Unterschied bei der Parteiführerwahl zwischen Regierungs- und Oppositionszeiten, respektive dem Parteiführer als gleichzeitigem Premierminister oder nur als Oppositionsführer.1066 Die Parteiführerwahl kann durch drei Sachverhaltskonstellationen ausgelöst werden. Der Amtsinhaber kann zurücktreten1067 oder er kann die weiterhin nicht
1061
Vgl. nur den Titel des von den britischen Historikern Anthony Seldon und Stuart Ball herausgegebenen Standardwerks zur Conservative Party mit dem Titel: „Conservative Century – The Conservative Party since 1900“, in dem auch Bogdanor die Parteiführerwahl analysierte. Vgl. das Zitat bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 16. 1062 So im Fresh Future-Programm, zitiert nach Webb, British Party System, S. 195. 1063 Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (804); ders., Electing and Ejecting, S. 99. 1064 Vgl. Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 49 f. 1065 Es zeigt sich einmal mehr, dass eine schematische Trennung von staatlicher Sphäre (Fraktion) und gesellschaftlicher Sphäre (Parteiorganisation) im Vereinigten Königreich nicht erfolgen kann. Obschon den Mitgliedern der außerparlamentarischen Partei damit jegliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Wahlordnung fehlt, stellt dies im Vereinigten Königreich kein weiter betrachtetes juristisches Problem dar. Zur Änderung der Parteiführerwahlregularien in diesem Abschnitt. 1066 Para. 4 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998); aus der Literatur dazu Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 50. 1067 Die Möglichkeit des Rücktritts ist in der Parteisatzung vorgesehen in Sch. 2 para. 2: „A Leader resigning from the Leadership of the Party is not eligible for re-nomination in the consequent Leadership election.“ Daneben sieht die Wahlordnung des 1922 Committee in
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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kodifizierte Vertrauensfrage stellen.1068 Außerdem ist ein Misstrauensvotum von 15 % der Mitglieder des 1922 Committee möglich.1069 Die 1965 eingeführten Regeln für die Parteiführerwahl kannten bekanntlich keine Möglichkeit, einen Parteiführer des Amtes zu entheben. Erst im Jahre 1975 wurde die jährliche Wiederwahl eingeführt. Diese unterlag jedoch nur geringen Voraussetzungen. So mussten zwei anonym gebliebene Abgeordnete einen Herausforderer nominieren, der im zweiten Wahlgang von der Kandidatur zurücktreten und Platz für einen neuen Kandidaten machen konnte. Nach 1990 wurden diese Namen zwar veröffentlicht, das Quorum wurde auf 10 % angehoben. Es verhinderte aber keine „stalking horse challenges“1070 in denen nur Zählkandidaten aufgestellt wurden, um mit dem ersten Wahlgang dem amtierenden Parteiführer den Nimbus des Unangefochtenen zu nehmen. Seit 1998 sind nunmehr in dem formalisierten Verfahren, das eine geordnete Abwahl eines missliebigen Parteiführers erlaubt, zumindest 15 % der Mitglieder des 1922 Committees notwendig. Hague suchte im Jahre 1998 mit den neuen Wahl- und Abwahlvorschriften einen Ausgleich zwischen den artikulierten Bedürfnissen der Fraktion und denen des Parteiführers: Einerseits müssen diejenigen Abgeordneten, die ihr Misstrauen in die Parteiführung ausdrücken wollen, ein Schreiben beim Vorsitzenden des 1922 Committee hinterlegen. Wenn die Zahl von 15 % der Abgeordneten erreicht ist, so löst dies das Neuwahlverfahren aus. Bis 2010 mussten die Misstrauensanträge eines jeden Abgeordneten jährlich erneuert werden. Seither wird eine einmal abgegebene Misstrauenserklärung solange vom Vorsitzenden des 1922 Committee vorgehalten, bis sie von dem jeweiligen Abgeordneten aktiv zurückgezogen wird. Geschieht dies nicht und wird mit der Zeit das Quorum erreicht, gibt der Vorsitzende die Durchführung des Misstrauensvotums gegen den Parteiführer bekannt.1071 Da nach para. 4 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) die Namen und Anzahl der Unterzeichner geheim bleiben, kann sich ein Parteiführer der Conservative Party nicht sicher sein, wann ein Misstrauensvotum durchgeführt wird und ob er sich einer Wiederwahl stellen muss.1072 Andererseits war eine Lehre aus dem Kampf um die Nachfolge von Thatcher im Jahr 1990, dass die Möglichkeit zum Eintritt eines Kandidaten im zweiten Wahlgang nicht mehr in der Wahlordnung möglich ist, so ausdrücklich in para. 28 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). Damit sollte die Nominierung von Zählkandidaten in diesem Fall die unverzügliche Anberaumung einer Neuwahl vor, para. 1 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). 1068 Siehe bei Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 97 f. 1069 Die Satzung schweigt zu der Möglichkeit eines Misstrauensvotums und überlässt die Abwahl eines Amtsinhabers damit der Fraktion im House of Commons. Geregelt ist dies in paras. 4 – 8 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). 1070 Quinn, Electing and Ejecting, S. 99. 1071 Vgl. Eaton, How to Remove a Conservative Leader, New Statesman v. 6. Oktober 2017 (Internetquelle). 1072 Vgl. Eaton, The 1922 Committee, New Statesman v. 11. Oktober 2017 (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
dem ersten Wahlgang verhindert werden, der ja nur pour courager les autres nominiert wurde, d. h. um den Parteiführer zu schädigen und einem Dritten zur Wahl zu verhelfen.1073 Zudem wurde die Wahlordnung dahingehend geändert, dass der Parteiführer keiner begrenzbaren Wahlperiode von einem Jahr mehr unterliegt. Als Grund dafür wurde in der Reform angeführt, die Conservative Party solle in ruhigere Fahrwasser geraten, nachdem sie bis 1997 innerhalb von 12 Jahren fünf Parteiführer erlebt hatte.1074 Wird das Quorum nunmehr erreicht, so findet eine Abstimmung im Plenum der Abgeordneten des 1922 Committee über das Vertrauen in den Parteiführer statt. Erlangt der Parteiführer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, ist das Misstrauensvotum gescheitert, er bleibt Parteiführer und in den nächsten 12 Monaten kann kein neues Misstrauensvotum gegen ihn durchgeführt werden.1075 Ist das Misstrauensvotum hingegen erfolgreich – wie im Jahr 2003 gegen Ian Duncan Smith – so sehen paras. 5 – 6 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) vor, dass der Parteiführer zurückzutreten hat und in der anzusetzenden Neuwahl nicht Kandidat sein darf; die Kandidaten können sodann gemäß paras. 10 ff. nominiert werden. Hierbei bedarf es für jeden Kandidaten der Unterstützung von zwei Abgeordneten nach para. 11 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). Ihre Namen werden nunmehr gemäß para. 14 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) veröffentlicht. Mehrfach ist in dieser Untersuchung bereits auf die verschiedenen Alternativen der Durchführung der Parteiführerwahl durch die Fraktion und bzw. oder die Mitglieder der außerparlamentarischen Partei hingewiesen worden. Konkret sieht die Wahlordnung hinsichtlich des Hauptverfahrens der Parteiführerwahl drei Möglichkeiten vor: Wird bereits im parlamentarischen Vorverfahren nur ein Kandidat nominiert, so gilt dieser als gewählt gemäß para. 16 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998).1076 Eine formelle zweistufige fraktionsinterne und parteiweite Wahl entfällt damit. Wenn zwei Kandidaten nominiert werden, entscheidet unmittelbar die Mitgliederschaft der gesamten Partei nach den Regeln, wie es in Sch. 2 para. 5 f. Constitution vorgesehen ist. Auch damit entfällt das zweistufige Wahlverfahren, wie es in
1073
Vgl. nur Quinn, Electing and Ejecting, S. 102. Zum Ganzen Quinn, Electing and Ejecting, S. 99 f. 1075 Para. 6 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). 1076 Allerdings kann der Parteivorstand eine Abstimmung der außerparlamentarischen Parteimitglieder innerhalb eines Monats verlangen gemäß para. 7 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). Dies ist bisher noch nicht geschehen. Dazu aus der Literatur Quinn, Electing and Ejecting, S. 100. 1074
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
437
der Literatur oftmals verkürzt bezeichnet wird,1077 allerdings zuungunsten der Fraktion. Nur wenn mehr als zwei gültige Nominierungen eingegangen sind, findet die fraktionsinterne Vorauswahl statt, para. 18 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). Bei dieser Wahl hat jeder Abgeordnete eine Stimme.1078 Diese hat das Ziel der Reduzierung auf zwei Kandidaten, die sodann dem Parteivolk zur Wahl präsentiert werden, siehe paras. 17, 36 ff. Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) i. V. m. Sch. 2 Constitution. Den beiden verbliebenen Kandidaten wird die Möglichkeit gegeben, sich bei zentral vom Conservative Central Office organisierten Mitgliederversammlungen im gesamten Land vorzustellen, paras. 43 – 49 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). Die Wahl durch die außerparlamentarischen Mitglieder ist in Sch. 2 paras. 5, 6 Constitution geregelt. Anders als bei den Abgeordneten findet eine Briefwahl statt. Wahlberechtigt sind alle Mitglieder, die mehr als drei Monate vor Ende der Wahlfrist eingetreten sind. Eine altersmäßige Beschränkung gibt es nicht. Es gibt nur einen Wahlgang. Der erfolgreiche Kandidat muss mehr als 50 % der abgegebenen Stimmen erreichen (Sch. 2 para. 6 Constitution). In den bisher nach 1998 stattgefundenen Wahlen haben nahezu alle in der Satzung und der Wahlordnung vorgesehenen Konstellationen praktische Anwendung gefunden.1079 Die Wahl des Parteiführers durch die Mitglieder hat seit 1998 nur stattgefunden in den Fällen von William Hague, Ian Duncan Smith und David Cameron. Michael Howard und Theresa May wurden jeweils ohne Beteiligung des Parteivolkes ernannt bzw. gewählt. Der Parteiführer war bis 1998 streng genommen nur der Führer der parlamentarischen Conservative Party. Erst seit 1998 ist er de jure der Führer der gesamten
1077
Vgl. nur Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 69 f. Die Abstimmung erfolgt schriftlich und geheim. Stellvertretendes Wählen (sog. proxy voting) durch einen anderen Abgeordneten ist möglich, siehe hierzu para. 19 ff. Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998). 1079 Vgl. detailliert zu den Parteiführerwahlen von 1998 bis 2005 mit jeweils eigenen Kapiteln Heppell, Choosing the Tory Leader, passim. Kürzere Zusammenfassungen bieten Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6 ff. Hervorzuheben ist, dass die Wahl von Cameron im Jahre 2005 nach dem zweistufigen Verfahren stattfand. Überdies amtierte Cameron bis 2016 und war damit der am längsten amtierende Parteiführer, der nach dem neuen Wahlsystem gewählt wurde. Seine Wahl entsprach damit der verbreiteten Wahrnehmung von „dem“ Wahlverfahren in der Conservative Party nach 1998 (welches, wie gesehen, nur eine Möglichkeit ist) in der Literatur. Zunächst musste sogar die Kandidatenliste durch fraktionsinterne Abstimmungen auf zwei Personen reduziert werden. Siehe mit Verweis auf die Wahl von Cameron pars pro toto für das Parteiführerwahlsystem in der Conservative Party – ohne Verweis auf die alternative Durchführung ohne Beteiligung der Mitglieder – nur Bradley/Ewing/Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 243 f. 1078
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Partei, zumal diese erst seither existiert.1080 Er wird allerdings ggf. nur von der Fraktion ernannt wie vor 1965 oder gewählt wie zwischen 1965 und 1998. Es bleibt in Recht und Praxis nach 1998 bei dem etablierten Prinzip der Fraktionsdominanz in der Wahl des konservativen Parteiführers.1081 So können die Mitglieder in dem hybriden Wahlsystem mit einem neuen Parteiführer als fait accompli konfrontiert werden. Dies ist mehrfach so geschehen unter Nutzung der unterschiedlichen satzungsrechtlichen Bestimmungen: Als nach dem Misstrauensvotum gegen Duncan Smith im Jahr 2003 alle gehandelten Kandidaten von einer Kandidatur Abstand nahmen, konnte Howard kurzerhand zum Parteiführer ernannt werden. Dies geschah gemäß para. 16 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) ohne eine Wahl im 1922 Committee oder in der Mitgliederschaft im Land. Hierbei zeigt sich, dass auch die Satzung und die Wahlordnung, wie sie nach 1998 gelten, in gewisser Weise politisch und organisationsgeschichtlich als das widerhallende Echo des magic circle verstanden werden können.1082 Zudem kann auch bei zunächst zwei oder mehr fraktionsintern nominierten Kandidaten das nach paras. 16, 17 Procedure vorgesehene zweistufige Wahlverfahren noch entfallen. Insofern gilt nämlich zu berücksichtigen, dass die Abgeordneten im House of Commons ihre gate keeping-Funktion auch in der Conservative Party behalten.1083 Zum einen können vom 1922 Committee zwei Kandidaten den Parteimitgliedern präsentiert werden, sofern es zu mehr als zwei ursprünglichen Kandidaturen kommt im Rahmen einer fraktionsinternen Vorauswahl. Im Lichte dieser gate keeping-Kompetenz der Fraktion ist es möglich, dass die unter den Parteimitgliedern außerhalb des Parlaments beliebten Kandidaten durch die Wahlgänge in der Fraktion eliminiert werden und nur zwei der Fraktion genehme Kandidaten den Parteimitgliedern zur Auswahl gestellt werden.1084 Sind also schließlich zwei Kandidaten übrig, so ist die mehrheitliche Unterstützung der Fraktion im House of Commons für einen Kandidaten noch nicht letztentscheidend. Der in der Fraktion unterlegene Kandidat vermag es so, als „Zweitplatzierter“ die zweite Wahlrunde durch das Parteivolk zu erreichen und ggf. hier den Favoriten der Abgeordneten noch zu besiegen. In diesen Fällen setzt die Conservative Party weiterhin auf eine politische, nicht eine (satzungs-)rechtliche Lösung derartiger Konflikte. Dies dokumentiert die Kandidatur von Ann Widdecombe, damals Shadow Home Secretary, im Jahr 2001 um die Nachfolge Hagues. Zwar genoss sie unter den Parteimitgliedern großen Rückhalt, hatte aber mangels hinreichender Unterstützung in der Fraktion bereits entschieden, nicht an den Vorauswahlen durch diese teilzu1080
(14). 1081
Vgl. Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12
Vgl. Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, S. 147 ff.; Cross, Party Leadership Selection, in: ders./Katz (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 100 (113). 1082 Vgl. Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (806). 1083 Umschrieben von Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 53. 1084 Vgl. Quinn, Electing and Ejecting, S. 120 f.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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nehmen.1085 Ihr Gegenkandidat Howard wurde im Ergebnis ohne Wahl zum Parteiführer ernannt.1086 Es scheint daher, wie Keith Alderman zusammenfasst, dass „the switch to OMOV would appear to have been more of a tactical manoeuvre to preserve MPs’ power than a massive surrender of it“.1087 Auch die Parteiführerwahl 2016 hat ein ähnliches Ergebnis, wenngleich unter Anwendung anderer satzungsrechtlicher Bestimmungen, produziert. So erfolgte eine Vorauswahl in der Fraktion, bei welcher die damalige Home Secretary, Theresa May, und die damalige Minister of State for Energy, Andrea Leadsom, als Kandidatinnen übrig blieben.1088 Allerdings entschied sich Leadsom angesichts ihres Ergebnisses von unter 25 % gegenüber dem von May von über 60 % der Abgeordnetenstimmen, sich nicht der bereits terminierten Mitgliederwahl zu stellen. Die Rücknahme der Kandidatur war (und ist) nach para. 35 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) möglich.1089 Die zentrale Voraussetzung für die Beendigung der Parteiführerauswahl ist dabei, dass der Vorsitzende des 1922 Committee und der Parteivorstand der Rücknahme zustimmen. Zudem kommt dem Parteivorstand das Recht zu, eine Befragung der Mitglieder über die Ernennung des verbliebenen Kandidaten zum Parteiführer gemäß para. 35 Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party (1998) i. V. m. Sch. 2 para. 7 Constitution1090 durchzuführen. Die Zustimmung wurde damals erteilt, von einer Mitgliederabstimmung abgesehen1091 und May nach Wahl allein durch die Abgeordneten zur Parteiführerin ernannt.1092 1085
Vgl. Quinn, Leader-Eviction Rules, P.S. 2005, S. 793 (804) m. w. N. Vgl. Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 51 ff.; Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 155 ff. Zur „coronation“ von Howard siehe a. a. O., S. 167; ebenso Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 9 f. m. w. N. 1087 Alderman, Leadership Election Procedures, P.A. 1999, S. 260 (269). 1088 May erhielt im zweiten Wahlgang im 1922 Committee 199 Stimmen, Leadsom dagegen nur 84 Stimmen, siehe Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 7. 1089 Eine Analyse der Parteiführerwahl 2016 bei Jeffery/Heppell/Hayton/Crines, The Conservative Party Leadership Election of 2016, P.A. 2017, S. 1 passim, auch unter dem Gesichtspunkt, dass Leadsom unter den Abgeordneten, die eher gegen den Brexit waren, wohl gute Aussichten auf die Wahl zur Parteiführerin gehabt hätte. Anders vermutlich dagegen bei den Mitgliedern der außerparlamentarischen Partei, die überwiegend als sog. Brexiteers den EUAustritt befürworteten. 1090 Wortlaut der Klausel: „In the event of there being only one valid nomination at the close of nominations prior to the first ballot being held by the Parliamentary Party for the election of the new Leader, the election of the nominee may if so ordered by the Board be ratified by a ballot of the Party Members and Scottish Party Members to be held within one month of the close of nomination.“ 1091 Dies erfolgte aus politischen Gründen, worauf Jeffery/Heppell/Hayton/Crines, The Conservative Party Leadership Election of 2016, P.A. 2017, S. 1 (1 f.) hinweisen. May – die sich während des Referendums mit eindeutigen Positionierungen zurückhielt – wurde in der Mitgliederschaft als brexitkritisch gesehen. Womöglich hätte sie keine Bestätigung durch mehr als 50 % der Mitgliederstimmen erhalten, wenn sie gegen einen brexitbefürwortenden Gegen1086
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Trotz der nur in drei von sieben Fällen durchgeführten Mitgliederwahl des Parteiführers seit 1998 kam im 1922 Committee immer wieder Kritik an der Teilhabe der Parteibasis bei der Parteiführerauswahl auf.1093 Die auch seitens der Partei außerhalb des Parlaments gestützte Forderung war den erneut verlorenen Wahlen im Jahr 2005 gegen Blair und die Labour Party gefolgt. Es wurde vorgebracht, dass ein Parteiführer nicht den Mitgliedern gefällig sein müsse, sondern mit den Abgeordneten zusammenarbeiten müsse. Nur so ließen sich Mehrheiten im Volk für die Conservative Party erringen.1094 Am weitesten brachte es der Reformvorschlag des 1922 Committee im Jahr 2005.1095 Dieser sah vor, dass die Kandidaturen fortan nicht mehr nur von Mitgliedern des 1922 Committees unterstützt werden sollten, sondern entweder von ihnen oder von 5 % der Mitglieder der außerparlamentarischen Partei. Im Anschluss daran sollten die zulässigen Wahlvorschläge durch die außerparlamentarische Partei und die Abgeordneten der Partei im Europäischen Parlament erfolgen. Die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen sollten dem 1922 Committee zur endgültigen Auswahl des Parteiführers unter dem gleichen Wahlsystem wie bei der bis dahin dort stattfindenden Vorauswahl vorgelegt werden. Die Fraktion und der Parteivorstand unterstützten diesen Reformvorschlag mehrheitlich. Für die Änderung der Parteisatzung, und damit der Regelungen über die Parteiführerwahl, ist nach Artt. 90 ff., 93 i. V. m. Sch. 9 Constitution das Constitutional College zuständig.1096 Dieses setzt sich aus den Abgeordneten im House of kandidaten in dem Wahlgang angetreten wäre. Die Situation, wie sie bei der Labour Party im Juli und August desselben Jahres eintrat und die zur Neuwahl Corbyns führte, wollten die Abgeordneten verhindern. 1092 Im Übrigen wurden die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen beachtet: Cameron reichte erst nach Ernennung von May zur Parteiführerin sein Rücktrittsgesuch als Premierminister bei der Krone ein. Vgl. nur die Berichterstattung unter dem Titel Theresa May Set to Be UK PM After Andrea Leadsom Quits, BBC News, 11. Juli 2016 (Internetquelle) 1093 Bale/Webb, Party Leaders in the UK, in: Pilet/Cross (Hrsg.), Party Leaders, S. 12 (17). Dies war allerdings eine von allen Seiten erhobene Kritik. Die vorgeschlagenen Lösungen mit mehr oder weniger Partizipationsrechten der außerparlamentarischen Parteiorganisation variierten naturgemäß. 1094 Vgl. nur die Äußerungen von Raymond Monbiot, seinerzeit Vorsitzender der National Conservative Convention (Nachfolgeorganisation der National Union of Conservative and Constitutional Associations, vgl. Artt. 20 – 25 Constitution) und damit der Dachorganisation der Wahlkreisvereinigungen. Dieser setzte sich gleichsam dafür ein, dass die außerparlamentarische Parteiorganisation „kept in the loop“ müsse. So zitiert bei Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 114. 1095 Eine konzise Darstellung des Meinungsstandes in der Conservative Party im Jahr 2005 bei der Regelung der Nachfolge von Michael Howard gibt Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 174 ff. m. w. N. 1096 Siehe Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 63 zum speziellen Satzungsänderungsverfahren bei der Parteiführerwahl, das höhere Voraussetzungen verlangt als in anderen Bereichen: „The one clear exception to the rule that the extra-parliamentary party has authority over leadership selection rules as set out in a party’s constitution is the UK Conservatives. Most provisions in the party’s constitution can be amended by a two-thirds vote of the party’s
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Commons, dem Vorstand der National Conservative Convention, den konservativen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, dem Vorstand der Association of Conservative Peers, der Fraktion im House of Lords und deren frontbench spokesmen, den Schattenministern im House of Lords zusammen. Die Gesamtmitgliederzahl des Constitutional College betrug zu seiner Zeit 1.141 Personen. Es wurde eine Briefwahl durchgeführt,1097 bei der die Wahlbeteiligung bei 87,7 % lag. Zwar stimmten über 61 % der drei Sektionen (Mitglieder des 1922 Committee; Mitglieder der außerparlamentarischen Parteiorganisation; House of Lords-Mitglieder und Europaabgeordnete) für das Reformpaket. Somit war die erforderliche Wahlbeteiligung von mindestens 50 % der Mitglieder des Constitutional College erreicht. Dagegen wurden die weiteren Voraussetzungen für eine satzungsändernde Mehrheit verfehlt. Gemäß Art. 92.2, 93.3 Constitution liegt diese bei jeweils 66 % der Abgeordneten im House of Commons und der Mitglieder der National Conservative Convention.1098 Einige Führungspersönlichkeiten der Partei, darunter May and Smith, brachten in einem offenen Brief im Daily Telegraph ihre Ablehnung der Reform zum Ausdruck, da sie den Weg zurück in die Zeit vor 1998 nicht gutheißen wollten: „It is not too late for the parliamentary party to find a way of involving grassroots members in the Conservative Party’s most important decisions. Any proposals that do not facilitate democratic involvement deserve to be defeated.“1099
Constitutional College in which the extra-parliamentary party is well represented (Part 13.90 and 91). However, leadership rules are exempt from this provision and instead can only be amended if approved by a majority of all voters in the Constitutional College as well as twothirds of MPs voting in the College and two-thirds of the extra-parliamentary members voting (representing the National Conservative Convention) (Part 13.92). The effect of these provisions is to give both groups within the party a veto over any rule changes. This was evident in 2005 when forces within the parliamentary party attempted to revert to a system of selection essentially controlled exclusively by the parliamentary party. The proposed changes failed even though they were supported by 61 per cent of constitutional college voters. While more than seven in ten MPs supported the changes, only 58 per cent of National Convention members did so. The lack of two-thirds support from this extra-parliamentary group resulted in defeat of the proposed changes.“ 1097 Siehe Art. 93 i. V. m. Sch. 9 para. 2 Constitution. 1098 Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 14 f.; Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 176 f.; Denham/ O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 128 f. Bei den Abgeordneten im House of Commons stimmten 71,4 % zu, bei den Mitgliedern der außerparlamentarischen Partei 58,5 %. 1099 May et al., Grassroots involvement, Daily Telegraph v. 19. Juli 2005, S. 23 zitiert nach Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 128; Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 14 f. Herv. d. Verf.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Andere, wie Hague als Architekt der Demokratisierung im Jahr 1998, haben „reached the view that the rules should be changed“1100 und dass die Parteiführerauswahl wieder in die Hände der Fraktion im House of Commons gelegt werden sollte. Im Jahr 2016 wurden unter dem Eindruck der Ergebnisse des Misstrauensvotums gegen Corbyn durch die Labour-Fraktion und dessen anschließender Wiederwahl durch die Mitglieder auch Befürchtungen eines „Jeremy Corbyn of the right“1101 laut. Hierbei sprachen sich führende Köpfe der Partei für eine vor- und umsichtige Reform der Parteiführerauswahl aus. Der Vorsitzende des 1922 Committee etwa sprach sich – wie in der Labour Party – für unterschiedliche Regelungen der Parteiführerwahl in Regierungs- und Oppositionszeiten aus. Insgesamt bestehe durch das aktuelle Satzungsrecht die Gefahr „to leave the last word to the party membership […] of a prime minister being installed who cannot command that confidence and support [of the 1922 Committee].“1102 Dabei benötigt der konservative Parteiführer indessen gerade den Rückhalt der Abgeordneten, um seiner verfassungskonventionalrechtlichen Stellung als (Schatten-)Premierminister gerecht zu werden. Wie aber gesehen, ist diese Gefahr dadurch reduziert, dass in der Conservative Party die Beteiligung der Mitglieder nicht zwingend ist; das Satzungsrecht lässt Spielraum für politische Prozesse, wie sie bei dem Rückzug von Andrea Leadsom1103 und Anne Widdecombe zur Wahl eines für die Fraktion tragbaren Parteiführers geführt haben. 3. Zwischenergebnis: gegenseitige Beeinflussung in der Satzungsentwicklung durch beide großen Parteien Die satzungsrechtliche Ausgestaltung der Wahl und Abwahl des Parteiführers in der Labour Party und der Conservative Party weist in den grundlegenden Fragen eine Kohärenz auf, die vor allem durch die verfassungsrechtliche Stellung des Parteiführers als Premierminister zu erklären ist. So ist in der Labour Party – ebenso wenig wie in der Conservative Party – in Regierungszeiten eine jährliche Wahl vorgesehen.1104 In beiden Parteien übernehmen die Mitglieder heute eine zentrale Rolle in der 1100 Zitiert nach Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 113 m. w. N. 1101 Zitiert nach Wright, Strip Grassroots of Powers, The Times v. 3. September 2016, S. 2. 1102 Zitiert nach Wright, Strip Grassroots of Powers, The Times v. 3. September 2016, S. 2. 1103 Gerade bei ihr bestand die Befürchtung, die Abgeordneten müssten ggf. mit einer Parteiführerin zusammenarbeiten, die nicht den Rückhalt der Fraktion, sondern nur den der außerparlamentarischen Mitglieder genießt (in Bezug auf das Thema des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU). Vgl. hier nochmals Jeffery/Heppell/Hayton/Crines, The Conservative Party Leadership Election of 2016, P.A. 2017, S. 1 (1 f.). Im Vergleich zu und in Bezugnahme auf die Wahl von Corbyn. 1104 Dies war aber, wie gezeigt, in der Conservative Party bis 1998 anders. So musste sich Thatcher der durch zwei Abgeordnete initiierbaren Wiederwahl in den Jahren 1989 und 1990 stellen.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Wahl eines Parteiführers. Bei der Conservative Party ist die Beteiligung der Mitglieder der außerparlamentarischen Partei gleichwohl von der Vorauswahl zweier Kandidaten durch die Fraktion abhängig. Nicht einmal dies ist ein Garant für eine tatsächlich durchgeführte Abstimmung in der Mitgliederschaft und der Fraktion, da immer noch einer der beiden verbliebenen Kandidaten – im Lichte politischen Drucks durch die Fraktion, die einen ihr genehmen Parteiführer und (Schatten-) Premierminister wünscht – zurücktreten kann, bevor die Mitglieder abstimmen. So kann der verbliebene Kandidat zum Parteiführer und folglich (Schatten-)Premierminister erklärt werden. Die Abwahl des Parteiführers liegt aufgrund der verfassungskonventionalrechtlichen Stellung des Premierministers in den Händen der Abgeordneten im House of Commons.1105 Beide Parteien eint hierbei die Exklusivität der Abwahl eines Parteiführers durch ein Misstrauensvotum, wobei den Abgeordneten hier eine gate keeping-Funktion zukommt.1106 Diese Funktion ist einerseits Ausdruck der Parlamentssouveränität und der Ernennung und Entlassung eines Premierministers durch die Krone. Mithin sind Wahl und Abwahl eines Premierministers rechtlich als Zusammenspiel der Crown-in-Parliament zu verstehen. Andererseits wird ihm seine politische Autorität nicht mehr ex auctoritate principis verliehen, sondern kraft der politischen Volkssouveränität erlangt. Diese wird durch die parteiinterne Auswahl sowie die Wahlen zum House of Commons vermittelt. Blackburn weist in dem Kontext darauf hin, dass die „constitutional“ und „political authority“ eines Premierministers „eclipsed by the establishment of party leadership rules for all the major political parties. Furthermore, the institution of political parties, previously regarded as private voluntary bodies, has now entered the domain of UK public law and the constitution.“1107
1105 Für weitere derartige Beispiele aus der Zeit bis in die 1960er Jahre siehe Parry, Government, S. 17 ff. Letztlich ist es eine Frage des (potenziellen) Wahlerfolges der Partei in der nächsten Wahl unter dem Premierminister. Parry konstatiert daher: „If the leader appears to command the confidence of the electorate and is likely to lead the Party to victory at the next election, he is secure; if on the other hand, there is evidence to suggest that the Party is likely to lose the next general election under his leadership, his position is insecure. In this sense the Conservative leadership is far from autocratic. The leader has enormous powers only as long as the party supporters, reflecting the views of the electorate, respond to his leadership. Once they cease to responding, his power collapses and he has no alternative but to resign.“ 1106 Zum Begriff der gate-keeping function in der Labour Party siehe Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 47) – Foskett J. 1107 Insoweit verweist Blackburn noch auf „especially since the passage of the Political Parties, Elections and Referendum Act 2000“. Dieser kennt jedoch nur die Institution des Parteiführers. Über seine Wahl, seine Funktion außerhalb der Registrierung, über die (staatliche) Finanzierung von Parteien und über die Ernennung bestimmter Kandidaten (etwa für die Electoral Commission) schweigt das Gesetz. Wahl und Abwahl bleiben mithin Gegenstand der zivilrechtlichen Parteisatzungen. So Blackburn, Monarchy and the Personal Prerogatives, P.L. 2004, S. 546 (550), Herv. d. Verf.
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Damit geht es heute in der Wahl und Abwahl des Parteiführers1108 um responsiveness (Reaktionsfähigkeit) gegenüber dem Volk als Ganzen aber auch der innerparteilichen Volkssouveränität. In dem Spannungsfeld zwischen Souveränität der Crown-in-Parliament und des (Partei-)Volkes sowie der daraus erwachsenden Schlüsse für eine demokratische Parteiführerwahl unter Einbeziehung der Parteimitglieder ist der Abwahlmechanismus bis heute in beiden Parteien im Lichte des Mitgliederparteiprinzips der westlichen Parteiendemokratien als undemokratisch zu sehen. Dieses Problem hat auch Howard im Jahr 2005 gesehen, als er die Wahlordnung der Conservative Party nach seinem eigenen Abtreten neu zu regeln suchte. In seinen Vorschlägen zur Reform der Wahl des konservativen Parteiführers identifizierte er daher, dass es „is surely wrong in principle and certainly damaging in practice for one group of people to have the power to elect the Leader of the Party and a different group of people to have the power to remove him or her“.1109
Als Schluss zog er allerdings daraus, dass die Wahl auch wieder in die Hände der Fraktion gehöre.1110 Gleichermaßen muss bei Ausfüllung des Parteiführeramtes (und Premierministeramtes) durch einen Amtsinhaber, der die Fraktion hinter sich weiß, berücksichtigt werden, dass eine formale Bestätigung im Amt des Parteiführers in beiden Parteien nicht vorgesehen ist. Dies würde den verfassungskonventionalrechtlichen Grundsätzen widersprechen. Die fakultativ durchführbaren jährlichen Wiederwahlen sind in den beiden Parteien, wenn sie an der Regierung waren bzw. sind und den Premierminister stellen, nur in Ausnahmefällen durchgeführt worden und führten dann zur Abwahl bzw. zum Abtreten des Amtsinhabers, nicht aber zu seiner Bestätigung im Amt.1111 Dabei gilt, dass eine regelmäßige verpflichtende Wiederwahl nicht notwendig ist, sondern diese nur auf Antrag durchgeführt wird.1112
1108 Blackburn weist exemplarisch auf die Abwahl Thatchers als Parteiführerin hin, was automatisch ihr Abtreten als Premierministerin zeitigte. Blackburn, Monarchy and the Personal Prerogatives, P.L. 2004, S. 546 (550). 1109 So im „A 21st Century Party“-Reformpaket, zitiert nach Denham/O’Hara, Democratising Conservative Leadership Selection, S. 117, Herv. d. Verf. Dazu auch Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 13 m. w. N. 1110 Die weiteren satzungsrechtlichen Entwicklungen bleiben daher auch im Lichte der jüngeren Presseberichte und der Gerichtsverfahren um Corbyns (Ab-)Wahl abzuwarten. 1111 Zur jährlichen Wiederwahl von 1975 bis 1998 siehe Cross, Party Leadership Selection, in: ders./Katz (Hrsg.), Intra-Party Democracy, S. 100 (112) m. w. N. und Brazier, Labour Government, P.L. 1990, S. 9 (10). Im Jahre 1989 geschah es erstmalig, dass ein Parteiführer der Conservative Party – hier Thatcher – herausgefordert wurde. Herausforderer war Anthony Meyer. 1112 Vgl. die vollständige Darstellung aller Parteiführerwahlen seit 2001 bei Johnston/Maer, Leadership Elections: Conservative Party, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 6 ff. Für die Zeit vor 1998 nur Fisher, British Political Parties, S. 40 f.
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Hinsichtlich der seit den 1980er Jahren in beiden Parteien durchgeführten Reformen der Parteiführerwahl, die schrittweise zur Einbeziehung der Parteimitgliederschaft geführt haben, kann festgestellt werden, dass dies jeweils nach meist großen und schwerwiegenden politischen Wahlniederlagen geschah.1113 Hierzu wird in der internationalen Parteienforschung keine Koinzidenz, sondern vielmehr ein Einfluss von Wahlniederlagen auf parteiinterne Reformen festgestellt.1114 Aus diesen jeweiligen Niederlagen wollten die beiden großen britischen Parteien gestärkt hervorgehen. Sowohl die Labour Party als auch die Conservative Party verbanden mit der Demokratisierung der parteiinternen Wahlen das Streben nach dem Aufbau der größten demokratischen Massenbewegung im Vereinigten Königreich, wenn nicht gar der gesamten westlichen Welt.1115 In der Praxis hat es einzig in der Labour Party eine zumindest vorübergehende1116 massive Erhöhung der Mitgliederzahl gegeben.1117 Insbesondere hat die Einführung der neuen affiliated supporter-Mitgliedschaft zu einem Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Gewerkschaften und Labour Party geführt, jedenfalls was die Mitgliederbeteiligung und den Einfluss der Gewerkschaftsfunktionäre auf die Auswahl des Spitzenpersonals der Partei angeht.1118 So herrscht unter den Gewerk1113 Vgl. hier nur Heppell, Choosing the Tory Leader, S. 131: „The reaction of the Conservative Party to losing office in 1964 had been the establishment of new procedures to ensure that future party leaders should be democratically determined. The reaction to losing office in 1974 was to amend the procedures governing the election of the party leader to ensure that an unpopular incumbent could be challenged and removed.“ 1114 Cross/Blais, Politics at the Centre, S. 39 m. w. N. auf das Werk von Panebianco, für den „electoral defeat and deterioration are pressures leading to organizational change“, sowie des belgischen Politologen Kris Deschouwer, der Wahlniederlagen für „the mother of change“ hält. 1115 Letztlich möchte die Labour Party die Einführung der neuen Mitgliedschaftsformen (dazu sogleich) und die Änderung der Parteiführerwahl in eine basisdemokratische Entscheidung als logische Weiterentwicklung der Partei verstanden wissen, so Gauja, Party Reform, S. 135. Siehe dazu auch den Collins-Bericht, Collins, Labour Party Reform, S. 18: „Ed Miliband is clear about the direction in which he wishes the party to move. It is a direction of travel that builds on the party’s historic foundations but responds to the world as it is today. The package of practical proposals presented here is based on his principled vision. Some involve immediate change; others will take time to bring into effect. But all should be seen as part of the same whole and motivated by the same ambition: to make Labour a movement that will change Britain for the better.“ 1116 Es gab rund 26.000 Parteiaustritte aus der Labour Party seit Mitte 2016, siehe die Presseberichterstattung, etwa Labour Party Has Lost Nearly 26,000 Members Since Mid-2016, Report Claims, The Guardian v. 2. März 2017 (Internetquelle); Keen/Jackson, Membership of UK Political Parties, in: House of Commons Library (Hrsg.), Briefing Paper, S. 12, 14 m. w. N., allerdings ohne explizite Feststellungen zu den Austrittszahlen seit 2016. 1117 Aamodt, Unincorporated Associations and Elections, LGL 2015 (Internetquelle): „Since the General Election in May, over 350,000 people have joined the Labour Party, with 106,000 as new party members, 148,000 new trade-union affiliated supporters and 113,000 £3 registered supporters.“ 1118 Siehe auch zu dem Einsatz von gewerkschaftsnahen Labour Party-Aktivisten, die sich für die Aufhebung der registered supporter-Mitgliedschaft einsetzen, Akehurst, Let’s Scrap the Registered Supporters Scheme, Labour List (Internetquelle).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
schaftsführern immer noch die Ansicht, dass sie nach orthodoxem Verständnis der Labour Party-Organisation Mitglieder der Partei sein sollten, nicht ihre individuellen Gewerkschaftsmitglieder selbst.1119 Trotz der Beitritte von mehreren 100.000 Personen in den Jahren 2015 und 2016 hat die Reform unter Miliband keine Massenmitgliederpartei hervorgerufen, wie sie noch in den 1960er Jahren mit mehreren Millionen Mitgliedern bestand. Dem Gewerkschaftsflügel der Labour Party nahestehende Medien sehen zwar die Chance, die Partei, wie in früheren Zeiten, zu einer Massenbewegung zu machen. Dies wird aber ambivalent gesehen. Die Stellung der etablierten Akteure, der Gewerkschaften und der Abgeordneten, drohe durch die Ausweitung basisdemokratischer Beteiligungsformen zu erodieren.1120 So wird die Reform unter Miliband nur als Anfang eines Prozesses gesehen, der nicht auf dauerhaftem Engagement und auf der Einbindung von Bürgern in die bisherigen Strukturen der Partei gründet. Vor allem seien diese neuen Mitglieder für die vorgenannten Akteure schwieriger auf demokratischem Wege zu beeinflussen, zumal deren Wahl direkt und – wie seit 2015 praktiziert – online oder per Brief von zu Hause aus erfolgt. So fehle auch die spezifische Dynamik auf einem Parteitag. Letztlich besteht auch die in den Parteiführerwahlen 2015 und 2016 erwiesene Gefahr des Eintritts von Anhängern anderer Parteien, insbesondere der Conservative Party, um die Erfolgschancen der Labour Party durch Wahl eines nicht im Volk mehrheitsfähigen Labour-Parteiführers zu verringern. Im Sinne des in der Einleitung zitierten Diktums Browns aus den frühen 1990er Jahren werden die Mitglieder ihrerseits zu agents of change. All diese neuen Beteiligungsmodelle sind, darauf hat der Court of Appeal in der Rechtssache Evengelou v McNicol explizit verwiesen, Ausdruck der Parteienorganisationsfreiheit. Das Gericht erteilte einer umfassenden Zweckmäßigkeitskon1119
„Unsurprisingly, the reforms elicited significant criticism from the union movement, where many saw the proposals as fundamentally undermining the principle of collective affiliation –– whereby trade unions, not unionists, are members of the party“, so Gauja, Party Reform, S. 40 m. w. N. Allerdings sind andere Verbindungen zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften unverändert geblieben, auf die in der vorliegenden Untersuchung nicht eingegangen werden konnte. So der Einfluss im programmatischen Bereich, vgl. Webb/ Bale, No Place Else To Go, in: Haugsgjerd Allern/Bale (Hrsg.), Left-Of-Centre Parties and Trade Unions, S. 246 (252 f.). 1120 Vgl. Ferguson, Miliband’s Party Reforms, Labour List (Internetquelle): „This won’t build a mass movement party – but it gives Labour a chance to do so: No reform of a party’s rules can deliver a mass membership party – that’s not how politics works and it’s not how people work. But these changes should allow Labour to have a direct relationship with hundreds of thousands more people – and bring more people into the party than are currently involved. The Labour Party – and party politics in general – can feel pretty moribund at times. By lowering the barrier for entry and engagement, this provides an opportunity. But that’s all it is. Only if combined with a strong offer to potential supporters and members, and alongside the kind of community organising and engagement that Arnie Graf has been leading on, can these reforms have a profound impact on the party. And on our politics. This isn’t the end of the process. I’m afraid it’s only the start.“
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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trolle1121 der Erwägungen hinter der Reform eine eindeutige Absage. Eine solche ist nur in einem judicial review-Verfahren vorgesehen, das aber bei der Überprüfung parteiinterner Entscheidungen durch ein staatliches Gericht gerade nicht durchgeführt wird.1122 Insofern sehen die Gerichte zwar die Unübersichtlichkeit und zuweilen sogar die Inkonsistenz parteiensatzungsrechtlicher Regelungen (insbesondere im Hinblick auf die Wahl- und Abwahlsysteme des Parteiführers in der Labour Party), gehen aber über diese hinweg.1123 In der Sache Evangelou v McNicol betonte daher Beatson LJ, der seinerseits Professor für Vertragsrecht ist, die Problematik der Undurchsichtigkeit des Rule Book der Labour Party. Das Rule Book mit seiner Mischung aus römischen, arabischen sowie alphabetischen Ziffern ist seiner Auffassung nach ein unübersichtliches Produkt der ständigen Rechtsfortbildung. Wörtlich nannte er es das Ergebnis einer „untidy draftsmanship“1124. Aus dieser „unsauberen Arbeit“ ergeben sich abgesehen von der Unübersichtlichkeit der Regelungen sogar justiziable Diskriminierungen nach dem Equality Act 2010. Möglicherweise beruhen diese tatsächlich auf der ungeordneten Kompilation: So war im Jahr 2016 die Mitgliedschaft von Minderjährigen über 14 Jahren in der Labour Party als individuelles Vollmitglied möglich, die auch zur Teilnahme an den Parteiführerwahlen berechtigte. Als registered supporter hingegen war dies ausgeschlossen, da in den Procedural Guidelines das Mindestalter von 18 Jahren gefordert wurde. 1121
Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (paras. 2, 55 – 59) – Foskett J: „The court’s power was not simply to determine whether a decision of the committee was honest and reasonable, but whether it was right or wrong.“ So auch Choudhry v Triesman [2003] EWHC 1203 (Comm) (paras. 38, 68) – Burnton J. 1122 Eine Absage an die Anwendung der Kriterien des judicial review-Verfahrens findet sich in der Entscheidung Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 47) – Beatson LJ, der Socimer International Bank Ltd. v Standard Bank London Ltd. [2008] EWCA Civ 116 (para. 66) – Rix LJ zitiert: „It is plain from these authorities that a decision-maker’s discretion will be limited, as a matter of necessary implication, by concepts of honesty, good faith, and genuineness, and the need for the absence of arbitrariness, capriciousness, perversity and irrationality. The concern is that the discretion should not be abused. Reasonableness and unreasonableness are also concepts deployed in this context, but only in a sense analogous to Wednesbury unreasonableness, not in the sense in which that expression is used when speaking of the duty to take reasonable care or otherwise deploying entirely objective criteria“ (Herv. i. O.). 1123 An dieser Stelle setzt die Conservative Party ihre Tradition, „Familienstreitigkeiten“ politisch und nicht rechtlich zu lösen, fort. Die Labour Party hingegen machte in ihrer Geschichte ihre innerparteilichen Konflikte früh zum Gegenstand von staatlichen Gerichtsverfahren. 1124 Evangelou v McNicol [2016] EWCA Civ 817 (para. 9) – Beatson LJ: „The Rule Book is a detailed document containing 15 chapters and 8 appendices. As stated by Foskett J in Foster v McNicol at [28], it is not the product of a single drafting exercise. The result is (see ibid at [53]) that it contains examples of what Roskill LJ in Bristol Equity v Gowing [1997] ICR 393 described as ,untidy draftsmanship‘.“ (Herv. i. O.).
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3. Kap.: Innerparteiliche Demokratie im britischen Parteienrecht
Doch auch die Parteisatzung der Conservative Party ist von einigen Unklarheiten geprägt. Während das Rule Book der Labour Party seit den 1980er Jahren klar festlegt, dass ein Parteiführer Mitglied im House of Commons sein muss, so fehlt eine dementsprechende Klausel in der Satzung der Conservative Party.1125 Dass die Ausführungen von Ivor Jennings aus den 1930er Jahren, der es noch für eine „settled rule“ hielt, „that the Prime Minister must be either a peer or a member of the House of Commons“1126 überholt, sind, weist Blackburn nach. Dabei verweist er u. a. darauf, dass die Conservative Party als letzte der beiden großen Parteien seit 1965 ihren Parteiführer wählt. Jedoch lässt Blackburn hier außer Acht, dass es an einer satzungsrechtlichen Bestimmung zur Mitgliedschaft im House of Commons in der Constitution und der Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party seit jeher mangelt. Überzeugend ist sein zweites Argument. Denn trotz fehlender lex scripta et certa dürfen die praktischen Auswirkungen im Sinne eines Parteiführers ohne Sitz im House of Commons nicht überschätzt werden. So ist nach wie vor die Parteiführerwahl im Lichte der verfassungskonventionalrechtlichen Stellung des (Schatten-)Premierministers zu sehen. Dieser war seit 1902 stets Mitglied im House of Commons, sodass sich hieraus eine Verfassungskonventionalregel gebildet hat. Brazier betont in dem Kontext, dass das fehlende Qualifikationsmerkmal des Sitzes im House of Commons für Kandidaten um die Parteiführerschaft in der Conservative Party damit erklärt werden kann, dass auch House of Lords-Mitgliedern zunächst die Kandidatur offenstehen soll. Ein solcher müsste aber, um die politische Volkssouveränität wie auch das Kompetenzgefüge zwischen den beiden Häusern nach den Parliament Acts 1911 und 1949 anzuerkennen, folglich seine life oder hereditary peerage (persönliche oder vererbliche Adelswürde) niederlegen, um einen Sitz im House of Commons bei den nächsten Wahlen anzustreben. Dem ist zuzustimmen, zumal es auch historischen Erfahrungen von Douglas-Home entspricht und von der bis heute geltenden Gesetzeslage gedeckt ist (Peerage Act 1963).1127
1125 Aktuell geregelt in Ch. 1 cl. VII. A. ii. Rule Book 2017: „The leader and deputy leader of the Party shall be elected or re-elected from among Commons members of the PLP.“ Siehe einen Abdruck der 1994 gültigen „Labour Party Amender Rule 5–Election of Leader and Deputy Leader“ in Alderman, Electing the Leader of the Labour Party, P.L. 1994, S. 17 (24), hier r 5(1)(d): „[A]ll nominees must be Commons Members of the Parliamentary Labour Party.“ Dagegen für die Conservative Party Brazier, Margaret Thatcher, MLR 1991, S. 471 (480): „The Conservative rules are silent on whether their Leadership candidates must be MPs. It would be astonishing if the rules were ever read as allowing someone who was not an MP to stand, although perhaps a peer who was to disclaim his peerage and seek a Commons seat might be said to qualify.“ 1126 Jennings, Cabinet Government, S. 21; vgl. auch Blackburn, Monarchy and the Personal Prerogatives, P.L. 2004, P.L. 2004, S. 546 (550). 1127 Hier nochmals Blackburn, Monarchy and the Personal Prerogatives, P.L. 2004, S. 546 (550).
D. Beteiligung der Mitglieder an der Parteiführerauswahl
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Zweifellos unterliegen die Parteien einer weitgehenden self-determination,1128 die sich ins Deutsche wohl mit dem Begriff der „Parteienorganisationsfreiheit“ übersetzen lässt. In den Verfahren Foster v McNicol und Evengelou v McNicol bemüßigten sich die Gerichte angesichts der hohen politischen Relevanz der Streitigkeit um die Wahlmodalitäten bei der Parteiführerwahl und der Auswirkungen für über 100.000 Mitglieder, diese ständige Rechtsprechung1129 erneut hervorzuheben. Auch in der Literatur wird die richterliche Zurückhaltung bezüglich der inneren Angelegenheiten von Parteien außer in Fragen der parteiengesetzlichen Vorschriften zum Finanzierungs- und Wahlrecht betont.1130 Nichtsdestoweniger ist ein indirekter Einfluss gerichtlicher Entscheidungen außerhalb der Urteilskraft auf die Parteisatzungen nachzuweisen. So regelt das Rule Book der Labour Party seit 2017 in der geänderten Ch. 4 cl. II. B. ii., dass der herausgeforderte Parteiführer dem 20-%Unterstützerquorum nicht unterliegt.1131 Insoweit kann festgehalten werden, dass die britischen Parteien schon seit den 1960er Jahren nicht mehr länger als black boxes1132 behandelt werden und in den letzten Jahren eine rechtsgestaltende Wirkung gesetzlicher Regelungen und richterrechtlicher Entscheidungen auf das Parteisatzungsrecht erfolgte.
1128 Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 48 mit dem Hinweis auf die Entscheidung Foster v McNicol. 1129 Für die Zurückhaltung in Bezug auf die innerparteilichen personal- und sachpolitischen Entscheidungsprozesse siehe Nattrass v UKIP [2013] EWHC 3017 Ch. D. (para. 15) – Purle J; Foster v McNicol [2016] EWHC 1966 (QB) (para. 11) – Foskett J. 1130 Vgl. statt vieler Greenberg, Political Parties (Westlaw UK, Internetquelle), para. 48. 1131 Wortlaut: „Where there is no vacancy, nominations may be sought by potential challengers each year prior to the annual session of Party conference. In this case any nomination must be supported by 20 per cent of the combined Commons members of the PLP and members of the EPLP. Nominations not attaining this threshold shall be null and void. The sitting Leader or Deputy Leader shall not be required to seek nominations in the event of a challenge under this rule“ (Herv. d. Verf.). 1132 Vgl. bei Morlok, Parteimitgliedschaft in vergleichender Perspektive, in: v. Alemann/ ders./Spier (Hrsg.), Parteien, S. 183 (183).
Schlussbemerkungen In der vorliegenden Arbeit hat sich zuvorderst die in der Einleitung formulierte These bestätigt, dass sich eine Untersuchung des Parteienrechts im Vereinigten Königreich nicht in der Art und Weise durchführen lässt, wie dies in anderen westlichen Rechtsordnungen der Fall wäre.1 Dies liegt begründet in der Unkodifiziertheit der Verfassung und dem (auch) daraus resultierenden besonderen Zusammenspiel von geschriebenem und gelebtem Recht. Die britische Rechtsordnung basiert besonders im Bereich der politischen Willensbildung in nicht unerheblichem Maße auf ungeschriebenen Verfassungskonventionalregeln. Somit vermögen es gerade hier politische Traditionen zu rechtlichen Regeln zu werden, ohne dass es eines formellen Inkorporationsaktes bedürfte. Dies erschwert nicht nur die Identifikation dessen, was geltendes Recht ist, sondern auch die Darstellung desselben in einer auslandsrechtskundlichen Arbeit. Diese Verfassungskonventionalregeln entfalten bspw. in Bezug auf die Stellung und Bedeutung des Parteiführers eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Ob ein Parteiführer, der zugleich Premierminister ist, von seinem Parteiamt zurücktreten muss, wenn er als Premierminister zurücktritt – oder vice versa – ist daher eine Frage, die sich nicht anhand der Lektüre gesetzlicher oder anderer geschriebener Normen erforschen 1 Bei rechtsvergleichenden Arbeiten zur innerparteilichen Demokratie wird der Vergleich zumeist zwischen Ländern vorgenommen, die ebenfalls verfassungsrechtliche und/oder einfachgesetzliche Bestimmungen zur innerparteilichen Demokratie kennen. Besonders werden jene Rechtsordnungen verglichen, die den Konstitutionalisierungswellen der 1970er und 1990er Jahre angehören und damit am Ende von faschistischen bzw. sozialistischen Regimes stehen. Teilweise wurden diese vom deutschen Grund- und Parteiengesetz beeinflusst, vgl. Henkel, Auswahl der Parlamentsbewerber, passim (unter Einschluss Österreichs und der USA); v. Katte, Mitgliedschaft von Fremden, passim (unter Einschluss der USA); Towfigh, ParteienParadox, passim; Shirvani, Parteienrecht und Strukturwandel, passim; einen Vergleich Georgiens mit Deutschland unternimmt Kobakhidze, Funktionsfähigkeit der Parteien, passim; vgl. unter Einbeziehung der Ukraine und Deutschland Bregadze, Innerparteiliche Demokratie im Recht Georgiens, passim. Für einen Vergleich der Kandidatenaufstellung mit westlichen Ländern siehe Schröder, Kandidatenaufstellung, passim (für Deutschland und Frankreich); Kölsch, Vorwahlen, passim (für die USA). Indessen ist das Vereinigte Königreich bisher nicht als Vergleichsland gewählt worden, sieht man von wenigen knappen Länderberichten in Kompilationen zum vergleichenden europäischen Parteienrecht ab, so etwa Smith, Partei in Großbritannien, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 301 passim. Gleichzeitig ist eine große Zahl vergleichender Abhandlungen aus dem Feld der Politikwissenschaft zur innerparteilichen Demokratie vorhanden, auch und gerade zum Vereinigten Königreich (vgl. Becker, Mitgliederbeteiligung, passim; Ding, Demokratisierung der Parteiführerauswahl, passim). Ein Vergleich der innerparteilichen Demokratie in Deutschland und im Vereinigten Königreich bleibt mithin künftigen Untersuchungen vorbehalten.
Schlussbemerkungen
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lässt. Dies zeigt bereits, dass „einfache“ Antworten in einer Analyse des britischen Parteienrechtes weder in der Sache noch in der Darstellung möglich sind. Die innerparteiliche Demokratie ist im Vereinigten Königreich auf den ersten Blick gänzlich unreguliert, zumal sich keine allgemeinverbindlichen gesetzlichen oder richterrechtlichen Voraussetzungen finden. Den Parteien wird damit eine im Grundsatz uneingeschränkte Organisationsfreiheit zuteil. Erst seit den 1960er Jahren werden durch die Rechtsprechung Grenzen gezogen, wiewohl sie primär für die Gewährung eines fairen Verfahrens bei innerparteilichen Streitigkeiten gelten. Nur sekundär wird materiell in die Auslegung des Satzungsrechts von den Gerichten eingegriffen. Dies betrifft jedoch nur Extremfälle von Ermessensfehlern und des ultra vires-Handelns von Parteiorganen. Damit werden Parteisatzungen wie sonstige zivilrechtliche Verträge ausgelegt. Eine weitere Besonderheit ist, dass es bisher keine ständige Rechtsprechung gibt, die eine Anwendbarkeit der formellen Prinzipien der natural justice generell gestattet. Vielmehr muss für jeden Einzelfall positiv vom Gericht festgestellt werden, ob die Kriterien der natural justice, so sie denn nicht explizit in der Parteisatzung ausgeschlossen sind, überhaupt Anwendung finden.2 Das Parteiengesetz, der PPERA 2000, ist ein Parteienrecht der ersten Generation. Es konstitutionalisierte die Parteien zwar, allerdings nur als „a by-product of a debate on political finance“3, und regelt nur die Außenrechtsverhältnisse der Parteien zum Staat, zu Wählern und Spendern. Das Innenrechtsverhältnis zwischen den Mitgliedern bzw. zwischen den Mitgliedern und der Partei ist und bleibt spezialgesetzlich ungeregelt; es handelt sich im Grundsatz um eine Frage des Vertragsrechts. Im Lichte ihrer Entwicklungsgeschichte ist bis heute die von den Parteien selbst gewählte Rechtsform entscheidend für die Verpflichtung zur innerparteilichen Demokratie. Parteien sind überwiegend als unincorporated associations verfasst und unterliegen damit nur den Grenzen des Vereinsrechts. Eine Pflicht zur Wahrung nur minimaler demokratischer Anforderungen gibt es für unincorporated associations nicht. Zudem ist nicht einmal das Recht der unincorporated associations a priori auf alle Parteien einheitlich anwendbar. Bis 1998 waren nämlich die drei unterschiedlichen Gliederungsebenen der Conservative Party (Parlamentspartei, Parteizentrale und außerparlamentarische Massenmitgliederorganisation) je unabhängig voneinander agierende und existierende unincorporated associations.4 Dies hatte zur Folge, dass Mitglieder der einen Gliederung grundsätzlich keinerlei Teilhaberechte in den Willensbildungsprozessen der anderen Gliederung geltend machen konnten. Dies ist
2 Vgl. Morris, Conceptualising Candidate Selection, P.L. 2008, S. 415 (420 ff.), wonach die Anwendbarkeit des Vertragsrechts auf parteiinterne Streitigkeiten eine loophole (Regelungslücke) im Lichte der verfassungsrechtlichen und -politischen Bedeutung der parteiinternen Personenwahlen ist (a. a. O., S. 421 ff.). 3 Bogdanor, The Constitution and the Party System, P.A. 2004, S. 717 (717). 4 Siehe zum Ganzen nochmals Conservative Central Office v Burrell [1982] 1 W.L.R. 522.
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Schlussbemerkungen
nunmehr (Rechts-)Geschichte, denn seit der Satzungsreform von 1998 ist auch die Conservative Party wohl als eine einzige unincorporated association anzusehen.5 Überdies steht den Parteien die Rechtsform der private company limited by guarantee nach dem Companies Act 2006 zur Wahl. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich eine so organisierte Partei freiwillig dem shareholder democracy-Prinzip des Gesellschaftsrechts unterwirft. Eingeschränkt wird die Anwendbarkeit dieses gesetzlichen unternehmensinternen Demokratieprinzips durch die Möglichkeit der Parteien, sich organisationsrechtlich zu unterteilen. Möglich ist namentlich der Weg, den UKIP eingeschlagen hat. Bei dieser Partei existiert eine handelsrechtliche Partei, die nach dem Companies Act 2006 verfasst ist, und eine wahlrechtliche Partei, die als unincorporated association unter dem PPERA 2000 registriert ist. Konsequenterweise müssen die Mitgliederschaften dieser beiden Vereinigungen personell nicht identisch sein. So können Parteien einerseits die Folgen aus der fehlenden Rechtspersönlichkeit einer unincorporated association (etwa in der Anmietung von Parteibüros oder dem Anstellen von Personal) durch eine als Unternehmen verfasste Partei mit Rechtspersönlichkeit umgehen. Andererseits verbleibt die Massenmitgliederpartei in der Rechtsform der unincorporated association, sodass die zwingenden Vorschriften des Companies Act 2006 die Parteienorganisationsfreiheit hinsichtlich der innerparteilichen Demokratie in der wahlrechtlich registrierten Partei in Form einer unincorporated association nicht einschränken.6 Eine formell-juristische Analyse vermag daher die Existenz und Akzeptanz des Verfassungsprinzips der innerparteilichen Demokratie nicht (endgültig) zu belegen. Ideengeschichtlich ist vielmehr hervorzuheben, dass die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie im Vereinigten Königreich ein Abbild des sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Wandels zwischen der Mitte des 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts ist. Hierbei ist stets der britische Liberalismus zu berücksichtigen, da dieses philosophische Konzept schlechthin identitätsstiftend für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Vereinigten Königreich ist. Es stellt somit ebenfalls den Nukleus des politischen Prozesses in der modernen britischen Parteiendemokratie dar. Daraus ergibt sich, dass eine abstrakt-generelle gesetzliche Pflicht zur innerparteilichen Demokratie schlechthin unnötig, gewissermaßen sogar systemfremd wäre. Sämtliche gesetzgeberischen Aktivitäten mit Blick auf die Organisation des politischen Willensbildungsprozesses der letzten Jahrzehnte lösten im Hinblick auf die Parteien nur konkret sich in der Praxis stellende Rechtsfragen. Dies illustriert die 5 So in der Literatur explizit bei Kim, Constitutionalising Political Parties, S. 135. In die Richtung der Gründung der Partei als solcher und ihrer Stellung als eine einzige Vereinigung deuten Gay, What’s in a Name?, P.L. 2001, S. 245 (245); ders./Winetrobe, Registration of Political Parties Bill, in: House of Commons Library (Hrsg.), Research Paper, S. 6. Eine diese Auffassung bestätigende Gerichtsentscheidung steht gleichwohl noch aus. 6 Ob dies bei der Referendum Party 1997 auch der Fall war, entzieht sich der Kenntnis des Verf. Eine Untersuchung der entsprechenden Dokumente im Archiv des Companies House bleibt weiteren wissenschaftlichen Arbeiten hierzu überlassen.
Schlussbemerkungen
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Geschichte des PPERA 2000 eindrücklich, der als Reaktion auf Parteispendenskandale und Spaßkandidaturen unter der Nutzung oder Verballhornung real existierender Parteinamen erlassen wurde. Dass es – wie in der gesamten westlichen Welt – auch im Vereinigten Königreich heute einen höheren Bedarf an gesetzgeberischer Intervention im gesellschaftlichen und politischen Bereich gibt, liegt auf der Hand. Westliche Rechtsordnungen setzen sich seit einigen Jahrzehnten zum Ziel, eine diskriminierungsfreie Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsordnung zu schaffen. Deshalb erfasst auch der Equality Act 2010, wie im Übrigen schon einige Vorgängerregelungen (etwa der Sex Discrimination Act 1975), die Parteien. Er garantiert Diskriminierungsfreiheit für Parteimitglieder und Bewerber um die Mitgliedschaft. Spiegelbildlich gestattet er positive Diskriminierungen zur Beseitigung existierender Benachteiligungen (insb. all-women shortlists) für Kandidatenaufstellungsverfahren. Allerdings geht hiermit keine allgemeine Verpflichtung der Parteien auf eine bestimmte binnendemokratische (Grund-)Ordnung einher. Die grundsätzliche Feststellung, wonach britische Normgeber nur zur Lösung konkreter Probleme aktiv werden, gilt ebenso innerhalb der Parteien. Im Rahmen ihrer weitreichenden Satzungsautonomie ist es die Eigenart der britischen Parteien, parteiinterne normative Regelungen zu erlassen oder zu ändern. Dies geschieht allerdings nur dann, wenn geschriebene Regeln in concreto als nötig erachtet werden. Die Conservative Party verzichtete etwa bis zum Jahr 1965 gänzlich auf eine formelle Wahl des Parteiführers. Vielmehr ernannte der erlauchte magic circle den Parteiführer schlicht. Erst als dieser Modus zum Konflikt mit der verfassungskonventionalrechtlich verbürgten Zurückhaltung der Krone in der Auswahl des von ihr zu ernennenden Premierministers führte (da in der Conservative Party nach Rücktritt eines gewählten Parteiführers und Premierministers kein Nachfolger durch die Partei nominiert war), bestand die Notwendigkeit einer satzungsrechtlichen Regelung.7 Speziell die Demokratisierung der Parteiführerauswahl in den beiden großen Parteien ist dabei auch und gerade ein Produkt des interparteilichen Wettbewerbs. Die Labour Party und die Conservative Party haben sich in ihren Parteireformen stets gegenseitig beeinflusst. So verwundert es nicht, dass sich die Wahl des Parteiführers unter Einbeziehung der „einfachen“ Mitglieder in beiden Parteien in zeitlicher Nähe in den 1990er Jahren entwickelte. Seither kam es in der Labour Party zu weiteren Reformen, die letztlich in der vollständig basisdemokratisch durchgeführten Parteiführerwahl im Jahr 2014 endeten. Mit Corbyn als Sieger wurde dieses Verfahren in den darauffolgenden Jahren mehrfach angewendet. In der Conservative Party wurden 7 Fragen der tatsächlichen Responsivität der Parteien ohne formalisierte Parteiführerwahlverfahren für die Belange der Parteimitglieder und der Wähler bleiben anderen Untersuchungen vorbehalten. Fest steht aber (in Anlehnung an McKenzie), dass sich der Grad der Demokratisierung innerparteilicher Strukturen nicht zwangsläufig an der Direktwahl des Parteiführers durch alle Parteimitglieder festmachen lässt. Immerhin gab es schon vor Einführung der Parteiführerwahlen überhaupt in den beiden großen britischen Parteien eine binnendemokratische Parteienlandschaft, wie der obige historische Abriss insbesondere mit Blick auf die Liberal Party im 19. Jahrhundert zeigte. So McKenzie, Intra-Party Democracy, in: Kavanagh (Hrsg.), Labour Party, S. 191 (199 ff.).
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Schlussbemerkungen
vor ungefähr zehn Jahren und erneut nach der Wahl Corbyns Stimmen laut, den außerparlamentarischen Parteimitgliedern das aktive Wahlrecht wieder zu entziehen. Ähnliche Stimmen mehren sich in den Führungszirkeln der Labour Party in den vergangenen Jahren. Wohin der Weg die Parteien und ihre Mitglieder im Vereinigten Königreich führt, bleibt offen und maßgeblich von den internen Machtverhältnissen abhängig, zumal auch in den nächsten Jahren keine gesetzgeberischen Eingriffe in die Organisationsfreiheit der Parteien zu erwarten sind. Insofern gilt für die britische Parteienrechtsordnung, die dem Geiste des klassischen britischen Liberalismus entspringt, vielleicht mehr als für die normativ ausgerichteten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen der eherne Grundsatz der democratia semper reformanda.
Anhang: Parteiführerwahlordnung der Labour Party (2016 und 2015)
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Anhang: Parteiführerwahlordnung der Labour Party (2016 und 2015)
Choose labout's nex1
Prime Minister
LEADERSHIP
2016 A. Leadership Election 2016- Procedural Guidelines and Timetable Intraducdon lv1 electlon forthe Leadership of the L.abour Party has been formally tr1ggered. The National Executive Committee has met and agreed the procedures and timetable for the selection and these aresetout below.
Pracectur•l Guldellnes 1. The electlon ofthe Leaderwlll be heldunder the constltutlonal rules as detalled in Chapter 4 of the L.abour Party Rule Bock. 'Eiectlon of a Ieader and deputy Ieader'. 2. The National Executlve Commlttee (NEQ has constltutlonal responslblllty to ensure that procedures, including the length of any contest, are laid down in advance of any such contestand that these procedures are adhered to throughout the campaign. These general procedures are set out below. ln addltlon, there shall be a Code of Conduct, lncludlng any spendlng cap, for candldates. The General Secretary will lssue a Code of Conduct, or 'Purdah rules', for all Labour Party Staff. PROCEDURE COMMITTEE 3. There shall be a Procedures Committee to oversee the election process. The Procedures Commlttee will compr1se of: • General Secretary (Retuming Officer) • NEC Offlcers (Ann Black. Kelth Blrch, Dlana Holland, Jlm Kennedy, Paddy Llllls, Ellle Reeves, Mary Turner, Tom Watson) • Margaret Beckett MP • Glenis Willmatt MEP 4. The election will commence the daythat the National Executive Committee agrees with the publlcatlon of notlce of electlon. 5. The L.abour Partywill supply to all ellglble electors a candldates' statement booklet along wlth a postal ballet paper at no additional cost to candidates, candidates will need to provide a photo and a statement up 1D the maxlmum of 250 words. The dlstrlbutlon of the booklet and postal vote packs may be by electronic or print versions. 6. The national partywill arrange a series of hustings which all candidates are expected to attend.
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